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German Pages [306] Year 2012
Musik und Gender
MUSIK – KULTUR – GENDER Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr, Dorle Dracklé, Dagmar von Hoff und Susanne Rode-Breymann
Band 10
Kultur ist Kommunikation: Wörter, die gelesen werden, ein literarisches oder filmisches Werk, das interpretiert wird, hörbare und unhörbare Musik, sichtbare oder unsichtbare Bilder, Zeichensysteme, die man deuten kann. Die Reihe Musik – Kultur – Gender ist ein Forum für interdisziplinäre, kritische Wortmeldungen zu Themen aus den Kulturwissen schaften, wobei ein besonderes Augenmerk auf Musik, Literatur und Medien im kultu rellen Kontext liegt. In jedem Band ist der Blick auf die kulturelle Konstruktion von Geschlecht eine Selbstverständlichkeit.
Musik und Gender Ein Reader
Herausgegeben von Florian Heesch und Katrin Losleben
2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Forschungsprojekts »History | Herstory« und des Fachbereichs 5 der Hochschule für Musik und Tanz Köln, der Mariann Steegmann Foundation, der Gerda-Weiler-Stiftung sowie von Katrin Loraing.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Die Bildleiste auf dem Umschlag zeigt Ausschnitte aus (von oben nach unten): 1. Hugo Höppener, genannt Fidus: Entwurf für einen Beethoven-Tempel (1903) 2. Die Liebkosung – Herr Konrad von Altstetten, Miniatur aus dem Codex Manesse (zwischen ca. 1300 und ca. 1340) 3. Heinrich Vogeler: Melusinenmärchen, Triptychon (1912) 4. Stefan Kuhn: Sweet Dreams of Annie Lennox (ohne Jahr) 5. Bernardino Luini: Salome (1. Hälfte 16. Jahrhundert) 6. Moritz Daniel Oppenheim: Fanny Hensel (1842) Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Entwurfs von Thomas Jung © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: UAB Balto print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Lithuania ISBN 978-3-412-20785-4
Inhalt
Vorwort .................................................................................................... 9 I. Reshaping a Discipline Musikwissenschaft und Geschlecht 1. Zum Ausschluss der Frauen aus der Musikgeschichte ...................... 21 Eva Rieger: Frau, Musik und Männerherrschaft (1981/1988) 2. Alte Gegenstände – neue Fragen ....................................................... 37 Susan McClary: Feminine Endings. Musik, Geschlecht und Sexualität (1991/2002) 3. Neue Fragen in der Kritik .................................................................. 48 Leo Treitler: Gender und andere Dualismen in der Musikgeschichte (1993) 4. Zur Suche nach ›großen‹ Komponistinnen ........................................ 64 Judith Rosen: Warum wurden Frauen nie große Komponistinnen? (1973) 5. Die Kanon-Frage ............................................................................... 72 Marcia J. Citron: Gender und der Kanon in der Musik (1993) II. Women in Music Musikgeschichte 6.
Die Trobairitz .................................................................................... 87 Annette Kreutziger-Herr: Kombinatorische Spiele. Die Trobairitz und ihre Bedeutung für die Musikhistoriographie der Neuzeit (2009)
7. Kulturförderinnen in der Frühen Neuzeit ......................................... 99 Susanne Rode-Breymann: »Allein ihr angenehmster zeit vertreib ist die music«. Musenhöfe: Zentren der Künste, Orte der Bildung (2003) 8. Frauenorchester im 19. und 20. Jahrhundert ..................................... 116 Christine Ammer: Unsung. Eine Geschichte der Frauen in der amerikanischen Musik (1980/2001)
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Inhalt
9. Weiblichkeitsbilder in der Musik um 1900 ....................................... 130 Melanie Unseld: »Man töte dieses Weib!« Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende (2001)
10. Rockmusik.......................................................................................... 144 Simon Frith und Angela McRobbie: Rockmusik und Geschlechtlichkeit (1978/1990) III. Writing the Biography of a Woman Biografik 11. Zum Umgang mit historischen Quellen .......................................... 159 Beatrix Borchard: Mit Schere und Klebstoff. Montage als wissenschaftliches Verfahren in der Biographik (2004) 12. Methodische Herausforderungen der Oral History .......................... 179 Jane Bowers: Vom Schreiben der Biografie einer schwarzen Blues-Sängerin (2000) IV. Unsung Voices Analyse und Autorschaft 13. Kulturelle Normen im Lied ............................................................... 197 Ruth A. Solie: Wessen Leben? Geschlechteridentitäten in Schumanns Frauenliebe-Liedern (1992) 14. Wessen Stimme erklingt in der Oper? ............................................... 213 Carolyn Abbate: Die Oper, oder: Frauen eine Stimme geben (1993) 15. Gender und Genre im Popsong ......................................................... 226 Richard Middleton: Autorschaft, Gender und Bedeutungskonstruktionen in den Hits der Eurythmics (1995) 16. Analyse als Diskurs ............................................................................ 242 Annegret Huber: Anmerkungen zu ›Schreibart‹ und ›Lebensprinzip‹ einiger Sonatenhauptsätze von Fanny Hensel (1997)
Inhalt
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V. Staging Gender Körper und Performanz 17. Instrumentalistinnen in der bürgerlichen Musikkultur ..................... 259 Freia Hoffmann: Instrument und Körper (1991) 18. Männerkörper im Heavy Metal ......................................................... 272 Robert Walser: Running with the Devil. Macht, Geschlecht und Wahnsinn im Heavy Metal (1993) 19. Judith Butlers Performativitätsbegriff in der Musik........................... 287 Suzanne G. Cusick: Musikalische Geschlechterperformanzen (1999) Zur Herausgeberin und zum Herausgeber ............................................... 300 Namenregister .......................................................................................... 301 Sachregister............................................................................................... 308
Vorwort
Das Thema ›Gender‹ begegnet uns heute in nahezu allen gesellschaftlichen und kulturellen Debatten. Unabhängig davon, ob dabei der Gender-Begriff gebraucht wird oder nicht: in Schulen und Universitäten, in den öffentlichen Medien, in politischen Debatten und Alltagsgesprächen wird regelmäßig diskutiert, was die geschlechtliche Identität, also ›Frau‹-/›Mädchen‹-Sein, ›Mann‹-/›Junge‹-Sein, für Einzelne, für Gruppen und für die Gesellschaft bedeutet. Das betrifft auch die Musik, die einen zentralen Bereich unserer Kultur und für viele Menschen einen wichtigen Teil ihrer Lebenswelt ausmacht. Welche Musik wir im Internet aufrufen, in Form von Tonträgern sammeln oder im Konzert hören, wie wir darüber mit Freundinnen und Freunden sprechen, zu welcher Musik wir tanzen, welche Musikinstrumente wir erlernen oder auch, welchen Musikberuf wir wählen – all das ist mit Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit verbunden. Wer heute über Gender, die soziokulturelle Dimension des Geschlechts, reflektiert, ist nicht notwendig Feministin, Gleichberechtigungsbeauftragter oder hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Kultur mit dekonstruktivistischen Augen zu betrachten. Als ›Gender-Mainstreaming‹ sind Ideale der Gleichberechtigung zum politischen Gemeingut geworden. Ob der Feminismus, wie Alice Schwarzer beobachtet, »da angekommen [ist], wo er auch hingehört: in der Mitte der Gesellschaft«, ist jedoch umstritten.1 Strömungen, die mit Begriffen wie ›Postfeminismus‹ und ›Antifeminismus‹ nur oberflächlich charakterisiert sind, bezeugen, dass die Debatte sich inzwischen vielfach verzweigt hat. Dabei ist noch lange nicht damit zu rechnen, dass der Begriff ›Feminismus‹ aus den Diskussionen verschwindet. Faktisch ist unsere Gesellschaft wie viele Gesellschaften der Welt von völliger Gleichberechtigung der Geschlechter noch weit entfernt. Diejenigen, die feministische Positionen vertreten oder Gender-Forschung betreiben, sind auch heute noch in der großen Mehrheit Frauen. Das Feld der Männer- bzw. Männlichkeitsforschung etabliert sich relativ mühsam.2 Obwohl der Begriff ›Gender‹ zunächst neutral für beide Geschlechter steht, ist Gender-Forschung sowohl in Bezug auf ihre Gegenstände als auch auf den Anteil der Forscherinnen und Forscher sehr unterschiedlich 1 Alice Schwarzer: Die Antwort. Köln 2007, 18 (Hervorhebung im Original). Vgl. dazu die Kritik bei Elisabeth Klaus: »Antifeminismus und Elitefeminismus – Eine Intervention«. In: Feministische Studien 26, 2008, H. 2, 176–186. 2 Zur Männerforschung in der Musikwissenschaft siehe z.B. Eva Riegers Rezension des von Ian Biddle und Kirsten Gibson herausgegebenen Sammelbandes Masculinity and Western Musical Practice (Farnham, Burlington 2009) in Die Musikforschung 64, 2011, H. 2, 175.
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Vorwort
auf Frauen und Männer verteilt. Das bedeutet, dass Gender-Forschung – wie im Prinzip jede Wissenschaft – zur Selbstreflexion aufgerufen ist. Auch wer sich nicht unmittelbar mit gesellschaftlichen Analysen auseinandersetzt, sondern z.B. Musik als ästhetischen Gegenstand untersucht, muss sich als Gender-Forscherin oder -Forscher über ihre/seine Position zu folgenden Aspekten klar werden: (a) zum Verhältnis zwischen der eigenen geschlechtlichen und sexuellen Identität und dem Forschungsgegenstand, (b) zur Entwicklung und zum aktuellen Stand des Forschungsfeldes einschließlich seiner feministischen Wurzeln und der ungleichen Beteiligung von Frauen und Männern, (c) zur Ungleichheit der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, (d) zum Verhältnis von Gender und anderen Aspekten der Identität, wie Alter, ethnischer Zugehörigkeit und sozialer Schicht, (e) zum Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Im akademischen Diskurs über Musik, sprich: in der Musikwissenschaft, ist das Gender-Thema heute etabliert. Angesichts der gestiegenen Menge an Publikationen, zahlreichen Tagungen und der Einrichtung von Forschungsinstituten und Professuren mit Gender-Schwerpunkt lässt sich von einer »Verstetigung« der musikwissenschaftlichen Gender-Forschung sprechen.3 Zugleich haben sich die Forschungsansätze vielfach ausdifferenziert und umfassen – wenn auch zu verschiedenen Anteilen – nahezu alle Felder musikwissenschaftlicher Forschung, außerdem einige, die durch Gender-Fragen neu hinzugekommen sind. Bei aller Diversifizierung kann man eine Kontinuität des musikwissenschaftlichen Gender-Diskurses seit den frühen 1980er Jahren bis heute beobachten. Impulsgebend war Eva Riegers Buch Frau, Musik und Männerherrschaft, das in den späten 1970er Jahren entstand und 1981 erstmals erschien. Riegers Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld »Frau und Musik« – so nannte sie es damals – war im Feminismus der 1970er Jahre verwurzelt, konnte sich aber nur auf vereinzelte musikhistorische Studien stützen. Erst seit Frau, 3 Nina Noeske: Art. »Musikwissenschaftliche Gender Studies«. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 234–236. Siehe auch Nina Noeske, Susanne Rode-Breymann, Melanie Unseld: Art. »Gender Studies«. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2., neubearbeitete Ausgabe. Supplement. Hg. von der Schriftleitung. Kassel, Stuttgart 2008, 239–251. Die späte, supplementäre Aufnahme dieses Artikels in das zentrale Nachschlagewerk der deutschsprachigen Musikwissenschaft ist ihrerseits ein Beleg dafür, dass sich das GenderThema erst vor Kurzem in der Disziplin etabliert hat.
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Musik und Männerherrschaft gibt es einen kontinuierlichen musikwissenschaftlichen Diskurs, der die Entwicklung von der Frauenforschung zur Gender-Forschung überspannt. Riegers Buch hat sowohl im deutschsprachigen Raum als auch in den USA vielen jüngeren Untersuchungen als zentraler Ausgangspunkt gedient. In ähnlich kontinuierlicher Weise setzen sich Gender-Forscherinnen und -Forscher bis heute mit einigen weiteren Studien auseinander, darunter Susan McClarys 1991 erstveröffentlichtes Buch Feminine Endings und der schon 1978 erschienene Artikel Rock and Sexuality von Simon Frith und Angela McRobbie. Der vorliegende Band enthält eine Auswahl solcher Schlüsseltexte in Auszügen. Damit möchten wir in gebündelter Form einen Einblick in die bis heute immer wieder diskutierten Texte bieten. Selbstverständlich kann dieser Reader nicht die Lektüre vollständiger Artikel und Bücher ersetzen. Auch erübrigt die notwendige Auswahl nicht die Auseinandersetzung mit weiteren Texten aus dem inzwischen umfangreichen Forschungsgebiet. Der Anspruch einer Dokumentation von mehr als 30 Jahren musikwissenschaftlicher Gender-Forschung lässt sich in einem handlichen Buchformat nur ansatzweise einlösen. Dennoch halten wir es für sinnvoll, die Texte ›für sich‹ sprechen zu lassen. Nicht nur die Kernargumente, sondern auch die Argumentationsführung, die – gerade weil neue Fragen erschlossen werden – teils auffällig von gewohnten Mustern abweicht, sowie Begriffswahl und Formulierungen sind zentrale Eigenschaften dieser Texte, die sich auf die weitere Rezeption auswirken. Das lässt sich nicht durch Zusammenfassungen vermitteln, sondern nur durch die Lektüre der Originaltexte. Um den Zugang dazu zu erleichtern, haben wir sämtliche englischsprachige Texte (erstmals) ins Deutsche übersetzt. Widersprüchliche Standpunkte und Abweichungen in der Verwendung von Begriffen gehören – wie könnte es anders sein – zum wissenschaftlichen Diskurs um Gender und Musik dazu. In der Form des Readers werden gerade auch solche Differenzen nachvollziehbar und bieten (hoffentlich) Anregungen zur kritischen Diskussion. In diesem Sinne definieren wir unser eigenes Verhältnis zu den Texten zuallererst über den Aspekt der Vermittlung: Wir sind überzeugt, dass sich die Auseinandersetzung mit ihnen für ein kritisches Verstehen der musikwissenschaftlichen Gender-Forschung lohnt – nicht nur retrospektiv, sondern auch auf die aktuelle Situation bezogen. Im Einzelnen aber teilen wir nicht alle darin vertretenen Standpunkte; auch die – teils der Entstehungszeit geschuldete – Wortund Begriffswahl halten wir nicht immer für die beste, gemessen an heutigen wissenschaftlichen Maßstäben. Um die Diskussion auch kritischer Aspekte und terminologischer Schwierigkeiten zu erleichtern, haben wir zu jedem Textausschnitt eine eigene Einleitung verfasst (mehr dazu siehe unten); verschiedene Verwendungsweisen von Begriffen sind über das Sachregister erschlossen.
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In der musikwissenschaftlichen Gender-Forschung lassen sich verschiedene Schwerpunkte ausmachen. Dementsprechend haben wir die Textauswahl in fünf Teile gegliedert: (I) Grundfragen der Disziplin, (II) Musikgeschichte, (III) Biografik, (IV) Analyse und Autorschaft sowie (V) Performanz und Körper. Diese Aufteilung spiegelt nicht die Felder der gesamten Musikwissenschaft wider, sondern zentrale Felder der musikwissenschaftlichen Gender-Forschung. I. Reshaping a Discipline: Grundfragen, die das Selbstverständnis der Disziplin betreffen, stellten sich zunächst vor allem im Bereich der historischen Musikwissenschaft – angefangen bei der Frage, warum es scheinbar keine ›großen‹ Komponistinnen gibt. Der traditionelle Kanon ›großer Meisterwerke‹ in der Musik ist geradezu ausschließlich mit männlichen Autoren besetzt – von Johann Sebastian Bach bis Arnold Schönberg. Feministinnen sahen sich dadurch zu zwei kritischen Grundfragen herausgefordert: (1) Welche historischen Voraussetzungen hatten Frauen, um Komponistinnen – allgemeiner noch: Musikerinnen – zu werden? (2) Wer entscheidet nach welchen Kriterien, wer in den Kanon bzw. in die musikgeschichtlichen Lehrbücher aufgenommen wird und wer nicht? Diese Fragen wurden erstmals 1948 von Sophie Drinker aufgeworfen,4 erfuhren aber unter anderem durch den hier zitierten, 1973 in einer Zeitschrift erschienenen Aufsatz von Judith Rosen eine stärkere Resonanz. Eva Riegers erwähnte Pionierstudie Frau, Musik und Männerherrschaft wirkte auch deshalb als Katalysator für weitere Debatten, weil sie den beobachteten »Ausschluss« der Frauen aus der Musikgeschichte mit einer großen Bandbreite an Fragen verbindet. So kritisiert Rieger u.a. die androzentrische (d.h. Männer-zentrierte) Sprache herkömmlicher Musikgeschichten und fragt nach Gender-Aspekten in der klingenden Musik, so in dem hier zitierten Kapitel »Musik als Trägerin geschlechtsspezifischer Ideologien«. Eine umfassende theoretische Auseinandersetzung mit dem Kanonproblem legte Marcia Citron 1993 mit ihrem wegweisenden Buch Gender and the Musical Canon vor. Susan McClary knüpfte u.a. an Riegers Sprachkritik an. Ihre Studie Feminine Endings (d.i. »Weibliche Endungen«, 1991) weist schon im Titel darauf hin, dass Vorstellungen von musikalischen Elementen wie dem Abschluss einer melodischen Phrase in unserer Kultur geschlechtlich codiert sind und dass diese Codierung durch sprachliche Mittel geschieht. McClarys Buch hat wesentlich dazu beigetragen, Gender als musikwissenschaftliche Forschungskategorie zu etablieren, aber ihre Arbeiten wurden auch sehr kritisch aufgenommen. Mit Leo Treitlers Aufsatz haben wir eine der sowohl kritischen als auch konstruktiven Antworten auf McClary in diesen Reader aufgenommen. Treitlers Text 4 Sophie Drinker: Music and Women. The Story of Women in Their Relation to Music. New York 1948. Reprint. New York 1995.
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erschien 1993 in einem von Ruth Solie herausgegebenen Sammelband, der Gender als grundsätzliche Herausforderung an die Musikwissenschaft thematisiert.5 Im Bewusstsein, dass die Gender-Forschung das Fach als Ganzes verändert, veröffentlichte McClary im selben Jahr einen Forschungsüberblick unter dem Titel »Reshaping a Discipline« (d.i. »Neuordnung einer Disziplin«, 1993). Für den ersten Teil des vorliegenden Readers haben wir diesen Titel als charakterisierendes Motto übernommen, auch wenn der Aufsatz selbst hier nicht zitiert wird. Analog dazu haben wir auch die weiteren Teile unter Mottos gestellt, die aus einschlägigen Texttiteln abgeleitet sind. II. Das Motto des zweiten Teils, Women in Music, ist daher nicht (nur) die anglisierte Form dessen, was Rieger als Forschungsfeld »Frau und Musik« bezeichnete, sondern es dient einer ganzen Reihe von einschlägigen englischsprachigen Publikationen als Titel. Dass dieser Titel bis heute – in verschiedenen Varianten6 – mehrfach und immer wieder verwendet wird, ist auch ein Beleg für die fortwährende Relevanz der musikwissenschaftlichen Frauenforschung. Zu den mit Women in Music betitelten Publikationen zählen u.a. Carol NeulsBates’ viel zitierte musikhistorische Quellensammlung, die erstmals 1982 erschien, und das 2010 neu aufgelegte, hilfreiche Informationshandbuch von Karin Pendle und Melinda Boyd.7 Die Geschichte der Frauen in der Musik birgt nach wie vor Wissenslücken. Wenn wir aber beginnen, Musikgeschichten im Hinblick auf die Frauen zu erzählen, entstehen dabei häufig neue Geschichts(be)schreibungen mit neuen Schwerpunkten. Dazu sei auf drei Sammelwerke verwiesen, die chronologische Überblicke über die Musikgeschichte der Frauen bieten. Die ersten beiden entlehnen ihren Titel der erwähnten beliebten Formulierung: Women making Music. The Western Art Tradition. 1150–1950 von Jane Bowers und Judith Tick, ein Sammelband, der als einer der Pioniertexte US-amerikanischer musikbezogener Gender Studies gilt, sowie Women and Music. A History von Karin Pendle.8 Auch das kürzlich von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld herausgegebene Lexikon Musik und Gender enthält einen historischen Überblick über Frauen in der Musik. Für den musikhistorischen Teil dieses Readers haben wir verschiedene 5 Siehe auch den Text von Carolyn Abbate in diesem Band, Kap. 14. 6 Zum Beispiel Antoinette D. Handy: Black Women in American Bands and Orchestras. 2. Aufl. Lanham, Md. 1998. 7 Carol Neuls-Bates (Hg.): Women in Music. An Anthology of Source Readings from the Middle Ages to the Present. New York 1982. 2., überarb. Aufl. Boston 1996. Karin Pendle, Melinda Boyd: Women in Music. A Research and Information Guide. New York, London 2005. 2. Aufl. 2010. 8 Jane Bowers, Judith Tick (Hg.): Women Making Music. The Western Art Tradition. 1150–1950. Urbana, Il. 1986; Karin Pendle (Hg.): Women and Music. A History. Bloomington, Ind. 1991. 2. Aufl. 2001.
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in anderen Zusammenhängen publizierte Texte ausgewählt. Sie stehen zwar in chronologischer Reihenfolge, bilden aber keine kohärente Musikgeschichte, sondern zeigen anhand verschiedener historischer Epochen exemplarische Aspekte der Gender-Forschung auf. Die ersten drei Texte handeln von Frauen in verschiedenen musikalischen Handlungsfeldern. Annette Kreutziger-Herr setzt sich mit Dichtung und Musik der Trobairitz im 11. und 12. Jahrhundert auseinander, Susanne Rode-Breymann mit adeligen Kulturförderinnen des 17. Jahrhunderts und Christine Ammer mit Instrumentalistinnen in Frauenensembles, die im 19. und 20. Jahrhundert in den USA auftraten. Der folgende Text von Melanie Unseld handelt weniger von historischen Personen, sondern von Weiblichkeitsbildern, die sich in der bürgerlichen Musikkultur um 1900 spiegeln. Der Aufsatz von Simon Frith und Angela McRobbie schließlich widmet sich Konnotationen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie dem Problem des Sexismus in der Rockmusik. III. Writing the Biography of a Woman: Welche Herausforderung es bedeutet, die Biografie einer Frau zu schreiben, wird in den Aufsätzen von Beatrix Borchard und Jane Bowers diskutiert. Biografieschreiben wird ermöglicht durch Quellenbestände, die über Personen erzählen können, die aber einen kritischen Umgang erfordern. Bowers, deren Aufsatz »Writing the Biography of a Black Woman Blues Singer« hier das Motto angeregt hat, griff für ihre Biografie einer afroamerikanischen Bluessängerin auf Dokumente aus deren Nachlass und mündliche Zeugnisse zurück. Als Problem erwiesen sich – trotz der zeitlichen Nähe – die Widersprüche zwischen den verschiedenen Dokumenten und Aussagen, auch denen der Sängerin »Mama« Yancey selbst. Außerdem wurde die Autorin von der unerwarteten Erfahrung von Fremdheit zu einer anderen Frau überrascht und sich bewusst, dass Frau-Sein nicht gleich Frau-Sein bedeutet. Borchard erörtert die Quellenproblematik im Hinblick auf historische Personen, männliche und weibliche, und stellt eine konstruktive Methode zum Umgang mit Lücken vor. Beide Texte machen auf verschiedene Weise deutlich: Trotz aller Lücken und Tücken erfahren wir durch Biografien Wichtiges über Menschen, Musik, Kontexte und uns selbst. IV. Unsung Voices: Von der Musikwissenschaft wird immer auch erwartet, analytische Aussagen über Musik zu formulieren. Die Kategorie Geschlecht erweist sich dabei als besondere Herausforderung an die etablierten Methoden musikalischer Analyse. Man würde es sich zu einfach machen, ginge man davon aus, dass musikalische Klänge geschlechtsneutral seien und somit von Gender-Fragen unberührt blieben. Kunstwerkanalyse misst meist der Frage nach der Autorin oder dem Autor hohe Bedeutung bei und handelt insofern auch von Subjekten, denen wir unweigerlich eine Geschlechtsidentität zuschreiben. Umstritten bleibt die Frage, ob Frauen anders komponieren als Männer, ob es so etwas wie eine weibliche Schreibweise gibt. Es ist allerdings
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fraglich, ob gerade diese Frage neue Erkenntnisse hervorbringen kann, oder ob sie lediglich dazu führt, die Dichotomie der Geschlechter (männlich versus weiblich) in essentialistischer Weise festzuschreiben. Vielversprechender scheint es zu sein, nach den Bedeutungen zu fragen, die eine Analyse den Geschlechteridentitäten der Autorinnen und Autoren bzw. Komponistinnen und Komponisten beimisst – und inwiefern eine Analyse dabei ihren eigenen, an eine Geschlechtsidentität gebundenen Blickwinkel reflektiert. Alle Beiträge dieses Teils problematisieren auf je bestimmte Weise das Verhältnis zwischen dem Geschlecht einer musikalischen Autorin bzw. eines musikalischen Autors und ihren bzw. seinen künstlerischen Produkten. Ruth Solie diskutiert, wie Robert Schumann in seinem Liederzyklus Frauenliebe und Leben Aspekte von Weiblichkeit vertont. Carolyn Abbate hat eine Methode der Opernanalyse entwickelt, die es ihr erlaubt, die klingende Oper als Dialog verschiedener Stimmen zu interpretieren. Auf diesem Weg zeigt sie auf, dass auch in von Männern komponierten Opern Frauen starke Subjektpositionen innehaben können. Von Abbate haben wir das Motto dieses Teils, »Unsung Voices«, übernommen. Es basiert auf einem sprachlichen Bild, das im Deutschen nur unzureichend wiedergegeben werden kann (›ungesungen‹), im Englischen aber durchaus beliebt ist, um auf bisher Unerkanntes oder Unerhörtes hinzuweisen. In diesem Sinn eignet sich die Metapher ›Unsung‹ auch für eine emphatische Verwendung im Sinn der Frauenforschung, z.B. als Titel von Christine Ammers Geschichte der Frauen in der US-amerikanischen Musik (Teil II, Kap. 8). Richard Middleton verweist auf Gender-Konnotationen diverser Popmusik-Genres und diskutiert diese im Zusammenhang mit der Autorin und Performerin Annie Lennox, die im Kontext des 1980er-Pop auf verschiedene Weise stereotype Vorstellungen von Geschlechterrollen infrage stellte. Während in den ersten drei Texten dieses Teils Analyse und Gender in Kombination mit textlichen, bildlichen oder performativen Medien erörtert werden, geht es im letzten Beitrag um Instrumentalmusik ohne andere mediale Ebenen. Anhand einiger Sonatenhauptsätze von Fanny Hensel führt Annegret Huber zum einen praktische Analyseresultate vor und führt die Diskussion zum anderen auf eine Metaebene, indem sie die historischen Bedingungen der Analyse und ihrer häufig wertenden Kriterien aufzeigt. V. Staging Gender: In dieser Formel, die wir der Theaterwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter entliehen haben,9 steckt die Auffassung, dass Geschlecht eine Sache der Darstellung, der Inszenierung ist. Popsängerinnen wie Annie Lennox oder Madonna, die ihre wechselnden Bühnenoutfits mit teils stark 9 Gabriele Brandstetter: »Staging Gender. Körperkonzepte in Kunst und Wissenschaft«. In: Franziska Frei Gerlach, Annette Kreis-Schinck, Claudia Opitz (Hg.), KörperKonzepte – Concepts du corps. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung. Münster 2003, 23–43.
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übertriebenen ›weiblichen‹ bzw. ›männlichen‹ Elementen ausstatten, sind vielen als Beispiele für exzentrische Inszenierungen verschiedener geschlechtlicher Identitäten bekannt. Aber auch in Fällen, in denen es nicht unbedingt beabsichtigt ist, beinhalten Bühnendarstellungen bestimmte Inszenierungen von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit, wobei die Körper der Darstellenden eine zentrale Rolle spielen. Für die Gender Studies ergibt sich daraus ein weites Forschungsfeld zu den körperlichen Bedingungen und Möglichkeiten der vielfältigen künstlerischen Darstellungsformen. Freia Hoffmann hat in ihrer wegweisenden musikhistorischen Studie Instrument und Körper gezeigt, wie enorm sich für bürgerliche Frauen im 18. und 19. Jahrhundert der Aspekt der Körperlichkeit auf die Möglichkeiten zum Instrumentalspiel ausgewirkt hat. Der weibliche Körper war nie bloß ein Medium zur Ausführung musikalischer Vorstellungen, sondern immer auch ein Objekt der Blicke, deren Subjekte, sofern sie sich über das Gehörte und Gesehene öffentlich äußerten, in der Regel Männer waren. Als zweiter Beitrag dieses Teils steht Robert Walsers Text exemplarisch für zahlreiche Analysen von Geschlechterinszenierungen anhand von Musikvideos. Mit seiner Untersuchung von Männlichkeiten hat Walser allerdings – zumal bereits 1993 – ein Feld betreten, das gerade in der musikwissenschaftlichen Gender-Forschung erst wenig bearbeitet worden ist. Suzanne Cusick schließlich knüpft unmittelbar an die Studien der Philosophin Judith Butler an, deren Konzept von Geschlechterperformanzen seit den 1990er Jahren disziplinübergreifend zu einem zentralen Impuls für die Gender Studies geworden sind. Laut Butler entsteht geschlechtliche Identität durch wiederholt ausgeführte Handlungen bzw. Darstellungen, die sie als Performanzen (›performances‹) bezeichnet. Cusick fragt, welche Zusammenhänge zwischen diesem Konzept und Musik bestehen. Während Hoffmann und Walser die visuelle Ebene der musikalischen Darbietung hervorheben, interessiert Cusick sich dafür, inwiefern Musik auf der klingenden Ebene Geschlechterperformanz sein kann. Dabei spricht sie der Stimme und dem Gesang eine Schlüsselrolle zu. Die fünf Bereiche, die wir hier unterscheiden, stehen in verschiedenen Wechselbeziehungen zueinander. Denn wenn wir Gesang als Performanz von Geschlecht begreifen, wird sich das auf die musikalische Analyse auswirken; ebenso rührt die Berücksichtigung der Körperlichkeit, das Verständnis von Musik als Performanz, sicher auch an die Grundfragen der Disziplin. In diesem Sinn ist die Gliederung dieses Readers nicht als starres System, sondern in erster Linie als ein Angebot zur Orientierung gedacht. Dem inhaltlichen Überblick über den Aufbau sind noch ein paar formale Hinweise zur Verwendung des Buches hinzuzufügen. Aus Platzgründen geben wir sämtliche Schlüsseltexte in Auszügen wieder. Damit soll mitnichten gesagt sein, dass die ausgelassenen Passagen überflüssig wären; die eine Leserin oder
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der andere Leser mögen sich aus guten Gründen eher für andere als die hier zitierten Textteile interessieren. Bei unserer Auswahl der Textauszüge ging es uns um ein Gesamtbild aus exemplarischen Einblicken in die musikwissenschaftliche Gender-Forschung, das eine möglichst große Bandbreite darstellt, und zugleich erlaubt, Querverbindungen zu erkennen. Auslassungen, Einschübe und Anmerkungen von uns sind durch eckige Klammern gekennzeichnet. Die Orthographie der im Original deutschen Texte haben wir beibehalten, auch dort, wo die alte Rechtschreibung verwendet wird. Anmerkungsapparate und Literaturangaben wurden in Form von Fußnoten vereinheitlicht. Alle englischsprachigen Texte haben wir ins Deutsche übersetzt. Dabei haben wir uns so eng wie möglich an die Vorlagen gehalten und uns zugleich um eine gute Lesbarkeit bemüht. Jedem Textauszug haben wir eine Einleitung vorangestellt, die die Lektüre und den Einstieg in das jeweilige Thema erleichtern soll. Hier wird der Kontext der jeweiligen wissenschaftlichen Diskussion erläutert, zentrale Begriffe werden erklärt und die Autorin oder der Autor wird kurz vorgestellt. Bei umfangreicheren Textvorlagen bietet die jeweilige Einleitung auch einen knappen Überblick über den Text als Ganzes. Am Ende jeder Einleitung findet sich eine kurze Bibliografie, die sich in drei Teile gliedert: (1) die bibliografischen Angaben zum anschließend zitierten Schlüsseltext, (2) eine Auswahl weiterer Veröffentlichungen der jeweiligen Autorin bzw. des Autors, (3) eine Auswahl weiterführender Literatur zum jeweiligen Thema. Mit Fußnoten sind wir in den Einleitungen sparsam umgegangen; Literaturhinweise finden sich hier größtenteils direkt im Text und beziehen sich auf die jeweils angehängte Bibliografie. Zu guter Letzt möchten wir all jenen danken, die zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Die Grundidee zu einem Reader stammt von Prof. Dr. Annette Kreutziger-Herr (Köln) und Prof. Dr. Melanie Unseld (Oldenburg). Ihnen haben wir erste Anstöße zu verdanken. Elena Mohr vom Böhlau-Verlag sei herzlich gedankt für die kreative und bereichernde Zusammenarbeit. Ein großer Dank geht an Roman Bartosch, Raika Simone Maier und besonders an Horst Losleben und Karina Seefeldt. Sie haben in vielen Stunden an der oft vertrackten Übersetzung der englischen Texte mitgearbeitet und damit einen unschätzbaren Beitrag für die Lesbarkeit des Buchs geleistet. Den Korrekturlesern Philipp Lack und Christoph Müller-Oberhäuser möchten wir ebenso danken wie Verena Trautmann, die die Texte eingerichtet hat. Katrin Loraing hat nicht nur die Endredaktion akribisch erledigt, sondern auch mit einer großzügigen finanziellen Unterstützung zur Drucklegung beigetragen, die des Weiteren unterstützt wurde vom Fachbereich 5 der Hochschule für Musik und Tanz Köln, der Gerda-Weiler-Stiftung und der Mariann Steegmann-Foundation. Ihnen allen sei herzlichst gedankt. Den Verlagen
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danken wir für die Abdruckgenehmigungen. Den Herausgeberinnen Annette Kreutziger-Herr, Dorle Dracklé, Dagmar von Hoff und Susanne Rode-Breymann danken wir dafür, dass sie das Buch in die Reihe Musik – Kultur – Gender aufgenommen haben. Schließlich möchten wir uns bei Simone Heesch und bei Mark Berthold-Losleben für ihre unendliche Geduld bedanken. Köln, März 2012
Florian Heesch und Katrin Losleben
1. Zum Ausschluss der Frauen aus der Musikgeschichte Eva Rieger: Frau, Musik und Männerherrschaft (1981/1988) Einleitung Eva Riegers Frau, Musik und Männerherrschaft erschien 33 Jahre nach Sophie Drinkers Women in Music (1948) und gilt heute als das wichtigste Buch im Entstehungsprozess der musikwissenschaftlichen Gender Studies im deutschsprachigen Raum. »Dass ich bisher keine einzige Komponistin gekannt hatte, dass in Musikgeschichten wie im Musikleben Frauen nur am Rande vorkamen, war mir bisher nicht einmal aufgefallen«, so beschreibt Rebecca Grotjahn, heute Professorin für Musikwissenschaft und Gender Studies in Detmold, die damalige Situation, in welche Riegers Buch »wie ein Blitz aus heiterem Himmel« einschlug (Grotjahn 2010, 71). Tatsächlich war das Fehlen von Frauen im musikwissenschaftlichen Diskurs erst in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren von weiteren Kreisen überhaupt bemerkt worden. Viele jener Fragen, Methoden und Ziele, die sich seitdem in den Gender Studies etabliert haben, wurden mit Riegers Buch angestoßen. Die feministische Bewegung der 70er Jahre im Hintergrund, die »Betroffenheit über die desolate Lage der Frau im gesamten kulturellen Umfeld« und das »berufliche Interesse« einer Musikpädagogin (Rieger 1988, 10) verbanden sich für Rieger in der wissenschaftlichen Frage nach der musikalischen Ausbildung von Mädchen seit etwa 1750. Sie selbst beschreibt es als einen Domino-Effekt, dass Fragen nach der »Frau im musikpädagogischen Bereich« (so der Titel des 1. Kapitels) viele weitere Fragen nach sich zogen. Man könnte es auch als ein Wespennest bezeichnen, in dem Rieger stocherte: Allmählich dämmerte mir, daß ich mir eine riesige, kaum zu bewältigende Aufgabe zugemutet hatte. Es ging längst nicht mehr darum, Lücken in der Musikgeschichte zu füllen, sondern die Phänomene mußten neu bearbeitet werden. Die gesamte Sicht der Dinge war ver-rückt: ich mußte schier alles in Frage stellen, was sich als ›Wissenschaft‹ ausgab, dennoch aber versuchen, einen wissenschaftlichen Standard beizubehalten. (Rieger 1988, 5)
Das bedeutete, dass sie den Fragenkanon der etablierten Musikwissenschaft verlassen und neue methodische Wege finden musste. Indem sie den Fragenkomplex ausweitete und jenseits des Notentextes und ökonomischer Faktoren
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nach den Ursachen für die weitgehende Abwesenheit von Frauen in der Musikgeschichte suchte, verfestigte sie zum einen ihre These, dass die »Herabsetzung der Frauen als ein umfassender kultureller Prozess« verstanden werden musste (Rieger 2010, 64). Zum anderen bereitete sie den Boden für eine Musikwissenschaft, die Kanonbildung, Körperlichkeit, soziale Strukturen und sich selbst reflektiert. Unter Einbeziehung eines großen Quellenfundus aus Bibliotheken, Notenarchiven, zeitgenössischen Nachschlagewerken und Lehrbüchern erzählt Rieger die Geschichte der europäischen Musikpädagogik und des Musiklebens vom Mittelalter bis in die Nachkriegszeit als die Geschichte des Ausschlusses und der Unterdrückung von Frauen. Diesen Ausschluss beschreibt Rieger im zweiten Kapitel auf einer diskursanalytischen Ebene. Sie untersucht und kontextualisiert zeitgenössische Texte über den Schaffensprozess von Kunst und zeigt, wie sich geschlechtsspezifische Diskurse darin manifestiert haben. So sind Begriffe wie Heldentum, Größe, Genius eindeutig männlich konnotiert; der Frau hingegen wird die Rolle der Inspirierenden zu-, die der selbst künstlerisch Handelnden abgeschrieben (vgl. Rieger 1988, 105–124). Rieger untersucht musikgeschichtliche Abhandlungen zur Sonatenhauptsatzform oder zu Komponisten und Epochen auf Geschlechterzuschreibungen. Fazit ist: »Zweifellos tragen die gängigen Interpretationen von Musik androzentrische Züge – stets auf den Mann bezogen« (S. 129). Bis in die Musik hinein verfolgt Rieger geschlechtsspezifische Diskurse. Damit befindet sie sich im Kern ihrer Forschungsarbeit bis heute. Rieger ist der Überzeugung, dass bestimmte musikalische Phänomene als anthropologische Konstanten in der Musik stets wiederkehren: »Wieso reißen selbst Blinde die Arme hoch, wenn sie sich freuen, und wieso wird seit der Renaissance bis hin zur Filmmusik Positives mit aufwärts steigenden Floskeln, Negatives mit abwärts fallenden Themen oder Melodien beschrieben?« (Rieger 2010, 67). Bestimmte musikalische Mittel sind, so Rieger, eben auch geschlechtlich konnotiert. Die Idee der absoluten Musik ist damit freilich in Frage gestellt. Zwölf Jahre später verfolgte auch Susan McClary diesen Ansatz. Die Debatte über die Validität dieser Vorgehensweise hält bis heute an. Riegers Studie entstand vor dem Hintergrund einer kämpferischen Frauenbewegung, jedoch ohne dass bereits einschlägige Referenzwerke oder Netzwerke in der Musikwissenschaft existiert hätten. Der zuweilen fast wütende Schreibduktus, die Stofffülle, die Themenfeld und Forschungsbedarf absteckt, ohne sie immer eingehend zu bearbeiten, eine in Teilen traditionelle Fragestellung, die auf Frauen angewendet wird – wie die Frage nach den »großen Komponistinnen« Clara Schumann oder Fanny Hensel, die Fortschreibung dichotomer Gegensätze (Frau/Mann, oben/unten usw.), die Stilisierung der Frau als Opfer, des Mannes als »Peiniger«: Diese Aspekte ihres Ansatzes geben Anlass zu berechtigter Kritik. Zum einen aber sind Zeit und Situation der Entstehung ihres
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Buches mitzudenken, zum anderen sind darin bereits auch heute noch relevante Fragestellungen formuliert. Rieger hat kulturelle Mechanismen und Strategien benannt, die zum Ausschluss der Frauen aus dem musikalischen Leben geführt haben. Im Wissenschaftsdiskurs aktuelle Kategorien wie ›Gender‹, ›ethnische Zugehörigkeit‹ und ›soziale Schicht‹ sind dort bereits angelegt, wo Rieger die »häufige Verbindung von Rassismus mit Nationalismus und Sexismus, aber auch mit Schichtendenken« diskutiert (vgl. Rieger 1988, 119). Eva Rieger hat neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit als Professorin aktiv als Mentorin von Nachwuchswissenschaftlerinnen, durch Stiftungstätigkeit, Instituts- und Fachgruppengründungen die Etablierung der GenderStudies vorangetrieben und ist seit 2009 Ehrenmitglied der American Musicological Society. Katrin Losleben Textvorlage Eva Rieger: Musik als Trägerin geschlechtsspezifischer Ideologien. In: Frau, Musik und Männerherrschaft. Zum Ausschluß der Frau aus der deutschen Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Musikausübung. Frankfurt a.M. 1981. 2. Aufl. Kassel 1988 [Auszug 124–131, 146–150].
Weitere Veröffentlichungen von Eva Rieger Nannerl Mozart. Leben einer Künstlerin im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M., Leipzig 1992. 2., erweiterte Auflage ebd. 2005. Alfred Hitchcock und die Musik. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Film, Musik und Geschlecht. Bielefeld 1996. Leuchtende Liebe, lachender Tod. Richard Wagners Bild der Frau im Spiegel seiner Musik. Düsseldorf 2009. Frau, Musik und Männerherrschaft revisited. In: Annette Kreutziger-Herr u.a. (Hg.), Gender Studies in der Musikwissenschaft – Quo Vadis? Festschrift für Eva Rieger zum 70. Geburtstag. Hildesheim u.a. 2010 ( Jahrbuch Musik und Gender 3), 63–69.
Weiterführende Literatur Bowers, Jane, Judith Tick (Hg.): Women Making Music. The Western Art Tradition 1150– 1950. Urbana, Chicago 1986. Drinker, Sophie: Music and Women. The Story of Women in Their Relation to Music. New York 1948. Grotjahn, Rebecca: Domino-Effekte. Überlegungen zu einer Geschlechtergeschichte der Musik. In: Annette Kreutziger-Herr u.a. (Hg.), Gender Studies in der Musikwissenschaft – Quo Vadis? Festschrift für Eva Rieger zum 70. Geburtstag. Hildesheim u.a. 2010 ( Jahrbuch Musik und Gender 3), 71–82.
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Ausgewählter Text Abschnitt II. Musik als Trägerin geschlechtsspezifischer Ideologien Kap. 2.3. Androzentrische Sprache in der Musikgeschichtsschreibung »Man versteht Musik genauer, wenn man die Mühe nicht scheut, sich die Struktur der Sprache, in der über sie geredet wird, bewußt zu machen.« (Carl Dahlhaus)
Eine androzentrische (d. h. auf den Mann bezogene) Sprachhandhabung ist allgemeines Symptom für eine Kultur, in der alle öffentlichen Bereiche vom Mann verwaltet werden.1 Daher ist zu fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, in einem Teilbereich wie der Musikliteratur sprachliche Absonderheiten hervorzuheben. Demgegenüber ist bislang nur wenig reflektiert worden, in welch hohem Maße sprachliche Diktion vor allem unbewußt rezipiert wird. Denkt man an Wortschöpfungen wie »antiimperialistischer Schutzwall« bzw. »Schandmauer«, die beide den gleichen Gegenstand beschreiben, wird offenbar, daß mit bestimmten Wortkreationen ein ideologischer Sachverhalt transportiert wird. So auch in der verbalen Beschreibung von Musik. Helga de la Motte-Haber weist auf die Entstellungen und Verzerrungen hin, die verbale Äußerungen über Musik haben können. Schon um die Jahrhundertwende haben Wissenschaftler determinierende Tendenzen ausgemacht, die zu einem Vorurteil führen können und den Denkprozeß stark beeinflussen. »Man kann nicht umhin ... zuzustimmen, daß schon die Wahl der Worte Interpretationen hervorbringt, für die nichts einsteht als die subjektive Überzeugung des Interpretierenden.«2 Hier stellt sich die Sachlage insofern etwas anders [dar], als es sich nicht nur um subjektive Äußerungen einzelner handelt, sondern um allgemeingebräuchliche Begriffe innerhalb musikliterarischer Schriften. Die Verwendung geschlechtsspezifischer Ausdrücke weist auf einen verallgemeinernden Sachverhalt hin, der sich zweifach deuten läßt. Zum einen können sexistische Sachverhalte in der Musik selbst vorhanden sein (dies wird im anschließenden Abschnitt erläutert); zum anderen zeichnet sich die Musikwissenschaft inner1 Vgl. Senta Trömel-Plötz: »Linguistik und Frauensprache«. In: Linguistische Berichte 57, 1978. Lesenswert ist die Erwiderung von Luise Pusch auf die Kritik von H. Kalverkämper zu diesem Aufsatz (s. die darauffolgenden Hefte). 2 Helga de la Motte-Haber: Psychologische Musiktheorie. Frankfurt a.M. 1976, 77.
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halb des allgemeinen Wissenschaftsbetriebes durch eine besonders hartnäckige patriarchale Struktur aus. Dies zeigt sich u.a. in der Vorherrschaft der Musikhistorie gegenüber systematischen Disziplinen, in der Kultivierung des »Kunstwerks« sowie im Festhalten an scheinbaren Ewigkeitswerten und Geistigem in der Musik. »Nirgends wird am Überkommenen so zäh festgehalten wie in der Musikwissenschaft«:3 Das ist nicht zuletzt am Sprachgebrauch abzulesen. In einem Schulbuch von 1929 besteht die Sonatenform aus dem »Gegensatz aktiver, männlicher und weicher, labiler, weiblicher Elemente.«4 Einige Jahrzehnte später heißt es unverändert: »Im ersten (Thema) wird der männliche, vom Rhythmus bestimmte Charakter betont, im zweiten der weibliche, der die entscheidenden Kräfte vom Gesanglichen her empfängt.«5 Das größte deutschsprachige Nachschlagewerk zur Musik schreibt zur Sonatenform: Zwei Grundprinzipe des Menschen sollen in den beiden Hauptthemen Gestalt werden: das tätig nach außen drängende männliche 1. Thema und das still in sich beruhende weibliche 2. Thema. Das 2. Thema ... soll vor allem ein Folgethema sein, ein solches von geringer Selbstständigkeit, das erste abwandelnd und doch Ausdrucksgegensatz zu ihm.6
Die stereotype Zuordnung von »weiblichen« Eigenschaften mit passivem Verhalten kann sich aber auch auf einzelne Komponisten und zuweilen auf ganze Epochen übertragen. Für Liszt war Chopin ein »weiblicher Erzengel«7. Überhaupt stellt die Romantik in ihren negativen Erscheinungen das Weibliche par excellence dar, deren Vertreter weibische Züge tragen. Man ist von sich und seiner Sehnsucht erfüllt, die Welt wird zum Traum. Der starke, ethisch bedingte Willensimpuls Beethovens ist nicht mehr da, man ist dem Sein gleichsam passiv ausgeliefert, man steht ihm sogar etwas fremd gegenüber. Anstelle von Beethovens Härte ist Weichheit und Zartheit getreten. Hatte die Musik bei Haydn
3 Clytus Gottwald: »Deutsche Musikwissenschaft«. In: Ulrich Dibelius (Hg.), Verwaltete Musik. München 1971, 59. 4 Edgar Rabsch, Hans Burkhardt: Musik. Frankfurt 1929, Bd. 3, 236. 5 Walter Georgii: Geschichte der Klaviermusik. Freiburg 1950, 213. 6 Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG1). Hg. von Friedrich Blume. 1. Aufl. Kassel 1949–1986. Bd. 4, 549, vgl. auch Heinz Lemmermann: Musikunterricht. Bad Heilbrunn 1977, 132. Auch Klimowsky sieht in der Sonatenform weibliche und männliche Elemente im Wechselspiel miteinander, vgl. Ernst W. Klimowsky: Geschlecht und Geschichte. Sexualität im Wandel von Kultur und Kunst. Teufen, St. Gallen 1956, 94. 7 Zit. bei Paula Rehberg: Liszt. Eine Biographie. München 1978, 48.
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und Mozart etwas Kindliches, bei Beethoven etwas Männliches, so hat sie jetzt etwas Weibliches.8
Warum die Romantik als weiblich gilt, wird an den heutigen Musiklexika deutlich. Ihnen zufolge ist die romantische Harmonik durch den »reichlichen Gebrauch üppiger Alterationen« gekennzeichnet, die ihr den Charakter des »weichen Gleitens« geben. Konturen »verschleiern«, verschiedene musikalische Mittel werden zu »reinen Reizmitteln, die das logische Gerüst ... zersetzen.« Vieles »degeneriert« zur farblichen Wirkung.9 Die romantische Musik »zwingt den Hörer die Dämonie ihrer Reizkräfte auf.«10 Alle diese Eigenschaften werden sonst der Frau zugeordnet: Sie ist irrational, sinnlich, reizvoll, in ihrer negativen Form ist sie zersetzend und morbid. Wenn es also in einem Lexikon von der Klassik heißt, daß sie »frei von allen Schlacken der sinnlichen Welt« ist und daß sie den Menschen über sich selbst hinaushebt »in die Region des reinen Geistes«,11 wird damit unverbrämt dem männlichen Prinzip gehuldigt. Hierzu paßt auch, wie es ein Musikschriftsteller 1914 ausdrückte, daß der romantische Geist ein »Herabsinken der Tatkraft« herbeigeführt hätte.12 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Überhandnehmen romantischer Eigenschaften die männliche Tatkraft (Potenz) gefährdete. Beethoven stellt dagegen den Inbegriff des Männlichen dar. Ein Beethovensches Thema kann sich zu »mannhaftem Entschluß« steigern;13 in der 9. Sinfonie »hebt faustisches Ringen an«;14 eine »köstliche, männlich selbstbewußte Daseinsfreude lacht«15 aus seiner Klaviersonate op. 22. Zu Schuberts Klaviersonaten ist im Vorwort zur Urtextausgabe zu erfahren: »Noch ist zwar allerorten Beethovens Geist zu spüren, aber er wird weiblich umschmeichelt und immer wieder gebannt.«16 Schlägt Beethoven weichere Töne an, fehlt das weibliche Etikett auch hier nicht: Beethoven notiert sich für dieses Stück (op. 110) ›immer simpler‹ und tatsächlich ist es von einer Einfachheit, einer Kindlichkeit im Liedmäßigen der Hauptthemen, die 8 Jacques Handschin: Musikgeschichte im Überblick. Luzern, Stuttgart 1964, 356. 9 MGG1 (wie Anm. 6), Artikel Romantik. 10 Ebd. [Bei Rieger steht: »a. a. O.« (am angeführten Ort), was hier und im Folgenden durch das heute üblichere, auch sonst im vorliegenden Band verwendete »ebd.« (ebenda) ersetzt wird.] 11 MGG1 (wie Anm. 6), Artikel Klassik. 12 Adolf Weissmann: »Musik und Krieg«. In: Die Musik 14, 1914, 103. 13 Gustav Ernest: Beethoven. Berlin 1920, 462. 14 Hans Renner: Reclams Konzertführer. Stuttgart 1959, 172. 15 Paul Bekker: Beethoven. Frankfurt 1912, 136. 16 Peters Verlag, o. J.
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beglückend ist; weil dahinter alles steht, was Beethoven überwunden hat. Die Sonate op. 110 ist ein weibliches Stück, in alle Schönheit gekleidet, wenn op. 111 ein männliches genannt wird.17
Für den Musikwissenschaftler Schering trägt die Musik des Barock »entscheidende Züge der Männlichkeit.« Sie ist »herb und hart, femininen Regungen fast unzugänglich.«18 Sehnte er sich danach zurück? Wenig später spricht er vom »glücklichen Stand der Barockmusik.«19 Die Vertreter dieser Epoche werden ebenfalls mit dem männlichen Etikett behaftet. Robert Schumann verrät hierbei unbewußt seine Sicht der Frau: Die Fuge habe ich der Reihe nach bis in ihre feinsten Zweige zergliedert; der Nutzen davon ist groß und wie von einer moralisch-stärkenden Wirkung auf den ganzen Menschen, denn Bach war ein Mann – durch und durch; bei ihm gibt’s nichts Halbes, Krankes, ist alles wie für ewige Zeiten geschrieben.20
Die sogenannte »weibliche Endung« wird meist pejorativ verwandt. »Zu Anfang beherrschen wieder weibliche Endungen das Bild, durch die das Thema an melodischer Spannkraft einbüßt ...«21 »Zu dem männlichen Wesen seiner Musik trägt bei, daß er schon in den frühen Sonaten die in jener empfindsamen Zeit übertriebene Pflege des Vorhalts, der ›weiblichen Endung‹, nicht mitmacht.«22 Dem Mann wird in erster Linie das Kraftvolle zugeordnet: (Über die Entfaltung der Sonatenform:) »Hier mußte die neu errungene Freiheit unfruchtbar bleiben, wenn es nicht gelang, ihr Samen aus dem Schoße der männlich kraftvollen hochbarocken Kompositionstechnik zuzuführen«23 ... (Über Beethoven und Neefe:) »Die Sonaten des kindlichen Schülers sind moderner und – seltsam genug – männlicher, kraftvoller als die des Lehrers.«24 »Frohe Energie durchpulst das ganze Stück, gesundes Kraftbewußtsein, das sich nicht bei schwerwiegenden Rätseln aufhält ... eine so köstliche, männlich selbstbewußte Daseinsfreude lacht selten aus Beethovens Werken.«25 17 Edwin Fischer: Ludwig v. Beethovens Klaviersonaten. Wiesbaden 1958, 131. 18 Arnold Schering: Von großen Meistern der Musik. Leipzig 1940, 18. 19 Ebd., 206. 20 Zit. bei Armin Gebhardt: Robert Schumann als Symphoniker. Regensburg 1968, 107. 21 Wolfgang Boetticher: Robert Schumann. Berlin 1941, 541. 22 Georgii: Geschichte der Klaviermusik (wie Anm. 5), 185. 23 Ebd., 189. 24 Ebd., 206. 25 Bekker: Beethoven (wie Anm. 15), 136.
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»Daß Schumann das Empfindungsleben der Frau mehr und mehr in den Vordergrund rückte ... hat das dramatische Leben dieser Werke nicht befördert, aber den kraftvoll tätigen Charakter mehr und mehr entzogen.«26 Auch das Attribut der Reife wird gern dem Mann zugesprochen: »Innerhalb dieser Grenzen liegen die Werke der reifen Manneszeit.«27 »Der Zug freudig ernster Männlichkeit, der das Ganze durchweht, verbietet es, hier in herabsetzendem Sinn von einer Jugendarbeit zu sprechen.«28 »Den Grundzug der übrigen Sätze bestimmt die edle Verbindung von Milde und Männlichkeit, durch die Haydn besonders verehrungswürdig ist.«29 Das Attribut »weiblich« kann fehlen, weiß man doch, was gemeint ist: »Freudige Vollgriffigkeit im hellsten C-Dur beherrscht die zweite Skizze; ein Mittelsatz strömt mit seinen Kantilenen weichere Regungen in das männliche Stück.«30 »Denn durch den Gegensatz des männlich herausfordernden Anfangs und der zart bittenden Gesangsmelodie erhält das Werk einen unverkennbar heroisch elegischen Charakter, der indessen erst am Schluß des Werkes deutlich erkennbar wird.«31 In der folgenden Tabelle sind die jeweiligen Attribute aufgelistet, die sich auffinden ließen: Männlich Spannung Kraft Lebhaftigkeit Aktivität Gesundheit Daseinsfreude Reife Stärke Dramatik Drang nach außen Heroentum Herausforderung Selbstbewußtsein Härte Herbheit Ernst Ewigkeit
Weiblich Gesanglichkeit fehlende Spannkraft Selbstaufopferung Leiden Gefühlsüberschwang Zartheit, zartes Bitten Verklärtheit Selbstlosigkeit Innigkeit Einschmeichelei Weichheit Einfachheit Kindlichkeit Schönheit
26 Martin Ninck: Schumann und die Romantik in der Musik. Heidelberg 1929, 87. 27 Bekker: Beethoven (wie Anm. 15), 147. 28 Ebd., über die 1. Sinfonie Beethovens. 29 Georgii: Geschichte der Klaviermusik (wie Anm. 5), 185. 30 Walter Dahms: Schumann. Berlin 1922, 265. 31 Bekker: Beethoven (wie Anm. 15), 127.
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Zum Schluß ein Zitat des sich revolutionär gebenden Komponisten Hans Werner Henze zur Gattung der Oper: »Objektiv sind in dieser Kunstform Reichtümer enthalten, die zu den schönsten Erfindungen des menschlichen Geistes gehören. Sie gehören allen Menschen, sind nicht für die Herrschenden geschrieben worden, sondern brüderlich für die Brüder.«32 Ein »lapsus linguae« oder bewußte Überzeugung? Henze befindet sich jedenfalls in bewährter Tradition, wenn er die Kategorie der Objektivität mit dem Männlichen gleichsetzt. Zweifellos tragen die gängigen Interpretationen von Musik androzentrische Züge stets auf den Mann bezogen. Vom Mann stammt die Musik, von ihm handelt sie: die verbalen Interpretationen sind darauf gerichtet, den Mann als handelndes Subjekt, die Frau als angehängtes Objekt zu begreifen. Im nächsten Kapitel wird untersucht, ob diese sprachlichen Beschreibungen mit der Musik im ursächlichen Zusammenhang stehen, d.h., ob sich die Geschlechterpolarität in der Musik selbst nachweisen läßt. 2.4. Sexistische Strukturen in der Musik »Die Kunst ist für die Geschichte der menschlichen Gemeinschaften das, was der Traum für den Psychiater bedeutet.« (René Huyghe, 1939)
Der Gedanke, daß sich außermusikalische Tatbestände in der Musik vermitteln lassen und daß sie als kommunikative Grundmuster unseres musikalischen Kulturkreises auch entsprechend rezipiert werden, ist nicht neu. Einer der bekanntesten Versuche, aufzuzeigen, daß Musik bestimmte Gefühle und Bilder vermittelt, stammt von Albert Schweitzer. In seiner Studie über Bach wies er nach, daß dessen Musik nicht eine reine Kunst ist, die sich in abstrakten Tonlinien erschöpft, sondern daß sich darüber hinaus in symbolischen Kategorien durch den Klang hindurch eine tiefere Ebene offenbart. Schweitzer war überzeugt, daß Bach bestimmte Gefühle und Bilder vermittelte.33 Das illustrative Prinzip ist seit Jahrhunderten ein Grundstock musikalischer Ausdrucksformen gewesen. In den Opern und Oratorien von Mattheson, Keiser und Telemann sind eine Fülle musikalischer Illustrationen auffindbar. Bach trug dazu bei, auch die geistliche Musik illustrativ auszuschmücken. 32 Zeitschrift Bühnengenossenschaft, zit. in Die Zeit vom 13.1.1978. 33 Albert Schweitzer: J. S. Bach. Leipzig 1908.
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Aus dem deskriptiven Realismus wurde ein Stück musikalischer Materie; die musikalischen Affekte konnten schließlich auch ohne Text verstanden werden. Viele von ihnen haben sich bis heute gehalten und werden innerhalb der Werbung, in Filmmusiken34 usw. verwendet mit dem Ziel, bestimmte Empfindungen beim Hörer auszulösen. Im folgenden werden jedoch nicht nur illustrative Mittel, die die Geschlechterpolarität betreffen, hervorgehoben, sondern es wird gezeigt, daß die Kunstmusik von ihrer gedanklichen und empfindungsmäßigen Konzeption her auf männlichem Selbstverständnis beruht. Zunächst ist aber zu fragen, ob und inwiefern sich ideologische Tatbestände musikalisch transportieren lassen. Im musiksoziologischen Sektor waren es vor allem marxistisch orientierte Musikwissenschaftler, die untersuchten, inwieweit sich in der Musik gesellschaftliche Realität widerspiegelt. (Freilich konnte es hierbei zu Überspitzungen kommen, z.B., daß die Fuge mit dem Feudalismus gleichgesetzt wurde oder das Finale der Mozartschen Jupiter-Sinfonie als Klassenversöhnung gedeutet wurde.35) Erschwert wurde dieser Untersuchungsaspekt von der traditionellen Musikwissenschaft, die nach wie vor einer veralteten Vorstellung von Ästhetik anhängt. Deren zentrale Methode stellt die musikalische Analyse dar, die sich vornehmlich mit der Formorganisation befaßt und weniger mit dem begrifflichen Verstehen von Musik. Das Aufspüren einer Aussage ist daher noch weitgehend von subjektiven Faktoren geprägt und kann den Anspruch der Wissenschaftlichkeit nicht für sich beanspruchen. Immerhin ist hie und da das Bemühen sichtbar, sich differenziert mit dem Komplex auseinanderzusetzen: ... intuitiv, verschlüsselt und oft ohne oder sogar gegen die bewußte Konzeption des Kunstwerkes kann es (das Kunstwerk) andere Elemente enthalten, die auf dem Wege der Einstimmung, der Konnotation, der affektiven Erweiterung des Bedeutungsfeldes der musikalischen Zeichenwelt Erkenntnisse enthalten, die die wissenschaftlich philosophische Wahrheit erweitern. Dies ist freilich ein noch weniger erforschtes, aber, wie ich meine, keineswegs unerforschbares Gebiet.36
34 Vgl. Hans-Christian Schmidt: »Musik im Fernsehen – musikalische Titel von Fernsehserienfilmen«. In: Musik und Bildung 1/1977. Schmidt weist auf den Signal- und Aussagecharakter von Fernsehtitelstücken hin, der sich (nicht nur, aber auch) aus dem Charakter der Musik selbst begründen läßt. 35 Vgl. Hans Emons: »Musiksoziologie und Unterricht«. In: Forschung in der Musikerziehung. Mainz 1978, 156. 36 Georg Knepler: »Gustav Mahlers Musik – Versuch einer Wertung«. In: Otto Kolleritsch (Hg.), Gustav Mahler. Sinfonie und Wirklichkeit. Graz 1977, 13.
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Die vorliegenden Hypothesen sind dementsprechend bruchstückartig und als Anstöße für weitere Untersuchungen zu verstehen. Der bekannten Aussage des DDR-Musikwissenschaftlers Brockhaus, daß es weder eine kapitalistische noch eine sozialistische Terz gibt, ist hinzuzufügen, daß es weder eine weibliche noch eine männliche Terz geben kann. In seiner Untersuchung, inwieweit Richard Wagners Musik deutschnationale und antisemitische Elemente enthält, stellt Leon Stein fest, daß Musik weder Tatsachen noch allgemeingültige Wahrheiten wiedergeben kann. Sie kann aber dazu beitragen, ein Bewußtsein zu schaffen, in das sich bestimmte Dinge verankern lassen. Als Beispiel führt er den ethischen Gehalt Beethovenscher Musik an. Wir fühlen uns, so Stein, von ihr veredelt und erhöht; dieser Zustand wird jedoch nicht durch philosophische Aussagen erreicht. In diesem Sinn können musikalische Abläufe oder Musikstücke in sich niemals imperialistisch, aggressiv oder tyrannisch sein, aber sie können zur Schaffung eines Bewußtseins beitragen, das – in die entsprechenden Kanäle gelenkt – zu imperialistischem, aggressivem oder tyrannischem Verhalten führen kann.37
Diese Frage der Bewußtseinsbildung berührt auch Otto Brusatti in seiner Studie über nationalistische und ideologische Inhalte der Musik. Musik stellt für ihn keine außer- oder überzeitliche künstlerische Disziplin dar, sondern sie erfüllt stets bestimmte Funktionen für ihre Gesellschaft. Demnach spiegelt sie nicht nur die Geisteshaltung einer Epoche wider, sondern sie ist in dieser Spiegelung bereits wieder in das dialektische Spannungsverhältnis ihrer Zeit eingebettet. Das bedeutet konkret, daß sie mit anderen Künsten dazu beiträgt, das Lebensgefühl einer Epoche aktiv mitzugestalten. Im folgenden wird versucht, anhand der gesellschaftlichen Verfestigung der Geschlechterrollen im 18. Jahrhundert die musikalische Entsprechung, die diese Rollenpolarität nicht nur nachgestaltete, sondern zu formen half, aufzuzeigen. [...] Um 1800 entstand in der deutsch-romantischen Musikästhetik der Begriff der »absoluten Musik«, einer Musik also, die von Texten, Funktionen und von empirisch faßbaren Affekten losgelöst ist. Im Sinne dieses Prinzips wurde die »reine« Instrumentalmusik zum Inbegriff der Musik überhaupt: sie löste die Vorherrschaft der Vokalmusik ab.
37 Leon Stein: The Racial Thinking of Richard Wagner. New York 1950, 221 (Übersetzung der Verf.).
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Der Literaturhistoriker Gervinus nannte die Vokalmusik ein »mütterliches Urprinzip«,38 aus dem heraus sich die Instrumentalmusik, die Beethoven so vorzüglich vertrat und weiterentwickelte, ablösen mußte. Verbirgt sich hinter solchen Etikettierungen mehr als man ahnt? Absolute Musik bedeutet mehreres: zum einen das Ahnen des Absoluten, also Metaphysischen; zum anderen das Hinüberwechseln aus der Sphäre des Gefühls in die der »reinen« Idee. Beides enthält abgrenzende Elemente der Frau gegenüber. Der Komponist, der »Metaphysisches« in seiner Musik zu vermitteln vermochte, konnte nur männlichen Geschlechts sein, da er als Sonderfall der Schöpfung, als menschliche Inkarnation des »Absoluten« gefeiert wurde (wobei das Bürgertum in dieser Außerordentlichkeit und Größe zugleich die eigene – männliche – Leistung verehrte). Dies bildete den Grundstein für den Geniekult. Indem man in einem Zustand der Kontemplation etwas scheinbar Vollendetes betrachtete, war man von der Suche nach dem Realitätsgehalt der Musik entbunden und wurde durch die Vereinigung mit dem »Edlen« und »Erhabenen« selber edel und erhaben. (Hermann Glaser hat in einer Untersuchung über soziopsychische Charakterzüge des deutschen Kleinbürgers aufgezeigt, wie die »erhaben edlen« Gedanken sich in metaphysischer Verbrämung verfingen und zum hohlen Pathos degenerierten. Sie verloren ihren ursprünglich humanen Gehalt und wurden schließlich mit Ressentiments gefüllt.) Absolute Musik bedeutete aber auch durch die Kultivierung der »reinen Geistigkeit« eine Verabsolutierung männlicher Eigenschaften, da seit alters her die Körperhaftigkeit und Sinnlichkeit in der männlichen Imagination als weibliches Merkmal fungiert. Wie wirkte sich dies konkret für die Frau aus? In der Musikwissenschaft wird von dem Begriffspaar »Kenner – Liebhaber« ausgegangen. Diese Unterscheidung scheint ungenügend. Es gibt Hinweise, daß Frauen, die man zu den Liebhabern der Musik zählte, da ihnen eine berufliche Ausbildung verwehrt war, einen besonders negativen Status innehatten. Robert Schumann verdeutlicht dies, wenn er von einem Stück seines Zeitgenossen Carl Reißiger meint, es wäre »ein Quartett bei hellem Kerzenglanz unter schönen Frauen anzuhören ... während wirkliche Beethovener die Tür verschließen und in jedem einzelnen Takt schwelgen und saugen.«39 Der ästhetische Reiz der Frau läßt sich angemessen bei Kerzenlicht und seichter Salonmusik genießen, während die »innerste Wesenheit der Kunst«, das Eigentliche also, dort sichtbar wird, wo man sich vor der vulgären Öffentlichkeit bzw. vor der Frau verschließt. Die Verbindung von vulgärer Öffentlichkeit und Frau könnte auch dort mitschwingen, wo man das eine nennt und das andere 38 Zit. bei Arnold Schering: Ausgewählte Aufsätze. Hg. von Karl M. Komma. Stuttgart 1974, 279. 39 Zit. bei Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik. Kassel 1978, 20.
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meint: Beethoven schrieb sein Streichquartett op. 95 explizit für einen kleinen Kreis von »Kennern« und verbat sich eine öffentliche Aufführung. 40 Was Schumann in der Theorie vorschwebte, setzte Brahms in die Praxis um. Anläßlich eines Tonkünstlerfestes 1887 in Köln verlangte er, die Frauen auszuschließen. »Da wurden denn alle Damen ausgeladen, dann auf Frau Kwasts ernste Anfrage erlaubte er sie wieder, und nun wurden die Damen alle wieder eingeladen (die Frauen der Künstler), es blieben aber doch einige begreiflicherweise fort«, beschreibt Clara Schumann den peinlichen Vorfall,41 der sich ideologisch gesehen in die Abgrenzungsbestrebungen einreiht. In der Identifizierung der absoluten Musik mit dem Unsinnlich-Ideellen und Geistigen steckt eine negative Polarisierung zum Sinnlich-MateriellKörperlich-Unreinen und damit zur Frau, der diese Eigenschaften angeheftet wurden. Bemerkenswerterweise ist eine spezifische Rangordnung bei der bildenden Kunst ebenfalls vorhanden. Wenn 1905 gesagt wird: »Der bunte Stein wird besser das Leben der Instinkte, die Seele eines Weibes oder eines Kindes ausdrücken als irgendein anderes Material, als Bronze oder weißer Marmor«,42 so spiegelt das die gleiche Haltung wider. Der weiße Marmor hat in seiner reinen, von aller Sinnlichkeit entschlackten Konsistenz Ähnlichkeit mit dem geistigen Kunstwerk. In beruflicher Hinsicht wurde Frauen Zugang zum Kunstgewerbe gewährt, die Bildhauerwerkstätten blieben ihnen bis in dieses Jahrhundert hinein verwehrt. KUNST Bildhauerei Malerei Kunstgewerbe
Frauen ausgeschlossen Frauen bedingt zugelassen Frauen zugelassen
MUSIK Messe, Sinfonie Kammermusik Charakterstück/Lied
Es erstaunt nicht, daß Novalis Tanz- und Liedermusik als Abart der »wahren« Musik bezeichnete. Die »eigentliche« Musik bestand aus Sonaten, Sinfonien, Fugen und Variationen.43 Daß Frauen diese Normen unbewußt akzeptieren, zeigen die Werkverzeichnisse von Komponistinnen. Bislang glaubte man, sie hätten sich auf Lieder und Charakterstücke spezialisiert, weil es kaum Auf40 Vgl. Erich Reimer: »Kritik und Apologie des Oratoriums im 19. Jahrhundert«. In: Walter Wiora u.a. (Hg.), Religiöse Musik in nichtliturgischen Werken von Beethoven bis Reger. Regensburg 1978 (Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 51), 136. 41 Zit. b. Berthold Litzmann: Clara Schumann. Ein Künstlerleben. Nach Tagebüchern und Briefen. Leipzig 1918, Bd. 3, 490f. 42 Rudolf Kassner: Die Moral der Musik. München 1905, 193. 43 Zit. bei Walter Wiora: »Die Musik im Weltbild der deutschen Romantik«. In: Walter Wiora u.a. (Hg.), Religiöse Musik in nichtliturgischen Werken (wie Anm. 40), 30.
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führungsmöglichkeiten für weibliche Kompositionen in größerer Besetzung gab. Sicherlich spielte die ungeschriebene Wertung der Genres ebenfalls eine Rolle, und sie wird die Institutionen, Dirigenten usw. in ihren Entscheidungen, Werke von Frauen zur Aufführung anzunehmen, beeinflußt haben. In der »Reinheit« der Sinfonie und des weißen Marmors vermengt sich Sexualfeindlichkeit mit Frauenabwehr, ebenso wie die Bekämpfung des Materiellen als Absicherung gegenüber der sich formierenden Arbeiterklasse zu verstehen ist. Es ist denkbar, daß die absolute Musik deswegen einen solchen Siegeszug erlebte, weil mit der Übertragung der Geschlechterpolarität auf die Musik das männliche Bürgertum nun eine Identifikationsmöglichkeit besaß, die einer weiteren Erläuterung durch Programm, Text oder ähnliches nicht bedurfte. In der metaphysischen Verbrämung ließ sich die »Natürlichkeit« der Geschlechterbestimmung eher »beweisen«. Mit dem Attribut des Erhabenen ausgestattet, konnte sich der männliche Bürger von niedrigeren Schichten sowie von derjenigen Frau absetzen, die ihn bedrohte: der sexuell Unersättlichen und der Emanzipierten. Einzig die reine, sich für den Mann aufopfernde Frau blieb idealisierungswürdig. In einer 1876 erschienenen Studie behauptete Otto Gumprecht, daß die Musik von der Liebe zwischen Mann und Frau lebt. Dieser Liebesdrang spielt nach Gumprecht auch dort eine Rolle, wo es sich oberflächlich gesehen um andere Dinge handelt. Er glaubt, in den langsamen Sätzen sowie in den Scherzi der Sonaten und Sinfonien eine überwiegende weibliche Empfindungsweise zu erkennen, ebenso wie in den zweiten Themen der Hauptsätze.44 Es gibt aber auch Stimmen, die den »absoluten« Charakter der Musik unterstreichen: Es ist eine Verkennung der Musik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die so vollkommen unliterarisch, so rein Musik, so nichts als Musik war, wie Musik überhaupt nur sein kann, wenn in die Sonate dieser Zeit irgendwie Dramatik mit personifizierten Themen hineingeheimnißt wird. Schon die Tatsache, daß keiner der Musikästhetiker der damaligen Zeit etwas dergleichen verlauten läßt, sollte beachtet werden.45
44 Otto Gumprecht: Neue musikalische Charakterbilder. Leipzig 1876, 45f. Nettl zufolge gibt es Musikwissenschaftler, die die primitive Musik in zwei Gruppen teilen: in jene, wo das Vaterrecht, und jene, wo das Mutterrecht vorherrscht. Bei den männlich betonten Völkern soll die Musik aufgeregt und wild sein, mit weiten Intervallsprüngen, bei den weiblichen Völkern sanft mit engen Tonstufen (Paul Nettl: »Frauen in der Musik«. In: Musik im Unterricht 51, 1960, 42). Er präzisiert dies jedoch namentlich nicht. 45 Leo Balet, Eberhard Gerhard: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1972, 480.
Rieger: Frau, Musik und Männerherrschaft
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Diese beiden Zitate offenbaren das Dilemma einer Musikwissenschaft, die der Musik bescheinigt, sowohl einen Inhalt aufzuweisen als auch keinen zu besitzen. Arthur Schopenhauer fand einen bemerkenswerten Ausweg aus dieser Situation. Nach seiner Ansicht sind die Gefühlsregungen, die sich in der Musik ausdrücken, gegenstands- und motivlos, aber trotzdem intensiv vorhanden und interpretierbar. Aus diesem innigen Verhältnis, welches die Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies zu erklären, daß wenn zu irgendeiner Szene, Handlung, Vorgang, Umgebung eine passende Musik ertönt, diese uns den geheimsten Sinn derselben aufzuschließen scheint und als der richtigste und deutlichste Kommentar dazu auftritt; imgleichen, daß es dem, der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingibt, ist, als sähe er alle möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen: dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Ähnlichkeit angeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten.46
Schopenhauer bestätigt somit, daß die Musik zwar etwas aussagt, es jedoch nicht angeht, diesen Inhalt zu definieren. Abgesehen davon, daß sich das Kunstgenre Musik vorzüglich dazu eignet, Aussagen verschleiert zu vermitteln (Ustvedt spricht davon, daß die Musik kein unzweideutiges Symbol für bestimmte Gefühle sein kann und daher keine Symbolfunktion besitzt, dafür aber »eine rätselhafte Funktion unseres Zentralnervensystems in enger Verknüpfung mit dem Gefühlsleben, dem Intellekt und der Motorik, und als solche eine selbständige Funktion mit eigenen Gesetzen und Verhältnissen repräsentiert«47), läßt die Sichtweise Schopenhauers auf Angst schließen, der man durch eine geschickte Verdrehung zu begegnen weiß. Eine ursprünglich deutliche Aussage wird verbrämt und in den Bereich des Unaussprechlichen lanciert. Nachdem die Aussage unaussprechlich geworden ist, kann man sie – wie es Schopenhauer tut – getrost wieder verbalisieren; die Gefahr ist nun gebannt. Diese Vorgehensweise weist Parallelen zu den gleichzeitig stattfindenden gesellschaftlichen Verfestigungen auf. Nachdem man der Frau als Reaktion auf die aufkeimenden emanzipatorischen Bestrebungen den Platz als Untergebene zuwies, ging man daran, diesen Platz moralisch zu verfestigen. Mit ihrer metaphysischen »Erhabenheit« und herausgestellten »Geistigkeit« sowie mit der Bildung geschlechtsspezifischer Assoziationen hat die Musik selbst einen großen Teil dazu beigetragen, die sich ab 1750 formieren46 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. von Max Köhler. Berlin o. J., Bd. 2, 259f. Zit. bei Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (wie Anm. 39), 130. 47 H[ans] J[acob] Ustvedt: Über die Untersuchung der musikalischen Funktionen bei Patienten mit Gehirnleiden, insbesondere bei Patienten mit Aphasie. Helsingfors 1937 (Acta Medica Scandinavia). Zit. b. Alex Pontvik: Heilen durch Musik. Zürich 1955, 63.
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den gesellschaftlichen Verhältnisse ideologisch abzusichern. Von Hegels Vorstellung der Musik als eines Wesens »gegenstandsloser Innerlichkeit« bis hin zu der in gebräuchlichen Schulbüchern vertretenen Auffassung, daß Musik in sich kreist, ohne die Dinge der realen Welt darzustellen, geht ein geradliniger Entwicklungsstrang. In der Panzerung der absoluten Musik und der verzweifelten Betonung ihres metaphysischen Charakters steckt die Abwehr. Es wäre eine lohnende Aufgabe künftiger Frauenforschung, die vielen Schichten dieser Absicherungen abzutragen und bloßzulegen.
2. Alte Gegenstände – neue Fragen Susan McClary: Feminine Endings. Musik, Geschlecht und Sexualität (1991/2002) Einleitung Wie kaum eine andere Musikwissenschaftlerin hat Susan McClary, Professorin für Musikwissenschaft und Vize-Kanzlerin des International Institute der University of California, Los Angeles, mit ihren Schriften Empörung auch in den eigenen feministischen Reihen ausgelöst und kann gleichzeitig auf eine so weite Verbreitung und Rezeption blicken. Jede grundlegende Einführung in musikwissenschaftliche Genderstudien arbeitet mit den Texten McClarys und arbeitet sich daran ab. Wie die Autorin im Vorwort zur zweiten Auflage ihrer Aufsatzsammlung Feminine Endings. Music, Gender, and Sexuality (1991/2002) kommentiert, sind die Arbeiten im Kontext des feminist criticism entstanden, der in Literatur- und Filmwissenschaften bereits gängig, in der Musikwissenschaft dagegen noch ganz am Anfang stand. Susan McClary untersucht in Feminine Endings Musik von Claudio Monteverdi, Georges Bizet, Pjotr Tschaikowsky, Gaetano Donizetti, Diamanda Galás, Laurie Anderson und Madonna. Sie spannt den Bogen von Alter Musik über das klassische Repertoire und Popmusik bis hin zu experimenteller Performance-Kunst und zur Musiktheorie bei Arnold Schönberg. Als Mitbegründerin der sogenannten New Musicology lehnt McClary eine Selektion der zu untersuchenden Musik aufgrund ästhetischer Auswahlkriterien und Hierarchisierungen ab. Musik in ihrer ganzen Vielseitigkeit ist für sie ein öffentliches Forum, in dem soziale Aspekte verhandelt, bestätigt und abgelehnt werden. Disziplinäre Grenzen zwischen ›U‹- und ›E‹-Musik sind für sie nicht existent. Ihre Fragen nach der Darstellung von Sexualität, Subjektivität, Körper und Gender stellt sie schrankenlos an sämtliche Musiken, also auch an fest im Kanon westlicher Musik verankerte Werke (McClary 2002, xii). Hier sind es Ludwig van Beethovens Neunte Sinfonie, Monteverdis dramatische Werke, in einem weiteren Aufsatz ist es Johannes Brahms’ Dritte Sinfonie. Indem sie die Fragen nach der Repräsentation von Männlichkeit und Weiblichkeit auf der (Opern-)Bühne, in genderspezifischer Metaphorik im Denken, Schreiben und Sprechen über Musik und zur Konstruktion von Begehren und Geschlecht in der Musik richtet, macht sie deutlich, wie sehr Musik und Gesellschaft diskursiv miteinander verwoben sind. Diese Diskurse enthüllt McClary durch Fragen wie: Welche Geschlechterdiskurse sind in der Musik verborgen? Was ist das Weibliche in der Mu-
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sik? Warum sind Frauen auf der Opernbühne so oft wahnsinnig, exotisch oder irrational? Wer spricht durch Bühnenfiguren hindurch? (Vgl. Pasler 1992, 203). Im hier vorliegenden Kapitel interpretiert McClary in Anlehnung an ein Gedicht der feministischen Dichterin Adrienne Rich die Neunte Sinfonie Beethovens. Zugrunde liegt dieser Analyse die Annahme, dass sich in der Musik des westlichen Kanons das männliche sexuelle Begehren widerspiegelt, das auf einen Höhepunkt ausgerichtet ist. Anders dagegen fände man in Musik vor dem 17. Jahrhundert eine Codierung weiblicher Sexualität, also periodisch, nicht-tonal und ohne Zwang (vgl. McClary 1991, 119). Angelehnt an Robert Scholes vertritt McClary die These, dass mit der Möglichkeit der Kadenzbildung in tonaler Musik Bedürfnisse der Rezipientinnen und Rezipienten geweckt und befriedigt würden und dieses Verhältnis von Spannung und Entspannung (analogisiert zur männlichen Sexualität) als selbstverständlich wahrgenommen würde. Männliche Sexualität und männliche Macht sind dabei diskursiv eng verwoben. Die Kritik an McClarys Ansatz war und ist groß. Unter anderem haben Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler bemängelt, dass McClary die Grenzen des gängigen Kanons von im Musikbetrieb und -diskurs verankerten Werken nicht zu sprengen versucht: Stets widme sie sich mit ihren Untersuchungen Werken etablierter Künstler wie eben Monteverdi, Beethoven oder Brahms und zeige an Arbeiten von Frauen abseits des Kanons lediglich deren Ablehnung herkömmlicher Weiblichkeitsbilder (vgl. Rieger, Nieberle 2005, 273). Andere Kritiker zielen auf McClarys methodisches Vorgehen und weisen, wie Marion Gerards, darauf hin, dass »nicht bestimmte musikalische Strukturen [...] männlich oder weiblich sind, sondern das Verstehen von und das Sprechen über Musik [...] in gesellschaftliche Kontexte und Diskurse wie den Geschlechterdiskurs eingebunden« ist (Gerards 2010, 261). Darüber hinaus essentialisiere McClary die Diversität der weiblichen Sexualität, indem sie ausschließlich von »der Frau« spräche. Damit bestätige sie heteronormative Strukturen (vgl. Sayrs 1993/94, 26). Ihr im negativen Sinne selbstverständlicher Umgang mit Theorie und Terminologie stößt bei Feministinnen und in der New Musicology auf starke Kritik, da hier ein sensibler, definitorisch genauer Umgang mit Theorien und Terminologien ebenso wie die Reflexion des eigenen Standorts verlangt wird. Der dabei – auch im vorliegenden Ausschnitt sehr offensichtlich – anti-akademische, von der untersuchten Musik inspirierte Sprachstil (vgl. McClary 2002, xii) mag verwundern, wird aber auch geschätzt (vgl. Pasler 1992, 202f.). In jedem Fall hat das Buch die Diskussion im Fach angeregt. Katrin Losleben
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Textvorlage Susan McClary: Getting Down Off the Beanstalk: The Presence of a Woman’s Voice in Janika Vandervelde’s Genesis II. In: Feminine Endings. Music, Gender, and Sexuality. Minnesota 1991. 2. Aufl. 2002 [Auszug 124–130].
Weitere Veröffentlichungen von Susan McClary Reshaping a Discipline: Musicology and Feminism in the 1990s. In: Feminist Studies 19, 1993, Nr. 2: Women’s Bodies and the State, 399–423. Conventional Wisdom. The Content of Musical Form. Berkeley 2000 (The Bloch Lectures). Playing the Identity Card: Of Grieg, Indians and Women. In: 19th-Century Music 31, 2008, 3, 217–227. Fetisch Stimme: Professionelle Sänger im Italien der frühen Neuzeit. In: Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hg.), Zwischen Rauschen und Offenbarung. 2. Aufl. Berlin 2008, 199–214.
Weiterführende Literatur Gerards, Marion: Frauenliebe – Männerleben. Die Musik von Johannes Brahms und der Geschlechterdiskurs im 19. Jahrhundert. Mit einem Vorwort von Freia Hoffmann. Köln u.a. 2010 (Musik – Kultur – Gender 8). Nieberle, Sigrid: Art. Konzept des Weiblichkeitsbildes. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 515–517. Rieger, Eva, Sigrid Nieberle: Art. Musikwissenschaft. In: Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch. Stuttgart 2005, 262–294. Pasler, Jann: Some Thoughts on Susan McClary’s Feminine Endings. In: Perspectives on New Music 30, 1992, Nr. 2, 202–205. Sayrs, Elizabeth: Deconstructing McClary: Narrative, Feminine Sexuality, and Feminism in Susan McClary’s Feminine Endings. In: College Music Symposium 33/34, 1993/1994, 41–55.
Ausgewählter Text Wie man von der Bohnenranke herunterkommt:1 Die Stimme einer Frau in Janika Vanderveldes Genesis II [...] [D]ie Tonalität, die der westlichen Konzertmusik zu Grunde liegt, ist stark geprägt von einer besonderen Form erotischer Symbolik. Während die Musik 1 [Eine Anspielung auf das Märchen »Jack and the Beanstalk« (Hans und die Bohnenranke), in dem aus einer Bohne eine Ranke bis in den Himmel wächst und Jack als Leiter in ein Reich von Riesen dient].
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früherer Zeiten stabile Ordnungen im Sinne von Kirche und Hof repräsentierte, spricht die Musik seit der Renaissance besonders häufig libidinöse Gelüste an: In der historischen Epoche, in der sich die kulturelle Legitimation nicht mehr auf eine geistliche, sondern auf eine weltliche Sichtweise stützte, wurde jene »Wahrheit«, auf der man die Musikkultur begründete, ausdrücklich mit Modellen der Sexualität verbunden. Als sich im 17. Jahrhundert Komponisten erstmals erotische Metaphern ausdachten, stützten sie sich auf zwei grundsätzlich unterschiedliche Vorlagen. Einerseits waren es Lustbilder – ein Zustand zeitlosen, ununterbrochenen Schwebens, die auf die Komponisten einwirkten. Musikalisch konnte dieser Zustand durch das weit verbreitete Ostinato erreicht werden, in dem jeder potenzielle Schluss gleichzeitig die Weiterführung gewährleistet. Die erotische Besessenheit von Monteverdis Nymphe, Purcells Dido oder das Duett zwischen Poppea und Nero im Finale von Monteverdis L’incoronazione di Poppea sind die bedeutendsten Beispiele für dieses Kunstmittel. Einen vergleichbaren Effekt konnte man durch sorgfältig ausgearbeitete modale Ambivalenzen bewirken, durch welche ein Schluss nicht länger möglich oder wünschenswert war. Schütz’ Meditationen mit Textstellen aus dem Hohelied Salomos – wie zum Beispiel in »Anima mea liquefacta est« (Symphoniae Sacrae II) – beinhalten Steigerungen, in denen Gefühle wie Vergnügen/Schmerz solange hinausgezögert werden, bis sie schließlich in Erschöpfung dahin schmelzen. Andererseits waren es Vorstellungen von Verlangen – nach der Erfüllung dessen, was als unerträglich empfundener Mangel empfunden wurde. Die wesentliche Neuerung in der Tonalität des 17. Jahrhunderts ist ihre Fähigkeit, im Hörer eine intensive Sehnsucht nach dem einen Ergebnis – einer Kadenz – hervorzurufen. Eine Kadenz strukturiert die Zeit, indem sie ein künstliches Bedürfnis weckt (im wirklichen Leben gibt es keinen Grund, warum sich jemand zum Beispiel den Ton D wünschen sollte; nichtsdestoweniger kann eine gute Komposition in nur zehn Sekunden die Atmung bestimmen, indem sie genau dieses D zum vorenthaltenen Objekt musikalischer Begierde macht). Wenn nun also diese Sehnsucht hergestellt wurde (der Zuhörer wurde konditioniert, die Abwesenheit einer musikalischen Struktur als unerträglich wahrzunehmen), streben die musikalischen Abläufe eine Verzögerung der Befriedigung dieses Verlangens so lange hinaus, bis die Erfüllung der Sehnsucht in einem Höhepunkt kulminiert, was ganz eindeutig als metaphorische Ejakulation bezeichnet werden kann. Es ist interessant anzumerken, dass diese beiden erotischen Metaphern zur Zeit ihrer Entstehung entlang tradierter Geschlechtergrenzen unterschieden wurden. Das Bild der Lust (und gleichzeitig die Vorstellung von Lust/ Schmerz) wurde meist auf Frauen projiziert: Der Text von »Anima mea lique-
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facta est« wird von einer Frau geäußert, die in Sehnsucht nach ihrem Liebsten vergeht, wie auch die meisten berühmten Ostinato-Stücke von Darstellerinnen dargeboten wurden. Männliche Darsteller konnten zwar ebenfalls in diesen Diskurs einsteigen, machten damit aber deutlich, dass sie sich dem Taumel erotischer Freude hingaben. Somit verrät Neros trunkenes Ostinato zu Ehren der Poppea seinen grundsätzlichen Mangel an patriarchaler Integrität – und damit seine ›Verweichlichung‹. Kompositionen, die beide Möglichkeiten dieser Gleichzeitigkeit nebeneinanderstellen, sind vermutlich am aufschlussreichsten, weil ihre dramatischen Effekte von der Fähigkeit des Hörers abhängen, zwischen ihnen und ihren jeweiligen Bedeutungen zu unterscheiden. Demnach beginnt Monteverdis »Altri canti d’Amor« (Buch VIII) mit einem der üppigsten, dissonanzreichsten Ostinati (»Andere singen von Amor …, den süßen Zärtlichkeiten, den seufzenden Küssen« [»Altri canti d’Amor ..., i dolci vezzi, e i sospirati baci«]), um dann abrupt abzubrechen und den sich am meisten seiner selbst bewussten männlichsten aller Stile für die Umsetzung einer militärischen Ehrerbietung auf der Bühne zu wählen (»Aber ich singe von Mars, dem Rabiaten und Wilden« [»Di Marte io canto, furibondo e fiero«]). Alessandro Grandis Fassung von »O quam tu pulchra es« schwankt ebenfalls zwischen aggressivem Drängen nach Kadenz und dem Rückzug in Passivität. Darstellungen von Verlangen waren meist männlichen Figuren vorbehalten, die dadurch ihre Rationalität, ihren rhetorischen Wagemut und ihre Fähigkeit, weitgesteckte Ziele zu setzen und zu erreichen, demonstrieren konnten.2 Und es sind vor allem diese Metaphern, die letztlich in der Geschichtsschreibung siegen. Das Ostinato und die üppigen Lust/Schmerz Bilder verschwanden jedoch nach dem 17. Jahrhundert ebenso wie die Faszination des frühen Barocks für die weibliche Sexualität. Die Rede von Verlangen und Eroberung dagegen setzten sich schließlich dergestalt durch, dass sie als Universalien aufgefasst werden konnten – nämlich, und das überrascht nicht, im Jahrhundert der Aufklärung und seiner Ordnungen. Die Allgemeingültigkeit der erotischen Zuschreibungen, die zuvor lediglich als eine von vielen Ausdrucksmöglichkeiten des Erotischen galten, vollzog sich auch in der Literatur. Robert Scholes schreibt: [Der] Archetyp aller Literatur ist der sexuelle Akt. Mit diesem Hinweis möchte ich den Leser nicht nur an die Verbindung aller Kunstformen mit dem Erotischen der 2 Eine weibliche Figur konnte diesem Diskurs natürlich ebenso zugeordnet werden, auch wenn dies gewöhnlich beinhaltete, dass ›sie‹ sich die Vorrechte der männlichen Rede angeeignet hat. Siehe die Diskussion zu L’incoronazione di Poppea im [hier nicht abgedruckten] 2. Kapitel [von Feminine Endings].
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menschlichen Natur erinnern. Auch möchte ich nicht einfach nur auf eine Analogie von Literatur und Sex hinweisen. Denn das, was Literatur – und Musik – mit Sex verbindet, ist der ihr zu Grunde liegende orgiastische Rhythmus des Anschwellens und Abschwellens, von Anspannung und Auflösung, von der Intensivierung bis hin zu Höhepunkt und Erfüllung. In anspruchsvolleren Literaturformen besteht wie beim kultivierten Sex ein Großteil der Kunst darin, den Höhepunkt hinauszuzögern, um den genussvollen Akt des Verlangens selbst zu verlängern. Wenn wir Literatur nur unter dem Aspekt der bloßen Form betrachten, sehen wir eine Reihe von Ereignissen, die sich auf einen Höhepunkt und zur Vollendung hin bewegen und eine weitere Reihe von Ereignissen, die als Gegengewicht standhalten, um ebendiesen Höhepunkt und dessen Auflösung hinauszögern.3
Das Muster, das Scholes wahrnimmt, findet sich in der Tat in Literatur und Musik des 18., 19. und zum Teil des 20. Jahrhunderts wieder. Allerdings ist Scholes vorzuwerfen, dass er den »sexuellen Akt« essentialisiert und als universal interpretiert, anstatt ihn lediglich als eine spezielle Spielart zu lesen. Als Frau kann ich ein solches Muster sowohl in der Musik als auch in anderen, weniger metaphorischen Umständen erkennen – und zuweilen auch genießen. Jedoch handelt es sich hier nur um eine von vielen mir bekannten erotischen Erfahrungen. Darüber hinaus ist diese Form von Verlangen keineswegs die einzige oder intensivste Art erotischen Lustgewinns, die Männer erleben können. Aber es ist die Art von Sexualität, die ausschließlich durch den Mann bestimmt wird. Und diese Kontrolle wird in der Tat durch jene sinnliche Erotik bedroht, die Offenheit und Verletzlichkeit umfasst. Mit anderen Worten ist die Omnipräsenz dieses [von Scholes beschriebenen] formalen Rasters in Literatur und Musik Teil einer kulturellen Tendenz, Sexualität mit einer phallozentrischen Terminologie zu beschreiben, jede andere Art von erotischer Sinnlichkeit (vor allem die spezifisch weibliche) abzuwerten oder gar zu leugnen und eine Hierarchie zu etablieren und aufrechtzuerhalten, die auf der Geschlechterrolle beruht.4 3 Robert Scholes: Fabulation and Metafiction. Urbana 1979, 26. 4 Siehe Teresa de Lauretis’ Diskussion in »Desire in Narrative«. In: Dies., Alice Doesn’t. Feminism, Semiotics, Cinema. Bloomington 1984, 103–157. Zur jüngeren Diskussion über Konstruktionen von Gender und Sexualität in der Moderne siehe Nancy Chodorow: The Reproduction of Mothering. Psychoanalysis and the Sociology of Gender. Berkeley 1978, insbesondere 180–190; Michel Foucault: The History of Sexuality. Bd. 1. New York 1980 [Histoire de la sexualité. Paris 1977; auf Deutsch: Sexualität und Wahrheit. Frankfurt a.M. 1983]; Eve Kosofsky Sedgwick: Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire. New York 1985; sowie viele Arbeiten französischer Feministinnen, darunter Luce Irigaray: This Sex Which Is Not One. Hg. von Catherine Porter. Ithaca 1985 [Ce sexe qui n’en est pas un. Paris 1977; auf Deutsch: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979].
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Darüber hinaus handelt es sich dabei um ein Verständnis von Erotik, das eher mit einer Vielfalt europäisch-amerikanischer ideologischer Diskurse zusammenhängt, als nur mit dem Wissen von Sexualität im Allgemeinen. Je stärker dabei Aspekte wie Rationalität, Macht und Herrschaft mit verschiedenen Auffassungen von Erotik verschmelzen, desto größer ist die Vereinheitlichung von erotischen Erfahrungen mit den diskursiven Ereignissen im Zusammenhang von Imperialismus, kapitalistischer Expansion und wissenschaftlicher Risikobereitschaft. (So rief John Donne5 bei der Eroberung der Genitalien seiner Geliebten aus: »Oh, mein Amerika, mein neues Land, / Mein Staat, von einem Mann genug bemannt.«)6 Und umgekehrt hallen Imperialismus, Kapitalismus und Wissenschaft in Narrativen über sexuelle Begierde nach und werden durch sie gerechtfertigt. Die Kartierung und Überlagerung dieser verschiedenen Bereiche erzeugt eine Welt voller phallischer Posen.7 Literatur und Musik spiegeln diese Welt nicht bloß wider; sie helfen dabei, sie zu erschaffen und zu erhalten, indem sie diese Denkgewohnheiten wieder und wieder als lustvoll (und als unausweichlich, allgemein gültig) bestätigen. Einen maßgeblichen Einfluss auf die Gewalt tonaler Prozesse hat außerdem die eigentliche Belohnung – die Kadenz, die nie mit der erzeugten Erwartung oder dem Aufwand, der nötig war, um sie zu erreichen, in Einklang gebracht werden kann. Die Kadenz ist in der Tat das banalste, konventionellste Klischee jedes musikalischen Stils. Ihr Erklingen gemahnt darüber hinaus immer an den Tod – die Energie, die bis genau zu diesem Punkt im Stück scheinbar alle Positionierungen [subjectivity]8 organisiert hatte, steht still. Am Ende bleibt das imaginäre Objekt der Begierde nicht fassbar und sein tonaler Ersatz enttäuscht zwangsläufig. Aber dieser Ersatz ist letztlich alles, was tonale Musik (trotz ihrer unbestreitbaren Fähigkeit zur Erregung) zu bieten hat.9 Wenn der Grad der Enttäuschung, die durch das Hinauszögern verursacht wurde, relativ niedrig ist, mag die schließlich erklingende Kadenz wie die unausweichliche Wirkung von rationalen Regeln wirken. So haben Haydn und Händel beispielsweise kaum »nach Sadismus verlangende« Geschichten er5 [Englischer Dichter, Schriftsteller und Anwalt (1572–1631).] 6 [ John Donne: »19. Elegie: Auf das Zubettgehen seiner Dame«, übersetzt von Christa Schuenke, in: John Donne: Zwar ist auch Dichtung Sünde, hg. von Maik Hamburger, übersetzt von dems. und Christa Schuenke. Leipzig 1982, 1985.] 7 [Im Original »phallic posturing« ist sehr derb und würde übersetzt etwa heißen »Schwanz zeigen«]. 8 [Zum Begriff ›subjectivity‹ siehe Kap. 5 im vorliegenden Band.] 9 Siehe David Albert Miller: Narrative and Its Discontents. Problems of Closure in the Traditional Novel. Princeton 1981. Siehe auch [die hier nicht abgedruckten] Kapitel 3 und 4 [von Feminine Endings].
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funden. Beethoven und Mahler aber haben jedoch regelmäßig die Mechanismen der Enttäuschung bis an die Grenze getrieben, so dass in ihren Narrativen die Begierde häufig (als ob es unausweichlich wäre) in explosiver Gewalt kulminiert. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass letztere als ernster, männlicher und konsequenter wahrgenommen werden: Sie üben sich nicht in Zurückhaltung und kämpfen bis zum Umfallen. Nehmen wir zum Beispiel die Reprise im ersten Satz von Beethovens Neunter Sinfonie: Hier wird eine der erschreckendsten, gewalttätigsten Episoden in der Geschichte der Musik entfesselt. Die von Beethoven erdachte Krux des ersten Satzes ist, dass dieser scheinbar beginnt, bevor das Subjekt eine Identität hergestellt hat:10 Wir sind Zeugen, wie sich das erste Thema und seine Tonart aus einem dem Mutterleib ähnlichen leeren Raum herausbildet, und wir hören, wie es zweimal in eben diese Leere zurückfällt. Nur aufgrund der gewaltsamen Selbstbehauptung des Subjekts kann die Leere in Schach gehalten werden: eine Kadenz im Kontext dieses Satzes bedeutet sofortigen Tod – oder zumindest doch den Verlust thematischer Identität.11 Trotzdem verlangt das narrative Paradigma, dem der Satz folgt, schlussendlich die Rückkehr zum Beginn der Reprise. In einem konventionelleren Sonatensatz würde die Reprise einfach die thematische und tonale Identität eines Satzes verfestigen – eine Art formale Heimkehr, wie sie am Ende eines erfolgreichen Abenteuers steht. Doch wenn das Thema der Neunten zum Anfang zurückkehrt, dann geht es noch weiter zurück als an den eigenen bewussten Anfang: Es soll sich in jenen undifferenzierten Zustand auflösen, aus dem es sich ursprünglich entwickelt hat. Und sollte seine schwer erkämpfte Identität in irgendeiner Weise von Bedeutung sein, kann das Thema eine solche Auflösung nicht akzeptieren – auch dann nicht, wenn die gesamte Struktur im Hintergrund des Satzes unaufhaltsam auf den Moment des Wiedereintritts zugesteuert hat. Der Wunsch nach einer Kadenz, der sich über den gesamten Ablauf der Durchführung hin entwickelt hat, bricht schließlich durch, wenn sich das Thema (aufgrund narrativer Traditionen) in der notwendigerweise schmerzhaften ursprünglichen Leere wieder findet und sich doch weigert, nachzugeben: die Tonart des gesamten ersten Abschnitts der Reprise ist wie vernarbt durch diese Ausbrüche. Es ist die konsequente Gegenüberstellung von Verlangen und unaussprechlicher Gewalt, die in diesem Moment eine unvergleichliche Verbindung von mörderi-
10 [Der von McClary verwendete Begriff »subject« bedeutet sowohl das Subjekt einer Erzählung als auch das musikalische Thema.] 11 [Im Original »subjective identity«: Auch hier spielt McClary mit der Doppeldeutigkeit des Begriffs.]
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scher Wut und dennoch einer Art Lust schafft, die in der Erfüllung formaler Anforderungen begründet ist. Diese explosive Raserei treibt den größten Teil der weiteren Sinfonie an. Eine wichtige Ausnahme ist der dritte Satz, der eine Art Negativbild zur restlichen Komposition darstellt. Wenn die ersten beiden Sätze eine fixe Idee verfolgen, so ist das Adagio dialogisch. Es steht in seltsamer Distanz zur sich mühenden Narration der anderen beiden Sätze: traumartig schwebend auf der tief alterierten sechsten Stufe kann es sowohl eine arkadische Erinnerung, imaginierte Erhabenheit oder ein Traum von Utopia sein. Es bietet die Vorstellung einer Welt, in der Freude ohne drängende Begierde möglich ist, wo Zärtlichkeit und Verletzbarkeit nicht verhängnisvolle Makel, sondern Tugenden sind. Doch kann dies niemals Realität sein, wie der endlose Gang zurück durch eine Spirale von tief alterierten Sexten andeutet. Und dem verführerischen Schein muss letztlich widerstanden werden. Die Rückkehr in die reale Welt zu Beginn des letzten Satzes vernichtet die Andersartigkeit des Adagios mit verstörender Gewalt – einer Gewalt, die maßlos erscheinen mag, würden wir nicht kulturell verstehen, dass ein Verweilen in jener genüsslichen, semiotisch wie strukturell weiblichen Zone einen Akt unverzeihlichen Übertretens darstellte. Wie Faust sind wir uns (als echte patriarchale Subjekte12) darüber im Klaren, dass das Murmeln »Verweile nur, du bist so schön« die absolute Verdammung bedeuten würde. Das »triumphale« Ende der Sinfonie ist ähnlich problematisch, denn wie könnte irgendeine Anordnung von Tönen all jenen Widersprüche befriedigend auf den Grund gehen, die im Verlauf der gewaltigen Komposition aufgebaut wurden? Während man sich dem Schluss nähert, werden die versprochenen (jedoch per definitionem inadäquaten) Kadenzen immer wieder im letzten Moment vorenthalten; schließlich erzwingt Beethoven einen Schluss, indem er die Kadenz und das ganze Stück einfach zu Tode knüppelt. Denn wenn der Tod in der tonalen Musik sowieso unausweichlich ist (und die Zurückhaltung bezüglich [harmonischer] Auflösungen in diesem Werk zeigt diese Verbindung ziemlich augenscheinlich), kann man auch gleich das Äußerste rausholen. Adrienne Rich kommt zu einer auffallend ähnlichen Deutung der Komposition in ihrem Gedicht The Ninth Symphony of Beethoven Understood at Last as a Sexual Message [d.i. »Beethovens Neunte Sinfonie, endlich verstanden als sexuelle Botschaft«]:13 A man in terror of impotence or infertility, not knowing the difference 12 [Im Original »subjects«, wie Anm. 10 und 11.] 13 Aus Diving into the Wreck. New York 1973, 205–206.
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a man trying to tell something howling from the climacteric music of the entirely isolated soul yelling at Joy from the tunnel of the ego music without the ghost of another person in it, music trying to tell something the man does not want out, would keep if he could gagged and bound and flogged with chords of Joy where everything is silence and the beating of a bloody fist upon a splintered table. Ein Mann in Todesangst vor Impotenz oder Unfruchtbarkeit, den Unterschied kennt er gar nicht ein Mann, der versucht, etwas zu sagen heulend aus der orgasmischen Musik der völlig isolierten Seele schreit zur Freude aus dem Tunnel seines Egos Musik ohne das Gespenst einer anderen Person in sich, Musik die etwas zu sagen versucht der Mann möchte nicht hinaus, würde es halten wenn er könnte geknebelt und gefesselt und geprügelt werden von Akkorden der Freude wo alles Stille ist und das Schlagen einer blutigen Faust auf einem gesplitterten Tisch.
Es geht nicht darum, Beethoven als außergewöhnliches Ungeheuer hinzustellen. Die Neunte Sinfonie ist wahrscheinlich die überzeugendste musikalische Artikulation all jener widersprüchlichen Impulse, die die patriarchale Kultur seit der Aufklärung prägen. Mehr noch: innerhalb der Parameter seiner eigenen Komposition mag man bei Beethoven zudem eine Kritik an narrativen Gepflogenheiten hören, die ebenso verheerend sind wie die Gepflogenheiten bei Rich oder Vandervelde. Doch auch wenn Beethoven den formalen Anforderungen in der Reprise des ersten Satzes und am Anfang des letzten Satzes widersteht, nimmt er sie gleichfalls an und bewahrt sie, ja, er hebt sie sogar auf eine weit höhere Gewaltebene. Und sobald seine Nachfolger im 19. Jahrhundert einmal diese Verbindung von
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Begierde und Zerstörung gekostet hatten, konnten sie nicht mehr genug davon bekommen. Beschreiben jedoch Musiker eine fesselnde Darbietung, verwenden sie in der Regel Ausdrücke wie »mit voller Kraft«14 oder sie sagen, die Darbietung hatte »Stoßkraft«,15 und sie begleiten diese Worte mit Gesten einer schlagenden, geballten Faust und dem Gesichtsausdruck, der normalerweise männliche sexuelle Aggression bedeutet. Man kann sicher sein, dass klassische Musik aus mehr besteht als der Simulation sexueller Begierde und Befriedigung. Und dennoch: von dem Moment an, in dem man die Bohnenranke erkennt, versteht man plötzlich, wie verführerisch sie ist und wie selbstverständlich sie als Fanghaken dient, um die Zuhörer über ihre Libido für die Narration der Komposition zu begeistern. Und wenn es gewalttätig wird (wie es in Sinfonien aus dem 19. Jahrhundert häufiger und verheerender wird als im Heavy Metal), wird es zu einem Modell kultureller Autorität, das nicht von sozialer Kritik ausgenommen werden darf.
14 [Im Original: »balls-to-the-wall«; die darin enthaltene Anspielung auf männliche Genitalien fehlt in der Übersetzung ins Deutsche.] 15 [Im Original: »thrust«, wörtlich: Stoß, Stich, Stoßkraft usw. Auch dieser Begriff ist sexuell konnotiert.]
3. Neue Fragen in der Kritik Leo Treitler: Gender und andere Dualismen in der Musikgeschichte (1993) Einleitung In ihrer Rezension des Sammelbandes Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship in der Zeitschrift der US-amerikanischen Gesellschaft für Musikforschung The Journal of Musicology hebt Ellie Hisama besonders den wissenschaftlichen Austausch mit Nachbardisziplinen sowie die Verbindung von Gender Studies mit dem gängigen musikalischen Kanon als beispielhaft und fruchtbar hervor (Hisama 1994, 220). So wie Marcia Citron und Susan McClary lesen die Autorinnen und Autoren des von Ruth Solie herausgegebenen Sammelbandes Werke des gängigen musikalischen Kanons gegen den Strich.1 Nach Meinung der Rezensentin wird der Band dadurch zu einer der anregendsten Veröffentlichungen der letzten Zeit und tatsächlich ist seine Aktualität bis heute nahezu ungebrochen. Der Musicology and Difference zugrunde liegende Gedanke ist, dass die europäische Kultur auf einer binären Logik aufbaut und durch gedankliche Gegensätze, sogenannte Dichotomien oder Dualismen, strukturiert ist. Unser Denken organisiert die Wahrnehmung der menschlichen Lebenswelt auf der Basis von Begriffspaaren, wie z.B. Mann/Frau, Kultur/Natur, gut/schlecht, Geist/Körper, weiß/schwarz, hoch/tief usw. Problematisch ist daran, dass die Begriffe eines Paares einander nicht gleichwertig gegenüber stehen, sondern dass darin immer eine Hierarchie versteckt liegt. Während der eine als das ›Normale‹, die Norm, gilt, wird der entgegengesetzte Begriff als Abweichung, etwas ›Abnormales‹, wahrgenommen. Was sich innerhalb der fiktiven Grenzen des vermeintlich Normalen befindet, konstruiert das, was außerhalb dieser Grenzen liegt, als ein Fremdes, ein Anderes. Damit wird die eigene Identität manifestiert, gleichzeitig aber ein Ausschlussmechanismus in Gang gesetzt, der u.a. in den Kategorien ethnischer Zugehörigkeit, Schichtzugehörigkeit und Gender höchst wirksam ist. Zur Verdeutlichung: Gilt der weiße, zentraleuropäische, heterosexuelle männliche Städter als ›Norm‹, so werden eine Frau, ein homosexueller, ein arabischer oder afrikanischer Mensch zu mit Mängeln behafteten Wesen (vgl. Deleuze, Guattari 1997, 147). In den Dichotomien ist die Grundlage für Sexismus und Rassismus also bereits angelegt. 1 Siehe Kap. 2 und 5 in diesem Band.
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Darüber hinaus ist das Denken in solchen Dichotomien problematisch, weil die Kategorisierung der Lebenswelt zwar beliebig ist, die dichotomen Begriffe gleichzeitig aber untereinander eng vernetzt sind und Begriffsfelder bilden. In den Gegensatz Mann-sein/Frau-sein beispielsweise sind zahlreiche weitere Dichotomien eingeschrieben (rational/irrational, Geist/Natur, stark/ schwach etc.). Sie prägen das Denken so stark, dass Zuordnungen natürlich erscheinen und nicht ohne weiteres aufgelöst werden können. Genau das aber muss das Ziel sein, um Benachteiligung und Diskriminierung zu vermeiden, wie Vertreterinnen und Vertreter der Postmoderne wie z.B. Jacques Derrida einfordern. Er schlägt als probates Mittel zur Auflösung der Hierarchien die Dekonstruktion der Begriffe vor (vgl. Kohl 2010, 186). Die Auswirkungen dieser Forderung auf die Musikgeschichte, die auf zahlreichen Ebenen von der Dichotomie männlich/weiblich geprägt ist, liegen auf der Hand: So geht nach Gilles Deleuze allgemein mit der männlichen Prägung der Kultur einher, dass Frauen unabhängig von ihrer tatsächlichen Anzahl als eine unbedeutende Minderheit wahrgenommen werden (vgl. Deleuze 1978, 154f.; siehe dazu Kreutziger-Herr 2009, 24). Geschlechtsspezifische Dualitäten werden aber auch auf der Ebene der Musikanalyse virulent, wenn z.B. die Tongeschlechter (!) Dur/Moll mit Dichotomien wie männlich/weiblich oder hart/weich assoziiert, wenn das erste Thema im Sonatensatz oder ein Schluss auf betonter Zählzeit als »männlich«, das zweite Thema oder ein Schluss auf unbetonter Zählzeit als »weiblich« bezeichnet werden. Auch Instrumente unterliegen geschlechtsspezifischen Dichotomien: Blechblasinstrumente und Schlagwerk werden bis heute eher dem männlichen Bereich zugeschrieben; die Flöte dagegen gilt heute als »weiblich« bzw. »unmännlich«. Die Harfe ist auch ein Beispiel dafür, wie sich solche Zuschreibungen und Dichotomien ändern können. Ursprünglich war sie ausschließlich Männern vorbehalten, heute ist sie ein weiblich konnotiertes Instrument par excellence. Die 15 Artikel im Band Musicology and Difference, u.a. von Carolyn Abbate, Suzanne Cusick, Susan McClary und Ruth Solie selbst, gründen auf diesen Überlegungen; zwei Leitfragen führen als roter Faden durch die Beiträge: Wo und auf welche Weise wirken Dualismen in der Musikgeschichte? Und: Wie kann ein konstruktiver Umgang mit derartigen Denkschemata aussehen? Für den vorliegenden Band haben wir den Aufsatz von Leo Treitler ausgewählt. In einem nur scheinbar weiten Bogen vom gregorianischen Gesang zur postkolonialen Theorie Edward Saids zeigt er, wie Dichotomien das Denken über mittelalterliche Musik beeinflusst haben und sich dabei Diskriminierungen überschneiden und häufen können, was heute häufig mit dem Terminus ›Intersektionalität‹ bezeichnet wird. Der Mediävist und Renaissanceforscher untersucht Schriften über gregorianische und alt-römische Melodien von
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Bruno Stäblein, Willi Apel und Richard Eichenauer, einem Vertreter der musikalischen ›Rassenkunde‹ der 1920er und 30er Jahre. Er arbeitet heraus, wie das Schreiben über Gregorianik vom Begriffsfeld Männlichkeit – Ordnung – Disziplin – Rationalität – Westen geprägt ist, während die Faktur römischer Melodien mit Weiblichkeit – Weichheit – Eleganz – Anmut – Orient konnotiert wird. Damit zeigt Treitler die Zusammenhänge von Gender-Dualismen und Dichotomien bezüglich ethnicity, race und class und wie stark sie – zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes in weitgehend unreflektierter Weise – das europäische Denken über Musik durchdringen (vgl. Treitler 1993, 24). Wesentlich ist dabei, dass mit der Wahl der Begriffe eine Abwertung römischer Melodien als ein »Anderes« einhergeht. Treitler belässt es jedoch nicht bei einer Klage über herkömmliche Geschichtsschreibung. Er warnt vielmehr ebenso davor, Dichotomien als Grundlage einer feministischen Musikkritik zu verwenden. Sein Vorwurf an Susan McClary lautet dementsprechend, sie übernähme in ihren Studien zu Beethovens Fünfter und Neunter Sinfonie Genderstereotypien und komme damit einem musikologischen Essentialismus zu nahe. Treitler emigrierte 1938 in die USA. Er ist Herausgeber der revidierten Ausgabe der Quellenanthologie Source Readings in Music History und befasst sich mit Problemstellungen zur Historiographie und Kritik in der Musikgeschichte vom 12. bis ins 20. Jahrhundert. Er war Gastprofessor an verschiedenen Universitäten in Europa und den USA und lehrt als Distinguished Professor am Graduate Center der City University in New York. Katrin Losleben Textvorlage Leo Treitler: Gender and Other Dualities of Music History. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993, 23–45 [Auszug 35–45].
Weitere Veröffentlichungen von Leo Treitler History, Criticism, and Beethoven’s Ninth Symphony. In: 19th-Century Music 3, 1980, Nr. 3, 193–210. Music and the Historical Imagination. Cambridge u.a. 1989. With Voice and Pen. Coming to Know Medieval Song and How It Was Made. Oxford u.a. 2003.
Weiterführende Literatur Deleuze, Gilles, Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1997. Deleuze, Gilles: Philosophie et Minorité. In: Critique 34, 369, Februar 1978, 154–155.
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Hisama, Ellie M.: Review of Musicology and Difference: Gender and Sexuality in Music Scholarship, ed. Ruth A. Solie, and Marcia J. Citron, Gender and the Musical Canon. In: Journal of Musicology 12, 1994, Nr. 2. Kohl, Marie-Anne: Art. Dichotomie. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 185–186. Kreutziger-Herr, Annette: History und Herstory. Musikgeschichte, Repräsentation und tote Winkel. In: Dies., Katrin Losleben (Hg.), History | Herstory. Alternative Musikgeschichten. Köln u.a. 2009 (Musik – Kultur – Gender 5), 24–46. Said, Edward: Orientalism. New York 1978.
Ausgewählter Text Seit Beethoven, dem Inbegriff europäischer Musik, gibt es eine Tendenz, europäische Musikgeschichte um diesen Komponisten herum zu schreiben, insofern als man der Ansicht ist, er verkörpere die rationale Form [virtue of rational form], von der man glaubt, sie sei die wesentliche Eigenschaft europäischer Musik. Er ist der Apoll im Parnass, dargestellt in der Musical Hall of Fame. Hinter den Kulissen steht jedoch angesichts der traditionellen Verbindung des Rationalen, Formalen, Effizienten usw. mit männlichen Tugenden (das Wort Tugend wurde mit Bedacht gewählt) die logische Folgerung, Beethoven verkörpere das Männliche der europäischen Musik. Es mag zunächst überraschen, dass diese Verbindung in der feministischen Musikkritik deutlich gemacht wird. Ich zitiere Susan McClary: Die Tonalität, die der westlichen Konzertmusik zu Grunde liegt, ist stark geprägt von einer besonderen Form erotischer Symbolik. (…) Musik seit der Renaissance [spricht] besonders häufig libidinöse Gelüste an: Von diesem historischen Moment an, in dem sich die kulturelle Legitimation nicht mehr auf eine geistliche, sondern auf eine weltliche Sichtweise stützte, wurde jene »Wahrheit«, auf der man die Musikkultur begründete, ausdrücklich mit Modellen der Sexualität verbunden. (…) Im überwiegenden Teil der Geschichte der westlichen Musik seit der Renaissance und in nahezu der gesamten kritischen Literatur darüber wurden die sexuellen Dimensionen ihrer Mechanismen schamlos ausgebeutet und gleichzeitig stets bestritten. Das Klimax-Prinzip wurde (wie der Phallus in der klassischen griechischen Säule) transzendiert, bis es schließlich den Status einer wertfreien und universellen Form hatte. Ungeachtet der weiten Verbreitung dieses Musters wird es selten als sexuell (geschweige denn als männlich) gedeutet – es wird schlichtweg als die Art und Weise wahrgenommen, wie Musik zu funktionieren hat.2 2 Es ist einfach und weit verbreitet, griechische Säulen als phallische Symbole zu entschlüsseln. Doch in The Reign of the Phallus: Sexual Politics in Ancient Athens (New York 1985)
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(…) Die führende deutsche Musikenzyklopädie, Die Musik in Geschichte und Gegenwart, geht so weit, die Dynamik der Sonatenform wie folgt zu beschreiben: »In den zwei Hauptthemen werden jeweils zwei der menschlichen Prinzipien ausgedrückt: das stoßende, aktive männliche Prinzip und das passive, weibliche Prinzip«.3
Der Text ist ein Dokument offener Empörung. Diese Position vertritt sie kurz darauf selbst und es entgleitet ihr damit das, was eine nützliche Ideologiekritik zu sein versprach: Als seien der stoßende Impuls, der für die Tonalität und Aggression erster Themen so charakteristisch ist, nicht genug, fügen Beethovens Sinfonien der Stilgeschichte zwei weitere Dimensionen hinzu: gewalttätiges Hüftbewegen (zum Beispiel im letzten Satz der Neunten) und sexuelle Gewalt. In der Reprise des ersten Satzes der Neunten gibt es einen der abscheulichsten Momente der Musikgeschichte; dann nämlich, wenn die behutsam vorbereitete Kadenz nicht kommt und sich somit Energie anstaut, die letztlich in der gedrosselten, mörderischen Wut des Vergewaltigers, der nie Erlösung erlangen kann, explodiert.4 Hier, wie auch in der Charakterisierung griechischer Säulen als phallisch, gibt es eine große Verwirrung, nämlich: woher kommt die Zuschreibung geschlechtlicher Attribute ursprünglich? McClary beschreibt zunächst die soziale Konstruierung von Geschlecht – wie z.B. die geschlechtliche Konnotiemahnt die Altphilologin Eva C. Keuls zur Vorsicht. Das Buch beginnt folgendermaßen: »In einer Gesellschaft, die von Männern dominiert wird, welche ihre Frauen und Töchter absondern, die weibliche Rolle in der Reproduktion verunglimpfen, die Monumente für die männlichen Genitalien errichten, Geschlechtsverkehr mit den Söhnen ihrer Mitmenschen haben, öffentliche Bordelle finanzieren, eine Mythologie der Vergewaltigung erschaffen und sich in ungezügeltem Säbelrasseln ergehen, ist es nicht unangebracht, von einer ›Herrschaft des Phallus‹ zu sprechen. Das antike Athen war eine solche Gesellschaft« (1). Der wesentliche Punkt ihrer Argumentation: »Wenn ich von einer ›Zurschaustellung des Phallus‹ spreche, beziehe ich mich nicht wie die Freudianer auf Symbole, die uns an das männliche Organ erinnern so wie Bananen, Stöcke oder Freuds Zigarre (man möchte ergänzen: architektonische Säulen). In Athen bedarf es keiner derartigen Codierung. (…) Die Männer Athens waren es gewohnt, ihre Genitalien ständig zu zeigen, und ihre Städte waren voll von Götterstatuen mit fröhlich erigierten Gliedern« (2). Dies führt zu der Frage, woher die Gender-Codierung, die in Arbeiten wie der McClarys kritisiert wird, eigentlich stammt – entspringt sie der künstlerischen Tradition selbst oder der Arbeit des Kritikers? Ich werde weiter unten zu dieser Frage zurückkehren.
3 Susan McClary: »Getting Down Off the Beanstalk: The Presence of a Woman’s Voice
in Janika Vandervelde’s Genesis II«. In: Minnesota Composers Forum Newsletter, Februar 1987, unpaginiert. [Diese von Treitler zitierte frühe Fassung weicht partiell von der in Feminine Endings abgedruckten Fassung ab (auf die Treitler allerdings verweist); siehe Kap. 2 im vorliegenden Band.]
4 Ebd.
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rung von Themen, die in Schriften über die Sonatenform seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu finden ist – wobei diese Beschreibung eine erste Form der Kritik darstellt. Sie greift sowohl die Autoren an, die diese geschlechtlichen Zuschreibungen verwenden, als auch diejenigen Autoren moderner Lesebücher und Wörterbucheinträge, die diese fortschreiben. Gleichzeitig attackiert sie aber Traditionen des Komponierens und Komponisten, die innerhalb dieses traditionellen Rahmens arbeiten und diese Konstruktionen ständig bedienen. Dabei muss sie implizit oder explizit zugeben, dass instrumentale Musik solche Konstruktionen möglicherweise sowie realiter verkörpert oder ausdrückt. Wie sie jedoch zu diesem Schluss gelangt, ist ebenso problematisch wie die Art und Weise, wie sie den Geschlechtscharakter von Musik entschlüsselt. In ihrer jüngsten Veröffentlichung stellt sie dazu einfach Behauptungen auf, manchmal greift sie dabei auf semiotische Codes zurück, die sie als kulturell allgemein verständlich erachtet, manchmal beruft sie sich auf zeitgenössische Zeugen.5 Sie scheint dabei im Einklang mit jenen Literaturkritikern zu stehen, die Geschlechterrollen und ihre Beziehungen in Prosatexten untersuchen; allerdings fehlen ihr dazu die Gegenstücke in musikalischen Werken, denen man die expliziten Verkörperungen solcher Konstruktionen in Texten über Männer und Frauen gegenüberstellen könnte, so dass sie diese selbst aus dem musikalischen Material heraus konstruieren muss. Dabei bestätigt sie genau jene Stereotype, die sie zuvor beklagt hat und unterstreicht sie, wenn sie ihnen den weiblichen Charakter von Musik gegenüberstellt, den sie in Musik, die von Frauen komponiert wurde, ausmacht. Diese Zuschreibungen tragen zur Verwirrung bei, denn es sind dann nicht mehr nur die Gendermarkierungen von musikalischem Material, die sie kritisiert, sondern die männlich dominierten, geschlechtlich konnotierten Szenarien, welche die europäische Musik seit der Renaissance beherrschen. Die »weibliche Stimme« der Komposition, die McClary in ihrem Titel nennt, erklingt als »eine Alternative zum herrschenden Diskurs, den die Komponistin im Rahmen ihrer Ausbildung internalisiert hat«, und sie zeigt somit folgende Qualitäten: »Asymmetrien von Rhythmus und Tonhöhe«, das »Gefühl einer […] zeitlosen Existenz«, ein »sanftes Ebben und Fließen«, sowie »ungerichtete formale Techniken, die im gegenwärtigen Moment schwelgen, Rhythmen, die in der Körperlichkeit und der Wiederholung des Tanzes verwurzelt sind«.6 Dass dies weibliche Eigenschaften sind, wird als selbstverständlich vorausgesetzt. 5 Mehr dazu siehe Susan McClary: »Narrative Agendas in ›Absolute‹ Music: Identity and Difference in Brahms Third Symphony«. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993, 326–344. 6 Susan McClary: Feminine Endings. Music, Gender, and Sexuality. Minnesota 1991, Kap. 5 [siehe auch Kap. 2 im vorliegenden Band].
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Charles Ives hat, wie Maynard Solomon schreibt, die meisten der Musiker, die in der Musical Hall of Fame versammelt sind wie auch andere nach ihrem Männlichkeitsgehabe bewertet: »Ives […] möchte das Sinnliche aus der Musik und dem Leben ausschließen, um sich selbst als ›Denker‹, ›Philosoph‹ und als ›rational komponierenden Musiker‹ zu sehen.« Ein Genie (bei Ives) müsse sich daher mittels »Selbstbeschränkung […], durch die emotionale und intellektuelle Impulse kontrolliert werden können, als ›Mann‹ stärken, nicht als Degenerierter.«7 Dies sind nun Ives’ Einschätzungen: Mozart, Mendelssohn, der frühe Beethoven, Haydn, Tschaikowsky, Gounod und Massenet: alle entmannt. »Richy Wagner«, so Ives, sei »ein verweichlichter, sinnlicher Mensch«, ein »Waschlappen«. Von den drei Bs sei keiner so kraftvoll und großartig wie Carl Ruggles […] – »zu viel Zuckerguss für zarte Ohren«.8 Chopin: »Man stellt ihn sich automatisch im Rock vor.« Franck, D’Indy und Elgar werden dagegen für ihre Gesundheit, Männlichkeit und Bescheidenheit gelobt. Debussy: »Lüsterne Sinnlichkeit […]; es wäre besser gewesen, hätte er seinen Lebensunterhalt damit bestritten, Maisfelder zu bestellen oder Zeitungen zu verkaufen.« Sibelius: »Eine verweichlichte Pflaume9 […] Hier fließt bloß gelber Saft aus einem Bauch, der niemals auch nur eine Idee hatte.«10 Das ›Gendern‹ von Musik, für das Bruno Stäbleins und Charles Ives’ Äußerungen lediglich Einzelfälle darstellen, ist unweigerlich verbunden mit der Herabsetzung und Unterdrückung des Weiblichen, wie immer man dies identifiziert. Vor diesem Hintergrund erscheinen die neuen Gender-Darstellungen aus der feministischen Perspektive zunächst auf mindestens dreifache Weise befreiend: Erstens kann die musikhistorische Beschäftigung mit der Richtschnur der europäischen Musikgeschichte, dem Triumph der Form, vergleichbar mit der seit dem 18. Jahrhundert in der Geschichte im Allgemeinen dominierenden Idee vom Triumph der Vernunft leicht entschlüsselt werden als das Zelebrieren von Männlichkeit (es zeigt nämlich, dass Formbeherrschung und die Gabe der Vernunft historisch als männliche Eigenschaften betrachtet wurden); und diese Erkenntnis ans Licht zu bringen, ist befreiend. Zweitens 7 Charles Ives: »Some Questions of Veracity«. In: Journal of the American Musicological Society 40, 1987, 467. 8 Ebd., 452, 467, 453. Interessant ist, dass Ives bei einem von McClarys als ›männlich‹ beschriebenen Werken, der Fünften Sinfonie, eine Ausnahme macht, jedoch auf Grund des philosophischen Charakters des Schicksalsmotivs. 9 [Im Original »cherry«, bedeutet nicht nur Kirsche, sondern umgangsprachlich auch Jungfernhäutchen. Im Deutschen entspricht dem am ehesten der Begriff ›Pflaume‹, der dem so Bezeichneten ein Versagen unterstellen und auf einer weiteren Bedeutungsebene umgangssprachlich die Vulva bezeichnen kann.] 10 Ebd., 452.
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ist es eine Art aktiver Unterstützung für benachteiligte Gruppen. Said hat das Recht vormals unter- oder falsch-repräsentierter Gruppen thematisiert, »für sich zu sprechen und sich selbst zu repräsentieren in Bereichen, die politisch und intellektuell durch den Ausschluss eben dieser Gruppen geprägt waren, um damit wichtige, repräsentative Funktionen an sich reißen und somit die politische Realität überwinden zu können«.11 In unserem Fall würde dies das Recht von Frauen betreffen, selbst über das Weibliche in der Musik zu sprechen und die Bedeutung der jeweiligen Ergebnisse zu bewerten. Drittens können die mystischen und geheimnisvollen Gender-Kategorien, auf die wir anfangs gestoßen sind, durch nachweisbare Kategorien von Gender-Differenz ersetzt werden, gemäß einer direkten Verbindung zu spontanem Erleben und Erfahrungen von Sexualität. Doch leider öffnen diese neuen Ideen von Gender in der Musik wieder eine Büchse der Pandora, die voller Fragen über Musikästhetik ist, über die erbittert, aber ergebnislos debattiert wurde, und über die man innerhalb des Mainstreams der Musikwissenschaft heimlich Stillschweigen bewahrt hat. Ich frage mich daher, ob es richtig ist, diese Debatten erneut zu führen. Ich spreche hier über bedeutsame Fragen: Besitzt Musik jenseits ihrer rein musikalischen Syntax und Struktur einen anderen Gehalt (zum Beispiel die »erotische Symbolik«, die der »westlichen Konzertmusik zu Grunde liegt«)? Oder: Kann Musik Handlung und Erfahrung imitieren (im Sinne eines »gewalttätigen Hüftbewegens«)? Oder: auf welche Weise berührt Musik die Zuhörerschaft (»Musik seit der Renaissance [spricht] besonders häufig triebhafte Gelüste an«)? Oder: Drückt Musik Gefühle aus (sowie die »gedrosselte, mörderische Wut des Vergewaltigers, der nie Erlösung erlangen kann«)? Wenn wir davor zurückschrecken, dies so bombastisch zu formulieren, können wir es auch einfach fragen: Wie lauten die Regeln dieses Spiels? Wie entscheiden wir uns zwischen der Sprache McClarys, mit der sie die Neunte Sinfonie beschreibt, und der Hermann Kretzschmars (»Die Durchführung entrollt das Faustische Bild weiter: Suchen und nicht Erreichen, rosige Phantasien von Zukunft und Vergangenheit und die Wirklichkeit von einem Schmerz erfüllt, der seine Rechte plötzlich geltend macht«)?12 Wo genau liegt der Bereich der Übereinstimmung, der eine Voraussetzung für jede Kommunikation über Bedeutung ist? Wird McClarys hermeneutischer Zugang eine neue Runde formalistischer Verteidigungen hervorrufen, so wie zwischen Schenker und Kretzschmar?13 Wenn ich beispielsweise die Komposition einer Frau als be11 Edward Said: »Orientalism Reconsidered«. In: Cultural Critique, Nr. 1, 1985, 89–107, hier 91. 12 Vgl. Herrmann Kretzschmar: Führer durch den Konzertsaal. Bd. 1. Leipzig 1932, 253 [hier zitiert aus 4. Auflage 1913, 244.] 13 Siehe dazu Leo Treitler: »History, Criticism, and Beethoven’s Ninth Symphony«. In: Music and the Historical Imagination. Cambridge 1987, vor allem 28–29.
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stimmt und drängend wahrnehme (zum Beispiel Joan Towers Concerto for Orchestra, 1991), und wenn die Komposition eines Mannes für mich ein »Gefühl einer […] zeitlosen Existenz« vermittelt (ich habe dies sogar in Beethovens Neunter Sinfonie wahrgenommen):14 bin ich deshalb verpflichtet zu denken, dass diese Kompositionen eine Art Travestie sind? Es wird immer schwieriger, die Regeln dieses Spiels klar zu fassen. McClary gibt in einem anderen Kontext dem Prinzip, »drei Viertel des Wegs durch das Stück einen Höhepunkt aufzubauen« eine neue Bedeutung.15 Sie schreibt über die harmonische Syntax tonaler Musik, dass dieser Prozess absolut teleologisch sei, weil seine Kraft daher rühre, dass er den Hörer dazu bringe, das Erreichen festgelegter Ziele zu begehren und schließlich zu erfahren – häufig, nachdem diese Belohnung eine Weile herausgezögert worden sei. Hier mögen wir zwar sehr wohl noch im Bereich der Sexualität sein, aber dann fährt sie damit fort, dass die sozialen Wertvorstellungen, die damit ausgedrückt würden, genau jene der Mittelschicht (des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa) seien, denen der höchste Stellenwert eingeräumt würde: der Glaube an den Fortschritt, die Expansion und die Fähigkeit, höchste Ziele durch rationale Strebsamkeit und die Genialität des strategisch denkenden Individuums zu erreichen, das gleichsam innerhalb und außerhalb der Norm agiere.16 Nimmt man diese beiden Interpretationen des teleologischen Prinzips zusammen beim Wort, so legen sie nahe, dass diese sozialen Wertvorstellungen in einem gewissen, tiefreichenden Sinn auf männlicher Sexualität beruhen und dass man Geschichte als Fortschreiten in Richtung eines riesigen, kosmischen, männlichen Orgasmus lesen kann – eine Urknall-Theorie17 der Musikgeschichte sozusagen. Jedoch müssen wir uns fragen, nach welchen Richtlinien Interpretationen ausgewählt werden und welchen Bewertungskriterien sie unterliegen. Eine weitere Aussage McClarys über Musik und Geschlecht erreicht uns über Umwegen, nämlich über die Arbeit von Rose Rosengard Subotnik. Sie schreibt über eine Stelle in Chopins Berceuse op. 57, in der die Auflösung vermieden wird (T. 47–53) und stellt fest, dass McClary »eine sexuelle Interpretation empfohlen habe. (…) Chopins Musik, so beobachtet sie, werde oft als verweiblicht beschrieben. Kann dies nicht zumindest teilweise daran liegen, dass die innige Sinnlichkeit dieser Musik in jenen typischen Momenten – ganz im Gegensatz zu einem Beethovenschen männlichen Höhepunkt – bestimmte Eigenschaften und Rhythmen hervorruft, die für gewöhnlich mit weiblicher 14 Ebd., 19–20. 15 Susan McClary: »The Blasphemy of Talking Politics During the Bach Year«. In: Richard Leppert, Susan McClary (Hg.), Music and Society. The Politics of Composition, Performance, and Reception. Cambridge 1987, 13–62. 16 Ebd., 22. 17 [Im Original »big-bang theory«, wobei »big bang« Urknall, »bang« aber auch »bumsen« heißt.]
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Sexualität assoziiert werden?«18 Ich zweifle dies als Erklärung für den Ruf von Chopins Musik, ›verweiblicht‹ zu sein, an, nicht zuletzt, weil eine solche Interpretation meines Erachtens größtenteils von Männern stammt, in deren Wortschatz dieses Wort am meisten zu Hause ist und die am ehesten für dessen Verbindung mit dem Begriff ›Sinnlichkeit‹ verantwortlich sind. Ich zweifle darüber hinaus an der Autorität dieser Männer in Sachen Art und Rhythmus weiblicher Sexualität (ich bin überrascht, dass diese Begriffe und ihre Verbindung im Text so stark aufgewertet werden). Doch über die Fragen von Konvention, Wissen und Bekanntheit hinaus verweist diese Interpretation wieder auf die Notwendigkeit, die jeweiligen Richtlinien zu hinterfragen und diesen die Frage nach ihren Grenzen hinzuzufügen. Kann man sagen, dass die Mazurka op. 7 no. 5, deren letzte Anweisung »Dal segno [am Ende von T. 4] senza fine« lautet, das ultimativ ›weibliche‹ Werk ist, weil Chopin den Höhepunkt auf ewig hinauszögert? Dies würde mich sehr verwirren, denn die rhythmische Kraft des Stückes lässt mich eher an eine stoßende Hüfte denken. Handelt es sich hier also auch um eine frustrierte männliche Seite Chopins, der letztlich ebenso wie Beethoven unfähig war, sein Werk zu Ende zu bringen? Ich vermisse hier die gesonderte Betrachtung jener sechs Takte der Berceuse, weil das Stück von seinem Beginn an bis zu seinem Ende zwischen genau denselben beiden Klängen atmet (und wer wäre nicht vom Zirkulären und Schwer-Fassbaren in Chopins Musik beeindruckt, welche doch mit größter psychologischer Tiefe und mit feinster Nuancierung zum Tragen kommen – und welche das drängende, treibende, teleologische und – wenn man denn so will – den männlichen Ausdruck beinhalten?). Die Volksweisen, die Chopin bis zu seinem Umzug nach Paris jeden Sommer auf dem Land in Polen gehört hatte, sind gerade ein Beispiel für nicht-progressive, nicht auf einen Höhepunkt-gerichtete und nicht-teleologische Klänge, die sich vielmehr vor und zurück bewegen inmitten einer Klangfülle, die beide Stücke, die ich genannt habe, ausmacht.19 Wir stellen also fest, dass wir eine 360°-Wende vollzogen haben und das Nicht-Westliche und das Bäuerliche mit dem Weiblichen verbinden. Richard Eichenauer bemerkt im ersten Abschnitt seines Buchs, wie begrenzt die Fähigkeit von Musik zur Repräsentation ist; Musik ist niemals konkret, sondern sie ist darauf beschränkt, die menschliche Seele anzurühren, Stimmungen und Stimmungswechsel zu bewirken. Dem kann man sicherlich 18 Rose Rosengard Subotnik: »On Grounding Chopin«. In: Richard Leppert, Susan McClary, (Hg.), Music and Society. The Politics of Composition, Performance, and Reception. Cambridge 1987, 105–131, hier 127, Anmerkung 20. 19 Heute können wir solche Musik auf den Aufnahmen hören, die William H. Nolls Dissertationsschrift Peasant Music Ensembles in Poland. A Culture History beiliegen (University of Washington 1986).
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zustimmen und sagen, dass es dieses Merkmal ist, das die Musik von den gegenständlichen und literarischen Künsten unterscheidet. Doch dann fragt er: »Gibt es nun trotzdem Mittel und Wege, aus den geheimnisvollen, körperlosen Linien eines musikalischen Werkes das Antlitz einer bestimmten Rassenseele herauszulesen?«20 Er bejaht dies und so besteht sein Buch überwiegend aus rassischen Charakterisierungen musikalischer Traditionen und einzelner Komponisten – die Wesenhaftigkeit von Rasse in der Musik –, die in entsprechende historische Narrative gefügt werden. Dass diese Bewertungskriterien meines Erachtens von minderer Qualität sind, muss ich wohl nicht durch Beispiele untermauern.21 Das soll aber nicht heißen, dass andere Besseres geleistet hätten – das Problem liegt eher in der Frage, die wiederum entsprechend qualitativ minderwertige Antworten provoziert. Ist es also nun eine Aufgabe der musikwissenschaftlichen Gender Studies, die seit langem im kritischen und historischen Diskurs praktizierte Rolle des Geschlechterdualismus zu bekräftigen, indem immer deutlichere GenderEssentialismen entwickelt werden? Spricht es eher für die Qualität dieser Charakterisierungen, wenn sie sich direkt auf sexuelle Gefühle und Erfahrungen beziehen? Das erinnert mich an eine Anekdote während meines Studiums an der Universität von Chicago, an der der großartige Psychoanalytiker Bruno Bettelheim lehrte. Man erzählte, er habe einmal eine Vorlesung unterbrochen und einer Studentin, die in der ersten Reihe saß und strickte, erklärt, dass Stricken ein Symbol für Masturbation sei. Daraufhin habe sie geantwortet: »Professor Bettelheim, wenn ich stricke, stricke ich; wenn ich masturbiere, masturbiere ich.« Ich zitiere diesen Vorfall nicht, um die Idee von in Musik verkörperter Sexualität zu verabschieden – wir haben sicher diesbezüglich starke persönliche Eindrücke und Überzeugungen – sondern um zu bekräftigen, dass eine Übertragung solcher Eindrücke in kritische Diskurse und geschichtliche Zusammenhänge größere hermeneutische Geschicklichkeit und geistige Fähigkeiten erfordert als die Gender-Charakterisierungen von mittelalterlichem Gesang, Beethovens Sinfonien, Chopins Klaviermusik und in Charles Ives’ Komponisten-Liste, denen wir hier begegnet sind.22 Der Vorfall 20 Vgl. Richard Eichenauer: Musik und Rasse. München 1932, 13. 21 Mehr dazu siehe Warren Dwight Allen: Philosophies of Music History. A Comparison Study of General Histories of Music in Chronological Order and with Reference to the Cultural Setting. New York, Boston 1939, 165. 22 Meines Erachtens sind Ives’ Bewertungen essentialistisch, weil ihnen die Vorstellung zugrunde liegen muss, dass es Eigenschaften in der Musik gebe, die essentiell männlich sind, und dass Werke von männlichen Komponisten diese natürlicherweise auszudrücken vermögen (d.i. der althergebrachte Essentialismus der Essentialismus/NominalismusDebatte). Musik männlicher Komponisten, die diese Eigenschaften nicht hat, ist mangelhaft und unmännlich (nicht verweiblicht). Die Tatsache, dass Ives ausschließlich männliche Komponisten aufgeführt hat und er für das Weibliche in seinem System offenbar keinen
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erinnert zudem daran, dass Kommunikation in einen Kontext grundlegenden Einverständnisses darüber, was welche Bedeutung hat, eingebettet sein muss. Der erste Essay von Susan McClary, aus dem ich zitiert habe, enthält ein Gedicht von Adrienne Rich, Die Neunte Sinfonie, endlich verstanden als sexuelle Botschaft: Ein Mann in Todesangst vor Impotenz oder Unfruchtbarkeit, den Unterschied kennt er gar nicht ein Mann, der versucht, etwas zu sagen heulend aus der sich in den Wechseljahren befindenden Musik der völlig isolierten Seele schreit zur Freude aus dem Tunnel seines Egos Musik ohne das Gespenst einer anderen Person in sich, Musik die etwas zu sagen versucht der Mann möchte nicht, würde es halten wenn er könnte geknebelt und gefesselt und geprügelt werden von Akkorden der Freude wo alles Stille ist und das Schlagen einer blutigen Faust auf einem gespaltenen Tisch.23
McClary schreibt über diesen intensiven poetischen Ausdruck einer persönlichen Reaktion auf Beethovens Werk, dass die Dichterin »zu einer [ihrer Interpretation] auffallend ähnlichen Deutung der Komposition« gekommen sei. Ich habe allerdings Probleme mit der Vorstellung, dass die ›Lesart‹ eines Werks seitens der Kritikerin und das Gefühl einer Dichterin dasselbe sein können, ohne damit sagen zu wollen, es seien zwei völlig unterschiedliche Dinge. Ich meine zu wissen, worauf McClary sich bezieht, wenn sie von der phallischen Gewalt, die hinter der ›wertfreien‹ klassischen Form steht, spricht.24 Doch möchte ich diese Phrase lieber als Poesie und nicht als Kritik oder Geschichtsschreibung bewerten. Damit möchte ich keinesfalls sagen, dass persönliche Gefühle aus Kritik und Geschichtsschreibung verbannt werden müssen. Dies macht genau die Frage so schwierig, die ich in dieser Zusammenfassung gestellt habe – eine Frage, von der ich in keiner Weise behaupten kann, eine Antwort gefunden zu haben. Platz hatte, scheint ein deutliches Zeichen dafür zu sein, dass Geschlechtszuschreibung bis vor kurzem ein hauptsächlich männliches Projekt gewesen ist. 23 [Siehe Kap. 2 im vorliegenden Band.] 24 [Vgl. Kap. 2 im vorliegenden Band.]
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Es gibt eine dritte Möglichkeit, über die oben angeführte Aussage nachzudenken: weder als Kritik oder Geschichtsschreibung, noch als Poesie, sondern als Sprechakt im Kontext der Professionalisierung eines neuen Diskurses. Ebenso wie die Annahme eines Gender-Charakters in Beethovens Sinfonien oder einer sozialen Bedeutung der harmonischen Syntax in tonaler Musik führt diese Sicht zu neuen interessanten Interpretationsmöglichkeiten, die mitunter helfen können, Einblicke zu geben, die als soziale Kommentare verstanden werden können. Diese Einsichten sind erhellend, obwohl das musikalische Werturteil, von dem sie ausgehen, naiv ist – trotz der Ungewissheit, von wem dieses Urteil stammt, trotz des Scheiterns daran, Einblicke in die Musik selbst zu bekommen und trotz der fragwürdigen Idee, dass Musik einen sozialen Kommentar suggerieren könnte. Tatsächlich stellt die Idee vom Sprechakt die Autorität des Ausdrucks »die Musik an sich« infrage. Das Ergebnis solcher Überlegungen ist, die Kritik von ihrer Objekthörigkeit zu befreien, von ihren Texten zu befreien, sie autonom zu machen. Eine solche Denkweise fordert letztlich nicht bloß die Macht der Idee von »der Musik an sich« heraus, sondern ebenso die Macht der Musik und ihrer Komponisten, die entmystifiziert und zu Anlässen zur Kritik gemacht werden. Es ist vorhersehbar, dass als die Kritik im nächsten Schritt Musik und Komponisten durch Gelegenheiten zur Kritik ersetzen wird. Möglicherweise wird man dann auf dieselbe Art über den ›Tod des Komponisten‹ sprechen, wie man über den ›Tod des Autors‹ gesprochen hat. Im Laufe dieses Prozesses erlangt die Kritikerin eine neue, privilegierte Position, von der aus sie etwa den anklagenden und patronisierenden (die Ironie ist beabsichtigt) Stil von McClarys Kommentaren zu Beethoven übernehmen kann. Es entsteht eine Zirkularität: Es ist die privilegierte Position, von der aus der Kritiker solche willkürlichen Aussagen über Musik machen kann, Aussagen, denen man weder widersprechen noch zustimmen kann – eben die Art von Aussagen, die mich haben fragen lassen »Wie lauten die Regeln dieses Spiels?« Von diesem Ausgangspunkt aus ist klar, dass dabei keine andere Antwort herauskommen wird als »Sag, was Du sagen musst, um in den kritischen Diskurs zu gelangen, den Du bedienen willst«. Es scheint in diesem Kontext mehr als rührselig, festzustellen, dass Kritik nicht mehr als Reaktion des Kritikers auf die Musik stattfindet. Zu dieser Beschreibung/Prognose bin ich unter anderem aufgrund der beeindruckenden Parallelen zu anderen Studien gelangt, die sich mit den Entwicklungen in der Literaturkritik beschäftigen, vor allem durch ein neues Buch von Brian McCrea.25 Es gibt jedoch einen interessanten Unterschied: Das Rätselhafte, die Aufklärungsfeindlichkeit und die Neologismen mancher 25 Siehe Brian McCrea: Addison and Steele are Dead. The English Department, and the Professionalization of Literary Criticism. Newark 1990.
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literaturkritischer Moden, die als ausschließende Ermächtigungsstrategien ihre Gegenstücke sicherlich in analytischen Bereichen der Musikkritik und in einzelnen musikwissenschaftlichen Diskursen gehabt haben, haben in kognitiver Hinsicht als ihr oppositionelles Gegenstück die neue feministische Musikkritik. Es ist nicht schwierig, den beschriebenen Diskurs zu verstehen. Rätselhaft bleiben die Kriterien, nach denen die gesagten Dinge ausgewählt werden. Und diese Rätselhaftigkeit reicht aus, um eine alte Autorität herauszufordern und eine neue zu etablieren. Ich weiß nicht, ob in der Musik männliche und weibliche Stimmen zu hören sind oder ob es eine Art von Musikkritik geben wird, die für solche Unterscheidungen sensibilisiert ist. Wenn uns die Kritik dabei hilft, die Mechanismen menschlicher Vorstellungskraft zu verstehen, dann bleibt eine feministische Musikkritik durchaus eine große Hoffnung. Dennoch habe ich in den Texten, die ich hier vorgestellt habe, leider keinerlei Kritik gefunden, die feinfühlig genug im Umgang mit Eigenschaften waren, die ihren Ursprung im Gender-Dualismus haben, sondern die lediglich konkurrierende Formen der Textauslegung als beispielgebend hochhielten und eine andere als mangelhaft verwarfen. (In McClarys Auslegung ist Beethovens Neunte fehlerhaft, weil die Gender-Parameter dort ebenso wenig stimmen wie bei Stäbleins Beschreibung der altrömischen Gesänge, wonach die Satzteile kaum in ihrer musikalischen Geschlossenheit hervorträten und es wie eine unendliche Melodie weiterströme,26 oder in Ives’ Liste »unmännlicher« Musik.) Diese Art von Textauslegung kann man nicht als Kritik bezeichnen; sie ist eher so etwas wie eine Ausbeutung der Idee von Gender-Differenz im Dienste einer politischen oder ideologischen Agenda von Musikgeschichte und Musikkritik. Wenn sie im Namen der feministischen Musikkritik hervorgebracht wird, kann eine solche Vorgehensweise meiner Meinung nach die Entwicklung eines konstruktiven Beitrages nur hemmen. Andererseits verdanke ich meine eigene Sensibilität gänzlich dieser Art von ideologischer Indienstnahme durch feministische Autorinnen,vor allem im Bereich der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte,27 und staune über die Tragweite feministischer Theorie und Kritik. Die historischen Zusammenhänge zwischen Essentialismen wie Rasse und Gender sind unverkennbar. Durch ihre gemeinsamen Wurzeln in der sozialen, kulturellen und biologischen Gedankenwelt des späten 18. und 19. Jahrhunderts begründet die essentialistische Doktrin von Rasse, Ethnizität und Gender jeweils einen bedeutsamen Aspekt des historischen Kontexts 26 Vgl. Bruno Stäblein: Musik und Geschichte im Mittelalter. Göppingen 1984, 109. 27 Siehe z.B. Genevieve Lloyd: The Man of Reason. »Male« and »Female« in Western Philosophy. Minneapolis 1984; Susan Bordo: »The Cartesian Masculinization of Thought«. In: Sandra Harding, Jean F. O’Barr (Hg.), Sex and Scientific Inquiry. Chicago 1975, 247–264; Evelyn Fox Keller: Reflections on Gender and Science. New Haven 1985.
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eines anderen Aspekts.28 Diese drei Doktrinen entwickelten sich gleichzeitig als wissenschaftliche Konzepte, die erklärend wirkten, und als ideologische Grundsätze, die ein politisches Wollen unterstützten. Als wissenschaftliche Konzepte sind sie heute alles in allem in Verruf geraten. Wir können Passagen wie die folgende (aus einer der einflussreichsten Schriften zur Musikästhetik des 19. Jahrhunderts) nicht lesen und glauben, dass heutzutage jemand etwas Derartiges sagen würde: Das dürfte von Rosenkranz vielleicht übersehen worden sein, wenn er den Widerspruch bemerkt aber ungelöst läßt, warum die Frauen, welche doch von Natur vorzugsweise auf das Gefühl angewiesen sind, in der Composition nichts leisten? Der Grund liegt – außer den allgemeinen Bedingungen, welche Frauen von geistigen Hervorbringungen ferner halten – eben in dem plastischen Moment des Componirens, das eine Entäußerung der Subjectivität nicht minder, wenn gleich in verschiedener Richtung erheischt, als die bildenden Künste. […] Nicht das Gefühl componirt, sondern die speciell musikalische, künstlerisch geschulte Begabung. Die siegende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Italienern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volks, welchem das ausdauernde Durchdringen unerreichbar ist, womit der Nordländer einem künstlichen Gewebe von harmonischen und contrapunktischen Verschlingungen zu folgen liebt.29
Jedoch ohne den ideologischen Rahmen, dem Rasse und Gender als Erklärungsansätze untergeordnet waren, wären sie niemals verbunden worden; und wir werden sie auch jetzt nicht miteinander verbinden. Wir müssen uns über diesen geschichtlichen Kontext im Klaren sein, weil er seine Rückstande in unserer Sprache und in unserem begrifflichen Vokabular hinterlassen hat. Allerdings sind wir deswegen nicht gezwungen, das Nachdenken über die Rolle der Sexualität in der musikalischen Darstellung oder die Hoffnung, eine Sensibilität den Gender-Stimmen innerhalb der Musik gegenüber entwickeln zu können, vorab aufzugeben. Die Frage ist also eher, ob diese Möglichkeiten uns noch offen stehen, ohne dass wir wieder zu der Vorstellung gelangen müssen, dass Musik und ihre Geschichte unvermeidlich durch die Natur determi28 Die Hintergründe des essentialistischen Rassenbegriffs werden dargestellt bei George W. Stocking: Race, Culture, and Evolution. Essays in the History of Anthropology. Chicago 1982. Zur Geschichte des Geschlechter-Essentialismus siehe Ruth A. Solie: »Whose Life? The Gendered Self in Schumann’s Frauenliebe Songs«. In: Steven Paul Scher (Hg.), Music and Text. Critical Inquiries. Cambridge 1991, 219–240 [siehe Kap. 13 im vorliegenden Band]. Ich danke Frau Professorin Solie dafür, dass sie mir das Manuskript ihres Texts noch vor der eigentlichen Publikation hat zukommen lassen. 29 Eduard Hanslick: Vom Musikalisch Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst. 1. Aufl. Leipzig 1854 [53, 79. 13.–15. Auflage siehe z.B. unter http://www.gutenberg.org/ (letzter Zugang: 12.3.2012)].
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niert werden – egal, ob im Sinne von ›race‹, Ethnie oder Gender –, in die die Künstlerin oder der Künstler hineingeboren ist und der sie oder er nicht entkommen kann; vielmehr ist es die Aufgabe der Kritiker und Historiker, die Gesetze dieser Natur deutlich zu machen und interpretatorische und hermeneutische Kritiken und Geschichten zu schreiben, die auf diesen Überlegungen fußen. Hier liegt das Dilemma begründet, das ich zu Beginn meines Essays angesprochen habe. Welche Wege auch immer aus diesem Dilemma heraus gefunden werden – ich glaube, sie müssen von der Erkenntnis geleitet sein, die diese Studie gebracht hat: dass die vermeintlichen Naturen keineswegs natürlich sind, dass sie Konstruktionen sind, die auf individuelle und kulturelle Bedürfnisse und Ideologien empfänglich reagieren. Als Kritiker und Historiker können wir Konstruktionen auswählen, aber am Ende müssen wir unsere Wahl begründen.
4. Zur Suche nach ›großen‹ Komponistinnen Judith Rosen: Warum wurden Frauen nie große Komponistinnen? (1973) Einleitung Judith Rosens Artikel »Why Haven’t Women Become Great Composers?« erschien 1973 in der Zeitschrift High Fidelity. Es ist nicht die erste Veröffentlichung, die nach Frauen in der Musik fragt (z.B. Lehms 1715), aber eine der frühen und vor allem vermutlich die erste, die international rezipiert wurde. 1948 erschien Sophie Hutchinson Drinkers (1888–1967) Buch Music and Women. The Story of Women in their Relation to Music. Auf der Suche nach Kompositionen für einen Hobby-Frauenchor wurde der US-Amerikanerin die Lücke bewusst, die im Repertoire klaffte: Erstens waren die Stücke, die sie fand, »kindisch, trivial und viel zu sentimental für intelligente Frauen« und weniger anspruchsvoll als solche für gemischten Chor oder Sologesang desselben Komponisten (Drinker 1955, 7). Zweitens suchte sie vergeblich nach Kompositionen von Frauen. So machte sie sich auf die »Suche nach dem Verständnis des Verhältnisses der Frau zur Musik« (ebd., 8) und veröffentlichte eine teilweise ethnologische, teilweise historische Untersuchung musikalischer Praktiken von Frauen an den unterschiedlichsten Orten seit der Steinzeit. Ihr Ziel war es, »zu zeigen, wie das Musizieren der Frau aufs innigste zusammenhängt mit der weiblichen Auffassung der geistigen Seite des Lebens und der Beziehung zu Mann und Kindern« (ebd., 9). Musik wurzelt in Religion, so Drinker, ist Ausdrucks- und Kommunikationsmittel und ein wesentliches Fundament einer Gemeinschaft, das in den Händen von Frauen liegt. Damit wird auch die Gemeinschaft deutlich von Frauen geprägt. Durch den Ausschluss der Frau von Ritualen der Kirche verloren die Frauen »ihre Symbole, ihre zur Betonung der eigenen Kraft geschaffenen Kulte, ihre Führerinnen« (ebd., 111f.). Nach der Kirche führten andere Institutionen diesen Ausschluss fort, prangert Drinker an, so dass Frauen in der Regel das zum kompositorischen Handwerk gehörende Grundwissen nicht lernen konnten (ebd., 153ff.). Sie relativiert die Bedeutung von angeborenem Talent für das Komponieren gegenüber einem soliden und intensiven Unterricht (vgl. Drinker 1948, 280). Der Gesang einer Nachtigall sei, wie schön er auch immer klingt, keine kompositorische Leistung. Das Buch ist ein umfassendes Plädoyer dafür, Frauen ihre musikalische Stimme zurückzugeben, mit der sie ihre Lebensweisheiten mitteilen können (vgl. ebd., 297).
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Drinkers Botschaft verhallte so ungehört wie die vorhergehenden Geschichten über Frauen zuvor. Ihr Buch wurde kaum rezipiert. Erst 25 Jahre später, inmitten der zweiten Frauenbewegung, veröffentlicht Judith Rosen den folgenden Artikel – hier als »Warum wurden Frauen nie große Komponistinnen?« übersetzt –, der sich an Drinkers Arbeit anlehnt. Bei Rosen steht jedoch weniger der spirituelle Aspekt von Musik als Ausdruck im Lebenszyklus im Mittelpunkt, als vielmehr eine pragmatische Sicht auf den Ausschluss von Frauen aus dem Musikleben. So einfach die Frage, warum es keine großen Komponistinnen gab, klingt, so exakt trifft sie den Kern. Die pejorative Behauptung, allein mangelndes Talent sei die Ursache dafür, dass es keine Komponistinnen gebe, deren Œuvre mit dem Johann Sebastian Bachs oder Ludwig van Beethovens gemessen werden könne, wird dadurch entkräftet, dass Rosen die Bedeutung von institutioneller Ausbildung und Förderung in den Vordergrund rückt: Wo Frauen nicht ausgebildet werden, können sie nicht die Fähigkeiten erlangen, die es für professionelles Musizieren oder Komponieren braucht. Gleichzeitig macht sie deutlich, dass musikalische Ausbildung nicht allein Spitzenförderung sein darf, sondern dass herausragende Leistungen nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs vieler weniger bedeutender Kompositionen seien. Rosens Artikel zeigt außerdem die Veränderung der Frauenforschung bzw. der Gender Studies. Daran, dass das Fehlen der Frauen in der Musikgeschichte nicht bemerkt wurde, änderte eine Arbeit wie die Sophie Drinkers zunächst kaum etwas. Erst mit dem Second Wave Feminism kommt Schwung in die musikwissenschaftliche Frauenforschung. Dabei bleiben die Fragestellungen in Bezug auf Komponistinnen – nach dem Werk und dessen Bedeutung – anfangs die gleichen, die auch an männliche Komponisten gerichtet werden. Rosen führt zahlreiche herausragende Komponistinnen als Ausnahmeerscheinungen auf, aber ihr Artikel macht bereits deutlich, dass die lebensweltlichen Voraussetzungen von Frauen zu unterschiedlich waren, als dass die Frage nach der »großen Komponistin« gerechtfertigt sein könne. Inzwischen haben sich die Fragestellungen der Gender Studies geändert. Katrin Losleben Textvorlage Judith Rosen: Why Haven’t Women Become Great Composers? In: High Fidelity. The Magazine for Music Listeners and Musical America 23, 1973, H. 2, 46, 51–52.
Weitere Veröffentlichungen von Judith Rosen Grazyna Bacewicz: Her Life and Works. Los Angeles 1985.
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Weiterführende Literatur Drinker, Sophie: Women and Music. The Story of Women and their Relation to Music. New York 1948. Deutsch als: Die Frau in der Musik. Eine soziologische Studie. Zürich 1955. Green, Lucy: Music, Gender, Education. Cambridge 1997. Heesch, Florian: Art. Musikausbildung. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 8. Darmstadt 2008, 894–900. Heimann-Wentzel, Cordula: Art. Musikausbildung. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 145–146. Lehms, Georg Christian: Teutschlands galante Poetinnen. Mit Ihren sinnreichen und netten Proben. Frankfurt a.M. 1715. Nevermann-Körting, Uta: Art. Kompositionsstudium. Ebd., 146.
Ausgewählter Text Durch die gesamte Geschichte hindurch wurden komplexere Tätigkeiten definiert und redefiniert einmal als männlich, einmal als weiblich, einmal als keines von Beidem, manchmal als die herausragende Fähigkeit beider Geschlechter. Wenn eine Tätigkeit, zu der jeder beigetragen haben könnte – und wahrscheinlich gehören alle komplexen Tätigkeiten zu dieser Gruppe – auf ein Geschlecht begrenzt wird, geht eine reich differenzierte Qualität des Tuns selbst verloren. Ist eine solche Fähigkeit erst einmal auf eine Geschlechterrolle festgelegt, wird der Zugang für das andere Geschlecht schwierig und zwingt zu Kompromissen. (Margaret Mead)
Eine meiner Freundinnen komponiert, arrangiert und orchestriert auf das Beste. Ich werde sie »Roberta Smith« nennen, weil ihr Name mit einer kleinen Veränderung als der eines Mannes missverstanden werden kann. Ein Agent verschaffte ihr den Auftrag, Filmmusik zu orchestrieren. Als der Produzent ihren Namen las, fragte er: »Wer ist Robert Smith? Ich habe noch nie von ihm gehört.« Der Agent sagte dem Produzenten, es hieße »Roberta Smith«. Eine lange Stille folgte, dann fragte der Produzent: »Das ist eine Frau?« Als man bejahte, zögerte er, sie einzustellen. Letztlich jedoch lenkte er ein. »Ich werde ihr den Auftrag geben,« erklärte er, »aber nur weil ich große Hochachtung vor Ihnen habe. Wenn Sie sagen, dass diese Tussi schreiben kann, glaube ich Ihnen das.« Eine solche Einstellung ist in der modernen Zivilisation, in der Komponistinnen, Patroninnen und die Musik selbst Opfer der traditionell festgelegten Geschlechterrollen sind, fest verwurzelt. Man muss wohl nicht ein Beispiel nach dem anderen anführen, um den Faden, der sich durch die Geschichte der Patronage in der Musik zieht, zu finden: Patrone, die selbst Männer waren, förderten männliche Künstler – mit
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wenigen vereinzelten Ausnahmen, was die Regel mehr oder weniger bestätigt. Bach wurde vom Markgrafen von Brandenburg und Prinz Leopold von Anhalt-Köthen gefördert, Haydn von Prinz Nikolaus Joseph von Esterházy; Wagner von Ludwig II. von Bayern; in unserer Zeit und unter etwas exotischeren Umständen würde der Maharadscha von Mysore die Rechnungen des Arme-Leute-Rachmaninoffs Nikolai Medtner bezahlen, während dieser in seiner pseudo-romantischen Art komponiert. Wenn wir den Begriff ›Patronage‹ gebrauchen, können wir uns nicht auf das stereotype Bild des dilettantischen Adligen oder des Self-made-Millionärs beschränken, der versucht, sich Ansehen zu kaufen. In seiner umfassenderen Bedeutung ist ›Patronage‹ tatsächlich das Äquivalent zu ›Anstellung‹, ›Patron‹ das Pendant zu ›Arbeitgeber‹. Die Aussage, dass der männliche ›Patron-Arbeitgeber‹ der Grund für die unterdrückte und deswegen zweitrangige Rolle der Frau als Komponistin war und ist, mag verwundern. Dennoch war er es, der wesentlich dazu beitrug, die Möglichkeiten von Komponistinnen zu beschneiden. Dieser Ausschluss hat für Komponistinnen alle musikalischen Ebenen durchdrungen. Eine derartige Haltung zeigten bis vor kurzem die Verantwortlichen für Musikerziehung und von Sinfonieorchestern ebenso wie Mäzene oder die modernen Filmstudios. Musik war nicht immer eine Männerwelt. In den Anfängen der Kultur (… und man kann es noch heute bei Naturvölkern beobachten) war im Volksstamm die Rolle der Frau die der Schöpferin und Bewahrerin von Musik. Sie war verantwortlich für alle Formen von Musik im Zusammenhang mit Geburt, Tod, Liebe, Arbeit und sogar Krieg. Mit dem Vordringen der westlichen Zivilisation und der damit verbundenen wachsenden Macht der Kirche wurde die Frau von ihrer Rolle als Komponistin und als Ausführende entbunden, weil die frühchristliche Kirche das virtuelle Monopol auf die westliche Musik hatte. Hier waren Frauen durch das unerbittliche Gebot ›mulier tace[a]t in ecclesia‹ (die Frau schweige in der Kirche) ausgeschlossen. Es muss angefügt werden, dass Juden, Mohammedaner und die meisten östlichen Zivilisationen in dieser Beziehung nicht wesentlich besser waren. Als sich die Musik schließlich von der Kirche gelöst hatte und abseits von Ritual und Liturgie verwendet wurde, hätte man erwarten können, dass Frauen zu neuen Formen musikalischen Ausdrucks beizutragen in der Lage gewesen wären. Jeder kreative Ausdruck ist jedoch unvermeidlich an die Kulturformen seiner Zeit gebunden und durch sie geformt. Jahrtausende altes Brauchtum hatte die Männer als musikalische Führung etabliert. Frauen waren, meist als Sängerinnen, verurteilt, die Musik der Männer aufzuführen. Sie akzeptierten diese Rolle ebenso wie Männer die ihre. Wenige in der Musik erfolgreiche Männer waren an den Versuchen einiger Frauen interessiert, sich
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als Komponistinnen zu bewähren. Der Harfenist Carlos Salzedo sagte einmal zu seinen Schülerinnen, dass nur Männer Musik komponieren würden. »Frauen«, so soll er gesagt haben, »sind geboren um Babies zu komponieren.«1 Auch Sibelius, heißt es, habe zwei Kompositionsstudentinnen zu einem Spaziergang weggeschickt. Nachdem sie den Raum verlassen hatten, habe er bemerkt: »Es wäre schade, wenn die Wangen dieser jungen Damen ihren schönen ländlichen Teint verlieren würden.« Anschließend unterrichtete er die verbliebenen (männlichen) Studenten in Musiktheorie. Sowohl in der Musik als auch in der Literatur waren Frauen oft gezwungen Pseudonyme zu verwenden, um in einer männerdominierten Welt anerkannt zu werden. Augusta Holmès, eine führende Komponistin des späten 19. Jahrhunderts, gebrauchte den Namen Hermann Zenta; Ethel Smyth, die sich in den Anfängen ihrer Karriere aktiv in der Frauenbewegung in England engagierte, signierte ihre Kompositionen mit E. M. Smyth. Man muss sich fragen, welche Beiträge Frauen zur westlichen Musik geleistet hätten, wenn sie nicht so sehr von der Gesellschaft, in der sie lebten, behindert worden wären. Wären ausschließlich Männer die großen Komponisten der Welt, wenn die Frauen ihre Rollen als Urheberinnen und Bewahrerinnen musikalischer Tradition weiterhin ausgeübt hätten? Wir bekommen eine Ahnung davon, wenn wir jene seltenen Momente in der Geschichte betrachten, in denen Komponistinnen der repressiven Atmosphäre entfliehen durften. In der Regel konnten sie dies durch die Einflussnahme einer anderen Frau – einer Königin, einer königlichen Mätresse oder einer anderen Hofdame. Francesca Caccini war eine der ersten Komponistinnen, die sich im frühen 17. Jahrhundert an der neuen Kunstform Oper versuchte. Mit ihren zahlreichen Opern und Balletten gewann sie die Gunst von Königin Maria de Medici. Tarquinia Molza, die sowohl Dirigentin als auch Komponistin war, wie auch Frankreichs Clémentine de Bourges (die ihren vierteiligen Chor Da bei rami mit »Clem.de Bourges« signierte und damit spätere Wissenschaftler vor die Frage stellte, ob sie wirklich die Komponistin gewesen sei) sind weitere Beispiele für Komponistinnen der Renaissance. Während der Barockzeit wurden Elisabeth Jacquet de la Guerre, deren Werke erhalten sind und heute auf Phonographenaufnahmen beurteilt werden können,2 sowie Antonia Bembo (eine venezianische Adlige, deren musikalische Kunstfertigkeit bei Hofe geachtet wurde) in ihrer Karriere großzügig von Ludwig XIV. unterstützt, in 1 [Im Englischen: »Women are born to compose babies«. Die Mehrfachbedeutung von »compose« (komponieren, zusammensetzen, entwerfen, zurechtlegen) kann hier nur unzureichend übertragen werden.] 2 [Die diskografischen Angaben werden hier und im Folgenden nicht wiedergegeben.]
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erster Linie auf Initiative eine seiner Mätressen. Die klassische Periode schenkte uns Maria Theresia von Paradis (benannt nach ihrer Patin, der Kaiserin von Österreich), die, obwohl von früher Kindheit an blind, eine ebenso versierte Pianistin wie begnadete Komponistin war. Ihre Sicilienne kann man auf Ruggiero Riccis Aufnahme The Glory of Cremona hören. Maria Szymanowska schrieb im späten 18. Jahrhundert Klaviermusik und gab uns mit ihren Nocturni, Mazurkas und Polonaisen einen Vorgeschmack auf ihren berühmteren Landsmann Frédéric Chopin. Die herausragendste Frau in der Musik der Romantik ist zweifelsohne Clara Wieck-Schumann, die, obwohl meist eher als begabte Pianistin und Meisterinterpretin der Werke ihres Gatten Robert bekannt, eine großkalibrige Komponistin war. Dieses musikalische Zeitalter brachte auch Theresa Carreño aus Venezuela hervor (die ebenfalls als Pianistin mehr Beachtung fand denn als Komponistin) und Fanny Mendelssohn, von der einige Lieder ohne Nennung ihres Namens gemeinsam mit Werken ihres berühmten Bruders veröffentlicht wurden. Der frühe Tod der Lili Boulanger und der verhältnismäßig frühe Abschied von Ruth Crawford Seeger beraubten die zeitgenössische Musikwelt bedeutsamer Werke. In Frankreich war Lili, jüngere Schwester von Nadia, während ihrer kurzen Karriere äußerst aktiv und produktiv. Glücklicherweise blieben einige ihrer besten Werke auf Schallplattenaufnahmen erhalten. Um ihre musikalische Begabung zu erkennen, muss man nur ihre drei Stücke für Violine und Klavier in der Aufnahme von Yehudi Menuhin und Clifford Curzon […] oder das Album Music of Lili Boulanger mit dem großartigen Psaume 24 hören, der mit den danach entstandenen Arbeiten von Bloch (Schelomo) und Honegger (König David) verglichen wurde. Als Lili erst 19 Jahre alt war, im Jahre 1913, beteiligte sie sich anonym an einem Wettbewerb und gewann den Grand Prix de Rome für ihre Kantate Faust et Hélène. Es war das erste Mal, dass dieser renommierte Preis einer Frau verliehen wurde. 1918 sandte sie erneut eine Komposition an das Komitee, wurde aber abgelehnt, weil in diesem Jahr die Stifter des Preises den Wettbewerb auf Männer unter 30 Jahren beschränkt hatten, vermutlich in der Annahme, dass aus dieser Gruppierung am ehesten ein großer Komponist hervorgehen würde. Eine Rehabilitierung fand nie statt. Einige Monate später starb Lili Boulanger im Alter von nur 24 Jahren. In Amerika ragen die Arbeiten von Ruth Crawford Seeger durch ihre Originalität in der Form und ihren modernen Ansatz heraus. Sie war die erste Frau, die jemals ein Guggenheim-Stipendium bekommen hat. Vor allem in den frühen 1920er Jahren komponierte Crawford Seeger zahlreiche Werke für Kammerorchester. 1931 heiratete sie den Musikwissenschaftler und Volksmusikforscher Charles Seeger und wurde damit die Stiefmutter von Pete Seeger. (Sie und Charles hatten vier gemeinsame Kinder, darunter Peggy Seeger,
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ebenfalls eine bekannte Volksmusikforscherin.) Ruth widmete sich der Transkription, der Herausgabe und dem Arrangieren von angloamerikanischer Volksmusik. Sie wurde in den gesamten USA bekannt für ihre originelle und wirksame Methode der Musikerziehung in der Vorschule. Die Suite für Bläserquintett, die 1952 veröffentlicht wurde, markiert ihre Rückkehr zur »ernsten« Musik. Darin zeigt sich eine Stilentwickung ähnlich der Béla Bartóks, wenn sie volksmusikalische Elemente mit klassischer Komposition verbindet. Sie veranschaulicht Crawford Seegers Entwicklung als Komponistin; deren früher Tod 1953 im Alter von 52 Jahren jedoch hinterlässt uns nur eine Andeutung dessen, was möglich gewesen wäre. Zugegebenermaßen sind diese Beispiele zwar historisch interessant, zahlenmäßig jedoch gering. Heute jedoch nimmt die Zahl komponierender Frauen zu. Nicola LeFanu, die 24-jährige Tochter der englischen Komponistin Elisabeth Maconchy, ist eine der besten zeitgenössischen jungen Komponistinnen. Während es in der Generation ihrer Mutter nur wenige aktive englische Komponistinnen gibt (unter ihnen Elisabeth Lutyens, Priaulx Rainier und Phyllis Tate), gehört Miss LeFanu zu einem Dutzend oder mehr gleichaltriger Frauen, die gegenwärtig für die Konzertbühne komponieren. Das ist ein Zeichen der Hoffnung. Es besteht eine dringende Notwendigkeit zur Liberalisierung der sozialen und pädagogischen Barrieren, damit sich immer mehr Frauen den Wunsch erfüllen können, Musik zu schreiben; denn nur aus der Quantität kann Qualität hervorgehen. Wir können nicht von jedem, der zu komponieren versucht, Herausragendes erwarten, und ebensowenig wäre es gerecht, Exzellentes von einer Handvoll Frauen, die sich ausdrücken können, zu erwarten. Auf die wiederkehrende Frage: »Warum gab es nie einen weiblichen Bach?« könnte man leicht antworten: »Wie viele männliche Komponisten gab es, bevor es einen Bach gab?« Wäre Bach so produktiv und so großartig gewesen, wenn er keine Anstellungen in der Kirche und bei Hof gehabt hätte, die ihn zum Komponieren zwangen? Er musste Kantaten, Choräle, Motetten im wöchentlichen Turnus liefern. Derartiger Druck fördert die Kreativität. Da Musik so lange Zeit die Welt des Mannes war, stellt sich die Frage, wer daran interessiert war, eine Arbeit, gar einen Auftrag an eine Komponistin zu vergeben. Ein Beispiel für einen Anreiz durch ein Beschäftigungsverhältnis gab es im alten Griechenland, wo Frauen als professionelle Klageweiber verpflichtet wurden. Über lange Zeiträume hinweg sangen sie Klagelieder und schufen damit fortlaufend neue Musik. In einer solchen Umgebung waren Frauen als Komponistinnen erfolgreich. Eine Position und die daraus entstehende finanzielle Entlohnung sind nur eine von vielen Voraussetzungen für eine rege kreative Leistung. Ein weiterer derartiger Stimulus ist die Anerkennung durch das Publikum.
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Pauline Oliveros, vor allem bekannt als Komponistin elektronischer Musik, hat ihre eigene Art und Weise, ihre Werke zur Aufführung zu bringen. Sie findet erst das Medium und komponiert dann mit einer bestimmten Person oder Gruppe im Kopf. Aufgrund des begrenzten Marktes für Avantgarde-Musik garantiert das natürlich nicht immer ein sehr großes Publikum. Vielleicht aber weil Miss Oliveros ein Fakultätsmitglied der Universität von Kalifornien in San Diego ist, hat sie mehr Darbietungsmöglichkeiten als die meisten anderen jungen Komponisten; jede Frau, die nicht in dieser Position ist, hat die zusätzliche Schwierigkeit, die künstlerische Anerkennung männlicher Ausführender und Impresarios gewinnen zu müssen. Männer andererseits stoßen nicht auf die selben kulturellen Hindernisse wie in diesem Beruf tätige Frauen. Die Zukunft von Komponistinnen scheint sich jedoch aufzuhellen, seit sich immer mehr ein allgemeines Bewusstsein für den Verlust von »reich differenzierten Fähigkeiten« entwickelt. Der Tag mag nicht mehr allzu fern sein, an dem Komponieren nicht länger als das ausschließliche Vorrecht der Männer betrachtet wird, sondern als ein Bereich, in dem alle auf der Grundlage ihres Talentes und nicht aufgrund ihres Geschlechts teilhaben können.
5. Die Kanon-Frage Marcia J. Citron: Gender und der Kanon in der Musik (1993) Einleitung Unter einem Kanon versteht man ein Korpus von Werken, Texten, Wertmaßstäben, Regeln, »Formen, Praktiken und Stilen, die eine bestimmte soziale Gruppe, Gesellschaft oder Institution innerhalb eines je spezifischen religiösen, weltanschaulichen bzw. kulturellen Feldes für gut, richtig, schön und vorbildlich hält« (Dücker, Walther 2007, 327). Auf das musikalische Feld bezogen bezeichnet ›Kanon‹ also ein Korpus von Werken und Texten, das in Schule und Lehre, Wissenschaft, Instrumentalunterricht, Musikindustrie, Buch- und Notenverlagen, Orchestern und Konzertkritik vermittelt wird. Er wird durch das sogenannte Repertoire ergänzt, womit Werkkataloge für praktizierende Musikerinnen und Musiker bezeichnet werden, die für jede Musiksparte spezifisch sind (vgl. Citron 1993, 23). Gemeinsam stellen sie eine gedankliche Auswahl von Stücken dar, die man – salopp gesprochen – kennen muss, wenn man zum Fach gehören bzw. auf dem musikalischen Feld reüssieren will. Ein Kanon entsteht durch eine qualitative und quantitative Vorauswahl aus einer unüberschaubar großen Menge von Musikstücken, die aufgrund bestimmter Kriterien aus dem Gros aller anderen Werke getroffen wird (vgl. Citron 2010a, 301). Was als innerhalb des westlich-klassischen Kanons liegend gesehen wird, ist ein dynamischer Prozess, wobei im Vergleich zu anderen Disziplinen (z.B. der Literaturwissenschaft) der musikalische Kanon als besonders schwerfällig und beständig gilt (vgl. Dahlhaus 2002, 60). Werke wie z.B. Don Giovanni von Mozart, Beethovens Neunte Sinfonie oder die Große C-Dur-Sinfonie von Schubert haben darin offensichtlich dauerhaft ihren Platz. Die Bildung des musikalischen Kanons ist dabei ein Phänomen des im 19. Jahrhundert aufkommenden Historismus. Nicht nur, dass Werke wie Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion wiederentdeckt und aufgeführt werden, also erstmals nicht nur zeitgenössische, sondern auch ›alte‹ Musik rezipiert wird; vielmehr entwickelt sich in dieser Zeit auch eine Haltung, die Altes insgesamt höher schätzt als Gegenwärtiges. Zeitgleich kommt es zur Etablierung der Musikwissenschaft als universitärer Disziplin, die sich in erster Linie mit musikalischen Werken und ihren Komponisten auseinandersetzt und es zu einem ihrer Hauptanliegen macht, Werke zu bewahren. Befeuert wird die Kanonbildung zusätzlich durch die nationalen Bestrebungen in Europa. Die Suche nach nationaler Selbstvergewisserung mündet im musikali-
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schen Bereich in Werksammlungen wie Denkmäler deutscher Tonkunst bzw. Denkmäler der Tonkunst in Österreich (vgl. Citron 1993, 40). Bis heute werden mit steter Regelmäßigkeit kanonisierende Zusammenstellungen von Werken veröffentlicht, sei es in Form von Hörvorschlägen oder von Musikgeschichten (z.B. Leopold, Redepenning, Steinheuer 2008). Allerdings drängten sich bereits mit der zweiten Phase des Feminismus in den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zahlreiche kritische Fragen zum musikalischen Kanon auf: Warum gehören bestimmte Werke eigentlich zum Kanon und andere nicht? Wer trifft diese Vorauswahl und aufgrund welcher Kriterien? Warum sind es überwiegend Arbeiten von Männern, die im Kanon westlich-klassischer Musik vertreten sind? Warum sind Werke von Frauen nur in geringem Maß enthalten und wenn, dann ausschließlich von Komponistinnen des 20. und 21. Jahrhunderts? Die Notwendigkeit von Kanones als gemeinsamen Referenzpunkten (bzw. -pools) kann nicht in Abrede gestellt werden. Kanones dienen der Orientierung (der griechische Begriff kanón bezeichnete die Richtschnur des Handwerkers) und garantieren die fruchtbare Verständigung unter Musikschaffenden und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Mehr noch: ein Kanon definiert Mentalität, Identität, Weltbild und Geschichtsbild einer Gruppe (vgl. Dücker, Walther 2007, 328). Kanones sind ein Abbild gesellschaftlicher Beziehungen (auch der Vergangenheit) und stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zur Kultur. Sie ordnen und schließen gleichzeitig aus und sind Instrumente der Macht, denen kaum zu entrinnen ist, da jede Strömung wiederum Kanones ausbildet (vgl. Bidwell-Steiner 2006, 35). Die Frage lautet, wie ausgeschlossene Artefakte in den Kanon geholt werden können? Oder braucht es einen eigenen Kanon abseits des Mainstreams? Um es vorwegzunehmen: ein eigener ›weiblicher Kanon‹ wird heute als wenig sinnvoll erachtet, da er »in ein kulturelles Ghetto hineinführen könnte« (Assmann 2006, 33). Drei wichtige Schritte aber können den Weg zu einer Erweiterung des bestehenden Kanons ebnen (vgl. Bidwell-Steiner 2006, 41): 1. Die Forderung, wegen ihres Geschlechts, ihrer Ethnie oder ihrer Schicht marginalisierte Gruppen miteinzubeziehen; 2. die Dekonstruktion des Kanons: Welche sozialen Prozesse entscheiden darüber, welche Werke innerhalb, welche außerhalb des Kanons liegen? Dies ermöglicht als 3. Schritt die Einbeziehung alternativer Kanones. Marcia J. Citron hat mit ihrer Arbeit Gender and the Musical Canon erste wichtige Schritte auf diesem Weg zurückgelegt. Ausgehend von der Feststellung, dass der Kanon der westlichen Welt einseitig zugunsten der Werke von Männern aufgestellt sei (vgl. Citron 1993, 4), sucht sie in ihrer Monografie in sechs Kapiteln nach verschiedenen Faktoren in Musikproduktion, -rezeption und der Musik selbst, die zu dem weitgehenden Ausschluss von Werken von
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Frauen aus dem Kanon geführt haben. Entscheidend sind dabei aus ihrer Sicht eben jene Kriterien, die von der Wissenschaft an die Werke und die Komponistinnen und Komponisten zum Nachweis der ›Kanonfähigkeit‹ angelegt werden.1 Diese sind, wenn dies auch nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist, in vielen Fällen misogyn. So stehen hinter dem Kriterium der ›Kreativität‹ beispielsweise vielfach patriarchal geprägte, dualistische Konzepte,2 nach denen Männern die Fähigkeit Neues zu erschaffen (creation/production), Frauen hingegen allein die Fähigkeit zu gebären (procreation/reproduction) zugeschrieben wurde. Folge dessen war, dass daraus eine Unfähigkeit von Frauen abgeleitet wurde, überhaupt künstlerisch produzieren zu können (vgl. Citron 1993, 45). Diese Vorstellung wirkte sogar auf die Künstlerinnen selbst ein und führte zu dem, was Citron in der Nachfolge von Gilbert und Gubar »anxiety of authorship« nennt – eine Angst davor, als Autorin öffentlich zu werden (vgl. Citron 1993, 54).3 Der Mangel an weiblichen, komponierenden Vorbildern werde damit perpetuiert und versperre Frauen den Weg in die Musik als Profession. Professionalisierung gilt dabei als eine weitere Grundvoraussetzung für den Eintritt in den Kanon. Darunter versteht Citron, dass ein Komponist bzw. eine Komponistin öffentlich als komponierendes Individuum wahrgenommen wird und seine bzw. ihre Werke von Publikum und Musikbetrieb kritisch rezipiert werden.4 Weil Werke und die sie schaffenden Individuen nicht voneinander zu trennen sind, muss Professionalisierung unter dem eigenen Namen stattfinden. Selbst Pseudonyme, eine Notlösung, zu der noch Komponistinnen wie Augusta Holmès (1847–1903) oder Rebecca Clarke (1886–1979) gegriffen hatten, um in einem Musikbetrieb in männlicher Hand ihre Werke überhaupt veröffentlichen zu können, sind nicht ausreichend.5 Auch die halböffentliche oder halbprivate Situation des Salons, auf die Frauen oft beschränkt waren, ist für eine Aufnahme des Namens bzw. der Werke der Frauen in den Kanon nicht ausreichend. Kritisch wurde Citrons Forderung nach einer spezifisch weiblichen Ästhetik als Weg in den Kanon aufgenommen (vgl. Citron 1993, 75).6 Ebenso wurde unter anderem ihre Analyse der Klaviersonate op. 21 von Cécile Chaminade, die 1 Siehe auch Kap. 16 im vorliegenden Band. 2 Zu Dualismus bzw. Dichotomie siehe Kap. 1 und 3 im vorliegenden Band. 3 Siehe Sandra M. Gilbert, Susan Gubar: Madwomen in the Attic. New Haven, London 1979. Diese beziehen sich wiederum auf Harold Blooms Begriff der »anxiety of influence« (vgl. Bidwell-Steiner 2006, 37). 4 Siehe Kap. 1 im vorliegenden Band. 5 Siehe Kap. 4 im vorliegenden Band. 6 Mehr zur Kritik an einem »weiblichen Subkanon« (Begriff nach Gaby Pailer: Gattungskanon, Gegenkanon und ›weiblicher Subkanon‹. Zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. Theo-
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als Komponistin das Marxsche Sonatenmodell und damit die »hierarchische Beziehung zwischen Männlichem und Weiblichem, die die Sonatenhauptsatzform darstellt und, viel wichtiger, der Ideologien, die sie widerspiegelt« gezielt verweigere (Citron 1993, 154), zwiespältig diskutiert.7 Citron hat mit Gender and the Musical Canon einen wichtigen Beitrag zur Kanonkritik geliefert, indem sie den Ausschluss von Frauen und die den Kanon strukturienden Werte aufgefächert hat und damit die Dimension der Dynamik in der Kanonbildung sichtbar hat werden lassen. Katrin Losleben Textvorlage Marcia J. Citron: The Canon in Practice. In: Gender and the Musical Canon. Urbana, Chicago 1993. Reprint 2000 [Auszug 219–226].
Weitere Veröffentlichungen von Marcia J. Citron The Letters of Fanny Hensel to Felix Mendelssohn. Collected, Edited and Translated with Introductory Essays and Notes by Marcia J. Citron. New York 1987. Cécile Chaminade. A Bio-Bibliography. New York u.a. 1988. Art. Kanon. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Stuttgart, Kassel 2010, 301–302 [2010a]. When Opera Meets Film. Cambridge u.a. 2010 [2010b].
Weiterführende Literatur Assmann, Aleida: Kanon und Archiv – Genderprobleme in der Dynamik des kulturellen Gedächtnisses. In: Marlen Bidwell-Steiner, Karin S. Wozonig (Hg.), A Canon of Our Own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender Studies. Innsbruck u.a. 2006 (Gendered Subjects 3), 20–34. Bidwell-Steiner, Marlen: Kanonkritik zwischen Herrschaftsraum und geschütztem Raum. Ebd., 34–41. Dahlhaus, Carl: »Was ist Musikgeschichte?« In: Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig Finscher, Giselher Schubert (Hg.), Europäische Musikgeschichte. Bd. 1, Kassel 2002, 59–79. Dücker, Burckhard, Gerrit Walther: Art. Kanon. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. von Friedrich Jaeger. Bd. 6. Stuttgart, Weimar 2007, 327–333. Fuhrmann, Manfred: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002. Leopold, Silke, Dorothea Redepenning, Joachim Steinheuer: Musikalische Meilensteine. 111 Werke, die man kennen sollte. 2 Bde. Kassel 2008. retische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart, Weimar 1998, 365–383) siehe u.a. Bidwell-Steiner 2006, 36. 7 Mehr dazu siehe Kap. 2 und 16 im vorliegenden Band.
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Noeske, Nina: Gendering the Musical Canon vs. Canonizing Gender in Music? In: Annette Kreutziger-Herr u.a. (Hg.), Gender Studies in der Musikwissenschaft – Quo Vadis? Festschrift für Eva Rieger zum 70. Geburtstag. Hildesheim u.a. 2010 ( Jahrbuch Musik und Gender 3), 31–47.
Ausgewählter Text Der Kanon in der Praxis Ein Ort für Frauen und ihre Musik Musik von Frauen war bislang nur wenig oder gar nicht im Kanon westlicher Musik präsent. Dieses Phänomen ist nicht nur auf die Musik beschränkt; generell haben sich Feministinnen dafür eingesetzt, Wege zu finden, um das Verhältnis von Frauen und ihren Werken zu existierenden Kanones auszuhandeln. In der Regel nutzten sie dabei Strategien des »Mainstreaming« und des »Separatismus«: nämlich die Eingliederung neuer Werke in existierende Kanones und die Etablierung eigener Repertoires.8 Diese beiden Wege werden oft als in einem Entweder-Oder-Verhältnis stehend oder sogar als gegensätzlich dargestellt. Ihre beiden Hauptkriterien seien hier nur kursorisch genannt: Mainstreaming bietet auf realistische Weise an, bislang verdeckte oder verloren geglaubte Frauen sichtbar zu machen und somit schließlich die Akzeptanz dieser Frauen zu ermöglichen. Es integriert Frauen in traditionelle historische Strukturen und zeigt, in welchem stilistischen Zusammenhang sie zu Komponisten und deren Musik stehen. Mainstreaming beruht auf der Idee, dass eine Gesellschaft aus zwei Geschlechtern besteht, die an einem gemeinsamen kulturellen Erbe teilhaben. Mainstreaming vereint mehr als es trennt. 8 Zu den vielen Quellen, in denen diese Modelle diskutiert werden, zählen in alphabetischer Reihenfolge: Christine Battersby: Gender and Genius. Towards a Feminist Aesthetics. London 1989; James Briscoe: »Integrating Music by Women into the Music History Sequence«. In: College Music Symposium 25, 1985, 21–27; Susan C. Cook: »Women, Women’s Studies, Music and Musicology. Issues of Pedagogy and Scholarship«. In: College Music Symposium 29, 1989, 93–100; Henry Louis Gates Jr.: »Whose Canon Is It, Anyhow?«. In: New York Times Book Review. 26. Februar 1989; Frank Kermode: History and Value. Oxford 1988; Nancy Miller: »Men’s Reading, Women’s Writing. Gender and the Rise of the Novel«. In: Joan DeJean, Nancy Miller (Hg.), Displacements. Women, Tradition, Literatures in French. Baltimore 1991, 37–54; Carol Neuls-Bates: »Creating a College Curriculum for the Study of Women in Music«. In: Judith Lang Zaimont, Catherine Overhauser, Jane Gottlieb (Hg.), The Musical Woman. Bd. 1. Westport, Ct. 1983, 265–282; Lillian Robinson: »Treason our Text. Feminist Challenges to the Literary Canon«. In: Tulsa Studies in Women’s Literature 2, 1983, 83–98; Eve Kosofsky Sedgwick: »Introduction: Axiomatic«. In: The Epistemology of the Closet. Berkeley, Cal. 1990, 1–63; Elaine Showalter: »Women and the Literary Curriculum«. In: College English 32, 1970–1971, 855–862.
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Es umgeht Gefühle von Gegensätzlichkeit, Konfrontation oder Hierarchie, die aus separaten Repertoires resultieren könnten. Befürworterinnen des Separatismus sehen dagegen große Vorteile in dem, was Lillian Robinson als »Gegenkanon« bezeichnet hat.9 Analog zu den Argumenten für die Schaffung von Colleges für Frauen oder Afroamerikaner glauben sie, dass Interessen von Minderheiten einzig durch eigene Räume gegen die imperialistischen Tendenzen des Mainstreams geschützt werden könnten. Sie befürchten die Gefährdung von Individualismus und Identität, sollte diese Minderheitenkultur in etablierte Konventionen aufgehen. Getrennte Repertoires fördern die Stärkung von Gruppenidentität und eigenen Traditionen. Sie schaffen dabei eine Art Intertextualität zwischen den Werken von Frauen; Virginia Woolf schrieb dazu: die Werke von Frauen »setzen einander fort«.10 Sie ermöglichen eine Geschichtsschreibung, die aus den spezifischen Charakteristika der Gruppe erwächst, anstelle einer, die gezwungener Maßen eine herrschende Ideologie übernimmt. Eine separate Auswahl läuft jedoch Gefahr, als marginal oder unwichtig erachtet und ignoriert zu werden, weil sie außerhalb des Mainstreams liegt. Als praktisch-politische Strategie kann der Separatismus daher selbstzerstörerisch sein. Dem würden die Befürworterinnen des Separatismus entgegnen, dass ihr Ziel nicht sei, im sozialen Mainstream erfolgreich zu sein, dass daher eine solche vermeintlich politische Zweckmäßigkeit keine Relevanz habe und somit nur wenige Probleme erzeuge. Separatismus und Mainstreaming sind weder zwangsläufig widersprüchlich, noch stehen sie zwingend in einem Entweder-Oder-Verhältnis oder hierarchisch zueinander. Trotzdem werden Traditionen von Minderheiten gegenüber dominanteren Traditionen oft als »das Andere« konstruiert. So hat Philip Bohlman beispielsweise die Dominanz der [Historischen] Musikwissenschaft über die Musikethnologie untersucht und gezeigt, wie die disziplinären Kanones der Musikethnologie zu einem »Anderen« für die Kanones der [Historischen] Musikwissenschaft geworden sind, die wiederum dazu neigt, sich wie ein imperialistischer Herrscher Gebiete einzuverleiben.11 Folglich muss die 9 Robinson: »Treason our Text« (wie Anm. 8). Elizabeth Wood geht vom Standpunkt eines Frauenforschungsprogramms aus, in dem sie unterrichtet, um ihre Ansichten über kanonische Modelle zu entwicklen, die die Tätigkeiten von Frauen in der Musikgeschichte in einem ganzheitlichen weiblichen Kontext verorten. Eine Zusammenfassung findet sich bei Cook: »Women, Women’s Studies, Music and Musicology« (wie Anm. 8), 95–96. 10 Virginia Woolf: Ein eigenes Zimmer. 2. Auflage. Frankfurt a.M. 2002, 79–80. 11 Die Metapher vom Imperialismus ist entlehnt aus Don Randels Essay »The Canons in the Musicological Toolbox«. Vortrag auf dem Jahrestreffen der American Musicological Society, New Orleans 1987. Veröffentlicht in: Katherine Bergeron, Philip V. Bohlman (Hg.), Disciplining Music. Musicology and Its Canons. Chicago 1992, 10–22.
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Musikethnologie eigene Wege wieder entdecken und als starkes Fachgebiet auftreten.12 Als Beispiel aus einem anderen Bereich werden in der Textsammlung Displacements Strategien erörtert, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Subjektivierungen des inhärent »Anderen« gestärkt werden sollten, nämlich »das Andere« in der französischen Literatur von Frauen, wie sie in den Vereinigten Staaten gelehrt wird. Das Anderssein ist hier gedoppelt: zum Einen steht das Repertoire der Frauen innerhalb eines Kanons, der von Werken von Männern gesättigt wurde; zum Anderen hat französische Literatur außerhalb Frankreichs eine Art Exilstatus. Ein letztes Beispiel stammt von Allan Bloom, der mit einer etwas anderen Sichtweise auf kanonisches Anderssein zeigt, dass die intellektuelle Leidenschaft des Westens abhängig ist von der Existenz des Anderen, von einer »verborgenen« Tradition, die in Spannung zum Mainstream steht. Diese Spannungen seien nötig für die intellektuelle Anregung und um die zentralen Themen der westlichen Kultur lebendig zu halten. Bloom sieht daher als Grund für zahlreiche Probleme im amerikanischen Erziehungssystem die Entstigmatisierung einer Tabu-Tradition.13 Im Folgenden möchte ich Modelle vorstellen, die zwischen der scheinbaren Distanz zwischen Mainstreaming und Separatismus vermitteln sollen. Vor allem aber sollen diese modellhaften Ideen einen praktischen Beitrag dazu leisten, zwischen der Musik von Frauen und dem traditionellen Kanon westlicher Musik zu vermitteln. Diese Vorschläge betreffen somit ganz unmittelbar die universitäre musikhistorische Lehre, jedoch sind ihre grundlegenden Gedanken durchaus auch in anderen Kontexten relevant.14 12 Philip V. Bohlman: »Ethnomusicology’s Challenge to the Canon; the Canon’s Challenge to Ethnomusicology«. Vortrag auf dem Jahrestreffen der American Musicological Society, New Orleans 1987. Veröffentlicht in: Bergeron, Bohlman (Hg.), Disciplining Music (wie Anm. 11), 116–136. 13 Siehe Blooms The Closing of the American Mind. New York 1987. Eve [Kosofsky] Sedgwick sieht darin eine »closet«-Metapher [das englische Wort bedeutet Wandschrank, Klosett, Nebenzimmer, ist aber auch mit Geheimhaltung konnotiert], denn es hat mit verbotenen sexuellen Handlungen zu tun, die geheimgehalten wurden. Siehe ihre Kritik an Bloom in The Epistemology of the Closet (wie Anm. 8), 50. Eine weitere Kritik an Bloom findet sich bei Ann Clark Fehn: »Relativism, Feminism, and the ›German Connection‹ in Allan Bloom’s ›The Closing of the American Mind‹«. In: German Quarterly 62, 1989, 384–394. 14 Meine Bemerkungen betreffen offenkundig die Geschichte westlicher Kunstmusik. Ich bin mir aber wohl bewusst, dass die Umgestaltung des Kanons auch eine Erweiterung beinhaltet, die über die Begrenzungen von ›westlich‹ und ›Kunstmusik‹ hinausgeht. Das bedeutet, auch nicht-euroamerikanische Kulturen einzubeziehen, wie Traditionen aus Fernund Nahost, aus Afrika und dem indianischen Amerika, von denen sich viele natürlich wiederum auffächern, z.B. in japanische, chinesische und indonesische Musik in Fernost. Die Erweiterung beinhaltet auch Musik mit anderer sozialer Grundlage als derjenigen der weißen Ober- bis Mittelschicht. Damit kommen sowohl populäre Musik mit ihren vielen Spielarten als auch Volksmusik und Jazz hinzu. Obwohl eine solche Erweiterung zahlreiche
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Bislang habe ich Mainstreaming und Separatismus als Alternativen dargestellt. Aber dieses ausschließende Modell ist wesentlich weniger ansprechend als eines, das beide Formen vereint. Es geht hierbei nicht um Hierarchie; tatsächlich bieten beide Strategien wirklich Vorteile. Zusammen ermöglichen sie der Lehrerin-Studentin-Befragten den Ausblick auf fließende Übergänge, in denen sie sich zwischen den verschiedenen Nuancen von Dazugehörend oder Außensstehend in Beziehung zu den beiden Modellen setzen kann.15 Sie bearbeitet sozusagen zwei Felder gleichzeitig und nimmt eine veränderliche Subjektposition ein, deren spezifischer Standpunkt abhängig ist von ihren jeweiligen Bedürfnissen sowie von dem, was sie erreichen will. Sie ist sich der Bedeutung des Lernens einer speziell weiblichen Tradition bewusst und ebenso im Klaren darüber, dass die historischen Akteure und Institutionen – genau wie sie selbst auch – in unterschiedlichem Maße in einer männlich dominierten Kultur sozialisiert worden sind. Das bedeutet nicht nur, dass eine weibliche Tradition von Widersprüchen gezeichnet ist, die ihren Ursprung im Patriarchat haben, sondern auch, dass es nicht möglich ist, diese Tradition getrennt von der männlichen zu untersuchen. Ich will damit nicht sagen, dass eine gesonderte weibliche Tradition scheitern muss. Ich behaupte vielmehr, dass sie nur einen Blickwinkel dieses »Doppelblicks« darstellt, den die Studentin (und der Student) auf das historische Feld wirft. Dieses Modell lässt sich auch auf andere sogenannte mute cultures16 übertragen, wie Henry Louis Gates Jr. im Bezug auf afroamerikanische [black] Literatur eloquent darlegt: Es ist eine Frage der Perspektive, eine Frage der Betonung. Genau wie wir einen schwarzen Text innerhalb der größeren amerikanischen Tradition zitieren können und müssen, können und müssen wir ihn innerhalb seiner eigenen Tradition zitieren, einer Tradition, die nicht von der Pseudowissenschaft der Rassenbiologie oder der mystisch geteilten Essenz, die man ›Schwarzsein‹ [blackness] nennt, definiert wurde, sondern durch die Wiederholung und Berichtigung geteilter Themen, Topoi und Tropen, den Ruf und die Antwort von Stimmen, ihrer Musik und Kakophonie.17
Vorteile bietet, von denen viele meine Argumente in diesem Kapitel unterstützten, kann dieses Projekt aufgrund seiner ungeheuren Ausmaße hier leider nicht behandelt werden. 15 Joan Kelly verwendet den Begriff »doubled vision« [d.i. ›verdoppeltes Blickfeld‹], um die zweifache Perspektive von Frauen zu beschreiben. Siehe z.B. die Einleitung zu einer posthum von Kollegen herausgegebenen Sammlung ihrer Aufsätze: Women, History, and Theory. The Essays of Joan Kelly. Chicago 1984, xxiv. 16 [Der Begriff der ›mute cultures‹ stammt ursprünglich aus der Anthropologie und bezeichnet Kommunikations- und Repräsentationsmuster von marginalisierten Gruppen.] 17 Gates: »Whose Canon Is It, Anyhow?« (wie Anm. 8), 45.
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Diese Form von Musikalität ist keinesfalls auf eine einzelne Tradition beschränkt. Sie kann sich vielmehr zwischen den beiden Traditionen bewegen und so verflochtenen oder kontrapunktischen Texturen ähnlich werden. »Eine Künstlerin muss in den Kontext männlicher Traditionen hineinpassen. Doch um zu verstehen, was die Künstlerin tut, (...) muss sie auch in einem eigenen weiblichen Muster verortet werden, das sozusagen den ersten Kontext kontrapunktisch durchkreuzt.«18 Christine Battersby gründet hier den Kontrapunkt auf ad hoc entstandene historische Traditionen. Ich möchte vorschlagen, den Kontrapunkt oder das Geflecht dagegen als Metapher zu verstehen, die den aktiven Prozess des Verbindens beider Traditionen miteinander beschreibt. Diese Prozesse sind gekennzeichnet von Flexibilität, Veränderlichkeit und Uneinheitlichkeit; mal gewinnt der eine, mal der andere Aspekt an Bedeutung und fällt schließlich wieder zurück in den Hintergrund. Diese Begriffe ermöglichen auch eine Vielfalt historischer Denkweisen. Sie können den binären Gegensatz zwischen den beiden Traditionen verkleinern und gleichzeitig zahlreiche feine Verbindungen zwischen ihnen und um sie herum betonen. Außerdem gibt die Eigenschaft des Geflechts jene Eigenheiten wieder, die man mit der Position des Subjekts verbindet. In seiner Fähigkeit, sich an einen anderen Ort zu begeben, ist dieses Subjekt ebenfalls flexibel, veränderlich und ungleichförmig. Doch das Aushandeln der beiden Traditionen stellt nur einen Teil einer umfassenderen, doppelgleisigen Annäherung an Kanonisierung dar. Der zweite Ansatz liegt in der praktischen Lehrsituation begründet, wenn man z.B. einen musikgeschichtlichen Einführungskurs gibt, der sich nicht ausschließlich mit den Aktivitäten von Frauen beschäftigt. Dieser Ansatz ist nicht zwangsläufig eine Alternative oder eine Ergänzung zum ersten Ansatz; es sind lediglich Perspektive und Intention genauer festgelegt und definiert. Es betrifft die reale Situation, Musikgeschichte zu lehren, die im traditionellen Kanon verwurzelt ist. Welche praktischen Strategien bieten sich an, die Musik von Frauen mit einzubeziehen? Geht es bloß darum, Werke von Männern durch Werke von Frauen zu ersetzen, um am Ende eine zahlenmäßig ausbalanciertere Darstellung geben zu können? Obwohl das Ersetzen von Werken ein wichtiger Schritt war, um Frauen und ihre Musik deutlicher sichtbar zu machen, geht dies letztlich nicht weit genug. Es führt lediglich dazu, dass das neue Werk in das kanonische Pantheon integriert und somit denselben Begriffen, denselben Paradigmen und Kategorien ausgesetzt wird, die im Bezug auf Werke von Männern entwickelt wurden. Dies führt dazu, dass Frauen und ihre Musik in der Position des »Anderen« oder in der Peripherie des Mainstreams bleiben, der nach wie vor auf männlichen Konventionen beruht und von ihnen definiert wird. Es ver18 Battersby: Gender and Genius (wie Anm. 8), 152.
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hindert also nach wie vor das Verständnis von Frauen als Frauen und das Verständnis für die Bedeutung des kulturellen Geschlechts und der Sozialisation in der Frage, wie und warum Musik produziert wird. Es setzt allgemein gültige Bedeutungen, Antworten und Bewertungen von Musik. Kurz, es löscht Differenz und soziale Besonderheiten und das Verständnis aus und negiert damit ihre Bedeutung für das Verständnis von Musik als kultureller Tätigkeit. Die Antwort auf diese Schwierigkeiten ist nicht notwendigerweise, sich auf eine separatistische Position zurückzuziehen und das Feld zu verteidigen. Wie bereits dargestellt, können fließende Perspektiven und Positionierungen erfolgreich das Verweben von zwei Traditionen ermöglichen. Aber im Rahmen von Unterricht, der sich mit dem tradierten Kanon beschäftigt, können die Werke von Frauen tatsächlich eine entscheidende Rolle spielen. Sie werfen nicht nur neue Fragen über sich selbst auf, sondern haben die Macht, den Diskurs über den gesamten Kanon zu verändern, so dass die darin repräsentierte Bandbreite menschlichen Ausdrucks sich erweitert. Ich möchte einige Beispiele nennen. Im Fall von Fanny Hensel19 schien der Mangel an öffentlicher Sichtbarkeit und an Veröffentlichungen zu Lebzeiten einem Mangel an Können gleichgesetzt zu sein. Diskussionen über die verschiedenen Professionalisierungsmechanismen und familialen Verbote könnten sich als ein erhellender und interessanter Einstieg für die Studierenden erweisen. Eine tiefergehende Analyse von Hensels Situation könnte dann zu weiteren wichtigen Fragen führen, z.B. wie wünschenswert Herausgaben [von Kompositionen] und deren Dauerhaftigkeit sind oder Fragen zur Attraktivität von privaten Formen von Kreativität für Frauen des 19. Jahrhunderts und weiter zu der Frage der grundsätzlichen Sonderstellung der Komposition gegenüber anderen musikbezogenen Tätigkeiten. Diese Fragen wären eine Anregung, über traditionell-kanonische Komponisten und ihre Werke zu diskutieren und damit den Rahmen für das Verstehen der musikalischen Praxis im 19. Jahrhundert zu erweitern. Das zweite Beispiel betrifft Cécile Chaminades Klaviersonate.20 Verfolgen wir die Analyse des ersten Satzes als einen Widerhall männlich bzw. weiblich codierter Themen der Sonatenhauptsatzform, dann könnten wir eine ähnliche Methodologie auf andere Sonaten des 19. Jahrhunderts anwenden, vor allem auf Kompositionen eines Mannes. Dabei könnten wir überlegen, welche Strategien er bezüglich dieser Konventionen verfolgt hat, Strategien womöglich, die sich von denen einer Komponistin, von Komponist zu Komponist und innerhalb der Stücke desselben Komponisten unterscheiden. Darüber hinaus könnten wir 19 Siehe Kap. 2 und 3 in Gender and the Musical Canon. 20 Sonate en Ut Mineur (Sonata), op. 21, c-Moll, 1895. Siehe Kap. 4 in Gender and the Musical Canon.
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entsprechende – auch unbewusste – Gender-Codierungen in anderen musikalischen Formen diskutieren. Diese Untersuchungen würden den Punkt unterstreichen, dass musikalische Strukturen, obwohl nicht essentiell männlich oder weiblich gedacht, Träger verschiedener Kompositionstechniken sein können, die im Zusammenhang mit der eigenen Identität und Stellung innerhalb der Gesellschaft stehen. Sie zeigen auch die zentrale Rolle, die Geschlecht in der Musik selbst spielt. Das dritte und letzte Beispiel ist Alma Mahler-Werfels außergewöhnliches Stück Ansturm. 1911 komponiert und als drittes der Vier Lieder (1915) veröffentlicht, kann Ansturm gut und gern als eines der frühesten Werke gelten, das eine Frau zu einem Text über sexuelles Begehren und Befriedigung komponiert hat.21 Allein die wundervollen musikalischen Kontraste bieten bereits genug Futter für eine lebhafte Diskussion über Stil. Aber der offene Umgang mit einem verbotenen Thema scheint zunächst viel wichtiger und öffnet die Tür zu weiteren Fragen: Was bedeutete es für eine Frau um 1900, sexuelle Begierde und Befriedigung offen auszudrücken? Welche Form von Sexualität wurde für Frauen ihres Hintergrunds und ihrer Klasse entworfen? Wie sieht es mit Konstruktionen von Sexualität in zeitgenössischen Werken aus, zum Beispiel in Strauss’ Der Rosenkavalier, Mahlers späten Sinfonien, Schönbergs expressionistischen Arbeiten oder in den Liedern der holländischen Komponistin Anna Cramer (1873–1968)?22 Diese Fragen legen die Vermutung nahe, dass Musik als gelebte Praxis weit mehr als Stil, Formalismus und eine Abfolge großer Namen und Werke bedeutet. Gleichzeitig, da Frauen und ihre Werke dazu beitragen, das Feld des Kanondiskurses zu erweitern, muss ein weiterer Schritt getan, nämlich die gesellschaftlichen Werte, die den derzeitigen kanonischen Werken zugrunde liegen, erforscht werden. Susan McClary ist eine der treibenden Kräfte hinter dieser Arbeit und ich stimme mit ihr darin überein, dass dies absolut von Nöten ist. Kanonische Werke werden nicht aufgrund eines abstrakten Begriffs von Qualität kanonisch, sondern hauptsächlich durch das Anlagern bestimmter Wertesysteme, die im jeweiligen Werk verschlüsselt und bestätigt werden. Wie Jane Tompkins schreibt, leisten Kunstwerke eine »kulturelle Arbeit«, die sie innerhalb des Kontextes, aus dem heraus sie entstehen, wirksam und erfolg21 Abgedruckt in Sämtliche Lieder. Universal Edition 1984. Siehe dazu auch Marcia J. Citron: »European Composers and Musicians, 1880–1918«. In: Karin Pendle (Hg.), Women and Music. A History. Bloomington u.a. 1991, 133–137; sowie Edward Krawitt: »The Lieder of Alma Maria Schindler-Mahler«. In: The Music Review 49, 1988, 190–204. 22 Über Cramer, die in Amsterdam studierte, ist relativ wenig bekannt. Einige ihrer wunderbaren Lieder, die sie größtenteils zwischen 1905 und 1910 komponierte, wurden auf dem Seventh International Congress on Women in Music im Mai 1991 in Utrecht aufgeführt.
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reich macht.23 Letztlich trägt zu ihrer Kanonisierung jedoch bei, dass einzelne dieser Werte im Laufe der Zeit hoch geschätzt bleiben und mit dem Siegel der Qualität versehen werden. So zeigt McClary zum Beispiel, inwiefern der Neunten Sinfonie von Beethoven die Idee phallischer Gewalt zugrunde liegt, und wie eben diese Gewalt stillschweigend einer der zugrunde liegenden Codes ist, die dazu beigetragen haben, das Werk im Kanon zu etablieren. In einem anderen Aufsatz untersucht sie die Chromatik in zwei Werken des späten 19. Jahrhunderts und deren kulturelle Bedeutung für die patriarchale Konstruktion weiblicher Sexualität.24 Diese Studien helfen, den Mythos von Musik als autonomer Kunst und als unabhängig von gesellschaftlichen Einflüssen zu erschüttern und schaffen damit letztenendlich Raum für neue Werke.25 Jonathan Culler hat diese Idee weitergedacht, wenn er bemerkt, dass die alten Werke des Kanons »auf mächtigste Weise jene Ideologien entmythologisieren, die sie zu fördern schienen«.26 Anders ausgedrückt: die Kontingenz der Werke selbst wird vis-à-vis des soziohistorischen Kontexts die in der Kanonizität implizierte Vorstellung von Transzendenz widerlegen. [...] Einer der größten Vorteile einer solchen Diskussion über einen Platz für Frauen im Kanon ist das »In-Diskurs-Bringen der ›Frau‹«, wie es Alice Jardine nennt.27 Frauen werden damit an vorderster Stelle und im Mittelpunkt platziert. Damit wird auch angeregt, die Subjektposition der Frau in ihrem Verhältnis zum Kanon zu erfragen. Ich meine damit die historische Frau und nicht eine Frau von heute, die sich dem Kanon nähert.28 Erhält sie durch die Aufnahme in den Kanon eine zentrale Position innerhalb dieses Kanons? 23 Jane Tompkins: Sensational Designs. The Cultural Work of American Fiction 1790–1860. New York 1985. 24 Siehe McClarys »Getting down off the Beanstalk« [Kap. 2 im vorliegenden Band], sowie dies.: »Sexual Politics in Classical Music«. In: Feminine Endings. Music, Gender, and Sexuality. Minneapolis, Minn. 1991, 53–79. Weitere ideenreiche Beispiele sind Robert Finks Analyse des Begehrens in Johannes Brahms’ Erster Sinfonie in einem Vortrag auf der Tagung »Feminist Theory and Music«, University of Minnesota, Minneapolis, Juni 1991, und Lawrence Kramers Untersuchung verschiedener Werke in Music as Cultural Practice, 1800–1900. Berkeley, Cal. 1990. 25 So drückte Susan McClary es eloquent bei einem privaten Gespräch aus. In anderen Bereichen haben Feministinnen ein ähnliches Vorgehen gefordert. Siehe z.B. die französische Literaturkritikerin Nancy K. Miller: »Men’s Reading, Women’s Writing« (wie Anm. 8), 51, oder Eve Kosofsky Sedgwick: The Epistemology of the Closet (wie Anm. 8), 50. 26 Jonathan Culler: Framing the Sign. Criticism and Its Institutions. Norman 1988, zit. nach: Frank Kermode: An Appetite for Poetry. Cambridge, Mass. 1989, 14. 27 Zit. nach Susan Rubin Suleiman: »A Double Margin. Reflections on Women Writers and the Avant-Garde in France«. In: Joan DeJean, Nancy Miller (Hg.), Displacements. Women, Tradition, Literatures in French. Baltimore, Mar. 1991, 183. 28 Siehe Kap. 5 in Gender and the Musical Canon.
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Die Kanon-Frage
Steht sie an einer anderen Stelle? Ich bin überzeugt davon, dass sie, genau wie eine Frau, die sich heutzutage dem Kanon annähert, eine flexible Position innehat. Es mag sein, dass sie zeitweise im Mittelpunkt steht; zu einem anderen Zeitpunkt jedoch tut sie das nicht, und die vielen Abstufungen dazwischen ermöglichen ihr eine Flexibilität, die sich einer rigiden Kategorisierung in Bezug auf männliche Strukturen und Konventionen widersetzt. Vielleicht ist für Frauen der einzige Kanon, in dem sie normalerweise im Mittelpunkt stehen, ein ausschließlich weiblicher Kanon. Doch wenn ich sage, dass historische Frauen nun zeitweise im Mittelpunkt stehen können, dann meine ich nicht, dass sie noch immer »das Andere« sind und als »das Andere« betrachtet werden sollten. Ich gehe vielmehr von einem weitaus komplexeren Feld aus, das ohne Dualismen auskommt und in dem Bewegung und Vielfalt möglich sind. Battersby setzt sich mit ihrer Forderung, dass Frauen nicht länger als »das Andere« betrachtet werden können, dafür ein, die historische Künstlerin auf zweifache Weise zu sehen: als Individuum und als Teil einer künstlerischen Tradition.29 Damit widersetzt sich Battersby jeder rigiden Positionierung. Während ich ihr in diesem Punkt Recht gebe, stimme ich nicht mit ihrer These überein, dass wir die Positionierung [subjectivity] der Künstlerin zwangsläufig im Rahmen des Begriffs »Genie« betrachten. Sie sieht darin eine pragmatische Aneignungsstrategie. Vielleicht ist es einfach Battersbys Weg, sozusagen den Spieß männlicher Aneignung von Genie am Ende des 18. Jahrhunderts umzudrehen. Zu diesem Zeitpunkt hatten viele Eigenschaften, die das Genie kennzeichneten, scheinbar weibliche Attribute zum Vorbild.30 Battersby ist versucht, ihre eigene Vorstellung vom gängigen Verständnis des Begriffs abzugrenzen, darunter auch der Idee eines transzendenten, göttlich begabten (männlichen) Schöpfers. Doch ich fürchte, dass letzten Endes die Bezeichnung Genie den historischen Frauen nur schaden kann: Genie wäre unweigerlich mit Transzendenz assoziiert. Daher widerspreche ich Battersbys Erhöhung der Positionierung [subjectivity] der Künstlerin. Stattdessen stellt für mich das teilweise Dezentrieren31 eine Möglichkeit dar, Raum zu schaffen für eben jene Konzepte, die letztlich Frauen eine größere Sichtbarkeit verschaffen.
29 Battersby: Gender and Genius (wie Anm. 7), 157. 30 Ebd., 103. 31 Siehe Kap. 3 in Gender and the Musical Canon.
6. Die Trobairitz Annette Kreutziger-Herr: Kombinatorische Spiele. Die Trobairitz und ihre Bedeutung für die Musikhistoriographie der Neuzeit (2009) Einleitung Die feministische Kritik am Ausschluss der Frauen aus traditionellen Musikgeschichten hatte sich zunächst vor allem am etablierten Kanon männlicher ›Meister‹-Komponisten der Neuzeit entzündet. Seit ca. 1990 werden gehäuft Hinweise laut, dass auch die Musikgeschichte des Mittelalters vom Ausschluss der Frauen betroffen ist. Dass das Mittelalter bisher noch eher ein Spezialgebiet der musikwissenschaftlichen Gender-Forschung ist, während der größte Teil ihrer historischen Arbeiten dem klassisch-romantischen Repertoire gewidmet ist, dürfte in den unterschiedlichen Entwicklungen der jeweiligen Forschungsgeschichte begründet sein: Zumindest seit Ludwig van Beethoven bestand eine weitgehende Kontinuität sowohl in der Aufführung klassischromantischer Musik als auch in ihrer theoretischen bzw. wissenschaftlichen Kommentierung. Der im 19. Jahrhundert begründete Kanon bürgerlicher Tonkunst ist bis heute eines der Hauptforschungsfelder der Musikwissenschaft. Die Musik des Mittelalters wurde erst um 1900 von der noch jungen Disziplin ›wiederentdeckt‹, avancierte dann aber bald zu einem ihrer etablierten Forschungsgebiete. Seit ihren Anfängen hat die musikwissenschaftliche Mediävistik nicht nur ihre Methoden weiterentwickelt, sondern sich auch verstärkt der Frage angenommen, wie die Kultur des Mittelalters zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten rezipiert wurde, d.h. wie sich jede Zeit ihr eigenes Bild vom Mittelalter erschafft. Damit reagiert sie auch auf das Phänomen der neuen Mittelalterfaszination, die seit den 1970er Jahren in verschiedenen Bereichen der westlichen Kultur aufgeblüht ist, u.a. in Fantasyliteratur und -filmen, in Mittelaltermärkten, in ›mittelalterlicher‹ Rockmusik oder in popularisierten Formen von Gregorianischem Gesang. Annette Kreutziger-Herr hat sich in ihrer Habilitationsschrift Ein Traum vom Mittelalter mit der Rezeption der Musik des Mittelalters in der Neuzeit auseinandergesetzt und darin auch die Entwicklung der Fachgeschichte berücksichtigt. In dem hier wiedergegebenen Aufsatz Kombinatorische Spiele widmet sie sich der Kunst der Trobadors und Trobairitz genannten okzitanischen Dichter und Dichterinnen des 12. und 13. Jahrhunderts und ihrer Erforschung. Kritisch beobachtet sie, dass die Forschung sich lange Zeit fast ausschließlich den männlichen Vertretern dieser mittelalterlichen Kunstform
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gewidmet und dabei die Frauen außer Acht gelassen hat. Kreutziger-Herr tritt hier für einen Perspektivwechsel ein. Sie hebt hervor, wie wichtig es ist, beide Geschlechter zu berücksichtigen, auch wenn die Trobairitz gegenüber den Trobadors zahlenmäßig eine Minderheit darstellen. Die Kunst der Trobairitz erweist sich als ebenso eigenständig wie elaboriert und steht derjenigen der Trobadors qualitativ in nichts nach. Zudem wird überhaupt erst durch diese Frauen eine weibliche (Autorinnen-)Perspektive auf das artifizielle Geschlechterspiel der höfischen Liebe (›fin’amor‹) erkennbar. Erst wenn auch die Sicht der Frauen erfasst wird – selbst wenn sie in den Quellen nur von wenigen Vertreterinnen artikuliert wird –, nähert sich die Geschichtsschreibung der vollständigen Darstellung einer Kultur. Generell tritt Kreutziger-Herr dafür ein, dass Musikgeschichten Männer und Frauen gleichberechtigt behandeln sollten. Sie nennt dieses Konzept, das man durchaus als feministisch bezeichnen kann, »symmetrische Musikgeschichtsschreibung« (siehe ihren Artikel im Lexikon Musik und Gender, 255f.). Mit diesem Ziel gründete die Professorin für Historische Musikwissenschaft und Kulturwissenschaft an der Hochschule für Musik und Tanz Köln das Forschungsprojekt »History | Herstory«. Bei der Dichtung und Musik der Trobairitz handelt es sich um eine hochartifizielle Spezialkultur einer europäischen Elite. Insofern lässt sich Kreutziger-Herrs Auseinandersetzung mit den Trobairitz mit Diskussionen über künstlerische Autorinnen späterer Epochen vergleichen, so mit der ungleichen Behandlung von Komponistinnen des bürgerlichen Zeitalters. Daneben hat die musikwissenschaftliche Gender-Forschung gezeigt, dass sich gerade in Bezug auf das Mittelalter breite Bereiche der Musikkultur mit Kategorien wie Autorschaft bzw. Komposition nicht fassen lassen. Darunter fällt z.B. das Feld der Spielleute, die vor allem als aufführende Musikerinnen und Musiker bzw. Tänzerinnen und Tänzer wirkten. Der durchaus große Anteil der Frauen unter ihnen wird – wie die Trobairitz – ebenfalls erst seit kurzem erforscht (Borroff 1991, Holze, Reese, Jürgens 2007, Salmen 2000). Die Gender-kritische Auseinandersetzung mit musikgeschichtlichen Darstellungen des Mittelalters betrifft aber nicht nur den Anteil von Frauen und Männern, sondern auch die Kriterien und den Stil der Beschreibung von Musik. So hat Leo Treitler (1993, siehe Kap. 3 in diesem Band) gezeigt, dass historische Darstellungen des Gregorianischen Chorals bis in die 1970er Jahre hinein einem geschlechtlich codierten dualistischen Wertungsmuster folgen. Ein solcher Dualismus findet sich in vielen musikgeschichtlichen Darstellungen, sowohl im Bereich der Gregorianik-Forschung als auch in Bezug auf den klassisch-romantischen Kanon. Insofern sagen Musikgeschichten, selbst wenn sie sich verschiedenen Epochen widmen, manchmal Ähnliches über die Zeit ihrer Entstehung aus. Florian Heesch
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Textvorlage Annette Kreutziger-Herr: Kombinatorische Spiele. Die Trobairitz und ihre Bedeutung für die Musikhistoriographie der Neuzeit. In: Annette Kreutziger-Herr, Katrin Losleben (Hg.), History | Herstory. Alternative Musikgeschichten. Köln u.a. 2009 (Musik – Kultur – Gender 5), 253–272 [Auszug].
Weitere Veröffentlichungen von Annette Kreutziger-Herr Johannes Ciconia (ca. 1370–1412). Komponieren in einer Kultur des Wortes. Hamburg, Eisenach 1991. [Als Hg.:] Das Andere. Eine Spurensuche in der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts. Hamburg 1998 (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 15). Ein Traum vom Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit. Köln u.a. 2003. [Als Hg., zus. mit Katrin Losleben:] History | Herstory. Alternative Musikgeschichten Köln u.a. 2009 (Musik –Kultur – Gender 5). [Als Hg., zus. mit Melanie Unseld:] Lexikon Musik und Gender. Kassel, Stuttgart 2010.
Weiterführende Literatur Borroff, Edith: Women and Music in Medieval Europe. In: Mediaevalia 14, 1991 (1988), 1–21. Coldwell, Maria V.: Jougleresses and Trobairitz. Secular Musicians in Medieval France. In: Jane Bowers, Judith Tick (Hg.), Women Making Music. The Western Art Tradition. 1150–1950. Urbana 1986. Edwards, Michele J.: Women in Music to ca. 1450. In: Karin Pendle (Hg.), Women and Music. A History. Bloomington 1991, 8–28. Holze, Constanze, Kirsten Reese, Pepe Jürgens: Spielfrauen im Mittelalter. Multimediale Präsentation. http://mugi.hfmt-hamburg.de/spielfrauen/index.html. Hamburg 2007. Morent, Stefan: Art. Das 13. Jahrhundert. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 27–35. Salmen, Walter: Spielfrauen im Mittelalter. Hildesheim 2000. Treitler, Leo: Gender and Other Dualities of Music History. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993, 23–45.
Ausgewählter Text Vom Dichtungsobjekt zur Dichterin: Trobairitz und ihre Beherrschung höfischen Regelwerks Bis hierher ist die Trobadorlyrik ein männliches Genre, das das Idealbild der Frau als Herrin im Minnedienst, als höfische Dame, »höchst artifiziell gestaltet«1 1 Egon Boshof: Europa im 12. Jahrhundert. Auf dem Weg in die Moderne. Stuttgart 2007, 201–211.
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– so sehr, dass [ Johann Gottfried] Herder in der Dichtung selbst ein weibliches Moment erblickt und die provenzalische Dichtkunst als »Mutter aller neueren europäischen Dichtkunst« ausmacht. Aber auch Frauen waren an der Formung der Trobadorlyrik beteiligt und haben auf ihre unverwechselbare Art zum Aufblühen des Genres beigetragen. Historisch belegbar sind 25 Frauen, die zu den insgesamt etwa 2500 Trobadortexten 46 beigetragen haben.2 Die Publikationen von Meg Bonin, William Paden und Angelica Rieger differieren in der Zählung, aber Angelica Rieger kann die überzeugendsten Belege vorlegen, deren Präsentation den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.3 Eine Größe, die quantitativ nicht ins Gewicht zu fallen scheint, aber doch qualitativ dann an Gewicht gewinnt, wenn hier die einmalige Chance eines Perspektivenwechsels erblickt wird. Sind Frauen in den Augen der dichtenden Sänger Inspirationsquelle und Ansprechpartnerin, so lassen Text und Musik der dichtenden Sängerinnen andere und weitere Facetten der ›fin’amor‹ wahrnehmen, und die deutlichen Unterschiede führen zu einer Uminterpretation des höfischen Regelwerks selbst. Trobairitz ist die weibliche Form von Trobador und meint die okzitanischen Dichterinnen, die zwischen 1135 und 1260 neben den Trobadors in Erscheinung traten.4 Das Wort wird, wie auch das männliche Pendant, abgeleitet vom okzitanischen Verb ›trobar‹, was so viel wie finden oder erfinden aber auch dichten bedeutet.5 Dabei bleibt die Suche nach einem eindeutigen und ›authentischen‹ Begriff für das Altokzitanische, die Sprache der Trobadors und Trobairitz selbst – proensal, lenga romana, lemosi, mon lati – für das 12. Jahrhundert so ergebnislos wie die Suche nach der Selbstbeschreibung des Tuns der Dichterinnen und Dichter erfolgreich ist: ›trobar‹ oder ›chantar‹ finden Verwendung sowohl in den ›vidas‹ – den Lebensbeschreibungen der Trobadors und Trobairitz – als auch in Werken selbst, den Tenzonen (Streit2 Angelica Rieger: Trobairitz. Der Beitrag der Frau in der altokzitanischen höfischen Lyrik. Edition des Gesamtkorpus. Tübingen 1991. Etwa 2500 Texte dokumentieren eine reiche Dicht- und Gesangskultur, die zwischen 1090 und 1290 eine Blütezeit erlebt. In den vielfach beschriebenen Phasen der Entwicklung der Trobadorlyrik wird zunächst der Weg vom Einfachen zum Künstlichen ausgelotet (1090–1140), zentral belegt mit dem Namen Guilhem IX. de Peitieus (Poitiers), die Blütezeit der Trobadorkunst ist vertreten mit Dichtersängern wie Bernart de Ventadour und Arnaut Daniel (1140–1250), und der Verfall (1250–1290) äußert sich deutlich in unerhörter Selbstreflexion im Werk z.B. von Giraut de Bornelh. 3 Meg Bonin: The Women Troubadours. New York 1980; William Paden (Hg.): The Voice of the Trobairitz. Perspectives on the Women Troubadours. Philadelphia 1989; Matilda Tomaryn Bruckner u.a. (Hg.), Songs of the Women Troubadours. New York, 1995; Rieger: Trobairitz (wie Anm. 2). 4 Angelica Rieger: Art. »Trobairitz«. In: Metzler Lexikon Gender Studies – Geschlechterforschung. Hg. von Renate Kroll. Stuttgart, Weimar 2002, 392f. 5 Boshof: Europa im 12. Jahrhundert (wie Anm. 1), 192.
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gedichten) und ›partimens‹, den ›cansos‹ (Kanzonen, höfische Minnelieder) und ›coblas‹. Der Begriff Trobairitz begegnet uns selten und taucht zuerst in einem für den mündlichen Vortrag zusammengestellten Flamenca-Roman auf,6 die Histoire Littéraire de France spricht von ›poétesses‹ oder auch ›dametroubadours‹. In den Handschriften werden die Namen von zwanzig Trobairitz überliefert, die jeweils ein Gedicht hinterlassen haben. Weitere fünf Trobairitz sind anonym geblieben: N’Alaisina Yselda, Na Carenza, N’Almuc de Castelnou, N’Iseut de Capion, Alamanda, Contessa de Proensa, Na Felipa, Na Guillelma de Rosers, Na Lombarda, Na Maria de Ventadorn, Yswabella, Domna H., N’Azalais de Procairagues, Na Bieiris de Romans, Na Clara d’Anduza, Na Tibors de Sarenom und anonyme Dialogpartnerinnen der Trobadors. Gar drei Lieder und ein zugeschriebenes Lied sind überliefert von Na Castelloza, und von der Comtessa de Dia sind vier Liedtexte überliefert sowie die einzige überlieferte Melodie einer Trobairitz. Die Dichterinnen sind Aristokratinnen und in die Adelsgesellschaft der südfranzösischen Höfe integriert. Die berühmte Trobairitz Comtessa de Dia oder Beatriz de Dia (um 1140– 1189), begegnet nicht nur auf Grund von Miniaturen in vier illuminierten Trobadorhandschriften7 sondern als Dichterin von Texten, in denen die Frau als alleiniges lyrisches Ich auftritt.8 Sie ist Dialogpartnerin des Trobadors Raimbaut d’Aurenga und Verfasserin eines Textes, den Raimon de las Salas als Vorlage für eines seiner Werke benutzt. Sogar eine knappe Biografie, eine ›vida‹, ist überliefert: Die Gräfin von Dia war die Ehefrau Guillems de Peitieus, eine schöne und gute Dame, und sie verliebte sich in Herrn Raembaut d’Aurenga und machte viele gute Lieder über ihn, wie ihr hier sehen und hören könnt. La comtessa de Dia si fo moiller d’En Guillem de Peitieus, bella domna e bona. Et enamoret se d’En Raembaut d’Aurenga, e fetz de lui maintas bonas chanssos e bellas, segon que vos poiretz vezer et entdendre aissi.9
6 Pierre Bec: »Trobairitz et chansons de femme. Contribution à la connaissance du lyrisme féminin au Moyen Age«. In: Cahiers de civilisation médiévale 22, 1979, 235–262. Vgl. dazu auch Pierre Bec: Chants d’amour des femmes-troubadours: trobairitz et chansons des femme. Paris 1995. 7 Rieger: Trobairitz (wie Anm. 2), 56. 8 Siehe die Grundseite »Beatriz de Dia« auf der Internetplattform »Musik und Gender im Internet«. http://mugi.hfmt-hamburg.de/grundseite/grundseite.php?id=beat1140, letzter Zugang: 11. Oktober 2008. 9 Rieger: Trobairitz (wie Anm. 2), 585.
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Zu diesem rudimentären Text, der weniger der Romanistik, aber vielmehr der Geschichtswissenschaft weiterhin Rätsel aufgibt, wurden spätestens durch italienische Humanisten des 14. Jahrhunderts ergänzende Bemerkungen hinzugefügt, die vielleicht aus verlorenen Quellen schöpfen und die Comtessa de Dia mit dem Ehrentitel »Sappho du Rhône« bedenken. Durch diese rezeptionsästhetischen Zusätze wird aus der Comtessa de Dia jene Legende, die nicht nur die Frauenlieder des Minnesängers Reinmar beeinflusst haben soll, sondern auch Lobgesänge verschiedenster späterer Dichter – bis hin zu Rainer Maria Rilke – hervorruft und durch Irmtraud Morgner in ihrem Roman Trobadora Beatriz zur Romanheldin geworden ist.10 Gleichzeitig ist es ein Phänomen, wie trotz der kontinuierlichen Präsenz von Beatriz de Dia, über frühe biografische Texte von Jehan de Nostre-Dame (1575)11 und Claude-FrançoisXavier Millot (1774),12 trotz François-Juste-Marie Raynourard, der eine erste Ausgabe mit Liedern der Trobadors zwischen 1816 und 1821 veröffentlicht,13 trotz Henry Vaschaldes Histoire des troubadours,14 trotz des 1888 von »La Cigale« gemeinsam mit der Gesellschaft provenzalischer Schriftsteller »Felibres« veranstalteten südfranzösischen Festivals, bei dem Beatriz de Dia als beste Dichterin altprovenzalischer Sprache ausgezeichnet wurde, sich bis ins späte 20. Jahrhundert hinein hartnäckig in der Fachwelt die Überzeugung hielt, es habe überhaupt keine Trobairitz gegeben – oder geben können, und die Zeugnisse der Trobairitz seien in Wirklichkeit Ergebnisse eines Versuchs von Dichtern, in ihrer Wortkunst einen Perspektivwechsel zu erproben. Trobairitz und Trobadors: Gemeinsamkeiten, Unterschiede In einem ›partimen‹, einem Dialog zwischen Maria de Ventadorn und dem Trobador Gui d’Uissel mit dem Titel Gui d’Uissel, bem pesa de vos wird auf hochartifizielle und ironische Art das Regelwerk der ›fin’amor‹ beschrieben. Dabei tritt mit Maria de Ventadorn im späten 12. Jahrhundert nicht nur eine souveräne Trobairitz auf, sondern auch eine Mäzenin der Trobadors. Sie gehört zum limosinischen Hochadel und nimmt bereits als Mädchen Huldi10 Vgl. ebd., 608f. 11 Jehan de Nostre-Dame: Les vies des plus célèbres et anciens poètes provensaux, qui ont floury du temps des Comtes de Provence. Recueil des œuvres de divers autheurs. Lyon 1575. Nachdruck Paris 1913. 12 Claude-François-Xavier (Abbé) Millot, Jean-Baptiste de La Curne de Sainte-Palay: Histoire littéraire des troubadours, contenant leurs vies, les extraits de leurs pièces. Paris 1774. 13 François-Just-Marie Raynourard: Choix des poésies originales des troubadours. Paris 1816–1821. 14 Henry Vaschalde: Histoire des troubadours du Vivarais, du Gévaudan et du Dauphiné. Paris 1889.
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gungen von Bertran de Born entgegen. Gleichzeitig richten Trobadors Geleitworte und Lieder an Maria de Ventadorn, so Gaucelm Faidit, Gui d’Uissel, Monge de Montaudan, Gausbert de Poicibot, Giraut de Calanson und andere.15 Die altokzitanische Fassung des ›partimen‹ Gui d’Uissel, bem pesa de vos zeigt souveräne Beherrschung von Reimkombinationen, witzige Allusionen an Reime, die Gui d’Uissel in anderen Gedichten einsetzt und gleichzeitig auch eine Ironisierung seiner bekanntesten ›canso‹, der seinerzeit berühmten ›mala canso‹. Maria de Ventadorn baut in ihre Partimenteile eine clevere Anspielung auf Gui d’Uissels Vorbild ein – die ›mala canso‹ des Trobadors Raimbauts de Vaqueiras. Es ist ein freches, kombinatorisches Spiel mit altem Metrum und neuen Reimen, das naturgemäß in der deutschen Textfassung nicht nachvollzogen, aber doch erahnt werden kann[.] [...] Der Corpus an überlieferten Texten der Trobairitz mag zwar nicht zu Generalisierungen einladen, und doch haben analytische und editorische Bemühungen der letzten Jahrzehnte auch eine qualitative Interpretation des lyrischen Materials ermöglicht. Es gibt eben derart auffallende Gemeinsamkeiten der Trobairitz-Texte, das generalisierende Aussagen zu dieser Künstlerinnengruppe versucht werden können. Denn ihre Lyrik begnügt sich keineswegs mit einem simplen Rollentausch, einer Umkehr der Rollen im symbolischen »Machtspiel fin’amor«. Gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen bewahren die Trobairitz zunächst den konventionellen Tugendkatalog und thematisieren die ›fin’amor‹, deren »hochstilisierter Ideologie« sie reserviert gegenüberstehen und für dessen Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit sie ein geschärftes Bewusstsein haben.16 Sie besingen wie die Trobadors Freude (joi) und Schmerz (dolor) und beherrschen das trobadoreske Regelsystem: Sie halten sich an das ›celar‹-Gebot (Verschweigen intimer Details), jonglieren mit ›senhal‹ (Verwendung von Decknamen), formen das Lied als Bote und Botschaft und gestalten dieselben stereotypen Figurenkonstellationen. Wie auch die Trobadors und ebenso ausdifferenziert und komplex weist die TrobairitzLyrik intertextuelle Bezüge der feinsten Art auf. Es finden sich sowohl Kommentare zur Lyrik männlicher Dichter-Kollegen, als auch Bezugnahmen auf ganze lyrische Diskurse der Trobadors, die ausführlich behandelt und transformiert werden.17 Anders als die Trobadors aber verwenden ihre Texte naturgemäß ein weibliches, lyrisches Ich und verweisen selbstbewusst aber auch gespickt mit Selbst15 Vgl. Rieger: Trobairitz (wie Anm. 2), 263ff. 16 Rieger: »Trobairitz« (wie Anm. 4), 393. 17 Vgl. Karin Pendle (Hg.), Women and Music. A History. 2. Aufl. Bloomington 2001, 30–35.
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ironie auf eigene Vorzüge, z.B. auf »ma beltatz«, »meine Schönheit«, wie es in A chantar von Beatriz de Dia heißt. Der Stil der Trobadors wird transformiert und nicht imitiert, was eines der auffälligsten Stilmerkmale von TrobairitzTexten ist. Der gravierendste Unterschied ist allerdings ein textlicher, aber auch ein inhaltlicher: Der Tugendkatalog der ›fin’amor‹ wird nicht zwischen Ritter und Herrin, der ›domna‹ (= Herrin in der Trobadorlyrik), aufgefächert, sondern zwischen der ›domna‹ und ihrem ›amic‹ (= Geliebter, Freund). Das lyrische Ich besingt in Trobairitz-Texten als Individuum ein gleichgestelltes Individuum, das weder rangniedriger, noch ranghöher angesiedelt ist – eine Regelverletzung des Tugendkatalogs, ein Verstoß gegen höfische Konventionen. Zu dieser auffallenden Änderung im ›scopus‹ der Lyrik wird das Recht, öffentlich über Liebe zu sprechen, immer wieder thematisiert, so wie die Texte häufiger ein Individuum ansprechen als ein allgemeines Publikum, wie es oft in der Trobadorlyrik geschieht. In den Texten der Trobairitz wird mehrfach das Thema des begangenen Liebesverrats angesprochen so wie der ›amic‹ zu Tugend und größtem Ansehen geführt werden soll, während die Offenbarung der eigenen Liebe Trost und Linderung der Liebesqualen verspricht. Auch betonen die Trobairitz Erotik und Verlangen, die Aspiration des lyrischen Ichs um Anerkennung als ein Individuum und die Sehnsucht, die eigene Stimme im Gespräch über Liebesbeziehungen zu hören – im Gegensatz zum gesellschaftlichen Zwang zu schweigen. Bei Na Castelloza heißt es beispielsweise: Ich weiß genau, dass es mir wohl ansteht auch wenn alle sagen, es sei sehr ungehörig, dass eine Dame einen Ritter umwerbe, von sich aus, und ihm beständig so lange gut zurede.18
Die Konventionsverletzung des »direkt über Liebe und Leidenschaft Sprechens« und die freimütige erotische Komponente der ›fin’amor‹ wird begründet mit der Gleichstellung in der Liebe von ›domna‹ und ›amic‹. In der Kunst der Trobairitz ist Liebe keine Frage von Hierarchien, sondern von Nicht-Lieben oder Lieben. Die konstante latente Ironie, die den Tenzonen Pfeffer gibt, sich aber auch konstant in den ›cansos‹ findet, unterstreicht auch, dass Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit ein konstantes Thema für die Trobairitz ist.19 Während für viele Trobadors die vertonte Lyrik ein Mittel für sozialen Aufstieg ist, haben die Trobairitz – als adelige Frauen – diesen Aufstieg nicht nötig. Sie thematisieren eher Regelverletzungen im Gendersystem, indem sie 18 Aus Amics, s’ie us trobes avinen, ediert in Rieger: Trobairitz (wie Anm. 2), 519–528, hier 521. 19 Vgl. hierzu Pendle, Women and Music (wie Anm. 17), 31.
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z.B. (wie bei Na Carenza) auf die Möglichkeit unverheiratet zu bleiben ebenso Bezug nehmen, wie die Möglichkeit erörtern zu heiraten, aber dennoch keine Kinder zu bekommen. Auch das Verwerfen gesellschaftlicher Bilder von Weiblichkeit ist in der einen oder anderen Form immer Thema in den Texten der Trobairitz. Denn im Gegensatz zu den raisons professionelles ihrer dichtenden männlichen Kollegen liegen bei den Trobairitz meist künstlerische und persönliche Motive vor, raisons personelles.20 In Estat ai en greu cossirier der Comtessa de Dia heißt es: I: Ich habe mich in Sehnsucht verzehrt Nach einem Ritter, der einst mein, und ich will, dass jeder wissen soll, für alle Zeiten, wie über alle Maßen ich ihn liebte; nun sehe ich, dass ich verraten bin, weil ich ihm meine Liebe nicht schenkte, denn das bereitet mir große Not, in der Nacht und auch am Tag. II: Gerne hielte ich meinen Ritter Eines Abends nackt in meinen Armen, denn er wäre überglücklich, hätte er mich nur als Kissen gehabt; denn ich finde mehr Gefallen an ihm als Floris an Blancaflor, sein sind mein Herz und meine Liebe, mein Sinn, meine Augen und mein Leben. III: Mein edler, lieber, guter Freund, wann werde ich Macht über Euch gewinnen und mit Euch schlafen eines Nachts und Euch voll Liebe küssen? Wisset, dass ich große Lust hätte, Euch anstelle des Ehemanns zu umarmen, wenn Ihr mir nur zuvor versprochen hättet, alles zu tun, was ich mir wünschte.21 [...]
20 Es gab auch ›professionelle‹ Trobairitz, wie die Frau Raimons de Miraval oder Na Guillelma. 21 Rieger: Trobairitz (wie Anm. 2), 600f.
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›Gender‹ als Werkzeug im mediävistischen Werkzeugkasten Wenn Historikerinnen und Historiker ihren Werkzeugkoffer packen, um virtuell in die Geschichte zu reisen, dann ist ein zur Grundausstattung gehörendes Werkzeug die Analysekategorie ›Gender‹. Sie nimmt neben den Klassikern der Sozial- und Mentalitätsgeschichte mit den Kategorien Klasse, Ethnizität und Rasse eine Schlüsselposition ein und hat auf den Feldern der politischen Geschichte, der Sozial- und Regionalgeschichte, der Geschichte der Literatur, aber auch der Geschichte der Wissenskulturen, der Ideengeschichte und der Bildung neue Forschungswelten aufgeschlossen. Auslösend war für die Forschung der mittlerweile berühmte Klassiker von Joan Wallach Scott »Gender: A Useful Category in Historical Analysis«.22 Dass dabei die europäischen Mittelalterstudien ein wenig hinter der angelsächsischen Forschung hinterherhinken,23 sagt nur etwas über die Geschwindigkeit der Perspektivenerweiterung, nichts jedoch über die grundsätzliche Richtung aus. Mittlerweile sind große Forschungsvorhaben umgesetzt, die für die Scientific Community das Thema »Frauen und Gender im Mittelalter« enzyklopädisch aufgearbeitet haben.24 Das Werkzeug ›Gender‹ öffnet verschlossene Türen, lenkt den Blick auf Strandgüter der mediävistischen Archiv- und Quellenforschung, die in neuem Glanz zu Forschungsgegenständen ersten Ranges aufsteigen und hat frischen Wind in die traditionsschweren Fächer Musikwissenschaft und Mediävistik gebracht. Dabei offenbart die Kategorie ›Gender‹ mittelalterliche Lyrik als Gendersystem. In zahlreichen Liedern, in ›partimen‹ und ›cansos‹, in Minneliedern und Trouvère-Gesängen wird überlegt, was es wohl bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein, und wie unterschiedlich doch die Welt aussieht, wenn man sie aus anderer Perspektive betrachtet. Ganz deutlich haben Frauen und Männer nicht nur im Mittelalter unterschiedliche Gattungen und Formen gewählt, um ihre Welt zu beschreiben,25 um sich künstlerisch auszudrücken und sich immer wieder der Frage zu nähern, was 22 Joan Wallach Scott: »Gender: A Useful Category in Historical Analysis«. In: American Historical Review 91, 1986, Nr. 4, 1053–1075. 23 Gender ist hier nur am Rande erwähnt: Hans-Werner Goetz: Moderne Mediävistik: Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung. Darmstadt 1999. Für die vollständige Abwesenheit der Trobairitz in der musikwissenschaftlichen Überblicksliteratur beispielsweise Hermann Danuser (Hg.), Musikalische Lyrik. Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen 8/1). 24 In Auswahl: Katharina M. Wilson, Nadia Margolis (Hg.): Women in the Middle Ages. Westport 2004; D.S. Brewer: Gender in the Middle Ages. Cambridge 2004; Margaret Schaus: Women and gender in Medieval Europe. New York 2006; Helen M. Jewell: Women in Dark age and Early Medieval Europe. Ca. 500–1200. Basingstoke 2007; dies.: Women in Late Medieval and Reformation Europe. 1200–1500. Basingstoke 2007. 25 Pendle, Women and Music (wie Anm. 17), 35.
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der Mensch eigentlich ist. Um auf umfassende Art zu verstehen, was das Regelwerk der ›fin’amor‹ wirklich bedeutet hat, muss die Sichtweise von Frauen in den Gesamtzusammenhang einbezogen werden. Wer würde schon einen Briefwechsel edieren, ohne beide Dialogpartner zu Wort kommen zu lassen? Beide Anfänge und Enden der Konversation sind wichtig, genauso, wie Text ohne Kontext nicht nachvollziehbar wird. Wenn Hugo Riemann keine siebentaktigen Phrasen in den Werken Du Fays akzeptieren und mit Übertragungsmanipulationen – die ihm als Korrekturen einer mangelhaften Überlieferung vorgekommen sein mögen – die Siebentaktigkeit auf Achttaktigkeit für moderne Ohren »korrigiert«,26 fehlt das Vorstellungsvermögen für eine ganz andere Art der künstlerischen Ordnung. Analog kann man vermuten, die tiefverwurzelte Vorstellung, Frauen könnten nicht künstlerisch und für die Gesellschaft kreativ tätig sein, habe jahrhundertelang dazu geführt, die tatsächlichen kulturellen Zeugnisse aus weiblicher Hand zu übersehen und umzudeuten. Wenn bis ins späte 20. Jahrhundert hinein Trobadorlyrik als rein-männliches Genre galt, in dem sich gelegentlich das Konzept einer fiktiven Weiblichkeit entwickelt habe, dann ist diese Ansicht zum einen Beleg für die Verknüpfung zeitgenössischer Perspektivenbildung mit historischen Gegenständen,27 zum anderen Ausdruck für einen eklatanten Mangel an historiographischem KnowHow in den traditionellen Philologien, der im 21. Jahrhundert unentschuldbar wäre. Denn wie kann es sein, dass in Bezug auf das Regelwerk der höfischen Liebe, das so zentral die Frau in den Mittelpunkt rückt, nicht schon früher die Chance ergriffen wurde, die Stimme derjenigen zu hören, über die allein in Südfrankreich in über zweitausend Liedern gesungen und räsoniert wurde? Warum freiwillig verzichten auf eine Art erkenntnistheoretisches Upgrade mit Hilfe von ideologischem Downsizing? Denn die Texte der Trobairitz können gelesen werden als Regulativ, um Kunstfertigkeit, aber auch Konstruktionscharakter der ›fin’amor‹ zu zeigen: »Betrachtet sich die mittelalterliche Frau im Spiegel von Literatur und Kunst, dann begegnet sie dort meist einem Zerrbild von Weiblichkeit, was eine Folge der überwiegenden ›Sprachlosigkeit‹ des eigenen Geschlechts war,« beobachtet Margarete Zimmermann in Salon der Autorinnen. Französische dames de lettres vom Mittelalter bis zum 17. 26 Vgl. das Kapitel »Kräftig geschnittene Bilder: Musikalische Rekonstruktion auf dem Papier«, in »Mittelalterbilder zum Sehen: Ausgaben und Konzepte«, in: Annette Kreutziger-Herr: Ein Traum vom Mittelalter. Die Wiederentdeckung mittelalterlicher Musik in der Neuzeit. Köln u.a. 2003, 183–196. 27 Vgl. hierzu Stefan Hirschauer: »Wie sind Frauen, wie sind Männer? Zweigeschlechtlichkeit als Wissenssystem«. In: Christiane Eifert u.a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im historischen Wandel. Frankfurt a.M. 1996, 240–256.
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Jahrhundert.28 Die Trobairitz gehören schließlich zu jener kleinen Gruppe von »dames de lettres«, die dieser Sprachlosigkeit überaus eloquent etwas entgegensetzten. Ihr historiographisches Verschweigen, womöglich nur mit einem quantitativen Argument, offenbart Historiographie als kombinatorisches Spiel, das dem höfischen Regelwerk der ›fin’amor‹ in nichts nachsteht. Denn das Marginalisieren dichterischer und musikalischer Aktivität von Frauen beraubt sowohl die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung als auch das geschichtsinteressierte Publikum eines unersetzlichen Korrektivs männlicher Weltsicht: Den weiblichen Blickwinkel.
28 Margarete Zimmermann: Salon der Autorinnen. Französische dames de lettres vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert. Berlin 2005, 33.
7. Kulturförderinnen in der Frühen Neuzeit Susanne Rode-Breymann: »Allein ihr angenehmster zeit vertreib ist die music«. Musenhöfe: Zentren der Künste, Orte der Bildung (2003) Einleitung »Man stelle sich […] folgendes Gedankenexperiment vor – nämlich: uns stände ein Lexikon zur Verfügung, in dem alle Kompositionen, die uns lieb und teuer sind, nicht unter den Komponistennamen verzeichnet wären, sondern unter dem Namen des Mäzens oder eben dem der Mäzenin, denen sie ihre Entstehung verdanken oder an deren Hof sie erstmals aufgeführt wurden.« (Rode-Breymann 2003, 324)
Was wäre das Besondere an einem solchen Lexikon, auf das Susanne RodeBreymann in ihrem Aufsatz hofft? Ein Lexikon, das Kompositionen nach ihren finanziellen Förderinnen und Förderern präsentierte, wäre nicht weniger als das Ergebnis eines grundlegenden musikwissenschaftlichen Paradigmenwechsels. Denn seit ihrer Etablierung im 19. Jahrhundert ist das Interesse der Musikwissenschaft auf das musikalische Werk selbst, den Komponisten (später auch die Komponistin) oder eine Institution, die zur Entstehung desselben beigetragen hat, gerichtet. Wenn dagegen Kulturförderinnen und -förderer im Zentrum ständen, ergäbe sich eine andere, neue Musikgeschichte. Wie Eva Rieger festgestellt hat, ist es aussichtslos, Fragestellungen einer männlich orientierten Musikwissenschaft auf Komponistinnen zu übertragen.1 Gleichzeitig haben Rieger u.a. die Tür zu der Erkenntnis geöffnet, dass es eine starke Teilhabe von Frauen am Musikleben gab und gibt, die allerdings lange aufgrund gängiger wissenschaftlicher Paradigmen als nicht geschichtswürdig gegolten hat. Rieger hat beispielsweise gezeigt, dass die Bedeutung, die Pädagoginnen in der Musikausbildung von herausragenden Künstlern haben, in den gewohnten Darstellungen nicht vermittelt wird: Wie wichtig Lehrerinnen und Lehrer für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder für die Karriere von herausragenden Künstlerinnen und Künstlern sind, stellt vermutlich kein Musiker wirklich in Frage. Wissenschaftlich wurde die Tätigkeit des Unterrichtens dagegen kaum beachtet und damit wertvolle Informationen über Netzwerke, Schulen und Stile außer Acht gelassen. Mit ihrem Aufsatz über die Musenhöfe der Herzogin Sophie Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel (1613–1676) und der Markgräfin Wilhelmine 1 Mehr dazu siehe Kap. 1 im vorliegenden Band.
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von Bayreuth (1709–1758) betritt Susanne Rode-Breymann ein anderes lange Zeit historiografisch unterbelichtetes Feld der Musikförderung und weitet die Frage aus. Rode-Breymann entwirft darin das wissenschaftliche Projekt einer Musikgeschichte als »Geschichte kulturellen Handelns«, das sie seitdem beständig weiterentwickelt und vertieft hat (z.B. Rode-Breymann 2007, 2). Sie untersucht, wie und auf welche Weise die beiden frühneuzeitlichen Frauen das musikalische Leben an ihren Höfen prägten. Wir erfahren, dass adlige Mädchen in der Regel eine fundierte und vielseitige Ausbildung erhielten, zu der oft auch Instrumental- und Kompositionsunterricht gehörte. Sie inszenierten ihre und die Musiktheaterstücke anderer in den Hoftheatern, leiteten die Aufführungen zuweilen selbst vom Cembalo aus oder nahmen als Tänzerinnen, Instrumentalistinnen, Sängerinnen oder Hörerinnen daran teil. Indem sie als Patroninnen oder Mäzeninnen über die Auftragsvergabe an Komponisten oder deren Anstellung am Hof entschieden, beeinflussten sie Musikerkarrieren sowie die Etablierung von Gattungen an den verschiedenen Orten und trugen damit zum Kulturtransfer bei (Rode-Breymann 2010, 79–91). Rode-Breymann leistet mit ihren Arbeiten Beiträge zur sogenannten Residenzforschung, die sich von der Absolutismusforschung distanziert (ebd., 4). Methodisch verbindet Rode-Breymann Ansätze aus Musikwissenschaft, Sozialgeschichte und Raumsoziologie, so dass im Zentrum an erster Stelle der Raum steht, in dem die Frauen agierten. »Kulturelles Handeln ist an konkrete Orte gebunden« (Rode-Breymann 2003, 325), die es zu erforschen gilt. In drei Kongressen hat Rode-Breymann die Bandbreite des Konzepts des »(musik-) kulturellen Handelns im Raum« aufgefächert und dazu Tagungsberichte veröffentlicht (Rode-Breymann 2007, dies. 2009). Die versammelten Aufsätze begehen u.a. Klöster, Straßen, Bürgerhäuser, Erziehungsanstalten, Bordelle und Residenzen und zeigen die Vielfalt der darin erklingenden Musik. Sämtliche Tätigkeiten, die in irgendeiner Weise zur Entstehung und Verbreitung von Musik führen, werden durch den Ansatz des kulturellen Handelns relevant. Es zeigt sich damit die große produktive Teilhabe von Frauen am Musikleben, die bislang im Verborgenen gelegen hat. Ein weiterer Schlüsseltext von Rode-Breymann hierzu ist ihr Aufsatz über Musikdruckerinnen der Frühen Neuzeit: Als Ehefrauen führten Druckerinnen häufig die finanziellen Geschäfte von Druckereien, während die Männer den handwerklichen Part übernahmen, als Witwen übernahmen sie Betriebe vollständig und entschieden nach ökonomischen Gesichtspunkten über die Wahl und Auflage zu druckender Noten. Damit beeinflussten diese Frauen die Verbreitung und Tradierung von Musikstücken in erheblichem Maß (Rode-Breymann 2007, 269–284; Koldau 2005, 523–547, 974–985). Der veränderten Fragestellung entsprechend hat sich auch das Quellenkorpus, auf das Forscherinnen und Forscher zurückgreifen, geändert: Als Quellen
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werden nicht mehr allein Kompositionen heransgezogen, sondern auch Tagebücher, Briefe, Chroniken, Andachtsbücher, Leichenpredigten, Erziehungsbücher, Fürstenspiegel, Nachrufe etc., Zeugnisse des alltäglichen Lebens erweisen sich als für die Musikgeschichte aussagekräftiges Quellenmaterial. Vorgeführt hat dies auch Linda Maria Koldau mit ihrem großen Handbuch Frauen – Musik – Kultur. Sie zeigt anhand von außermusikalischen Quellen die Teilhabe von Frauen an der Musikkultur des Adels, des Klosters und des Bürgertums (Koldau 2005). Dieser musikhistorische Ansatz findet seinen Vorläufer in der Mentalitätsgeschichte, einer Forschungsrichtung, die in Frankreich mit der Gründung der Zeitschrift Annales. Economies – Sociétes – Civilisations durch Marc Bloch und Lucien Febvre 1929 ihre Anfänge fand (vgl. Kreutziger-Herr 2010, 254). Hier werden nicht, wie bislang, in erster Linie herausragende Ereignisse, ›große Männer‹ und deren politische und wirtschaftliche Entscheidungen beschrieben. Man geht vielmehr davon aus, dass sich eine vergangene Zeit mit ihren Ideen und Konzepten erst dann entschlüsseln lässt, wenn man die Sitten, Bräuche und Gepflogenheiten der entsprechenden Gesellschaft versteht. Die Mentalitätsgeschichte zieht aus Alltagserfahrungen einzelner, nach herkömmlichen Kriterien ›unbedeutender‹ Menschen Schlüsse auf eine Gesellschaft. Sie fragt nach anthropologischen Themen wie Kindheit, Tod, Prostitution, Ernährung und dem Verhältnis der Geschlechter zueinander – um nur einiges aus einem weiten Feld zu nennen. Auf diesem Konzept basiert die umfassende Geschichte der Frauen von Georges Duby und Michelles Perrot (1993–1995), während Heide Wunder für geschichtswissenschaftliche mentalitätshistorische Genderforschung aus dem deutschsprachigen Bereich steht (Wunder 1992). Für die Musikgeschichte öffnet ein solcher Zugang den Blick auf viele verschiedene Räume jenseits von Konzertsaal oder Kirche, in denen Musik gespielt wurde, weg vom gedruckten Werk auf die verschiedenen Tätigkeiten, die dazu beitrugen, dass Musik erklang und weg vom komponierenden Genius hin zu den Netzwerken und Synergien, die Musikleben gestalteten. Rode-Breymann lehrte als Professorin für Historische Musikwissenschaft an den Musikhochschulen in Köln und Hannover. Sie leitet seit 2006 das Forschungszentrum Musik und Gender in Hannover und ist seit 2010 Präsidentin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Katrin Losleben
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Textvorlage Susanne Rode-Breymann: »Allein ihr angenehmster zeit vertreib ist die music«. Musenhöfe: Zentren der Künste, Orte der Bildung. In: Matthias Kruse, Reinhard Schneider (Hg.), Musikpädagogik als Aufgabe. Festschrift zum 65. Geburtstag von Siegmund Helms. Kassel 2003 (Perspektiven zur Musikpädagogik und Musikwissenschaft 29), 321–333 [Auszug].
Weitere Veröffentlichungen von Susanne Rode-Breymann [Als Hg.:] Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt. Köln u.a. 2007 (Musik – Kultur – Gender 3). Orte und Räume kulturellen Handelns von Frauen. In: Annette Kreutziger-Herr, Katrin Losleben (Hg.), History | Herstory. Alternative Musikgeschichten. Köln u.a. 2009 (Musik – Kultur – Gender 5), 186–197. [Als Hg.:] Musikort Kloster. Kulturelles Handeln von Frauen in der Frühen Neuzeit. Köln u.a. 2009 (Musik – Kultur – Gender 6). Musiktheater eines Kaiserpaars. Wien 1677 bis 1705. Hildesheim u.a. 2010.
Weiterführende Literatur Duby, Georges, Michelle Perrot: Geschichte der Frauen. 5 Bde. Frankfurt a.M. 1994. Lizenzausgabe. Frankfurt a.M. 2006. Koldau, Linda Maria: Frauen – Musik – Kultur. Ein Handbuch zum deutschen Sprachgebiet der Frühen Neuzeit. Wien 2005. Kreutziger-Herr, Annette: Art. Mentalitätsgeschichte und Kulturelles Handeln/Musikkulturelles Handeln. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 254–255, 320–321. Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt a.M. 2001. Wunder, Heide: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992.
Ausgewählter Text I. Möglichkeiten kulturellen Handelns von Frauen vor dem Wandel des ›gender‹-Systems im 18. Jahrhundert »Gender mainstreaming« – dieser gesellschaftspolitische Begriff, für den die EU im Mai 1999 im Amsterdamer Vertrag die rechtliche Grundlage geschaffen hat, rückt ins Bewusstsein, daß es Geschlechtsneutralität nicht gibt und in allen Belangen auf Grundlage dieser Einsicht zu handeln ist. Gesellschaftliches Handeln ohne Genderkompetenz ist damit nicht länger tolerierbar, und es müsste dementsprechend in allen Lehramtsstudiengängen zum festge-
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schriebenen Bestandteil gehören, sich mit der in vielen Gesellschaften zentralen Geschlechterdifferenzierung und dem kulturell artikulierten Geschlechtsunterschied zu beschäftigen. Denn es sind »kulturelle Mechanismen«, die »die Polarisierung der Geschlechter (...) über das biologisch Gebotene« hinaustreiben, und das bedeutet zugleich, daß man von der gesellschaftlichen »Variabilität (und historische[n] Veränderbarkeit)«2 von ›gender‹-Systemen ausgehen muß und nicht von einer Universalitätsannahme ausgehen darf, die sich dann noch mit der Rede verknüpft, bestimmte Status-, Prestige- und Rollendifferenzierungen zwischen den Geschlechtern seien seit alters her so gewesen. Eine Veränderung des Denkens einer Gesellschaft zieht immer eine Veränderung der Fragestellungen, Interessen und Wichtigkeiten in den verschiedenen Professionen und Disziplinen nach sich, und dieser Prozess ist im Hinblick auf den Aspekt ›gender‹ selbst in einem immer noch sehr männerdominierten Fach wie der Musikwissenschaft durchaus sichtbar: Hätte man vor etwa 35 Jahren nach der Bedeutung von Frauen in der Musikgeschichte gefragt, wäre man mit einigem Unverständnis angeblickt worden. Klar: Man wußte um Clara Schumann, schließlich war sie die Frau von Robert Schumann. Insgesamt jedoch war man davon überzeugt, daß Frauen kaum eine erwähnenswerte Rolle für die Musikgeschichte gespielt hatten. Sie kamen in der tradierten Musikgeschichte in der Regel nicht vor: ihre kulturellen Leistungen blieben unsichtbar. Die Wissenschaften hatten an dieser Ausschließung der Frauen durchaus ihren Anteil, indem in einer Geschichte »berühmter« Männer und Frauen kulturelle Leistungen von Frauen marginalisiert wurden. Unter einem Kulturbegriff, der ausschließlich Spitzenleistungen und -produkte und nicht den gesamten Bereich täglicher Kultur in den Blick nahm, geriet das kulturelle Handeln von Frauen zugunsten genialer Meisterwerke einiger Männer in vollkommene Vergessenheit. Sucht man nach Ursachen dessen, stößt man (auf den ersten Blick sehr unerwartet) auf einen Wendepunkt im 18. Jahrhundert, denn die Gleichsetzung des Mannes und des Menschen, die Prestigedifferenzierung zugunsten der Männer, die die männliche Dominanz im öffentlichen Bereich und als Kehrseite den Ausschluß von Frauen aus diesem Bereich mit sich brachte, wurde ausgerechnet von der Aufklärung vorangetrieben: Jean-Jacques Rousseau entfaltete 1762 in Emile oder Über die Erziehung ein Bild völlig verschiedener Eigenschaften beider Geschlechter: »Eine vollkommene Frau und ein vollkommener Mann«, so seine Überzeugung, dürften »sich im Geist ebenso 2 Hartmann Tyrell: »Überlegungen zur Universalität geschlechtlicher Differenzierung«. In: Jochen Martin, Renate Zoepffel (Hg.), Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann. 1. Teilband. Freiburg, München 1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Antropologie 5/1), 39.
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wenig gleichen wie im Antlitz«; zwar trage in »der Vereinigung der Geschlechter (...) jedes zum gemeinsamen Ziel bei, aber nicht auf gleiche Weise. Aus dieser Verschiedenheit« entstehe der »Unterschied in ihren gegenseitigen geistigen Beziehungen. Das eine muss aktiv und stark, das andere passiv und schwach sein.«3 Nach langen Ausführungen, in denen Rousseau aus der Verschiedenheit der Geschlechter auch die Trennung der privaten (weiblichen) und der öffentlichen (männlichen) Sphäre ableitet, kommt er auch auf das geeignete Instrument zur Etablierung dieser Konzeption der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft zu sprechen: »Ist es einmal bewiesen, daß Mann und Frau nicht gleichartig sind noch sein dürfen, weder von Charakter noch von Anlagen, so folgt daraus, daß sie nicht die gleiche Erziehung genießen dürfen.«4 Sieht man genauer hin, bezogen sich die von der Französischen Revolution verkündeten Menschen- und Bürgerrechte eigentlich nur auf die Männer, und gleichzeitig wurde ein neuer bürgerlicher Frauentyp modelliert: Die natürliche, empfindsame und häusliche Frau bildete das Komplementärmodell zum denkenden, urteilenden, handelnden und schöpfenden Mann. Vor dieser Veränderung des ›gender‹-Systems im 18. Jahrhundert waren die Verhältnisse durchaus anders gewichtet: Zwar basierte auch das anthropologische Konzept der Renaissance auf der Gleichsetzung von Mensch = Mann, im 15. und 16. Jahrhundert wurde jedoch die Frage nach der Vernunftfähigkeit der Frau aufgeworfen und umfassend diskutiert, inwieweit Bildung von Frauen wünschenswert sei. Der Idee einer gleichberechtigten Ausbildung beider Geschlechter öffneten sich vor allem die humanistisch orientierten Fürstenhäuser. Die Gonzagas etwa ließen ihre Söhne und Töchter gemeinsam von den talentiertesten humanistischen Pädagogen erziehen. Zur Kodifizierung und Verbreitung dieses Werte- und ›gender‹-Systems trug Baldassare Castigliones 1528 gedrucktes Il Libro del Cortegiano in erheblichem Maße bei. Castiglione beschreibt, welches Auftreten im Gehen, Gestikulieren und Tanzen und welche Kenntnisse über Literatur, Musik und Malerei eine bei Hofe lebende Dame haben sollte. Er greift mit seinen Ausführungen die damals »aktuelle Debatte über Wert, Gleichheit oder Würde der Frau im Vergleich zum Mann« auf, gibt Beispiele weiblicher Leistungen aus der Antike und seiner Gegenwart und sieht es als zentrale Fähigkeit von Frauen an, daß sie »Männer zu ritterlichen Taten« bewegen und dem
3 Jean-Jacques Rousseau: »Emile oder Über die Erziehung«. In: Sabine Doyé, Marion Heinz, Friederike Kuster (Hg.), Philosophische Geschlechtertheorien. Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart 2002, 166. 4 Ebd., 175.
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Hof »Anmut und Glanz«5 verleihen. Musik und Tanz taugten besonders dazu und zählten neben Malerei und Literatur zu den 13 Eigenschaften, die Castiglione der Hofdame anempfahl. Die Diskussionen über die Vernunft- und Bildungsfähigkeit der Frau wurde nicht nur durch Castigliones Brevier gefordert, sondern sie wurde – als Nebeneffekt von Fürstenheiraten – von Frauen, die aus einem kulturellen Umfeld kamen, in dem humanistisch gebildeten Frauen Wertschätzung entgegengebracht wurde und in dem man von Frauen erwartete, daß sie ihre Bildung öffentlich einbrachten, in Europa verbreitet.6 Logischerweise versuchten so sozialisierte Frauen, ihre kulturellen Gewohnheiten auch in ihrem jeweils neuen kulturellen Umfeld zu etablieren. Diese Ausführungen lenken den Blick auf ein breites Spektrum kulturellen Handelns von Frauen: Musikgeschichte ist mehr als nur die Geschichte von Komponiertem, auf die sich das Interesse der Musikgeschichtsschreibung lange richtete. Vornehmlich ging es um die Beschaffenheit von Musik als Tonkunst, um »Meisterwerke«, und die Individualität ihrer (genialen) Schöpfer, während die Bedingungen von Produktion, Verbreitung und Aneignung von Musik für weniger wichtig erachtet wurden. Gerade aber auf diesen Gebieten – und dies gilt insbesondere für die Höfe – haben Frauen immer kulturell gehandelt: Musikgeschichte wird nicht nur von denen produziert, die Werke komponieren (und nur auf diesem Gebiet waren die Frauen in der Minderzahl), sondern auch von denen, die Werke aufführen (auf diesem Gebiet fanden Frauen als Sängerinnen und Instrumentalistinnen auch in früheren Jahrhunderten größte Anerkennung), die Werke hören (auf diesem Gebiet waren die Frauen nie in der Minderzahl) und die durch Mäzenatentum ein kulturförderndes Umfeld schaffen. Auf dem Gebiet der Mäzenatinnen und Förderinnen gibt es zahlreiche verstreute Zeugnisse kulturellen Handelns von Frauen. Man stelle sich dazu folgendes Gedankenexperiment vor – nämlich: uns stände ein Lexikon zur Verfügung, in dem alle Kompositionen, die uns lieb und teuer sind, nicht unter den Komponistennamen verzeichnet wären, sondern unter dem Namen des Mäzens oder eben dem der Mäzenin, denen sie ihre Entstehung verdanken oder an deren Hof sie erstmals aufgeführt wurden. Plötzlich hätten wir ein vielfarbiges Bild kultureller Prägung durch Frauen und einen ganz neuen 5 Peter Burke: Die Geschicke des »Hofmann«. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten. Berlin 1996, 40. 6 Vgl. dazu Susanne Rode-Breymann: »Die beiden Kaiserinnen Eleonora oder: Über den Import der italienischen Oper an den Habsburger Hof im 17. Jahrhundert«. In: Norbert Bolin, Christoph von Blumröder, Imke Misch (Hg.), Aspetti musicali. Musikhistorische Dimensionen Italiens 1600 bis 2000. Festschrift für Dietrich Kämper zum 65. Geburtstag. Köln 2001, 197–204.
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Zugang und Bedeutungsmaßstab zu einem Aspekt, welcher sich bislang nur skizzenhaft zwischen wenigen Glanzpunkten abzeichnet: Wir wissen um Isabella d’Estes Mäzenatentum am Mantuaner Hof im 16. Jahrhundert, um Elisabetta Gonzagas in die gleiche Zeit fallende Kunstförderung, die den Hof von Urbino zu einem bedeutenden kulturellen Zentrum Italiens machte, oder um Margarete von Österreich, die Pierre de la Rue an ihren Hof zog und Josquin Desprez, von dessen Werken sich einige in ihren Musikbüchern finden, überaus schätzte. Wir haben Einblick in das Mäzenatentum von Maria von Medici, dessen wichtigste Phase in die zwanziger Jahre des 17. Jahrhunderts fällt. Wir kennen die Musenhöfe des 18. Jahrhunderts von Sophie Charlotte in Berlin oder Wilhelmine in Bayreuth oder von Anna Amalia in Weimar. Das sind jedoch nur die Spitzen des Eisberges: Hier sind noch diverse Schätze zu heben, und man wird dabei verblüfft darauf stoßen, daß manches biographische Faktum in Komponistenbiographien ganz allein aus den Biographien ihrer Mäzeninnen resultiert. Daß z.B. Giovanni Bononcini (dem im Wintersemester 2002/03 ein großes Projekt der Kölner Musikhochschule gewidmet war)7 Italien verließ und an den Wiener Hof ging, hatte seinen Grund lediglich darin, daß Lorenza Colonna starb, seine Gönnerin und Gattin von Filippo Colonna, in dessen Diensten Bononcini in Rom gestanden hatte. Viel Kleinarbeit steht hier noch aus, um z.B. die Vielzahl von Hofkapellen, die in Diensten von Frauen standen, einer Neubewertung zu unterziehen. Möglicherweise waren, diese These sei gewagt, gerade die Hofkapellen der verwitweten Fürstinnen, die nicht mehr ganz so strikt dem höfischen Zeremoniell und den höfischen Repräsentationspflichten unterworfen waren, ein Nährboden kultureller, ja selbst kompositorischer Innovation. Selbst im Hinblick auf die immerhin sichtbare Spitze des Eisberges weiblichen Mäzenatentums ist manche Frage offen, und insbesondere ist auffällig, daß in eigentlich allen Fällen das Bild der Kunstförderung sowie der Bau- und Sammeltätigkeit dieser Mäzeninnen deutlicher ist als das ihrer Musikförderung. Schloß Charlottenburg etwa, das Sophie Charlotte erbauen ließ, können wir mit einem Blick sehen und würdigen, was aber an Musik an all diesen Höfen erklang, müssen wir zunächst rekonstruieren und dann zu Gehör bringen – und erst 7 Unter Leitung von Konrad Junghänel wurde am 16. und 17. Dezember 2002 Giovanni Bononcinis Festa per musica Il ritorno di Giulio Cesare nach 298 Jahren erstmals wieder aufgeführt. Studierende der Schulmusik und des von Siegmund Helms an der Kölner Musikhochschule ins Leben gerufenen Promotionsstudiengangs schrieben das Programmheft, und es fand am 17. und 18. Dezember 2002 ein interdisziplinäres Symposium zum Thema »Kultureller Austausch – Kulturelle Identität. Oper am Habsburger Kaiserhof zwischen Funktionalität und Theatralität« statt.
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nach einem für viele Stunden geöffneten Ohr wird eine Ahnung des musikalischen Reichtums dieser von Frauen kulturell geprägten Höfe sich abzuzeichnen beginnen. II. Der Musenhof Kulturelles Handeln ist an konkrete Orte gebunden. Um einen solchen Ort soll es im Folgenden genauer gehen – nämlich den Musenhof. Höfe, vor allem, wenn an ihnen humanistische Traditionen weiterwirkten, boten vielfach ein Milieu, in dem Frauen ein Bildungszugang und bei entsprechender Ausrichtung des Hofes eine Entfaltung ihrer musikalischen Begabung ermöglicht wurde. Was den Bildungszugang angeht, hatte man, wie die Fürstenspiegel und fürstlichen Erziehungsinstruktionen der Frühen Neuzeit8 zeigen, bei der höfischen Erziehung zwar vor allem die Söhne im Blick, so daß sich weit weniger spezielle Erziehungspläne für die Töchter finden, aber abgesehen davon lernten die Töchter einfach immer wieder bei ihren Brüdern mit. Sicherlich boten auch die Höfe vor dem Wendepunkt des ›gender‹-Systems im 18. Jahrhundert nicht unbedingt paradiesische Zustände für die Professionalisierung von Frauen, aber im Lebensraum Hof waren die Bedingungen für Frauen, Bildung zu erlangen, vergleichsweise günstig. So verwundert es nicht, unter den Komponistinnen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts eine Reihe fürstlicher Komponistinnen wie die Herzogin Sophie Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel, die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, die Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar oder die Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis von Sachsen zu finden. Grundvoraussetzung kultureller Leistungen ist immer der Zugang zu einer entsprechenden Ausbildung, was für Frauen bis ins 20. Jahrhundert hinein keine Selbstverständlichkeit war. D.h. Komponistinnen wie auch Malerinnen blieben lange Zeit, eben auch deswegen von künstlerischen Berufen ausgeschlossen, weil man ihnen den Zugang zu den Bildungsinstitutionen versagte. So mussten Ersatzwege gesucht werden, und einen finden wir im 17. Jahrhundert wiederholt: Väter führten ihre Töchter, meist in jungen Jahren, in das Metier ein und wurden deren Mentoren, wie das Beispiel der Musikerfamilie der Caccinis zeigt. Giulio Caccini bildete seine beiden Töchter, Francesca und Settimia, als Berufsmusikerinnen aus, gab ihnen Kompositions- und Gesangsunterricht, wobei letzterer durch Mutter und später Stiefmutter, die beide ebenfalls Sängerinnen waren, flankiert wurde. Auch Elisabeth-Claude Jacquet 8 Vgl. dazu Rita Multer: Pädagogische Perspektiven in deutschen Fürstenspiegeln und Erziehungsinstruktionen von Fürstinnen und für Fürstinnen in der Frühen Neuzeit. Eichstätt 1998.
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de la Guerre entstammt einer Musikerfamilie, erlernte in frühem Kindesalter das Cembalospiel bei ihrem Vater, der sie mit 8 Jahren äußerst glückreich am französischen Hof vorstellte. Ludwig XIV. und dessen damalige Mätresse Madame de Montespan waren nämlich vollständig begeistert von ihrem Cembalospiel und behielten sie für einige Jahre am Hof, was ihre Weiterentwicklung sehr beförderte. Zweiter Aspekt des frauenförderlichen Klimas an Höfen ist der Rang von Kultur im Spektrum der repräsentativen Aktivitäten, durch die Höfe sich profilierten. Natürlich waren die absolutistischen europäischen Höfe zunächst Orte von Macht und Herrschaft. Auf der anderen Seite waren sie aber auch kulturelle Zentren, so daß ein »kulturell interessierter Herrscher« um 1700 »keine Ausnahme« war, sondern es zu den »Grundkonstante(n) im Verhalten des Herrschers« gehörte, Kunst zu fördern und »Geld für Kunst auszugeben.«9 In vieler Hinsicht diente dabei der Hof Ludwigs XIV. als Vorbild. Versailles stand Modell für viele Schloßbauten in Europa, und auch im Hinblick auf die Indienstnahme von Kunst und Musik zur Darstellung politischer Macht boten die französischen Verhältnisse Orientierung. In Anlehnung daran gab es kaum einen Hof, der »ohne Musen, ohne Kulturförderung und Kulturpolitik«10 auskam, und es stand hoch im Kurs, der Philosophie, Musik, Dichtung und den bildenden Künsten bei Hofe große Aufmerksamkeit zu schenken und sich als gelehrter Musenhof zu präsentieren. Natürlich standen auch Männer im Zentrum solcher gelehrten Musenhöfe, vielfach wurden diese Höfe jedoch von gebildeten Fürstinnen geführt. Volker Bauer beschreibt in seiner Idealtypologie deutscher Höfe im 17. und 18. Jahrhundert den Musenhof als einen Ort, an dem den Künsten und der Gelehrsamkeit reiche Entfaltungsmöglichkeit gegeben wurde, wobei die oft mit großem finanziellen Aufwand betriebene Kunstpolitik zumeist der Kompensation fehlender politischer Macht gedient habe: »Die Kompensationsfunktion, die (...) den Musenhöfen (...) zukam«, so Bauer, »tritt noch deutlicher hervor, wenn man sich klarmacht, daß viele Beispiele für diesen Idealtyp von den ›Nebenhöfen‹ gebildet wurden, die sich um die Gattinnen, Witwen oder zweitgeborenen Prinzen fürstlicher Häuser gruppierten. Der Anstoß zur Entwicklung Weimars zum Musenhof par excellence 9 Thomas DaCosta Kaufmann: »Das Theater der Pracht Charlottenburg und die europäische Hofkultur um 1700«. In: Sophie Charlotte und ihr Schloß. Ein Musenhof des Barock in Brandenburg-Preußen. Katalogbuch zur Ausstellung in Schloß Charlottenburg, Berlin 6. November 1999 bis 30. Januar 2000. München u.a. 1999, 43–56, hier 54. 10 Peter Fuchs: »Der Musenhof. Geistesleben und Kultur in den Residenzen der Neuzeit«. In: Kurt Andermann (Hg.), Residenzen: Aspekte hauptstädtischer Zentralität von der frühen Neuzeit bis zum Ende der Monarchie. Sigmaringen 1992 (Oberrheinische Studien 10), 127–158, hier 130.
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etwa ging vom Hof der herzoglichen Witwe Anna Amalie aus.«11 Solche Musenhöfe boten Frauen, besonders »als Herrscherin eigenen Rechts, als Regentin für einen unmündigen Sohn, als Ehefrau eines schwachen, zum Herrscher wenig geeigneten Mannes«,12 einen elitären Freiraum zu kulturellem Handeln und zur Entfaltung künstlerischer Begabung. III. Sophie Charlotte von Preußen Anders als die Beschäftigung mit einzelnen Meisterwerken genialer Komponisten und mit dann doch immer weniger bekannten Werken von Komponistinnen bietet das Interesse für die Kulturgeschichte eines konkreten Ortes, in diesem Fall des Lietzenburger Musenhofs von Sophie Charlotte (1668–1705), Gemahlin Friedrichs I. von Preußen, die Möglichkeit, verlorene, nicht mehr bewusste und eben über Frauen hergestellte Bezüge zu erkennen, die hinter scheinbar fernliegenden Phänomenen historisch bestanden haben. So fiele kaum jemandem beim Namen Arcangelo Corelli der Lietzenburger Hof ein. Corelli widmete Sophie Charlotte jedoch am 1. Januar 1700 seine 12 Sonaten für Violine und B.c., und sie war als Cembalospielerin, die mehrere kostbare Cembali wie auch ein Reisecembalo besaß, in der Lage, diese Sonaten mit einem Geiger zu spielen. Wir erfahren darüber aus einem Brief vom 28. Januar 1705, den der italienische Violinvirtuose Nicola Cosimi von seinem am Lietzenburger Hof weilenden Schüler Anthony Cope erhielt: »(...) Der Karneval hat begonnen und man ergötzt sich sehr. Die Königin in Preußen, welche äußerst gut Cembalo spielt, macht mir manchmal die Ehre, mir eine Sonata zu begleiten, was wahrhaftig meine größte Lust ist.«13 Sophie Charlottes musikalische Fähigkeiten fanden viele Bewunderer, wobei die Lobrede des Poeten Benjamin Neukirch aufgrund der Funktion als Nachruf auf Sophie Carlotte sicher mit Bedacht gelesen werden muss: Wer die Fertigkeit Ihrer Glieder sahe/der meinte/daß er etwas Unvergleichliches sähe: wer aber unsre Königin singen und spielen hörte/der hielt Sie für etwas Göttliches. Rick/Attilo/Bonocino/welche nicht allein unter sich selbst/sondern auch mit allen Meistern in der Welt um den Vorzug stritten/stunden offt gantz verstöhret/wenn Sie (...) in unsrer Heldin das alles fanden/warum sie miteinander geeifert hatten. Denn was 11 Volker Bauer: Die höfische Gesellschaft in Deutschland von der Mitte des 17. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Versuch einer Typologie. Tübingen 1993, 75f. 12 Fuchs: »Der Musenhof« (wie Anm. 10), 138. 13 Rashid Sascha Pegah: »›Hir ist nichts als operen und commedien‹. Sophie Charlottes Musikund Theaterpflege in den Jahren 1699 bis 1705«. In: Sophie Charlotte und ihr Schloß (wie Anm. 9), 83–89, hier 84.
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ein jeder nur schönes wuste/was er nur schönes erdencken konnte/das hatte Sie entweder ihm abgelernet/oder durch eigene Erfindung zuvor getahn.14
Sophie Charlotte heiratete 16jährig 1684 den brandenburgischen Kurprinzen Friedrich III. In den ersten zehn Ehejahren – das ist ein spannendes methodisches Phänomen von Frauenforschung – ist sie nur schwer faßbar, und erst mit Beginn der Bauarbeiten an ihrem eigenen Schloß 1695 werden ihre Eigenständigkeit und ihr Profil sichtbar. Sie machte Schloß Lietzenburg, nach ihrem Tod umbenannt in Schloß Charlottenburg, zu einem schöngeistigen Musenhof par excellence, an dem sie offenbar ein »weitgehend selbstbestimmtes Leben«15 führte und sich »neben dem Herrscher zeremonialen Raum«16 erwarb. »Mit seiner zwanglosen, gleichwohl auf die zentrale Figur der Herrschergemahlin ausgerichteten und ihrem Ruhm dienenden Geselligkeit«, so schreibt Christine van Heuvel, »wurde Schloß Lietzenburg zu einem Anziehungspunkt für eine Vielzahl von Künstlern, Literaten, Philosophen und Wissenschaftlern, unter ihnen Gottfried Wilhelm Leibniz, der mit Zuspruch und Förderung Sophie Charlottes im Jahre 1700 den Kurfürsten dazu bewegen konnte, die Berliner Akademie der Wissenschaften zu gründen.«17 Nicht nur im Hinblick auf Leibniz zeigte Sophie Charlotte Neigungen, die sie lebenslang mit ihrer Mutter verbanden: Diese, Sophie von Hannover, die grande dame der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, war politisch überaus wach. Höchst agil lenkte sie die Geschicke ihres Hauses. Mutter und Tochter interessierten sich für »Gartenkultur und Ahnenkult, Musik und Chinamode«, beide pflegten sie intellektuellen »Umgang mit Gelehrten«,18 beide waren befreundet mit Leibniz, beide »waren bereit, die grundsätzlichen Spielregeln« ihrer unter rein dynastischen Gesichtspunkten geschlossenen Ehen »zu akzeptieren« und dennoch ihre »Freiräume und materiellen Möglichkeiten (...) für die aktive Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelt, insbesondere auf kulturellem Gebiet«19 zu nutzen. Zwar waren sie »an politischen Entscheidungen (...) in der Regel nicht beteiligt«, dennoch konkurrierten sie »standesbewußt (...) als Repräsentantinnen ihrer Häuser innerhalb der deutschen und europäischen 14 Benjamin Neukirch zitiert nach Pegah, ebd., 89. 15 Sophie Charlotte und ihr Schloß (wie Anm. 9), Katalogteil, 206. 16 Peter Michael Hahn: »Hofkultur und Hohe Politik. Sophie Charlotte von BraunschweigLüneburg, die erste Königin von Preußen aus dem Hause Hannover«. In: Sophie Charlotte und ihr Schloß (wie Anm. 9), 31–42, hier 37. 17 Christine van den Heuvel: »Sophie von der Pfalz (1630–1714) und ihre Tochter Sophie Charlotte (1688–1705)«. In: Kerstin Merkel, Heide Wunder (Hg.), Deutsche Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen. Darmstadt 2000, 77–92, hier 86. 18 Hahn: »Hofkultur« (wie Anm. 16), 36. 19 Van den Heuvel: »Sophie von der Pfalz« (wie Anm. 17), 85.
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Staatenwelt wie ihre Männer um Machtzuwachs, Ruhm und Anerkennung, zu deren Erreichung Mäzenatentum und kulturelle Selbstdarstellung«20 höchst taugliche Mittel waren. Wie man sich das kulturelle Leben am Lietzenburger Hof vorzustellen hat, erhellt schlaglichtartig ein brieflicher Bericht, den die Mutter von dort gab: Ihre Tochter kehre »sich an nichts, was bey hoff geschieht«, so daß Lietzenburg wie »ein irdisch paradies« sei: »dan man lebt hir sans facon. Die dames und cavalirs spillen comedi undt die musicanten machen operas; die beste pfarrer von der welt predigen.« Einem dieser Pfarrer, dem irischen Freidenker und Bibelkritiker John Toland, der 1702 in Lietzenburg weilte, verdanken wir einen weiteren Bericht über die musikalischen Fähigkeiten Sophie Charlottes, dem das Motto dieses Beitrags entstammt: Allein ihr angenehmster zeit vertreib ist die music/und wer Sie in eben so hohen graden lieben will/muß sie auch so wohl versten/als Ihr(e) Maj. welches nichts leichtes ist. Sie spielet vollkommen auff dem cymball/welches sie alle tage thut; Sie singet auch wohl/und der berühmte Bononcini/einer von denen grössesten heutigen meistern/sagte mir/daß Ihre compositiones und verfertigte musicalische stücke überauß accurat gesetzt wären.21
Bononcini, auch Neukirch hatte ihn in seinem Nachruf auf Sophie Charlotte erwähnt, war neben Attilio Ariosti und Agostino Steffani ein weiterer Italiener, der einige Zeit das theatrale Leben am Lietzenburger Hof bestimmte. Für die Opernaufführungen in ihrem im Juni 1700 eröffneten »Teatro di Lietzenbourg«, die Sophie Charlotte gelegentlich vom Cembalo aus leitete, engagierte sie nämlich immer wieder angesehene italienische Komponisten. Am längsten (von 1697 bis Herbst 1703) weilte Ariosti in Lietzenburg. Der Herzog von Mantua hatte Sophie Charlotte den Sänger, Instrumentalisten und Komponisten zur Verfügung gestellt. Er schrieb in Berlin Arien, Kantaten, einige musiktheatralische Werke sowie eine Sammlung »concerti da camera« und avancierte zum Vertrauten Sophie Charlottes, der sie 1702 beispielsweise zum Karneval nach Hannover begleiten durfte. Giovanni Bononcini, Sophie Charlotte nannte ihn kurz vor Ende seines Aufenthaltes am Lietzenburger Hof »le grand Bononcini«, wurde 1702 vom Wiener Hof ausgeliehen, als dort aufgrund der politischen Situation die Zahl der Kompositionsanlässe etwas zurückging, so daß man Bononcini entbehren konnte. Auch er komponierte einige Bühnenwerke für Berlin: In der Serenata Filli, Clori, Damon e Minerua sangen Maria Regina Schoonjans, die Frau des gleichzeitig mit Bononcini 20 Ebd., 92. 21 Johan Toland zit. nach Pegah: »›Hir ist nichts als operen und commedien‹« (wie Anm. 13), 84.
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nach Berlin gekommenen Malers, und Paulina Friedlin die beiden über die Unbeständigkeit der Liebe räsonierenden Schäferinnen. Der liebeskranke Schäfer Damon scheint von dem jungen Altkastrat Antonio Tosi gesungen worden zu sein. Minerva schließlich, die die Gedanken an die schmerzenden Pfeile Amors zugunsten der (keuschen) Tugend vertrieb, wurde von der verwitweten Herzogin Elisabeth Sophie von Kurland gesungen. Es war gängige Praxis, daß Mitglieder der Hofgesellschaft bei solchen Aufführungen sangen, schauspielerten und musizierten. Selbst Sophie Charlottes Sohn Friedrich Wilhelm, dem bereits im Kindesalter nichts fremder war als das höfische Divertissment, mußte sich – gleichsam als Erziehungsmaßnahme – dem Willen seiner Mutter beugen und als Cupido verkleidet seinen Beitrag zur Unterhaltung leisten.22
Die theatralische Hofkultur, im Zuge derer die Adligen mit ihren Hofdamen auch immer wieder tanzend auftraten, wurde also häufig selbst produziert. In einem Verkleidungsdivertissement mit Zigeunerinnenballett vom 12. Juli 1700 etwa agierte Sophie als Quacksalberin und überredete den holländischen Minister Jacob van Obdam, mit einem Lied aufzutreten. Auch die Einstudierung und Choreographie von kleinen Theaterstücken und Balletten übernahmen häufig die Fürstinnen selbst.23 Sophie Charlottes Vertraute, Henriette Charlotte von Pöllnitz, mußte z.B. Komödien verfassen und zur Aufführung bringen. In einem componimento drammatico bringt sie Szenen am kaiserlichen Hof in Peking auf die Bühne und läßt sogar den Kaiser von China auftreten, was der der Chinamode anhangenden24 Sophie Charlotte sicher sehr gefallen haben wird. IV. Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth Nicht nur die Chinavorliebe verband Sophie Charlotte und die Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth (1709–1758). Vielmehr sind sich die Musenhöfe beider insgesamt sehr ähnlich: Wilhelmine kam als 22jährige in das provinzielle Bayreuth, das sie, so ihre ernüchterte Beschreibung, äußerst verwahrlost vorfand. Erst mit dem Regierungsantritt ihres Gatten 1735 änderte sich die Lage, und Wilhelmine machte sich eilig daran, aus Bayreuth ein kulturelles Zentrum zu machen. Wie Sophie Charlotte baute sie ein Schloß: Die Eremi22 Sophie Charlotte und ihr Schloß (wie Anm. 9), Katalogteil, 233. 23 Vgl. dazu Vera Jung: Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Köln u.a. 2001, besonders S. 253–255 und 290. 24 Eines ihrer Cembali, ein weißlackiertes einmaliges Cembalo von Michael Mietke, ist mit kostbaren Chinoiserien verziert.
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tage entstand nach ihren Plänen, und die Audienzräume ließ sie mit Bildprogrammen ausschmücken, die »die weibliche Herrschaft und Klugheit und somit den Anspruch auf (Mit-)Regentschaft formulierten.«25 Mit der Innenausstattung, die zu dieser Zeit meist von den Frauen geplant wurde, trafen viele Fürstinnen »Aussagen über Macht- und Herrschaftsansprüche, über politische Bündnisse und genealogische Bezüge, über künstlerische und intellektuelle Interessen«, wobei sie insbesondere »in ihren eigenen (Lust-)Schlössern (...) völlig freie Hand (hatten), das Interieur nach ihren Vorstellungen (...) zu gestalten.«26 Die von Wilhelmine für die Deckengemälde ihrer Räume gewählten Themen aus der Antike sind heute schwer deutbar, zeigen aber eine häufig von Frauen verfolgte Konzeption, indem entlegene Themen gewählt werden, um die eigene Gelehrtheit und Belesenheit unter Beweis zu stellen. Wilhelmines Bildprogramm insgesamt läßt sich als Darstellungen des Verzichts auf persönliches Glück zugunsten der Familie und des Staates interpretieren, d.h. die »Gemälde vermitteln einen auf Wilhelmine bezogenen Tugendkanon, der Opferbereitschaft, Pflichterfüllung, Verzicht auf persönliches Glück zu Gunsten der Ehre des Hauses und weiblichen Mut in den Vordergrund stellt.«27 Ganz besonders spannend ist die Ausstattung ihres Musikzimmers, in dem sie ähnlich intensiv wie Sophie Charlotte wohl auch beinahe täglich im höfischen Kreis musizierte oder kleinere Konzerte gab. Daß die Decke den leierspielenden Orpheus zeigt, ist ebenso wenig überraschend wie die detailgenauen Instrumentendarstellungen in den grün-weißen Stuckmarmorfeldern an den Wänden. Ungewöhnlich jedoch sind die, wie Wilhelmine schreibt, »Bildnisse mehrerer Schönheiten, die ich gesammelt habe«, die nicht nur Verwandte (das wäre üblich) zeigen, sondern Freundinnen und Hofdamen. Das größte, ins Auge fallende Porträt zeigt Wilhelmines Oberhofmeisterin Dorothea Luise von Wittenhorst-Sonsfeld (1681–1746), die bereits Hofdame von Sophie Charlotte in Berlin gewesen war, »nach deren Tod 1705 in den Hofstaat der Kronprinzessin Sophie Dorothea übernommen« wurde und sich seit 1721 »um die Erziehung von deren Tochter Wilhelmine« kümmerte, »der sie 1732 als Oberhofmeisterin nach Bayreuth folgte.«28 Wilhelmine schreibt in ihren Memoiren über ihre Oberhofmeisterin: Ihr Charakter (...) darf als einzig gelten, als eine Zusammenfassung von Tugenden und Gefühlen; Geist, Energie und Großmut vereinen sich bei ihr mit einem reizenden 25 Cordula Bischoff: »Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth«. In: Kerstin Merkel, Heide Wunder (Hg.), Deutsche Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen. Darmstadt 2000, 153–167, hier 159. 26 Ebd., 158. 27 Ebd., 160. 28 Ebd., 164.
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Wesen. Ihre vornehme Höflichkeit flößt Achtung und Vertrauen ein; neben all diesen Vorzügen hat sie ein sehr angenehmes Äußeres, das sich bis in ihr Alter erhielt. Sie war Hofdame meiner Großmutter, der Königin Charlotte, gewesen und vertrat dieselbe Stellung im Hause meiner Mutter (...). Sie hatte sehr glänzende Partien ausgeschlagen, da sie nie heiraten wollte. Sie war vierzig Jahre alt, als sie bei mir eintrat. Ich liebe und verehre sie wie meine Mutter; sie ist heute noch bei mir, und aller Wahrscheinlichkeit nach wird nur der Tod uns trennen.
Wie Sophie Charlotte ließ auch Wilhelmine ein Theater, das 1748 eingeweihte markgräfliche Opernhaus, bauen, auch sie etablierte ein italienisch geprägtes Opernleben, auch sie war eine glänzende Cembalistin, auch sie komponierte und war Impresaria. »Wilhelmine war nicht nur diejenige Persönlichkeit des Bayreuther Hofes, die die vielfältigen Kontakte zu den anderen Opernzentren am Laufen hielt, den Spielplan und die Aufführungen organisierte, sondern wirkte darüber hinaus auch als Librettistin und Komponistin.«29 Die Ähnlichkeit der Musenhöfe Lietzenburg und Bayreuth erlaubt, nicht länger bei weiteren äußeren Beschreibungen von Bayreuth zu verweilen, sondern abschließend einen kurzen Blick auf die Frage zu werfen, wie das ›gender‹-System auf die Opernbühne gebracht wurde. Die Vermittlung von Rollenbildern, wie sie heute unentrinnbar durch das Fernsehen perpetuiert werden, wurde zu Zeiten von Sophie Charlotte und Wilhelmine über die Oper verbreitet. Musiktheater fungierte als Medium einer Alphabetisierung der Leidenschaften und schuf einen mentalen Hintergrund auch geschlechtlicher Handlungsmuster. Dazu einige Ausführungen zu der von Wilhelmine komponierten Tragedia L’Argenore, die anläßlich der Geburtstagsfeierlichkeiten für ihren Gatten, Markgraf Friedrich, 1740 aufgeführt wurde. Es ist eine Geschichte der Königstochter Palmide und der Liebe dreier Männer zu ihr: Leonidas, ein Prinz, ist als Gemahl Palmides bestimmt, Alcasto, ein Höfling und Vertrauter ihres Vaters, ist in sie verliebt, und Ormondo, ein General aus der Armee ihres Vaters, ist heimlich mit ihr verlobt, wobei der Zuschauer aus dem Vorspann der Oper weiß, was Palmide nicht weiß, daß nämlich Ormodo Palmides in früher Kindheit entführter Bruder ist. Ormondo besingt in S’awien, ch’ il destin rio, einer von einer Querflöte begleiteten Arie des I. Akts, wie es viele barocke Helden in seiner Lage täten, die Beständigkeit (la mia costanza) seiner Liebe und weiß sich sicher, daß 29 Wolfgang Hirschmann: »Italienische Opernpflege am Bayreuther Hof. Der Sänger Giacomo Zaghini und die Oper Argenore der Markgräfin Wilhelmine«. In: Friedhelm Brusniak (Hg.), Italienische Musiker und Musikpflege an deutschen Höfen der Barockzeit. 9. Arolser Barock-Festspiele 1994. Tagungsbericht. Köln 1995 (Arolser Beiträge zur Musikforschung 3), 117–153, hier 121f.
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auch Palmides Liebe von ebensolcher Beständigkeit ist. Sie antwortet mit Non dura una sventura, beschwört in dieser Arie, »eine Wendung des Schicksals« und verleiht der »Hoffnung auf günstigere Umstände«30 für ihre gegenseitige Liebe Ausdruck. Soweit folgt die von Wilhelmine selbst entworfene Handlung (das Libretto verfaßte dann Giovanni Andrea Galletti) der Gattungskonvention der Opera seria. Das aber ändert sich im weiteren Verlauf signifikant, denn die Geschichte endet ganz und gar nicht mit dem gattungsüblichen lieto fine, sondern in einem katastrophischen Finale: Palmide will keineswegs Leonidas heiraten, sondern Ormondo. Ihr Vater Argenore, der von grausamer Strenge und Zorn getrieben wird, droht seiner unfügsamen Tochter deshalb mit Tod. Im Zweikampf zwischen den Kontrahenten Leonidas und Ormondo wird Ormondo getötet, woraufhin die verzweifelte Palmide Leonidas ersticht. Als sie aber erfährt, dass Ormondo ihr verschollener Bruder und sie dessen Geliebte war, stürzt sie sich ins Meer. Der König, der nun beide Kinder verloren hat, begeht ebenfalls Selbstmord. Wilhelmine teilte ganz offenkundig das lebhafte Interesse an einer Erörterung des Spannungsverhältnisses von Vernunft und Emotionalität, das sich in ihrer Epoche ausbreitete. Zudem war ihre Sicht auf das Getriebensein des Menschen durch seine Affekte und die daraus entstehenden Konflikte mit der Staatsraison mit aller Wahrscheinlichkeit autobiographisch geprägt. Susanne Vill, Theaterwissenschaftlerin und Regisseurin der ersten Wiederaufführung von Wilhelmines Oper 1993, hat die Oper »als ein stark autobiographisch gefärbtes Emanzipationsdrama interpretiert« und sieht in Argenore »ein Portrait des grausamen Vaters von Wilhelmine (u.) Friedrich Wilhelm I.«31 Was der damalige Zuschauer aus Wilhelmines Oper lernen konnte, war die Fortsetzung dessen, was die Opera seria sonst vermittelte: »Daß die Fähigkeit zu überlegtem Handeln und damit zur Kontrolle von Affekten wie Rachsucht, Stolz und Zorn einen wirklichen Herrscher auszeichnet«, wurde in der Opera seria immer wieder aufs Neue vorgeführt, aber Wilhelmine brachte in ihrer Tragedia die gar nicht ideale Gegenseite auf die Bühne und zeigte tatsächlich, wie »die Mißachtung dieses Prinzips ein Staatswesen in die Katastrophe führt.«32 Das ist eine höchst eigenwillige Opera seria-Adaption und ein Exempel dafür, wie Frauen den elitären Freiraum ihrer Musenhöfe nutzten und ihren anderen Blick auf das Leben künstlerisch vermitteln.
30 Freia Hoffmann: »Höfische Repräsentation und individueller Ausdruck. Die Musik der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth«. In: Musik und Unterricht 48, 1997, 27–33, hier 30. 31 Hirschmann: »Italienische Opernpflege« (wie Anm. 29), 132. 32 Ebd., 131.
8. Frauenorchester im 19. und 20. Jahrhundert Christine Ammer: Unsung. Eine Geschichte der Frauen in der amerikanischen Musik (1980/2001) Einleitung Christine Ammers Buch über die Geschichte der Frauen in der US-amerikanischen Musik füllte bei seiner Ersterscheinung 1980 eine enorme Wissenslücke – und zeigte, dass diese Lücke überhaupt vorhanden war. Ein Jahr bevor Eva Riegers Frau, Musik und Männerherrschaft erschien, konstatierte Ammer, dass Frauen zwar seit jeher genauso aktiv am Musikleben beteiligt waren wie Männer, »aber aufgrund des sozialen Klimas früherer Zeiten blieben ihre Beiträge unbemerkt, unveröffentlicht, unaufgeführt und wurden schnell vergessen« (Ammer 1980, zit. nach 2. Aufl. 2001, 11). In diesem Sinn gab sie ihrer Geschichte der Frauen den Titel Unsung (d.i. Unbesungen). Einer der wesentlichen Ausgangspunkte war für Ammer wie für andere um 1980 die Frage, warum Musik scheinbar fast ausschließlich von Männern komponiert wurde – oder auf Ammers Herkunftsland, die USA, bezogen: Warum sollte es, glaubt man den verbreiteten Musikgeschichten, außer Amy Beach keine weitere Komponistin gegeben haben? Wegweisend an ihrem Buch ist aber auch, dass sie darin neben der Kompositionsgeschichte eine große Bandbreite musikalischer Praktiken behandelt, wie Instrumentalspiel, Ensemblespiel, Dirigieren und Musikunterricht. In der erweiterten zweiten Auflage von 2001 werden Jazz und andere Bereiche populärer Musik mit einbezogen, außerdem sind zwei neue Kapitel zu weiteren Musikpraktiken hinzugekommen, nämlich eines über Elektronische Musik, Multimedia, Film und Performance und eines über Patronage. Ausgespart bleibt das Feld der Sängerinnen. Das begründet Ammer in der ersten Auflage plausibel damit, dass Informationen über Sängerinnen bereits relativ gut zugänglich seien. Im Vorwort zur zweiten Auflage gibt sie einen anderen Grund an. Demnach konkurrierten Sängerinnen »nur mit anderen Frauen in ihren eigenen Stimmfächern und sind insofern gegenüber Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts, wie sie Komponistinnen, Instrumentalistinnen und Dirigentinnen erlebten, immun« (Ammer 2001, 9). Dies jedoch ist nicht haltbar, denn nachweislich wurden auch Sängerinnen wegen ihres Geschlechts diskriminiert. Einzigartig bleibt, welche Fülle an Informationen Ammer auf relativ engem Raum über Frauen zusammenträgt, die sich verschiedenen musikalischen Tätigkeiten widmeten. Auch wenn der Untersuchungsbereich auf die Geschichte der USA zwischen 1800 und 2000 begrenzt ist, haben die Ergebnisse
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eine gewisse Allgemeingültigkeit. Denn mit ihrer Materialsammlung liefert Ammer etliche empirische Belege für eine Kernthese der musikhistorischen Frauenforschung: Demnach wird die lange Zeit vergessene, aber faktisch bestehende aktive Teilhabe von Frauen an der Musikkultur gerade dann sichtbar, wenn man deren gesamte Breite berücksichtigt. Das, was Susanne RodeBreymann u.a. seit den 2000er Jahren unter der Kategorie ›musikkulturelles Handeln‹ im Bereich der Frühen Neuzeit erforschen, ist in Ammers musikalischer Frauengeschichte im Prinzip schon angelegt. Zugleich bleibt deren Verwurzelung in der traditionellen musikwissenschaftlichen Schwerpunktsetzung erkennbar, wenn Ammer fünf von elf (1. Auflage) bzw. dreizehn (2. Auflage) Kapiteln der Kompositionsgeschichte widmet. Um einen Einblick in die sozialgeschichtliche Breite ihrer Untersuchung zu geben, haben wir einen Ausschnitt aus dem Kapitel ausgewählt, das von Frauenensembles handelt. Darin setzt sich Ammer mit dem langwierigen und bis heute nicht abgeschlossenen Prozess auseinander, in dem Frauen sich um einen gleichberechtigten Zugang zu professionellen Ensembles bemühten. Eines von etlichen Hindernissen bestand in der verbreiteten Vorstellung, dass bestimmte Instrumente für Frauen weniger bzw. nicht geeignet seien. In diesem Punkt berührt sich die Untersuchung mit Freia Hoffmanns Studie Instrument und Körper (1991). Das besondere Verdienst von Ammer besteht dabei vor allem darin, eine große Menge an Biografien von Musikerinnen nennen zu können, die sich mit mehr oder weniger Erfolg gegen solche Stereotype durchsetzten. Im Zentrum des hier zitierten Kapitels steht die kritische Beobachtung, dass Frauen eine professionelle Laufbahn häufig nur jenseits der von Männern dominierten Bereiche möglich war, nämlich in separaten Frauenensembles – von der Damenkapelle bis zur Frauen-Big Band. Ammer bezeichnet solche Separation als »Apartheid« und betont durch diese polemische Anspielung auf den einstigen (1980 noch aktuellen) staatlichen Rassismus Südafrikas, dass es sich um eine Form der Unterdrückung handelt. Ihre wichtigsten Quellen sind historische Zeitschriften und Zeitungen, aber auch ältere musikhistorische Studien, soweit sie ihre Fragestellung berühren. Der für die zweite Auflage erweiterte Schlussteil des Kapitels, der von Frauenensembles im Jazz handelt, basiert zu großen Teilen auf den Untersuchungen von Michel J. Budds (in Pendle 2001), und Linda Dahl (1996). Nichtsdestoweniger ist es Ammers Verdienst, darin ähnliche Muster bei Frauenensembles in Jazz und Klassik und historische Kontinuitäten herausgearbeitet zu haben. In ihrem Text folgen zahlreiche Kurzbiografien in chronologischer Reihe aufeinander. Mit dieser Form der übersichtlichen, an Daten und Fakten orientierten Darstellung erweist sich Ammer als erprobte Autorin und Herausgeberin mehrerer Lexika und Nachschlagewerke, unter anderem eines im angloamerikanischen Raum verbreiteten Dictionary of Music (1972/1996/2004).
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Kritisch anzumerken ist, dass sie der Erörterung der Hintergründe und Zusammenhänge der Materialsammlung wenig Raum gibt. Eine Diskussion darüber, warum musikalische Biografien in bestimmter Weise verlaufen sind und inwiefern verschiedene Musikerinnenlaufbahnen miteinander vernetzt sind, findet eher selten und allenfalls ansatzweise statt. Auch erspart sich Ammer weitgehend die durchaus notwendige Diskussion, warum Frauen in der Musikgeschichte häufig übersehen bzw. vergessen worden sind. Hierzu ergänzt sie auch in der zweiten Auflage nichts, obwohl die zwei Jahrzehnte musikwissenschaftlicher Gender-Forschung seit der Erstauflage eingehende Auseinandersetzungen mit solchen Fragen hervorgebracht haben. In diesem Punkt kommt vermutlich zum Tragen, dass Ammer nicht selbst in der akademischen musikwissenschaftlichen Forschung tätig ist. Abgesehen von den angebrachten Kritikpunkten gehört Ammers Buch mit seiner nach wie vor einzigartigen Materialfülle zu den herausragenden historischen Darstellungen von Frauen in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Es dürfte auch für europäische Leserinnen und Leser von Belang sein – selbst dann, wenn diese sich nicht schwerpunktmäßig für die Musik- und Kulturgeschichte der USA interessieren. Zum einen ist die Studie aufgrund der beschriebenen Breite an behandelten musikalischen Praktiken, gepaart mit der Informationsfülle, beispielhaft. Insbesondere die 1980er Erstauflage war in dieser Hinsicht eine Pionierleistung und wurde für viele Gender-Forscherinnen, vor allem natürlich in den USA, zum Standardwerk. Zum anderen liefert das Buch wichtige Informationen über verschiedene Aspekte des europäisch-amerikanischen Kulturaustauschs, wie im hier zitierten Kapitel über die Auftritte des Wiener Damenorchesters in den USA, über dessen Rezeption und die amerikanischen Nachahmer. Wer sich für Jazzgeschichte interessiert, kommt sowieso nicht umhin, sich über die amerikanischen Hintergründe zu informieren und wird bei Ammer auf aufschlussreiche Nachweise von Frauen im Jazz stoßen. Anders als ein fokussierter Blick auf die internationalen Stars ahnen lässt, gab es offenbar zahlreiche Jazz-Instrumentalistinnen. Auch wenn in Ammers Darstellung sicherlich die Gründe für die ungleichen Möglichkeiten von Männern und Frauen nicht hinreichend diskutiert werden, kann sie eindrucksvoll belegen, dass die Musikerinnen und ihre Ensembles durchaus existierten. Florian Heesch Textvorlage Christine Ammer: Apartheid – The All-Women’s Orchestras. In: Unsung. A History of Women in American Music. Westport, London 1980 (Contributions in Women’s Studies 14). 2., überarb. und erw. Aufl., Century Edition. Portland 2001, 118–138 [Auszug].
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Weitere Veröffentlichungen von Christine Ammer The Facts on File Dictionary of Music. 4. Aufl. New York 2004. Früher: HarperCollins Dictionary of Music. 3. Aufl. 1996. Zuerst: Harper’s Dictionary of Music. New York 1972.
Weiterführende Literatur Bowers, Jane, Judith Tick (Hg.): Women Making Music. The Western Art Tradition. 1150– 1950. Urbana 1986. Dahl, Linda: Stormy Weather. The Music and Lives of a Century of Jazzwomen. 4. Aufl. New York 1996. Hoffmann, Freia: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur. Frankfurt am Main, Leipzig 1991 [siehe Kap. 17 in diesem Band]. Keil, Ulrike B.: Von Wandermusikanten zum Damenorchester. Professionelle Damenkapellen und Frauenorchester um die Jahrhundertwende. In: Das Orchester 46, 1998, Nr. 11, 18–25. Myers, Margaret: Blowing Her Own Trumpet. European Ladies’ Orchestras and Other Women Musicians 1870–1950 in Sweden. Göteborg 1993. Neuls-Bates, Carol: Frauenorchester in den Vereinigten Staaten 1925–1945. In: Freia Hoffmann, Eva Rieger (Hg.): Von der Spielfrau zur Performance-Künstlerin. Auf der Suche nach einer Musikgeschichte der Frauen. Kassel 1992 (Schriftenreihe Frau und Musik 2), 125–143. Neuls-Bates, Carol (Hg.): Women in Music. An Anthology of Source Reading from the Middle Ages to the Present. Boston 1995. Pendle, Karin (Hg.): Women and Music. A History. 2. Aufl. Bloomington 2001.
Ausgewählter Text Von der Geigerin zum ›Damenorchester‹ scheint es auf den ersten Blick kein großer Schritt zu sein, doch in Wahrheit war der Schritt enorm – und führte direkt in eine Sackgasse. Dass Musikerinnen keinen Zutritt zu konventionellen Orchestern hatten – die man ebenso gut ›Herrenorchester‹ hätte nennen können –, ist kaum überraschend. Obwohl die Zahl der musizierenden Frauen, vor allem der Violinistinnen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestiegen war, obwohl mehr Musikschulen und Konservatorien gegründet worden waren, obwohl in einer Reihe von Artikeln gefragt wurde, »Warum sollten Frauen keine Instrumente spielen?«, wurden Frauen nicht zur Laufbahn als professionelle Musikerin ermutigt, weder als Solokünstlerin noch in Ensembles. Einer der wichtigsten Gründe für den Ausschluss der Frauen war ökonomischer Natur. Denn jeder Posten, der an eine Frau vergeben wurde, bedeutete, dass den Männern eine Stelle weniger zur Verfügung stand. Außerdem
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war es Frauen überhaupt erst seit kurzer Zeit erlaubt, andere Instrumente außer Tasteninstrumenten zu spielen. Daraus leitete man die Schlussfolgerung ab, dass es nur wenige Musikerinnen mit hinreichender Qualifikation für das Orchester gebe, insbesondere im Holz- und Blechbläserbereich sowie für das Schlagzeug. Ob aus dem einen oder aus dem anderen Grund – Frauen blieben die Orchester weitgehend verschlossen. So konnte der Boston Herald am 12. Dezember 1878 von einer wahren Neuheit berichten: Ein neues Orchester in Louisville wolle Frauen zulassen, und es gebe bereits Violinistinnen, Bratschistinnen, Cellistinnen und sogar eine Kornettistin, die demnächst beitreten würden. Das Harvard Symphony Orchestra dagegen – in den Worten des Herald-Reporters eine »alte, konservative Vereinigung« – ließ nach wie vor keine Frauen zu. Im Chicago Symphony Orchestra gab es immerhin während seiner ersten Spielzeit (1892–1893) eine Harfenistin, Frau Lawrence A. Winch, und einen Harfenisten; in der darauf folgenden Spielzeit wurde Frau C. Wunderle als Harfenistin engagiert, vermutlich die Ehefrau von C. Wunderle, der sowohl Becken als auch Bratsche spielte. 1 Das Philadelphia Orchestra wiederum beschäftigte bis zur Spielzeit 1930–1931 weder eine Harfenistin noch irgendeine andere Musikerin regelmäßig. [...] Inzwischen war die Harfe für Frauen sanktioniert, und auch die Zahl der Musikerinnen, die Streichinstrumente spielten, stieg an. [...] Aus der Tatsache, dass Flötistinnen und andere Holzbläserinnen eher die Ausnahme waren, könnte man schließen, dass Blechbläserinnen noch seltener zu finden waren. Doch bereits 1837 trat die Solo-Kornettistin Nellie Daniels Spaulding’s Concert Company bei.2 Einige Monate später spielte die Ladies Cornet Band unter der Leitung von Georgie Dean Spaulding mit ihrem goldenen Kornett in Vermont.3 1875 wurde bekanntgegeben, dass die Kornettistin Anna Berger Unterricht bei Matthew Arbuckle nehmen würde,4 und 1879 wurde in Tipton, Indiana, eine weitere, ausschließlich mit Frauen besetzte Kornett-Gruppe gegründet.5 In den frühen 1880er Jahren warb zumindest eine Kornettistin, Fannie Rice aus Lowell in Massachusetts, für ihre Dienste bei Konzerten und Unterhaltungsveranstaltungen.6 Ein 13-jähriges Wunder1 Philo Adams Otis: The Chicago Symphony Orchestra. Its Organziation, Growth, and Development 1891–1924. Chicago 1924. In den Appendizes ist das Orchesterpersonal bis 1924 aufgeführt. 2 Dexter Smith’s Musical, Literary, Dramatic and Art Paper, Dezember 1873, 165. 3 Dexter Smith’s, März 1874. 4 Dexter Smith’s, März 1876. Arbuckle (1828–1883), virtuoser Kornettist und Musikmeister, hat ein Lehrbuch für das Kornettspiel verfasst. 5 Musical Record, Dezember 1879, 206. 6 Folio, 1880, 1881, 1882.
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kind, Ida Clark aus Idaho, trat 1885 in Erscheinung.7 Im selben Jahr spielte Eva Hewitt Berichten zufolge »so wundervoll, dass sie Levy beeindruckte und eine Anstellung in New Orleans erhielt, wo sie als neue Sensation in der nächsten Spielzeit auftreten wird.«8 1889 hatte Anna Berger genug von Arbuckle und anderen Lehrern gelernt, um auf Tournee zu gehen. Ihre Auftritte in Covent Garden und auf den Londoner Promenadenkonzerten stießen auf ein positives Echo.9 Im folgenden Jahr berichtete der Musical Herald: »Frau Anna Teresa Berger, eine Amerikanerin (Gattin des Managers Leigh Lynch) hat die englische Hörerschaft in Covent Garden mit ihrem Kornett-Spiel elektrisiert. Sie spielte fünfzig Abende in Folge und nahm Angebote aus Frankreich, Deutschland und Russland entgegen.«10 Noch ungewöhnlicher war der Erfolg der Saxophon-Virtuosin Elise Hall, die in Programmen stets als »Mrs R(ichard) J. Hall« aufgeführt wurde, denn das Saxophon war selbst für männliche Musiker ein ungewöhnliches Instrument. Sie war eine Schülerin von George Longy, dem ersten Oboisten des Boston Symphony Orchestra und Gründer der Longy School of Music in Cambridge. Hall wurde Managerin des 1889 gegründeten zweiten Orchestral Club of Boston, der von Longy dirigiert wurde. Der Kritiker Philip Hale lobte an ihrem Auftritt bei einem Konzert des Orchestral Club ihre meisterhafte Technik, ihre musikalische Intelligenz und ihren schönen Ton.11 Als erste Amateurmusikerin, die mit dem Boston Symphony Orchestra auftrat, spielte sie in den Abonnementkonzerten am 24. und 25. Dezember 1909 das lange Solo in Bizets L’Arlésienne-Suite Nr. 1, »weil kein (anderer) kompetenter Saxophonist« gefunden werden konnte.12 Eine Reihe von Komponisten – darunter Vincent d’Indy, Charles Loeffler und Georges Longy selbst – komponierten 7 8 9 10 11
Musical Herald, Mai 1885. Freund’s Weekly, 22. August 1885. Levy war ein berühmter Bläser-Virtuose. Musical Record, Oktober 1889. Musical Herald, März 1890. Musical Record, März 1900. Rund 35 Jahre zuvor hatte Alphonse Sax, Erfinder des Saxophons, ein Pamphlet verfasst, indem er behauptete, dass Blasinstrumente zu spielen höchst nützlich für die Lungen sei und Frauen daher ermutigt werden sollten, in Frauenorchestern zu spielen. Siehe Gymnastique des Poumons, Paris 1865. 12 Musical America, 26. Februar 1910, 15. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden Saxophonistinnen nur selten von großen amerikanischen Orchestern angestellt, auch wenn sie im Jazz mehr Anerkennung gewonnen haben. Erst seit den späten 1980er Jahren haben Saxophonistinnen erste Universitätsposten an bedeutenden Hochschulen und Konservatorien besetzt. Carolyn J. Bryan, Professorin an der Georgia Southern University berichtet, Kandace Brooks von der Universität Florida sei als erste Frau Präsidentin der North American Saxophone Alliance geworden, und Jean Lansing habe an der Indiana University als erste Frau einen Abschluss als Doktorin der Musik im Fach Saxophon erworben.
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eigens für Hall. Ihre musikalische Ausbildung hatte sie zum größten Teil am Pariser Konservatorium erhalten, das für seine Blasinstrumentenschule berühmt war. Berichten zufolge begann sie 1909 ein weiteres Instrument zu spielen, nämlich die damals neue Kontrabassklarinette. Es gab etliche weitere Musikerinnen, denn gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren Blechbläserinnenensembles zunehmend verbreitet. In einem Brief an den Musical Record wird 1882 gefordert, über dieses Phänomen in angemessenem Umfang zu berichten. Der Verfasser, J. Heneage Carter aus Louisville, behauptet, die erste weibliche Blechblasformation der Vereinigten Staaten geleitet zu haben: Vor zwanzig Jahren (1862) hatte ich eine Reihe junger Mädchen – im Alter von zehn bis vierzehn Jahren – engagiert, um den Aufführungen meines Ensembles einen Hauch von militärischer Strenge zu verleihen. Mein Orchesterleiter schlug vor, mit diesen Mädchen eine Blaskapelle zu gründen. Um ein Haar hätte ich diese Idee abgelehnt. Kurz darauf bewarb sich aber jemand bei mir als Kornettist. Ich stellte ihn ein und bat ihn, mit dem Leiter meines Orchesters zusammenzuarbeiten, um zu sehen, was sich mit den Mädchen im Rahmen einer Blaskapelle erreichen ließe. Als Ergebnis wurde bald darauf meine Young Female Brass Band gegründet, und die Reaktionen der Menschen aus den Städten von Neu-England und anderswo bezeugten eindrucksvoll die Beliebtheit der Gruppe. Hätte ich damals nicht die gefeierte Berger-Familie engagiert und ihnen gezeigt, wie man Blasmusik spielt, hätte die Öffentlichkeit wohl nie Miss Anna Teresa Berger (Mrs. Leigh Lynch) Kornett-Soli spielen gehört. (…) Mein Ensemble war als die Carter Zouave Troupe bekannt.13
1888 trat die 120 Frauen starke Ladies Band aus Audobon, Iowa, beim Jahrestreffen der Northwestern Band Association auf,14 und 1895 kommentierte der Musical Record anlässlich der Gründung einer weiteren Frauenkapelle in Michigan, dass sich dieses »Hobby« im Westen in einem beachtlichen Maß durchzusetzen scheine. Zu diesem Zeitpunkt hatte Boston bereits seit mehreren Jahren eine eigene Ladies’ Military Band vorzuweisen. 1890 gegründet, bestand sie aus 30 »jungen Damen«, die in der Spielzeit 1898/1899 unter der Leitung von Mr. D. W. Howard durch die Vereinigten Staaten und Ontario tourten und im September 1901 auf der Pan-American Exposition spielten.15 Darüberhinaus bewarb eine Anzeige im Musical Review von Oktober 1899 die Ladies’ Talma Band, ein 18-köpfiges Blasorchester, als Hauptattraktion im Norumbega Park, einem Erholungsort in Boston. 13 Musical Record, 13. Juni 1882, 538. 14 Folio, Juni 1888. 15 Etude, August 1901.
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Seit den späten 1870er Jahren wurde eine neue Variante des Frauenorchesters populär. Sie orientierte sich am Vorbild des Wiener Damenorchesters, das 1871 erstmals auf einer Tournee nach Amerika kam und beachtliches Interesse geweckt hatte. Ein Rezensent bemerkte: Eine der musikalischen Sensationen der nächsten Spielzeit wird das von Mr. Rullmann aus Wien zu uns gebrachte Damenorchester sein, welches ausschließlich aus Musikerinnen besteht. Im September wird es in der Steinway Hall erstmalig in Erscheinung treten. Ihren Fotos nach zu urteilen, müssen die Musikerinnen ziemlich hübsch sein.16
Das Wiener Ensemble war 1867 von Josephine Weinlich [1840–1887] gegründet worden. Es war zunächst ein Streichquartett und wurde dann erweitert. 1871 umfasste es ungefähr 20 Musikerinnen: vier erste Geigen, drei zweite Geigen, eine Bratsche, zwei Celli, einen Kontrabass, eine Flöte, eine Piccoloflöte, eine Harfe, ein Harmonium und dreifach besetztes Schlagzeug. Die Gruppe spielte hauptsächlich leichte Musik – Walzer, Auszüge aus Operetten von [ Johann] Strauß, [Franz] von Suppé und anderen populären zeitgenössischen Komponisten sowie gelegentlich einzelne Sätze aus Sinfonien. Dem Kritiker des Metronome gefiel das Ensemble überhaupt nicht. Er nannte es »einen weiteren ausländischen Schwindel«, denn da Hörner, Trompeten, Posaunen, Klarinetten, Oboen und Fagotte fehlten, sei es kein richtiges Orchester.17 Ursprünglich war das Wiener Damenorchester als eine Gruppe von Konzertkünstlern in die Vereinigten Staaten gekommen, doch 1873 reisten sie als »Lagerbier-Musiker« durch das Land und spielten in Restaurants und Biergärten. Darüberhinaus wird berichtet, dass die Frauen äußerst schlecht bezahlt wurden. Sie verdienten nicht mehr als 15 oder 20 Dollar pro Woche, obwohl sie jeden Abend bis nach Mitternacht spielten.18 Seinen Kritikern zum Trotz hatte das Wiener Damenorchester bald zahlreiche Nachahmer gefunden, die in enger Verbindung zur deutsch-amerikanischen Unterhaltungskultur standen. In New York spielten sie in den deutschen Varietés in Lower Manhattan, wie Bowery Garden, Atlantic Garden und Volksgarten. Tatsächlich bezeichnete man sie oft mit dem deutschen Namen »Damen Orchester«. Was ihren Reiz ausmachte, war, genau wie bei den Blaskapellen, ausschließlich ihre Seltsamkeit; die Merkwürdigkeit, dass Frauen 16 Musical Bulletin, Juni 1871, 125. 17 Metronome, Oktober 1871, 55. 18 Dexter Smith’s Musical, Literary, Dramatic and Art Paper, Juni 1873.
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Kornett und Kontrabass spielen, genügte, um das Publikum anzulocken.19 Fehlte ein Instrument oder konnte keine Musikerin gefunden werden, setzten sie sogar männliche Musiker in Frauenkleidern ein, um zumindest die Illusion eines reinen Frauenensembles aufrechtzuerhalten. Die bekannteste dieser Gruppen war das Ladies Elite Orchestra, das im Atlantic Garden über einen Zeitraum von mehr als 35 Jahren auftrat. Während dieser langen Zeit veränderte sich das Repertoire ständig, doch meistens wurden populäre Lieder sowie Auszüge aus Opern – sowohl aus Großen Opern als auch aus komischen Opern – zwischen verschiedenen Vaudeville-Darbietungen gespielt.20 New York verfügte über die meisten Frauenensembles, doch sie existierten auch an anderen Orten. In Ohio gab es mindestens zwei, eins im Schumann’s Garden und das andere in der Meyer’s Music Hall.21 Boston hatte das Kampa’s Ladies Orchestra, das aus sechs Schwestern bestand,22 und das John Braham’s Female Theater Orchestra, das seinen Sitz im Oakland Garden hatte. Über das Letztere schrieb ein Kritiker: Künstlerinnen, ein Damenchor, ein Damenballett, ein Orchester, das ganz aus Damen besteht, Saaldienerinnen, Pförtnerinnen und Damen, die Eintrittskarten verkaufen, besetzten das Oakland Garden in Boston für eine Darbietung von »An Adamless Eden« [»Ein Eden ohne Adam«]. Wer behauptet, dass die ›Frauenrechte‹ nicht vorankommen?23
Die ersten, die dies in Frage stellen mussten, waren aller Wahrscheinlichkeit nach die Künstlerinnen selbst, die die Welt der Unterhaltung nur durch die Hintertür betreten durften. Schließlich gründeten Afroamerikaner ihre eigenen Minstrel-Gruppen und – erst in den 1940ern – ihre eigenen BaseballLigen, weil dies für sie die einzige Möglichkeit war, um in der Öffentlichkeit auftreten zu können. Mit dem gleichen Ziel gründeten auch Frauen ihre eigenen Orchester und machten sich den Reiz des Neuen zunutze, um ihre Instrumente zu spielen und dafür – wenn auch nur gering – bezahlt zu werden. Eine Musikerin des Ladies Elite Orchestra fasste zusammen: »Wenn ich die Möglichkeit bekäme, für einen Mann einzuspringen, würde ich es sofort tun. Und danach würde ich mich nach weiteren und besseren Angebote umsehen.«24 19 Judith Tick: »Women as Professional Musicians in the United States 1870–1900«. In: Yearbook for Inter-American Research in Music 9, 1973, 95–133, hier 100. 20 Ebd., 100–101. 21 Musical Record, 21. Oktober 1882, 43. 22 Musical Record, 16. Dezember 1882, 205. 23 Musical Record, August 1884, 4. 24 »Opinions of New York Leaders on Women as Orchestral Players«. In: Musical Standard, 2. April 1904.
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Daher lehnte Jackie Robinson einen Vertrag mit den Brooklyn Dodgers auch nicht ab, als sich schließlich die Möglichkeit ergab. Die ökonomische Benachteiligung von Orchestermusikerinnen wurde durch Vorurteile und Stereotype gestützt. Würden Frauen als den männlichen Musikern ebenbürtig gelten, stünden sie vermutlich mit den Männern in Konkurrenz um dieselben Anstellungen. Wenn sie jedoch dieselben Instrumente gar nicht oder nicht gleich gut spielen konnten, oder wenn sie dieselbe Art von Musik nicht spielen konnten, so reduzierte sich automatisch die Bedrohung, die von ihnen ausging. Daher redete man den Frauen von Beginn an ein, sie seien nicht stark genug, um ein großes, schweres Instrument zu spielen – zum Beispiel Tuba oder Kontrabass – oder ihre Fähigkeiten würden nicht ausreichen, um Instrumente wie Oboen, Klarinetten oder Schlagzeug zu spielen. Die Vorurteile in Bezug auf Tuba und Bass haben bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts überlebt. Wenn Frauen nun aber bewiesen, dass sie diese Instrumente in der Tat spielen konnten, wurde ihnen gesagt, dass sie nicht talentiert oder nicht hingebungsvoll genug seien, um ernste Musik zu spielen, so dass sie sich auf ein leichteres Repertoire beschränken mussten. Verstärkt wurde das Problem durch die im späten 19. Jahrhundert schnell wachsende Zahl amerikanischer Musikschulen und Konservatorien. Was sollte aus all den Musikerinnen werden, die in wachsender Anzahl ihren Abschluss machten? Nicht alle konnten Lehrerinnen werden, denn der Markt würde bald gesättigt sein; darüberhinaus würde das Problem in der Zukunft zunehmen, wenn man davon ausging, dass jede Lehrerin noch weitere Musiker und Musikerinnen ausbildete. Die Lösung war eine Trennung [segregation] nach Geschlechtern. Einerseits konnten Frauen professionelle Frauenensembles gründen, die trotz ihrer angeblich geringeren Qualität überleben würden, weil sie den Reiz des Neuen besaßen und bereit waren, jede Art von Musik an jedem Ort und zu jeder Zeit zu spielen, um ein zahlendes Publikum anzusprechen. Andererseits konnten Frauen weiterhin als engagierte Amateure ernste Musik spielen, wenn sie es wünschten, da sie ohnehin nicht für ihr Spiel bezahlt wurden. Dies führte dazu, dass sich im späten 19. Jahrhundert zwei Arten von Frauenorchestern herausbildeten. Die eine war das professionelle Orchester, in dem die Frauen bezahlt wurden und meistens populäre und nur gelegentlich ernstere Musik spielten, oftmals in Verbindung mit anderen Formen populärer Unterhaltung, wie dem Vaudeville. Die andere Art war das Amateurorchester, d.h. die Musikerinnen spielten ohne Bezahlung, auch wenn sie bestens ausgebildet und von professionellem Kaliber waren. Sowohl in Boston als auch in New York gab es von beiden Arten jeweils mehrere Ensembles – und einige, die zwischen den zwei Kategorien standen. Das New Yorker Ladies
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(Amateur) Orchestra gab 1888 und 1889 Wohltätigkeitskonzerte.25 Dem ersten Orchestral Club of Boston, gegründet 1885, gehörten sowohl Männer als auch Frauen an, obwohl letztere praktisch auf die Geigen beschränkt waren. Unter ihnen waren Schülerinnen von Julius Eichberg, zum Beispiel Lillian Chandler, Jennie Ladd, Georgia Pray (die eigentlich Cellistin war, dort aber Geige spielte), Edith Christie, Lettie Launder und Fannie Grebe.26 Demgegenüber setzte sich der Beacon Orchestral Club of Boston, der von der Geigerin Marietta B. Shermann dirigiert wurde, ausschließlich aus Frauen zusammen. Er war mit zehn Geigen, zwei Bratschen, einem Cello, einer Posaune, einer Flöte, zwei Kornetten, einer Klarinette und Klavier besetzt.27 […] Dieses Kapitel wäre unvollständig, wenn man die zahlreichen Frauenbands nicht zumindest erwähnte, die in den 1930er und 1940er Jahren von jenen Jazz- und Popmusikerinnen gegründet wurden, die in reinen Männerensembles nicht erwünscht waren.28 Tatsächlich reicht ihre Geschichte zurück bis in die 1880er Jahre, als eine Reihe von Afroamerikanerinnen, die Blech- und Holzblasinstrumente spielten, ihre eigenen Ensembles gründeten. Die Colored Female Brass Band, die von der Kornettistin Viola Allen dirigiert wurde, trat in Michigan und Umgebung auf. Es gab Frauen-Minstrel-Ensembles, wie Madame Rentz’s Female Minstrels. Das New Yorker Lafayette Ladies Orchestra, das die Posaunistin und Pianistin Marie Lucas 1915 von ihrem Vater übernahm, war kein reines Frauenensemble, sondern es wurden darin sowohl Männer als auch Frauen ausgebildet, um in Theaterorchestern Schlagzeug und Trompete zu spielen. Oftmals waren diese Musikerinnen Ehefrauen oder Verwandte von Jazzmusikern. Die Frau von Fletcher Henderson, Leora Mieuyx, spielte Posaune und gründete 1927 ihre erste Frauen-Band. Lester Youngs Schwester Irma, die Saxophon und Ukulele spielte, und Jack Teagardens Schwester Norma, die sowohl als Pianistin als auch als Bandleader auftrat, spielten dagegen in Bands, die ansonsten ausschließlich mit Männern besetzt waren. Lil Hardin Armstrong, die eine Zeit lang mit Louis Armstrong verheiratet war, gründete 1932 eine Frauen-Swing-Band; diese existierte bis 1936, als Lil Hardin Armstrong zu einem ansonsten männlich besetzten Ensemble wechselte. In den 1930er und 1940er Jahren wurden zahlreiche Frauenensembles gegründet. Sie waren 25 26 27 28
Freund’s Weekly, 5. März 1889. Musical Herald, März 1885 und Januar 1886. Musical Herald, Februar 1890. Die meisten Informationen hier beruhen auf Michel J. Budds: »African-American Women in Blues and Jazz«. In: Karin Pendle (Hg.), Women and Music. A History. Bloomington 1991, 282–297, sowie Linda Dahl: Stormy Weather. The Music and Lives of a Century of Jazzwomen. New York 1984.
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teils nach Hautfarbe getrennt, es gab aber auch gemischt besetzte Gruppen. Diese Gründungswelle hing in hohem Maß damit zusammen, dass es für Frauen schwierig war, Zugang zu männlich besetzten Jazz-Bands zu erhalten. Die Frauenensembles gaben sich ein betont aufreizendes, glamouröses Image, insbesondere ihren Sängerinnen und Leiterinnen, und beförderten damit wohl ebenso wie die klassischen Frauenorchester die Doppelmoral. Nichtsdestoweniger trugen zwei herausragende Gruppen, die ausschließlich aus schwarzen Musikerinnen bestanden, dazu bei, dass sich die Position der Frauen verbesserte: die 1934 gegründeten Melodears, die von der Sängerin Ina Ray Hutton (so der Künstlername von Odessa Cowan, 1916–1984) geleitet wurden, und die International Sweethearts of Rhythm, die 1937 gegründet wurden und sich in den späten 1940er Jahren auflösten. Beide Gruppen waren allseits als erstklassige Jazz-Formationen anerkannt. Die Sweethearts nahmen schließlich auch Frauen aus Lateinamerika, weiße und asiatische Frauen auf. 1978 wurden zwölf Mitglieder der ursprünglichen Sweethearts of Rhythm auf dem zweiten Women’s Jazz Festival in Kansas City mit Ehrungen ausgezeichnet. Es gab außerdem noch Phil Spitalnys All-Girl Orchestra, in dem seine Frau Evelyn Geige spielte. Dieses Ensemble, das von 1934 bis 1955 bestand und sich ausschließlich aus weißen Frauen zusammensetzte, spielte weniger Jazz als eingängige Tanzmusik und eine Auswahl leichter Klassik. Während des Zweiten Weltkriegs unterhielten Big Bands, die ausschließlich aus Frauen bestanden, die US-Truppen in Übersee. Im Allgemeinen waren sie strikt nach Hautfarbe getrennt: Schwarze Gruppen spielten für schwarze Soldaten, und weiße Gruppen, wie die Al D’Artega’s All-Girl Band, Joy Caylers Gruppe und Ada Leonards All-American Girls, spielten für weiße Regimenter. Die International Sweethearts of Rhythm, die sich hauptsächlich aus schwarzen Musikerinnen zusammensetzten, stellten eine Ausnahme dar, indem sie auch vor weißen Soldaten auftraten.29 Die Bands waren allgemein sehr beliebt, was aber nicht allein auf ihrer Musik gründete. Ihr glamouröses Image und die Erinnerungen an die Heimat hatten ihre Wirkung auf die Männer in Übersee. »Wir hätten auf den Boden spucken können, und die Männer hätten applaudiert«, bemerkte die Trompeterin Jane Sager rückblickend 1995. In den späten 1940er Jahren war die große Zeit der Big Bands gerade vorüber, und die Männer, die aus dem Weltkrieg zurückkehrten, verdrängten jene Frauen, die ihren Platz eingenommen hatten, zum größten Teil wieder. Aufgrund der Veränderungen des Publikumsgeschmacks und der wirtschaftlichen Lage lösten sich die größten Gruppen alle auf. Einige wenige Frauen 29 Sherrie Tucker: »Female Big Bands, Male Mass Audiences. Gendered Performances in a Theater of War«. In: Women in Music 2, 1998, 64–89.
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waren mit der Bildung kleinerer Frauenensembles erfolgreich, und einige, die in den 1930er und 40er Jahren Bands geleitet hatten, standen nun kommerzielleren Ensembles vor, von denen manche ausschließlich mit Männern besetzt waren. Für Frauen verringerten sich auch die Möglichkeiten, eigene Musik aufzunehmen. In Folge dieser Entwicklung zogen viele Frauen nach Europa, insbesondere nach Paris. Einigen Frauen gelang eine zweifache Karriere in Jazz und klassischer Musik. June Rotenberg hatte mit dreizehn Jahren angefangen, Bass zu spielen; ihr erster Lehrer war Bassist im Philadelphia Orchestra. Nach dem High School-Abschluss ging sie in den frühen 1940er Jahren nach New York, absolvierte ein Probespiel für ein Stipendium der National Orchestra Association des New York Philharmonic Orchestra und spielte nachts Jazz, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Schließlich arbeitete sie mit der JazzPianistin und Komponistin Mary Lou Williams zusammen. Pro Jahr spielte sie sechs Monate im St. Louis Symphony Orchestra, und ab 1950 trat sie sowohl solistisch als auch mit Kammermusik beim Festival Pablo Casals auf. Natalie Clair, eine weitere Jazz-Bassistin, trat dem Cleveland Orchestra bei. Laura Bohle (später Sias) spielte während des Zweiten Weltkriegs Bass in Al D’Artegas All-Girl Band und kehrte für ein Stipendium an der Eastman School of Music und einen Platz im Rochester Philharmonic Orchestra nach Hause zurück. Darüberhinaus dirigierte sie eine Reihe von Frauen-SwingBands und -Combos in der Gegend von Rochester, New York.30 Eine weitere Bassistin, Lucille Dixon, hatte es schwerer. Sie fasst ihre Erfahrungen so zusammen: »Mir war, als hätte ich gleich zwei Schlachten zu schlagen gehabt – ich war eine Frau, und war zudem noch schwarz. Dann wurde mir klar, dass es eigentlich drei Schlachten waren: Ich spielte ein Männer-Instrument.« In den frühen 1940er Jahren bekam sie eine Anstellung in der männlich besetzten Earl Hines Band. Sie verließ die Gruppe 1945 und gründete ihr eigenes Lucille Dixon Orchestra, jedoch litt sie unter den vielen Reisen. Schließlich bekam sie einen Job im Savannah Club und blieb dort, bis sie 1954 mit ihrem neuen Ehemann nach Panama zog und sich dem National Symphony Orchestra of Panama anschloss. 1956 kehrte sie in die Vereinigten Staaten zurück, und von 1960 an musizierte sie mit klassischen Ensembles, insbesondere mit dem Ridgefield Symphony Orchestra, dem Boston Women’s Symphony Orchestra und dem Scranton Symphony Orchestra. Sie wurde 1965 zur Managerin des Symphony of the New World, einem Orchester, das sie für junge Musikerinnen und Musiker gegründet hatte. Obwohl sie sich
30 Ebd., 87.
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1993 offiziell zur Ruhe setzte, wirkte sie weiterhin in Bands in Puerto Rico mit, wo sie sich jedes Jahr eine Zeit lang aufhielt.31 In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten nur wenige Frauen wichtige Ensembles, unter ihnen vor allem die Jazzpianistinnen und -Komponistinnen Carla Bley und Toshiko Akiyoshi [...]. Doch im Allgemeinen ergibt sich im Jazz ein ähnliches Bild wie in der klassischen Musik. Die Trompeterin Jane Sager sagte einmal: »Es gibt nur einen Weg, Musik zu machen, und zwar mit Autorität – egal ob Mann oder Frau.« Nicht jeder glaubte daran. Zu denen, die es nicht glaubten, gehörte sicherlich Billy Tipton, ein talentierter Saxophonist und Pianist, der 1989 mit 74 Jahren an einer Blutung aus einem Geschwür starb. Er suchte niemals einen Arzt auf, egal wie krank er war, und es war letztlich Tiptons Bestatter, der einem von dessen drei Adoptivsöhnen dieses seltsame Benehmen erklärte: Tipton war eine Frau. Er begann seine Maskerade während der Big Band-Ära der 1930er Jahre, um Arbeit zu bekommen. Kitty Oakes, die Frau, die er 19 Jahre lang als seine Ehefrau ausgab, sagte, er hätte alles für seine Musik aufgegeben, und niemand habe die List jemals geahnt. Er gab den Konzertagenten niemals seine Sozialversicherungsnummer, und er ging niemals mit seinen Söhnen schwimmen.32 Sowohl in Jazz-Ensembles als auch in klassischen Orchestern spielt Gender nach wie vor eine immense Rolle. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren gründete sich eine Reihe neuer Frauen-Jazz-Ensembles. Zu den besten von ihnen zählten Maiden Voyage, Straight Ahead und DIVA. DIVA, eine Big Band aus 15 Musikerinnen einschließlich der Schlagzeugerin Sherrie Maricle, die das Ensemble leitete, gab ihr erstes Konzert 1993. Die Gruppe konzentrierte sich auf zeitgenössische Jazzmusik, die von Bandmitgliedern und renommierten Musikern speziell für die individuellen Persönlichkeiten der Musikerinnen arrangiert worden war. Manche ihrer Mitglieder hatten zuvor in anderen wichtigen Big Bands gespielt. Manche Frauen wollen jedoch niemals in reinen Frauenensembles oder auf Frauen-Jazz-Festivals spielen, weil sie eine Ghettoisierung befürchten. Für sie ist solche ›Apartheid‹ genauso unliebsam wie sie es für Schwarze in Südafrika gewesen ist.33
31 Leslie Gourse: Madame Jazz. Contemporary Women Instrumentalists. New York 1995, 224. 32 Time, 13. Februar 1989, 41. 33 Gourse: Madame Jazz (wie Anm. 31), 14.
9. Weiblichkeitsbilder in der Musik um 1900 Melanie Unseld: »Man töte dieses Weib!« Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende (2001) Einleitung Musikhistorische Gender-Forschung setzt sich nicht nur mit historischen Frauen und Männern, die sich an Musikkultur beteiligt haben, auseinander, sondern auch mit Darstellungen von Frauen und Männern in musikalischen Artefakten. Zum Beispiel werden verschiedene Frauendarstellungen in Form von Opernfiguren untersucht, wie die empfindsame, tugendhafte Pamina (in Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte), die zerbrechliche Mimi (in Giacomo Puccinis La Bohème) oder die verführerische Salome (in Richard Strauss’ gleichnamiger Oper) (vgl. Nieberle 2010, Unseld 2010 b). Als Kulturprodukte können solche Figuren nur ein kulturelles Geschlecht (›gender‹), aber kein biologisches (›sex‹) besitzen. Das tritt insbesondere bei Inkongruenzen der Geschlechteridentität zutage, wie im Fall der Hosenrolle, d.h. der Verkörperung einer männlichen Figur durch eine weibliche Darstellerin, z.B. der Mezzosopranpartie des Octavian in Strauss’ Rosenkavalier. Die Auffassung von Weiblichkeit oder Männlichkeit, die sich in solchen Opernfiguren vermitteln, wird durch Librettisten, Komponisten und Ausführende geprägt. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive stellt sich hier die zentrale und zugleich komplexe Frage, wie sich solche Darstellungen zu realen Geschlechteridentitäten verhalten. Bildet Salome einen realen Frauentypus oder ein Ideal ab? Ist diese von den Autoren Oscar Wilde und Richard Strauss gestaltete Figur ein Produkt individueller oder in der zeitgenössischen Kultur verbreiteter männlicher Vorstellungen (vgl. auch Abbate 1993)? Oder wie Ruth Solie fragt: »Wessen Leben« wird in Robert Schumanns Frauenliebe-Liedern dargestellt (Kap. 13 in diesem Band)? Aber auch: Welchen Anteil haben reale Frauen an solchen Weiblichkeitsbildern? Inwiefern prägen musikalische Frauendarstellungen wiederum die gesellschaftliche Realität? Melanie Unseld zeigt in ihrer Dissertation »Man töte dieses Weib!« – der Titel zitiert Herodes’ Urteil über Salome am Schluss der genannten Oper –, dass in der europäischen bürgerlichen Kultur um 1900 zahlreiche Zusammenhänge zwischen musikalischen Weiblichkeitsdarstellungen und kulturellen Diskursen über Weiblichkeit, aber auch Bezüge zu realen Frauenleben existierten. Laut Unselds Grundthese wurde Weiblichkeit in diesem kulturhistorischen Kontext gehäuft in Verbindung mit Tod dargestellt. In einem breiten Zugriff auf Musik, Literatur, bildende Kunst und Philosophie zeichnet sie
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nach, wie sich im »Doppelmotiv« Weiblichkeit und Tod zentrale Diskurse der vorletzten Jahrhundertwende widerspiegeln: dekadente Steigerungen der Sinnlichkeit, grenzüberschreitende Ausprägungen und Darstellungen von Erotik und Sexualität, Verunsicherungen im Machtverhältnis der Geschlechter. In den stärker analytisch ausgerichteten Teilen ihrer Studie untersucht sie vor allem anhand ausgewählter Opern, in denen sie die bürgerlichen Geschlechtervorstellungen des Fin de siècle exemplarisch gespiegelt sieht, drei verschiedene Grundtypen von Weiblichkeit: (1) die kindliche, früh sterbende femme fragile, zu der u.a. Mélisande gehört – von ihr handelt der im Folgenden zitierte Abschnitt –, (2) die skandalträchtige femme fatale, darunter Salome sowie Lulu aus Alban Bergs gleichnamiger Oper, und (3) das ›EwigWeibliche‹, das Unseld vor allem anhand der Emilia Marty, geb. Makropulos, in Leoš Janáčeks Die Sache Makropulos diskutiert. Am Beispiel der Komponistin Lili Boulanger (1893–1918) zeigt sie, dass ein typisiertes Weiblichkeitsbild wie die femme fragile durchaus von realen Frauen als Rollenmodell übernommen werden kann. Insgesamt verweist Unselds Studie auf ein historisches Ungleichgewicht, nämlich auf der einen Seite die nachteiligen Bedingungen und die geringe Beachtung, die komponierende Frauen real erfuhren, und auf der anderen Seite die Fülle an Weiblichkeitsbildern aus der Feder männlicher Autoren. In diesem Sinn steht sie in der Nachfolge von Silvia Bovenschens literaturwissenschaftlicher Studie Die imaginierte Weiblichkeit (1979), die seit den 1980er Jahren etliche feministische Untersuchungen zu Weiblichkeitsbildern angeregt hat. Was den Begriff des Weiblichkeitsbildes (ebenso auch des Männlichkeitsbildes) betrifft, ist Bovenschens Ansatz in der jüngeren Gender-Forschung verstärkt kritisiert worden (vgl. Nieberle 2010). Dem Konzept des Weiblichkeitsbildes liegt die Vorstellung zugrunde, dass ein ›Abbild‹ ein ›Vorbild‹ repräsentiere. Dem wird kritisch entgegengehalten, dass es immer wieder neu zu verhandeln gilt, ob und auf welche Weise eine bestimmte Figur mit einer bestimmten geschlechtlichen Identität in Verbindung gebracht wird. Alternativ eignet sich eher das Konzept der Geschlechterperformanz, um dem Prozesscharakter des Weiblichen oder Männlichen gerecht zu werden (siehe Kap. 19 in diesem Band). Auch wenn Unseld an dem vergleichsweise starren Begriff des Weiblichkeitsbildes festhält, kann sie durch ihre ausgedehnte Einbeziehung des kulturellen Kontexts den kulturhistorischen Erkenntniswert des Konzepts aufzeigen. Durch diese Kontextualisierung gelangt sie zu schlüssigen Identifikationen bürgerlicher Weiblichkeitsbilder um 1900; erst vor diesem Hintergrund erfährt auch ihr Close Reading von Debussys Pelléas et Mélisande, in dem sie dem Geschlechterverhältnis der fiktiven Figuren bis in textliche und musikalische Details nachspürt, seine kulturgeschichtliche Relevanz. Insofern lässt sich ihr Ansatz nicht durch weitere Close Readings auf
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andere Gegenstände übertragen, sondern dies würde erfordern, auf gleichermaßen umfassende Weise die Geschlechterdiskurse im Kontext von Produktion und Rezeption der zu untersuchenden Musik zu erschließen. Unseld ist seit 2008 Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und vertritt derzeit eine Professur am Forschungsinstitut Musik und Gender der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Florian Heesch Textvorlage Melanie Unseld: Mélisande geht: Das lange Sterben einer femme fragile. In: »Man töte dieses Weib!« Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende. Stuttgart 2001, 131–148 [Auszug].
Weitere Veröffentlichungen von Melanie Unseld Mozarts Frauen. Begegnungen in Musik und Liebe. 3. Aufl. Reinbek 2006. [Zus. mit Nina Noeske, Susanne Rode-Breymann:] Art. Gender Studies. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2. neubearb. Ausgabe. Hg. von Ludwig Finscher. Supplement-Band. Kassel, Stuttgart 2008, 239–251. [Als Hg., zus. mit Annette Kreutziger-Herr:] Lexikon Musik und Gender. Kassel, Stuttgart 2010 [2010 a]. Art. Femme fatale / Femme fragile. Ebd., 517–518 [2010 b]. (Auto-)Biographie und musikwissenschaftliche Genderforschung. In: Rebecca Grotjahn, Sabine Vogt (Hg.), Musik und Gender. Grundlagen – Methoden – Perspektiven. Laaber 2010 (Kompendien Musik 5), 81–93 [2010 c].
Weiterführende Literatur Abbate, Carolyn: Opera; or, the Envoicing of Women. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993, 225–258 [siehe Kap. 14 in diesem Band]. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a.M. 1979. Sonderausgabe ebd. 2003. Bronfen, Elisabeth: Liebestod und Femme fatale. Der Austausch sozialer Energien zwischen Oper, Literatur und Film. Frankfurt a.M. 2004. Großmaß, Ruth, Christiane Schmerl (Hg.): Leitbilder, Vexierbilder und Bildstörungen. Über die Orientierungsleistung von Bildern in der feministischen Geschlechterdebatte. Frankfurt a.M. 1996. Herr, Corinna: Medeas Zorn. Eine ›starke Frau‹ in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts. Herbolzheim 2000. Nieberle, Sigrid: Art. Weiblichkeitsbilder. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 515–517.
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Trepp, Anne-Charlott: Diskurswandel und soziale Praxis. Zur These von der Polarisierung der Geschlechter seit dem 18. Jahrhundert. In: Rebecca Grotjahn, Freia Hoffmann (Hg.), Geschlechterpolaritäten in der Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts. Herbolzheim 2002, 7–17.
Ausgewählter Text Mélisande geht: Das lange Sterben einer femme fragile Schweigende Musik »Die Seelen pendeln in der Stille wie das Gold oder die Münze in klaren Wasser sich wiegt, und die Worte, die wir sprechen haben nur dank des Schweigens, in das sie eingebettet sind, einen Sinn.« Maurice Maeterlinck1
Die Stille ist nicht nur ein akustisches Phänomen, sondern auch ein philosophisches. Denn sie kann Reflex auf das sein, was als Unsagbar gilt und ist damit Antwort auf metaphysische Fragen.2 Es ist darum mehrdeutig, wenn Philippe Ariès über [Claude] Debussys Mélisande schreibt: »Mélisande war fraglos eine der ersten, die sich, um mit Jankélévitch zu sprechen, ›pianissimo und gleichsam auf Zehenspitzen‹ davonmachten.« 3 Bevor aber das metaphysische Potential der Stille erkennbar wird, bleibt die Frage: Wie ist Schweigen komponierbar? Debussy setzte seine Idee von der »musique de silence« verschiedentlich um, von der »dramaturgie de silence« und den sich verweigernden, verschwiegenen Themenarabesken war bereits die Rede. Eine dritte Möglichkeit ist das explizite Schweigen: das Schweigen des Orchesters, während eine Person singt, und das absolute Schweigen, die Generalpause. Debussy kombiniert nicht selten diese beiden Phänomene »auskomponierter Stille«, Generalpausen sind häufig in eine Passage unbegleiteten Singens eingebettet, das Motiv der Stille in diesen Augenblicken verstärkend. 1 Maurice Maeterlinck: Pages choisies. Paris 1955, 40 (Übersetzung: Melanie Unseld). 2 Zu Hintergründen und philosophischen Prämissen vgl. vor allem Vladimir Jankélévitch: Debussy et le mystère. Neuchâtel 1949 und La musique et l’ineffable (1961). Paris 1983; David A. White: »Echoes of Silence. The Structure of Destiny in Debussy’s ›Pelléas et Mélisande‹«. In: Music Review 41, 1980, 266–277; Theo Hirsbrunner: Debussy und seine Zeit. Laaber 1981 [...] u.a. 3 Philippe Ariès: Geschichte des Todes. Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Horst Henschen und Una Pfau. München 1982, 732.
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Diese Momente durchziehen die gesamte Pelléas-Partitur,4 geben ihr ein Gerüst und markieren dabei fünf inhaltliche Schwerpunkte: sie charakterisie ren Mélisande und ihre Symbole, sie verweisen auf die Beziehung zwischen Mélisande und Pelléas sowie auf Golauds Eifersucht, sie stellen Golaud als Gebieter und Herrscher dar, sie dokumentieren die schwierige Diskussion um die Wahrheit und schließlich sind sie eng mit dem Tod verwoben. Dazu einige Beobachtungen en detail. Die Generalpausen der Oper – die markantesten Punkte der auskompo nierten Stille – tauchen an den Schlüsselmomenten der Dreiecksbeziehung auf. Sie begleiten die Entwicklung und Steigerung von Golauds Eifersucht, markieren den Höhepunkt der Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande, wobei vor allem die Todesnähe dieser Liebe durch die Generalpausen zum Ausdruck kommt, und kommentieren schließlich das Sterben von Mélisande selbst. [...] Die letzten Generalpausen stehen im fünften Akt der Oper, in jenem langen Sterben Mélisandes. Zunächst kündigt eine Generalpause Golaud an. Bislang sprach Mélisande mit Arkel, dann bemerkt die Kranke eine weitere Person, aber Arkel stockt, ihr den Namen Golauds zu nennen: »Es ist… [GP] du brauchst dich nicht zu fürchten.« Arkel ist besorgt, daß die Anwe senheit Golauds Mélisande zu sehr – vielleicht sogar zu Tode – erschrecken könnte. Aber Mélisande möchte Golaud sehen, mit ihm sprechen. In ihrem anschließenden Dialog geht es einmal mehr um die Wahrheitsfindung: Go laud insistiert auf seiner Frage, was zwischen Pelléas und Mélisande vorgefal len sei. Dabei will er Mélisande jedoch keine Möglichkeit mehr geben, ihm die Antwort schuldig zu bleiben oder gar eine Schuld zu leugnen: »Sag’ ja, [GP], ja, ja [GP].« (4./5. Takt nach Ziffer 18) Mélisande soll endlich den Grund seiner Eifersucht bestätigen. Golaud kann an keine andere Antwort glauben, da er sonst seinen Halbbruder umsonst getötet und damit eine große Schuld auf sich geladen hätte. Und so fragt er nicht mehr wirklich nach der Wahrheit, sondern nur noch nach seiner Wahrheit, derjenigen nämlich, die ihn von aller Schuld freispricht. Daß es auch eine tödliche Wahrheit ist, spricht die Musik, oder vielmehr ihre Generalpausen aus: Mélisande stirbt nicht an der kleinen Verletzung, die ihr Golaud zugefügt hat, sie stirbt an Golauds Sicht der Wahrheit. Und so versiegen die letzten, von Mélisande gesungenen Worte ebenfalls in einer Generalpause (2. Takt vor Ziffer 29). »Die unverstandene Einsamkeit des Weibes, für die der Mann blind ist, ob 4 [Unseld zitiert nach folgender Ausgabe: Claude Debussy: Pelléas et Mélisande. Drame lyrique en 5 Actes et 12 Tableaux de Maurice Maeterlinck. Orchesterpartitur. Paris: Durand 1904. Nachdruck 1957.]
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er sich gewalttätig oder demütig seinem Gegenüber nähert – das ist der letzte, resignierte Schlußstrich, den das Jahrhundert unter den Kampf der Geschlechter setzt.«5 Die vom Orchester unbegleiteten Passagen schließen sich in ihrer inter pretatorischen Dimension direkt an den Bedeutungsradius der Generalpausen an. Vor allem die Figur der Mélisande steht dabei im Vordergrund, aber auch die Aspekte Tod und Wahrheit. Denn während Pelléas’ Figur oft in breiteren instrumentalen Bildern dargestellt wird, ist das Orchestertacet ein ständiger Begleiter von Mélisandes musikalischer Charakteristik. Ihr »Leitmotiv« scheint die Verweigerung des (Orchester-)Klangs zu sein. So wird der erste Auftritt Mélisandes, Golaud findet Mélisande mitten im Wald am Rand der Quelle, mit diesem Moment der Stille verbunden. Zu Golauds Worten: »Oh! oh! Wer sitzt dort am Wasser? Ein kleines Mädchen sitz[t] am Wasserrand und weint. Es hört mich nicht« (nach Ziffer 6) schweigt das Orchester. Auch im weiteren Verlauf der Szene wird das Orchestertacet immer wieder für die Beschreibung von Mélisandes Wesen eingesetzt: Wenn sie Golaud verbietet, sie zu berühren, wenn er nach ihrer Flucht fragt und nach ihrer Herkunft. Auch in der zweiten Szene, wenn Geneviève diese Szene in Form von Golauds Brief nochmals nacherzählt, schweigt das Orchester zur Erwähnung von Mélisandes Weinen: »…und sie schluchzte so herzergreifend, daß man Angst bekam.« Weitere Charaktermerkmale und die Mélisande zugeordneten Symbole werden durch ein Orchestertacet begleitet: das Haar (II/1), der Brunnen, an dem Mélisande gefunden wurde (II/1), der verlorene Ring (II/1), das Weinen (I/1 und II/2), ihre Fragilität und Schwäche (II/2 und V), das Nicht-Berührt-Werden-Wollen (I/1 und II/1) und ihre Angst (II/2), die clarté des Himmels (II/2), ihre Schweigsamkeit (IV/1), schließlich selbst ihre Stimme (IV/4). Zentral ist in diesem Zusammenhang Mélisandes Gesang zu Beginn der Turmszene (III/1): Die kurze instrumentale Einleitung, die einen einstim menden ornamentalen Teppich auszubreiten scheint, bricht völlig ab, und nach einer kurzen Weile hebt Mélisandes Gesang an, modéré et librement, ungebunden, scheinbar ohne jegliche Erdenschwere. Sie singt frei und asso ziativ von ihren Haaren, von ihren christlichen Schutzpatronen und von ihrer Geburtsstunde: Sonntagmittag. Als Zuschauer erlebt man Mélisande zu keinem anderen Zeitpunkt der Oper so frei und ungezwungen, so beschwingt und fast heiter – in diesem Moment scheint sie wirklich ein »Sonntagskind« zu sein. Mélisande singt von sich selbst, und gerade das ist das Besondere. 5 Werner Hofmann: Das Irdische Paradies. Kunst im neunzehnten Jahrhundert. München 1960, 330.
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Bislang – und auch im folgenden – wich sie fast jeder Frage nach ihrer Identität, nach ihrer Herkunft und ihrem Wesen aus. Hier aber äußert sie sich ganz ungebunden zu ihrer eigenen Person. Bedeutsam ist für diesen Moment, daß sie auch ungebunden vom Orchester singt. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird deutlich, daß der vom Orchester unbegleitete Gesang – neben jener Themen-Arabeske, die als melodisches Material der Sphäre Mélisandes zugeordnet ist –, die auskomponierte Stille als wesentliches musikalisches Gestaltungsmerkmal für Mélisande gedacht ist. Der vom Orchester unbegleitete Gesang ist unschwer auch als Todes symbol in Pelléas zu erkennen. Ein erstes Mal tauchen Anzeichen für diesen Bedeutungsgehalt bereits im ersten Akt auf: In der zweiten Szene werden zwei Briefe thematisiert. Der erste ist von Golaud verfaßt, berichtet von der Begegnung und der Heirat mit Mélisande, Geneviève liest ihn vor. Der an dere Brief ist an Pelléas andressiert. In ihm erfährt Pelléas von der tödlichen Erkrankung seines Freundes Marcellus. Es erscheint wie ein dezenter Hinweis auf diese Interpretationsebene, wenn Pelléas – ohne Orchesterbegleitung – von »einem anderen Brief« singt. Im dritten Akt dann findet sich ein weiteres Mal das Orchestertacet als Todessymbol: Nach der schaurigen und mit zahlreichen anderen Todessymbolen versehenen Szene in den Gewölben (III/2) atmet Pelléas in der folgenden Szene auf der Terrasse auf. Die Erinne rungen an die dunklen und modrigen Gewölbe jedoch machen ihm weiterhin Angst. Und wieder schweigt das Orchester, wenn er resümiert, daß er dort unten – nicht ganz ohne Golauds Schuld – beinahe tödlich verunglückt wäre: »Ich wäre beinahe hinuntergefallen.« Nachdem sein Vater gesundet ist, darf Pelléas endlich zu seinem todkranken Freund fahren. Dieses Wegfahren bedeutet nun aber die schmerzliche Trennung von Mélisande, so daß sich hier bereits zwei Todessymbole kreuzen: der sterbende Freund und der Abschied von Mélisande. Aber auch Pelléas selbst beschleicht eine Todesahnung. Als er sich mit Mélisande zu einem letzten Treffen verabredet (IV/1), spricht er davon, daß sie ihn vielleicht nie mehr wiedersehen wird. Mélisandes Replik hierauf ist wiederum ohne Orchesterbegleitung: »Sag’ so etwas nicht, Pelléas … Ich werde dich immer sehen.« Sie bannt die Todesahnung und ihre Angst davor, indem sie von der Unendlichkeit ihrer Liebe spricht. Das Orchester jedoch interpretiert ihre Aussage durch sein Schweigen als das, was es ist: ein Todessymbol. [...] Schließlich dient der unbegleitete Gesang als musikalisches Symbol für die schwierige Frage nach der Wahrheit. Nach Peter von Matts Definition geht es beim Liebesverrat stets um die Konfrontation zweier Ordnungssysteme, zweier Wahrheiten: »Die Grundtatsache einer andern Ordnung, die sich früher oder später gegen die Ordnung der Andern richtet, gehört zwingend zur
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Dramaturgie der verbotenen Liebe.«6 Für die literarische Tradition des Motivs aber gelte die Maxime: »Wer liebt, hat recht«.7 Die Konfrontation der beiden Wahrheiten wird von Golaud angesprochen. Er ist es, dem es um die »nackte Wahrheit« geht, immer ist er der Fragende, er braucht Gewißheit. Gleichzeitig ist er in seinem Wertesystem derart ge fangen, daß er von dieser Gewißheit abhängig ist. Dieses Eingeschlossensein innerhalb des eigenen Wertesystems macht es ihm unmöglich, ein anderes System zu begreifen. Er fragt zwar nach, aber er begreift nicht, was außerhalb seines Horizonts liegt – darin liegt seine Tragik. Mit Mélisande kommt das andere Wertesystem in seine Welt, und obwohl er zunächst von der Andersartigkeit fasziniert ist, kann er weder aus seinem System heraus noch Mélisande für sein System einnehmen: »Von einem Rätsel der Frau zu sprechen und zu versuchen, dieses Rätsel zu lösen, ist ein eindeutig männlicher Ansatz, Frauen hingegen kümmern sich nicht um die Wahrheit schlechthin, sie sind zutiefst skeptisch; sie wissen genau, daß es ›die‹ Wahrheit nicht gibt, daß es hinter ihren Schleiern noch einen weiteren Schleier gibt und daß, wenn man einen nach dem anderen lüften würde, doch niemals eine Göttin, die ›nackte‹ Wahrheit, erschiene.«8 Die sich entwickelnde Konfrontation der beiden Wahrheitssysteme, die schrittweise durch die Oper verfolgt werden kann, kulminiert in Mélisandes Sterbeszene, in der Golaud immer wieder nach der »Wahrheit« fragt. Ihm wird es bis zum Schluß nicht gelingen, mit dem Unbenennbaren, das Méli sandes Wahrheit ausmacht, zu leben. Denn Golaud ist zum einen Repräsen tant des (zeitgenössischen) Rationalismus, zum anderen verkörpert er die Väter-Generation9 – im Vergleich zu Mélisande, der femme enfant, und Pelléas, dem wesentlich jüngeren Halbbruder. Als Vaterfigur ist Golaud Hüter der Elterntradition, deren Aufgabe es jedoch ist, »dafür (zu) sorgen oder doch mit allen Mitteln danach (zu) streben, daß gegen diese Regel (des Ehebundes) nicht verstoßen wird. Je schärfer aber der Konflikt zwischen den jungen Leuten und den realitätsbewußten Elterninstanzen wird, umso
6 Peter von Matt: Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur. München 1994, 65. 7 Ebd., vgl. etwa S. 21: »Wer liebt, hat recht. So wenig sich das Axiom begründen läßt, ja so sehr man die Formel mit guten Argumenten in ihr Gegenteil verkehren könnte (…), so unbezweifelbar macht doch der Grundsatz als unmittelbare Erfahrung die Mitte aller Liebestragödien aus, bestimmt er die charakteristische Spannung zwischen unvereinbaren Handlungsnormen«. 8 Sarah Kofman: L’énigme de la femme. La femme dans les textes de Freud. Paris 1980, 123f. (Übersetzung: Melanie Unseld). 9 Die Weisheit des Alters (Arkel) besitzt er noch nicht, Mélisande entdeckt jedoch gleich in der ersten Szene »les cheveux gris« [d.i. »die grauen Haare«] an Golaud.
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deutlicher zeigen sich krisenhafte Tendenzen in diesem System der sauberen Trennung.«10 Diese literarische Grundkonstante, wie sie Peter von Matt beschreibt, spitzt sich bei Pelléas insofern zu, als der Ehebund zwischen zwei Generationen geschlossen wird, der Liebesbund aber in einer Generation verbleibt. Für Golaud geht – trotz seines eingegrenzten Wahrheitsverständnisses – von dem schweigenden Gegenüber, der »anderen« Wahrheit Mélisandes, eine besondere Faszination aus. Golaud war von ihr eingenommen, als er – ganz gegen die rationale Entscheidung der politischen Heirat, die Arkel für ihn vorgesehen hatte, handelnd – Mélisande heiratete: »Ergriffen von dem NichtBegreifbaren erlebt der Mensch seine Abhängigkeit. […] Es ist ein Gefühl des Schauers, der von Empfindungen der Erregung, des Rausches oder gar der Ekstase begleitet werden kann.«11 Dieses komplexe Netz von Wahrheit und Gegenwahrheit, von Eigenem und Fremdem, von Begreifbarem und Unbegreiflichem, wird durch Orchestertacets begleitet. Zunächst in der Szene am Brunnen (II/2), nachdem der Ehering Mélisandes in den Brunnen gefallen ist, und sie sich fragt, wie sie diesen Verlust Golaud erklären soll. Pelléas rät ihr, die Wahrheit zu sagen. Die wiederholten Worte »die Wahrheit«, ohne grundierendes Orchester gesungen, stehen dabei seltsam fremd in der zuvor und danach motivreichen Partitur. In der folgenden Szene nun bemerkt Golaud den Verlust und fragt Mélisande fast verhörartig aus, wie, wo und warum sie ihn verloren habe. Mélisande verstrickt sich bei ihren Erklärungen in Halbwahrheiten – sie folgt nicht Pelléas’ Rat, die Wahrheit zu sagen. Scheinbar in Gedanken daran aber unterstreicht sie ihre Version der Wahrheit mit »…unbestreitbar…«, das Orchester schweigt dazu. [...] Die Momente der »musique de silence« intensivieren sich im Verlauf der Oper. Als Kulminationspunkt ist der gesamte fünfte Akt zu beschreiben. Dieser hat nur ein Ereignis zum Thema, Mélisandes Sterben. Ihr Tod – obgleich er ein Liebestod par excellence ist – ereignet sich in denkbar reduzier-
10 von Matt: Liebesverrat (wie Anm. 6), 68. Hinzu kommt, daß sich die Ehe als literarisches Motiv zumeist in der Schablonenfunktion befindet, gegen deren Hintergrund sich die außereheliche Liebe abheben kann: »Die Ehe in Literatur und allgemeinem Bewußtsein [ist] so ohne Glanz und Splendeur […]. Eine tragisch radikale Liebesmystik ziehe sich geheim und geheimnisvoll durch die Jahrhunderte europäischen Denkens und Gestaltens. Sie ziele nicht auf körperfröhliche Vereinigung, nicht auf die lustigen Spiele der Leiber, nicht auf Kinderzeugen und -nähren und -großbringen, sondern auf die höchste und endgültige Ekstase im Liebestod« (ebd., 70). 11 Ebd., 11.
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tester Stille. Man denke als extremen Kontrast dazu an Isoldes klang- und wortreichen Liebestod! Vorbereitet wird dieses lange Sterben Mélisandes jedoch durch die in der Partitur fixierten Momente der Stille, deren symbolische Bedeutung alle einen mehr oder weniger direkten Hinweis auf den Tod der femme fragile geben: Die andere Welt, aus der sie kommt und für deren Wahrheitsgehalt sie steht, ihre Hilflosigkeit gegenüber der dunklen Welt von Allemonde, ihren Regelverstoß gegen Golauds Ordnung, an der sie letztlich sterben wird. Und wiederum scheint Peter Altenbergs poetische Definition der femme fragile der Figur der Mélisande und der von Debussy mit der »musique de silence« ausgestatteten Handlungs- und Symbolebenen aufs Treffendste gerecht zu werden. Altenbergs Charakteristik der »Endgebilde« spitzt sich in Debussys Oper zu: Zwar ist auch Mélisande die Prinzessin für eine bessere, zartere Welt, gleichzeitig ist ihr Wesen Zeichen dafür, daß das Schweigen am Ende des 19. Jahrhunderts, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, eine besondere Tragik bereithält. Franz Kafka hatte über die Sirenen, jene gefährlich-singenden Frauen der Odyssee, sinniert: »Nun haben aber die Sirenen eine noch schreck lichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen.«12 Und tatsächlich reagiert dieses Nachdenken über Gesang und Verstummen des so eminent weiblichen Mythos auf eine Krisis, die – geschlechtsunspezifisch – die Philosophen und Künstler erfaßt hatte. Es ist das Schweigen vor dem Unbe greiflichen, das mit einer selbstbewußten und wissenschaftlich sich definie renden Gesellschaft konfrontiert ist, deren rationale Durchdringung metaphysischer, psychologischer und anderer Bereiche der Künstler nicht nachvollziehen kann. Einer dieser Bereiche ist der Tod. Maeterlinck bezeichnet das Leben selbst als »Geheimnis«, das sich erst im Moment des Todes entschlüsseln läßt: »Das Leben ist ein Geheimnis, der Tod ist der Schlüssel, der es öffnet. Aber derjenige, der den Schlüssel im Schloß um dreht, verschwindet für immer in dem Geheimnis«.13 Den Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses erlangt nur derjenige, der stirbt, die Hinterbliebenen in großer Ratlosigkeit – und eben im Schweigen – zurücklassend. Die femme
12 Franz Kafka: Gesammelte Werke. Hg. von Max Brod. Bd. 6: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt a.M. 1976, 58. Vgl. dazu auch Renate Schlesier: »Das Schweigen der Sirenen«. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.), Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit. Berlin 1992, 284–294. 13 Maurice Maeterlinck: Pages choisies. Paris 1955, 80 (Übersetzung: Melanie Unseld).
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fragile aber ist prädestiniert, Unaussprechliches und Zerbrechliches als Gegensatz zu vitalistischem Realismus darzustellen.14 [...] Mélisandes späte Nachfolgerin Den langen Weg aus der Gesellschaft heraus, hin zum Tod wird fast sechs Jahrz ehnte nach Debussys Mélisande auch Ingeborg Bachmanns Undine beschreiten: In ihrer Erzählung Undine geht schildert Bachmann in sehr ver wandter Weise den Weg einer Außenseiterin, deren Liebe nicht mit den moralischen Kodizes der Gesellschaft konform ist, die dadurch scheitert und in diesem Scheitern verstummt.15 Auch Bachmann geht es um die Wahrheit, 14 Denkbar ist auch die Umkehr der Geschlechterrollen, der homme fragile, der sich der (über) mächtigen Weiblichkeit gegenübersieht (vgl. hierzu Peter Gay: Erziehung der Sinne. Sexualität im bürgerlichen Zeitalter. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fließbach. München 1986, 187ff., Mechthild Fend: »Femme fatale« und »homme fragile« bei Gustave Moreau. Masch. schr. Magisterarbeit. Univ. Hamburg 1987, mit einem Beispiel aus der Bildenden Kunst: Gustave Moreau). Der Tod, als Kulminationspunkt dramatischen Geschehens wie auch als existentiell menschliche Frage an der Grenze metaphysischer wie religiöser Selbstgewißheit, nimmt in beiden Konstellationen eine zentrale Funktion ein. An diesem Punkt jedoch unterscheidet die Geschlechterdichotomie die musikalische Interpretation des Todes: während die femme fragile – Mélisande ist dabei deutlichstes Beispiel – im Decrescendo aus dem Leben geht, wird der homme fragile selten in der Stille des Nichts zurückgelassen, häufig dagegen in die (auch) klangliche Macht der femme fatale mit einbezogen. 15 Die Erzählung wurde erstmals 1961 veröffentlicht, und zwar bezeichnenderweise nicht in schriftlicher Form, sondern als Hör-Erzählung. Peter von Matt (Liebesverrat, wie Anm. 6, 241) charakterisiert: »Der Text ist eine Erzählung, die fast ein Gedicht, ist ein Gedicht, das fast ein Monodram ist.« (Aufnahme des BR München vom 17. März 1961). Das Motiv des Weggehens wird dabei – deutlicher als in der schriftlichen Form – mit dem Motiv des allmählichen Verstummens kombiniert. Die letzten Sätze der Erzählung (s. Zitat unten) werden in ihrer Struktur immer weiter ausgedünnt, bis schließlich nur noch die lockende Aufforderung des »Komm« zurückbleibt. Das Auslaufen des erzählerischen Textes in eine verknappte lyrische Form reflektiert auch eine Sprachkrise und Sprachlosigkeit, wie sie sich – wie erwähnt – ähnlich in den Ideen der Symbolisten findet. Peter von Matt beschrieb eine Ähnlichkeit zwischen Fouqués Undine und Bachmanns Erzählung, wobei die bestehenden Beziehungen über das hinausgingen, »was man Motivtradition und literarische Beeinflussung nennt. Sie sind jeweils in fast krasser Art typisch für ihre Epoche.« (Matt: Liebesverrat, wie Anm. 6, 230) Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich der literarische Vergleich zweier Texte uneingeschränkt durch Debussys Oper zu einem Dreiklang aus Literatur und Musik erweitern. (Zur Analyse des Bachmann-Textes vgl. auch Ortrud Gutjahr: »Ironisierter Mythos? Ingeborg Bachmanns ›Undine geht‹«. In: Irmgard Roebling [Hg.], Sehnsucht und Sirene: vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien. Pfaffenweiler 1992, 217–244). Anregungen zu diesem Vergleich verdanke ich der Lektüre von Peter von Matts Analyse der Erzählung von Bachmann (Liebesverrat, wie Anm. 6, 240ff.).
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die sich nur im Abschied der Undinen-Figur erschließt: »Nie hat jemand so von sich selber gesprochen. Beinahe wahr. Beinahe mörderisch wahr. […] Die Welt ist schon finster […]. Keine Lichtung wird sein. […] Ich bin unter Was ser. Bin unter Wasser. Und nun geht einer oben und haßt Wasser und haßt Grün und versteht nicht, wird nie verstehen. Wie ich nie verstanden habe. Beinahe verstummt, beinahe noch den Ruf hörend. Komm. Nur einmal. Komm.«16
Undines langer Monolog, endend in einer lyrischen Sprachverknappung, ist an eine fiktive männliche Person gerichtet – sie könnte Golaud heißen, Bachmann nennt sie Hans: »Immer wenn ich durch die Lichtung kam und die Zweige sich öffneten, wenn die Ruten mir das Wasser von den Armen schlugen, die Blätter mir die Tropfen von den Haaren leckten, traf ich auf einen, der Hans hieß. Ja, diese Logik habe ich gelernt, daß einer Hans heißen muß, daß ihr alle so heißt, einer wie der andere, aber doch nur einer.«17 War für Golaud und Mélisande der Wahrheitsbegriff unüberwindlicher Scheidepunkt, so spielt Bachmanns Undine mit dem Begriff Verrat. Aber auch hier erhält dieser Begriff eine doppelte Bedeutung: der Verrat, den der Mensch Hans an seiner »Welt« begeht, indem er sich auf Undine einläßt, und der Verrat, den der Mensch Hans an Undine begeht, als er sie verläßt. Auch hier changiert ein einzelnes Wort zwischen unterschiedlichen Wertigkeiten, sogar zwischen zwei konträren Bedeutungen. Denn was für Undine Verrat ist, ist in der Welt von Hans Recht, und was für Undine Recht wäre, bedeutet für Hans’ Welt Verrat. Bachmann verknüpft dabei virtuos die begrifflichen Ebenen und widersprüchlichen Bedeutungen von Wahrheit, Verrat und Liebe, so daß sich selbst der Leser vor den »tückisch ausgelegten Fußangeln« (Peter von Matt) im Text hüten muß. Beim Lesen verschwimmen die eindeutigen Bedeutungen der Worte, die Sprache selbst wird zum instabilen Untergrund, auf dem Undine und Hans ihren Konflikt auszutragen versuchen. Der Monolog Undines ist ein Abschiedsgesang, in dem sich Undine von der Menschen-Ungeheuer-Welt verabschiedet, die logische Sprache der Men schen ablegt und in ihr eigentliches Element zurückkehrt. Dabei wird eine 16 Ingeborg Bachmann: »Undine geht«. In: Dies., Werke in vier Bänden. Hg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. München, Zürich 1993, Bd. 2, 253–263, Zitat: 262f. 17 Ebd., 253.
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Bogenform umschrieben: Undine erscheint und wendet sich Hans zu, der darüber seine Welt verrät. Doch dann wendet sich Hans – von Undines An dersartigkeit irritiert – ab, kehrt zu seiner Ordnung zurück. Undine geht, nicht ohne ihren Abschiedsmonolog mit der paradoxen Hinwendung zu dem zu beenden, von dem sie weggeht – zu Hans. Auch Mélisande stieß einen solchen Kreislauf an. Zwar wird ihr Weggehen nicht mit einem neuerlichen Lockruf verknüpft, aber ihre Wesensart wird durch ihre gerade geborene Tochter weiterleben.18 »Jetzt ist die arme Kleine an der Reihe«, lauten Arkels Schlußworte. Und so nimmt es nicht Wunder, daß der dramaturgische »Zirkel« der Erzählung Bachmanns sich erstaunlich paßgenau auf Debussys Operndramaturgie übertragen läßt. Bachmanns Undine erprobt auch die Verweigerung gegenüber dem menschlichen System von (Schein-)Moral, den Gesellschaftsreglements und der Sprache. Sie wehrt sich schließlich gegen »die Benennungswut der Mo derne«.19 Heißt es doch bei Rilke: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.20
Auch Debussy, Maeterlinck, Ludwig Wittgenstein, den Symbolisten und vie len anderen war das eingrenzende, einengende Benennen suspekt gewesen. Und Bachmanns Undine steht in ihrer Tradition, wenn sie sagt: »All diese Worte wird es nicht mehr geben, und ich sage euch vielleicht, warum. Denn 18 Hierin unterscheiden sich Mélisande und Bachmanns Undine, die von sich sagt: »Ich habe keine Kinder von euch« (ebd., 254). 19 Vgl. auch Christoph Wulf: »Präsenz des Schweigens«. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.), Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit. Berlin 1992, 7–16. 20 Aus: Mir zur Feier (1909). In: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn. Wiesbaden 1955, 194f.
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ihr kennt doch die Fragen, und sie beginnen alle mit ›Warum?‹. Es gibt keine Fragen in meinem Leben. Ich liebe das Wasser, seine dichte Durchsichtigkeit, das Grün im Wasser und die sprachlosen Geschöpfe (und so sprachlos bin auch ich bald!)« Und später: »Alles hast du mit den Worten und Sätzen gemacht, hast dich verständigt mit ihnen oder hast sie gewandelt, hast etwas neu benannt; und die Gegenstände, die weder die geraden noch die ungeraden Worte verstehen, bewegten sich beinahe davon. Ach, so gut spielen konnte niemand, ihr Ungeheuer! Alle Spiele habt ihr erfunden, Zahlenspiele und Wortspiele, Traumspiele und Liebesspiele.«21 In diesem Sinne sind Bachmanns Undine und Debussys Mélisande Seelenverwandte. Die beiden Gehenden verlassen die Welt der rigiden Ordnungen und personifizieren damit eine neue Art von (einsamem) Liebestod.
21 Bachmann: »Undine geht« (wie Anm. 16), 254 und 262. Die verwandtschaftlichen Beziehungen, die zwischen Bachmanns Undine und Debussys Mélisande bestehen, ließen sich fortsetzen.
10. Rockmusik Simon Frith und Angela McRobbie: Rockmusik und Geschlechtlichkeit (1978/1990) Einleitung Unter dem Titel Rock and Sexuality veröffentlichten Angela McRobbie und Simon Frith den im Folgenden zitierten Aufsatz bereits 1978 in der Zeitschrift Screen Education (29. Jahrgang). Der Text steht exemplarisch für den Beginn der Auseinandersetzung mit Gender-Fragen in Forschungen zu populärer Musik, ist jedoch nicht nur eine Pionierarbeit, sondern hat sich durch zahlreiche, auch kritische Bezugnahmen bis heute als ein Schlüsseltext zum Thema ›Rockmusik und Gender‹ behauptet (vgl. auch Middleton, Kap. 15 in diesem Band). Innerhalb dieses Readers zählt er nach Judith Rosens Beitrag von 1973 zu den frühesten Musik-und-Gender-Studien. Wie schon der Titel erkennen lässt, finden Frith und McRobbie indessen auf ganz anderem Weg zu Gender-Fragen als Rosen oder auch – wenig später – Eva Rieger (siehe Kap. 4 und 1 in diesem Band). Während diese sich kritisch mit dem damaligen Stand der Historischen Musikwissenschaft und ihrer Orientierung an den klassischen Meisterwerken einiger ›großer Männer‹ auseinandersetzten, knüpften Frith und McRobbie an die in den 1960er Jahren entstandenen Cultural Studies an, die sich bereits einem weit gefassten Kulturbegriff verschrieben und sich insbesondere Untersuchungen der Populärkultur bzw. jugendlicher Subkulturen gewidmet hatten. Musik wird hier als Teil eines gemeinschaftsbildenden und zugleich abgrenzenden Stils von Jugendlichen gesehen, zu dem auch Kleidung, Frisuren, bestimmte Orte usw. gehören. Als Teil jugendlicher Kulturpraktiken geht es dabei weniger um musikalische Artefakte als um den Konsum von Musik. In diesem Sinn widmet sich Frith, Soziologe und Rockmusikkritiker, in späteren Untersuchungen, wie Performing Rites. On the Value of Popular Music (1996), u.a. der Frage, welche Aspekte beim Sprechen über populäre Musik relevant sind. In Bezug auf den Performanz-Aspekt beobachtet er, dass in Forschungen zur populären Musik gegenüber den Kunstwissenschaften relativ früh die Bedeutung des Aufführungsereignisses für die Musikkultur erkannt worden sei. Die Gender-Fragen, die er in diesem Kontext stellt, liegen von Studien zu klassischen Musikaufführungen und Gender nicht weit entfernt (siehe Kap. 17 im vorliegenden Band). Darin bestätigt sich, dass Gender-Forschungen zu klassischer und populärer Musik sich zwischen den 1970er und 1990er Jahren in ihren Ansätzen spürbar angenähert haben.
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Die britischen Cultural Studies erhielten mit dem 1964 von Richard Hoggart in Birmingham gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) eine institutionalisierte Verankerung. Einer ihrer prägenden Vertreter war Stuart Hall, der von Beginn an eine optimistische Sicht auf die Populärkultur vertrat.1 McRobbie kam als Studentin an das CCCS und trat als dessen profilierte Kritikerin hervor. Sie bemängelte, dass die am Centre betriebenen Subkulturstudien fast ausschließlich männlich dominierte Gruppen untersuchten, aber deren weibliche Mitglieder sowie eigene weibliche Subkulturen vernachlässigten (McRobbie, Garber 1978/1991). In eigenen Studien widmete sich McRobbie den Praktiken und Orten von Mädchenkulturen (McRobbie 1991, vgl. Winter 2010, 151f.). In ihrem gemeinsamen Essay über Rockmusik untersuchen McRobbie und Frith, inwiefern geschlechtliche Aspekte in verschiedenen Teilbereichen der Rockmusikkultur relevant sind: Dabei geht es ebenso um klingende Musik wie um das Image und die Bühnendarstellungen der Musikerinnen und Musiker, um den Konsum der Fans, u.a. in Form des Tanzens, sowie um sexuelle Sichtweisen auf die Stars. Unter dem übergreifenden Begriff der Geschlechtlichkeit (›Sexuality‹) behandeln Frith und McRobbie sowohl den Aspekt geschlechtlicher Identität (Gender) als auch den der Sexualität. Fundamental für ihre Analyse ist die dualistische Unterscheidung zwischen männlich assoziiertem ›Cock Rock‹ und weiblich assoziiertem ›Teenybop‹. ›Cock Rock‹ (wörtlich: ›Gockel-‹ oder ›Schwanz-Rock‹) bezeichnet die eher aggressiven Rockmusikformen mit expliziten Darstellungen männlicher Sexualität, ›Teenybop‹ umfasst Soft Rock und Balladen und thematisiert häufig romantische Liebe. Einerseits gelingt es Frith und McRobbie, mithilfe dieser Differenz die Dominanz von Männern bzw. Männlichkeit und männlicher Sexualität im Rock überhaupt erst einmal zu veranschaulichen. Andererseits muss der Dualismus zwangsläufig dazu führen, dass Widersprüche auftreten.2 Es spricht für die Weitsicht von Frith und McRobbie, dass sie in der zweiten Hälfte des Artikels ihre dichotome Gegenüberstellung von ›Cock Rock‹ und ›Teenybop‹ ansatzweise selbst problematisieren. Ganz im Sinn ihres soziologischen bzw. Cultural Studies-Ansatzes verweisen sie am Ende auf die Notwendigkeit, Freizeit und Alltag der Rock-Konsumierenden zu erforschen, um zu abschließenden Aussagen zu kommen. Damit nehmen sie die Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen über die Sexualität des Rock zu einem gewissen Grad zurück und heben zugleich die Anschlussfähigkeit ihres Ansatzes für spätere Studien hervor. 1 Hall trat 1964 als Hoggarts Stellvertreter in das Institut ein und veröffentlichte im selben Jahr gemeinsam mit Paddy Whannel das Buch The Popular Arts (London). 1968 übernahm Hall die Geschäftsführung des CCCS, 1972 wurde er Direktor. Siehe Winter 2001, 67–74. 2 Zur Problematik von Dualismen siehe Kap. 3 in diesem Band.
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Aus heutiger Perspektive bedarf Friths und McRobbies Verständnis von Rockmusik einiger Differenzierungen. Das liegt zunächst daran, dass wesentliche Neuerungen auf dem Gebiet der Darstellung von Geschlecht erst nach Erscheinen des Artikels auftraten. Dazu gehören zahlreiche ironische Bezugnahmen auf Geschlechteridentitäten in der populären Musik der 1980er Jahre durch Künstlerinnen und Künstler wie Madonna oder die Eurythmics.3 Mit der Riot grrrl-Bewegung der frühen 1990er Jahre traten lesbische Musikerinnen selbstbewusst und mit feministischer Attitüde auf, während Frith und McRobbie lesbische Identität im Verhältnis zu diversen männlichen Sexualitäten noch als völlig unterrepräsentiert bezeichnen mussten (vgl. Whiteley 1997, xxiii). Außerdem haben spätere Studien wichtige Aspekte der Konstruktion von Männlichkeit im Rock aufgezeigt, die bei Frith und McRobbie ungenannt bleiben, so die Bedeutung des Plattensammelns (vgl. Straw 1983/1990). Eine wichtige methodische Kritik betrifft das Verhältnis von Gender und Sexualität: Indem beides undifferenziert vermischt erscheint, wird das durchaus komplexe Verhältnis grob vereinfacht. Außerdem musste das auf Stereotypen und Dualismen basierende Bild von ›männlichem‹ ›Cock Rock‹ auf Kritik stoßen. Sheila Whiteley hat gezeigt, dass Mick Jagger, für Frith und McRobbie neben Led Zeppelin u.a. ein paradigmatisches Beispiel für den ›Cock Rock‹-Musiker, in seinen Bühnen-Performanzen deutliche androgyne bzw. bisexuelle Züge trägt. Susan Fast (2001) formuliert die Kritik in ihrer grundlegenden Auseinandersetzung mit der ›Cock Rock‹-Debatte noch schärfer. Sie betont zum einen die Mehrdeutigkeit in der Darstellung von Gender und Sexualität bei den Musikern von Led Zeppelin, insbesondere Robert Plant und Jimmy Page; zum anderen kontrastiert sie deren vermeintliche ›Cock Rock‹-Identität mit der Rezeptionsperspektive weiblicher Fans. Demnach wird die behauptete Vorherrschaft männlicher Sexualität im Rock dadurch infrage gestellt, dass Frauen ihr Fan-Sein mit ihrer eigenen Sexualität in eine positive Beziehung setzen können. Florian Heesch
Textvorlage Simon Frith, Angela McRobbie: Rock and Sexuality. In: Simon Frith, Andrew Goodwin (Hg.), On Record. Rock, Pop and the Written Word. London 1990, 371–390. Zuerst in: Screen Education 29 (1978). Wiederabdruck in: Simon Frith: Taking Popular Music Seriously: Selected essays. Ashgate Aldershot 2007. 3 Siehe Friths (1985) selbstkritischen Kommentar sowie den Beitrag von Middleton in diesem Band, Kap. 15.
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Weitere Veröffentlichungen von Simon Frith und Angela McRobbie Frith, Simon: Afterthoughts (1985). Reprint in Frith, Goodwin 1990, 419–424. Frith, Simon, Andrew Goodwin (Hg.): On Record. Rock, Pop and the Written Word. London 1990. Frith, Simon: Performing Rites. On the Value of Popular Music. Cambridge, Mass. 1996. McRobbie, Angela, Jenny Garber: Girls and Subcultures (1978). Reprint in: McRobbie 1991, 1–15. McRobbie, Angela: Feminism and Youth Culture. From »Jackie« to »Just Seventeen«. Basingstoke u.a. 1991.
Weiterführende Literatur Fast, Susan: In the Houses of the Holy. Led Zeppelin and the Power of Rock Music. Oxford 2001. Straw, Will: Characterizing Rock Music Culture. The Case of Heavy Metal (1983). Reprint in Frith, Goodwin 1990, 97–110. Whiteley, Sheila (Hg.): Sexing the Groove. Popular Music and Gender. London 1997. Winter, Rainer: Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Weilerswist 2001. Winter, Rainer: Fluchtlinien, Gender und Kultur. Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies. In: Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia WalkensteinerPreschl (Hg.), Screenings. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film. Wien u.a. 2010 (Mdw Gender Wissen 1), 145–160.
Ausgewählter Text Männlichkeit und Rockmusik Am Anfang jeder Analyse der Geschlechtlichkeit in der Rockmusik steht die Erkenntnis, dass Rockmusik in Bezug auf Kontrolle und Produktion eine männliche Kunstform ist. Die Musikindustrie wird von Männern betrieben; beliebte Musiker, Journalisten, Autoren, Techniker, Toningenieure und Produzenten sind zumeist männlich. Die weiblichen Rollen werden durch männliche Vorstellungen davon, was Frauen können, begrenzt und vermittelt. Wenn Frauen Karriere machen, dann fast immer als Sängerinnen; in der Musikindustrie arbeiten Frauen normalerweise im PR-Bereich; und in beiden Fällen geht der Erfolg von Frauen einher mit einem von Männern definierten Frauenbild. Das Image, die Werte und die Einstellungen, die in populärer Musik transportiert werden, sind alles in allem männliche Produkte. Jede bedeutende Position in der Rockmusik-Industrie ist von Männern besetzt, was dazu führt, dass weibliche Rock-Images von Männern geschaffen und konstruiert werden; es zeigt sich außerdem, dass in erster Linie ein männ-
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licher Stil präsentiert und vermarktet wird. Dabei wird uns nicht ein einziges, definitives Bild männlicher Sexualität geboten, sondern eine ganze Reihe männlicher sexueller Posen, die meist in Form von Stereotypen ausgedrückt werden. Um diese Stereotype zu untersuchen, ist es hilfreich zwischen ›Cock rock‹ und ›Teenybop‹ zu unterscheiden. Mit ›Cock Rock‹ meinen wir eine Form des Musikmachens, die auf einer expliziten, rohen und häufig aggressiven Darstellung männlicher Sexualität beruht – es handelt sich um die Art Rockmusik, die einen Rock’n’Roller wie Elvis Presley mit Rockstars wir Mick Jagger, Roger Daltrey und Robert Plant verbindet. Die Musiker des ›Cock Rock‹ sind aggressiv, dominant, angeberisch und ständig darum bemüht, ihr Publikum daran zu erinnern, dass sie heldenhaft alles unter Kontrolle haben. Diese Haltung tritt bei Live-Auftritten deutlich hervor; männliche Körper werden zur Schau gestellt mit weit ausgeschnittenen Shirts und engen Hosen bei visueller Betonung der Brustbehaarung und der Genitalien – die Verkaufszahlen des ›Cock Rock‹ hängen seit Jahren mit diesem Auftreten zusammen. In den USA ist der ›Concert Belt‹ im Mittleren Westen zum notwendigen Startpunkt für ›Cock Rock‹-Karrieren geworden; in Großbritannien resultiert die nationale Berühmtheit von Gruppen wie Thin Lizzy aus zahllosen Touren durch die Tanzlokale der Provinz. Bei ›Cock Rock‹-Shows geht es überdeutlich um die männliche Darstellung von Sexualität (was erklären mag, warum so wenige Mädchen und Frauen die Konzerte besuchen – die Musiker verkörpern eine sexuelle Ikonographie, die oftmals fremdartig, bedrohlich und geschmacklos auf Mädchen wirkt, die erzogen worden sind, Sex als etwas Nettes, Zärtliches, Liebevolles und Privates zu verstehen). Mikrofone und Gitarren sind bei diesen Konzerten phallische Symbole; die Musik ist laut, rhythmisch eindringlich und basiert auf Techniken von Erregung und Klimax; die Texte sind bestimmend und arrogant, wobei der genaue Wortlaut weniger bedeutet als die verwendeten Gesangstechniken des Schreiens und Kreischens. Das ›Cock Rock‹-Image ist das des zügellosen, zerstörerischen männlichen Reisenden, der Hotels ebenso demoliert wie Groupies. Musikalisch kommt diese Form der Rockmusik aus der sexuellen Offenherzigkeit des Rhythm and Blues, aber sie fügt dem eine rohere männliche Körperlichkeit hinzu (Härte, Kontrolle, Virtuosität). Die musikalischen Fähigkeiten im ›Cock Rock‹ werden zu Synonymen für die sexuellen Fähigkeiten der Musiker (daher rührt Jimi Hendrix’ Doppelstatus als Sexidol und Gitarrenheld). Die Musiker sind nicht an die Konventionen der Song-Form gebunden, sondern nutzen ihre Instrumente vielmehr, um zu zeigen, ›was sie haben‹, um ihre Macho-Haltung auszudrücken. Diese Männer zieht es auf die Straße, sie lieben das Risiko, leben gefährlich, und vor allem stolzieren sie frei von sexueller und sonstiger
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Verantwortung umher. Vor allem das wollen sie jedem klarmachen. Frauen sind in ihren Augen entweder sexuell aggressiv und deshalb verdammt zum Unglücklichsein, oder sie sind sexuell unterdrückt und daher auf einen Kerl angewiesen. Die Frau wird, gleich ob sie romantisiert wird oder nicht, als besitzergreifend angesehen; demnach verlangt sie nach einem Mann, will Unfreiheit und fordert die absolute Einschränkung. ›Teenybop‹ dagegen wird fast ausschließlich von Mädchen gehört. Die Platten, die sie kaufen, dienen auch als Repräsentation männlicher Geschlechtlichkeit (meist in der Form von Teenie-Idolen), doch die Art des Images und die zur Schau gestellte Geschlechtlichkeit unterscheiden sich deutlich vom ›Cock Rock‹. Das Image des Teenie-Idols basiert auf Selbstmitleid, Verletzlichkeit und Bedürftigkeit. Es ist das Image des ›Jungen von nebenan‹: traurig, nachdenklich, hübsch und ähnlich einem Welpen. In den Songtexten geht es darum, verlassen zu werden und sich wieder aufzurappeln, es geht um Einsamkeit und Frustration; musikalisch ist der ›Teenybop‹ eine Mischung aus Pop-Ballade und Soft Rock; die Musik ist weniger körperlich als im ›Cock Rock‹ und zehrt von älteren romantischen Konventionen. Männliche Sexualität wird hier umgeformt in eine spirituelle Sehnsucht, die lediglich vereinzelte Hinweise auf sexuelle Interaktion enthält. Ziel der Sehnsucht ist weniger jemand zum Flachlegen, sondern ein sensibler und mitfühlender Seelenpartner, jemand, der den unfertigen, heranwachsenden Mann unterstützen und pflegen kann. Während ›Cock Rock‹ sich konventioneller Vorstellungen von männlicher Sexualität bedient, wonach diese zügellos, animalisch, oberflächlich und nur auf den Moment aus ist, bedient sich ›Teenybop‹ des Bildes einer weiblicher Sexualität, die ernsthaft und diffus ist und vollständige emotionale Hingabe beinhaltet. In der ›Teenybop‹-Fan-Kultur ist das Konzert weniger bedeutsam als Pin-ups, Poster und TV-Auftritte; in der Musik des ›Teenybop‹ erscheinen Frauen als unzuverlässig, launisch und egoistischer als Männer. Es sind die Männer, die zart, romantisch, sehr verletzlich, loyal und besorgt darum sind, eine wahre Liebe zu finden, die ihrer Auffassung davon entspricht, worum es bei weiblicher Sexualität geht. Der resultierende Kontrast zwischen Fans von – zum Beispiel – Thin Lizzy einerseits und David Soul andererseits ist offensichtlich, aber es soll hier nicht darum gehen, eine präzise Darstellung des Rockmusik-Marktes zu liefern. Es gibt Überschneidungen und Widersprüche. Mädchen heften ›Cock Rock‹Poster an ihre Wand, und Jungen kaufen ›Teenybop‹-Platten. Ebenso gibt es eine Reihe von Künstlern, die beide Kategorien zugleich besetzen wollen – Rod Stewart kann ebenso traurig, welpenhaft und rührselig wirken wie Donny Osmond, und John Travolta kann so böse und gemein sein wie einer ›aus der Gang‹. Unser Vergleich von ›Teenybop‹ und ›Cock Rock‹ verdeutlicht allerdings unser Hauptargument: Männlichkeit in der Rockmusik ist nicht durch
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eine einzige all-umfassende Definition festgelegt. Rockmusik schafft vielmehr einen Rahmen, der männlicher Geschlechtlichkeit eine Bandbreite von akzeptablen heterosexuellen Ausdrucksformen bietet. Diese Männlichkeitsbilder gründen auf geschlechtlichen Unterscheidungen bei der Aneignung von Rockmusik. Deswegen gibt es die Identifikation des männlichen Konsumenten mit dem Rockmusik-Künstler und eine kollektive Erfahrung von Konzerten, die in diesem Kontext etwa an Fußballspiele und andere Ereignisse männlicher Kameradschaft erinnern – die allgemeine Atmosphäre ist in geschlechtlicher Hinsicht exklusiv, die empfundene Euphorie beruht auf der Abwesenheit von Frauen. Der ›Teenybop‹-Künstler dagegen spricht seinen weiblichen Fan als Objekt an und schafft sich damit eine Möglichkeit, seine Sexualität und seine romantisch-emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen. Als ›Teenybop‹-Fan soll eine Frau spüren, dass ihr Idol sie (und nur sie) direkt anspricht; sie soll sich als seine Partnerin fühlen. Elvin Bishops Hit »Fooled Around« (1975) drückt das folgendermaßen aus: I must have been through about a million girls I love ‘em and leave ‘em alone, I didn’t care how much they cried, no sir, Their tears left me as cold as stone, But then I fooled around and fell in love … [Ich muss eine Millionen Frauen gehabt haben Ich liebe sie und dann lasse ich sie allein, Mir war egal, wie sehr sie geweint haben, jawohl, mein Herr, Ihre Tränen haben mich eiskalt gelassen, Doch dann habe ich Mist gebaut und mich verliebt …]
Innerhalb der Konventionen des Rock verweist die kollektive Vorstellung von ›Mist-Bauen‹ eindeutig auf eine männliche Erfahrung; sich zu verlieben bezieht sich dagegen auf die Erwartungen der Mädchen bzw. Frauen [girls]. Aus dieser Sicht gilt die Gegenüberstellung von ›Cock Rock‹ und ›Teenybop‹ durchaus für die Rockmusik im Allgemeinen und kann auch auf andere Genres übertragen werden. Die Identifikation mit der Männlichkeit des Musikers wird nicht allein in sexuellen Begriffen ausgedrückt, sondern auch in Form einer freien Aneignung seiner Dominanz, Macht, seines Selbstvertrauens und seiner Kontrolle. Es sind Jungen, die sich für Rock als Musik interessieren, die Hi-Fi-Experten werden, und die hoffen, Musiker, Techniker oder Mitarbeiter in der Musikindustrie zu werden. Es sind Jungen, die den Kern des Konzertpublikums bilden, die sich intellektuell für Rockmusik inte-
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ressieren und zu Kritikern und Sammlern werden (die Leser von Sounds, New Musical Express und Melody Maker und die Zuhörer des Old Grey Whistle Test sind zu zwei Dritteln männlich; John Peels Radiosendung hat zu 90 Prozent männliche Zuhörer). Es sind Jungen, die Rockmusik als gemeinschaftliche Kultur wahrnehmen – als eine gemeinsame Welt von Fans und Musikern. Die Probleme, denen eine Frau begegnet, wenn sie die Welt der Rockmusik betreten will, liegen auf der Hand. Eine Frau wird als einzelne Hörerin gesehen; sie wird nicht dazu ermutigt, die nötigen Fähigkeiten und das Wissen zu erwerben, um selbst als Musikerin auftreten zu können. In den oberen Jahrgängen der Schule und an der Universität wird von Frauen – genau wie im ›Teenybop‹ – erwartet, dass sie still und passiv den Rock-Poeten zuhören und zu Leonard Cohen, Cat Stevens oder Jackson Browne ihren Gedanken nachhängen. Wie immer ihr musikalischer Geschmack ausfällt – Frauen haben nur wenige Möglichkeiten und erfahren selten Ermutigung, selbst als Künstlerinnen tätig zu werden. Es ist ein weiterer Aspekt der geschlechtlichen Ideologie der Rockmusik, dass sie gemeinschaftliche männliche Aktivität und vereinzelte weibliche Passivität propagiert. […] Widersprüche der Rockmusik Das Rock-Publikum besteht nicht nur aus Jungen. Wenn Rockmusik dazu tendiert, Frauen als Objekte darzustellen, erkennt sie – anders als die ›Teenybop‹-Romanze – mit ihrer direkten Körperlichkeit an, dass Frauen eigene sexuelle Bedürfnisse haben. Indem ›Cock Rocker‹ die Konventionen des sexuellen Anstands, des Pflichtgefühls und der Sicherheit angreifen oder ignorieren, stellen sie in gewisser Weise die Begrenztheit infrage, die diese Konventionen für Männer wie Frauen bedeuten. Frauen können Ausdrucksformen des Rock den achtbaren Images, die ihnen woanders angeboten werden, entgegensetzen – daher rührt die feministische Bedeutung weiblicher Rockstars wie Janis Joplin, daher rührt auch die moralische Panik vor den verderblichen Wirkungen der Rockmusik. Die Rock-Ideologie der Befreiung von der Häuslichkeit hat eine offensichtliche Bedeutung für Mädchen, selbst wenn sie eine alternative Art des geschlechtlichen Ausdrucks beinhaltet. [...] Einige der interessantesten Rock-Künstler und -Künstlerinnen haben sich bewusst dieser geschlechtlichen Ambiguität und Ironie bedient. Wir finden in der Rockmusik das Bild des rührseligen Stechers oder das Bild des wollüstigen Jungen von nebenan, oder, wie in Lesley Gores »You Don’t Own Me«, den feministischen Teenybopper. Wir können ebenso auf die geschlechtliche Am-
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bivalenz von Künstlern wie David Bowie, Lou Reed und Bryan Ferry verweisen oder auf den kitschigen [Camp-] ›Teenybop‹-Stil von Gary Glitter und Suzi Quatro sowie auf die verwirrend ›Macho‹-haften Auftritte einer Frauenband wie den Runaways. Diese Anspielungen darauf, wie die Konventionen des Rock von individuellen Künstlerinnen und Künstlern genutzt werden, führen uns zur Frage nach der Form: Auf welche Weise verkörpert Rockmusik all die geschlechtlichen Konventionen, die wir diskutiert haben? Dies ist eine komplexe Fragestellung. Wir können hier lediglich auf einige Aspekte verweisen, die zu untersuchen sind, bevor man angemessen darauf antworten kann. Zuerst müssen wir die Geschichte der Rockmusik betrachten. Es gilt herauszufinden, wie anfangs der Rock’n’Roll jugendliche Darstellungen von Geschlechtlichkeit beeinflusst hat und wie sich diese Darstellungen in der weiteren Entwicklung der Rockmusik gewandelt haben. [...] Der interessanteste Aspekt der in den 60ern aufkommenden britischen Beat-Musik war sein Verwischen der bis dahin konventionellen Unterteilung zwischen Musik für Mädchen – Soft-Balladen – und Musik für Jungen – harter Rock’n’Roll. Es bestand immer noch ein Unterschied, beispielsweise zwischen den Beatles und den Stones – die eine galt als Band für Mädchen, die andere als Band für Jungen – aber dieser Unterschied war nicht einfach aufrechtzuerhalten. Britische Musik im Allgemeinen und die Beatles im Besonderen vermischten raue R&B-Rhythmen mit schmachtenden Vokalharmonien, die aus schwarzem und weißen Romantic Pop stammten; die resultierende Musik konnte gleichzeitig die Konventionen männlicher und weiblicher Sexualität ausdrücken. Das Image der Beatles war ambivalent; es entsprach weder dem einer aggressiven Jungenbande noch dem der rührseligen Jungenvon-nebenan. Diese Ambiguitäten wurden durch Lennons und McCartneys ungewöhnlichen Gebrauch der dritten Person symbolisiert: »I saw her standing there«, »She loves you«. Bei ihren Auftritten hoben sie ihren Status als Sex-Idole nicht hervor, und trotz der kreischenden Mädchen behandelten sie ihr Publikum nicht als ihr sexuelles Objekt. [...] Die neueste Frage in dieser Debatte dreht sich um die geschlechtliche Bedeutung des Punk. Vom Punk ging ein Angriff aus sowohl gegen romantische als auch gegen freizügige Konventionen. Indem sie sich weigerten, ihre Geschlechtlichkeit als Ware feilzubieten, gingen manche Punks so weit, dass sie jegliche Bedeutung ihrer Sexualität abstritten. »Meine Liebe liegt schlaff am Boden«, rühmte sich Mark Perry von Alternative TV, und Johnny Rotten [von den Sex Pistols] fragte: »Und was bitte ist Sex überhaupt? Bloß 30 Sekunden unterdrückte Geräusche.« Punk war die erste Spielart der Rockmusik, die nicht auf Liebesliedern basierte, und eine ihrer Wirkungen bestand darin,
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weiblichen Stimmen Ausdruck zu verschaffen, wie sie auf Platten, auf der Bühne oder im Radio nicht oft zu hören sind: schrille, aggressive, unreine individuelle Stimmen, die Klänge von Sängerinnen wie Poly Styrene, Siouxsie [Sioux], Fay Fife von den Rezillos, Pauline [Murray] von Penetration. Die kreischende Beharrlichkeit der Punk-Musikerinnen ist von der Ausstrahlung der meisten Nachkriegs-Glamour-Girls weit entfernt. Das historische Problem liegt darin, ihren kommerziellen Erfolg zu erklären sowie den im Punk vollzogenen Bruch mit der lange Zeit geltenden Gleichsetzung von Rockmusik mit Sex und Vergnügen. Man kann diese Fragen nur beantworten, wenn man die Rockmusik in ihrem kulturellen und ideologischen Kontext betrachtet – als Form der Unterhaltung. Eine weitere Hauptaufgabe der Analyse von Rockmusik besteht darin, deren musikalische Wurzeln auf ihre geschlechtliche Sprache hin zu untersuchen – Rhythm and Blues, Soul, Country, Folk und so weiter. Die Schwierigkeit ist dabei, das Verhältnis von Form und Inhalt herauszuarbeiten. Man vergleiche zum Beispiel, wie Bob Dylan und Bob Marley weibliche Sängerinnen einsetzen. Dylan gilt als kultivierter Rock-Star, als bedeutendste Stimme der Rockmusik mit kulturellem Anspruch, einschließlich des Anspruchs der geschlechtlichen Befreiung. Zumindest in seinen jüngsten Texten findet sich ein kritisches Selbstverständnis, das sich nicht offen sexistisch gibt. Doch musikalisch und visuell dienen seine drei Hintergrundsängerinnen lediglich dem Glamour entsprechend der traditionellen Verwendungsweise des Pop. Marley dagegen ist ein orthodoxer Rastafari, ordnet sich einem Glauben, einer Institution, einem Lebensstil zu, in dem Frauen eine ebenso untergeordnete Rolle zukommt wie in jeder geschlechtlich unterdrückenden Religion. Und doch singen und präsentieren sich Marleys I-Threes mit Anmut und Würde, in Unabhängigkeit und mit Stärke. Im Allgemeinen scheint es so zu sein, dass in Soul- und Country-Musik, obwohl diese in Bezug auf Organisation, Präsentation und die Themen der Texte offenkundig sexistisch sind, Frauen eine autonome musikalische Macht innehaben, wie sie von Frauen in der Rockmusik selten erreicht wird. [...] Geschlechtlicher Ausdruck / geschlechtliche Kontrolle In diesem Essay ging es wiederholt darum, dass Musik ein geschlechtliches Ausdrucksmittel darstellt und als solches für die Kontrolle von Geschlechtlichkeit von Bedeutung ist. Sowohl in ihrer Präsentation als auch in ihrer Verwendung bestätigt Rockmusik traditionelle Definitionen dessen, was Männlichkeit und Weiblichkeit ausmacht, und verstärkt diese Aussagen für den Bereich der Freizeit. [...]
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Eine der wichtigsten zu analysierenden Tätigkeiten, die für das Verständnis der Geschlechterideologie von Bedeutung sind, ist das Tanzen. Die Tanzfläche ist das öffentlichste Umfeld, in dem Musik zum geschlechtlichen Ausdruck wird, und sie ist der Ort, an dem Pop- und Rockmusik-Konventionen überlappen. Für die ›Teenybop‹-Mädchen ist Musik zum Tanzen da, und auch die Rockmusik ist trotz allem männlichen Größenwahn letztendlich immer noch eine Form von Tanzmusik. Mädchen sind schon immer in Tanzlokale geströmt, und das nicht nur, um einen Mann zu finden: Das Tanzen ist die einzige Freizeitaktivität, in der Mädchen und junge Frauen eine dominierende Rolle spielen. Für sie ist das Tanzen kreativ und körperlich befriedigend zugleich. Mehr noch, Tanzen ist eine sozial sanktionierte geschlechtliche Tätigkeit – zumindest wird es dazu, wenn die Jungen, vom Alkohol ermutigt, die Bar und die Ecken verlassen, um sich eine Partnerin aus der Masse tanzender Mädchen zu suchen. Als Unterhaltungsform hatte der Tanz von Salome bis hin zu Pan’s People die Funktion, Männer mit der Zurschaustellung von Weiblichkeit anzulocken; doch ist dies nicht die Funktion, die dem jugendlichen Tanzen heute meist zugrundeliegt. Es bleibt ein Aspekt im Vergnügen der Mädchen, selbst im Viehmarkt-Kontext provinzieller Tanzlokale. Immer noch sind die Mädchen damit beschäftigt, die herumschleichenden Jungen anzulocken, doch tun sie es durch ihre Kleidung, ihr Make-up und ihr Auftreten, und nicht durch ihr Tanzen. Dies gilt in gleichem Maße für das Tanzen der Jungen – ihre Energie und Beweglichkeit werden nicht zur Schau gestellt, um die Aufmerksamkeit der Mädchen zu gewinnen; vielmehr sind die hingebungsvollsten jungen Tänzer Großbritanniens (die Northern Soul Fans) vollkommen in sich gekehrt. Das Konzept des Narzissmus spricht ebenso wie das Konzept des Realismus mehr schwierige Fragen an als wir hier beantworten können, aber wir müssen einen letzten, abschließenden Punkt ansprechen: Die geschlechtliche Wirkung von Rockmusik betrifft nicht allein die Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit. Rockmusik trägt auch etwas bei zu dem schwerer fassbaren Prozess der Sexualisierung der Freizeit. Die kapitalistische Produktionsweise beruht auf einer doppelten Unterscheidung: zwischen Arbeit und Freizeit und zwischen Arbeitsplatz und Wohnstätte. Die Entfremdung des Arbeiters oder der Arbeiterin von den Produktionsmitteln bedeutet, dass die Befriedigung seiner oder ihrer Bedürfnisse sich einerseits auf die Freizeit konzentriert, andererseits auf die Familie. Im Kapitalismus konstituiert sich der Ausdruck von Geschlechtlichkeit als individuelles Freizeitbedürfnis – man vergleiche vorkapitalistische Produktionsweisen, in denen der Ausdruck von Geschlechtlichkeit als Aspekt einer kollektiven Naturverbundenheit galt. Dies führt zu zahlreichen Konsequenzen – dem Austausch von Sex als Ware, dem Austausch von Waren als Sex – und
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bedeutet, dass wir die Massenunterhaltung (Filme ebenso wie Musik) im Rahmen einer Theorie der Freizeit und einer Theorie der Ideologie verstehen müssen. Als wir diesen Essay schrieben, war uns bewusst, dass wir über keine adäquate Theorie der Freizeit verfügen. Grundlage unserer Analyse von Rockmusik und Geschlechtlichkeit waren einige drängende Fragen. Wie würde sich nicht-sexistische Musik anhören? Kann Rockmusik nicht-sexistisch sein? Wie können wir mit den dominanten geschlechtlichen Botschaften der Rockmusik umgehen? Es handelt sich nicht um rein ideologische Fragen, und es geht nicht darum, Rockmusik als solche zu kritisieren. Die geschlechtliche Bedeutung der Rockmusik kann unmöglich verstanden werden, ohne die geschlechtliche Bedeutung des Konsums von Rockmusik einzubeziehen, und diese geschlechtliche Bedeutung des Konsums entspringt der kapitalistischen Produktionsordnung. Wir haben in diesem Essay beschrieben, wie Rockmusik für ihre Hörerschaft Geschlechtlichkeit erzeugt. Wir möchten mit der Aussage schließen, dass Geschlechtlichkeit exakt im Akt des Konsumierens erzeugt wird.
11. Zum Umgang mit historischen Quellen Beatrix Borchard: Mit Schere und Klebstoff. Montage als wissenschaftliches Verfahren in der Biographik (2004) Einleitung Biografien über Komponistinnen und Musiker gibt es in großer Zahl. Doch Sinn und Zweck der Biografik sind in der Musikwissenschaft umstritten. Für Beatrix Borchard, seit 2002 Professorin für Musikwissenschaft und Leiterin des Projekts »Musikvermittlung und Genderforschung im Internet« an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, steht außer Zweifel, dass gerade Kompositionen von Frauen nur dann adäquat dargestellt werden, wenn es zu einer »Zusammenschau von Leben und Werk« kommt, »nicht im Sinne einer direkten Widerspiegelung, sondern als eines komplexen gegenseitigen Bedingungsgefüges. Denn nicht allein findet Biographisches musikalischen Ausdruck, sondern Musik wird auch zur ›Lebensform‹ [Kaden 1997], indem sie ihrerseits Lebensläufe konstituiert« (Borchard 2003, 228). Was macht Biografien von Musikerinnen und Musikern dann problematisch? Welche Gründe sprechen für Biografien? Welche Probleme birgt die Biografik in Bezug auf Gender? Während in der bildenden Kunst und in der Literatur (Auto-)Biografien bereits seit dem 16. Jahrhundert geschrieben wurden, erschienen Sammelbiografien zu Komponisten erst um 1700. Als erste eigenständige Komponistenbiografie publizierte John Mainwaring 1760 in London seine Memoirs of the life of the late George Frederic Handel. Welches Interesse an der neuen Gattung bestand, zeigt sich daran, dass Mainwarings Buch bereits im folgenden Jahr in Johann Matthesons Übersetzung auf Deutsch erschien, als Georg Friderich Händels Lebensbeschreibung. Im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert des Historismus, äußerte sich das Interesse an der Vergangenheit im Erscheinen zahlreicher Biografien, u.a. der Bücher über Johann Sebastian Bach von Nikolaus Forkel (1802) und Philipp Spitta (1873 und 1880) und der dreibändigen Händel-Biografie von Friedrich Chrysander (1858–1867). Der Geniekult des ausgehenden 18. Jahrhunderts und die wachsende Bedeutung von Musik als nationales Element werteten Musik auf; ihre Komponisten wurden als »Vor-Bilder« inszeniert (Borchard 2004, 33, Kursivierung im Original). Diesem Zweck dienten die rigorose Auswahl von Quellenmaterial und ein fiktionaler Erzählstil in den als »Lebensbildern« (ebd., Kursivierung im Original) bezeichneten Biografien. Das Leben des Künstlers galt dabei als
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Umgang mit historischen Quellen
Schlüssel zu einem tiefen Verständnis des Werkes, in dem sich die Essenz des Künstlerlebens ausdrücken würde. Biografen gestalteten die Lebensläufe der Künstler teleologisch, d.h. sie beschrieben Lebensentwicklungen so, als ob sie von Beginn an auf ein Ziel, die künstlerische Vervollkommnung, gerichtet wären. Guido Adler, erster Lehrstuhlinhaber für Musikwissenschaft, sah in der Biografik eine literarische Gattung und beklagte, die Biografik würde sich »unverhältnissmäßig in den Vordergrund« drängen. Er betonte vehement ihren Status als Hilfswissenschaft (Adler 1885, 10). Diese Kritik führt sich u.a. bei Hermann Danuser (1975, 286f.) und Carl Dahlhaus (1987, 29ff.) fort. Andere, wie Forkel, Spitta, Chrysander oder Rolland, die alle zur Etablierung der Musikwissenschaft als universitärem Fach beigetragen hatten, waren jedoch offensichtlich von der Biografie als wesentlicher musikwissenschaftlicher Informationsträgerin überzeugt (vgl. Unseld 2010, 148). Aus feministischen Kreisen wurde die Kritik laut, dass die Biografik sich so entwickelt hatte, dass Lebensläufe von Frauen in der Regel nicht die Kriterien erfüllten, um ›biografiewürdig‹ zu sein. Im 18. Jahrhundert umfassten diese Kriterien eine dauerhafte öffentliche Präsenz, Professionalität und historische Relevanz (vgl. Unseld 2010, 147–148); im 19. Jahrhundert verklärte die sich etablierende ›Heroengeschichtsschreibung‹ Komponisten zu Genies, Schöpfern und Helden und legte damit Ideale an, die allesamt männlich konnotiert waren. Langfristig war die Folge fehlender Biografien, dass im Besonderen komponierende Frauen von der geschichtlichen Bildfläche verschwanden. Da Frauen nachschöpferisches Handeln zugestanden wurde, waren Interpretinnen weniger von der geschichtlichen Ausradierung betroffen. Die »Universalisierung männlicher bürgerlicher Lebenskonstruktionen« in Biografien hatte den Ausschluss von Frauen zur Konsequenz (vgl. Runge 2010, 402). Durch biografische Forschungsarbeit kann die Präsenz von Musikerinnen in der Geschichtsschreibung verstärkt und die Bedeutung, die Frauen im Musikleben hatten, wieder sichtbar werden. Beatrix Borchard sieht das Individuum weniger als eine herausragende Erscheinung, sondern als Teil eines Netzwerkes. Dies darzustellen sei die Aufgabe einer »modernen Musikerund Musikerinnenbiographik« (Borchard 2003, 239). Welche methodologischen Hürden eine »reflektierte« Biografik nehmen muss, steht im Zentrum von Borchards Text. Es sind Überlegungen, die nicht allein die wissenschaftliche Biografik über Frauen, sondern alle Geschlechter betreffen und sogar als allgemein historiografisch zu verstehen sind. Mit Klaus Füßmann nennt Borchard als wesentliche Aspekte der Biografik ihre Selektivität, Retroperspektivität, Perspektivität, Sequenzialität, Kommunikativität und Partikularität (vgl. auch Borchard 2003, 240). Borchard schlägt als eine Methode für eine zeitgemäße Biografik in Anlehnung an Walter Benjamin die »Montage von Quellen« vor. Sie wählt Ausschnitte aus Briefen, Program-
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men, juristischen Akten, Photos, Tagebüchern, Gemälden, Aussagen, Konzertrezensionen, Werkbesprechungen, Kompositionen und pädagogischen Schriften aus und kommentiert sie. Statt einer linearen Erzählung bietet sie verschiedene Blickwinkel auf Clara Schumann. Durch die Auswahl der Dokumente und ihre Zuordnung zu bestimmten Lebensabschnitten bleibt die Autorin in der Arbeit präsent, nimmt ihre Position als auktorial-interpretierende und führende Erzählerin jedoch zurück. Die Lesenden sind somit stärker in die Verantwortung genommen, die Verbindung dieser Quellen selbst zu finden und »Sinn zu stiften«.1 (Lebens-)Geschichten enthüllen durch das Verfahren der Montage den Prozesscharakter von Geschichte. Mit ihrem Ansatz, Vernetzungen von Individuen zu betrachten, die auktoriale Erzählsituation aufzulösen, sich als Biografin bzw. als Biograf des eigenen Standpunkts bewusst zu sein und einer Reflexion der eigenen Arbeitsweise entspricht Borchard den Forderungen des Gender-Arbeitskreises des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Theorie der Biographie (vgl. Runge 2009, 406). Katrin Losleben Textvorlage Beatrix Borchard: Mit Schere und Klebstoff. Montage als wissenschaftliches Verfahren in der Biographik. In: Cordula Heymann-Wentzel, Johannes Laas (Hg.), Musik und Biographie. Festschrift Rainer Cadenbach. Berlin 2004, 30–45.
Weitere Veröffentlichungen von Beatrix Borchard Clara Wieck und Robert Schumann. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 2. Aufl. Kassel 1992. Lücken schreiben oder: Montage als biographisches Verfahren. In: Hans Erich Bödecker (Hg.), Biographie schreiben. Göttingen 2003, 211–242. [Als Hg., zus. mit Cornelia Bartsch, Rainer Cadenbach:] Der »männliche« und der »weibliche« Beethoven. Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress vom 31. Oktober bis 4. November 2001 an der Universität der Künste Berlin. Bonn 2004. Stimme und Geige. Amalie und Joseph Joachim – Biographie und Interpretationsgeschichte. 2. Aufl. Wien u.a. 2007 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 5).
1 Hier zitiert Borchard (2003, 240) Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.M. 1970.
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Umgang mit historischen Quellen
Weiterführende Literatur Adler, Guido: Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft. In: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1, 1885, 5–20. Brombach, Sabine, Bettina Wahrig (Hg.): LebensBilder. Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies. Bielefeld 2006. Dahlhaus, Carl: Wozu noch Biographien? In: Melos. Neue Zeitschrift für Musik 1, 1975 Nr. 2, 82. Dahlhaus, Carl: Ludwig van Beethoven und seine Zeit. Laaber 1987 (Große Komponisten und ihre Zeit). Danuser, Hermann: Kann Poetik die Biographik retten? In: Melos. Neue Zeitschrift für Musik 1, 1975, 286–287. Dausien, Bettina: ›Biographie‹ als Gegenstand und Perspektive einer interdisziplinären Geschlechterforschung. Rückblickende Gedanken. In: Annette Kreutziger-Herr u.a. (Hg.), Gender Studies in der Musikwissenschaft – Quo Vadis? Festschrift für Eva Rieger zum 70. Geburtstag. Hildesheim u.a. 2010 ( Jahrbuch Musik und Gender 3), 117–124. Kaden, Christian: Musik als Lebensform. In: Giselher Schubert (Hg.), Biographische Konstellation und künstlerisches Handeln. Mainz 1997, 11–25. Printz, Wolfgang Caspar: Historische Beschreibung der Edelen Sing- und Kling-Kunst. Dresden 1690. Runge, Anita: Art. Gender Studies. In: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart 2009, 402–407. Unseld, Melanie: Art. Biografik. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 147–148.
Ausgewählter Text Biographien erfreuen sich wachsender Beliebtheit, auch im Bereich der Musik, und trotz der im deutschsprachigen Raum von Guido Adler bis Carl Dahlhaus und seinen Schülern und Schülerinnen2 immer wieder eingeforderten strikten Trennung von empirischem und ästhetischem Subjekt, verzichtet kaum eine Rundfunk- oder Konzertmoderation darauf, die Präsentation von Musik mit Informationen über die Person des Komponisten und mit biographischen Anekdoten zu verknüpfen.3 Solche Versuche einer biographischen 2 Carl Dahlhaus: »Wozu noch Biographien?«. In: Melos. Neue Zeitschrift für Musik 1, 1975, 82: »Die Biographik […], scheint ihr Existenzrecht längst eingebüßt zu haben, wenn man von geistigen Prämissen und nicht von verlegerischen Kalkülen ausgeht.« Vgl. auch Hermann Danuser: »Kann Poetik die Biographik retten?«. In: Melos. Neue Zeitschrift für Musik 1, 1975, 286–287 und ders.: »Biographik und musikalische Hermeneutik. Zum Verhältnis zweier Disziplinen der Musikwissenschaft«. In: Josef Kuckertz u.a. (Hg.), Neue Musik und Tradition. Festschrift Rudolf Stephan zum 65. Geburtstag. Laaber 1990, 571–601. 3 Vgl. dazu und zum folgenden: Beatrix Borchard: »Lücken schreiben oder: Montage als biographisches Verfahren«. In: Hans Erich Bödeker (Hg.), Biographie schreiben. Göttingen 2003, 211–242.
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Kontextualisierung setzen voraus, dass Töne »etwas von einem anderen Menschen [erzählen] und dem Menschen der Mensch doch immer das Interessanteste bleibt«4 (Theodor Billroth). Bekanntlich wurde diese Annahme von musikwissenschaftlicher Seite her immer wieder mit dem Hinweis darauf in Frage gestellt, das Besondere an Musik sei gerade ihre Nicht-Diskursivität und Bedeutungsambivalenz.5 Es handele sich lediglich um Projektionen der Hörer, wenn sie meinen, dass Musik etwas über die biographische Person des Komponisten erzähle. Keine Fachgeschichte ist isoliert zu sehen, und die sich gerade erst konstituierende Musikwissenschaft teilte seit Guido Adler,6 also seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer Biographik, die wissenschaftlichen Maßstäben gerecht wird, mit anderen Disziplinen wie der Literaturwissenschaft und der allgemeinen Geschichtswissenschaft. Aber in der Musikwissenschaft war die geforderte, letztlich jedoch der Realität nicht angemessene, weil undialektische Trennung von Leben und Werk vielleicht am folgenschwersten: Musikgeschichte wurde – zugespitzt formuliert – zu einer Musikgeschichte der Werke ohne Menschen, und das Feld der Biographik wurde weitgehend der Populärliteratur überlassen. Wie aber könnte eine zeitgemässe und wissenschaftlichen Kriterien genügende Biographik aussehen, die nicht auf eine Darstellung des Zusammenhangs von Schaffensbiographie und Lebensbiographie im Sinne eines komplexen Bedingungsgefüges verzichten will und sich auch nicht ausschließlich auf (männliche) Komponisten begrenzt, sondern Musik als kulturelles Handeln versteht und auch beispielsweise Interpreten und Interpretinnen einbezieht?7 Zunächst ein Blick zurück unter dem Aspekt der Zielsetzung verschiedener biographischer Ansätze und dem Umgang mit Quellenmaterial. 4 Theodor Billroth: »Wer ist musikalisch?« In: Nachgelassene Schriften. Hg. von Eduard Hanslick. 4. Aufl. Berlin 1912, 240. 5 Vgl. dazu etwa Helmut Rösing: »Auf der Suche nach Männlichkeitssymbolen – Beethoven und die Sonaten(haupt)satzform«. In: Cornelia Bartsch, Beatrix Borchard, Rainer Cadenbach (Hg.), Der »männliche« und der »weibliche« Beethoven. Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress vom 31. Oktober bis 4. November 2001 an der Universität der Künste Berlin. Bonn 2003. 6 Guido Adler: »Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft«. In: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 1, 1885, 5–20. 7 Wenn der Zusammenhang von ›Biographischer Konstellation und Künstlerischem Handeln‹ zum Gegenstand fachlicher Diskussion in neuerer Zeit wieder geworden ist, bezieht sich diese Auseinandersetzung ausschließlich auf Komponisten und deren Werke. So hieß denn auch eine erste Veranstaltung zu dieser Thematik in der DDR im Jahre 1981 »Komponisten auf Werk und Leben befragt«. Vgl. den von Harry Goldschmidt, Georg Knepler und Konrad Niemann herausgegebenen Kolloquiumsbericht, Leipzig 1985. Vgl. auch Giselher Schubert (Hg.): Biographische Konstellation und Künstlerisches Handeln. Symposionsbericht. Mainz 1997 (Frankfurter Studien, Veröffentlichungen des Paul-Hindemith-Instituts Frankfurt
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Lebensbilder Die Blütezeit der Musikerbiographik im 19. Jahrhundert8 war engstens mit verschiedenen Entwicklungen verbunden, die hier nur angedeutet werden können: mit dem sich Ende des 18. Jahrhunderts entwickelnden, sich ausschließlich auf männliche Künstler beziehenden Geniekult,9 der ästhetischen Aufwertung von Musik innerhalb des Systems der Künste und dem politischen Stellenwert, der Musik speziell in Deutschland als nationales Identifikationsmittel im Laufe des 19. Jahrhunderts zugeschrieben wurde. Die für die fachwissenschaftliche Entwicklung folgenreiche Kritik Guido Adlers richtete sich gegen zweierlei, gegen die immer mehr um sich greifende ausschließlich inhaltsästhetische Deutung von Musik und gegen die zwischen Fiktion und Faktendarstellung fließenden Grenzen biographischer Schreibweisen. Unbefragt blieb indes, dass Lebensbeschreibungen gerade in Deutschland in erster Linie einer nationalorientierten und ausschließlich auf Musiker männlichen Geschlechts bezogenen Heroengeschichtsschreibung dienten.10 Bezogen auf diese Zielsetzung bildete auch Berthold Litzmanns dreibändige Clara-Schumann-Biographie keine Ausnahme.11 Litzmann schrieb sein Lebensbild im Auftrage und unter der Aufsicht der ältesten Schumann-Tochter Marie, und er schrieb sie gleichsam als Außenseiter: Er war Altphilologe und kein Musikwissenschaftler, und Clara Schumann zählte gleich aus zwei Gründen nicht zu den »biographiefähigen« Persönlichkeiten der deutschen Musikgeschichte: sie war eine Frau und nicht in erster Linie Komponistin sondern Interpretin. Trotz ihrer unter philologischen Gesichtspunkten hohen Qualität wurde deswegen Litzmanns Arbeit nicht als Teil der Fachgeschichte wahrgenommen. Außerdem stellte das seiner Biographie zugrunde liegende Be-
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a.M. 6). Als erste umfassendere Studien zum Zusammenhang zwischen Biographie und Interpretationsgeschichte vgl. Hans-Joachim Hinrichsen: Musikalische Interpretation. Hans von Bülow. Stuttgart 1999 (Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft 46) und Beatrix Borchard: Stimme und Geige. Amalie und Joseph Joachim. Biographie und Interpretationsgeschichte. Wien u.a. 2005 [2. Aufl. 2007]. Vgl. Hans Lenneberg: Art. »Biographik«. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. neubearb. Ausgabe. Hg. von Ludwig Finscher. Sachteil, Bd.1. Kassel, Stuttgart 1994, 1545–1551. Zur Geschichte der Musikerbiographik entsteht an der Universität Paderborn zur Zeit eine Habilitationsschrift (Melanie Unseld, Hamburg [inzwischen: Oldenburg/Hannover]). Vgl. Eckhard Neumann: Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität. Frankfurt a.M., New York 1986. Weibliche Künstler kommen in den von Neumann aufgearbeiteten Mythen nicht vor. Vgl. auch zu der nicht selten polemische Rede von der Biographie als einer genuin männlichen Gattung: Irmela von der Lühe, Anita Runge (Hg.): Biographisches Erzählen. Stuttgart, Weimar 2001 (Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 6), Einleitung, 13. Berthold Litzmann: Clara Schumann. Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen. 3 Bde. Leipzig 1902–1908.
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schreibungsmuster die herrschende Geschichtsschreibung nicht in Frage, denn Litzmann stellt Clara Schumanns Verzicht auf ein eigenes kompositorisches Werk und die Unterordnung ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten unter die Arbeit ihres Mannes als »notwendig« dar. Im übrigen ist das Buch über weite Strecken als Doppelbiographie über das Schumannsche Künstlerpaar konzipiert. Auch die biographischen Arbeiten weiblicher Autoren über weibliche Musiker – genannt seien hier Marie Lipsius, die unter dem Namen La Mara publizierte12 und Anna Morsch13 – trugen indirekt zur Heroengeschichtsschreibung bei, indem sie explizit darauf verwiesen, dass Frauen »nicht zum komponieren geboren seien« sondern der Bereich der Interpretation ihrem »Geschlechtscharakter« entspreche.14 Während die genannten Autorinnen sich jedoch zumindest bemühten, auch die künstlerische Arbeit von Interpretinnen darzustellen, überliefern die zahlreichen Sängerinnenbiographien des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts nicht die Leistungen einzelner weiblicher Personen als Musikerinnen, sondern die (Männer- und Frauen-) Phantasien, die auf sie projiziert wurden, denn Sängerinnen waren traditionell erotisch besetzt. Ihre künstlerische Arbeit wurde vor der Erfindung der Schallplatte im wesentlichen nur überliefert, wenn sie Gesangsschulen herausgaben.15 Das tradierte Darstellungsgenre der Geschichte von Sängerinnen sind demzufolge – teilweise fingierte – Autobiographien16 und romanhafte Lebensdarstellungen, biographie romancée im Sinne von ›Frauen singen, damit Männer sie lie12 La Mara (eigentlich Marie Lipsius): Die Frauen im Tonleben der Gegenwart. Leipzig 1882 (Musikalische Studienköpfe 5). 13 Anna Morsch: Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart. Berlin 1893. 14 So erläutert La Mara in ihrem Vorwort, warum es zwar nicht erstaunlich sei, dass es überhaupt Musikerinnen gebe, aber keine Komponistinnen: »Ist doch die Musik recht eigentlich die Kunst des Gemüths, spricht sie doch wie keine andere die Seele aus. Auf frei schöpferischem Gebiet zwar darf sich der weibliche Genius nur bescheidener Erfolge rühmen. Die eigentlich gestaltende Kraft, die Spontanität der Erfindung und des combinatorischen Vermögens scheinen ihm, wenn nicht völlig versagt, so doch in zu kargem Maße von der Natur verliehen, um wirklich große, hervorragende Leistungen in dieser Richtung nicht von vornherein auszuschließen.« La Mara: Die Frauen im Tonleben der Gegenwart (wie Anm. 12), II. [...] Anna Morsch widmet je ein Kapitel den »Komponistinnen und Musikschriftstellerinnen«, den »Opern- und Konzertsängerinnen«, den »Virtuosinnen des Klaviers, der Harfe, der Violine und anderer Instrumente«, schließlich den »Direktorinnen von Konservatorien, Musik- und Gesangs-Instituten; hervorragenden Pädagoginnen«. 15 Vgl. Beatrix Borchard: Stimme und Geige (wie Anm. 7), Kap. B.I.1.: Lücken schreiben oder: Amalie Joachim geb. Schneeweiss I. 16 Vgl. etwa die fingierten erotischen Memoiren von Wilhelmine Schroeder-Devrient, einer der bedeutendsten Sängerdarstellerinnen des 19. Jahrhunderts.
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ben.‹ So der Tenor des Buches Geliebte Primadonnen von Werner Haas – man beachte das Wortspiel im Titel.17 Ob mit wissenschaftlichem Anspruch geschrieben oder nicht, den biographischen Veröffentlichungen des 19. Jahrhunderts ist gemeinsam: ihre Helden sollten der Öffentlichkeit nicht als Alltagsmenschen, sondern als Vor-Bilder präsentiert werden.18 In diesem Ziel begründete sich der bewußt selektive Umgang mit Quellenmaterial und die zumeist uneingestandene fiktionale Darstellungsform, wobei der verbreitete Begriff des Lebensbildes den Entwurfscharakter benannte. Die Autoren und Autorinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gingen von der Vorstellung aus, dass es so etwas wie die Wahrheit eines erzählten Lebens geben könne, und »dass ein musikalisches Œuvre, um von innen heraus verstanden zu werden, als ›Lebenswerk‹ interpretiert werden müsse: als Werk, in dem sich die Substanz des Lebens ausdrückt, aus dem es hervorgegangen ist.«19 Auch Briefausgaben zielten dementsprechend konzeptionell nicht auf Vollständigkeit sondern auf Auswahl. Es war und ist also nicht nur müßig, sondern unangemessen, diesen Veröffentlichungen mangelnde Wissenschaftlichkeit vorzuwerfen. Sie erfordern allerdings eine andere Art der Lektüre: sie wollen nicht als eine Widerspiegelung einer wie auch immer begriffenen Wirklichkeit gelesen werden, sondern als mentale Bildentwürfe bestimmter Autoren und Herausgeber.20 Autorenposition Entsprechendes gilt auch trotz des diametral entgegengesetzten Anspruchs für Dokumentarbiographien. Vorbild für diesen Typus war und ist Otto Erich Deutschs Franz Schubert. Sein Leben in Bildern (1913), das fünfzig Jahre später 17 Werner Haas: Geliebte Primadonnen. Das Leben großer Sängerinnen. Frankfurt a.M., Berlin 1986. Eine wissenschaftlich fundierte Sängerinnenbiographik steht bis heute aus. Zur Zeit läuft ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt zum Thema Sängerinnen (Rebecca Grotjahn). 18 Vgl. Helmut Rösing: »Musikpsychologische Aspekte von ›Komponistenbildern‹: Selbstinszenierung – Fremdinszenierung – Legendenbildung«. In: Uwe Harten (Hg.), Künstlerbilder. Bruckner-Symposion 1998. Bericht. Linz 2000, 25–36. Zu soziologischen Aspekten vgl. auch den Aufsatz von Christian Kaden: »Annäherung und Entfremdung. Soziokommunikative Funktionen von Künstlerbildern«. Ebd., 37–52. 19 Vgl. Carl Dahlhaus: Ludwig van Beethoven und seine Zeit. Laaber 1987, Kap. I: Werk und Biographie, in dem er, wie in einer ganzen Reihe weiterer Veröffentlichungen, ausführlich auf die biographische Methode eingeht; hier S. 31. 20 Vgl. zum Entwurfscharakter auch von Briefausgaben des 19. Jahrhunderts: Beatrix Borchard: »Bausteine eines Künstlerbildes«. Vorwort zum Faksimiledruck der Felix Mendelssohn Bartholdy Briefausgabe aus dem Jahre 1861. Potsdam 1997, V–XVII.
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sogar in erweiterter Form als erster Supplementband der neuen Schubert Gesamtausgabe erscheinen konnte,21 ein Zeichen dafür, dass einander entgegengesetzt gedachte Methoden, nämlich Philologie und Biographik, nun als einander ergänzend gesehen wurden: Autoren schienen zu Herausgebern22 zu werden, indem narrativen Lebensdarstellungen die weitgehend unkommentierte Sammlung und Dokumentation von biographischem Material entgegengesetzt wurde. Statt sich mit einem vielleicht mehr oder weniger plausiblen, jedoch fertigen Bild konfrontiert zu sehen, dessen Quellenbasis nur allzu oft für die Leserinnen kaum nachzuvollziehen war, musste oder konnte sich nun der Leser selbst ein Bild machen. Dank eines solchen Konzepts veränderte sich das Verhältnis Autor/Herausgeber-Leser also grundsätzlich. Aber das Ausbreiten von Quellen basierte auf einer falschen Annahme, nämlich, dass es eine objektive Biographie geben könne: »Dieses ist ein Buch der Tatsachen, der Selbstabdruck eines Lebens«, so Deutsch in seinem Vorwort.23 Eine Reflexion der Auswahl und vor allem des Charakters der abgedruckten Materialien – autobiographische Zeugnisse, Briefe, Berichte von Zeitgenossen, Rezensionen, Programme, Bilder – fehlte vollkommen. Darüber hinaus dienten auch die Dokumentarbiographien wie die »Lebensbilder« einer nationalbezogenen Geschichtsschreibung der Autoren und Werke, denn die Sorgfalt des wissenschaftlichen Sammelns galt wieder nur einer Handvoll großer Komponisten. Auch im modernen Typus der Psychobiographie, in dem Briefe und Berichte unter psychoanalytischem Blickwinkel gelesen wurden24, blieb die Autorenposition und der Kanon der biographiewürdigen Personen unbefragt. Das entscheidend Neue an der Psychobiographik in unserem Zusammenhang war jedoch, dass Briefe nicht mehr einfach nur als Ich-Aussagen gelesen wurden, die man, wie es in den Zusammenhang passt, als Belege für Denken und Fühlen des Helden zitieren kann, sondern dass sie auf das hin gegengelesen wurden, was vermeintlich zwischen den Zeilen steht. Popularbiographik Parallel zu dieser Entwicklung innerhalb der Fachdisziplin ist seit dem 19. Jahrhundert eine unübersehbare Zahl von wirkungsmächtigen Popular21 Otto Erich Deutsch: Schubert. Die Dokumente seines Lebens. NGA VIII: Supplement, Bd. 5. Leipzig 1963. 22 So lautet denn auch der Untertitel zu Deutschs Buch »Gesammelt und erläutert von […]«. 23 Deutsch: Schubert (wie Anm. 21), V. 24 Z.B. Editha und Richard Sterba: Beethoven and His Nephew. New York 1954; Maynard Solomon: Beethoven. New York 1977.
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biographien und biographischen Erzählungen veröffentlicht worden. Ihre Analyse steht bis heute aus, obwohl sie viel stärker als wissenschaftliche Veröffentlichungen es je vermöchten, die herrschenden Vorstellungen von Künstlertum und von dem Verhältnis zwischen Leben und Werk geprägt haben und immer weiter prägen.25 Erst recht gilt dies für die zahlreichen Musiker- und Musikfilme. Erinnert sei nur an einen der erfolgreichsten, den auf einem Bühnenstück basierenden Mozart-Film Amadeus (1984) oder an den für das Fernsehen produzierten Schubert-Film »Mit meinen heißen Tränen« (1986). Die aktuelle Bandbreite der populären Musikerbiographik reicht zur Zeit von der programmatisch dokumentenorientierten Bildmonographienreihe des Verlages Rowohlt bis zu Romanen wie Wolfgang Hildesheimers Mozart-Buch (1977). Wenn die Rororo-Monographien-Reihe auch nicht als wissenschaftliche Reihe gilt, so sind doch die Autoren und Autorinnen größtenteils Fachwissenschaftler und Spezialisten für die dargestellte Person und schreiben unter dem Anspruch, den Stand der Forschung zu dem jeweiligen Komponisten, neuerdings auch der Komponistin zu reflektieren. Dennoch thematisieren die wenigsten von ihnen die gewählte Form biographischen Schreibens.26 Es waren keine Wissenschaftler, sondern Schriftsteller wie Wolfgang Hildesheimer, Peter Härtling (Schumanns Schatten 1998)27 oder auch Dieter Kühn (Clara Schumann, Klavier 1996)28, die versucht haben, neue Darstellungsformen auf wissenschaftlicher Basis zu entwickeln. Die genannten Autoren beziehen sich nämlich als Schriftsteller expressis verbis auf die Quellenarbeit anderer, zitieren sie sogar wie Kühn im laufenden Text, nehmen sich aber dann das Recht zu einer freien Darstellung.29 Es ist ein Rezeptionsphänomen, das es noch zu untersuchen gilt, dass eine breitere Leserschaft diese Lebensromane als historische Biographik rezipiert, obwohl diese Schriftsteller ihre Schreibweisen zum Thema der Darstellung machen. Das gilt erst recht, wenn die Grenzen zwischen Fiktion und quellenkritischer Darstellung uneingestanden fließend sind. Hier wäre z.B. Eva Weissweilers Clara Schumann Biographie (1990)30 zu nennen. Die Autorin wird zwar im Klappentext als Wissenschaftlerin und 25 Eine der wenigen Ausnahmen: Erich Wolfgang Partsch: »Kritische Gedanken zur Bruckner-Rezeption und ›Der Musikant Gottes‹ – Zur Analyse eines Stereotyps«. In: Renate Grasberger, Erich Wolfgang Partsch: Bruckner skizziert. Ein Portrait in ausgewählten Erinnerungen und Anekdoten. 2. verbesserte Aufl. Wien 1996 (Anton Bruckner. Dokumente und Studien 8), 201–255. 26 So z.B. Martin Geck: Ludwig van Beethoven. Reinbek bei Hamburg 1996. 27 Peter Härtling: Schumanns Schatten. Variationen über mehrere Personen. Roman. Köln 1996. 28 Dieter Kühn: Clara Schumann, Klavier. Ein Lebensbuch. Frankfurt a.M. 1996. 29 Vgl. z.B. Kühn: Clara Schumann (wie Anm. 28), 4: »Ich erfinde keine Details, ich übernehme sie aus wissenschaftlichen abgesicherten Arbeiten, bringe sie in neuem Kontext.« 30 Eva Weissweiler: Clara Schumann. Eine Biographie. Hamburg 1990.
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Clara-Schumann-Spezialistin präsentiert, ihre Biographie ist jedoch als biographie romancée geschrieben, in der kaum eine der von ihr benutzten Quellen im wissenschaftlichen Sinne nachprüfbar ist. Statt dessen nimmt sie eine unreflektierte Schlüssellochperspektive gegenüber den dargestellten Personen ein, eine Perspektive, die bis heute die Popularbiographik dominiert. Geschlechtsspezifische Beschreibungsmuster Vereinzelte Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die mentalen Bilder und Beschreibungsmuster in den Lebensdarstellungen männlicher Komponisten mit dem Zeitgeist verändern.31 Ein besonders gutes Beispiel ist Franz Schubert: Im Schatten Beethovens einst abqualifiziert als Liederfürst und Antiheld des Dreimädelhauses gilt heute gerade seine Instrumentalmusik als wegweisend und seine Lebensgeschichte als Paradebeispiel für einen homosexuellen und revolutionär gesonnenen Künstler. Anders in der Frauenbiographik, die gleich ob die Autoren männlichen oder weiblichen Geschlechts sind, nahezu ausnahmslos auf einer einzigen Denkfigur zu basieren scheint, dass nämlich ein Künstlerinnenleben ein verfehltes Frauenleben sei.32 Das bedeutet, anders als Männer werden Frauen von Männern und Frauen in erster Linie über ihr Geschlecht definiert. Die Plausibilität und Verkäuflichkeit dieser Denkschablone ist offenkundig so hoch, dass bisher kaum Kritik an diesen Darstellungen laut geworden ist.33 Im Rahmen der Entdeckung von Komponistinnen und Musikerinnen ab den 1980er Jahren wurde von einzelnen Autorinnen der Versuch unternommen, den »großen Meistern« »große Komponistinnen« zur Seite zu stellen34, ohne kritische Reflexion von Kanonbildungen.35 Obwohl die Quellenlage im Falle von Komponistinnen/Musikerinnen zumeist schwierig ist, und die an männlichen Lebensläufen entwickelten traditionell berufsorientierten Be-
31 Vgl. Erich Wolfgang Partsch: »Zur Problematik von Künstlerbildern am Beispiel Schuberts und Bruckners«. In: Harten (Hg.), Künstlerbilder (wie Anm. 18), 93–100. 32 Vgl. zur Callas-Biographik: Beatrix Borchard: »Künstlerleben und Frauenschicksal. Zur aktuellen Biographieschreibung über Maria Callas«. In: Neue Zeitschrift für Musik 4, 1994, 23–26. 33 Vgl. Beatrix Borchard: »Frau/Mutter/Künstlerin. Bilder-Muster-Reflexionen«. In: Harten (Hg.), Künstlerbilder (wie Anm. 18), 103–114. 34 So der Titel einer Monographie über Komponistinnen von Danielle Roster, Frankfurt a.M. 1998. 35 Als wichtige Ausnahme ist zu nennen: Marcia J. Citron: Gender and the Musical Canon. Cambridge 1993.
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schreibungskategorien sich rasch als unangemessen erwiesen36, wurde im Bereich der Musik anders als in der Geschichts- oder in der Literaturwissenschaft nur in den seltensten Fällen über das Genre Biographie sowie über die primär werkorientierten Kategorien der Musikgeschichtsschreibung nachgedacht.37 Denn statt die postulierte Trennung von Leben und Werk als Basis jeder Autonomieästhetik grundsätzlich in Frage zu stellen und neue, dem komplexen Verhältnis angemessene Darstellungsformen zu entwickeln, galt auch in der musikwissenschaftlichen Frauen- und Genderforschung bezogen auf Komponistinnen ein biographischer Zugang von vornherein als minderwertig, und es wurde immer wieder gefordert, dass man sich nun endlich der reinen Werkanalyse zuwenden solle. Bezeichnerweise wurden die ersten wissenschaftlichen Biographien über Clara Schumann38 und Fanny Hensel39 bis auf eine Ausnahme40 nicht in Deutschland geschrieben, sondern in den USA und in Frankreich, in Ländern also, in denen die Biographik traditionell eine weit höhere Wertschätzung genießt als bei uns. Dass der biographische Zugang in der Auseinandersetzung mit Komponistinnen und Musikerinnen parallel zu den Entwicklungen etwa in der Literaturwissenschaft41 dominierte, erwuchs nicht zuletzt aus einem vermeintlichen Begründungszwang für die von vornherein unterstellte mindere Qualität der Kompositionen von Frauen. Und vice versa: Je unangefochtener der Kunstcharakter eines Werks, desto weniger schien eine Kontextualisierung notwendig. Dabei wird nur an Kompositionen von Frauen die Notwendigkeit einer Zusammenschau von Schaffensbiographie und Lebensbedingungen besonders deutlich, denn es findet nicht allein Biographisches musikalischen Ausdruck, sondern Musik wird auch zur »Lebensform« (Kaden), indem sie ihrerseits Lebensläufe konstituiert.42 36 Vgl. Beatrix Borchard: »Frau oder Künstlerin – Musikerinnen im Deutschland des 19. Jahrhunderts«. In: Christian Kaden, Volker Kalisch (Hg.), Professionalismus in der Musik. Arbeitstagung in Verbindung mit dem Heinrich-Schütz-Haus Bad Köstritz vom 22. bis 25. August 1996. Essen 1999 (Musik-Kultur. Eine Schriftenreihe der Musikhochschule Düsseldorf 5), 115–122. 37 Vgl. Beatrix Borchard: »›Wie hingen alle Blicke an mir...‹ Bilder und Projektionen. Clara Schumann zum 100. Todestag«. In: Elena Ostleitner, Ursula Simek (Hg.), ›Ich fahre in mein liebes Wien.‹ Clara Schumann, Fakten, Bilder, Projektionen. Wien 1996 (Musikschriftenreihe Frauentöne 3), 73–92. 38 Nancy B. Reich: Clara Schumann. Romantik als Schicksal. Eine Biographie. Hamburg 1991. Amerikanische Originalausgabe 1985. 39 Françoise Tillard: Die verkannte Schwester. München 1994. Französische Originalausgabe 1992. 40 Beatrix Borchard: Clara Wieck und Robert Schumann. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weinheim, Basel 1984. 2. Aufl. Kassel 1992 (Ergebnisse der Frauenforschung 4). 41 Vgl. von der Lühe, Runge (Hg.): Biographisches Erzählen (wie Anm. 10). 42 Vgl. Christan Kaden: »Musik als Lebensform«. In: Giselher Schubert (Hg.), Biographische Konstellation (wie Anm. 7), 11–25.
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Über den Umgang mit biographischen Quellen Briefe spielen sowohl für die philologische als auch für die biographische Arbeit als Quellen zur Werkentstehung und Aufführungsgeschichte, als Lebensdokumente etc. für die Musikwissenschaft bis heute eine entscheidende Rolle. Zumeist werden sie als eine Art Steinbruch für Zitate benutzt, indem einzelne Zeilen aus brieflichen Zusammenhängen herausgelöst und als Belege im jeweiligen Argumentationszusammenhang angeführt werden. Wer so verfährt, reflektiert nicht, dass Briefe adressierte Texte sind, geschrieben für eine bestimmte andere Person, das heißt zugeschnitten auf – um einen Begriff von Hans Robert Jauß aufzugreifen – deren jeweiligen »Erwartungshorizont.«43 Sie sind keine verdichteten und abgeschlossenen Werke, sondern offen, Teil eines Dialogs, lassen, ob als »Seele« (Balzac) oder »kommunikatives Faktum«44 begriffen – verschiedene Lektüren zu. Als biographisches Quellenmaterial gelten Briefe als authentisch. Das sind sie zweifelsohne, aber was belegen sie? Noch heute gibt es Briefausgaben, in denen die Gegenbriefe – obwohl erhalten – nicht mit abgedruckt werden. Ein besonders eklatantes Beispiel ist die in Entstehung begriffene Mendelssohn-Briefausgabe. Durch diese falsche, weil dem Material gegenüber inadäquate Praxis wird das für Briefe so charakteristische dialogische Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdentwurf unterschlagen. Entsprechendes gilt auch für Tagebucheintragungen. Auch Tagebücher, gleich ob sie als Rechenschaftsberichte oder journals intimes konzipiert sind, sind dialogisch angelegt; Adressat der Eintragungen ist die – wie auch immer begriffene – eigene Person. Tagebucheintragungen sind zudem Momentaufnahmen, also genauso wenig wie Briefe geeignet als Steinbruch für »Statements« sub specie aeternitatis. Schließlich: autobiographische Aufzeichnungen und Veröffentlichungen. Erzählen ist immer ein Akt der Sinnstiftung, im Blick zurück bekommt jeder Entwicklungsgang eine Logik. Die Frage der intersubjektiven »Wahrheit« ist hierbei sekundär, weil im Augenblick der Narration diese für den Erzählenden selbst zur Wahrheit wird. Das mindert nicht den Wert von Lebenserinnerungen für die biographische Arbeit, nur auch sie sollten als Konstruktion, als Entwurf einer persönlichen Wirklichkeit gelesen werden. Neben schriftlichen Hinterlassenschaften benutzen Biographen gerne auch Bildmaterialien, wie Photos, Gemälde und Büsten für ihre Darstellungen. Zumeist werden sie nur illustrativ eingesetzt, ohne zu bedenken, dass im 19. Jahrhundert Büsten eine Funktion erfüllten, nämlich das Standesbewusst43 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.M. 1970. 44 Anita Runge, Lieselotte Steinbrügge (Hg.): Frau im Dialog. Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes. Stuttgart 1991.
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sein des Bürgertums zu dokumentieren, und dass Photos und Gemälde besonders für reisende Musiker und Musikerinnen zum notwendigen Werbematerial gehörten.45 Als Medien der Selbstdarstellung dokumentieren sie stets einen doppelten Blick: den des Photographierenden und den des Photographierten bzw. den des Malers und den des Gemalten. Nur für diesen doppelten Blick sind sie authentisch und bedürfen der Entschlüsselung vor dem Hintergrund auch geschlechtsspezifischer ikonographischer Traditionen einer Zeit, einer Kultur, einer Gesellschaftsschicht. Das bisher Gesagte gilt selbstverständlich auch für weitere biographische Materialien wie Akten, Erinnerungsliteratur, Ehrungen, Nachrufe und Gedächtnisreden. Sie alle spiegeln in kondensierter Form das öffentliche Bild eines Menschen, aber vermitteln sie die biographische Wahrheit? Was ist eine biographische Wahrheit? Am Anfang und am Ende der Auseinandersetzung mit biographischen Quellen steht also stets ein Erkenntnisproblem, dessen heuristisches Potential es fruchtbar zu machen gilt: Jegliches Material, durch das wir etwas über Arbeit und Selbstverständnis von Musikern erfahren, seien es Programme, Briefe oder Akten, ist immer schon aus bestimmten Perspektiven geformt, und nicht – wie Otto Erich Deutsch glaubte – »Tatsache, Selbstabdruck eines Lebens«, der keiner weiteren Interpretation bedarf. Im Laufe der Jahre wächst es zu einem Berg an, bildet jedoch nur bedingt einen festen Korpus. Zufällige Entdeckungen ebenso wie gezielte Archivarbeit fördern selbst bei so gut erforschten Komponisten wie Bach und Beethoven immer wieder reichhaltige, unveröffentlichte Quellen zutage. Die Quellen sind somit umfangreich und lückenhaft zugleich, planvoll aufbewahrt und zufällig überliefert, gezielt gesucht oder durch Zufall gefunden, z. T. bereits früher in Veröffentlichungen eingegangen, zum Teil bis heute ungedeutet und ungelesen geblieben. Leerstellen, weiße Flecken sind also kein beklagenswertes Manko, sondern essentiell: Die Eigenschaften allen Quellenmaterials, immer schon vorgeformt und unvollständig zu sein, verbieten von vornherein ein einfaches Ausbreiten von Fakten, und die Ergebnisse der Auswertung müssen immer wieder hinterfragt und neu gedeutet werden. Was wird überliefert? Wer überliefert was und warum? Was ist überlieferbar? Was wird aus welchen Gründen verdrängt? Wo wird das Material aufbewahrt, und in welcher Form geschieht dies: als Erinnerungsstück, Wertgegenstand, Spekulationsobjekt, Sammlertrouvaille oder als historische Quelle? Wie sieht die eigene Rolle im Forschungsprozeß aus? – Vor dem Hintergrund dieser Fragen 45 Vgl. Klaus Honnef (Hg.): Lichtbildnisse. Das Portrait in der Photographie. Köln 1982 (Kunst und Altertum am Rhein 110); Gabriele Busch-Salmen: »Kunst und Werbemittel. Die Bildnisse Clara Schumanns«. In: Österreichische Musikzeitschrift 51, 1996, 808–821.
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sind die Wege der Tradierung und der Recherche unlösbar mit dem Material verknüpft, damit dessen konstitutiver Teil und Gegenstand der deutenden Darstellung. »Biographien sind Erfindungen der Wahrheit« meint der englische Biograph Peter Ackroyd, um das Zwielichtige dieses Genres zwischen Roman und Geschichtsschreibung zu charakterisieren.46 Biografien Leben & Legenden, so der Titel eines Heftes der neuen Literaturzeitschrift Literaturen. Anders als in der Musikgeschichtsschreibung ist man inzwischen in der Literatur- und auch in der Geschichtswissenschaft an dem Punkt angekommen, an dem man die unvermeidliche Fiktionalität von Biographien nicht mehr als bedauerliches Manko beklagt, sondern sie wissenschaftlich zu nutzen weiß.47 Wahrnehmen heißt immer schon Interpretieren, und mentale Bilder sind ein Teil der sozialen (geschichtlichen) Realität, denn als bedeutungsgebend konstituieren sie Realität mit. Wenn man über zeitgemäße Darstellungsformen nachdenkt, gilt es an diesem Punkt anzusetzen. Montage als künstlerisches Verfahren In seinem Passagen-Werk, das, in den Jahren 1927–1936 geschrieben, erst 1982 erschien, bestimmt Walter Benjamin die Form des Schreibens, die er hier entwickelt, als besondere Spielart einer Technik, die mit Bildern, nicht mit Wörtern arbeitet: »Diese Arbeit muß die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten Höhe entwickeln. Ihre Theorie hängt aufs engste mit der der Montage zusammen.«48 Benjamin bezog sich auf eine Kunstform, die im Kontext des Dada entstanden war und in der aus der »Kette vieler zufälliger Momente, aus den unterschiedlichsten Funden in einander heterogenen Feldern eine Anordnung entsteht.« Diesen Vorgang nennt Benjamin das »Prinzip der Montage.«49 Im Bereich der bildenden Kunst seiner Zeit bereits etabliert, erschien der Status literarischer und theoretischer Montagen als etwas, das noch zu entwickeln war.50 Wer zitieren will, muss 46 Vgl. Sigrid Löfflers Vorwort zum Themenheft: »Biografien Leben & Legenden«. In: Literaturen. Journal für Bücher und Themen. Juli/August 2001. 47 Vgl. Karin Hausen: »Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung. Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte«. In: Hans Medick, Anne-Charlott Trepp (Hg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, 15–55. 48 Walter Benjamin: »Das Passagen-Werk«. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann. Bd. 5/1. Frankfurt a.M. 1991, 572. 49 Ebd., 575. 50 Vgl. ebd., 574.
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gelesen haben, Lesen in seiner doppelten Bedeutung: als Sammeln und Zusammentragen einerseits und als Entziffern andererseits. Montage wäre demnach, um eine Formulierung der Literaturwissenschaftlerin Barbara Hahn aufzugreifen, »der Name einer Arbeit, die vom Lesen zum Schreiben und wieder zurück wandert. Ein Prinzip des Lesens und Zusammentragens und gleichzeitig ein Prinzip der Anordnung der Funde: Lesenschreiben und Schreibenlesen.«51 Leser und Autor, sonst streng getrennt gedachte Positionen, rücken nun eng zusammen: Denn im Moment des Lesens ist der Leser gleichzeitig auch Schreiber52; das gilt für den Autor der Montage ebenso wie für den Leser. In der Montage entstehen Texte, so Barbara Hahn, »in denen nicht nur das geschieht, was jedem Schreiben implizit ist: einen Raum auszuschreiten, der immer schon von Gelesenem strukturiert ist, das – implizit oder expliziert zitierend – integriert wird.53 Nun entstehen Texte, die die Bruchstellen zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Fremden‹ herausstellen. In denen narrative und diskursive Sequenzen hart aneinanderprallen. Texte, geschrieben mit Schere und Klebstoff.« Montage als wissenschaftliches Verfahren Gerade im Bereich der Biographik, und das ist meine These, ist die Montage nicht nur als künstlerisches, sondern auch als wissenschaftliches Verfahren geeignet. Denn als Gestaltungsprinzip berücksichtigt sie die Aspekte, die der Historiker Klaus Füßmann als wesentlich für eine zeitgemäße dokumentarische Geschichtsdarstellung gefordert hat: die Retrospektivität jeder Geschichtsdarstellung, ihre Perspektivität, ihre Selektivität, ihre Sequenzialität – das »Moment der inneren Verknüpfung der selektierten Geschehensmomente«, ihre Kommunikativität – die Tatsache, dass sich jede Form von Geschichtsdarstellung an Adressaten wendet, und schließlich ihre Partikularität – ein Aspekt, der »den ›Stückwerk‹-Charakter historischer Darstellungen, aber auch die grundsätzliche Revidierbarkeit« zur Sprache bringt.54
51 Barbara Hahn: »Lesenschreiben oder Schreibenlesen. Überlegungen zu Genres auf der Grenze«. In: Modern Language Notes 116, 2001, 564–578. 52 Benjamin: »Das Passagen-Werk« (wie Anm. 48), 587. 53 Vgl. Sibylle Benninghoff-Lühl: ›Figuren des Zitats‹. Eine Untersuchung zur Funktionsweise übertragener Rede. Stuttgart, Weimar 1998. 54 Klaus Füßmann (Hg.): Historische Faszination. Geschichtskultur heute. Köln 1994, 32ff. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Melanie Unseld (Hamburg [jetzt: Oldenburg]).
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Zum Beispiel: Clara Schumann – eine Demontage des Biographischen 1996, ein Gedenkjahr für Clara Schumann, Pianistin, Komponistin, Frau des Komponisten Robert Schumann: Anlass, ihre Werke aufzuführen, bisher unveröffentlichtes Briefmaterial zu publizieren, Filme zu drehen, Rundfunksendungen zu machen – und Biographien zu schreiben. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich in der Clara-Schumann-Rezeption zwei Pole ab: Auf der einen Seite stand das Bemühen einer wachsenden Zahl von InterpretInnen und WissenschaftlerInnen um die musikgeschichtliche Aufarbeitung dessen, was Clara Schumann zu ihrer Zeit als Musikerin ausgezeichnet hat, auf der anderen die bereits erwähnten romanhaft geschriebenen biographischen Veröffentlichungen von Eva Weissweiler und von Dieter Kühn. Die Wissenschaft profitiert von diesen Publikationen bis heute: Clara Schumann ist die einzige Musikerin, deren Name inzwischen so bekannt ist, dass man nicht erst seitenweise begründen muss, wer sie war und warum man sich mit ihr beschäftigen will. Ihre kompositorischen Werke sind weitgehend gedruckt, ebenso reichhaltiges dokumentarisches Material. Robert Schumann war ein besessener Dokumentarist seiner selbst, und wir verdanken ihm nicht nur viele Briefe sondern auch Ehetagebücher, Haushaltsbücher, Reisetagebücher etc. Von den umfangreichen Briefwechseln Clara Schumanns ist zwar bisher nur ein Bruchteil veröffentlicht55, auch ihre Jugendtagebücher56 und vor allem ihre fast komplette Programmsammlung harren noch der Publikation, aber bereits das zur Zeit zur Verfügung stehende Material erlaubt vielfältige Einblicke in das Leben und die Arbeit einer Pianistin, die bis ins hohe Alter konzertierte und bis auf ihre englischen Reisen ihre Konzerttourneen selbst organisierte. Diese durch das wachsende Interesse an Clara Schumann erheblich erweiterte Quellenbasis und ihre wissenschaftliche Aufarbeitung haben bisher so gut wie keine Auswirkung auf das öffentliche Clara-Schumann-Bild gehabt, obwohl alle biographischen Veröffentlichungen der letzten Zeit für sich in Anspruch nehmen, auf genauer Materialkenntnis zu basieren. Und die Erkenntnisgrundlage: Kompositionen – eigene und ihr zugeeignete, Rezensio55 »Das Band der ewigen Liebe«. Clara Schumanns Briefwechsel mit Elise und Emilie List. Hg. von Eugen Wendler. Stuttgart, Weimar 1990; »…daß Gott mir ein Talent geschenkt«. Clara Schumanns Briefe an Hermann Härtel und Richard und Helene Schöne. Hg. von Monica Steegmann. Zürich 1997; Clara Schumanns Briefe an Theodor Kirchner. Hg. von Renate Hofmann. Tutzing 1996. 56 Eine Edition durch Gerd Nauhaus (Robert Schumann Haus Zwickau) und Nancy Reich ist seit langem geplant. Die Tagebücher, die Clara Schumann während der Ehe und nach dem Tode Schumanns geschrieben hat, wurden angeblich nach dem Abschluss der Litzmannschen Biographie durch die älteste Schumann-Tochter Marie vernichtet.
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nen ihres Spiels, Briefe, Tagebücher, Aussagen von Zeitgenossen, Photos, Gemälde, Blumentagebücher, Beschreibungen ihres Todes, Seidenstrümpfe, Ringe, eine Gipsbüste, eine Haarlocke, ein Stück Stoff, ein von Motten zerfressener Pelz etc. Authentizität kann dieses Material beanspruchen, aber bietet es eine hinreichende Grundlage für Aussagen darüber, wer Clara Schumann war57, was sie bewegt hat? Wie bereits dargestellt, jede Tagebucheintragung ist ein Selbstentwurf, ebenso jeder Brief. Tagebücher und Briefe können im wissenschaftlichen Sinne also weniger als Zeugnis dafür, ›wie es war‹, als vielmehr ›wie es gesehen wurde‹, ausgewertet werden. Besonders hoch ist der Grad der Geformtheit von Tagebuch- und Briefmaterialien bei einem Menschen wie Clara Schumann: Sie stand bereits als Kind im Rampenlicht und hatte noch zu Lebzeiten die Möglichkeit, für ihren eigenen Nachlass und damit auch für das Bild, das in der Öffentlichkeit von ihr verbreitet wurde, zu sorgen – eine Tatsache, die ihr gerne zum Vorwurf gemacht wird, während die Selbststilisierung eines männlichen Künstlers als Teil des Entwurfs seiner künstlerischen Existenz gilt. Außerdem fehlt in all der Dokumentenflut das wichtigste Dokument, das Dokument des Mediums, in dem sich Clara Schumann ausgedrückt hat, ihr Klavierspiel. Die Schallplatte wurde erst gegen Ende ihrer Laufbahn erfunden, und Rezensionen, Unterrichtsbeschreibungen und Aufnahmen einiger ihrer englischen Schülerinnen wie von Adelina de Lara oder Fanny Davies vermitteln nur einen schwachen Abglanz ihrer vielgerühmten Kunst der Interpretation, wenn sie auch immerhin belegen, dass Clara Schumann weder eine sentimentale Pianistin, noch eine »abgerichtete Musikpuppe« (Eva Weissweiler) war. Das heißt, wir wissen viel und wissen auch wiederum sehr wenig über die Person, die Clara Schumann, geb. Wieck hieß und von 1819 bis 1896 gelebt hat. Wir wissen nur etwas darüber, wie sie sich selbst in Briefen und Tagebucheintragungen dargestellt hat, wie andere über sie gesprochen und geschrieben haben und über die sehr unterschiedlichen Interpretationen, die ihr Leben und ihre Arbeit im Laufe der Jahrzehnte erfahren haben. Wer war Clara Schumann? Eine Frage, die jenseits der Zuschreibungen der verschiedensten Art, von denen sie von Geburt an umstellt war, nicht zu beantworten ist. Also müssen in einer kritischen Biographie die Zuschreibungen selber thematisiert werden.58 Hinzu kommt: Ob positiv oder negativ be57 »Clara Schumann war jenseits aller Rollendefinitionen in erster Linie sie selbst; sie fühlte sich, ungeteilt, als Künstlerin und Frau, und fand bei allen Tragödien und Triumphen ihres Lebens Trost und Erfüllung in der Musik.« Reich: Clara Schumann (wie Anm. 38), 14. 58 So stehen ganz am Anfang eines aus dem Rohmaterial der Biographie Clara Schumann montierten Buches zwei Namen – Clara Wieck und Clara Schumann – dazwischen eine
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urteilt – die Clara-Schumann-Rezeption ist bis heute dadurch geprägt, dass Clara Schumann nicht nur als eine historische Person unter vielen gesehen wird, sondern dass ihr Leben und ihre Arbeit auf dem Hintergrund der Frage dargestellt werden, ob Weiblichkeit, soziale Frauenrolle und eigenständige Kreativität miteinander vereinbar sind, wobei inzwischen von vornherein festzustehen scheint, dass sie eben nicht miteinander vereinbar sind.59 Auch Zuschreibungen post mortem sind Teil der Figur Clara Schumann. Montiert man nun verschiedene Textsorten wie Briefe, Konzertrezensionen, Werkbesprechungen, Verzeichnisse der während eines bestimmten Zeitabschnittes entstandenen Kompositionen, juristische Texte zum Eherecht, pädagogische Schriften zur musikalischen Mädchenerziehung etc., werden sie in ungewohnte Zusammenhänge gebracht. Graphisch voneinander abgehoben sind sie in ihrer Diversität auf den ersten Blick erkennbar. Das ist wichtig, denn das Verhältnis der Texte und Bilder ist bewusst auf vielfältige, überraschende, oft einander widersprechende oder auch sich ergänzende Perspektiven hin angelegt. Anders als in einer Dokumentarbiographie werden zitierte Briefe also weder ediert noch kommentiert, statt dessen werden einzelne Textpassagen aus ihren Zusammenhängen gerissen, montiert und den jeweiligen Lebensabschnitten zugeordnet, Anrede- und Abschiedsformeln separat als Dialog montiert, an dem man die Entwicklung der Beziehung erkennen kann60, unterschiedliche Perspektiven der Partner einander gegenübergestellt.61 Wie in der konkreten Poesie werden einzelne Formulierungen besonders hervorgehoben, in dem sie wie Gedichtzeilen gesetzt und spielerisch variiert werden.62 Der Gesamtaufbau des Buches kann zwar chronologisch angelegt sein, jedoch nicht linear; damit der Leser, die Leserin – vergleichbar mit einer interaktiven CD-ROM – auch mittendrin eine Seite aufschlagen und zu lesen beginnen kann. Und anders als in einer Dokumentarbiographie bleibt in einer Montage aus Originalmaterialien der Autor, die Autorin auch ohne reflektierenden Text sichtbar, und zwar in der Auswahl der Materials und der Art der Montage. Das Ergebnis einer reflektierten Montage ist also kein »Buch der Tatsachen, des Selbstabdrucks eines Lebens«, es hält nicht die »biographische IlluListe von Verortungen und Funktionen: Tochter, Schwester, Schülerin, Geliebte, Komponistin, Ehefrau, Mutter, Pianistin, Witwe, Herausgeberin, Nachlassverwalterin, Lehrerin usw. Die Kapiteleinteilung folgt diesen Verortungen. Vgl. Beatrix Borchard: Clara Schumann. Ihr Leben. Frankfurt a.M., Berlin 1991, 22. 59 Ebd., 9. 60 Borchard: Clara Schumann (wie Anm. 58), 78–79. 61 Ebd., 82–88 oder 96–97. 62 Ebd., 73.
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sion« aufrecht,63 sondern es ist ein Buch der Zuschreibungen und Interpretationen, Selbstdeutungen und Fremdwahrnehmungen. Wer von der Lektüre einer montierten Biographie erhofft, zu erfahren, wer Clara Schumann oder Beethoven oder Schubert war, wird nun mit einer Vielfalt von Blickweisen konfrontiert. Das Verhältnis Autor/Autorin – Leser/Leserin ist also ein grundsätzlich anderes als in einer erzählten Biographie. Jedes Lesen ist auch ein Mitschreiben, ein Sinnstiften (Hans Robert Jauß).64 Die Montage macht dies bewusst, indem sie die Leserinnen und Leser explizit dazu einlädt, sich selbst in die Texte mit hineinzulesen und einzuschreiben. Dabei setzt sie nicht auf eine empathische Lesehaltung, sondern erzeugt Distanz und fordert eine Reflexion der eigenen Perspektive. Damit gewinnt die Erkenntnis Gestalt, dass Autorschaft im emphatischen Sinne eine Konstruktion ist und das, was sich als Biographie eines Menschen in Büchern darstellt, zum »Effekt von Überlieferung« wird, »zum Effekt einer Lektüre, die das Biographische nicht als Gegebenheit nimmt.«65 Was allgemein für eine biographische Montage gelten kann, macht sie gerade im Bereich der Musik zu einem besonders gut geeigneten Darstellungsmittel: Sie kann nicht nur als Gegenmodell zu einer narrativen Heroengeschichtsdarstellung fungieren, sondern vermag das Wesentliche im Leben eines Menschen, einer Musikerin, nämlich Musik, als nicht darstellbare Leerstelle zu markieren. Der komplexe Zusammenhang zwischen »Biographischer Konstellation und künstlerischem Handeln«, ist dann nicht mehr das, was immer schon verstanden ist, sondern ein »Deutungsprozeß, der dem Lesenund Hören und Selbermusizieren aufgegeben bleibt.«66
63 Pierre Bourdieu: »Die biographische Illusion«. In: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handels. Aus dem Französischen von Hella Beister. Frankfurt a.M. 1998. Französische Originalausgabe Paris 1994, 75–82. 64 Jauß: »Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft«. In: Literaturgeschichte als Provokation (wie Anm. 43), 144–207, bes. 168–169. 65 Aus der Rezension der Clara-Schumann-Biographie von Beatrix Borchard. Hahn: »Lesenschreiben« (wie Anm. 51), 570. 66 Hahn: »Lesenschreiben« (wie Anm. 51), 578.
12. Methodische Herausforderungen der Oral History Jane Bowers: Vom Schreiben der Biografie einer schwarzen Blues-Sängerin (2000) Einleitung »Jede biographische Erzählung steht im hermeneutischen Horizont ihres Erzählers/ihrer Erzählerin« (Häntzschel 2001, 124). Die methodischen Herausforderungen, die daraus für das Biografieschreiben resultieren, führt Jane Bowers am Beispiel der afroamerikanischen Chicagoer Blues-Sängerin Estelle »Mama« Yancey (1896–1986) vor. Einerseits kann sie sich als Frau mit Mama Yancey identifizieren, andererseits sind ihr die Lebensbedingungen einer Afroamerikanerin fremd. Zu dieser Fremdheit kommt neben dem Generationsunterschied die Verschiedenheit der musikalischen Lebenswelten hinzu: Bowers selbst verfügt nicht über einschlägige Erfahrungen im Blues-Bereich – andernfalls hätte sie das in ihrem selbstreflexiven Text erwähnt –, sondern sie ist eine klassisch ausgebildete Musikhistorikerin und Flötistin mit einem Interessenschwerpunkt im Bereich historischer Flötenmusik. In ihrer biografischen Studie muss sie feststellen, dass die gängigen Erzählmuster für afroamerikanische Blues-Musiker, die an den Biografien von Männern entwickelt worden sind, nicht ohne Weiteres auf Frauen übertragen werden können. Einige grundsätzliche Schwierigkeiten teilt Bowers biografisches Projekt mit der Biografik historischer Frauen (vgl. Borchard im vorangehenden Kap.): die Vorbedingungen der eigenen Perspektive, die kulturelle Distanz zu dem zu beschreibenden Leben und die Begrenzung der verfügbaren Informationen, die die Biografin zum Umgang mit Lücken zwingen. Die feministische bzw. auf Gender-Fragen fokussierte musikwissenschaftliche Biografik befasst sich jedoch vorwiegend mit Frauenleben aus der westlichen bürgerlichen Musikkultur bzw. der ›klassischen‹ Musik (die im weit gefassten Sinn gebildeter Kultur bis ins europäische Mittelalter zurückreicht und z.B. Hildegard von Bingen [1098–1179] mit einschließt) und verwendet dabei Methoden der Geschichtswissenschaft. Bowers Forschungsgegenstand gehört demgegenüber zur Gegenwart bzw. jüngsten Vergangenheit, zur populären Musik und zur afroamerikanischen Kultur. Als Musikhistorikerin, die mit ihrem gemeinsam mit Judith Tick herausgegebenen Sammelband Women Making Music zunächst einen Pionierbeitrag zur feministischen Musikgeschichtsschreibung vorgelegt hat, ist Bowers ein Beispiel dafür, dass Gender-Forschung zum Überdenken und Überschreiten herkömmlicher Grenzen in der Disziplin führt. Dabei gelingt es ihr am Beispiel von Mama Yancey sehr konkret zu beschreiben, wie
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eng verschiedene Aspekte von Identität – hier Gender und ethnische Zugehörigkeit – miteinander verflochten sind. Für ihre Biografie von Mama Yancey greift Bowers zum einen auf historische Methoden zurück, indem sie schriftliche Quellen studiert; zum anderen verwendet sie Methoden der Oral History, indem sie sich auf zwei eigene kurze Interviews mit Mama Yancey selbst stützt sowie auf ein Interview, das sie nach deren Tod mit Mama Yanceys Nichte führte. Am Ausgangspunkt ihrer Untersuchung steht nicht eine historische, sondern eine ethnografische Beobachtung, nämlich das eigene Erleben eines Auftritts von Mama Yancey beim 1983er Folk-Festival der Chicagoer Universität. Die biografischen Ungewissheiten ergeben sich dabei nicht nur aus den Informationslücken der schriftlichen und mündlichen Quellen, sondern auch aus Abweichungen und Widersprüchen in Mama Yanceys eigenen Erzählungen. So äußerte diese in verschiedenen Interviews widersprüchliche Angaben über die Orte, an denen sie aufwuchs und über ihre frühen Auftritte. Ihre verschiedenen Erzählungen über Publikumserzählungen, Partys, Alkoholkonsum und Sexualität lassen erkennen, dass Erinnerungen auch Selbstdarstellungen sind. In ihrem methodologischen Text fragt Bowers, inwiefern sich ihre Sammlung komplexer, teils widersprüchlicher biografischer Informationen in eine kongruente Erzählung fassen lässt, und diskutiert dazu eine Reihe einschlägiger biografischer Modelle. Am hilfreichsten erscheinen Untersuchungen, die sich speziell mit afroamerikanischen Frauen auseinandersetzen, was einmal mehr die Verwobenheit von Gender und ethnischer Zugehörigkeit bestätigt. Am Ende muss Bowers konstatieren, dass sie immer noch nach einem theoretischen Rahmen sucht. Dennoch können ihre Fragen verschiedenen biografischen Ansätzen als Anregung dienen, gerade weil Bowers ihre eigene Position reflektiert und dabei auch vor der kritischen Reflexion ihres feministischen Selbstverständnisses nicht Halt macht. Ähnliche Fragen stellen sich bei Biografien afroamerikanischer Musikerinnen in anderen Bereichen wie z.B. Hip Hop (vgl. Rose 1994). Da Biografik ein Teil von Musikgeschichte ist, gehört die Frage, wie man die Biografie einer Frau schreibt, in den Zusammenhang umfassenderer Geschichten. So basiert z.B. die Geschichte von Frauen in der Rockmusik auf den Biografien beteiligter Frauen (vgl. Fast 2009). Bowers stößt am Ende ihres Artikels auf die Frage, wie sich eine biografische Auseinandersetzung mit einer Frau wie Mama Yancey begründet, deren musikalische Hinterlassenschaft sich in relativ engen Grenzen hält. Eine Stärke ihrer Untersuchung kann gerade darin gesehen werden, dass sie sich nicht an gegebenen Kanones und Repertoires orientiert, sondern ihren Gegenstand aus eigenem Interesse wählt – ohne Anspruch, diesen einem Kanon einzuschreiben. So unverzichtbar die feministische bzw. dekonstruktivistische Kritik an ›dem‹ Kanon (vgl. Citron, Kap. 5 im vorliegen-
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den Band) ist – einschließlich der Kanones der populären Musik (vgl. Fast 2009) –, belegt Bowers Beitrag doch den Erkenntnisgewinn einer Musikerinnenbiografik ohne Anspruch auf Kanonkritik. Gerade durch die Auseinandersetzung mit einer weniger berühmten Musikerin wie Mama Yancey vermag sie möglicherweise mehr über die Kultur weiblicher Blues-Musikerinnen zu sagen als die bekannten Modelle herausragender Blues Queens wie Bessie Smith (vgl. z.B. Davis 1998), die sich auf Mama Yancey nicht übertragen lassen. Bowers nähert sich damit einem ethnologischen Ansatz. Wie Ellen Koskoff (1993) gezeigt hat, versprechen ethnologische Studien zu Frauen gerade dann einen Erkenntnisgewinn, wenn die verschiedenen Perspektiven sichtbar gemacht und integriert werden: (1) die ethnografische Beobachtung, der es um das Gesamtbild einer musikalischen Kultur geht, (2) die feministisch-kritische Sicht auf die Geschlechterverhältnisse in dieser Kultur und (3) die Innenperspektive der Informantinnen. Auf diese Weise können wir aus widersprüchlichen Lebenserinnerungen wie denjenigen Mama Yanceys etwas über komplexe kulturelle Zusammenhänge lernen, in diesem Fall die Lebenssituation afroamerikanischer Blues-Women. Koskoff verweist mit kritischem Blick auf »die vielen bewussten und unbewussten Vorurteile, durch die alle sogenannten ursprünglichen Daten [raw data] – ethnografische oder historische – gefiltert werden«, und schlägt vor, »dass wir damit beginnen, Perspektiven einzubeziehen, um beobachtete und gelebte Kulturen besser in ihrer Ganzheit porträtieren zu können, anstatt uns weiterhin damit zufriedenzugeben, Geschichten zu erzählen, die weniger von Anderen als von uns selbst handeln« (Koskoff 1993, 163). Florian Heesch Textvorlage Jane Bowers: Writing the Biography of a Black Woman Blues Singer. In: Pirkko Moisala, Beverley Diamond (Hg.), Music and Gender. Urbana 2000, 140–165 [Auszug].
Weitere Veröffentlichungen von Jane Bowers [als Hg., zus. mit Judith Tick:] Women Making Music. The Western Art Tradition. 1150– 1950. London 1986. The Development of Gender Studies in American Musicology. A View from 2000. In: Freia Hoffmann, Jane Bowers, Ruth Heckmann (Hg.), Frauen- und Männerbilder in der Musik. Festschrift für Eva Rieger zum 60. Geburtstag. Oldenburg 2000, 21–25. Current Issues in Feminist Musical Scholarship. Representation and Gender Performance, Identity and Subjectivity, and Telling Stories about Women’s Musical Lives. In: Journal of the International Alliance of Women and Music 8, 2002, Nr. 3, 1–10.
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Weiterführende Literatur Brombach, Sabine, Bettina Wahrig (Hg.): LebensBilder. Leben und Subjektivität in neueren Ansätzen der Gender Studies. Bielefeld 2006. Davis, Angela Y.: Blues Legacies and Black Feminism. Gertrude »Ma« Rainey, Bessie Smith, and Billie Holiday. New York 1998. Fast, Susan: »Girls: Rock Your Boys!« The Continuing Non-History of Women in Rock Music. In: Annette Kreutziger-Herr, Katrin Losleben (Hg.), History | Herstory. Alternative Musikgeschichten. Köln 2009 (Musik – Kultur – Gender 5), 154–172. Häntzschel, Hiltrud: Vom wissenschaftlichen Umgang mit den Leerstellen im biographischen Material. Ein Werkstattbericht am Beispiel Irmgard Keuns. In: Irmela von der Lühe, Anita Runge (Hg.), Biographisches Erzählen. Stuttgart, Weimar 2001 (Querelles. Jahrbuch für Frauenforschung 6), 115–125. Koskoff, Ellen: Miriam Sings Her Song. The Self and the Other in Anthropological Discourse. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993, 149–163. Rose, Tricia: Black Noise. Rap Music and Black Culture in Contemporary America. Hanover 1994.
Ausgewählter Text Im Folgenden möchte ich die Frage des autobiografischen Schreibens aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven beleuchten, um herauszufinden, inwiefern sie helfen können, Aufschluss über Mama Yanceys Lebensgeschichte und ihre Selbstdarstellung zu geben. […] Ein Wissenschaftler, dessen Arbeiten zu Blues-Musikern ich dazu gern erwähnen möchte, ist Charles Keil. In Urban Blues beschäftigt sich Keil hauptsächlich mit den Ausdrucksmöglichkeiten der Rolle des zeitgenössischen ›Bluesman‹ im Kontext einer städtischen, afroamerikanischen Unterschichtenkultur. Keil1 benutzt den Begriff der ›Rolle‹, um etwas zu beschreiben, was die Person, die sie erfüllt, aufgrund der Erwartungen seines oder ihres Publikums auszudrücken verpflichtet ist. Er behauptet: Der Gauner (oder Angehörige der Unterwelt) und der Entertainer sind die Idealtypen, an denen der Schwarze aus der Unterklasse [lowerclass Negro] seine Werteorientierung misst. […]. Beide […] werden als Männer angesehen, die gewitzt und talentiert genug sind, um finanziell gut dazustehen, ohne zu arbeiten. In diesem Sinne kann ein guter Prediger in den Augen seiner Gemeindemitglieder und der Gemeinschaft der Schwarzen im Allgemeinen sowohl ein Gauner als auch ein Entertainer sein.2
1 Charles Keil: Urban Blues. Chicago 1966, 1–2. 2 Ebd., 20.
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Für Keil sind Blues-Gesang und Predigen eng miteinander verbunden, obwohl der Blues-Gesang offensichtlich eine säkulare und sogar profane Ausdrucksform ist, und er behauptet, dass der Blues-Sänger eine den heiligen Rollen innerhalb der afroamerikanischen Gemeinschaft eng verwandte Rolle spielt. Er schlägt sogar vor, die Rolle des Blues-Sängers als »all-umfassend in ihrer Natur« zu verstehen, und betont, dass sie »alle anderen Rollen, denen zu entsprechen von einem erwachsenen Mann normalerweise erwartet wird, entweder integriert oder überschattet«3 – so zum Beispiel die Rollen des Ehemanns und Vaters. Die Merkmale einer solchen Blues-Rolle scheinen ihm dennoch schwer beschreibbar, denn »durch seine Persönlichkeit und seinen Lebensstil repräsentiert der Blues-Sänger ein herausragendes Verhaltensmodell schwarzer Männer im Allgemeinen. Der Bluesman ist in allen Belangen ein Jedermann: Der Bluesman vom Land stellt den Archetypus des Wanderarbeiters dar; der Bluesman der Stadt ist ein Stereotyp des Stechers und des Gauners.« Dazu kommt, dass der Mensch nicht von seiner Rolle zu trennen ist, denn »die Arbeit des Bluesman ist sein Leben – und umgekehrt.«4 Was haben Keils Spekulationen zur Rolle des Bluesman mit Mama Yancey zu tun? In Bezug auf die konstatierte Verbindung von Blues-Gesang und Predigen gibt es durchaus Übereinstimmungen, denn einige der Botschaften, die Mama in ihren Stücken verkündet hat – darüber, richtig von falsch zu unterscheiden, dafür zu kämpfen, würdig behandelt zu werden oder auch, aufrichtig und tief zu trauern und mit Tod und Verlust umzugehen – klingen tatsächlich stark nach einer Predigt. Dennoch gibt es im Großen und Ganzen mehr Unterschiede als Übereinstimmungen. Erstens ist es wahrscheinlich, dass aufgrund der Rollen von Sex und Gender, die Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft zugewiesen werden, keine Frau jemals in der Lage war, eines der beiden von Keil beschriebenen Ideale – Gauner und Entertainer – auf dieselbe Art wie ein Mann zu repräsentieren. Genauer gesagt wäre Mama Yancey, da sie ihr Leben lang entweder außerhalb des Musikgeschäfts gearbeitet hat oder aber von jemandem unterstützt worden war, niemals als ausreichend talentiert angesehen worden, um ohne arbeiten zu gehen finanziell über die Runden zu kommen. Zweitens konnte eine Frau, unabhängig von ihrer Persönlichkeit und ihrem Gebaren, niemals zu einem allgemeingültigen Modell afroamerikanischen männlichen Verhaltens werden. Es stimmt, dass Blues-Künstlerinnen, wenn sie viel reisten, mit etwas gutem Willen als Abbild eines archetypischen Wanderarbeiters durchgehen konnten, aber es wäre schon deutlich schwieriger, das Stereotyp des ›Stechers‹ oder Gauners darzustellen. Was die Arbeit des Bluesman angeht, die ja sein Leben ist (und umgekehrt): dies 3 Ebd., 143. 4 Ebd., 152–153.
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würde nur auf jene Musikerinnen zutreffen, die konstant unterwegs waren, um den Blues zu singen oder zu spielen. Mama Yancey dagegen reiste ausgesprochen selten, um den Blues zu singen, und sie vermengte ihre Rolle innerhalb der Familie auch nicht mit der Blues-Rolle, war darüberhinaus auch nicht männlich in ihrem Verhalten und stand der Welt der professionellen Unterhaltung ohnehin recht fern, so dass es nicht möglich scheint, mit Keils Konzept der Rolle eines zeitgenössischen Bluesman viel von ihrem Leben oder ihrer Karriere zu erklären. Peter Aschoff hat kürzlich die Frage der sozialen Rolle des Bluesman behandelt. Er gibt zu, dass es eine große Anzahl großartiger Blues-Künstlerinnen gegeben hat, argumentiert jedoch trotzdem, dass die soziale Rolle des Bluesman gewissermaßen geschlechtsspezifisch sei: Musiker zu sein, der Blues macht, ist eine Frage des musikalischen Könnens/des Talents und damit allen zugänglich, aber die Rolle des Bluesman ist eine soziale Rolle, die per Definition der weiblichen Seite verwehrt ist. (…) Genau wie eine Frau per Definition niemals katholischer Pfarrer werden kann, so kann sie per Definition niemals die Rolle eines Bluesman annehmen ohne geschlechtliche Ambiguität zu provozieren. Es ist die soziale und geschlechtliche Ambiguität von Blues-Sängerinnen, die innerhalb der Mythologie der Blues-Kultur als kraftvolle, ja sirenengleiche sexuelle Magie wahrgenommen wurde.5
Aschoff weist darauf hin, dass der Begriff ›Blueswoman‹ als offensichtliches Gegenstück zum Begriff des Bluesman im Lexikon des Blues nicht existiert, und seiner Meinung nach hat man sich die wenigen zähen, legendären Frauen, die in der Lage gewesen waren, das Leben eines Bluesman auszuhalten – Memphis Minnie, Lucille Bogan und Louise Johnson – so vorzustellen, dass sie vom Leben zu Bluesmen gemacht wurden, obwohl sie nicht in diese Rolle geboren worden waren. Anders als Varieté- und Vaudeville-Blues-Sängerinnen wie Ma Rainey und Bessie Smith lebten »echte Blues-Frauen« dasselbe Leben wie Männer. Während also die Beschäftigung und die Rolle des Bluesman männlich definiert sind, können sowohl Männer als auch Frauen diese Rolle annehmen. Tatsächlich meint Aschoff, dass Frauen im Blues viel von ihrer sozialen Autorität und sexuellen Macht durch die mehrdeutige Besetzung einer männlichen sozialen Rolle und Position gewinnen.6 Natürlich ist auch Aschoffs Konzept des Bluesman nicht geeignet, um Mama Yancey gerecht zu werden. Weil sie nicht das Leben eines Bluesman lebte, besetzte sie nicht einmal annähernd eine männliche soziale Rolle und Position. 5 Peter Aschoff, unveröffentlichtes Manuskript. Universität von Mississippi 1995, 51–52. 6 Ebd., 54–46.
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Wurden denn irgendwelche Modelle entwickelt, die besser geeignet sind, Aufschluss über schwarze Blues-Sängerinnen wie Mama Yancey zu geben? Erfüllt Mama Yancey irgendwie die Rolle, die man im Rückblick Blues-Sängerinnen der 1920er und 30er Jahre zugeschrieben hat? Um diese Frage zu beantworten, werde ich zuerst einen einflussreichen Artikel von Hazel Carby über die Geschlechterpolitik des weiblichen Blues in dieser Zeit betrachten. In »It Jus Be’s Dat Way Sometime« befasst sich Carby mit mehreren Themen. Eines davon ist die Art und Weise, in der sowohl in fiktionalen als auch biografischen Erzählungen die Blues-Sängerinnen mythologisiert und letztlich benutzt werden, um Frauen so darzustellen, als ginge es ihnen einzig darum, »zu manipulieren und ihre Konstruktion als sexuelle Subjekte zu kontrollieren.«7 Eine andere Frage ist, wie verschiedene Blues-Texte, die von diesen Frauen gesungen wurden, die weibliche sexuelle Autonomie bestätigen und wie zum Beispiel innerhalb eines Stücks die Zeile »I can play and sing the blues« die Sängerin »in das Zentrum einer subversiven und befreienden Aktivität« versetzt.8 Ein drittes Thema ist die Karriere der Sängerinnen, die als subversive Leistung verstanden werden kann, da diese Karrieren häufig verfolgt wurden, obwohl dies den jeweiligen Männern im Leben der Sängerinnen missfiel.9 Darüberhinaus betrachtet Carby Blues-Sängerinnen als Menschen, die »einen privilegierten Raum« einnehmen: Sie sind den häuslichen Fesseln entkommen und haben ihre Sinnlichkeit und ihre Sexualität aus dem Privaten in die öffentliche Sphäre gebracht. Denn diese Sängerinnen waren wundervoll, und ihre physische Präsenz erhob sie dazu, dass man sie als Göttinnen bezeichnete, als Hohepriesterinnen des Blues oder, wie Bessie Smith, als Kaiserin des Blues. Ihre physische Präsenz war ein entscheidender Aspekt ihrer Macht; ihr visuelles Auftreten in glitzerndem Kleid, in Pelz, mit Goldzähnen und mit Diamanten, all die opulenten und begehrenswerten Aspekte ihres Körpers haben ihre weibliche Sexualität von der Verdinglichung durch männliche Begierde als einen Ausdruck weiblichen Begehrens zurückgewonnen.10
Obwohl der Moment, indem der Blues die Macht der Frauen und ihre Kontrolle über die Sexualität ermöglichte, kurzlebig war, seien die Frauen, die
7 Hazel Carby: »It Jus Be’s Dat Way Sometime. The Sexual Politics of Women’s Blues«. In: Radical America 20, 1986, Nr. 4, 9–22, hier 12. Reprint in: Ellen Carol DuBois, Vicki L. Ruiz (Hg.), Unequal Sisters. A Multicultural Reader in U.S. Women’s History. New York 1990. 8 Ebd., 18–19. 9 Ebd., 19. 10 Ebd., 19–20.
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diesen Blues gesungen haben, zu kulturellen Ikonen der sexuellen Macht geworden.11 Carbys Perspektive legt zumindest einen wichtigen Ansatz nahe, mit dem Mama Yancey studiert werden kann: anhand des Inhalts ihrer Texte. In einigen dieser Texte stellt sich Mama dar als jemand, der Kontrolle über seine Konstruktion als sexuelles Objekt erlangen will, wie ihre Zeilen »Make me a pallet on your flo’ / So when your good gal comes she will never know« (»Mach mich zu einem Lager auf deinem Boden / So dass, wenn dein braves Mädchen kommt, sie es niemals erfahren wird«) zeigen. Expliziter Sex war dennoch selten im Fokus von Mamas Texten. In einigen ihrer Stücke positionierte sie sich deutlich im Zentrum einer »subversiven und befreienden Tätigkeit«, zum Beispiel, indem sie über ausgeklügelte Wege nachdachte, um ihren Mann zu verfolgen, nachdem dieser sie verlassen hat. Hier wagt sie, »einen [anderen] Mann jeden Tag der Woche« zu haben und rät anderen Frauen: »Tell your man once, little girl, you do not have to tell him twice« (»Sag es deinem Mann ein einziges Mal, kleines Mädchen, du brauchst es nicht zweimal zu sagen«). Nichtsdestoweniger ist das Ausmaß, indem sie ihre persönlichen Wertvorstellungen darlegt, unklar, da sie in ihrer Autobiografie nicht eindeutig auf diese Themen eingeht. Ich werde später zu dieser Frage zurückkehren. Mama Yancey verfolgte außerdem nicht subversiv eine Karriere gegen den Wunsch der Männer in ihrem Leben, und weder trug sie jemals glitzernde Kleider, Pelz oder Diamanten wie die frühen Vaudeville-Blues-Sängerinnen noch stellte sie ihren Körper bei ihren Darbietungen als begehrenswert dar. Somit kultivierte sie keineswegs das Image der ›Blues-Queen‹, was bedeutet, dass sie die Rolle, die man populären Blues-Sängerinnen der 1920er Jahre zuschrieb, nicht erfüllte. Ann duCille hat freilich die Mythologie, welche die gefeierten Blues-Sängerinnen der 1920er und 30er Jahre umgab, in ihrem letzten Buch The Coupling Convention in Frage gestellt. Sie vergleicht deren Images dort mit dem Image von Frauen, die eine andere kulturelle Form kreierten, die duCille »bürgerlichen Blues« [»bourgeois blues«] nennt. Damit bezeichnet sie die kulturellen Kommentare, die von schwarzen Autorinnen wie Jessie Fauset, Nella Larsen und Zora Neale Hurston verfasst wurden, und sie hinterfragt kritisch den utopischen Trend in der zeitgenössischen Kulturkritik, der bereitwillig Widerstand in solch privilegierten, sogenannten authentisch schwarzen Diskursen wie dem klassischen Blues der 1920er und den folkloristischen Romanen einer Zora Neale Hurston erkennt, während er dies anderen kulturellen Formen abspricht, weil sie scheinbar (weißen) Wertvorstellungen verhaftet sind und für diese werben. […] Ich behaupte, dass 11 Ebd., 21.
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viel von dem Diskurs, der sich für die Ideen von sexueller »Selbst-Erfindung« und »Authentizität« der Blues-Queens wie Bessie Smith und ihrer Bedeutungs-Schwestern wie Zora Neale Hurston einsetzt, dies tut, ohne die reflexive Natur jener Erfindung zu untersuchen, ohne die Rolle der Ideologie zu hinterfragen, die diese Periode, ihre Künstler und das Interesse sowohl am einfachen Volk als auch an der schwarzen weiblichen Sexualität geformt hat.12
Obwohl viele von duCilles Argumenten bloß entfernt mit meinen Fragen zur Identität von Mama Yancey zu tun haben, finde ich dennoch manches an ihrer umfassenden Perspektive hilfreich. Sie weist beispielsweise auf die Gefahr hin, die Komplexitäten afroamerikanischer Geschichtserfahrung auszulöschen und sie durch eine einzelne, monolithische Konstruktion zu ersetzen.13 Sie vermutet, dass wahrscheinlich bloß einige wenige schwarze Frauen »jene Form von sexuell befreitem Leben lebten oder jene lockeren Wertvorstellungen, die im Blues propagiert wurden, geteilt haben« und dass der Blues, wie andere expressive Medien, das Fantastische evozieren wollte.14 DuCille problematisiert auch Carbys Feststellung, dass sich Frauen im Blues als sexuelle Subjekte erfunden haben. Obgleich die Texte in Stücken wie »I’m a Mighty Tight Woman« und »Put a Little Sugar in My Bowl« »offen über sexuelle Freiheiten und individuelle Entscheidungen sprachen (...), sprachen sie auch von der rassischen und sexuellen Ikonographie, welche die afrikanische Frau als hypersexuelle Primitive dargestellt hat.«15 DuCille schlägt vor, dass wir die Ideologie kritisch untersuchen, die »die Erfindung sowohl der explizit sexuellen schwarzen Frau als Subjekt, wie sie in den Stücken von Blues-Sängerinnen wie Bessie Smith und Ma Rainey besungen werden, als auch die häufig eher versteckten sexuellen Subjekte, wie sie in den Romanen von Jessie Fauset, Nella Larsen und Zora Neale Hurston beschrieben werden, ermöglicht hat.«16 Sowohl Carby als auch duCille weisen auf die kulturell konstruierte Natur der herrschenden Vorstellungen von Blues-Sängerinnen der 1920er und frühen 30er Jahre hin. Indem ich diese Studien zitiere, möchte ich die Aufmerksamkeit auf die Gefahren lenken, die drohen, wenn man zeitgenössische kulturelle Konstruktionen von Blues-Sängerinnen als analytische Werkzeuge benutzt, um die Wirklichkeit des Lebens und des Bewusstseins der BluesSängerinnen zu verstehen. Vor allem duCilles Warnungen legen nahe, vor12 Ann duCille: »Blues Notes on Black Sexuality. Sex and the Texts of the Twenties and Thirties«. In: The Coupling Convention. Sex, Text, and the Tradition in Black Women’s Fiction. New York 1993, 66–85, hier 67, 69. 13 Ebd., 71. 14 Ebd., 72. 15 Ebd., 74. 16 Ebd.
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sichtig zu sein, wenn man zu viel in die Idee der Selbst-Erfindung einer Sängerin hineinliest. Mama Yanceys Distanz zu diesen Blues-Sängerinnen in Bezug auf die Wahl der Karriere, die Auswahl der Stücke, das professionelle Auftreten und die physische Darbietung als Künstlerin jedenfalls legen nahe, dass die Mythen, welche die frühen Blues-Sängerinnen umgeben, uns nicht helfen werden, Mama zu verstehen. Ihr Leben und ihre Arbeit müssen in einem anderen Rahmen betrachtet werden. Ich denke, es war vor allem Mamas Distanz zur Welt des professionellen Entertainments, die das Konzept der Rolle, mit dem sowohl Keil als auch Aschoff ausdrücklich arbeiten, und das Carby und duCille ebenfalls in Verbindung mit dem Fokus auf Image und Mythologie bemühen, als Mittel zur Betrachtung von Mama Yanceys Leben verbietet. Anstatt eine expressive Rolle zu erfüllen, scheint Mama die meiste Zeit ein recht gewöhnliches Leben geführt zu haben, wobei bestimmte Umstände es ihr erlaubten, ihr außergewöhnliches Gesangstalent von Zeit zu Zeit außerhalb ihres gewohnten Umfelds zu präsentieren. Obwohl jedes Publikum, also auch das, für das Mama sang, gewisse Erwartungen an seine Darsteller stellt, und obwohl Mama all jene Aspekte, die Keil als Klang, Timing und gesprochenes Wort (das bei Mama freilich meist eher das gesungene Wort war) beschreibt,17 besonders gut beherrschte, war sie keine Entertainerin im gewöhnlichen Sinne. Welche Modelle zur Untersuchung afroamerikanischer Gruppen, vor allem Frauen, könnten mehr Aufschluss über Mama Yancey geben? Wie kann ich am besten verstehen, wie Mama Yanceys Identität, die sowohl afroamerikanisch als auch weiblich war, ihr Leben und die Art, sich anderen zu präsentieren, beeinflusst hat? Darlene Clark Hines Forschung über die Autobiografien von schwarzen Frauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die aus dem Süden in den Mittleren Westen emigriert oder geflohen waren, scheint einen hilfreichen Rahmen zu bieten. Hines stellt fest, dass schwarze Frauen generell einen Kult um das Geheime entwickelten und einer Kultur der Unähnlichkeit zugetan waren, mit Hilfe derer sie die Heiligkeit innerer Teile ihres Lebens zu schützen vermochten. Die Dynamik der Unähnlichkeit beinhaltete, dass die Frauen einen Eindruck von Enthüllung oder Öffnung des Selbst und der Gefühle vermittelten, während sie in Wirklichkeit ein Rätsel blieben. Nur durch das Geheimnis und die damit erlangte selbstgewählte Unsichtbarkeit konnten schwarze Frauen sich einen psychischen Raum schaffen und jene Ressourcen schützen, die nötig waren, um
17 Keil: Urban Blues (wie Anm. 1), 16.
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sich in häufig ungerechten und unausgeglichenen Widerstandskämpfen zu behaupten.18
Die selbstgewählte Geheimhaltung und die Kultur der Unähnlichkeit nahmen ihre am stärksten institutionalisierte Form an, als 1896 die National Association of Colored Women’s Clubs gegründet wurde, in deren Zentrum das Bemühen stand, ein positives Bild von der Sexualität schwarzer Frauen zu entwerfen. Um negativen Stereotypen begegnen zu können, spielten viele schwarze Frauen ihre sexuellen Ausdrucksmöglichkeiten entweder herunter oder leugneten sie sogar.19 Obwohl sich Mama Yancey meines Wissens niemals der Club-Bewegung anschloss, die eine selbstbewusste Kultur des Widerstands zum Ziel hatte, war ihre Zurückhaltung, genaue Informationen über sich preiszugeben, möglicherweise ein Zeichen dafür, dass sie ein Teil jener übergeordneten Kultur von schwarzen Frauen war, die sich der Unähnlichkeit verschrieben hatte. Nichts, was wir von ihr wissen, lässt vermuten, dass sie Aktivitäten vermieden hätte, die Wasser auf den Mühlen ihrer Kritiker waren, so wie es viele der Frauen gemacht haben, über die Hines schreibt: So beteiligte sich Mama zum Beispiel möglicherweise an illegalem Glücksspiel, und es kann sein, dass sie einen außerehelichen Liebhaber hatte. Dennoch scheint es, als habe sie mit Interviewern über solche Dinge niemals gesprochen. Es war dabei wohl eine selbst gewählte Geheimhaltung und Unähnlichkeit am Werk, die über Mamas Darstellung zahlreicher Identitäten hinausging. Sie schwieg sich einfach über gewisse Aspekte ihres Lebens aus. Vielleicht lag dies auch daran, dass sie hauptsächlich von Weißen interviewt wurde, bei denen sie »sich in (...) unausgeglichenen Widerstandskämpfen (...) behaupten« musste, um es mit Hines These zu sagen. In einem Kapitel zur Macht der Selbstdefinition, das in Black Feminist Thought enthalten ist, treibt Patricia Hill Collins das Motiv der Unähnlichkeit schwarzer Frauen noch weiter, indem sie das doppelte Bewusstsein vieler Afroamerikanerinnen diskutiert, das sie entwickelt hätten, um »einen selbst definierten Standpunkt vor den neugierigen Augen dominanter Gruppierungen« zu schützen und zu verstecken.20 Collins vermutet, dass dieser Kampf afroamerikanische Frauen, die damit zwei Leben zu leben hatten, eines für 18 Darlene Clark Hine: »Rape and the Inner Lives of Black Women in the Middle West. Preliminary Thoughts on the Culture of Dissemblance«. In: Signs 14, 1989, 912–920, hier 915. Reprint in: Ellen Carol DuBois, Vicki L. Ruiz (Hg.), Unequal Sisters. A Multicultural Reader in U.S. Women’s History. New York, 1990. 19 Ebd., 917–918. 20 Patricia Hill Collins: »The Power of Self-Definition«. In: Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness, and the Politics of Empowerment. Boston 1990, 91–114, hier 91.
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andere und eines für sich, zur Beschäftigung mit Fragen der Selbstdefinition geführt hat.21 Sie schlägt daher vor, das Bemühen schwarzer Frauen um eine eigene Stimme in mindestens drei sicheren Räumen zu verorten: (1) in den Verbindungen schwarzer Frauen untereinander, (2) in der als Kunst verstandenen Musik, was Spirituals, Blues, Jazz und den progressiven Rap der 1980er Jahre umfasst, und (3) in »dem Raum, der von schwarzen Autorinnen geschaffen wurde.«22 In Bezug auf Mama Yancey kann Collins’ erste Kategorie eines »sicheren Raumes« nicht geprüft werden, denn Mamas Beziehungen zu anderen schwarzen Frauen wurden niemals dokumentiert. Die Texte von Mamas ursprünglichen Blues-Stücken gehören jedoch klar zur zweiten Kategorie von Collins, und diese Stücke können sehr wohl als Informationsquellen über Mamas Selbstbild herangezogen werden. Da ich Mamas Texte bereits an anderer Stelle untersucht habe, wo ich sie in Bezug zu ihrem eigenen Leben, ihrer Persönlichkeit, Wertvorstellungen und Gender-Identität sowie in Beziehung zu Blues-Texten, die von anderen gesungen wurden, gelesen habe,23 werde ich dies hier nicht im Detail besprechen. Ich möchte dennoch ein Beispiel geben. In »How Long Blues«, einem Song, den Mama regelmäßig aufführte und bei sechs verschiedenen Gelegenheiten aufnahm, dreht sich Mamas Text um die schlechte Behandlung der Sängerin durch ihren Mann, was generell ein zentrales Thema in BluesSongs ist. Doch Mama schafft eine besondere Originalität, indem sie Strophen einfügt, die die Figur einer braven, kleinen Frau beschwören, die sich durchkämpft, ein klares Bewusstsein von richtig und falsch hat und versucht, dies an andere weiterzugeben. Wenn man diesen Text mit den Prinzipien vergleicht, die Mama in Gesprächen vorgetragen hat oder damit, wie sie sich im richtigen Leben verhalten hat, lässt sich schließen, dass man ihre Persönlichkeit und Wertvorstellungen ganz gut in der Figur erkennen kann, die sie in diesem Song – wie in anderen Songs auch – erschaffen hat. Das Material von Mamas Darbietungen kann daher als Rohmaterial ihrer Biografie angesehen werden. Nichtsdestoweniger müssen die Texte genauso sorgfältig interpretiert werden wie ihre Erzählungen in Interviews, da sie stark von Genrekonventionen, dem performativen Kontext und der Verwendung traditioneller Verse und Strophen geprägt sind, die charakteristisch für die Folk-Blues-Tradition sind. Ich bin also immer noch auf der Suche nach einem theoretischen Rahmen, mit dem ich Mama Yancey verstehen kann. Und tatsächlich finde ich es trotz meiner Affinität zu Mama, die darauf beruht, dass wir ein soziales Geschlecht 21 Ebd., 94. 22 Ebd., 96–103. 23 Vgl. Jane Bowers: »›I Can Stand More Trouble Than Any Little Woman My Size‹. Observations on the Meanings of the Blues of Estelle ›Mama‹ Yancey«. In: American Music 11, 1993, Nr. 1, 28–53.
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[gender] teilen, schwierig, eine »feministische Biografie« über sie zu schreiben. Ich frage mich zum Beispiel, wie ich am besten auf Lee Chambers-Schillers Beschreibung einer feministischen Biografie reagieren kann – demzufolge es die Hauptaufgabe einer Biografie ist, »die Untersuchung und Analyse von kulturellen Geschlechterverhältnissen« zu betrachten, also die Betrachtung jener Wege, die Individuen finden, um Geschlechterrollen zu reflektieren und sich ihnen zu widersetzen, um herkömmliche Gender-Ideologien zu verinnerlichen und zu kritisieren und Wege, die Grenzen, die eine Gesellschaft schafft, zu überschreiten und sich ihnen anzupassen. Diese Grenzen definiert die Gesellschaft als angemessenes weibliches Erleben, und sie erzeugt dabei Verbindungen, hält Leben aufrecht, nährt den Geist und erzeugt Bedeutung innerhalb eines bestimmten historischen Kontexts.24
Ich frage mich auch, wie ich das einbringen soll, was Devoney Looser als die geltenden impliziten Regeln für das Schreiben einer feministischen Biografie bezeichnet: »den Grad der Rebellion, die in der Leistung einer Frau enthalten ist, zu messen, und ihren Platz in einer historischen Aufstellung von feministischen Heldinnen abzuschätzen.«25 Außerdem frage ich mich, wie man Rachel Gutiérrez’ Idee, dass die »Frau, die heraussticht, (...) jene (ist), die irgendwie als ein Beispiel von Unabhängigkeit und kreativem Schaffen wirkt, ganz gleich, ob sie durch ihre historische Rolle oder ihr Herausfordern von Konventionen auffällt, ob sie feministisch ist oder nicht«,26 einbringen kann. In der Einleitung zu The Challenge of Feminist Biography vermuten Sara Alpern, Joyce Antler, Elisabeth Israels Perry und Ingrid Winther Scobie, dass dadurch, dass Frauen inzwischen zu Gegenständen der Biografik geworden sind, die Natur und die Praxis des biografischen Schreibens in mehreren, wichtigen Beziehungen verändert wurde. Erstens wird eine andere Art von Person biografisch behandelt: eine Person, die keine Berühmtheit oder dauernden Ruhm erlangt hat. Feministische Biografinnen schauen daher auf verschiedene Formen der Leistung, und damit bringen sie nicht nur »›unsichtbare‹ Frauen zurück in die Überlieferung, sondern sie erweitern auch unsere
24 Lee Chambers-Schiller: »The Value of Female Public Rituals for Feminist Biography. Maria Weston Chapman and the Boston Anti-Slavery Anniversary«. In: a/b: Auto/Biography Studies 8, 1993, 217–232, hier 217. 25 Devoney Looser: »Heroine of the Peripheral? Biography, Feminism, and Sylvia Plath«. In: a/b: Auto/Biography Studies 8, 1993, 179–197, hier 182. 26 Rachel Gutiérrez: »What Is a Feminist Biography?«. In: Teresa Iles (Hg.), All Sides of the Subject. Women and Biography. New York 1992, 48–55, hier 49.
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Sicht auf diese Überlieferungen.«27 Desweiteren lässt sich sagen, dass der Perspektivwechsel auf das weibliche Geschlecht auch das biografische Schreiben verändert, denn wenn das Subjekt weiblich ist, rückt Gender in den Mittelpunkt der Analyse. Feministinnen behaupten, dass das Leben einer Frau sich von dem eines Mannes oftmals tiefgehend unterscheidet. Weil die Gesellschaft aber männliche Leistungsmodelle und männliches Verhalten höher schätzt als weibliche Modelle, kann das (soziale) Geschlecht der Frau schwerwiegendere Hindernisse für den Lebensweg bedeuten. Diese Differenz zu übersehen verzerrt oder verfälscht vielleicht sogar jegliche Beschreibung des Lebens einer Frau. Dies trifft auch dann zu, wenn sich eine Frau dieser Effekte, die Gender auf ihr Leben hat, nicht bewusst ist oder sie nicht formulieren kann.28
Indem man Gender in den Mittelpunkt der Analyse rückt, kann man das Privatleben und die Erfahrung des Lebenszyklus stärker betonen, vor allem die späteren Stadien im Leben – das späte Erwachsenenleben und das hohe Alter. Es kann auch helfen, die Bedeutung von weiblichen Freundschaften während wichtiger Lebensübergänge zu untersuchen.29 Was bedeutet das für meine Auseinandersetzung mit Mama Yancey? Zu allererst heißt es, dass das bloße Schreiben ihrer Biografie einen feministischen Ansatz zur musikalischen Leistung bedingt, obwohl sie weder die Berühmtheit noch bleibenden (wenn auch bescheidenen) Ruhm männlicher Blues-Sänger erreicht hat, die das Interesse von Biografen geweckt haben. Zweitens bedeutet der Schritt, Gender zum Mittelpunkt meiner Analyse zu machen, dass ich die Wege darstellen muss, in denen Gender als ein Hindernis für Mamas musikalische Tätigkeiten fungiert hat, das schwerwiegender war, als es bei ihren männlichen Zeitgenossen der Fall war. Gleichzeitig muss ich erkennen, dass ihre Heirat ihre Karriere nicht unterbrochen hat, denn sie hatte vor dieser Heirat noch gar keine Karriere begonnen; tatsächlich eröffnete ihre Heirat mit dem Pianisten Jimmy Yancey ihr verschiedene Möglichkeiten, mit Ende vierzig und während ihrer Fünfziger zu singen – diese Möglichkeiten hätten ihr sonst nicht offengestanden. Natürlich ist diese Form von privilegiertem Zugang zu bestimmten Tätigkeiten durch einen Ehemann oder andere nahe männliche Verwandte typisch für viele Erfahrungen von Frauen. Dennoch müssen sowohl die extreme Dominanz der Blues-Welt durch Män27 Sara Alpern, Joyce Antler, Elisabeth Israels Perry, Ingrid Winther Scobie (Hg.): The Challenge of Feminist Biography. Writing the Lives of Modern African Women. Urbana 1992, »Introduction«, 6. 28 Ebd., 7. 29 Ebd., 9.
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ner als auch Mamas Vorstellung von ihrer Rolle als Frau und Ehefrau sie davon abgehalten haben, sich stärker als Sängerin einzubringen und sich vielleicht auch als Gitarristin stärker zu profilieren. Diese Dinge haben sicherlich auch dazu beigetragen, dass sich Mama immer wieder für längere Zeit in ihr Privatleben zurückgezogen hat. Nichtsdestoweniger muss dies in der historischen Perspektive gesehen werden, denn viele männliche Musiker in Mamas Umfeld – ihr Ehemann eingeschlossen – haben Jahre ihres Lebens damit zugebracht, außerhalb der Musik zu arbeiten. Indem ich Gender in den Mittelpunkt meiner Analyse stelle, lade ich außerdem zu Spekulationen über die Verbindung von Mamas bis ins hohe Alter fortgesetztem Singen und den charakteristischen Lebenszyklen von Frauen ein. Darüberhinaus legt der Schritt nahe, wie wichtig es ist, den Einfluss zu untersuchen, den Mamas Freundschaft mit einer anderen Frau, Barbara Dane, auf die Wiederaufnahme ihres öffentlichen Singens in den späten 1950er und 1960er Jahren hatte. Obwohl Danes Einfluss unbestreitbar ist, war Mamas Singen dennoch ebenso in der Mitte der 1970er und den frühen 1980er Jahren dadurch wiederbelebt worden, dass sie mit Erwin Helfer befreundet war. In der Tat brauchte Mama einen Mann, der für sie Klavier spielte – sie war niemals mit einer Pianistin aufgetreten, und Frauen, die Klavier spielten, begleiteten sich häufig selbst. Damit war das (soziale) Geschlecht der Person, die einen Einfluss auf die Erneuerung von Mamas Singen hatte, kein kritischer Faktor. Trotzdem ist es einer Betrachtung wert, inwiefern Barbara Dane in einer bestimmten Periode ihres Lebens von Bedeutung war, denn Dane und Mama bewunderten sich stark und scheinen sich in der Zeit, in der sie zusammenkamen, gegenseitig wichtige emotionale Unterstützung gegeben zu haben. Der einzige Interviewer, der Mama jemals gefragt hat, ob ihr Frau-Sein ihre Arbeit in der Welt des Blues beeinflusst habe, war Bob Rusch. Ruschs einzige Frage war: »Sie sind eine Frau, und dazu auch noch eine kleine Frau – wie konnten Sie eine traditionell männlich dominierte Tätigkeit ausüben?« Mama antwortete: »Ich habe sie so ausgeübt, wie ich es immer getan habe, seit ich hier bin. Ich habe festgestellt, dass es eine Welt für Männer ist, und dass ich damit klarkommen muss (Lachen), man kann das nicht bekämpfen. Nun, was mache ich also? Wissen Sie, ich wiege bloß 98 Pfund, was kann ich in einer Welt für Männer tun? (Lachen) Werde ich versuchen, die Welt zu ändern? Sie machen wohl Witze (Lachen), Sie sind wohl besoffen.«30 Obwohl Mamas spontane Antwort auf die Frage des männlichen Interviewers zweifelsohne humorvoll gemeint war, verstehe ich sie als ernsthaften Beweis dafür, 30 Bob Rusch: »Mama Yancey. Interview«. In: Cadence. The American Review of Jazz and Blues 4, 1978, Nr. 11:4, 5.
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dass Mama Yancey sich der männlichen Dominanz innerhalb ihres Metiers vollständig bewusst war und dass sie sich nicht im Stande sah, diese anzufechten. Die meiste Zeit über handelte sie »gemütlich und kreativ« innerhalb der Grenzen jener Hindernisse, mit denen eine Frau konfrontiert war.31 Obwohl ihr Mangel an Widerstand gegen die männlichen Bluesmen in keiner Weise dazu geführt hat, dass sie durch Männer dominiert worden wäre, war sie auch kein Sprachrohr für Frauenrechte. Ihre musikalische Tätigkeit war auch kein Widerstand und keine Rebellion gegen Geschlechterrollen. Dennoch bedeuten ihre erheblichen Erfolge, dass Mama Yancey zu einem Beispiel für Unabhängigkeit und kreativem Schaffen werden kann, um auf Gutiérrez’ Frage zurückzukommen. Und obwohl ich immer noch nach Wegen suche, um Mama Yancey besser zu verstehen, weiß ich, dass diese Dinge für das Schreiben von Estelle (»Mama«) Yanceys Biografie wichtig sind.
31 Alpern u.a. (Hg.): The Challenge of Feminist Biography (wie Anm. 27), 8.
13. Kulturelle Normen im Lied Ruth A. Solie: Wessen Leben? Geschlechteridentitäten in Schumanns Frauenliebe-Liedern Einleitung Ruth Solies Text »Whose Life? The Gendered Self in Schumann’s Frauenliebe Songs« wurde 1992 in einem Sammelband von Steven Paul Scher veröffentlicht. Zwar hätten interdisziplinäre Forschungsmethoden, so Scher in seinem Vorwort, im Allgemeinen bereits bedeutenden Einfluss in den Geisteswissenschaften errungen, aber im Speziellen sei das Potential literaturwissenschaftlicher Forschungsansätze auf Seiten der Musikwissenschaft noch kaum erkannt. Die Beiträge des Bandes führen daher exemplarisch vor, wie (Instrumental-)Musik mit literaturkritischen und Literatur mit musikwissenschaftlichen Begriffen zu untersuchen sei (vgl. Scher 1992, xiv). Ruth Solie geht in ihrem Aufsatz intermedial, nämlich text- und musikanalytisch vor und verlässt damit die von der frühen musikwissenschaftlichen Frauenforschung betretene Bahn, Werk und Leben von Komponistinnen aus dem Dunkel der Geschichtsschreibung zu holen. Sie wendet sich stattdessen einem Werk eines Komponisten zu, das fest im westlichen Kanon verankert ist und seinen unangezweifelten Platz im Konzertsaal hat: dem Liederzyklus Frauenliebe und Leben von Adelbert von Chamisso, geschrieben 1836, vier Jahre später von Robert Schumann vertont, wenige Tage nachdem ein gerichtlicher Bescheid eine Hochzeit mit Clara Wieck in den Bereich des Möglichen hatte rücken lassen. Solie zeigt in ihrem Text den Erkenntnisgewinn durch die Anwendung feministischer Methoden auf (vgl. Solie 1992, 239) und stellt heraus, wie eine fundierte Werkkontextualisierung bislang unbeachtete Bedeutungsebenen des Liedzyklus öffnen kann: Unter Berufung u.a. auf die Historikerin Karin Hausen verortet Solie Entstehung und Rezeption von Text und Musik im kulturellen Kontext des Bürgertums des frühen 19. Jahrhunderts, wobei sie besonders die gesellschaftliche Stellung von Frauen nachzeichnet (vgl. Solie 1992, 224). Auf dieser Grundlage zeigt sie zum einen, dass Schumann in den Liedern gerade erst aufgekommene Vorstellungen von Frauenrollen, Ehe und Häuslichkeit aufnimmt. Zum anderen belegt Solie mittels ihrer intermedialen Analyse die These, dass in diesen Liedern für hohe Frauenstimme eine Art »Kostümrolle« vollführt wird (Solie 1992, 222): Durch die auf der Bühne singende Frau vermittelt in Wahrheit ein Mann seine – männlich-patriarchalen – Ideale von Liebe und Ehe. Indem eine Frau als Medium patriarchaler Ideo-
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logien instrumentalisiert wird, wirkt die Botschaft umso stärker in die Gesellschaft zurück. Die Frau, so Solie, wird als Spiegel ihres Mannes benutzt. Ruth A. Solie war bis 2010 Sophia-Smith-Professorin am Smith College, dem größten Frauencollege der USA, und lehrte dort Musikwissenschaft. Sie ist Herausgeberin des Bandes Musicology and Difference, der die musikwissenschaftlichen Gender Studies nachhaltig verändert hat,1 sowie der Neuauflage der Quellenanthologie The Nineteenth Century und des Sammelbands Music in Other Words. Von 1997 an war sie Präsidentin der amerikanischen Gesellschaft für Musikwissenschaft (AMS). Seit 2007 wird der Ruth A. Solie Award für herausragende musikwissenschaftliche Aufsatzsammlungen verliehen. Katrin Losleben Textvorlage Ruth A. Solie: Whose Life? The Gendered Self in Schumann’s »Frauenliebe« Songs. In: Steven Paul Scher (Hg.), Music and Text. Critical Inquiries. Cambridge 1992, 229–240 [Auszug].
Weitere Veröffentlichungen von Ruth A. Solie What Do Feminists Want? A Reply to Pieter van den Toorn. In: Journal of Musicology 9, 1991, 399–410. [als Hg.:] Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993. [als Hg.:] The Nineteenth Century. New York u.a. 1998 (Strunk’s Source Readings in Music History 6. Überarb. Aufl. Hg. von Leo Treitler). Music in Other Words. Victorian Conversations. Berkeley u.a. 2004.
Weiterführende Literatur Certeau, Michel de: Heterologies. Discourses on the Other. Minneapolis 1986. Citron, Marcia J.: Gender and the Musical Canon. Urbana, Chicago 1993. Fuller, Sophie: New Perspectives. In: Patrick Campbell (Hg.), Analysing Performance. A Critical Reader. Manchester 1996, 70–81. Huber, Annegret: Meisterinnenwerke und Meisterwerkanalyse. Überlegungen zum Musikanalysieren in kulturwissenschaftlichen Kontexten. In: Annette Kreutziger-Herr, Katrin Losleben (Hg.), History | Herstory. Alternative Musikgeschichten. Köln u.a. 2009 (Musik – Kultur – Gender 5), 125–139. McClary, Susan: Narrative Agendas in ›Absolute‹ Music. Identity and Difference in Brahms’s Third Symphony. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993, 326–344. 1 Hierin wurde u.a. der Aufsatz »Gender and Other Dualities of Music History« von Leo Treitler veröffentlicht, siehe Kap. 3 im vorliegenden Band.
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Owens, Craig: The Discourse of Others. Feminists and Postmodernism. In: Hal Foster (Hg.), The Anti-Aesthetics: Essays on Postmodern Culture. Port Townsend 1983, 57–82. Scher, Steven Paul (Hg.): Music and Text. Critical Inquiries. Cambridge 1992.
Ausgewählter Text Frauen haben seit Jahrhunderten als Spiegel gedient, Spiegel mit der magischen und erhebenden Kraft, die Gestalt des Mannes in doppelter Größe wiederzugeben. Virginia Woolf, Ein eigenes Zimmer2 Nicht nur um es zu besitzen, träumt der Mann von einem Anderen, sondern auch um zugleich von ihm bestätigt zu werden. Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht3
Das erste Gedicht aus [Adelbert von] Chamissos Liedzyklus4 stellt uns eine Protagonistin im Dunkeln vor, in Trance und blind. Durch diesen verschwommenen Hintergrund streift »er«, der eigentliche Held der Geschichte, mit kometenhellem Glanz. Das eigentümlich zyklische Motiv, mit dem Schumann den Rahmen für sein Szenario setzt, ma fin est mon commencement,5 verstärkt in Folge diesen tranceartigen Eindruck, indem es geradezu zwanghaft immer dann eingeworfen wird, wenn sie zu singen aufhört. Sein verfrühter Einsatz auf dem falschen »Fuß« in Takt 4 (NB 1) ist der hastige Versuch, seine durchgängige Präsenz zu bekräftigen. Dementsprechend erzielen die Strophen der Sängerin keine Schlusswirkung, sondern werden jeweils durch einen Trugschluss zerrüttet und schließlich kurz vor ihrem Ende in den Schluss-Anfang des zyklischen Motivs weitergeführt. Es gibt tatsächlich keinen Ganzschluss: Sogar im letzten Takt ist der TonikaAkkord des Klaviers mit einer suggestiven Terz in der Oberstimme versehen; seine Unschlüssigkeit wird a fortiori im Epilog am »Ende« des Zyklus wiederholt.
2 [Frankfurt a.M. 2002, 37] 3 [Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek b. Hamburg 1968, 191.] 4 [Er, der Herrlichste von allen, aus: Robert Schumann: Frauenliebe und Leben, op. 42, Texte von Adelbert von Chamisso.] 5 [Solie spielt mit dem Titel Ma fin est mon commencement auf einen Kanon von Guillaume de Machaut an.]
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NB 1 Lied 1, Takte 4–5
NB 2 Lied 2, Takte 32–34
Unsere Heldin selbst jedoch erzählt uns, dass sie in erster Linie den Hintergrund zu ihm als Vordergrund stellt – »wo ich hin nur blicke, / Seh’ ich ihn allein« – und seine gleichzeitig vielgestaltige und beständige Allgegenwärtigkeit ist das Thema des zweiten Liedes.6 In punktierten Arpeggien – einer 6
[Er, der Herrlichste von allen, Wie so milde, wie so gut! Holde Lippen, klares Auge, Heller Sinn und fester Mut.
So wie dort in blauer Tiefe, Hell und herrlich, jener Stern, Also er an meinem Himmel, Hell und herrlich, hehr und fern (…) Text hier und im Folgenden ergänzt nach: Adelbert von Chamissos Werke. 4. Aufl. Berlin 1856, Bd. 3.]
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charakteristischen Heldenmusik-Figur – moduliert er frei und energisch durch den Liedverlauf (mehr dazu s.u.) und taucht somit mehr oder weniger überall dort auf, wo man hinsieht. In diesem Lied wird der interpretatorische Beitrag des Komponisten besonders offensichtlich. Der Text besteht aus sechs Strophen, zu der Schumann (wie in diesem Zyklus häufig) 7 zur Abrundung die erste Strophe am Ende hinzugefügt hat. Bei Chamisso erstreckt sich der initiale Ausbruch der Heldenrhetorik lediglich über zwei Strophen, bevor die Sprecherin in Selbsterniedrigung abgleitet; in der vierten Strophe rät ihm die »nied’re Magd« gewissermaßen, sie nicht zu beachten. Jedoch führt Schumanns rondoartiges Arrangement der musikalischen Strophen (AABA’CC’A) die heroische Figur an dieser Stelle auf merkwürdige Art wieder ein (NB. 2), greift mit militärischem Rhythmus der »nied’ren Magd« hier vor und macht sie somit fast lächerlich, stellt ihre Präsenz überhaupt in Frage.8 Dies ist jedoch der wesentliche Punkt des Eingangszitats von Virginia Woolf, die Frau ist nämlich nicht präsent: Ein Spiegel stellt nur dar, was in ihn hineinblickt, nicht sich selbst. Im Verlauf des Zyklus sind die Verleugnung und Distanzierung der mutmaßlichen Heldin von ihren eigenen Gefühlen außergewöhnlich, was durch den musikalischen Rahmen noch unterstrichen wird. Das dritte Lied (Ich kann’s nicht fassen) handelt von einer Sinnestäuschung, davon, dass sie »berückt« [»tricked«] wurde und davon, dass sie nicht in der Lage ist, ihre eigene Erfahrung zu verstehen.9
7 Insgesamt vier Gedichten fügt Schumann eine rekapitulierend-wiederholende Strophe hinzu; das erste Gedicht hat bereits Camisso auf diese Weise abgerundet. Eine solche Textbehandlung unterstützt, zusammen mit der rondoartigen Musik, die zyklische Wirkung der Komposition. 8 Dieses Motiv ist stark von einer plagalen Harmonik geprägt. Gretchen Wheelock hat mich darauf hingewiesen, dass die außergewöhnliche Bedeutung der Subdominante in diesem Zyklus dessen ehrwürdigen Charakter bestätigt. 9 [Ich kann’s nicht fassen, nicht glauben, Es hat ein Traum mich berückt; Wie hätt er doch unter allen Mich Arme erhöht und beglückt? Mir war’s, er habe gesprochen: Ich bin auf ewig dein – Mir war’s – ich träume noch immer, Es kann ja nimmer so sein. O laß im Traume mich sterben Gewieget an seiner Brust, Den seligsten Tod mich schlürfen In Tränen unendlicher Lust.]
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NB 3 Lied 3, Schluss
Das Wort »berückt« selbst wird zunächst mit einem geeigneten verminderten Septimakkord unterlegt; die Implikationen dieses Akkords werden erst im Nachspiel des Liedes deutlicher, welches zunächst durch irreführende (und alterierte) Trug- und Plagalkadenzen führt (starke definierende Dominantfunktionen gehen den Trugschlüssen voraus; es folgt nur eine vii. Stufe im Durchgang) und dann durch eine hinterlistig täuschende Picardische Terz in die Dur-Tonart moduliert (NB 3). In der Rückschau wird deutlich, was dieser Tonartenwechsel hervorrufen soll, nämlich die Verfremdung der Strophe, in der Schumann den melodramatischen Todeswunsch der Protagonistin durch einen Rahmen in Dur (T. 37-40), ihre Hoffnung auf »unendliche Lust« jedoch mit einer plötzlichen Wende nach Moll (T. 49-51) unterwandert. Während der Gedichttext sich, zwar nur schwach, auf eine Bestätigung hinbewegt – obwohl sie ihrer Wahrnehmung wenig Glauben schenkt, ist sie willens, sich mit der Illusion einer »unendlichen Lust« zufrieden zu geben –, bringt der Komponist sie, wieder zyklisch, nicht nur ein Mal, sondern gleich zweifach zu ihrem ursprünglichen Zustand berückter Verwirrung zurück.
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Schlussendlich – bei seinem Tod im letzten Stück – bezieht sich die Protagonistin in der dritten Person auf sich selbst, sie ist »die Verlass’ne«. Ihr dissoziatives Vorgehen setzt einen ebenso dissoziativen harmonischen Prozess in Gang, der sich gefährlich nahe an eine Funktionslosigkeit heranbewegt und somit einen außergewöhnlichen Abschnitt in diesem Zyklus darstellt. Sie singt über einem V/iv-Halteton, dessen Bedeutung aufgrund seiner Stellung inmitten einer Reihe von chromatischen Akkorden nicht vollständig interpretierbar ist. Nach einem Abschnitt, in dem die Basslinie vollständig wegfällt (während sie uns zwei Mal erzählt, dass die Welt »leer« geworden sei), taucht die Auflösung des Haltetons auf wie ein Gedanke, der verlorengegangen ist und später wiederentdeckt wird. Im Text hallt dieser Prozess wider, wenn »die Verlass’ne« uns erklärt: »ich bin nicht lebend mehr«.10 Es gibt kein besseres Sinnbild für die Abwesenheit von Frauen in diesen Liedern als die narrativen Leerstellen [gaps].11 Diese Leerstellen tauchen auf verschiedenen Ebenen auf und sind das gemeinsame Werk des Dichters und des Komponisten. Schon im Gedichtzyklus sind sie evident in der sentimentalen Vorstellung, die Liebe und Mutterschaft als unterscheidbare »Ereignisse« im Leben einer Frau begreift. Aber Schumann hat noch weitere Leerstellen geschaffen – indem er das neunte Gedicht und eine Strophe aus dem sechsten Gedicht weggelassen hat (»Süsser Freund«), in der unsere Heldin ihren Verdacht auf eine Schwangerschaft ihrer Mutter mitteilt und allem Anschein nach willkommenen Trost und Rat erhält. Damit wird die Protagonistin vollständig auf den patriarchalen Raum beschränkt, wie man es in Worten des kritischen Feminismus ausdrücken würde, und gibt, zugespitzt formuliert, Robert Schumann Gelegenheit, sich diese Leerstellen anzueignen und somit ihre Inhalte zu kontrollieren. Es ist in der Tat die musikalische Struktur, die 10 [Nun hast du mir den ersten Schmerz getan, Der aber traf. Du schläfst, du harter, unbarmherz’ger Mann, Den Todesschlaf. Es blicket die Verlaßne vor sich hin, Die Welt ist leer. Geliebet hab ich und gelebt, ich bin Nicht lebend mehr. Ich zieh mich in mein Innres still zurück, Der Schleier fällt, Da hab ich dich und mein vergangnes Glück, Du meine Welt!] 11 Elaine Showalter hat darauf hingewiesen, dass der kritische Feminismus es erlaube, dort Bedeutung zu sehen, wo zuvor Leerstellen gewesen seien […]. Mehr dazu siehe Elaine Showalter: »Review Essay: Literary Criticism«. In: Signs 1, 1975, 435; sowie Millicent Bell: »Narrative Gaps/Narrative Meaning«. In: Raritan 6, 1986, 84–102.
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den Sinn all dieser Ereignisse dieses Lebens interpretiert, wie die Skizze der tonalen Anlage zeigt: Lied Tonart
1 B I
2 Es IV
3 c ii
4 Es IV
5 B I
6 G VI
7 D III
8 d iii
Nachspiel B I
Abb. 1 Tonaler Plan des Zyklus
Abgesehen von den Liedern 6 und 7 sind alle groß angelegten tonalen Beziehungen in diesem Zyklus diatonisch; es ist sicher kein Zufall, dass die beiden Ausnahmen ein neues und aufdringliches Element repräsentieren, nämlich das Kind oder, in der Begrifflichkeit des Biedermeier, den »kleinen Fremden«. (Vermutlich ist die Psychologie Freuds nicht über Gebühr strapaziert, wenn man hier auf ein ödipales Drama hinweist; der Geburt des Sohnes, in D-Dur, folgt unmittelbar der Tod des Vaters, in d-Moll.) Indem das Nachspiel als neuntes Stück hinzugefügt wird, liegt das fünfte Stück genau in der Mitte des Zyklus. Im Verlauf dieses Stückes (Helft mir, ihr Schwestern) wird die Protagonistin aus ihrem früheren Leben herausgenommen und durch einen Hochzeitsmarsch in eine neue Ordnung gehoben, in einem Akt musikalischer Inbesitznahme, der weiter unten genauer beschrieben werden wird. Ironischerweise handeln jedoch alle Lieder der ersten Hälfte bis zu dem Moment, in dem die Brautjungfern sie ankleiden, von ihm: Sein Abbild, sein Charakter, seine Wahl, die auf sie gefallen ist, sein Ring. Erst wenn sie von den etablierten, patriarchalen Regeln eingeschlossen ist, hat sie das Recht auf Ereignisse wie Schwangerschaft und Geburt, die ganz fraglos ihre eigenen sind. Ihr unziemliches Aufbrechen der diatonischen Oberfläche, das als ein Versuch gesehen werden kann, die selbstverursachte Leerstelle zu füllen, wird durch seinen Tod und ihre darauf folgende Erholung in der Möglichkeit der unendlichen Wiederkehr wieder gutgemacht. Im sechsten Lied brauche die Heldin, wie Astra Desmond zutreffend feststellt, 23 Takte im langsamen Tempo, um ihrem Ehemann zu sagen, dass sie schwanger sei und selbst dann müsse es ihm noch das Klavier mitteilen.12 Das Lied enthält eine äußerst bemerkenswerte, vom Komponisten geschaffene und wieder aufgefüllte Leerstelle. Offenkundig vor allem wegen der Schüchternheit, mit der sich die Gesangslinie einfältig durch die süßlichen Harmonien lächelt [simper], malt das Lied trotzdem ein etwas dunkleres Bild, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es entspricht der zeitgenössischen sozialen Ideologie vollkommen, dass die tugendhafte Ehefrau nicht in der Lage dazu 12 Astra Desmond: Schumann Songs. London 1972, 33.
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ist, diese Informationen zu vermitteln – allerdings nicht allein aus Sittsamkeit, sondern tatsächlich aus Unwissenheit heraus.13 Weil die Frau mit Gefühl und der Mann mit Vernunft assoziiert wird, verdeutlicht das Lied, dass sie trotz ihrer emotionalen Investitionen nicht die Herrin über die erforderlichen Informationen ist. Noch einmal Coventry Patmore: mere love alone, Her special crown, as truth is his, Gives title to the worthier throne; For love is substance, truth the form; Truth without love were less than nought; But blindest love is sweet and warm, And full of truth not shaped by thought…14
Dass sie blind ist, wissen wir bereits. Allerdings erinnern wir uns auch daran, dass diese Leerstelle, diese Vagheit ihrer Gedanken eine Erfindung Schumanns ist. Im Gedicht erfahren wir, dass sie das Wissen hatte, das von Frau zu Frau weiter gegeben wird – »Hat die gute Mutter alles mir gesagt.«15 Im 13 Zur Zensur und »Säuberung« [pruning] von Frauenliteratur, um die Unwissenheit von Frauen zu bewahren, siehe Renate Möhrmann: »The Reading Habits of Women in the ›Vormärz‹«. In: John C. Fout (Hg.), German Women in the Nineteenth Century. A Social History. New York 1984, 104–117. 14 Coventry Patmore: The Angel in the House. Boston 1856, Canto V (I:81). Diese Passage wird diskutiert bei Carol Christ: »Victorian Masculinity and the Angel in the House«. In: Martha Vicinus (Hg.), A Widening Sphere. Changing Roles of Victorian Women. Bloomington 1977, 148. 15 [Süßer Freund, du blicktest Mich verwundert an Kannst es nicht begreifen, Wie ich weinen kann; Laß der feuchten Perlen Ungewohnte Zier Freudenhell erzittern In den Wimpern mir.
Wie so bang mein Busen, Wie so wonnevoll! Wüßt ich nur mit Worten, Wie ich’s sagen soll; Komm und birg dein Antlitz Hier an meiner Brust, Will ins Ohr dir flüstern Alle meine Lust.
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Lied dagegen füllen patriarchales Wissen und eine weitere Spiegelung diese Leerstelle: Der Komponist fügt die heroisch punktierten Rhythmen, die bislang mit dem Geliebten/Ehemann verbunden waren, in den Raum, der vermutlich für ihre geflüsterte frohe Nachricht gedacht war. Die gute Neuigkeit entpuppt sich als er selbst. Sie übernimmt die musikalische »Keil«-Figur, mit der die Ehe in den Anfangstakten des Liedes anklingt, und an dieser Stelle dringt die nicht-diatonische Tonart in den Zyklus ein (NB 4). Obwohl die Protagonistin in dem weggelassenen neunten Gedicht zur »Tochter meiner Tochter« spricht, scheint die Musik darauf zu beharren, dass das Kind ein Sohn ist, ein Spiegelbild seines Vaters. Diese Lesart wird durch andere Begebenheiten im Lied deutlich betont, insbesondere indem Schumann die Worte »dein Bildniss!« nach dem vollständig gesungenen Gedichttext und dem, was andernfalls ein Klaviernachspiel sein könnte, wiederholen lässt. Wie das musikalische Symbol für den Ehemann/Geliebten hat auch dieses kleine Bild einen tiefgreifenden Zweck. Das zweite Lied schließt mit dieser Figur – noch bevor wir den dazu gehörenden Text kennengelernt haben – genauso wie auch im siebten Lied zwei Mal, im Anschluss an die Strophe, in der sie sich damit brüstet, dass das Kind sie ansieht (NB 5). Hab ob manchen Zeichen Mutter schon gefragt, Hat die gute Mutter Alles mir gesagt, Hat mich unterwiesen, Wie, nach allem Schein, Bald für eine Wiege Muß gesorget sein. Weißt du nun die Tränen, Die ich weinen kann, Sollst du nicht sie sehen, Du geliebter Mann; Bleib an meinem Herzen, Fühle dessen Schlag, Daß ich fest und fester Nur dich drücken mag. Hier an meinem Bette Hat die Wiege Raum, Wo sie still verberge Meinen holden Traum; Kommen wird der Morgen, Wo der Traum erwacht, Und daraus dein Bildnis Mir entgegen lacht.]
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NB 4 Lied 6: (a) Anfang, (b) Leerstelle, Takte 22–24
Die Akte der Spiegelung sind auch Akte männlicher Besitzergreifung. Besonders auffallend ist die Behandlung des fünften Liedes, der zentrale Moment der Geschichte, in dem der Wandel der Frau vom Mädchen zur Ehefrau beschrieben wird. Zu Beginn des Liedes wendet sie sich an ihre Gefährtinnen, deren Hilfsdienste bei den hochzeitlichen Vorbereitungen sie erbittet, was von einer typischerweise weiblich konnotierten Spinnrad-Musik begleitet wird. Gegen Ende drückt sich ihre Ambivalenz angesichts der Trennung von den Schwestern in einer kurzfristig verdunkelten Harmonie und verlangsamtem Tempo (T. 41–42) aus, die jedoch innerhalb von nur zwei Takten wiederhergestellt ist, ihre tief alterierte VI. Stufe wird uminterpretiert und als Neapolitaner der V. Stufe aufgelöst – vermutlich gleichzeitig mit ihren Ängsten.16 Sie entschließt sich augenscheinlich dazu, ihre Schwestern »freudig« zu verlassen. Diese Textzeile wiederholt Schumann als Einstieg in die umgestaltende Inbesitznahme ihrer Melodie im Nachspiel, was für gewöhnlich als Hochzeits16 Ich danke Raphael Atlas für den Hinweis, dass ihr unruhiges Beginnen auf der »falschen« Zählzeit zur Kompensation zwei Extra-Takte erfordert.
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NB 5 »dein Bildniss!« (a) Lied 2, Nachspiel (b) Lied 6, Nachspiel (c) Lied 7, Nachspiel
marsch interpretiert wird. Ein Marsch ist es in der Tat, eine wahre patriarchale Zurschaustellung: Wir erkennen die rhythmische Signatur des Ehemanns, mit der ihre charakteristische Anrufung der Schwestern »heroisiert« wird; auf diese Weise verwandelt und von einem doppelten Halteton im Bass eingekes-
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NB 6 Lied 5: (a) Originalmelodie (hier T. 37-40), (b) Veränderung (Nachspiel)
selt, wird sie buchstäblich in einen Prozess notengetreuer Imitation hineingezogen (NB 6). Die Ereignisse dieser Geschichte sind in ihrem kulturellen Kontext weder ungewöhnlich noch, aus der Sicht der Heldin, unerwartet. Von Anfang an hat sie mutig erklärt, dass sie dazu bereit ist, das Leben inmitten ihrer weiblichen Gefährtinnen aufzugeben – »nach der Schwestern Spiele nicht begehr’ ich mehr« – und wir sollten darüber hinaus ihren kulturell anerkannten Lohn im siebten Lied erkennen, als – das Tempo beschleunigt mehr und mehr, bis es fast außer Kontrolle gerät – sie stattdessen ihren neugeborenen Sohn als Begleiter und Spielgefährten akzeptiert. Eine Strophe dieses Texts ist als beliebtes Muster für dekorative Stickereien bekannt (»Nur eine Mutter weiß allein, was lieben heißt und glücklich sein«): Frei von Zweifel, fröhlich bestickt und an eine Kinderzimmerwand gehängt, erinnerte es junge Mütter bei der Fütterung um 2 Uhr morgens an die Heiligkeit ihrer Bestimmung. Genau wie es in der Gesellschaft insgesamt der Fall ist, beruhen auch im Frauenliebe-Zyklus solche geordneten Rollenzuweisungen möglicherweise auf einem unsicheren Waffenstillstand; es wäre sogar möglich, dass sich Unruhe hinter der gefälligen häuslichen Oberfläche versteckt. Das zweite Lied spiegelt eine derartige Störung und ihre Eindämmung lebendig wider. Am Anfang haben wir zwei verschiedene Arten melodischen Materials, erstens die schreitende Arpeggio-Figur aus Er, der Herrlichste von Allen und zweitens ein stark kontrastierendes absteigendes Motiv – zunächst wohl nicht
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mehr als ein sich auflösender Vorschlag, unauffällig in den Mittelstimmen der Begleitung verborgen. Im weiteren Verlauf der Strophen setzt sich das zweite Motiv mehr und mehr durch. Nach vier Strophen (von Schumann in AABA’ gesetzt) erreicht die Musik ihren ersten Ganzschluss (T. 38), der jedoch unmittelbar von dem bisher unterstützenden Motiv untergraben wird, das nun sowohl rhythmisch als auch melodisch selbstständig wird und sich sogar aus seiner Beschränkung auf die Begleitung herausschält und die Sängerin zur Handlung auffordert (NB 7). Mit diesem Motiv beschreibt sie »die Würdigste von Allen«, diejenige, die seiner Wahl würdig sei – stellt sie sich vor, es selbst zu sein?17 Mit anwachsender Hysterie treibt die Begleitung sie zwei Strophen lang durch diese Vermutungen. Mehr noch, die verstörte Energie der Protagonistin erlangt nach und nach die Kontrolle über die harmonische Struktur des Stückes, indem seine Bewegung das Muster ihrer Vorschlagsfigur von Des-Dur zu C-Dur in Strophe 5, von B-Dur zu A-Dur in Strophe 6 kopiert. An diesem Punkt hat sie sich selbst und die Musik in einem einer fin de siècleHeldin angemessenen nihilistischen Rausch – »brich, o Herz, was liegt daran?«– zum Sinnbild absoluter Entfremdung gebracht, zu einem Tritonus. Das patriarchale Regelwerk behauptet sich hier jedoch wieder; ihre übergeschnappte Tonalität wird gezähmt und durch das ursprüngliche Dreiklangsmotiv zurückerobert, das sie in die erbarmungslose, regelgerechte Quintenzirkel-Fortschreitung (A-D-G-C-F-B) zieht, die den »Herrlichsten von Allen« anstelle der neurotischen, vermessenen »Würdigsten« wieder einsetzt. Es ist fast unnötig zu sagen, dass dies eines der Lieder ist, die Schumann durch eine Wiederholung der Anfangsstrophe des Textes abrundet. Dies ist nicht der einzige Moment, in dem solche Abbrüche drohen. In der Tat zeigt uns Schumann in den acht Liedern des Zyklus durch eine einheitliche Ikonografie die Kontrolle über diese Ausbrüche. In jedem einzelnen Fall sind die melodisch-harmonischen Sequenzen Teil dieser Kontrolle (im Allgemeinen stellen sie stärker werdende Emotionen dar); überall greift die Klavierbegleitung auf die zwanghaft wiederholten Akkorde im regelmäßigen Puls der Achtel zurück,18 und in jedem Lied wird ein melodischer Höhepunkt erreicht, der textlich ausnahmslos mit einer besonders schrecklichen Selbsterniedrigung verbunden ist. Im vierten Lied, dem ansonsten heiteren und ruhigen Du Ring an meinem Finger, ist die vierte Strophe eine solche Passage; ihr melodischer Höhepunkt fällt mit der von der Protagonistin geäußerten Absicht zusammen, ihm »ganz« zu gehören und 17 […] Zur Thematik der Chiffrierung bei Schumann siehe z.B. Eric Sams: »Did Schumann Use Ciphers?«. In: Musical Times 106, 1965, 584–591. 18 […] Siehe dazu Mary Jacobus: Reading Woman. Essays in Feminist Criticism. New York 1986, 246.
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NB 7 Lied 2: (a) Originalmaterial, Takte 2–5, (b) Takte 38–41
klingt (auf Geheiß des Komponisten, nicht des Dichters), mit der Wiederholung ab, dass sein Glanz sie verändern wird – vermutlich eine abermalige Bindung an ihn. Das fünfte Lied, das wir bereits untersucht haben und bei dem kaum mehr auf sein Motiv hingedeutet werden muss, beinhaltet auch eine dieser verstörenden Strophen (T. 27–35), in der das unbarmherzige Muster der Begleitung die Vokallinie nach und nach aufwärts treibt, bis zu ihrem Höhepunkt auf »lass mich verneigen dem Herren mein«. Wie im zweiten Lied wird sie hier unmittelbar wiedererobert – durch das Erklingen der Anfangstakte des zweiten Liedes an das erinnert, was sie sagen sollte, um gewissermaßen erneut zu beginnen. Solche analytischen Darstellungen erschöpfen die möglichen neuen Sichtweisen einer feministisch-kritischen Lesart dieses Liedzyklus selbstverständlich nicht. Sie zeigen hoffentlich vielmehr, wie feministische Methoden gewinnbringend eingesetzt werden können als eine von vielen möglichen Antworten auf den nachhaltigen Formalismus, der trotz seines Untergangs in anderen akademischen Bereichen in der Musikwissenschaft noch immer nachklingt. Es war natürlich der Formalismus – oder das, was wir in der Musik zugespitzt Autonomismus nennen –, der eifrig darum bemüht war, jede
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Gegenwart eines kulturellen Anderen auszulöschen; 19 der Preis dafür ist hoch: Es bedeutet den Verlust des kulturellen Kontextes aus dem kritischen Diskurs.
19 Siehe Michel de Certeau: Heterologies. Discourse on the Other. Übers. von Brian Massumi. Minneapolis 1986, 181; sowie Craig Owens: »The Discourse of Others. Feminists and Postmodernism«. In: Hal Foster (Hg.), The Anti-Aesthetic. Essays on Postmodern Culture. Port Townsend, Wash. 1983, 57–82.
14. Wessen Stimme erklingt in der Oper? Carolyn Abbate: Die Oper, oder: Frauen eine Stimme geben (1993) Einleitung In Opern werden Frauen oft als Opfer dargestellt: Weibliche Figuren, wie Isolde, Carmen oder Lulu, werden »besiegt, verraten und verkauft«, so brachte es Catherine Clément (1979/1994) in ihrer feministischen Kritik auf den Punkt. Ähnlich wie von Eva Riegers Frau, Musik und Männerherrschaft (1981, siehe Kap. 1 in diesem Band) ging von Cléments Buch, in einem kämpferischen Duktus verfasst, ein wichtiger Impuls zur kritischen Auseinandersetzung mit Gender-Identitäten in der Musik aus – hier speziell in der Oper. In einigen Aspekten musste Cléments Kritik differenziert werden. So treten insbesondere in Opern des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zum einen auch ›starke‹ Frauen auf und zum anderen viele Männer, die sich emotional zerbrechlich zeigen.1 Bei Clément steht die Oper des bürgerlichen Zeitalters im Mittelpunkt, die bis heute weitgehend die Spielpläne dominiert. Wie in der jüngeren Forschung bestätigt wurde, spiegelt dieses Repertoire durchaus die dualistische Geschlechterordnung der bürgerlichen Gesellschaft und transportiert entsprechende Frauenbilder wie die femme fatale oder die femme fragile (vgl. Treitler 1993, Unseld 2001). Die Kritik von Clément und anderen – auch Riegers (1981, 2009) Auseinandersetzung mit Richard Wagner gehört dazu – richtet sich gegen die bürgerlichen Geschlechterbilder, die insbesondere von männlichen Autoren bzw. Komponisten gezeichnet wurden. In diesem Zusammenhang verweisen Carolyn Abbates Beiträge darauf, dass auch in von Männern verfassten Opern die Frauen nicht nur Erleidende sind. Abbate greift auf Roland Barthes’ und Michel Foucaults poststrukturalistischen Autorschaftsbegriff zurück und verknüpft ihn mit Erzähltheorien. Weil demnach jeder Schreibakt ein intertextuelles Gewebe aus vielen Texten fortführt, kann der eine Text bzw. die Oper nicht die Intention des Autors wiedergeben. Eine Oper ist nach Abbate keine ›monologische‹ Äußerung, sondern eine ›dialogische‹ – vergleichbar dem Roman, wie ihn der Literaturtheoretiker Michail Bachtin beschrieben hat (vgl. Abbate 1991, 11, 252f.). Nicht nur der Komponist spricht aus der Musik, sondern mit den verschiedenen musikalischen Stimmen sind auch verschie1 Siehe dazu und zu weiteren Literaturhinweisen: Nieberle, Rieger 2005, 274–277; siehe außerdem das von Silke Leopold verfasste Vorwort zu Clément 1979/1994.
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dene Perspektiven vertreten. So können gerade die herausragenden Sängerinnenstimmen eigene Subjektpositionen verkörpern, z.B. erscheint eine Frauenfigur wie Salome nicht nur aus männlichem Blickwinkel, sondern vertritt eine eigenständige weibliche Position. Diese Vielstimmigkeit entsteht erst unter Einbeziehung der Musik. Dabei geht es Abbate nicht darum, die Musik vom Libretto und dessen von Clément kritisierten Inhalten abzulösen, als ließe sich all dies im Genuss des Gesangs vergessen (vgl. Abbate 1991, Vorwort). Ihre Methode zielt darauf, durch analytischen Tiefgang gerade die komplexen Eigenschaften einer Komposition aufzuzeigen, die bisher unerkannt bzw. ungehört geblieben sind. Sie sucht insbesondere nach solchen Momenten, in denen die Musik nicht kongruent ist, in denen also die verschiedenen Stimmen Unterschiedliches sagen, gegebenenfalls auch die Musik der (vermeintlichen) Intention ihres Komponisten widerspricht. Ihre These lautet, dass die Gattung Oper die tradierte Gegenüberstellung von männlichem, sprechenden Subjekt und weiblichem, betrachteten Objekt unterwandert, indem die Autorität der musikalischen Stimme von weiblichen Figuren bzw. Sängerinnen eingenommen wird. In diesem Sinn ist Abbates Aufsatz, wie dessen Titel erkennen lässt, eine direkte Antwort auf Cléments Buch: Oper ist für Abbate kein »Undoing of Women« sondern ein »Envoicing of Women«, d.h. sie vernichtet die Frauen nicht, sondern verleiht ihnen eine Stimme. Ihren methodischen Ansatz hat Abbate in ihrem Buch Unsung Voices (1991) entwickelt. Auch wenn sie sich darin mit Cléments Thesen auseinandersetzt und weiblichen Opernfiguren wie Brünnhilde besondere Aufmerksamkeit widmet, spielen Gender-Aspekte hier eine eher untergeordnete Rolle. Erst in ihrem 1993 erschienenen Aufsatz rückt sie die Frage nach dem weiblichen Subjekt in den Mittelpunkt. Als Anschauungsobjekt dient ihr zunächst keine einzelne Oper, sondern Patrick Conrads Film Mascara (1978). Die Opern Orfeo von Christoph Willibald Gluck und Salome von Richard Strauss sind so in den Plot des Films eingeflochten, dass sie sich gegenseitig kommentieren. Der Film lässt sich daher als ein Metatext über diese beiden Opern bzw. über Oper im Allgemeinen verstehen. Wie Abbate hervorhebt, geht es um ein verbreitetes Opernmotiv, nämlich das weibliche Begehren, männliche Blicke auf sich zu ziehen: In Orfeo fordert Eurydice Orfeo auf, sie anzuschauen, in Salome spricht Salome ähnliche Worte zu dem vom Leib getrennten Kopf Jochanaans. Die entsprechenden Szenen erklingen in Mascara in einem Nachtclub, in dem Transvestiten in Kostümen weiblicher Opernfiguren auftreten und synchron zum elektronisch wiedergegebenen Gesang die Lippen bewegen. Dieses Cross-Dressing wird multipliziert, indem eine der Filmfiguren zunächst als eine Frau erscheint, die einen Mann liebt, dann als männlicher Transvestit auftritt, der eine weibliche Opernfigur darstellt, und sich schließlich als – durch männliche Genitalien definierter – Mann demaskiert.
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Somit betont der Film, dass Gender-Identitäten unter Umständen nichts anderes sind als Maskeraden, und zugleich – das ist für Abbates Argumentation zentral – dass die Urheber des musikalischen Klangs in der Oper Frauen sind. Von hier aus diskutiert Abbate, inwiefern gewohnte Sichtweisen auf das Verhältnis zwischen (männlichen) Autoren und (weiblichen) Aufführenden in der Oper infrage gestellt werden. Im Zentrum ihrer musikalischen Analyse steht Salome, eine Opernfigur, die von anderen Interpretinnen und Interpreten als geradezu monströs beschrieben worden ist: Salome überschreitet die Konventionen bürgerlicher Kultur des 19. Jahrhunderts, indem sie – ähnlich wie Carmen – offen ihre sexuellen Wünsche ausspricht, dadurch eine männliche Machtposition beansprucht, und soweit geht, den verstümmelten Leichnam Jochanaans zu liebkosen. Dass Herodes sie am Ende töten lässt, wird in der Regel als Triumph patriarchaler Herrschaft gedeutet. Lawrence Kramer zufolge bestätige sich in der Musik, dass Salome letztlich als Objekt des männlichen Blicks den etablierten Machtverhältnissen unterliege. Dem widerspricht Abbate mit ihrer Analyse, durch die sie belegen will, dass Salome als musikalische Stimme ermächtigt wird. In ihrer Kritik an Kramer spricht sie eine wichtige Grundsatzfrage der intermedialen Analyse an, die nicht nur die Oper betrifft, sondern, wie Nicholas Cook (2000, 98–129) gezeigt hat, auch für andere Medienkombinationen wie den Film relevant ist. Das traditionelle Analysemodell, dem Kramer in seiner Salome-Untersuchung folgt, geht davon aus, dass die Musik die Aussage des Librettos grundsätzlich unterstreicht. Abbate setzt dagegen, dass solche Übereinstimmung von Musik und den anderen Medien der Oper mitnichten selbstverständlich sei. Indem sie grundsätzlich von der Verschiedenheit der Medien ausgeht, kann sie ihrer Analyse größere Schärfe abgewinnen. In diesem Sinn verbindet sich die Auseinandersetzung mit Gender-Fragen bei Abbate mit einer Weiterentwicklung der analytischen Methoden im Allgemeinen. Florian Heesch Textvorlage Carolyn Abbate: Opera; or, the Envoicing of Women. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993, 225–258.
Weitere Veröffentlichungen von Carolyn Abbate Unsung Voices. Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century. Princeton 1991. Mythische Stimmen, sterbliche Körper. In: Udo Bermbach, Dieter Borchmeyer (Hg.), Richard Wagner: »Der Ring des Nibelungen«. Ansichten des Mythos. Stuttgart 1995, 75–86. In Search of Opera. Princeton 2001.
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Weiterführende Literatur Clément, Catherine: Die Frau in der Oper. Besiegt, verraten und verkauft. Mit einem Vorwort von Silke Leopold. Aus dem Französischen von Annette Holoch. Deutsche Erstausgabe. Stuttgart 1992. Ungekürzte Taschenbuchausgabe. München 1994. Zuerst: L’opéra ou la défaite des femmes. Paris 1979. Englische Ausgabe: Opera, or the Undoing of Women. Übersetzt von Betsy Wing. Minneapolis 1988. Cook, Nicholas: Analysing Musical Multimedia. Reprint. Oxford 2000. Herr, Corinna: Medeas Zorn. Eine ›starke Frau‹ in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts. Herbolzheim 2000 (Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik 2). Hutcheon, Linda, Michael Hutcheon: Staging the Female Body. Richard Strauss’s Salome. In: Mary Ann Smart (Hg.), Siren Songs. Representations of Gender and Sexuality in Opera. Princeton, Oxford 2000 (Princeton Studies in Opera), 204–221. Nieberle, Sigrid, Eva Rieger: Frauenforschung, Geschlechterforschung und (post-)feministische Erkenntnisinteressen: Entwicklungen in der Musikwissenschaft. In: Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.), Genus. Geschlechterforschung / Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch. Stuttgart 2005, 262–294. Rieger, Eva: Leuchtende Liebe, lachender Tod. Richard Wagners Bild der Frau im Spiegel seiner Musik. Düsseldorf 2009. Treitler, Leo: Gender and Other Dualities of Music History. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkeley 1993, 23–45 [siehe Kap. 3 in diesem Band]. Unseld, Melanie: »Man töte dieses Weib!« Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende. Stuttgart, Weimar 2001 [siehe Kap. 9. in diesem Band].
Ausgewählter Text Täuschungen [In der Oper Salome gibt es] eine Stimme, die nur während der verrücktesten Täuschungsszene ertönt: der Szene der Ermordung Jochanaans – einer Szene, die nicht zu sehen, nur zu hören ist: Alles ereignet sich in der Zisterne. Während Salome lauscht, sehen wir die groteske Gegenüberstellung eines großen Mundes und eines kleinen Ohres, die Öffnung der Zisterne, aus der Lärm dringt, und Salomes lauschendes Ohr, wie sie sich darüber beugt. Sie missdeutet den Lärm, der aus dieser Öffnung kommt, und die Klänge führen sie an der Nase herum: Es ist kein Laut zu vernehmen. Ich höre nichts. Warum schreit er nicht, der Mann? Ah! Wenn einer mich zu töten käme, ich würde schreien, ich würde mich wehren, ich würde es nicht dulden! ... Schlag zu, schlag zu, Naaman, schlag zu, sag ich dir ... Nein, ich höre nichts. Es ist eine schreckliche Stille! Ah! Es ist etwas zu Boden gefallen. Ich hörte etwas fallen. Es war das Schwert des Henkers. Er hat Angst, dieser Sklave. Er hat das Schwert fallen lassen! Er traut sich nicht, ihn zu töten. Er ist eine Memme, dieser
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Sklave. Schickt Soldaten hin! [Zum Pagen.] Komm hierher, du warst der Freund dieses Toten, nicht? Wohlan, ich sage dir: Es sind noch nicht genug Tote. Geh zu den Soldaten und befiehl ihnen, hinabzusteigen und mir zu holen, was ich verlange, was der Tetrarch2 mir versprochen hat, was mein ist! [Der Page weicht zurück, sie wendet sich den Soldaten zu.] Hierher, ihr Soldaten, geht ihr in die Cisterne hinunter und holt mir den Kopf des Mannes! Tetrarch, Tetrarch, befiehl deinen Soldaten, daß sie mir den Kopf des Jochanaan holen! [Ein riesengroßer schwarzer Arm, der Arm des Henkers, streckt sich aus der Cisterne heraus, auf einem silbernen Schild den Kopf des Jochanaan haltend. Salome ergreift ihn.]3
Das »gefallene Etwas« ist Jochanaans abgeschlagener Kopf, der Sekunden später erscheint. Salomes Missdeutung dieses Geräuschs (»es war das Schwert des Henkers«) wird zum Funken, der andere entzündet; der Henker mit seinem »riesengroßen schwarzen Arm« hat sicher keine Angst zu töten. Jochanaan ist tot, während sie ihn noch am Leben glaubt. Der Monolog bietet uns ein tödliches kleines Melodram von Missverständnissen, die aus falschem Hören entstehen, ausgehend von der Stille, die Salome treffend als einen Zustand des Nicht-Hören-Könnens beschreibt. Am meisten verwirrt sie jedoch der Umstand, dass diese Stille entsteht, weil Jochanaan selbst nichts sagt, mit anderen Worten: dass seine Stimme sich weigert, Laute auszustoßen, die die ersehnte Bedeutung ausdrücken. Diese Szene ist entscheidend, um zu verstehen, wie Strauss die Vorstellung zurückweist, Opernmusik beinhalte einen objektivierenden Blick, und welch ungewöhnlichen und radikalen Schwenk er macht: Er überredet das Ohr des Zuhörers, eine weibliche Position einzunehmen, indem er jeden Sinn für eine männliche Autorstimme ausmerzt und sie durch einen täuschenden Chor körperloser Sänger ersetzt. Um die Stille auszufüllen, hätte Strauss uns (ziemlich banal) entweder das ›echte‹ Geräusch, das Salome zu hören glaubte ( Jochanaanische Seufzer, ein onomatopoetisches orchestrales Leitmotiv des dumpfen Klanges eines fallenden Hauptes) oder Musik, die verstanden werden könnte als leitmotivischer Verrat von Salomes Gedanken in diesem Moment, liefern können. Die männlich bestimmte Rolle der Musik in der Oper – das Sprechen als Beobachter-Berichterstatter, der einen geheimen Schlüssel zu den Ereignissen auf der Bühne liefert – würde dadurch bestätigt werden. Stattdes2 [Tetrarchos (griechisch): ›Vierfürst‹; bei den Römern Teilfürst, z.B. in Judäa; gemeint ist hier Herodes.] 3 [Richard Strauss: Salome. Drama in einem Aufzuge. Nach Oskar Wilde’s gleichnamiger Dichtung. Deutsch von Hedwig Lachmann. Berlin 1905, 43–44. Zit. nach Digitale Bibliothek. Band 57: Operntexte von Monteverdi bis Strauss. Berlin 2002. Abbate zitiert nach der Fürstner-Partitur (Reprint, New York 1981, 305–313) und gibt den Text in eigener Übersetzung auf Englisch wieder.].
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sen ereignet sich etwas ganz Anderes. Strauss vervielfältigt die auditiven Täuschungen, die sich durch Salomes Welt ziehen. Er weigert sich, die ungesehene Wirklichkeit dessen, was in der Zisterne und in den Herzen der Personen geschieht, musikalisch darzustellen. Damit verzichtet er eigentlich auf männliche Autorität [...]. Die bs Ein einzelnes Phänomen, das wiederholte hohe b der Bässe (ab Takt 7 nach Ziffer 304),4 ist der befreiende Schlag (NB 1). In diesen wenigen Momenten hören wir das seltsamste Geräusch, das ein Komponist erfand, der für seine instrumentale Effektmalerei berüchtigt ist. Die Stille, die Salome umgibt, wird zu dem tiefen Es-Tremolo und dem Wirbel der Großen Trommel auf unbestimmter Tonhöhe. Aber etwas wird der Stille hinzugefügt, wenn ein(e) Solo-Bassist(in), statt seine oder ihre Finger auf die Saite zu drücken, die Saite zwischen Daumen und Zeigefinger einklemmt und (wie die Spielanweisung sagt) »mit dem Bogen ein[en] ganz kurze[n], scharfe[n] Strich [ausführt], sodass ein Ton erzeugt wird, der dem unterdrückten Stöhnen und Ächzen eines Weibes ähnelt.«5 So hören wir, obwohl Salome singt »es ist kein Laut zu vernehmen«, wiederholt und zu einem Chorus von abgequetschten b-Explosionen anschwellend (Ziffer 305–306) diesen strangulierten Ton. Was (in aller Welt) ist dieser Klang? Die Antwort lautet: Nichts (von dieser Welt). Es ist ein instrumentales Geräusch, das in diesem Moment in die Welt kommt, eine neugeborene akustische Groteske. Es ist ein Klang, den man nicht kennen kann. Das tiefste der tiefen Instrumente, der Kontrabass, spielt hoch über seinem normalen Register – etwas Eigenartiges singt in Sopranlage. Kein wirklicher Sopran (eine Violine, eine Viola) erzeugt diese Note. Als ein Klang, den man nicht kennen kann, lassen sich die bs auf keine Interpretation festlegen. Sie können daher kein instrumentales Symbol für ein Ereignis im Salome-Drama sein (Geräusche aus der Zisterne, ein Kommentar zu Salomes Stimmung). Wer ist das »Weib«, das »stöhnt und ächzt« (laut den Anweisungen für den Solo-Bassisten)? Wo ist ihr Körper, von dem dieses 4 [Es handelt sich um den Ton b1, insofern um einen Ton in Sopranlage.] 5 [Hier nach der Partitur zitiert; Abbate zitiert in eigener englischer Übersetzung. Wie Melanie Unseld gezeigt hat, kannte Strauss diese spezielle Spielweise durch Hector Berlioz, der sie in seiner Instrumentationslehre (ergänzt und revidiert von Richard Strauss, Leipzig 1905) bereits als Mittel zur Darstellung des »heftige[n] Aufschreien[s] einer weiblichen Stimme« beschreibt (»Man töte dieses Weib!« Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende. Stuttgart 2001, 186.]
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NB 1 Die bs
Geräusch ausgeht? Zusammen mit den suggestiven Anweisungen für den Bassisten eröffnet der Klang aus einer anderen Welt eine klangliche und interpretative Unterwelt. Das Ohr des Hörers ist das Ohr einer Frau Der Klang als bloßes Timbre ist ein nicht zu erratender, ein unmöglicher Klang, dessen wahrer instrumentaler Ursprung (der Bassist / die Bassistin klemmt die Saite ein, statt sie niederzudrücken) nicht erkannt werden kann. Wenn der Klang die Stimme einer unbekannten Frau ist, dann spricht sie, ohne dass sie gesehen wird, dann befindet sie sich nirgendwo innerhalb der Handlung, sondern eher innerhalb der Musik. Beides zusammengenommen
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ergibt der Klang eine extreme akustische Täuschung: Klang, zu dem es keinen Körper gibt, Klang ohne entschlüsselbaren Ursprung. Wenn wir einen derartigen Klang hören müssen, wird uns, den lauschenden Zuschauern dieser Aufführung, das Täuschungsmotiv in einer rein musikalischen und ausgesprochen unheimlichen Weise aufgezwungen. Mit anderen Worten: unsere Ohren werden gezwungen, weiblich zu werden. Denn wenn man versucht, mit seinem Selbstverständnis einen Platz zu besetzen, den die Kultur ihm nicht zubilligt, wird man »Dinge sehn [und hören], die nicht wirklich sind«.6 Sinnestäuschung (so Herodes, der Essentialist) ist der Zustand einer Frau, die wie ein Mann denkt und in einen Kristall blickt, in den nur Männer schauen dürfen. Einen Platz als aktives, sehendes und sprechendes Subjekt zu behaupten, das kann sie nur halluzinieren. Was eine Frau in diesem Kristall sehen wird, wird eine ebensolche Täuschung wie jene bs sein, die nicht der realen Welt entstammen können, durch keine Interpretation erklärt werden können. Wenn wir jene bs hören, werden wir durch den Klang zur Frau gemacht, die auf die Position eines Mannes rutscht, zur Frau, die ein geistiges Cross-Dressing ausführt. Wir werden (in einem weiten Sinn) in einen Zustand der völligen Identifikation mit Salome versetzt, und zwar genau in dem Augenblick, da sie – durch grammatische Magie, im Konjunktiv – sich als Frau vorstellt, ein Mann zu werden. Wenn einer mich zu töten käme, ich würde schreien, ich würde mich wehren.7 In den bs steckt auch ein Paradox. Wenn sie eine Täuschung sind (eine klingende Quintessenz aus Herodes’ Vorschrift), sind sie dann nicht ein musikalischer Bescheid darüber, dass Frauen sich die Machtposition der Autorschaft lediglich einbilden können [...]? Wenn sie aber Täuschungen sind (und somit das Auge des Betrachters, das Ohr des Hörers zu dem einer Frau machen), lösen sie dann nicht schwindelerregende, anti-essentialistische Flüge zwischen den Geschlechtern aus? Das Subjekt könnte weiblich, das Objekt männlich sein; die komponierende Stimme könnte die Stimme einer Frau sein. Salome könnte diese Musik komponiert haben. Oder, noch radikaler, die Vorstellung von solchen Trennungen (Subjekt/Objekt, männlich/weiblich) könnte an sich eine Täuschung sein. Mit den absichtlich unbegreiflichen bs 6 [Aus einer Replik von Herodes an Salome. Richard Strauss, Salome (wie Anm. 3), 42.] 7 Lawrence Kramer (»Culture and Musical Hermeneutics. The Salome Complex«. In: Cambridge Opera Journal 2, 1990, 286) zitiert ebenfalls die Passage mit den bs ausführlich, interpretiert aber die wiederholten bs als musikalisches Flüstern des Autors zum männlich gedachten Publikum; demnach repräsentieren sie Salomes geheimes Stöhnen wie beim Sex oder beim Gebären. Einmal mehr wird Musik als eine Spur der verborgenen Erkenntnis (dass Salome tatsächlich Lust oder Schmerz verspürt) eines allwissenden (männlichen) Kommentators interpretiert. Dass diese Interpretation gerade der Partiturstelle zugeschrieben wird, in der die Entmannung am stärksten ist, erscheint tatsächlich seltsam.
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verzichtet Strauss auf die traditionelle Macht des Opernkomponisten, denn er verwehrt sich, die Musik zur Enthüllung von Geheimnissen (Was geschieht in der Zisterne?) zu verwenden. Die übliche Autorstimme wird durch einen verwirrenden Klang ersetzt, der uns zwingt, Salomes musikalisches Netz zu überdenken. Zusammen mit weiteren geheimnisvollen, im Orchester verborgenen Stimmen [...] verstärken die bs ein grundlegendes Empfinden, dass die Musik nicht vom historischen Autor oder von irgend einem glotzenden, schwätzenden, allwissenden und monologisierenden Erzähler gesungen wird, der als ihr lokaler Repräsentant agiert. Die Autorstimme der Musik, von Strauss’ merkwürdigen akustischen Tricks aufgelöst, ist nicht mehr ausschließlich männlich. Der Kastrat Eine weibliche Autorstimme innerhalb der Musik, Salomes Selbstverständnis als aktives Subjekt – das legen die bs ebenfalls nahe, aber auf indirektem Weg. Als ein unbegreiflicher Klang müssen die bs ständig neu gedacht werden. Sie sind ein von einem Bassinstrument erzeugtes Soprangeräusch, (etwas undeutlicher:) ein von einem Mann erzeugter weiblicher Klang. Dieser bizarr hohe Klang verweist darauf, wie fragwürdig die Männlichkeit seines Erzeugers ist. Insofern war dieser Klang nach 1905 tatsächlich nicht mehr von dieser Welt: der Klang der Kastratenstimme, die uns mit Ausnahme der alten Stimme von Moreschi, dem Letzten Kastraten,8 fremd ist. Es gibt einen Kastraten, der aus der Musik der Salome spricht, er singt bei Ziffer 304, und ihre/seine Stimme ist tatsächlich klangvoll. Dieser Kastrat, Roland Barthes’ leitendes Symbol der »weiblichen Autorstimme«,9 ist ein weiterer Sänger in 8 [Von Alessandro Moreschi (1858–1921), der als ›Letzter Kastrat‹ bekannt wurde, gibt es einige Tonaufnahmen aus den Jahren 1902–1903.] 9 [In einem vorangehenden, hier nicht zitierten Abschnitt ihres Aufsatzes behandelt Abbate die Kastratenthematik theoretisch unter Bezug auf Roland Barthes’ Texte »La mort de l’auteur« (»Der Tod des Autors«, zuerst in: Mantéia 1968, H. 5, erneut in: Le bruissement de la langue. Essais critiques IV, Paris 1984, auf Deutsch: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Frankfurt a.M. 1992), Le plaisir du texte (Paris 1973, auf Deutsch: Die Lust am Text. Frankfurt a.M. 1974) und Le grain de la voix (Paris 1981, auf Deutsch: Die Rauheit der Stimme. Frankfurt a.M. 1982). In dem Zusammenhang diskutiert sie auch die kritische Auseinandersetzung mit Barthes, die Kaja Silverman in ihrem Buch The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema (Bloomington 1988) mit der Rubrik »The Female Authorial Voice« (d.i. »Die weibliche Autorstimme«) überschreibt. Abbate interpretiert Barthes Bezug auf den Kastraten in »Der Tod des Autors« als eine eher ironische Metapher. Diese erleichtert es, ein Kunstwerk nicht mehr nur als Äußerung eines männlichen Autors zu interpretieren, sondern die enthaltene weibliche Stimme zu vernehmen.]
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Salome. Und sie/er singt unter anderem für Salomes Anspruch auf ein komponierendes Ich. Betrachten und Hören (Beginn einer Schlussbemerkung) Was geschieht, wenn wir Salome sehen? Oder, allgemeiner, wenn wir eine weibliche Darstellerin sehen? Seit Laura Mulveys Aufsatz Visuelle Lust und narratives Kino10 wiegt diese Frage schwer. Mulvey behauptet, dass der klassische Film (mit seinem Apparatus, mit seiner Vorliebe für bestimmte Plots) unausweichlich mit einer männlichen »Ideologie der Schausucht« verbunden ist, die den Zuschauer als ›Er‹, den betrachteten Gegenstand als ›Sie‹ definiert; »in einer von geschlechtlichem Ungleichgewicht bestimmten Welt wurde die Lust am Schauen aufgeteilt zwischen aktiv/männlich und passiv/weiblich.«11 Mulveys weitreichender Gedanke löste leidenschaftliche Reaktionen aus und führte zu naheliegenden Fragen: Was ist mit Filmen, in denen Männer als hübscher Gegenstand des visuellen Konsums dargestellt werden (Pumping Iron, Westernfilme)? Wie wird die Frau auf dem Bildschirm und der Plot, der die Frau zur Schau stellt, von einer (weiblichen) Betrachterin interpretiert und verstanden? Können klassische Filme den Zuschauer in eine männliche Position zwingen, selbst wenn er eine Frau ist?12 Verändert Autorschaft das Spiel – wie passt Mulveys Theorie zu Filmen, in denen Frauen Regie führen?13 Gibt es schließlich keine Filme, die den hypothetischen Beobachter zu wechselnden Empfindungen seiner geschlechtlichen Identität anregen können, egal welches biologische Geschlecht er oder sie hat, und die das freisetzen, was Barbara Klinger ein »komplexes Spiel der Identifikationen« nennt, das »die augenscheinlichen Grenzen festgelegter geschlechtlicher Identität überschreitet«?14 Dies ist eines der Dinge, die sich durch die bs in Salome ereignen (so mein etwas skurriler Vorschlag). Die bs werden jeden, der sie als ein auf kunstvolle Weise ge10 [Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«. Reprint in: Philip Rosen (Hg.), Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader. New York 1986. Auf Deutsch: »Visuelle Lust und narratives Kino«. In: Liliane Weissberg (Hg.), Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a.M. 1994, 48–65.]. 11 Mulvey: »Visual Pleasure« (wie Anm. 10), 198. 12 In »Duell in the Sun. Afterthoughts on ›Visual Pleasure and Narrative Cinema‹« (in: Framework 15–17, 1981, 12–15) greift Mulvey diese Frage selbst auf. Die »Zuschauerin« wird auch bei Mary Ann Doane, »Film and the Masquerade. Theorising the Female Spectator« (in: Screen 23, 1982, 74–87) diskutiert. 13 Silverman bespricht diese Frage in The Acoustic Mirror (wie Anm. 9). 14 Klinger: »In Retrospect: Film Studies Today«. In: Yale Journal of Criticism 2, 1988, 135; siehe auch S. 131–136 für eine Zusammenfassung von Auszügen aus Mulveys Aufsatz.
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schlechtsverwirrter Zuhörer hört, zu einer Frau umbauen, die Männerkleidung trägt. Mulveys Aufsatz deckt sich auf anregende Weise mit einem Buch, das auf dem Gebiet der Musikwissenschaft einen ähnlichen Bekanntheitsgrad erlangt hat, nämlich Catherine Cléments Die Frau in der Oper. Besiegt, verraten und verkauft.15 Dort findet sich die gleiche Konzentration auf ein Schauspiel, das Frauen zu Objekten macht (in der Tat ästhetisiert es ihre Machtlosigkeit), die gleiche Aufmerksamkeit auf den Plot als Mittel zur Verstärkung der männlichen Macht und des geschlechtlichen Status quo. Beide Frauen stellen Gedankengänge vor, die durch das teils engstirnige Beharren auf der Allgemeingültigkeit des Schemas zur Kritikkeule geraten. Für Clément vernichtet die Oper die Frauen: Ende der Geschichte. Zweifellos wird Cléments Buch (wie Mulveys Aufsatz) weiterhin Widerlegungen oder Erweiterungen ihrer zentralen These anregen. Wie Paul Robinson sagt, scheint es jedoch sinnlos, Clément vorzuwerfen, dass sie sich bewusst nicht mit der komischen Oper (in der niemand stirbt) auseinandersetzt, oder auf positiven Erscheinungen zu beharren (Männer sterben auch! Sie sterben ebenso oft!), denn es geht ihr nicht darum, dass Frauen sterben, sondern darum, wie sich solche Tode ereignen, wie Frauen in den Plots, die die sozialen Bedingungen ihrer Zeit widerspiegeln, ganz anders behandelt werden als Männer.16 Robinson äußert einen aufschlussreicheren Einwand: Clément missachtet bewusst, dass die Oper für Frauen auch ein Ort des Triumphes ist, obwohl sich dies beispielhaft gerade in den Werken zeigt, die sie bespricht, und zwar im überwältigenden Klang weiblicher Opernstimmen und in den musikalischen Gesten, die diese Stimmen als Ganzes umhüllen. In diesem Bereich jenseits des erzählerischen Plots existieren Frauen als Wohlklang und rein körperliche Klangfülle, wodurch sie sich außerhalb des Schauspiels behaupten und den mörderischen Schicksalen entkommen. Mutatis mutandis ließe sich dasselbe über Mulvey sagen (wie über viele Filmtheoretikerinnen und -theoretiker): Angetan von den großartigen visuellen Wirkungen des Filmes, des »rahmenden« Plots, übersehen sie alle den Sound.17 Meine Anfangsfrage – was geht 15 [Deutsche Erstausgabe: Stuttgart 1992. Zuerst: L’opéra ou la défaite des femmes. Paris 1979. Abbate bezieht sich auf die englische Ausgabe: Opera, or the Undoing of Women. Übersetzt von Betsy Wing. Minneapolis 1988.]. 16 Paul Robinson: »It’s Not Over Till the Soprano Dies«. In: New York Times Book Review. 1. Januar 1989, 3. 17 Das ist natürlich jeweils verschieden: Anregende Arbeiten über Kinosound und Stimme stammen (unter anderem) von [Michel] Chion [La Voix au cinéma. Paris 1982], [Mary Ann] Doane [»The Voice in the Cinema. The Articulation of Body and Space«. In: Yale French Studies 60, 1980, 33–50], Silverman und Robert Altmann; dennoch hat, wie Silverman hervorhebt, die Interpretation des klassischen Kinos »den Blick vor allem auf die Bildspur gerichtet« (The Acoustic Mirror, wie Anm. 9, viii). Frappierend erscheint an diesen Arbeiten
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in uns vor, wenn wir eine weibliche Darstellerin sehen? – bezieht sich auf dieses Vorurteil der Augen. Aber die Bedeutung der Oper vermittelt sich nicht in erster Linie in visuellen Begriffen (ein offensichtlicher Hinweis darauf: Opern werden seit langem völlig blind, in Form von Tonaufnahmen konsumiert, aber wer würde sich hinsetzen und den gesamten Soundtrack eines Filmes anhören?). Für die Oper lautet die Frage: Was geschieht, wenn wir eine Darstellerin sehen und hören? Wir beobachten sie; trotzdem tun wir etwas, für das es keine Worte gibt: Wir starren mit den Ohren. Schauen und Zuhören sind nicht einfach gleichwertige Tätigkeiten in verschiedenen Sinnesbereichen. Eine weibliche Figur zu sehen, kann mehr oder weniger automatisch unseren kulturellen Gegensatz zwischen männlich (dem aktiven Subjekt) und weiblich (dem passiven Objekt) heraufbeschwören, wie Mulvey es beschreibt. Aber der weiblichen Singstimme zuzuhören ist ein komplizierteres Phänomen. Für die Augen ist die singende Figur das passive Objekt unseres Blicks. Aber für die Ohren ist sie ein Klangkörper; ihre musikalische Sprache übertönt alles im Umkreis, und wir sitzen da als passives Objekt, überwältigt von dieser Stimme. Als Stimme rutscht sie auch auf anderen Wegen in diese ›männliche/aktive/ Subjekt-‹ Position, da eine Sängerin mehr als jede/jeder andere Musikaufführende in jenen Jakobineraufstand eintritt, der zur Phänomenologie der LiveDarbietung gehört. Sie steht dann vor uns als jemand, die dem Librettisten und dem Komponisten, der die Partitur schrieb, die komponierende Stimme entrissen hat. Im Haus (sozusagen) haben Opernfans immer die Subversivität des Hörens bemerkt, wenn auch vermutlich ohne sie durch solche elaborierten theoretischen Windungen zu treiben. Wir gehen in die Oper, um uns ›Behrens’ Walküre‹ oder ›den Freni-Domingo-Don Carlos‹ anzuhören, und lauschen den Aufnahmen des ›Melchior-Tristans‹.18 Was die Tyrannei des Visuellen betrifft: Entgegen der Behauptungen der Regisseure, dass das Publikum von heute attraktive Sängerinnen und Sänger wünsche, bleibt die Oper die einzige Schauspielform, in der konventionelle körperliche Schönheit kaum zählt. Unvollkommene, den Konventionen nicht genügende Körper werden im wahrsten Sinne des Wortes übersehen zugunsten einer Stimme, bleiben ungesehen durch das Getöse des Gesangs. In einer Welt, die eines der beiden Geschlech(für jemanden, der sich mit Oper beschäftigt), wie viele Prämissen aus der traditionellen Opernanalyse über die »Allwissenheit« des musikalischen Diskurses in einer anderen Form, bezogen auf ein ganz anderes Genre, in Diskussionen der akustischen Elemente des Films übernommen werden. 18 [Die Benennungen beziehen sich auf die Sängerinnen und Sänger Hildegard Behrens, Mirella Freni, Plácido Domingo und Lauritz Melchior sowie auf Opern von Richard Wagner (Die Walküre, Tristan und Isolde) und Giuseppe Verdi (Don Carlos).]
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ter dazu verurteilt hat, ›beim Anblick‹ zu erscheinen, als ›mangle‹ ihr etwas, ist das ein aufrüttelnder Gedanke.19 In Salome werden diese Fragen auf solche Weise angesprochen, wie ich sie zu beschreiben versucht habe, indem Salome zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen männlichen und weiblichen Identitäten oszilliert und indem die musikalische Textur – ebenso wie die Aufführung der Oper – alternative Stimmen aufweist, die eine geschlechtliche Umgestaltung der Autorrede anzeigen. Dennoch endet der Plot damit, dass Salome von der Bühne eliminiert wird. Auch wenn Clément den Vorgang des librettistischen Frauenmords übertreiben mag, stellt sich uns die Frage, warum diese Operhandlung diese besondere Frau vernichtet. Clément nimmt an, dass solche Plots den Zustand geschlechtlicher Ungleichheit in unserer Kultur widerspiegeln. Sie vollbringen eine kulturelle Arbeit, indem sie wieder und wieder zu verstehen geben, dass Frauen ausschließlich bestimmte Orte bewohnen, dass die Niederlage der Frauen für Männer ein vergnüglicher Anblick ist. Rache Aber vielleicht dienen Plots, in denen Frauen (und auch Männer) ermordet werden, Opernlibrettisten und -komponisten als eine Form der Rache, um die Angst zu beschwichtigen, die im Jakobineraufstand der Aufführung geboren wurde. Die Abhängigkeit der Komponisten von Frauen ist ein einzigartiges Merkmal der Oper. Beethovens Klaviersonaten können von Männern gespielt werden, und Männer sind in der Lage, Posaune zu spielen oder ein Orchester zu leiten, aber kein Knabensopran könnte jemals eine weibliche Opernrolle singen. Frauen haben entscheidenden Anteil an der Autorschaft einer Oper als hörbare Wirklichkeit; man kann ihnen die Mitarbeit an der Produktion nicht verbieten, es sei denn der Komponist beschränkt sich auf eine rein männliche Besetzung (wie Britten es tat). Und singen sie erst einmal – behaglich als Lustobjekte in den Blick genommen –, werden Klänge erschaffen.
19 Mary Jacobus hat die Begriffe, durch die Weiblichkeit als ›Mangel‹ bezeichnet wird,
durchgesehen. Sie stellt fest, dass Freuds Kastrationstheorie von einer ganz und gar visuellen Wahrnehmung der Welt ausgeht, und dass, sobald die Wahrnehmung über einen anderen Sinn erfolgt, Frauen durchaus weniger ›mangelhaft‹ erscheinen können als Männer. Siehe Jacobus: Reading Woman. Essays in Feminist Criticism. New York 1986, 21, 29–30, insbesondere 110–136, 243–244.
15. Gender und Genre im Popsong Richard Middleton: Autorschaft, Gender und Bedeutungskonstruktionen in den Hits der Eurythmics (1995) Einleitung Richard Middleton ist ein britischer Musikwissenschaftler, der schwerpunktmäßig in den Bereichen populärer Musik und kulturwissenschaftlicher Theorien forscht. Nach Lehrtätigkeiten an der University of Birmingham und an der Open University wurde er 1998 als Professor an die Newcastle University in Newcastle upon Tyne berufen; 2005 wurde er emeritiert. Er ist Mitherausgeber der seit 1981 existierenden Zeitschrift Popular Music (Cambridge University Press) und der 2006 erstmals erschienenen Online-Zeitschrift Radical Musicology (Newcastle University, http://www.radical-musicology.org.uk). Sein Buch Studying Popular Music (1990) wurde in den 1990er Jahren zu einem methodologischen Grundlagenwerk der akademischen Vermittlung populärer Musik. Darin knüpft Middleton an etablierte akademische Diskurse an, indem er Ansätze verschiedener Theoretiker, darunter Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, französische Postmodernisten wie Roland Barthes und Vertreter der britischen Cultural Studies wie Paul Willis und Simon Frith integriert. Auch in seinem jüngsten Buch Voicing the Popular. On the Subjects of Popular Music (2006) behandelt Middleton eine große Bandbreite an musikalischen Beispielen, stützt sich nun aber vorwiegend auf psychoanalytische Theoretiker wie Jacques Lacan und insbesondere Slavoj Žižek. Middletons Texte sind nicht immer leicht zugänglich – das hängt mit ihrer theoretischen Dichte zusammen –, aber sie öffnen den Blick dafür, dass es zu einem Forschungsgegenstand häufig verschiedene Zugänge gibt. Gerade im Bereich der populären Musik zieht Middleton grundsätzlich eine Vielzahl von Lesarten in Betracht. »The people«, die im Begriff des Populären stecken, sind nicht als Einheit zu fassen, auch nicht darin, wie sie Gender-Aspekte musikalisch darstellen oder wahrnehmen.1 Bei der Analyse solcher Vielfalt geht er dann ins Detail und bedient sich musikwissenschaftlicher Methoden und Beschreibungsweisen. Insiderwissen zu seinen Musikbeispielen setzt er
1 Siehe Middletons »Locating the People«. In der darin enthaltenen Analyse des Spice GirlsSongs »Wannabe« (1996) beobachtet er – ähnlich wie im hier zitierten Aufsatz über die Eurythmics – eine Vielfalt von Assoziationen zwischen Gender und Genres.
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nicht voraus; seine Darstellung zielt vielmehr darauf ab, dass die Leserinnen und Leser mit eigenen Beispielen daran anknüpfen können. Die Analyse von (Musik-)Kultur und ihren sozialen und historischen Bedingungen verbindet er immer mit präzisen Analysen der musikalischen Ästhetik. Insofern verkörpert Middleton einen dezidiert musikwissenschaftlichen Zugang zu den Cultural Studies. Das zeigt sich in dem hier zitierten Artikel ebenso wie in seinem Buch Reading Pop. Approaches to the Textual Analysis of Popular Music (1999), in seinem Beitrag zu der von ihm mit herausgegebenen Einführung The Cultural Study of Music (2003), und aus eben diesem Grund stammt wohl auch der Artikel »Form« in Key Terms in Popular Music and Culture2 von ihm. Im vorliegenden Text über Gender und Genre zeigt sich Middletons komplexes Verständnis von populärer Musik zunächst darin, dass er seiner Analyse von Songs des britischen Pop-Duos Eurythmics eine Diskussion über Autorschaft voranstellt. Die Frage nach geschlechtlichen Identitäten in der Musik kommt für Middleton nicht an der Grundfrage vorbei, wer wessen Gender darstellt. Ähnlich wie Carolyn Abbate3 hinterfragt Middleton traditionelle Vorstellungen von Autorschaft und greift auf das Konzept der Dialogizität des russischen Literaturwissenschaftlers Michail Bachtin zurück,4 um hervorzuheben, dass in einem Musikstück, hier im Popsong, nicht eine einzige, sondern verschiedene ›Stimmen‹ interagieren. Im ersten Teil, der im vorliegenden Ausschnitt nicht enthalten ist, diskutiert er das Problem der Autorschaft im Hinblick auf die Zusammenarbeit von Annie Lennox und Dave Stewart, die gemeinsam die Eurythmics bildeten. Außerdem geht er auf die historische Entwicklung der populären Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, innerhalb derer sich die Eurythmics mit ihren Hits zwischen 1983 und 1990 in einer Tendenz zu ironischem Spiel mit verschiedenen Identitäten verorten. Zentral für seine Argumentation sind stereotype Assoziationen verschiedener Stile mit Gender und anderen Aspekten kultureller Identität (u.a. Hautfarbe). Indem die Eurythmics in ihren Songs oft mehrere populäre Stile
2 Hg. von Bruce Horner, Thomas Swiss. Malden 2003. 3 In einer Anmerkung, die im folgenden Ausschnitt nicht enthalten ist (S. 483), verweist Middleton auf Abbate (1991), wobei er ihren Ansatz als zu sehr auf den Gesang begrenzt kritisiert: »Abbate (1991) entwickelt eine Theorie der vielfachen ›Stimmen‹ in den Strukturen von Opern des 19. Jahrhunderts. Damit können offensichtlich ›ungesungene‹ [›unsung‹] Stimmen gemeint sein (ihrer Definition nach sind sie ›verortet in ... unsichtbaren Körpern‹, Abbate 1991, 13), aber leider begrenzt sie ihre Analysen – in einer ansonsten brillanten Arbeit – mehr oder weniger auf die singenden Figuren.« Zu Abbate siehe auch Kap. 14 in diesem Band. 4 Bachtin hat seine Theorie in mehreren Studien zum Roman entwickelt, die in deutscher Übersetzung gesammelt vorliegen (Bachtin 1979).
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zitieren bzw. kombinieren, greifen sie auch die zugehörigen Gender-Stereotype auf. Middletons Methode, Gender-Identitäten durch Stereotype zu analysieren, hat zweifellos ihre Grenzen. Offen bleibt dabei die Frage, wie Stereotype im Einzelnen diskursiv konstruiert werden. Um seine eigene Argumentation nicht Gefahr laufen zu lassen, die Stereotype schlichtweg fortzuschreiben, sieht sich Middleton häufig gezwungen, darauf hinzuweisen, dass sie keine unumstößlichen Regeln sind, sondern veränderliche Resultate gesellschaftlicher Diskurse. Außerdem bemüht er sich immer wieder, seine eigene Argumentation gegenüber essentialistischen Vorstellungen abzugrenzen. Seine Kritik am Essentialismus in Susan McClarys feministischem Ansatz hat zwar durchaus ihre Berechtigung, löst jedoch das Problem der stilistischen Stereotype in seinem eigenen Ansatz nicht auf. Ob die von ihm angeführten stereotypen Verknüpfungen wie z.B. ›Blues – Männlichkeit‹ auch auf andere Gegenstände übertragbar sind, wäre im je konkreten Fall sorgfältig zu überprüfen. Der wesentliche Aspekt, um den es ihm geht, ist allerdings die im Bachtinschen Sinn dialogische, stilistische ›Vielstimmigkeit‹ populärer Songs, die sich nur in ihrem Kontext offenbart. Zur methodischen Perspektive, die er mit seinem Aufsatz vorschlägt, gehört daher auch die Einbettung der Eurythmics-Hits in die Popkultur der 1980er Jahre. Florian Heesch Textvorlage Richard Middleton: Authorship, Gender and the Construction of Meaning in Eurythmics’ Hit Recordings. In: Cultural Studies 9, 1995, Nr. 3, 465–485 [Auszug].
Weitere Veröffentlichungen von Richard Middleton Studying Popular Music. Reprint der Erstaufl. von 1990. Buckingham 2002. [Als Hg., zus. mit Martin Clayton, Trevor Herbert:] The Cultural Study of Music. A Critical Introduction. New York 2003. Locating the People. Music and the Popular. Ebd., 251–262.
Weiterführende Literatur Abbate, Carolyn: Unsung Voices. Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century. Princeton 1991. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a.M. 1979. Whiteley, Sheila (Hg.): Sexing the Groove. Popular Music and Gender. London 1997.
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Ausgewählter Text Die Konstruktion von Bedeutung und Gender Für [Michail] Bachtin ist Heterologie – das dialogische Zusammenspiel von Diskursen – nicht nur eine strukturelle Bedingung von Subjektidentitäten, sondern auch eine Quelle von Bedeutungen: Allen Wörtern (oder musikalischen Effekten) sind der Beruf, die Gattung, die Richtung, die Partei, das bestimmte Werk, die bestimmten Menschen, die Generationen, Altersstufen, Tag und Stunde anzumerken. Jedem Wort sind der Kontext und die Kontexte abzulesen, in denen es sein sozial gespanntes Leben geführt hat (...). Im Wort sind die kontextuellen (...) Obertöne unvermeidlich.5
Als eine stimmliche Äußerung konstruiert Musik Identitäten, indem sie Subjektpositionen anbietet, die mit bestimmten sozialen Räumen verbunden sind. Diese Positionen werden kontextualisiert, und gerade wenn dies dauerhaft geschieht, können wir mit Bachtin von »Chronotopoi« sprechen – »räumlichen und zeitlichen Indikatoren (...), die zu einem sorgsam ausgedachten, konkreten Ganzen verschmelzen«.6 Musikalische Stile versetzen uns häufig an bestimmte historische und geographische Punkte; somit bieten sie besondere Möglichkeiten, einen vorgestellten Ort und eine gefühlte Zeit zu erleben. Doch diese Erlebnisse werden immer durch Diskurse vermittelt. Ein analytischer Weg zum Verständnis dessen könnte sein, sich vorzustellen, dass verschiedene Stile auf vielen verschiedenen diskursiven Ebenen, wie ›soziale Schicht‹ [›class‹], ›Gender‹, ›ethnische Zugehörigkeit‹ usw., miteinander kommunizieren und interagieren. Wenn Diskurse dialogisch sind, schaffen Stile Bedeutung, indem sie auf sich und die jeweils anderen Stile innerhalb eines Bedeutungsfeldes verweisen, das »durch Differenz strukturiert ist«; wir können sie uns somit auf jeder diskursiven Ebene als jenseits einer Bedeutungsachse angeordnet vorstellen, z.B. individuell/kollektiv, spirituell/sinnlich, schwarz/weiß. Indem wir diese Achsen über die verschiedenen Ebenen verlängern, können wir eine diskursive Landkarte des stilistischen Territoriums erstellen. 5 [Hier zitiert nach: Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Hg. und eingeleitet von Rainer Grübel. Aus dem Russischen übersetzt von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979, 185. Middleton zitiert nach Tzvetan Todorov: Mikhail Bakhtin. The Dialogical Principle. Manchester 1984, 56–57.] 6 Michail Bachtin: The Dialogic Imagination. Übersetzt von Caryl Emerson und Michael Holquist. Austin 1981, 84.
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Für die Eurythmics ist die ›Gender-Landkarte‹ von besonderer Bedeutung. Die vielfachen diskursiven Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität einschließlich ihrer unausweichlichen internen Widersprüche ergeben eine umfangreiche Menge an Artikulationsmöglichkeiten durch musikalische Stile. Wie Birch gezeigt hat, gibt es innerhalb der westlichen Kultur einen Konflikt zwischen der Vorstellung, dass Kunst, insbesondere Musik, irgendwie ›weiblich‹ sei, und der gleichzeitigen Tendenz, Kunst in der (Lacanschen) symbolischen Ordnung zu verorten, um sie den Strukturen patriarchalischer Herrschaft anzugleichen. Dies führe dazu, dass Stile und Genres nach Gender-Aspekten verteilt werden: Manche werden als eher ›männlich‹, andere als eher ›weiblich‹ wahrgenommen (siehe Abb. 1).7 Die Ballade, die sich auf den Code der Romanze bezieht, ist (stereotyp) klar in der ›weiblichen‹ Sphäre angesiedelt und kann somit an den einen Pol der Achse gesetzt werden. Genau wie in der literarischen Romanze verführt die Heldin, während sie die konventionelle Passivität ihrer Rolle akzeptiert, den Mann dadurch, dass sie ihn »feminisiert«.8 Damit können Sängerinnen von Balladen, während sie sich wie eine Ware anbieten, auf dem Vorrang von ›Gefühl‹ gegenüber ›Sex‹ bestehen; Sänger dagegen müssen ›feminisiert‹ werden. Den gegenüberliegenden Pol markiert die klar ›männliche‹ Sphäre des Blues, einer Musik, die (wiederum stereotyp) eher den ›Sex‹ als die ›Romanze‹ zelebriert, oftmals im Gewand aggressiven männlichen Begehrens. Sängerinnen (wie z.B. Bessie Smith) müssen hier ›maskulinisiert‹ werden. In der Praxis interagieren die verschiedenen Stile häufig miteinander. Das ist kaum überraschend, wenn man bedenkt, dass die Kategorie ›Gender‹ äußerst instabil ist. Tatsächlich wird die zugrundeliegende Polarität durch die Positionierung anderer Stile vermittelt. Eine solche Vermittlungslinie scheint durch Rock- und Popmusik zu verlaufen. In Übereinstimmung mit dem etablierten Gegensatz von ›Cock Rock‹ und ›Teenybopper Pop‹ wird Rockmusik näher am Blues und Popmusik näher an der Ballade positioniert – obwohl jede Stilrichtung natürlich ihre eigenen spezifischen Assoziationen aufweist (die z.B. mit Aspekten der Adoleszenz oder mit männlichem Narzissmus zu tun haben).9 Die andere große Vermittlungslinie verläuft innerhalb der SoulMusik, die häufig als Repräsentation einer ›spiritualisierten Erotik‹ verstanden wird. Indem der Soul sich einerseits auf Gospel-Musik und andererseits auf 7 Dinah Birch: »Gender and Genre«. In: Frances Bonner u.a. (Hg.), Imagining Women. Cultural Representations and Gender. Cambridge 1992, 50–55. 8 Janice Radway: Reading the Romance. Women, Patriarchy and Popular Literature. London 1987. 9 Simon Frith, Angela McRobbie: »Rock and Sexuality«. In: Screen Education 29, 1978, 3–19 [siehe Kap. 10 in diesem Band]. Der Gegensatz wird zwar von Theoretikern kritisiert, entspricht aber immer noch den Annahmen von Hörerschaft und Musikindustrie.
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BALLADE
POP SOUL ROCK
BLUES
Abb. 1 Die ›Gender-Landkarte‹
den Blues und die Ballade beruft, ermöglicht er männlichen wie weiblichen Musikern neue Positionen, die manchmal ein androgynes Verwischen von Rollen, manchmal einen protofeministischen Egalitarismus und fast immer eine Politik der Solidarität beinhalten. Disco (und in gewissem Maß auch nachfolgende Richtungen des Black Pop – also Funk und House) weitet die Androgynität aus (es gibt dabei Anknüpfungspunkte zur schwulen Kultur) und verbindet sich so mit der Erotik der Soul-Musik und der durch Popmusik vermittelten Romanze.10 Die Entdeckung neuer Gender-Positionen innerhalb jüngerer populärer Musik wird oft mit dem Einfluss von Soul und Post-Soul-Stilarten assoziiert. Wenn man jedoch die (chauvinistischen) Botschaften vieler Texte (von Soul bis hin zu Rap) bedenkt sowie die historischen Verbindungen, die der Soul mit Schwarzem Nationalismus hat (der nicht gerade berühmt ist für seine fortschrittliche Sicht auf Gender-Fragen), wird klar, dass Vorsicht angebracht ist. Nichtsdestoweniger ist die Verbindung nicht falsch. Ebenso wie SoulSänger oftmals als entweder relativ schwach und hilfsbedürftig oder relativ vertrauenswürdig und verantwortungsbewusst aufgefasst werden, ist der Rhythmus der Musik normalerweise weniger aggressiv, weniger vorandrängend als im Blues oder Rock. Man denke auch an die Figur der reifen, matriarchalischen Frau, die häufig in der afroamerikanischen Musiktradition vorkommt; und – dies ist eine spezifischere chronotopische Verbindung – die Geschichte des Gospel verfügt über Bilder und Assoziationen weiblicher 10 Siehe Richard Dyer: »In Defense of Disco«. In: Simon Frith, Andrew Goodwin (Hg.), On Record. Rock, Pop and the Written Word. New York 1990, 410–418.
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Führungsrollen innerhalb der schwarzen Kirche, verkörpert durch die Musik Rosetta Tharpes oder Mahalia Jacksons. Schließlich kann die allgemeine Aura von Macht und Solidarität, die dem Soul aufgrund seiner Verbindung mit den Ideologien des schwarzen Bewusstseins (für die James Brown das beste Beispiel ist) anhaftet, leicht von einer Politik der Ethnie zu einer Politik des sozialen Geschlechts umformuliert werden. Ein chronotopischer Schlüsselmoment ist hier die von Aretha Franklin 1967 aufgenommene Coverversion von Otis Reddings Hymne des schwarzen Stolzes, »Respect« (1965). Auch wenn Gender-Fragen, insbesondere in Bezug auf die Eurythmics, eine besonders wichtige diskursive Landkarte bilden, sind sie nicht das einzige Thema von Bedeutung. Hinzu kommt, dass auch Landkarten miteinander interagieren. Wir können uns beispielsweise eine ›Natur/Technologie‹-Achse vorstellen, strukturiert um den Pol ›Soul‹ einerseits (wo Instrumente immer ›vokalisiert‹ und Aufnahmetechniken immer ›humanisiert‹ werden) und den Pol ›Techno-Pop‹ andererseits, dessen Ziel es gerade ist, alle Klangquellen zu ›technologisieren‹. Ein Vermittler dieser Polarität wäre z.B. Disco (›mechanisierte Erotik‹), ein anderer die Ballade (›glänzende‹ Orchestrierungen, ›mechanisierte‹ Qualitäten des traditionellen Show-Geschäfts), ein dritter wäre Rock (in dem die expressive Verwendung elektrischer Instrumente auf männliche Kontrolle der Technologie verweist). Zwischen dieser Landkarte und der Gender-Landkarte gibt es eine Verbindung. Frauen, die fast immer als Sängerinnen, nicht als Instrumentalistinnen fungieren, werden aufgrund der ›natürlichen‹ Qualitäten der Stimme stereotyp mit dem Körper assoziiert; männliche Instrumentalisten, Produzenten und Toningenieure verkörpern dagegen die patriarchalische Beherrschung des rationalisierten Bereichs der Technologie.11 Oberflächlich betrachtet scheinen die Eurythmics diesem Muster zu entsprechen: Lennox, die Stimme, Stewart, der Instrumentalist/Produzent. Doch ebenso wie die Produktion nicht so einfach aufgeteilt werden kann (Lennox spielte Instrumente und war an Arrangements und Produktion beteiligt), wird Lennox’ Stimme manchmal als Instrument genutzt oder sogar ›technologisiert‹, während synthetische Imitationen ›natürlicher‹ Instrumente und heftig ›vokalisierte‹, elektronisch produzierte Klänge die herkömmliche Gleichung in Frage stellen.12 11 Siehe Barbara Bradby: »Sampling Sexuality. Gender, Technology and the Body in Dance Music«. In: Popular Music 12, 1993, Nr. 2, 155–176; Catherine King: »The Politics of Representation. A Democracy of the Gaze«. In: Frances Bonner u.a. (Hg.), Imagining Women. Cultural Representations and Gender. Cambridge 1992, 131–139. 12 In afroamerikanischen Musikrichtungen sind solche ›Crossovers‹ von Stimme und Instrument üblich, was ein weiterer Grund dafür ist, dass sie soviel Potential zur Subversion von Gender-Bildern enthalten. Siehe Richard Middleton: Studying Popular Music. Buckingham 1990, 264.
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Eine dritte wichtige diskursive Landkarte ist um die Achse ›geistlich‹/›säkular‹ herum organisiert. An einem Pol befindet sich dabei der Soul (der das Weltliche spiritualisiert), der der unabänderlich säkularisierenden Kraft des ursprünglichen Pop gegenübersteht, vor allem den eher ›Techno-orientierten‹ Varianten. Die Hauptvermittler sind hier die Ballade einerseits und der Blues andererseits. Der Blues, der traditionell als ›Musik des Teufels‹ gilt, ist (im Gegensatz zum Pop) religiös aufgeladen, steht dabei aber im negativen Verhältnis zur Gospel-Soul-Linie; es ist ein Stil, der im Zusammenspiel mit der Gender-Ebene Frauen und Sex meist als böse und die Macht der Männer und ihre Torheiten als einer dämonischen Ordnung unterworfen darstellt. Die Ballade kreuzt heilige und säkulare Bahnen auf andere Weise. Ihre Idealisierung der sexuellen Beziehung klingt noch nach den altherkömmlichen Verwirrungen der fleischlichen und spirituellen Liebe, und sie richtet sich an das ätherische Weibliche (»mein Engel«), indem Bilder der Jungfrau angerufen werden, die im Zusammenspiel mit der Gender-Ebene mit dem entgegengesetzten (im Blues und Rock vorkommenden) Image der Hure korrespondieren. Hier sind zahlreiche historische Vorläufer zu erwähnen – von den viktorianischen ›sacred ballads‹ über protestantische Hymnen (deren leidenschaftliche personalisierte Anrufungen und typischen harmonischen Fortschreitungen die Ballade beeinflusst haben) und mystische Lyrik bis zurück zu den Vermischungen des Geistlichen und Weltlichen, den Figuren der Madonna und der Heloise, in Lied und Poesie des Mittelalters.13 Aus einer spekulativeren Sicht auf das Zusammenspiel von Diskursen ließe sich außerdem eine Verbindung zwischen den quasi-mütterlichen Positionen, die Sängerinnen im Soul einnehmen können, und einer matriarchalischen (›Erdmutter‹-)Religion erkennen. Im Fall der Eurythmics können der stilistische Dialog und die daraus resultierenden Gender-Konstruktionen in einem sehr speziellen historischen Kontext verortet werden, der einerseits von wachsendem feministischen Bewusstsein und Neudefinitionen von Sexualität und Geschlecht und andererseits von der politischen Reaktion der Thatcher-Ära geprägt war, die diese Entwicklungen zurückzudrängen versuchte. Natürlich hatte diese Welle des ›Gender-Bending‹, der Überschreitung von Geschlechtergrenzen, ihre historischen Vorläufer. Sie basiert nicht nur auf der popmusikalischen Tradition, 13 Interessanterweise ist es genau dieser Bezug auf die Ballade einerseits und den Blues (vermittelt durch Rock) andererseits, und ihr dadurch diskoisierter Pop, der es Madonna ermöglicht, ihre Jungfrau-Hure-Rolle zu kreieren, eines ihrer großen Themen. Susan McClary (Feminine Endings. Music, Gender and Sexuality. Minneapolis 1991, 163–165 [siehe Ausschnitt in diesem Band, Kap. 2]) und Barbara Bradby (»Like a Virgin-Mother? Materialism and Maternalism in the Songs of Madonna«. In: Cultural Studies 6, 1992, Nr. 1, 73–96) haben die Wurzeln und Mechanismen ihrer »sexualisierten Jungfrau-Maria-Rolle« analysiert.
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die über Jagger und Bowie zu Little Richard und Elvis zurückreicht, sondern kann auch auf Beispiele aus der Unterhaltungskultur des frühen 20. Jahrhunderts bezogen werden (Liberace, [Rudolph] Valentino, Josephine Baker); in gewisser Weise lässt sich die ganze Entwicklung mit noch älteren Mustern von Exzess und Zügellosigkeit verknüpfen, wie sie für theatralische Darstellungsformen charakteristisch waren (Opernkastraten, Travestiekünstler in den Varietés, pantomime dames14, boy actors15 usw.). Wie jedoch Garber herausstellt, ermöglichte dieses subversive Verhalten in den frühen 1980er Jahren neue Darstellungsformen und rief neue soziale Resonanzen hervor. 16 Mitte des Jahrzehnts war ›Cross-Dressing‹, vor allem ›männliche‹ Bekleidung für Frauen, allgegenwärtige Mode. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass gerade der Individualismus der Thatcher-Ära sowohl die Ökonomie der ›SecondHand-Mode‹ als auch die entsprechende narzisstische Körperpolitik ermöglicht hat.17 Aber in einem Kontext, der vom wachsenden Einfluss schwuler Kultur, Veränderungen in Familienstrukturen und auf dem Arbeitsmarkt sowie von Post Punk-Experimenten in der Popmusik geprägt war, besaß ›Gender-Bending‹ eine größere kulturelle Wirkmacht, als man vermuten könnte. Darüber hinaus umfasste die Welle von Cross-Dressers, die in die Popmusik schwappte (von Michael Jackson zu Madonna, Boy George und den Pet Shop Boys), zum ersten Mal auch eine bedeutende Anzahl von Künstlerinnen, die sich auf die Beispiele von Millie Jackson, Grace Jones, Patti Smith und eine Vielzahl von Punk-Musikerinnen beriefen. Wenn Annie Lennox über ihr Video zu »I Need a Man« sagt, es sei »wie eine Frau, die sich als Mann verkleidet hat, der sich als Frau verkleidet hat …, so dass es eine Menge sexueller Doppeldeutigkeiten in dem Ganzen gibt. Es ist beinahe auch ein homosexuelles Statement«,18 so erkennt sie rückblickend an, was ihre berüchtigte DragDarstellung als Elvis bei der Verleihung der Grammy-Awards 1984 in dieser Zeit signalisiert hatte: ihren Eintritt in ein »Kontinuum starker Frauen und feminisierter Männer, die alle – ob beabsichtigt oder nicht – Popmusik genutzt haben, um Geschlechtsgrenzen über Bord zu werfen« ( Jon Savage beschreibt hier eigentlich die 1990er-Band Suede, Guardian, 14. Juli 1993). Annie Lennox’ freies Spiel mit einer Reihe von visuellen Erscheinungen erhält seine volle Bedeutung erst in diesem Kontext, und diese Erscheinungen wirken sich wiederum auf den Dialog musikalischer Stimmen aus. Die ur14 [Eine englische Tradition der Travestie.] 15 [Bezeichnet männliche Jugendliche im Elisabethanischen und Jakobäischen Theater, die weibliche Rollen spielten.] 16 Marjorie Garber: Vested Interests. Cross-Dressing and Cultural Anxiety. London 1992. 17 Siehe Angela McRobbie: »Second-Hand Dresses and the Role of the Ragmarket«. In: Angela McRobbie (Hg.), Zoot Suits and Second-Hand Dresses. London 1989, 23–49. 18 Lucy O’Brien: Annie Lennox. London 1991, 97.
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sprüngliche, schockierend androgyne Rolle im Jahr 1983 sah Annie in einem Männeranzug, komplett mit kurzem Haar, das orange gefärbt war. Mehrere solcher Rollen spielten mit der Idee der Aneignung männlicher Macht. Auf Fotos sehen Lennox und Stewart häufig aus, als seien sie androgyne Zwillinge. Doch Annie begann auch, zunehmend ironisch mit traditionellen Weiblichkeitsbildern (Rüschenkleider, Spitze, weichgezeichnete blonde Locken etc.) und den ebenso stereotypen Zeichen verruchter Sexualität (schwarzes Leder, tief ausgeschnittener BH usw.) zu spielen. Kostüme, die von Show BusinessGlitzer förmlich überquollen, wie der Anzug zu »Liberace«, der mit einem Revers in der Optik einer Tastatur versehen war, setzten das ganze Spiel in Anführungszeichen. Ebenso sorgfältig wurden die visuellen Bilder konstruiert – und damit auch die Szenen und Erzählstränge –, die in den Videos zu den Einspielungen der Eurythmics enthalten waren. Kann man auch die interpretative Bedeutung von Pop-Videos überschätzen – schließlich findet das meiste Hören ohne sie statt –, lässt sich in diesen klar beobachten, dass sie die musikalischen Bedeutungen bestätigen oder verstärken. Bilder, die durch Videos popularisiert worden sind, sickern viel häufiger in allgemeine Vorstellungen ein und beeinflussen so zukünftige Hörerlebnisse, selbst wenn das Video nicht gespielt wird. Dies gilt wahrscheinlich in besonderem Maß für die frühen 1980er Jahre, als das Videoformat eine aufregende Neuheit darstellte. Dessen Effekt dürfte in Bezug auf Gender-Interpretationen von Eurythmics-Songs als besonders stark empfunden worden sein, weil in relativ wenigen Videos weibliche Stars auftraten.19 Ich werde in den folgenden Interpretationen weder ins videoanalytische Detail gehen, noch werde ich mich eingehend mit Filmtheorie auseinandersetzen – obwohl der Technik des Pop-Videos offenbar eine lange Tradition stereotyper Bilder, Posen und Gesten als intertextuelle Folie hinterlegt ist und Annie Lennox sich reichlich dieser Tradition bedient. Trotzdem wäre es irreführend, ihre Position ausschließlich oder auch nur hauptsächlich im Rahmen z.B. des skopophilen männlichen ›Blicks‹ zu diskutieren; sogar ihre visuellen, kritischen Auseinandersetzungen damit (und es kommt in den Eurythmics-Videos nur selten und mit Ausnahme von ironischen Zwecken vor, dass die Kamera die klassisch-männliche Blickrichtung einnimmt) sind nur ein Teil der dialogischen Textur, die ansonsten aus Wechselwirkungen von vokalen Klangfarben, polyphonen Stimmen und musikalischen Stilen besteht. Videotheoretikerinnen und -theoretiker, die die Musik vernachlässigen, riskieren, einen guten Teil dieses textuellen Reichtums zu übersehen – was 19 E. Ann Kaplan: Rocking Around the Clock. Music Television, Postmodernism and Consumer Culture. London 1987.
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unter anderem die Darstellung einhelliger Zuschauer-/Zuhörerreaktion verhindert. Garber argumentiert, dass Cross-Dressing immer als Anzeichen einer ›Kategorienkrise‹ verstanden werden kann, wobei Gender-Markierungen auch auf andere Achsen der Differenz abgebildet werden (ethnische Zugehörigkeit, soziale Schicht, kulturelle Werte etc.), so dass eine konventionelle Bedeutung innerhalb einer Sphäre infrage zu stellen häufig bedeutet, dass dadurch auch andere Sphären destabilisiert werden. 20 Elvis z.B. war eine »lebendige Kategorienkrise«, indem er Gender mit den Subversionspotentialen ethnischer Herkunft und Schichtzugehörigkeit verschmolz.21 Musikalische Ethnizität – eine diskursive Ebene, die in der oben skizzierten Topographie nicht behandelt wurde – wird hier zentral.22 So wie die ethnische Spannung von schwarzen Künstlern und Künstlerinnen oft in Gender-Subversionen aufgelöst wurde (z.B. ist der ›Ausverkauf‹ an ein weißes Publikum als Entmannung beschrieben worden), werden in der Musik der Eurythmics Verschmelzungen von Hautfarbe und Geschlecht miteinander vermischt. Im US-amerikanischen Radio gingen die Eurythmics ›als schwarz durch‹, ebenso wie Annie Lennox, die Frau, als … (was?)23 durchgehen konnte, und wenn sie ›White Soul‹ singt, kann dies als eine Art ›auditives Cross-Dressing‹ bezeichnet werden. Bedenkt man diese reichhaltigen diskursiven Verbindungen in den Texten, wird es zunehmend schwieriger, für etwas anderes als multiple Zuhörerpositionen zu argumentieren. Das dialogische Zusammenspiel der ›Stimmen‹ bietet eine Reihe von möglichen Identifikationspunkten: nicht nur dieser Stil, sondern auch jener, nicht nur die Hauptstimme (die selbst häufig aufgrund stilis20 Garber: Vested Interests (wie Anm. 16). Dies scheint der beste Weg zu einer Lösung dessen, was sich ansonsten in McClarys (Feminine Endings, wie Anm. 13) Analysen als Problem darstellt. Techniken wie den Kadenzschluss als Zeichen patriarchalischer Herrschaft zu lesen (und somit als feministischen Schachzug auszuschließen), mag in manchen Kontexten überzeugend sein, übergeht jedoch, dass derartige Techniken auch auf andere wichtige Arten, auf anderen diskursiven Ebenen Bedeutung entfalten können. So wurden der Kadenzschluss und die typischen tonalen Narrative, in denen er in europäischer Musik vorkommt, von [ John] Shepherd (Music as Social Text. Cambridge 1991, hier Kapitel 6 und 7) im Kontext der Unterdrückung sozialer Schichten gelesen. Garbers Ansatz ermöglicht uns, diese diskursiven Sphären als miteinander verbunden zu denken, indem sie »Kategorienkrisen« produzieren (oder wahlweise natürlich auch, indem sie als »Kategorienstabilisierung« wirken). 21 Garber: Vested Interests (wie Anm. 16), 367. 22 Ungeachtet der Schwierigkeit, ethnische Zugehörigkeit musikalischen Stilen zuzuordnen (wobei ›schwarze Musik‹ den geläufigsten Fall darstellt; siehe Philip Tagg: »Open Letter. Black Music, Afro-American Music and European Music«. In: Popular Music 8, Nr. 3, 1989, 285–298), kann die Wichtigkeit dieser Zuschreibungen für die Frage, wo Menschen diese Stile in der diskursiven Topographie verorten, nicht geleugnet werden. 23 [Diese – wohl bewusste, zum inneren Ausfüllen auffordernde Lücke – findet sich so in Middletons englischsprachiger Vorlage.]
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tischer Vielfalt hinsichtlich ihrer Gender-Implikationen gespalten ist), sondern auch andere Stimmen in der musikalischen Textur. Polyphone Musik ermöglicht es, jedweden monologischen ›Blick‹ infrage zu stellen, während die klassische Pop-Textur (mit dominanter Hauptstimme) versucht, ihn aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus bringen die Zuhörer selbst eine Vielzahl bereits bestehender Vorstellungen von Gender und anderen Formen der Repräsentation mit, die alle die Richtung ihres ›Blicks‹ beeinflussen. Wie Frith gezeigt hat, ist das Pop-Publikum in jedem Fall durch komplexe und in gewissem Sinne auch sozial unkonventionelle Arten von Gender-Aspekten beeinflusst.24 Im Kontext des Gender-Bending der 1980er Jahre mag dies durchaus zu den radikal heterogenen Publikumsreaktionen geführt haben, die in der Musik und darüber hinaus von vielen feministischen Kritikerinnen theoretisiert worden sind.25 Doch wenn wir uns ein »komplizierteres Szenario vorstellen, eines, das fließende Beziehungen von Aktivität und Passivität quer durch vielfältige Identifikationen zulässt …, die eine Vielzahl von Blicken [beinhalten] – ein Zusammenspiel der Möglichkeiten«,26 bedeutet das, dass die daraus resultierenden Interpretationen, die (wie ich hoffe) auf Belegen sowohl aus den Texten als auch aus dem musikhistorischen Kontext basieren, nur überzeugend sein können, wenn sie intersubjektiven Analysen standhalten. Einige Interpretationen Betrachtet man »Sweet Dreams« erneut im Licht der vorangegangenen Bemerkungen, so erkennt man ein quasi-narratives Schema, welches sich um die Abfolge aus Strophe (die düstere, abfällige Szenerie einer modernen, entfremdeten Gesellschaft), Refrain (ein Aufschrei des Gefühls) und Bridge (eine dem Soul entstammende, kollektive Selbstversicherung [»hold your head up«, d.i. »Kopf hoch«]) herum strukturiert. Die Stimme entwickelt sich aus der anonymen ›Stimme der Erfahrung‹ zu der ›expressiveren‹ Stimme des Schmerzes und der Leidenschaft in dem vom Soul beeinflussten Chorus bis hin zum Call-and-Response der Bridge, die im Sinne einer allgemeinen Solidaritätspolitik oder als Stimme weiblicher Schwesternschaft interpre24 Simon Frith: »The Cultural Study of Popular Music«. In: Lawrence Grossberg, Cary Nelson, Paula Treichler (Hg.), Cultural Studies. New York 1992, 174–182. 25 Siehe Kaplan: Rocking Around the Clock (wie Anm. 19); McClary: Feminine Endings (wie Anm. 13); Lorraine Gamman, Margaret Marshment (Hg.): The Female Gaze. Women as Viewers of Popular Culture. London 1988; Bonner u.a. (Hg.), Imagining Women (wie Anm. 11). 26 Suzanne Moore: »Here’s Looking at You, Kid!«. In: Gamman, Marshment (Hg.), The Female Gaze (wie Anm. 25), 44–59, hier 55, 59.
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tiert werden kann. Wie wir zuvor gesehen haben, ›sickern‹ einige Charakteristika des Refrains und der Bridge in die Strophen ein, während das Stück durch die ›Vokalisationen‹ der Streicher, die ›Sexualisierung‹ des Rhythmus durch den Backbeat und die steigende Bedeutung gesungener Stimmen in der Textur zunehmend ›humanisiert‹ wird. Parallel dazu dringen visuelle Eindrücke der ›Natur‹ immer stärker in die anfangs gezeigten Repräsentationen von Technologie und Ökonomie ein oder übernehmen diese sogar. Somit werden die Streicher zur Darstellung des ›Menschen als natürliches Wesen‹, wenn wir Annie Lennox und Stewart auf einem Feld und in einem Boot Cello spielen sehen. In gleicher Weise wird Lennox’ Stimme zunehmend als ›natürlich‹ dargestellt, indem ›taktile‹ Nahaufnahmen ihres Gesichts und ihres Mundes gezeigt werden, was im Konflikt steht mit der zuvor dominanten maskulinen Erscheinung, die von ›unmenschlichen‹ Gesten der Macht und der Herrschaft begleitet wird. Surreale Aufnahmen, die Computer und Kühe (›Natur‹? Oder ›missbrauchte Natur‹?) überblenden, betonen die Bedeutung der TechnologieNatur-Achse für die Gender-Konstruktion in diesem Song. Dennoch sind die implizierten Gender-Positionen mehrdeutig. In der Musik der Strophe suggeriert die Mischung aus Ballade und Disco eine ›schiefgelaufene Romanze›, die durch die Pop-Elemente als (hedonistischer?) Post-1960er-Typus bestimmt wird. Die ›Techno‹-Andeutungen zeigen, wie sie schiefgelaufen ist: durch Mechanisierung (»some of them want to use/abuse you; some of them want to be used by you/to be abused« – »manche wollen dich benutzen/missbrauchen; manche möchten von Dir benutzt/missbraucht werden«). Doch bleiben die Gender-Rollen unklar: Die Andeutungen eines sentimentalen Liebesliedes in Lennox’ Gesang repräsentieren scheinbar ›die Frau als Opfer‹; aber Lennox’ visuelle Darstellung könnte in Verbindung mit dem unablässigen Techno-Hintergrund auch nahelegen, dass sie die Missbrauchende ist. Ebenso ermöglicht die Verwendung von Stilmitteln aus dem Soul in Refrain und Bridge sowohl die Position der ›starken Frau‹ als auch die des ›sensiblen Mannes‹; und ganz sicher sind Dave Stewarts Erscheinung und Bewegungen in den späteren Teilen des Videos genauso ›weiblich‹ wie diejenigen von Lennox ›männlich‹ sind. Damit werden beide Schauplätze des dialogischen Prozesses androgyn besetzt, und dies ermöglicht die Wiederentdeckung menschlicher Würde und Solidarität, ohne dass dies notwendigerweise auf stereotype Übertragungen von ›männlich‹ (›Technik‹) auf ›weiblich‹ (›Natur‹) beschränkt wäre – oder auf eine ähnlich stereotype Entwicklung von der ›Frau als Opfer‹ zur Janis-Joplinesken ›Frau mit Phallus‹ (eine Entwicklung, die eine eindeutigere Rockballaden-Sequenz hätte hervorbringen können). Dass unser Bild dessen, was »Sweet Dreams« nun ist, am Ende des Songs weniger ironisch ausfällt als am Anfang, kann damit zusammenhängen, dass sexuelles Begehren im Verhältnis zur Landkarte der Geschlechterrollen neu definiert wird.
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Viele Songs der Eurythmics, vor allem aus der Frühphase ihrer Karriere, weisen Varianten des stilistischen Dialogs auf, den wir in »Sweet Dreams« finden. […] In »I Need a Man«, der eher ein Blues-Rock- als ein Soul-Rock-Song ist, wird die Aneignung einer ›umgekehrten Macho-Haltung‹ ins Extreme getrieben und dadurch zur Parodie. Das herbe, raue Timbre und die übertriebene Arroganz des Gesangs passen zu dem schweren Bass-Riff und dem Keith Richard-Gitarrenstil sowie zu Lennox’ unerhört prahlerischem Auftreten und der phallischen Zweideutigkeit in der Art und Weise, wie sie ihr Mikrofon benutzt. Das alles stellt eine einseitige sexuelle Forderung dar, ein umgekehrtes Abbild Mick Jaggers – abgesehen davon, dass eine Frau, die eine solche Position annimmt, dazu von der ihr zugewiesenen Rolle als Objekt – und nicht als Handelnde – ausgehen muss. Dies erklärt die blondierten Locken, das starke Make-up und das tief ausgeschnittene Kleid. Doch sowohl musikalisch als auch visuell ist die Darbietung [performance] dermaßen übertrieben, dass diese Parodie eines männerfressenden Vamps kaum andere, tiefere Ebenen der Interpretation verdecken kann, was Lennox selbst nur allzu bewusst war (siehe oben). Dazu gehört die Andeutung, dass die darstellende Person ein Mann in Frauenkleidern ist; und noch eine Ebene tiefer wird uns klar (oder nicht?), dass dieser Mann lediglich von einer Frau gespielt wird. Die Komplexität liegt hier in der Darbietung; diese Verdrehung von Konnotationen, die über die Blues- und Rock-Tradition vermittelt sind (ein klarer Fall dessen, was Bachtin als »zweistimmiges Wort« bezeichnet),27 ist der Grund für die relativ einfache Stilmixtur des Songs. […] Die Verbindung zum Soul und zu dessen feministischem Potential sind besonders deutlich in »Sisters Are Doing It for Themselves«. In diesem eigentlich monostilistischen Song singt Annie Lennox im Duett mit der Soul-Sängerin Aretha Franklin. Die politische Kraft des Stils ist bewusst gewählt, um eine feministische Botschaft zu vermitteln. Und genau in dem Moment, da die musikalische Textur durch Call-and-Response zwischen den Solistinnen sowie zwischen ihnen und den Background-Sängerinnen ein zusammengesetztes weibliches Subjekt erschafft, erstellt das Video eine Montage aus Porträts historischer Frauen, die von Aufnahmen des (weiblichen) Publikums und den zwei Stars unterbrochen wird: die eine als androgyne ›Neue Frau‹, die andere als schwarze Matriarchin.28 Weit entfernt von einer monolithischen Deutung wird Frauen damit bewusst eine Reihe möglicher Positionen ange27 [Bachtin: Die Ästhetik des Wortes (wie Anm. 5), 213.] 28 Ein Teil der Videoanalyse ist Kaplan (wie Anm. 19) geschuldet.
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botenen (und Aretha war offensichtlich nicht allzu begeistert von Annies Sexualpolitik),29 obwohl auffällt, dass alle vokalen Beziehungen (einstimmige Doppelung, Echos, verzierende Oberstimmen) eher unterstützend wirken, als dass sie strukturelle Kontraste beschreiben. Die Musik ist erotisch, aber durch die Verwendung von Totalen und abgewinkelten Aufnahmen sowie durch einzelne, schnelle Schnitte fetischisiert die Kamera weder Annie noch Aretha. Auch wird die scheinbar phallische Macht des aus dem Rock stammenden Backbeat, indem er dem Soul angepasst wird, zum Zweck einer weniger repressiven Erotik eingefangen. Dabei ist interessant, dass Stewarts Gitarrensolo, dessen Wah-Wah-Stil aus dem Heavy Rock stammt, nicht nur musikalisch (es liegt zwischen den Gesangsteilen), sondern auch visuell ›gerahmt‹ ist: Es wird von Aufnahmen der beiden Solistinnen unterbrochen, und in der folgenden Strophe ist Stewart auf einer riesigen Videoleinwand hinter ihnen im wahrsten Sinne des Wortes eingerahmt. In einer gewandten Umkehrung der Norm kontrollieren sie ihn. Da das Solo auf eine Bridge folgt, die scheinbar betont, dass diese ›Schwestern‹ kein Interesse daran haben, heterosexuelle Liebe auszuschließen (was auch immer andere denken mögen), legt dieser Einsatz des Gitarrensolos – das in der Rockmusik normalerweise für die sexuelle Begierde aus männlicher Perspektive steht – nahe, dass solche Begierde in einem neuen Kontext umdefiniert werden kann. Einige methodische Implikationen Zugegebenermaßen werden selbst Songs, die beinahe monostilistisch sind, wie »Sisters«, dialogisch gehört, nicht nur in dem begrenzten Sinn, dass sie eine Reihe polyphoner Stimmen anbieten, mit denen wir uns identifizieren können, sondern auch, weil das ›Andere‹ der Stile innerhalb des umgebenden musikalischen Feldes immer in absentia präsent ist. Ein Stil ist nur sinnvoll im Kontext dessen, was er nicht ist. »Sisters« und »I Need a Man« können als feministische Versuche verstanden werden, eine traditionell männliche Strategie zu übernehmen und umzudefinieren: die Strategie nämlich, Heterologie innerhalb des Textes durch erzwungene, monologische Reinheit zu unterdrücken – durch eine autoritäre Stimme. McClary30 hat vermutet, dass Verweigerungen der Auflösung und der einseitigen Perspektive generell als Zeichen feministischer Stimmen innerhalb von Musik angesehen werden können. Dies würde bedeuten, dass die stilistische Vielfalt, die die meisten Songs der Eurythmics auszeichnet, innerhalb einer längeren Geschichte verortet werden 29 O’Brien: Annie Lennox (wie Anm. 18), 83f. 30 McClary: Feminine Endings (wie Anm. 13).
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kann; jedoch werden damit tendenziell jene Interpretationen durchkreuzt, die die Vielfalt der Eurythmics mit dem besonderen (postmodernen) Moment der 1980er verbinden, einem Moment, als stilistischer Pluralismus keineswegs auf ausdrücklich feministische Projekte beschränkt war. Außerdem würde damit Feministinnen die Möglichkeit abgesprochen, sich aus taktischen Gründen monologischer Autorschaft zu bedienen. Daher scheint es besser zu sein, gefährliche Essentialismen zu vermeiden und stattdessen die Notwendigkeit zu betonen, Strategien in Verbindung mit ihren spezifischen historischen Bedingungen zu bewerten. Aus breiterer methodologischer Perspektive heißt das, dass der hier vorgestellte interpretative Ansatz weder auf offensichtlich heterologische Stücke noch auf Gender-Analysen zu beschränken ist. Sein Gewinn könnte im weiter gefassten Versuch bestehen, musikalische Texturen als den Ort zu verstehen, wo menschliche Subjektivität erschaffen wird.
16. Analyse als Diskurs Annegret Huber: Anmerkungen zu ›Schreibart‹ und ›Lebensprinzip‹ einiger Sonatenhauptsätze von Fanny Hensel (1997) Einleitung Zur Musikwissenschaft gehören eine Reihe von Disziplinen, mittels derer der Gegenstand Musik untersucht wird. Gerade der Musikanalyse haftet dabei der Nimbus an, eine ›objektivierende‹ Wissenschaft zu sein und Regeln in den Diskurs einzuführen, mit denen Kompositionen ›sachlich‹ beurteilt werden können. Annegret Huber, Professorin am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, hat in ihren Arbeiten erläutert, inwiefern diese vermeintliche Objektivität eine Chimäre ist: Zum einen sind die Analysekriterien diskursiv und kulturell geprägt, zum anderen sind die Fragen an die Komposition abhängig von der Wahrnehmung derjenigen, die sie stellen. Folgende Punkte sind wesentlich in der Argumentation Hubers: 1. Die musikanalytische Terminologie ist von Geschlechtermetaphern geprägt, die sich zur polarisierend-hierarchischen Terminologie »verselbstständigten« (Huber 2010, 117), aber ursprünglich nicht zwangsläufig hierarchisch gedacht waren (so bei Adolf Bernhard Marx oder Hugo Riemann, die die Begriffe ›männlich‹ und ›weiblich‹ noch eher lose an die Themen der Sonatenhauptsatzform anbinden).1 2. Wie das Komponieren ist auch das Analysieren kulturelles Handeln: Welche Stücke wir analysieren, welche Methoden wir anwenden, welche Fragen wir stellen, wie wir sie kontextualisieren, alles dies ist kulturell geprägt und wir sollten uns dessen bewusst sein. Musikanalyse ist ein probates Mittel, um über musikalische Werke und ihre Strukturen zu sprechen. Ausgangspunkt jeder Analyse ist das Zergliedern des Gegenstands in seine Einzelteile. Während manche Musiktheoretiker strenge Regeln gänzlich ablehnen und bereits im Beschreiben von Musik und ihren narrativen Strukturen ein analytisch valides Verfahren sehen, haben z.B. Heinrich Schenker, Allen D. Forte oder John Rahn Methoden entwickelt, um musikalisches Material zusammenzufassen oder auf der Basis mathematischer Mengenlehre zu benennen: Sei es, dass eine so genannte Urlinie als Essenz eines Werks herausgeschält wird, sei 1 Zu Dichotomien in der Analyse von Musik siehe die ausführlichen Erläuterungen in Kap. 2 und 3 im vorliegenden Band.
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es, dass Noten und Intervallen Zahlen zugeordnet werden (pitch class theory) u.v.m. In dem sehr grundlegenden Vorgang, einen Akkord z.B. funktionsharmonisch zu bezeichnen, liegt jedoch ein großer Spielraum. Richtig oder falsch gibt es in der Analyse oft nicht. Daher stellt sich die Frage, welche Prämissen einer Analyse zugrundeliegen. Und: Welche unverrückbaren Aussagen können getroffen werden? Was will man mit der Analyse nachweisen? 3. Analyse ist intentionsgeleitet. Oft ging und geht es bei der Analyse darum, eine Komposition ästhetisch zu klassifizieren. Ist es triviale Musik? Ist es ein ›Meisterwerk‹? Carl Dahlhaus formulierte, dass die Analyse einer Komposition eine ›objektive Basis‹ für ein subjektives ›Werturteil‹ liefern solle (Dahlhaus 1970, 11), womit dann die Unterscheidung in ›hohe‹ und ›niedere‹ Musik begründet werde. Heinrich Schenker (1868–1935), dessen Analysemethoden v.a. im US-amerikanischen Raum noch heute verwendet werden, untersuchte, ob die analysierten Kompositionen teilhaben am »ewigen Leben der Idee«, ob sie »über alle Zeiten erhaben« sind, ob es »Meisterwerke« sind (zit. nach Huber 2009, 127). Die Analyse soll »im Reich der Töne Wahrheit« und »Genie« enthüllen (zit. nach ebd., 128). Aus diesem Diskursfeld um Genie und Meisterschaft waren Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert ausgeschlossen (vgl. u.a. Citron 2000). Dies spiegelt sich u.a. im traditionellen Kanon wider, in dem keine Kompositionen von Frauen vertreten sind. Der Kanon diente Schenker, Forte, Jean-Jacques Nattiez und anderen als Korpus, und so setzte die Faktur der kanonisierten Kompositionen wiederum Maßstäbe für die Entwicklung von analytischen Kategorien.2 Wenn wir also diese analytischen Verfahren unhinterfragt anwenden, ist das ›Meisterwerk‹ auch heute, trotz seiner Infragestellung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, unser steter Begleiter, wenn auch als blinder Passagier. 4. Bei der Analyse von Kompositionen von Frauen müssen keine anderen Kriterien angelegt werden als bei Kompositionen von Männern, sondern schlechterdings solche, die dem Analysegegenstand entsprechen. »[M]an muss nicht mehr beweisen, dass Frauen komponieren können: Frauen haben zu allen Zeiten komponiert – und zwar so, wie sie wollten, und nicht weil sie es nicht ›besser‹ konnten« (Huber 2009, 135). 5. Polarisierende Lesarten, die zwischen ›männlicher‹ und ›weiblicher Schreibart‹ unterscheiden, erweisen sich als kontraproduktiv. Zu trennen ist zwischen dem, was komponierende Frauen an Regelwerk kannten und ihren gesellschaftlich vorgegebenen Möglichkeiten zu ihrer Umsetzung. Denn wie Huber vermutet, wurde Frauen zwar inhaltlich dasselbe gelehrt, pädagogisch 2 Zur Kanonbildung siehe Kap. 5 im vorliegenden Band.
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allerdings weniger ambitioniert,3 da das Ziel ihrer Ausbildung nur selten Musik als Profession war (symptomatisch hier ein viel zitierter Brief Abraham Mendelssohns an Fanny Hensel, in dem es heißt, die Musik werde für »ihn [=Felix] vielleicht Beruf, während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Thuns werden kann und soll«, zit. nach Schleuning 2007, 63). Unterschiede in den Schreibweisen von Männern und Frauen nachzuweisen ist weniger aussagekräftig als ihre Gemeinsamkeiten herauszustellen. »So groß der Unterschied sein mag, ob Musik von einem Mann oder einer Frau erfunden wurde, so tun doch die Musik Analysierenden gut daran, die Ebenen der (biologischen wie philosophisch gesetzten) ›Naturen‹ der Geschlechter, ihrer sozialen Möglichkeiten zur Verwirklichung ihrer künstlerischen Vorhaben und der Konventionen und der Ästhetik des kompositorischen Handwerks bewusst zu unterscheiden und in diesen Sphären nicht nur Genderunterschiede zu beschwören, sondern auch Ähnlichkeiten einzuräumen.« (Huber 2009, 138). Solche Ähnlichkeiten könnten im Fall Fanny Hensels, um deren Sonatenhauptsätze es im vorliegenden Textausschnitt geht, die zeitgemäß starke Beethovenrezeption und die Wahrnehmung des »Umschwung[s] von der älteren Sonatentheorie zur Ausbildung einer pragmatischen Sonatenform« um 1830 sein (Huber 1997, 103). Hubers Arbeit ist ein Plädoyer dafür, die Musik von Hensel nicht zu analysieren, weil sie von einer Frau ist, sondern weil es Musik ist, deren vermeintliche ›Regelbrüche‹ eine bewusste und avancierte Auseinandersetzung mit einem Vorbild und sie daher ästhetisch ernst zu nehmen ist. Katrin Losleben Textvorlage Annegret Huber: Anmerkungen zu ›Schreibart‹ und ›Lebensprinzip‹ einiger Sonatenhauptsätze von Fanny Hensel. In: Martina Helmig (Hg.), Fanny Hensel, geb. Mendelssohn Bartholdy. Das Werk. München 1997, 93–104.
Weitere Veröffentlichungen von Annegret Huber Zerschlagen, zerfließen oder erzeugen? Fanny Hensel und Felix Mendelssohn-Bartholdy im Streit um musikalische Formkonzepte nach »Beethovens letzter Zeit«. In: Bettina Brand und Martina Helmig (Hg.), Maßstab Beethoven? Komponistinnen im Schatten des Geniekults. München 2001, 120–144.
3 Vgl. Huber 2009, 137. Mehr zur Professionalisierung siehe Kap. 11 im vorliegenden Band.
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Das Lied ohne Worte als kunstübergreifendes Experiment. Eine komparatistische Studie zur Intermedialität des Instrumentallieds 1830–1850. Tutzing 2006 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft 41). Meisterinnenwerke und Meisterwerkanalyse. Überlegungen zum Musikanalysieren in kulturwissenschaftlichen Kontexten. In: Annette Kreutziger-Herr, Katrin Losleben (Hg.), History | Herstory. Alternative Musikgeschichten. Köln u.a. 2009 (Musik – Kultur – Gender 5), 125–139. Art. Analyse. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 119–121. Performing Music Analysis. Genderstudien als Prüfstein für eine ›Königsdisziplin‹. In: Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film. Wien u.a.2011 (mdw Gender Wissen 2), 21–48.
Weiterführende Literatur Citron, Marcia J.: Gender and the Musical Canon. 3. Aufl. Urbana 2000. Dahlhaus, Carl: Analyse und Werturteil. Mainz 1970 (Musikpädagogik 8). Goehr, Lydia: The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music. Oxford 1992. Guck, Marion A.: Analytical Fictions. In: Adam Krims, Jean-François Lyotard (Hg.), Music/Ideology. Resisting the Aesthetic. Amsterdam 1998, 157–177. Schleuning, Peter: Fanny Hensel, geb. Mendelssohn: Musikerin der Romantik. Köln u.a. 2007 (Europäische Komponistinnen 6).
Ausgewählter Text Einer der am häufigsten zitierten Briefe Fanny Hensels ist jener vom 17. Februar 1835,4 in dem sie eine Selbsteinschätzung ihrer Qualitäten als Komponistin gibt. Sie überträgt darin die Kritik des Bruders an der »Schreibart des Ganzen, [...] der Form«5 ihres Streichquartetts verallgemeinernd auf alle ihre »längern Sachen«. Sie zweifelt nicht nur an deren übergeordneten formalen Eigenschaften, sondern darüber hinaus an deren »Lebensprinzip«: Strategien, die eine großformatige, formale Anlage legitimieren, seien nur durchführbar, wenn die Struktur der musikalischen Gedanken so große »Consistenz« aufweise, daß diese »durchführenden« Kompositionstechniken unterzogen werden können. »Durchführung« war zwar zu dieser Zeit noch nicht gleichbedeutend mit dem ganzen Durchführungsformteil, den wir heute darunter 4 Marcia J. Citron (Hg.): The Letters of Fanny Hensel to Felix Mendelssohn. Stuyvesant 1987, 490. 5 Brief vom 30. Januar 1835, zit. nach Hans-Günter Klein: Das verborgene Band. Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel. Katalog zur Ausstellung der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz zum 150. Todestag der beiden Geschwister. Wiesbaden 1997, 188.
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verstehen, sondern meinte die ableitenden Methoden (wie motivische Arbeit, imitatorische Verarbeitung usw.) jener für diesen Formteil als vorherrschend erkannten Verfahren. Dennoch lenkt dieser Begriff die Aufmerksamkeit auf Werke, die sich mit der »Aufgabenstellung Sonate« auseinandersetzten. Ein Selbstzeugnis wie dieses könnte durchaus dazu verleiten, Fanny Hensels Sonatenformen mit allzu großer Nachsicht zu begegnen, zumal sie in ihrem Schaffen eher punktuell vorzufinden sind. Aber allein die Tatsache, daß die Komponistin das Thema nicht fallen ließ, sondern immer wieder aufgriff, zeigt, daß sie sich Gedanken darüber machte, die analytisch ernst genommen werden sollten. Trotz ihres vereinzelten Auftretens sind die Sonaten Fanny Hensels nicht isoliert zu betrachten. Den Hintergrund bildet eben das Miterleben von »Beethovens letzter Zeit«, das als prägende Ursache für auftretende Probleme genannt wird. Aber gerade in Berlin wirkte Beethoven nicht nur durch seine Werke auf Zeitgenossen: Bereits während seiner letzten Lebensjahre wurde zwischen 1824 und 1830 durch die Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung ein Beethovenbild propagiert, das bis in unsere Zeit hinein wirken sollte.6 Redakteur und dominanter Meinungsbildner war Adolph Bernhard Marx, der – wie auch einige seiner Mitarbeiter7 – zu jener Zeit noch zum Freundeskreis der Familie Mendelssohn gehörte. Die Zeitung hatte sich als Ziel gesetzt, zum einen »einem ansehnlichen Theile des Publikums Wahrheiten anschaulich zu machen, es auf Ideen vorzubereiten, die es in der Allgemeinheit noch nicht zu fassen vermag.«8 Zum anderen sollte daraufhingewirkt werden, daß »Beethoven allgemeiner und vollständiger erkannt wird.«9 Diese beiden Bestrebungen verbanden sich in einer Vielzahl von – oft mit analytischen Betrachtungen verbundenen – Rezensionen ausgewählter Werke Beethovens. Gleichzeitig war aber die Berliner AMZ ein Forum, auf dem man erörterte, wie denn die »Hauptform eines größern Tonstückes«10 – eine Sonatenhauptsatzform auszusehen habe. Da man aber als Gegenstände der Rezensionen häufig die eben oder vor nicht allzu langer Zeit im Druck erschienenen Kompositionen aus Beethovens
6 Vgl. Elisabeth Eleonore Bauer: Wie Beethoven auf den Sockel kam. Die Entstehung eines musikalischen Mythos. Stuttgart 1992. 7 Arno Forchert: »Adolph Bernhard Marx und seine Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung«. In: Carl Dahlhaus (Hg.), Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert. Regensburg 1980, 381–404 (siehe 385, Anm. 17). 8 Adolph Bernhard Marx: »Andeutung des Standpunktes der Zeitung«. In: Berliner AMZ 1, 1824, 448. 9 Ebd. 10 Heinrich Birnbach: »Über die verschiedene Form grösserer Instrumentalstücke aller Art und deren Bearbeitung«. In: Berliner AMZ 4, 1827, 5, 1828.
Huber: Anmerkungen zu Sonatenhauptsätzen von Fanny Hensel
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Spätwerk wählte, waren Probleme11 vorprogrammiert: Am Spätwerk Beethovens ist vieles zu zeigen, aber bestimmt nicht das Typische von Sonatenformen. Dennoch spiegeln die Beiträge der Berliner AMZ eine sich verändernde Auffassung der Sonatensatzform wider, die auch nach 1830, als die Berliner AMZ nicht mehr erschien, ihre Fortsetzung in Marx’ Kompositionslehre fand: Im zweiten Band veröffentlicht er 1838 den stark fünfseitigen Abschnitt Die Sonatenform, den er 1845 im dritten Band auf 131 Seiten gewissermaßen als System ausbreitete.12 Vor dem Wirken Marx’ in Berlin könnten möglicherweise Standpunkte, wie sie in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung unter anderem von E.T.A. Hoffmann vertreten wurden, Fanny Hensels Beethovenbild beeinflußt haben. Welche Werke Beethovens ihr darüber hinaus zum Selbststudium vorlagen, läßt sich unter anderem einem »Musikalienverzeichniß«13 entnehmen, das sie über einen längeren Zeitraum selbst geführt hat. Ein »Beethoven-Szenario« für Fanny Hensels Sonatenkompositionen mag auf den ersten Blick sehr einseitig wirken. Es ergibt sich jedoch als nur eine »Fährte« aus der Auswertung eines Briefs, der glücklicherweise schon erschlossen ist. Je nachdem wie die Bearbeitung anderer Quellen fortschreitet, können sich weitere Aspekte ergeben. So möchte dieser Beitrag nicht viel mehr, als die Aufmerksamkeit auf diesen Teilaspekt lenken und in diesem begrenzten Rahmen Fragen aufwerfen. Als Fanny Hensel besagten Brief im Februar 1835 schrieb, blickte sie auf folgende Kompositionen zurück, die entweder Sonatenhauptsätze enthalten oder solche durch ihren Titel erwarten lassen: 1. Sonatensatz E-Dur für Klavier (29.1.1822–19.2.1822) 2. Klavierquartett As-Dur (1.5.1822–23.11.1822) 3. Sonata o Capriccio f-Moll für Klavier (5.2.1824–14.2.1824) 4. Klaviersonate c-Moll (3.7.1824 bis nach 13.7.1824) 5. Sonata o Fantasia per Piano e Violoncello (»19ten A... 14–20sten August«, »etwas vor 1829«15) 6. Ouverture C-Dur für Orchester (1832) 7. Streichquartett16 (26.8.1834–23.10.1834) 11 Vgl. Bauer: Wie Beethoven auf den Sockel kam (wie Anm. 6). 12 Adolph Bernhard Marx: Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch orientiert. 4 Bde. Leipzig 1837–1847. 13 Rudolf Elvers, Peter Ward Jones: »Das Musikalienverzeichnis von Fanny und Felix Mendelssohn Bartholdy«. In: Rudolf Elvers, Hans-Günter Klein (Hg.), Mendelssohn-Studien. Bd. 8. Berlin 1993, 85–104. 14 Textverlust durch Randbeschneidung des Autographen. 15 Datierung nach Christian Lambour (Hg.): Vorwort der Breitkopfausgabe (vgl. Anm. 21). 16 Skizzen dazu (vgl. Phyllis Benjamin: »A Diary-Album for Fanny Mendelssohn Bartholdy«. In: Rudolf Elvers, Hans-Günter Klein (Hg.), Mendelssohn-Studien. Bd. 7. Berlin 1990,
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Analyse als Diskurs
Noch zu komponieren waren – achtens – die Klaviersonate g-Moll (Herbst 1843) und – neuntens – das Klaviertrio d-Moll op. 11 (1847). Alle neun Werke lassen sich differenzieren in solche, die im Kopfsatz den Anspruch einer Sonatenhauptsatzform erfüllen (Nr. 1, 2, 4, 6, 8, 9), und andere, die in deren Negierung gewachsene Formauffassungen diskutieren (Nr. 3, 5, 7). Im Falle der ersteren werden sich durch die Beobachtung von sukzessiven Veränderungen formaler Ereignisse Einblicke gewinnen lassen. Die drei letztgenannten lassen sich als innovative Auseinandersetzung mit konventionellen, vielleicht gar erstarrenden Formschemata deuten. Eine statische »Lehrbuchsonatenform«,17 die vielfach bis heute undifferenziert als »Sonate« schlechthin gesehen wird, hat – bezogen auf den deutschsprachigen Raum – ihre Wurzeln in Kompositionslehren des 19. Jahrhunderts, wie eben jenen von Marx, Czerny und Lobe. Als Bindeglied zwischen diesen jüngeren, eine pragmatische Sonatenform definierenden Schriften und der älteren Sonatentheorie des 18. Jahrhunderts gilt Heinrich Birnbachs Aufsatz Über die verschiedene Form grösserer Instrumentalstücke [...].18 Er erschien 1827/28 in der Berliner AMZ, als Fanny Hensel die erste Gruppe ihrer Sonaten bereits vollendet hatte. Neu an dieser Sichtweise der Sonatenform war, daß man die Anlage als dreiteilig und die beiden Themen – Hauptsatz und Seitensatz – als »männlich« und »weiblich« (Marx) einander antithetisch gegenübergestellt sah (Dualismusprinzip). Dieses Postulat dokumentiert eine Akzentverlagerung vom harmonischen Geschehen hin zu thematischen Ereignissen. Demgegenüber betrachten die Traktate des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts die Sonatensatzform noch als zweiteilig und äußern sich im wesentlichen zu deren harmonischem Verlauf: Der 1. Teil (heute: Exposition) bringt einen Hauptgedanken in der Tonika, unbestimmt viele »Neben«-Gedanken, die zwischendurch einen »Nebentonartbereich« befestigen, bis dieser, als neue Tonika etabliert, den 1. Teil beschließt. Dabei muß die Ausbildung des Nebentonartbereichs noch nicht mit einem kontrastierenden Thema zusammenfallen. Der 2. Teil ist zunächst von Modulationen geprägt (heute: Durchführung) und bringt schließlich zumindest den Hauptgedanken und 188ff.) und eine Folge von drei Klavierstücken in MA Depos. Lohs 4, die enge thematische Bezüge zu diesem Werk aufweisen und wie eine »unvollständige Sonate« wirken (vgl. HansGünter Klein: Die Kompositionen Fanny Hensels in Autographen und Abschriften aus dem Besitz der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Tutzing 1995, 93), bleiben hier unberücksichtigt, da weder die einzelnen Niederschriften einen Sonatenhauptsatz enthalten noch die Folge der Klavierstücke in ihrer anzunehmenden Unvollständigkeit zu Problemen zyklischer Sonatengestaltung Stellung beziehen kann. 17 Fred Ritzel: Die Entwicklung der »Sonatenform« im musiktheoretischen Schrifttum des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1974, 272. 18 Vgl. Anm. 10.
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unbestimmt viele Gedanken des 1. Teiles in nicht festgelegter Reihenfolge in der Haupttonart (heute: Reprise). Ästhetische Maxime war die »Einheit des Charakters« die nicht zuletzt dadurch entstehen sollte, daß die themenkonstituierenden Motive auseinander abgeleitet wurden. Wiewohl die jüngeren Formen-»Lehren« größeren normativen Anspruch besitzen als die älteren Traktate, wurden die entworfenen Sonatenmodelle kaum je als zu erfüllende Vorgaben betrachtet: Eben durch die Art und Weise, wie das Schema erfüllt oder aber – ganz im Gegenteil – in Frage gestellt wird, schafft sich die Form gewissermaßen jedesmal neu. Übereinstimmend gehen alle Theorien davon aus, daß im Bereich der Exposition keine allzu großen modulatorischen Bewegungen stattfinden sollten, damit der Charakter der Exposition nicht mit dem der Durchführung vermischt wird. Demgegenüber ist schon der Hauptsatz (T. 1–12) des Sonatensatzes19 in E-Dur erstaunlich kühn: Dessen drei Viertakter enden zwar jeweils auf der V., VI. und I. Stufe. Daß aber diese Klänge als Funktionen von E-Dur zu verstehen sind, bestätigt sich erst in T. 12. Sogar innerhalb der einzelnen Viertakter schwankt der harmonische Grund: Der erste vollständige Dreiklang des Satzes war ein cis-Moll-Akkord (T. 1), und der C-Dur-Akkord mit ais (= b) in T. 6 hätte ebensogut nach F-Dur ausweichen können. Überformt wird diese anfängliche harmonische lnstabilität im Kleinen von großer Klarheit der Gesamtanlage der Exposition: Nachdem zuletzt doch durch zwei authentische Kadenzen (T. 11/12; T. 20/21) E-Dur als Tonika befestigt wurde, bildet sich im weiteren Verlauf ein Nebentonartbereich auf der Subdominante aus (T. 31 ff.), woraufhin schließlich am Ende der Exposition die Dominante erreicht wird: Über den ganzen ersten Teil spannt sich also der Bogen der drei Hauptfunktionen. Dabei ist besonders wagemutig, daß neues thematisches Material – gleich einem Seitensatz – ausgerechnet auf der Subdominante eingeführt wird. (In der Reprise wird es seitensatzgemäß in die Tonika transponiert.) Die Dominante etabliert sich auch nicht als neue Haupttonart: Sie wird zunächst eher zufällig durch eine trugschlüssige Wendung gefunden (T. 40), schließlich in T. 42 doch durch eine Kadenz bestätigt, behält aber bis zuletzt die Gestalt eines Dominantseptakkordes. Fanny Mendelssohn bezeichnet diesen Sonatensatz im Autograph als »Angefangene Sonate«: Der Kopfsatz ist vollendet, aber die restlichen Sätze fehlen. Leider weiß man nicht, wie es dazu kam. Fehlte die Gelegenheit, oder erschien der Komponistin die Konzeption schon dieses Kopfsatzes zu gewagt? Beethovens spektakulärste Seitensatztonart ist bekanntlich E-Dur in seiner Sonate C-Dur op. 53. Fanny Mendelssohn könnte sie – nach ihrem »Musika19 So nicht anders vermerkt, berufen sich die Analysen auf die Erstveröffentlichungen im Furore-Verlag, Kassel.
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Analyse als Diskurs
lienverzeichniß« zu schließen – durchaus gekannt haben.20 Ganz gleich, ob man in ihrer Disposition des Seitensatzes einen Reflex auf Beethoven sehen mag, kommt hier zum Ausdruck, daß Fanny Mendelssohn die Formvorgabe als Katalysator für individuelle Gestaltungsprinzipien verwendet. Im Kopfsatz des Klavierquartetts dagegen wird der Dominantbereich schon sehr bald erreicht (T. 27). Was hier beginnt, hat aber eher den Gestus einer Überleitung als den eines thematisch relevanten Abschnitts. Tatsächlich entfaltet sich ab T. 51 ein ganz erheblich kontrastierender, syntaktisch verfestigter Gedanke in der zu erwartenden Dominanttonart, der offenbar dem Hauptsatz antithetisch als Seitensatz gegenübergestellt wird. Daß dieser in der Reprise nicht mehr auftaucht, muß kein Grund dafür sein, ihn nicht als solchen zu sehen: In den damals noch gängigen älteren Formvorstellungen wurde nicht verlangt, daß alle Gedanken aus der Exposition wieder aufgenommen werden. Jedenfalls könnte Fanny Mendelssohn den hiet erzielten Themenkontrast – ebenso wie Marx, der dies später zum Prinzip erhob – aus manchen Werken Beethovens erschlossen haben. [...] Was »durchführende« Techniken angeht, ist bei den bisher besprochenen Werken zu beobachten, daß sie nicht nur im Durchführungsformteil angewendet werden, sondern auch in Exposition und Reprise. In den Expositionen der »angefangenen Sonate« und des Klavierquartetts sind Passagen, in denen der Hauptgedanke modulierend verändert wird, Bestandteil der Überleitung zum Seitensatz. Durchführendes erscheint auch in der Reprise, wenn im Durchführungsformteil Themen oder Techniken nicht zur Sprache kamen: Bei der Ouverture wurde dort der Seitensatz ausgespart, dafür wird seine Augmentation in der Reprise – kombiniert mit Motiven des Hauptgedankens – verarbeitet. Im Kopfsatz der c-Moll-Sonate wird nach der wirklichen Reprise des Hauptsatzes mit dessen kanonisch-zweistimmiger Führung eine kontrapunktische Technik angewandt, auf die in der Durchführung verzichtet wurde. Die Ausbreitung von durchführenden Techniken über alle Formteile der Sonate wurde längere Zeit nur dem späten Beethoven zugestanden, kommt jedoch auch in den Werken anderer (Haydn, Mozart) vor: An welcher Stelle Durchführendes zur Anwendung kommt, hängt weniger vom Personalstil als davon ab, wie sich im zeitlichen Verlauf des Stücks die Exposition oder die Reprise zum Konzept des Durchführungsformteils verhalten. [...] Der Kopfsatz des Klaviertrios wirkt wie eine Bestätigung der nun offenkundigen Souveränität im Umgang mit dem Sonatenprinzip: Die Themen 20 Vgl. Anm. 13: Bei der Eintragung »Sonate c dur« (S. 10) müßte es sich eigentlich um op. 53 handeln. (Op. 2/3 wurde mit Opuszahl vermerkt.)
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haben die »nöthige Consistenz« – eine bestimmte Qualität von motivischer Gegliedertheit bei innerem Zusammenhalt – gewonnen, die erlaubt, Motive mit subtilsten Techniken zu isolieren und zu modifizieren, um sie wieder zu ihrer thematischen Gestalt zusammenzuführen. Bemerkenswert ist allerdings an der Gesamtheit aller vier Sätze, daß kein Scherzo vertreten ist: Fanny Hensel klammert das Scherzo – eigentlich Felix’ Spezialität – aus und ersetzt es mit einem »Lied« durch das, was ihr – nach eigener Einschätzung – am besten gelingt. Überblickt man die Reihe dieser Sonatenhauptsätze, so ist zu vermuten, daß Fanny Hensel die sich wandelnden Vorstellungen von einer Sonatensatzform als Bezugsgröße stets im Auge behält um mit jeder einzelnen Komposition auf den momentanen Stand der Entwicklung zu reagieren. Demgegenüber übertreffen jedoch die drei noch zu erörternden Werke die bisher besprochenen an geradezu experimentellem Geist. [...] Wenn Fanny Mendelssohn »Sonate« schreibt, dürfen offenbar auch dann gewisse formale Ansprüche erhoben werden, wenn sie einschränkende Zusätze wie »o Capriccio« beigibt. Dies trifft auch bei dem im Autograph als Sonata o Fantasia per Piano e Violoncello überschriebenen Werk zu. Bedauerlicherweise wurde es nur unter dem Titel Fantasia veröffentlicht.21 Dem Herausgeber schienen die »eher locker aneinandergereihten Formteile«22 die Bezeichnung »Sonate« nicht zu rechtfertigen. Doch dies verkennt den Umstand, daß in allen Formteilen ableitend Bezug auf thematisches Material genommen wird, das bereits zu Beginn vorgestellt wurde (siehe Notenbeispiel 1). Die Verwandtschaft zwischen den Anfangstakten des Andante doloroso und des Prestissimo ist unschwer nachzuvollziehen: Zwei Teilmotive a und b verbinden sich zum themenkonstitutiven Motiv. Dabei zeigt sich a melodisch variabel und b stets als Vorhaltsbildung. Im Poco più lento löst sich diese Verbindung: Die beiden Teilmotive werden wieder getrennt und häufig einzeln verwendet. Zuletzt bleiben nur noch der charakteristische dreiwertige Auftakt (T. 89ff.) und die um die überbundene Anfangsnote verkürzte Version von T. 39 bzw. 41 (T. 106ff.). Beim Thema des Allegro molto moderato fehlt diese – ursprünglich dem d² zugeordnete – Halbnote ebenfalls. Dennoch sind – abgesehen von diesem fehlenden d² – im weiteren Verlauf hinsichtlich des melodischen Profils Bezüge zur Themengestalt des Prestissimo nachzuvollziehen. Da ansonsten keine weiteren Themen auftreten, muß es sich also um eine monothematische Sonate handeln. Die Suche nach dem Nebentonartbereich 21 Hg. bei Breitkopf &. Härtel, Wiesbaden 1994. 22 Ebd., 3.
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Analyse als Diskurs
Notenbeispiel 1
führt zum Poco più lento: Dort kreist das harmonische Geschehen – bestätigt durch die überdeutliche Doppeldominante in T. 65–79 – um D-Dur. Hinzu kommt, daß hier sowohl thematisches Material zergliedert wird wie auch ein relativ gemäßigtes Tempo herrscht. (Poco più lento scheint im Verhältnis zum vorangegangenen Prestissimo zunächst nicht besonders langsam zu sein. Man beachte aber, daß – unschwer an den Vorhaltsbildungen abzulesen – die Notenwerte vergrößert werden.) Die Kumulation von Nebentonartbereich, zergliederndem und langsamem Tempo in einem Formteil legt die Vermutung nahe, daß dieser multifunktional aufgefaßt werden kann: als Seitensatz einer Sonatensatzexposition, als Durchführung eines Sonatensatzes oder als langsamer Satz eines Sonatenzyklus. Denkt man diesen Ansatz konsequent zu Ende, ergeben sich für die übrigen Formteile folgende Mehrfachfunktionen:
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Huber: Anmerkungen zu Sonatenhauptsätzen von Fanny Hensel
Sonatenzyklus
langsame Einleitung »Sonatenallegro«
langsamer Satz
+ Andante doloroso
+ Poco più lento + Allegro (bei verdoppel- molto modeten Notenrato werten)
Sonatenhauptsatz
langsame Einleitung Exposition
Durchführung
Reprise
+ bereitet auf später verwendete Motive vor
+ monothematisch
+ thematisches Material wird zergliedert
+ alles Thematische steht in der Grundtonart
– endet in der Doppeldominante, nicht in der Dominante
– moduliert zu wenig
– Thema erscheint nicht in Originalgestalt, sondern als Variante
langsame Einleitung Hauptsatz
Seitensatz
Schlussgruppe
+ bereitet auf später verwendete Motive vor
+ beginnt und endet in D-Dur (das zuletzt wieder als Dominante nach G-Dur gedeutet wird)
– müsste eigentlich nicht G-Dur, sondern D-Dur sein
Exposition eines Sonatenhauptsatzes
+ Prestissimo
+ erreicht die Dominante der Seitensatztonart D-Dur
Finale
+ = stützt die betreffende Funktion bzw. – widerspricht ihr. (Daß im Falle von Mehrfachfunktionen eines Formteiles die Kriterien der einzelnen Funktion nicht hundertprozentig erfüllt werden können, versteht sich von selbst.)
Auch wenn in ihrem Musikalienverzeichnis nur Beethovens Cellosonate D-Dur – Nr. 2 aus op. 102 – ausdrücklich vermerkt ist, kannte Fanny Mendelssohn höchstwahrscheinlich auch die erste der beiden Sonaten op. 102 in C-Dur. Ebenso wie die Formteile in Fanny Mendelssohns Werk folgen die Sätze in Beethovens Sonatenzyklus dem Schema langsam-schnell-langsamschnell, wobei bei ihm jeweils ein langsamer Satz ohne Unterbrechung in den
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Analyse als Diskurs
folgenden schnellen mündet. In beiden Kompositionen tritt – bevor der jeweils letzte schnelle Teil beginnt – am Ende des vorhergehenden langsamen Teils eine Reminiszenz an die Thematik des allerersten Anfangs ein. Eine Einschränkung des Sonatenanspruchs findet sich auch bei Beethoven, der sein Autograph mit »Freje Sonate« überschrieb. Mit diesem Werk wandelt Fanny Hensel möglicherweise auf demselben Weg der Auseinandersetzung mit Beethoven, den auch Schubert mit seinen frühen Fantasien und Sonaten eingeschlagen hatte.23 Diese Ansätze führten ihn letztlich zu Werken mit »double function form« wie beispielsweise der Wandererfantasie. Wie Fanny Hensels Sonata o Fantasia in den Kontext der Werke eingeordnet werden kann, die zu den entsprechenden Kompositionen Liszts hinführten, müßte noch überprüft werden. Mit dem Streichquartett24 kehren wir wieder zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung zurück – zum Briefwechsel der Geschwister über dieses Werk. Es fällt insofern aus dem Rahmen, als keiner der vier Sätze ein Sonatenhauptsatz ist. Es erprobt vielmehr ein ausgefallenes Konzept der Gestaltung eines Sonatenzyklus. Als Überblick soll zunächst genügen, daß dem 1. Satz kaum ein formales Schema gerecht wird, der zweite als Scherzo in c-Moll steht (Trio: C-Dur) und die Harmonik des dritten – Romanze – später noch einiger Erläuterungen bedarf. Der vierte Satz ist ein individueller Lösungsvorschlag zur Verschmelzung zweier Formprinzipien zu einem Sonatenrondo in Es-Dur. Felix äußert in seinem Brief Befürchtungen, daß die Form aller vier Sätze, die »eigentlich, bis auf das letzte Stück, in gar keiner Tonart«25 stehen, durch zu viele Modulationen zerstört wird, ohne daß der Inhalt dies rechtfertigt. Daß der erste Satz weder in Es-Dur noch in c-Moll zu stehen scheint, kann er akzeptieren, aber es wird »doch zu viel, und eine Manier, wenns in den anderen auch so kommt.«26 Felix scheint nicht bewußt gewesen zu sein, daß es in den beiden Mittelsätzen nur in eben dieser Art »kommen« kann, weil dies im ersten Satz so angelegt wurde: In ihm ist das gesamte harmonische Geschehen des Zyklus konzentriert. Bereits in den ersten fünf Takten ist eine Entscheidung zu fällen: Ausgehend von c-Moll besteht bereits im zweiten Takt die deutliche Chance, Es-Dur zu erreichen. Doch die anschließende Kadenz beschließt diesen thematischen Fünftakter in c-Moll. Felix kritisiert auch, daß Fanny danach f-Moll durch zu häufigen Gebrauch abnutzt. Doch dies ist der Subdominantbereich von c-Moll, dem zur bestätigenden Kadenz 23 Vgl. Andreas Krause über Schuberts Klaviermusik in: Walter Dürr, Andreas Krause (Hg.), Schubert-Handbuch. Kassel 1997, 392ff. 24 Hg. bei Furore (fue 121), Kassel 1988 und Breitkopf &. Härtel, Wiesbaden 1988. 25 Vgl. Anm. 5. 26 Ebd.
Huber: Anmerkungen zu Sonatenhauptsätzen von Fanny Hensel
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einmal die entsprechende Dominante folgen könnte. Die Dominante, die dann aber ab T. 50 herrscht, ist die von Es-Dur. Sie führt jedoch nicht konfirmativ dorthin, sondern strandet in T. 73 trugschlüssig wieder beim c-Moll des janusköpfigen Fünftakters. Wieder stellt sich dieselbe Frage: zurück nach c-Moll oder fort nach Es-Dur? Versöhnlich neigt sich nun die Kadenz nach Es-Dur. Dieser Tonartenplan erfüllt sich in den übrigen drei Sätzen: Die beiden Schlüsse des Fünftakters – anfangs nach c-Moll, am Schluß nach Es-Dur – verweisen auf die Tonarten des Scherzos und des Schlußsatzes. Für die Romanze sind zwar zwei b vorgezeichnet, sie präsentiert aber die zugrunde gelegte G-Tonalität häufig genug als Dominantseptakkord über G und signalisiert so harmonische Labilität. Daß dieses quasi dominantische G-Dur hier nicht – analog zum Kontext des ersten Satzes – nach vorn zur Tonart des Schlusses, sondern zurück zur Ausgangstonart weist, ist der eigentliche Witz der Sache. Dieses Quartett empfiehlt sich ganz besonders für die Untersuchung von »Beethovenreflexen«: Ebenso wie bei Felix’ op. 12 erinnern die Anfangstakte stark an Beethovens op. 74. Als vielversprechend könnte sich erweisen, den Ansatz Krummachers,27 der in Felix’ op. 12 und 13 dessen Auseinandersetzung mit Beethoven untersucht, auf Fannys Streichquartett auszudehnen. So gering die Anzahl der Sonatenkompositionen Fanny Hensels im Verhältnis zu ihrem Gesamtschaffen sein mag, so schlägt sich doch in ihren Sonatenhauptsätzen – der in Deutschland um 183028 – anzusetzende Umschwung von der älteren Sonatentheorie zur Ausbildung einer pragmatischen Sonatendefinition nieder. Dies ist insbesondere an den im Abstand von rund 20 Jahren entstandenen Klaviersonaten, dem Klavierquartett und dem Klaviertrio zu verfolgen. Mit ihren übrigen Werken – der Sonata o Capriccio, der Sonata o Fantasia und dem Streichquartett – reagiert die Komponistin offenbar höchst aufmerksam auf den aktuellen Stand der neueren kompositorischen Errungenschaften. Dabei erweist sie sich als sehr experimentierfreudig, zuweilen geradezu als kühn. Es ist zu wünschen, daß dies – hier zunächst als These geäußert – durch umfangreichere Analysen untermauert wird und – als provisorischer »Wegweiser« – gezielte Quellenstudien ermöglicht.
27 Friedhelm Krummacher: Mendelssohn – der Komponist. München 1978, 167ff. 28 Ritzel: Die Entwicklung der »Sonatenform« (wie Anm. 17), 272.
17. Instrumentalistinnen in der bürgerlichen Musikkultur Freia Hoffmann: Instrument und Körper (1991) Einleitung Der Titel von Freia Hoffmanns Buch Instrument und Körper verweist auf ein relativ junges Feld der Musikforschung, nämlich die Rolle des Körpers in der instrumentalen Musikpraxis. Viele Fragen dieses Forschungsfelds berühren Gender-Aspekte. Umgekehrt zeigt Hoffmanns Studie auch, dass eines der Grundprobleme musikwissenschaftlicher Gender-Forschung, nämlich die Frage nach der Beteiligung von Frauen an der Musikkultur, notwendig auf den Themenkomplex von Instrument und Körper führt. Hoffmann greift einen Ansatz des Feminismus der 1970er und 80er-Jahre auf, indem sie die kulturell etablierten Bilder vom weiblichen Körper als Produkte des männlichen Blicks entlarvt und ihnen weibliche Perspektiven entgegenhält. Mit dieser Doppelstrategie deckt sie kritisch die »Herrschaft des männlichen Blicks« auf (S. 71), der Frauen zu passiven Objekten macht, und konfrontiert diese Hegemonie mit Beispielen aktiver weiblicher Rebellion: »Beide Seiten dieser Geschichte sind mir wichtig: die Analyse der ›herrschenden‹ Wahrnehmungsmuster und die Tradition des weiblichen Widerstands, des praktischen Ungehorsams gegen das Diktat der ›Schicklichkeit‹. Deshalb erschöpft sich dieses Buch nicht in der Anklage gegen die Beschränkungen und Zurichtungen, die man Frauen abverlangt hat, sondern nimmt sie auch als Subjekte der Geschichte wahr« (S. 11). Auf diese Weise kann Hoffmann weitgehend jenem Dilemma aus dem Weg gehen, mit dem sich feministische Forschungen und Gender Studies bis heute auseinandersetzen: Wer es bei der Kritik patriarchaler Machtverhältnisse belässt, macht Frauen zu Opfern und bestätigt damit ungewollt die Vorstellung von weiblicher Passivität; wer demgegenüber nur die Leistungen ›starker Frauen‹ würdigt, nimmt die strukturellen Gegebenheiten kritiklos hin. Dennoch bleibt Hoffmann jenem feministischen Machtbegriff verhaftet, der die Verantwortung für patriarchale Hegemonie vollständig den Männern zuschreibt, ohne den aktiven Anteil der Frauen zu berücksichtigen. Was sich daran aus dekonstruktivistischer Sicht als Essentialismus kritisieren ließe, begründet allerdings keinen Zweifel an Hoffmanns konkreten Beobachtungen, die sie konsequent auf der Basis historischer Quellen entwickelt. Der Gegenstandsbereich ihrer Studie ist auf die bürgerliche Musikkultur im deutschsprachigen Raum zwischen 1750 und 1850 begrenzt. Zum Ver-
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Instrumentalistinnen in der bürgerlichen Musikkultur
gleich zieht Hoffmann gelegentlich Beispiele adeliger Frauen heran, insbesondere um im ersten Teil »Die Frau am Musikinstrument und die Regeln des Bürgerlichen Anstandes« Unterschiede zwischen bürgerlicher und Adelskultur herauszuarbeiten. Aus dem zeitlich und regional begrenzten Rahmen hat Hoffmann ca. 50 Musikzeitschriften, »alle wichtigen Musiklexika«, Autobiografien und Briefe von Musikerinnen und Musikern, Tageszeitungen und weitere Quellen ausgewertet. Bei ihrer historischen Darstellung des bürgerlichen Konzertlebens hat sie sich kaum auf bestehende Forschungen berufen können, sondern hat auch hier musikwissenschaftliche Pionierarbeit geleistet (vgl. S. 12). Ihre Beobachtungen arbeitet Hoffmann in den drei Teilen ihres Buches systematisch auf. Der erwähnte erste Teil ist der bürgerlichen Sicht auf musizierende Frauen gewidmet. Ihm ist der im Folgenden zitierte Ausschnitt »Die Präsentation des idealen Körpers« entnommen. Den Ausgangspunkt bildet eine Erörterung der 1783 anonym erschienenen Schrift Vom Kostüm des Frauenzimmer Spielens des Philologen, Pfarrers und Komponisten Carl Ludwig Junker (1748–1797) und eines als Replik darauf 1784/85 in der Musicalischen Bibliothek erschienenen Aufsatzes des Juristen, Komponisten und Musikschriftstellers Hans Adolf von Eschstruth (1756–1792).1 Nach Hoffmann spiegelt sich in diesen beiden Texten das bürgerliche Frauenbild repräsentativ wider und wird so explizit ausformuliert, wie später nicht mehr, obwohl es, wie Hoffmann durch zahlreiche Rückbezüge auf Junker sichtbar macht, weiterhin wirksam bleibt. Vom heutigen methodologischen Stand aus gesehen nähert sich Hoffmanns Ansatz hier der Diskursanalyse: »Instrumentalspiel von Frauen im bürgerlichen Musikdiskurs« könnte eine alternative Fragestellung lauten. Hoffmann kommt indessen ohne den Diskursbegriff aus. Teilweise stellt sie heterogene Äußerungen zu einem bestimmten Aspekt zusammen, ohne immer zu differenzieren, welche Position diese innerhalb des Diskurses einnehmen. Insofern ließe sich über einige ihrer Interpretationen diskutieren; durch den sorgfältigen Nachweis und die tendenziell eher umfangreichen Zitate wären Neuinterpretationen der Quellen ggf. leicht möglich. Den zweiten Teil, »Instrumentalistinnen im Konzertleben 1750–1850«, gliedert Hoffmann nach Instrumenten bzw. Instrumentengruppen, anhand derer sie die bürgerlichen Vorstellungen spezifiziert. Dazu führt sie historische Beispiele von Frauen an, die als Instrumentalistinnen zumindest mit einem Teil jener Vorstellungen brachen, wie im hier zitierten Ausschnitt die Cellistin Lise Christiani (1827– 1853). 1 Entgegen der Angabe im Text (S. 28) ist Junkers Abhandlung nicht im Anhang der Druckfassung von Hoffmanns Studie abgedruckt.
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Der dritte Teil der Studie hat einen sozialgeschichtlichen Schwerpunkt. Systematisch werden die Bedingungen erörtert, unter denen bürgerliche Frauen als professionelle Instrumentalistinnen arbeiten konnten: Möglichkeiten der Ausbildung, die Bedingungen reisender Virtuosinnen, Anstellungen und Titel sowie – als ein Sonderbereich – das Thema »Wunderkinder«. Der Teil endet mit einer weiteren Systematisierung der historischen Beispiele, die Hoffmann der Systematisierung nach Instrumenten und der Darstellung der Rahmenbedingungen bewusst entgegensetzt, um die faktische Vielfalt der Musikerinnenbiografien herauszuarbeiten. Hier stellt sie »Die mitproduzierende Ehefrau: Dorette Scheidler-Spohr« und »Die Pionierin: Leopoldine Blahetka« als Beispiele verbreiteter Typen dar und geht im Sinn von Ausnahmen noch auf »Die Aufsteigerin: Caroline Schleicher-Krähmer« und »Die Rebellin: Eleonore Prochaska« ein. Aus systematischen Gründen wäre zu fragen, ob es sich bei der »Pionierin« tatsächlich um eine typische »Existenz- und Arbeitsform« (S. 336) handelt – oder aber um einen Typus, der im Auge der historischen Betrachterin entsteht, die Lebensleistungen rückblickend vergleicht. Sinnvoll ist in jedem Fall der relativierende Blick auf die Instrumentensystematik. Demnach ist etwa Lise Christiani nicht auf den Typus der Cellistin zu reduzieren, sondern sie ist ebenso ein Beispiel für die reisende Virtuosin. Hoffmann betont schon im ersten Satz den Gegenwartsbezug ihrer Studie: »Dies ist, obwohl am historischen Material entwickelt, ein Buch über die Gegenwart. Es gehört heute zu den alltäglichen Erfahrungen von Frauen, daß für sie in bezug auf das Instrumentalspiel besondere Grenzen gelten« (S. 9). Tatsächlich bestätigen jüngere Untersuchungen, dass einige bürgerliche Vorstellungen über Frauen und Instrumentalspiel in Teilen unserer Kultur bis heute fortwirken, z.B. in der auffällig ungleichen Instrumentenwahl bei Mädchen und Jungen. Insofern trägt Instrument und Körper auch dazu bei, die historischen Bedingungen der Gegenwart zu verstehen. Freia Hoffmann hat neben einem Lehramtsstudium selbst ein Instrumentalstudium absolviert, bevor sie im Fach Musikwissenschaft promovierte. Instrument und Körper ist die Publikationsfassung ihrer Habilitationsschrift, die sie 1988 an der Universität Oldenburg einreichte. Dort hat sie seit 1992 eine Professur für Musikpädagogik inne. 2001 gründete sie das Sophie Drinker Institut für musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung in Bremen, dessen Schwerpunkt auf der historischen Forschung zu Instrumentalistinnen liegt. Unter anderem entsteht seit 2006 ein InstrumentalistinnenLexikon, das über die Website des Instituts zugänglich ist (http://www.sophie-drinker-institut.de). Florian Heesch
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Textvorlage Freia Hoffmann: Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur. Frankfurt a.M., Leipzig 1991 [Auszug, 39–46, 204–207].
Weitere Veröffentlichungen von Freia Hoffmann [Als Hg., zus. mit Eva Rieger:] Von der Spielfrau zur Performance-Künstlerin. Auf der Suche nach einer Musikgeschichte der Frauen. Kassel 1992 (Schriftenreihe Frau und Musik 2). Die Wiener Pianistin Leopoldine Blahetka (1809–1885). Zwischen klassischer Tradition und marktgerechtem Virtuosentum. In: Elena Ostleitner, Ursula Simek (Hg.), Ich fahre in mein liebes Wien. Clara Schumann: Fakten, Bilder, Projektionen. Wien 1996, 111–120. Traditionen, Hindernisse, Dissonanzen – 200 Jahre Musikstudium von Frauen. In: Alenka Barber-Kersovan, Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld (Hg.), Frauentöne – Beiträge zu einer ungeschriebenen Musikgeschichte. Karben 2000, 17–33. [Zus. mit Marion Gerards:] Musik – Frauen – Gender. Bücherverzeichnis 1780–2004. Oldenburg 2006 (Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts 4). Art. Christiani. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 171.
Weiterführende Literatur Adelson, Robert, Jacqueline Letzter: »For a woman when she is young and beautiful«: The Harp in Eighteenth-Century France. In: Annette Kreutziger-Herr, Katrin Losleben (Hg.), History | Herstory. Alternative Musikgeschichten. Köln 2009 (Musik – Kultur – Gender 5), 314–335. Deserno, Katharina: Ein Blick auf die Geschichte der Cellistinnen. In: Journal Netzwerk Frauenforschung NRW Nr. 24, 2008, 32–45. Green, Lucy: Music, Gender, Education. Cambridge1997. Hedlock, Heather: Sonorous Bodies. Women and the Glass Harmonica. In: Journal of the American Musicological Society 53, 2000, Nr. 3, 507–542. Kaufmann, Dorothea: »... routinierte Trommlerin gesucht«. Musikerin in einer Damenkapelle: Zum Bild eines vergessenen Frauenberufes aus der Kaiserzeit. Karben 1997 (Schriften zur Popularmusikforschung 3). Kohl, Marie-Anne: Artikel »Körper männlicher/weiblicher, Körperlichkeit«. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 311–313. Rode-Breymann, Susanne, Carolin Stahrenberg (Hg.): »...mein Wunsch ist, Spuren zu hinterlassen...«. Rezeptions- und Berufsgeschichte von Geigerinnen. Hannover 2011 (Beiträge aus dem Forschungszentrum Musik und Gender 1). Saak, Birgit: Artikel »Instrumentalistin«. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 379–380. Siedenburg, Ilka: Geschlechtstypisches Musiklernen. Eine empirische Untersuchung zur musikalischen Sozialisation von Studierenden des Lehramts Musik. Osnabrück 2009 (Osnabrücker Beiträge zur Musik und Musikerziehung 7).
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Ausgewählter Text Teil I: Die Frau am Musikinstrument und die Regeln des Bürgerlichen Anstandes Die Präsentation des idealen Körpers »Im Bewußtsein des Mannes ist sein Blick eines der wichtigsten Mittel der Selbstbehauptung.« Gisela Schneider und Klaus Laermann, »Augen-Blicke«. In: Kursbuch 49
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde in gebildeten Kreisen viel darüber nachgedacht, nach welchen Prinzipien die neue bürgerliche Kultur gestaltet werden sollte. Die Frage, an welchen Musikinstrumenten man Frauen zu sehen wünschte, stand in diesem Rahmen. Wir haben uns mit der Argumentation von Carl Ludwig Junker so ausführlich vertraut gemacht, weil zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft Gesichtspunkte formuliert wurden, die zwar bis heute weiterwirken, aber gewöhnlich nicht mehr so klar ausgesprochen werden. Eine Gesellschaft, die ihre Normen im Bewußtsein ihrer Mitglieder fest verankert weiß, braucht sie nicht immer wieder zu betonen. Auffallend ist, wie stark sich die Bemühung um eine Entsinnlichung des Instrumentalspiels um 1800 auf die Frau konzentrierte. Es gab zwar auch für Männer Einschränkungen, wie zum Beispiel die Mahnung, beim Musikmachen nicht zu grimassieren und unnötige Armbewegungen zu unterlassen. Daß die bürgerliche Ideologie aber so weit ging, Frauen von allen Orchesterinstrumenten auszuschließen, liegt an einem grundsätzlichen Unterschied in der Wahrnehmung. Was Frauen an Musikinstrumenten machen, wie sie sich bewegen, wie sie sich körperlich zum Instrument in Beziehung setzen, wie sie es zum Klingen bringen und welche Assoziationen sie dabei hervorrufen, wird in einer patriarchalen Gesellschaft anders wahrgenommen als das, was Männer am Musikinstrument tun. …und noch weiß ich nicht, ob die Rechnung für mein Ohr, oder Auge, größer war. (Carl Ludwig Junker über die Pianistin Rosina Cannabich, Musikalischer und KünstlerAlmanach auf das Jahr 1783, 27f.) …wie schön ist Frau Pleyel, wenn sie am Piano sitzt. Es genügt nicht sie zu hören, man muß sie auch sehen. Man begreift, daß diese Musik, welche sie auf das Klavier überträgt... ihr aus der Seele quillt und daß ihre Finger nur Dollmetscher sind; ihr Antlitz strahlt und verräth alle Empfindungen. Ihr, die Ihr sie nicht gesehen habt, glaubet nicht, daß ihr Gesicht sich verzerrt und ihr Leib sich verrenkt; dies ist ein unedler
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Fehler, welcher die schönsten Talente verunstaltet. Man sieht im Gegentheil die Anstrengungen der Künstlerin, um die Überschwänglichkeit der Gefühle, welche sie beseelen, zurückzudrängen. Kein Muskel verzieht sich, aber ein göttlich Feuer beseelt ihren Blick; der Genius erhellt ihre Stirn, man fühlt, daß ihr Alles aus der Seele quillt… (Adolphe Adam über die Pianistin Marie Pleyel, Berliner Musikalische Zeitung 1845, No.17) Daß das Instrument nicht so unweibisch ist, als es wohl den Anschein hat, beweist schon die äußere Erscheinung unserer Virtuosin, welche sich, ihr Instrument spielend, malerisch ausnimmt. Dasselbe läßt eine ruhige, sitzende Haltung zu, bei welcher das äußere Ansehen des Spielenden nur gewinnt, die Bogenführung zeigt uns die Wellenlinien, welch eine schöne Hand ganz graziös und elegant machen kann, und vollends der sanfte, elegisch-klagende, weiche, zum Herzen sprechende Ton eines Cellos ist ganz geeignet, Empfindungen auszudrücken und wiederzugeben, welche ihren Ursprung in einem weiblichen Busen haben, trotzdem die Klangstufe des Instrumentes, welche ungefähr auf der Höhe des Tenors steht, das Gegentheil von Allem diesen anzudeuten scheint. Dlle. Cristiani hat demnach bei der Wahl desselben recht gehabt... Auch ihre Bogenführung ist edel, und das linke weiße Händchen versteht mit Anstand, ohne unschön zu werden, die verwickeltsten Applicaturen auszuführen. (Ignaz Lewinsky über die Violoncellistin Lise Cristiani, Allgemeine Wiener Musikzeitung 1845, 234f.)
Ob es um die Schicklichkeit generell ging ( Junker), um eine vorbildliche Demonstration derselben oder sogar um den Widerspruch gegen ihre Normierungen – die wichtigste Instanz von Wahrnehmung und Urteil war das Auge. Sogar dort, wo die Kultur des Klingenden geregelt wurde, überwog das bürgerliche Interesse an einer visuellen Stilisierung und Ästhetisierung weiblicher Tätigkeit.2 Eine Frau, die ihren häuslichen Pflichten nachging, Handarbeiten machte, Harfe spielte oder in Gesellschaft erschien, mußte vor allen anderen Dingen den Anforderungen der Schönheit und Anmut genügen. Diese Macht der visuellen Kontrolle konnte um so selbstverständlicher ausgeübt werden, als etwa die Wünsche des bürgerlichen Ehemanns im allgemeinen 2 Vgl. Barbara Duden: »Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert«. In: Kursbuch 47: Frauen. Berlin 1977, 125–140, bes. 134ff.; Dagmar Ladj-Teichmann: Erziehung zur Weiblichkeit durch Textilarbeiten. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Frauenarbeit im 19. Jahrhundert. Weinheim, Basel 1983; dies.: »Weibliche Bildung im 19. Jahrhundert: Fesselung von Kopf, Hand und Herz?« In: Ilse Brehmer u.a. (Hg.), Frauen in der Geschichte IV. »Wissen heißt leben...« Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert. Düsseldorf 1983, 219–243; Ellen Spickernagel: »Zur Anmut erzogen – Weibliche Körpersprache im 18. Jahrhundert«. Ebd., 305–319; Ilsebill Barta u.a. (Hg.): Frauen, Bilder, Männer, Mythen. Kunsthistorische Beiträge. Berlin 1987.
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ihre Entsprechung fanden in den Normen der männlichen Öffentlichkeit. Vorausgesetzte Muster und Deutungen des herrschenden Blicks wurden auf diese Weise immer wieder bestätigt. Frauen hatten dagegen im Idealfall die Augen niederzuschlagen. Von ihrer Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung und des Erkennens durften sie keinen oder nur heimlichen Gebrauch machen.3 Was also an der musizierenden Frau der Reglementierung bedurfte, war eine Folge männlich-bürgerlicher Wahrnehmungsmuster. »Der Stand des Weibes ist Ruhe« Junker hatte mit dieser Feststellung alle Instrumente ausgeschlossen, deren Spiel große und auffallende Bewegungen verlangte. Unter diesem Gesichtspunkt passend waren Klavier, Gitarre, Laute, Glasharmonika und Harfe. Außer bei der Harfe wurden dabei im wesentlichen nur die Hände bewegt; das galt auch für das Klavier, weil man ja an eine »weibliche« Spielweise ohne allzu viel Ausdruck und Virtuosität dachte. Der übrige Körper konnte in graziöser Sitzhaltung mit geschlossenen Beinen verharren, der leicht geneigte Kopf und ein anmutiger Gesichtsausdruck vervollständigten das Bild. Auch wenn es an belegenden Forschungen zur Körpergeschichte der Frau vor 1850 fehlt,4 will ich die These wagen, daß das weibliche Körperideal die Bewegungslosigkeit war. Der Begriff der Bewegungsfreiheit war zunächst 3 Vgl. einige neuere Publikationen zum Thema Sehen und Sexualität, die aber m. E. den Blick als geschlechtsspezifisches Machtmittel noch zu wenig herausgearbeitet haben: Hans Ernst Mittig: »Erotik bei Rubens«. In: Renate Berger, Daniela Hammer-Tugendhat (Hg.), Der Garten der Lüste. Zur Deutung des Erotischen und Sexuellen bei Künstlern und ihren Interpreten. Köln 1985, 48–88; Michael Schröter: »Wildheit und Zähmung des erotischen Blicks. Zum Zivilisationsprozeß von deutschen Adelsgruppen im 13. Jahrhundert«. In: Merkur 41, 1987, 468–481; Thomas Kleinspehn: Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit. Reinbek b. Hamburg 1989; ders.: »Schaulust und Scham. Zur Sexualisierung des Blicks«. In: Detlef Hoffmann (Hg.), Der nackte Mensch. Marburg 1989, 31–50; Michaela Herrmann: Vom Schauen als Metapher des Begehrens. Die venezianischen Darstellungen der ›Susanna im Bade‹ im Cinquecento. Marburg 1990 (Dissertationes 4). 4 Außer den in Anm. 2 genannten Arbeiten: Auguste Hoffmann: Frau und Leibesübungen im Wandel der Zeit. Schorndorf bei Stuttgart 1965 (Beiträge zur Lehre und Forschung der Leibeserziehung 24), 7–21; Herbert Hänel: Deutsche Ärzte des 18. Jahrhunderts über Leibesübungen. Frankfurt a.M. 1972 (Studientexte zur Leibeserziehung 9), 69–73; Gertrud Pfister (Hg.): Frau und Sport. Frankfurt a.M. 1980, 15–21. Literatur zum Thema Frau und Krankheit: Regina Schaps: Hysterie und Weiblichkeit. Wissenschaftsmythen über die Frau. Frankfurt a.M., New York 1982; Esther Fischer-Homberger: Krankheit Frau. Zur Geschichte der Einbildungen. Darmstadt, Neuwied 1984. Zu wünschen wäre eine Sozialgeschichte des weiblichen Körpers, die außer sportlichen und medizinischen Quellen auch Literatur, pädagogische, philosophische und ästhetische Texte, Bild- und plastische Darstellungen sowie Quellen zur Geschichte des Tanzens, der Mode und des gesellschaftlichen Benehmens auswertet.
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noch unbekannt. Bewegung war nicht der Ausdruck von Freiheit, sondern von harter Notwendigkeit. Wer es nicht nötig hatte, körperliche Arbeit zu verrichten oder sich zu Fuß fortzubewegen, vermied Bewegung. Gesellschaftliche Macht drückte sich darin aus, daß man posierte und sich allenfalls feierlich langsam bewegte; die Kleidung des Adels war in Fülle, Gewicht und Ausdehnung darauf zugeschnitten. Dieses Ideal der prächtigen bzw. schönen Haltung wurde – abgesehen von einigen gegengerichteten Auswirkungen der Französischen Revolution (Abschaffung enger und voluminöser Kleidung, Belebung der Tänze durch die Walzermode) – zunächst vom Bürgertum übernommen. Erst Jahrzehnte später entstand das Ideal des sportlich durchtrainierten Menschen. Um 1800 propagierten zwar einige philanthropische Pädagogen die »Bewegung des Körpers in freier Luft«, stießen aber bei der bürgerlichen Öffentlichkeit auf Unverständnis. Erst mit der Militarisierung der Gesellschaft nach den Befreiungskriegen (Einführung der allgemeinen Wehrpflicht) wurde der Ruf des »Turnvaters« Jahn nach Körperertüchtigung für die männliche Jugend gehört. Die Geschichte des Sports im 19. Jahrhundert war eng mit männlichen militärischen Wertvorstellungen verbunden, was sicher auch dazu beitrug, Frauen nicht einzubeziehen. Für sie blieb das Ideal vornehmer Bewegungslosigkeit wesentlich länger erhalten (wer heute als damenhaft gelten will, hat es teilweise noch zu berücksichtigen). Die ersten Schritte zu einer zögernden Änderung waren die Einrichtung einer Mädchenturnanstalt für behinderte Mädchen 1832 und die Einführung des Mädchenturnens an Schulen 1875, selbstverständlich in den engen Grenzen des »sittlichen Anstandes«. Die beharrliche Ablehnung »unnötiger« körperlicher Bewegung in begüterten Kreisen hing auch mit den physiologischen und medizinischen Vorstellungen der Zeit um 1800 zusammen. Rousseaus berühmte Behauptung, ein neugeborenes Kind habe »das Bedürfnis, seine Glieder auszustrecken und sie zu bewegen«,5 wurde deswegen als so umstürzend empfunden, weil in allen Familien, die es sich leisten konnten, Säuglinge an Kopf, Gliedmaßen und Rumpf fest bandagiert wurden. Nur so, meinte man, würde sich ein wohlgestalteter Körper »entwickeln«. Der Praxis, Kleinkinder zu wickeln, entsprach die Methode der Ärzte, gewünschte Körperhaltungen durch Fixierung zu erzielen. Aus der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist eine Vielzahl von Apparaturen bekannt, in die man Menschen einspannte, um orthopädische Probleme zu lösen. Mit dem Chiroplasten, einer Erfindung des Klavierpädagogen Johann Bernhard Logier, und der Fixierme5 Jean-Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung (1762). Deutsch von Eleonore Sckommodau. Stuttgart 1968, 119.
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Abb. 1 »Säule als Gegengewicht zum Studium des Klaviers, der Harfe, des Zeichnens, usw.« J. Delpech: De l’orthomorphie par rapport à l’espèce humaine. Paris 1828.
chanik, die Robert Schumann zur Steigerung seiner Fingerbeweglichkeit benutzte, sind Beispiele auch in die Musikgeschichte eingegangen. Frauen, die ein Befürworter der »Gymnastik für die Jugend« noch 1847 das »zum Sitzen verurteilte Geschlecht« nennt,6 wurden solchen Prozeduren vor allem zur Verbesserung ihrer Haltung unterzogen. Wenn Korsetts, Schnürleiber, enge Gürtel, hohe Kragen, aufgetürmte Frisuren, Stiefelchen, hohe Absätze und hochlehnige gerade Stühle noch nicht zum gewünschten Erscheinungsbild geführt hatten, wurden auch hier Geräte zur »Aufrichtung des Rückgrats« und zur »Streckung der Wirbelsäule« eingesetzt. Als »Gegengewicht zum Studium des Klaviers, der Harfe, des Zeichnens, usw.« gab es eine Vorrichtung, bei der man der vor dem Instrument sitzenden Frau einen Reifen um den Kopf legte; an diesem Reifen war mit langer Schnur ein Gewicht befestigt, das die Spielerin durch Anspannung der Rückenmuskulatur anheben mußte [Abb. 1]. 6 F. W. Klumpp: »Turnübungen für das weibliche Geschlecht«. Zit. nach Auguste Hoffmann, Frau und Leibesübungen im Wandel der Zeit (wie Anm. 4), 20.
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Ein Körper, der in dieser Weise bewegungslos diszipliniert war, erfüllte beim Musizieren zwei bürgerliche Idealforderungen: die Forderung nach vornehmer Ruhe, verbunden mit weiblicher Anmut, und die Forderung nach »Industriosität«, also nach fleißiger, geduldiger Tätigkeit. [...] Teil II: Instrumentalistinnen im Konzertleben 1750–1850 Violoncello [...] In den Kritiker-Reaktionen auf Lise Cristiani finden sich fast alle Merkmale der geschlechtsspezifischen Wahrnehmung wieder, die ich im ersten Teil der Arbeit dargestellt habe: das Überwiegen des visuellen Interesses, geschlechtsabhängige Beurteilungen, die Präsentation weiblicher Schönheit, die Sexualisierung der Körperhaltung, die Bedeutung der Kleidung (in diesem Fall als Verschleierungsmittel) und rollen-entsprechende Forderungen an die Spielweise. Lise Cristiani muß einen zermürbenden Kampf darum geführt haben, trotz dieses Wahrnehmungsfilters als leistungsfähige Musikerin anerkannt zu werden. Wir können diesen Texten zwar entnehmen, daß sie – ganz im Sinne Carl Ludwig Junkers, der heftige Bewegungen bei Frauen ablehnte, [...] – getragene Stücke und hohe (»weibliche«) Lagen sowie Flageoletts bevorzugte. Ihre reine Intonation, ihre Ausdruckskraft und ihr schöner Ton wurden fast durchgehend gelobt. Darüber hinaus ist kein sicherer Eindruck von ihrem Spiel zu gewinnen, weil offensichtlich verschiedene Forderungen miteinander im Streit lagen. Von einer Frau wurde etwas anderes erwartet als von einer »geschlechtsneutral« guten Interpretation. Julius Weiss beispielsweise verlangte in der Berliner Musikalischen Zeitung eine geschlechtsunabhängige, vielfarbige Interpretationsleistung: »Sie behandelt zwar ihr, von Natur viel physische Kraft beanspruchendes Instrument, das sie beiläufig gesagt, mit großer Decenz handhabt, nicht eben mit Kraft, aber mit desto größerer Anmuth und Eleganz. Besonders trägt die Künstlerin Gesangstellen mit seltener Zartheit, Innigkeit und Wärme der Empfindung vor, Eigenschaften, die in so hohem Grade fast nur den Begabteren ihres Geschlechts anzugehören pflegen. Bergen läßt sich jedoch nicht, daß ihr Vortrag durch fortwährende Anwendung des pianissimo u.s.w. auf die Dauer Monotonie erzeugt. Kräftige Zwischen-Passagen fehlen, um die nöthige Schattirung hervorzurufen. Die Benutzung der beiden tiefsten Saiten vermeidet die Virtuosin fast gänzlich. Im Gegentheil, sie spielt fast immer nur auf den beiden höchsten Saiten, und wendet
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hier die Flageolettöne so oft an, daß der Character des Instruments fast ganz verwischt wird. Mit einem Worte, die Färbung des Vortrags fehlt durchaus. Im Gleichniß zu reden: die Künstlerin liefert kein Bild mit frischem, lebensvollen Colorit, sondern nur eine Skizze, eine Bleistiftzeichnung, wenngleich mit Geschick, leicht und anmuthig ausgeführt« (1845, Nr. 49). In der darauffolgenden Nummer derselben Zeitung wurde gerade umgekehrt argumentiert: »Diese Violoncellistin ist eine der interessantesten Erscheinungen auf dem Gebiete des Virtuosenthums. Der Reiz der Neuheit, die edle, graziöse Haltung und ihr zartes, seelenvolles Spiel müssen einen tiefen und lebendigen Eindruck hervorrufen. Wir können nicht wünschen, daß uns die Künstlerin feurige und leidenschaftliche Ergüsse auf ihrem Instrumente vortrüge, das Cello in dieser Art gespielt, paßt nicht in die Hände einer Frau. Es ist ein Zeichen von dem sichern Takt der Cellistin, daß sie sich in diesen Grenzen hält, weil sie sonst nothwendig, der Äußerlichkeit ihres Instruments gemäß, Carikirtes zum Vorschein bringen würde. Es sind die zarteren Gefühle, denen sie Ausdruck zu geben hat, und darin ist sie Meisterin« (1845, Nr. 50). Die Anpassung an das Weiblichkeitsklischee bewahrte aber keineswegs vor ironischer Abwertung: »Man muß von einer französischen Dame... nicht deutsches Männerspiel erwarten« (AMZ [(Leipziger) Allgemeine Musikalische Zeitung] 1846, 290). Eine ähnliche Haltung steht hinter einer Petersburger (nachträglichen) Kritik, ebenfalls aus der AMZ. Nach einem Konzert des Cellisten Alexandre Batta heißt es: »Wir haben alle Musikstücke, die Herr Batta ausführte, schon voriges Jahr von Fräul. Cristiani gehört und konnten bei dieser Dame das Vermeiden der Virtuosität um so eher entschuldigen, da bei ihr der zarte Vortrag der Melodie als eine normale Äußerung weiblicher Natur und Empfindungsweise erschien und folglich eine schöne, durch keine getäuschten Erwartungen gestörte Wirkung hervorbrachte. Von einem Manne aber, der obendrein einen vielgepriesenen Namen trägt, darf man wohl mehr erwarten, als von einem jungen Mädchen« (1848, 454). Eine Frau darf also die Grenzen zarter Weiblichkeit nicht überschreiten und bekommt als Gegenleistung die Zweitklassigkeit ihrer Leistung bescheinigt. Für einen Mann kommt es schon einem peinlichen Versagen gleich, wenn er eine Kollegin nicht weit übertrifft. Was wir diesen Kritiken übrigens nicht entnehmen können (bei allen darauf gerichteten »Opernguckern und Lorgnons«, AMZ 1846, 290), ist eine Auskunft darüber, wie diese Cellistin ihr Instrument gehalten hat. Weil ihre Stellung immer wieder »dezent« genannt wird und der männlichen »ziemlich nahe« gekommen sein soll, vermute ich, daß sie ihre Knie wenig geöffnet und ihr Instrument entsprechend weit vom Körper entfernt gespielt hat
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Abb. 2. Jacob van Loo, Musizierende Gesellschaft auf der Terrasse, um 1650 ([Lugano], Sammlung Baron Thyssen-Bornemisza)
(kein »Damensitz«7), was dadurch erleichtert war, daß sie einen »erhöheten Sitz«8 benutzte. In ähnlicher Haltung hat Jacob van Loo schon um 1650 eine Gambenspielerin abgebildet [Abb. 2]. 7 Der Damensitz ist in früheren Jahrhunderten auch vorgekommen. Vgl. Caspar Netschers Musikalische Gesellschaft, um 1670 (Den Haag, Sammlung Steengracht), auf dem eine Frau die Tenorgambe nach rechts hält. 8 Bericht über Lise Christianis Konzert in Hannover am 4.3.1846, Hannöversche Landesblätter vom 6.3.1846, 112 [in Hoffmann, Instrument und Körper, 410–411 komplett wiedergegeben.]
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Den meisten Kritikern sind bei der Wahrnehmung dieser Musikerin Maßstab und klare Kriterien abhanden gekommen. Ihre Artikel verraten oft Unsicherheit, ein Schwanken zwischen moralischer Richterhaltung, liberaler Toleranz und religiöser Schwärmerei [...]. Sie wechseln aus der Rolle des schaulustigen Mannes in die des sachorientierten Musikkenners, der über alle erotische Neugier erhaben scheint, und manchmal auch in die des patriarchalisch-besorgten Pädagogen. Daß die bisher zitierten Besprechungen keine Fehlleistungen einzelner verwirrter Autoren gewesen sind, soll die Zusammenstellung weiterer Presseberichte im Anhang [...] zeigen. Ich brauche wohl nicht mehr besonders zu betonen, daß sie nicht aus der damaligen Boulevard-Presse stammen, sondern aus »seriösen« Blättern. Sie sind nicht nur Beleg für die typische Wahrnehmung des damaligen Konzertbesuchers, sondern dokumentieren auch das Wirken einer außergewöhnlichen Frau, die von der Musikgeschichtsschreibung bisher vollkommen ignoriert wurde.
18. Männerkörper im Heavy Metal Robert Walser: Running with the Devil. Macht, Geschlecht und Wahnsinn im Heavy Metal (1993) Einleitung Musik ist ein akustisches Phänomen, das wir mit den Ohren wahrnehmen. Was wie eine Binsenweisheit klingt, kann doch nicht die volle Wahrheit sein. Selbst heute, wo Musik ausgiebig über elektronische Anlagen, also scheinbar entkörperlicht, gehört und zu Teilen oder komplett mit elektronischen Mitteln produziert wird, ist Musik ohne sichtbare Körper, die sie erzeugen, sich zu und mit ihr bewegen, kaum vorstellbar. Eine Musikaufführung ist immer auch ein visuelles Phänomen, ein Ereignis, bei dem wir den körperlichen Aktionen der Musikerinnen und Musiker zuschauen. Studien, die diese Körperlichkeit der Musik unter dem Gender-Aspekt untersuchen, widmen sich zum einen Live-Darbietungen (siehe das vorangehende Kapitel) und sind zum anderen besonders durch den Boom der Musikvideos in der populären Musik der 1980er Jahre angeregt worden. Am Musikvideo, das nach einer zeitweiligen Flaute durch die heutigen interaktiven Möglichkeiten des Internets wieder an Bedeutung gewonnen hat, zeigt sich besonders offensichtlich der Aspekt der Inszenierung, auch wenn dieser im Prinzip jeder Live-Aufführung innewohnt. Als Forschungsgegenstand bietet sich das Musikvideo aber auch aufgrund seiner weiten Verbreitung an und weil es fixiert, damit wiederholbar und folglich leichter analysierbar ist. Robert Walsers Untersuchung von Heavy Metal-Videos zeigt verschiedene körperliche Inszenierungen von Geschlecht exemplarisch an einem bestimmten Musikgenre. Walsers Studie ist nicht nur deshalb zu einem viel rezipierten Schlüsseltext geworden, weil sie einen frühen musikwissenschaftlichen Beitrag zur Männerforschung darstellt, sondern auch, weil es die erste umfangreiche musikwissenschaftliche Studie zum Heavy Metal war (und dies über Jahre hinweg geblieben ist) und dabei interdisziplinär vorgeht. Während Heavy Metal wie andere populäre Musikgenres bis dahin vor allem unter soziologischen Gesichtspunkten untersucht worden ist, geht es Walser um die Integration der musikästhetischen Aspekte. Er verbindet Ansätze der Musikwissenschaft und der Cultural Studies, bedient sich musikalischer Analysen ebenso wie Diskursanalysen und ethnografischer Methoden. In einem von fünf Kapiteln seines Buches stellt er Gender ins Zentrum der Diskussion. Dass er darin vorwiegend über Männer bzw. Männlichkeit spricht, ergibt sich aus seinem Gegenstand: Heavy Metal war – und ist es in weiten Teilen immer noch – eine
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Musikkultur mit ausgeprägter Männerdominanz, was gerade in den 1980er Jahren vor allem die ausübenden Musiker betrifft. Wie Walser betont, ist diese männliche Dominanz ein kulturelles Produkt, an dem die verschiedenen Medien (Musik, Texte, Bilder etc.) ebenso Anteil haben wie die Verbreitung und Rezeption der Musik und das soziale Zusammenspiel von Musikern, Fans und Gesellschaft. Um diese vielfältigen Zusammenhänge zu fassen und im Sinn Michel Foucaults auf Machtgefälle hinzuweisen, beschreibt er Heavy Metal als Diskurs. Seine pointierte Formel für die männliche Dominanz in dieser musikalischen Teilkultur lautet daher: »Heavy Metal ist [...] ein patriarchal geprägter Diskurs« (Walser 1993, 109). Aufschlussreich ist nun, dass Männlichkeit innerhalb dieses Diskurses auf verschiedene Weise dargestellt wird. Dabei begreift Walser Männlichkeit dezidiert als relationale Kategorie, d.h. in Abhängigkeit von Weiblichkeit. Er unterscheidet vier verschiedene Strategien, durch die Heavy Metal-Männlichkeit konstruiert wird: (1) männerbündische Gemeinschaft unter Ausschluss von Frauen, (2) misogyne Darstellungen der Bedrohung der Männer durch Frauen, (3) Hervorhebung von Männlichkeit im Kontext ›romantischer‹ Liebe, (4) Androgynie. Die letztgenannte Strategie, von der der hier zitierte Textausschnitt handelt, ist besonders komplex: Zum einen geht es um Überschreitungen konventioneller Männlichkeit mit Mitteln des Cross-Dressing bzw. Drag; zum anderen kann Walser zeigen, inwiefern auch androgyne Darstellungen darauf zielen können, die Machtposition männlicher Identität zu bestätigen. Der Untertitel des Kapitels, »Heavy Metal Sounds and Images of Gender« (d.i. »Heavy Metal-Klänge und Geschlechterbilder«) könnte in zweierlei Hinsicht Missverständnisse auslösen: Erstens stehen die »Sounds« hier weniger als in anderen Teilen des Buches im Vordergrund, sondern dienen eher als klanglicher Hintergrund zur Erörterung der visuellen Darstellung, eben jener »Images«; zweitens nimmt Walser bei der Analyse dieser ›Bilder‹ nicht allein die musikalischen Produkte und ihre Entstehungsbedingungen in den Blick (vgl. Unselds Untersuchung zu Weiblichkeitsbildern, Kap. 9), sondern bezieht, zumindest partiell, auch die Rezeption durch männliche und weibliche Fans mit ein. Auf diese Weise zeigt er, dass die herausgearbeiteten Männlichkeiten nicht statisch in der Musik bzw. in den Musikvideos fixiert sind, sondern erst in der Rezeption entstehen. Hier weist Walsers Studie auf den Aspekt der Geschlechterperformanz voraus, der in den folgenden Jahren ins Zentrum der Gender Studies gerückt ist. Eine Schwierigkeit dieser komplexen Analyse besteht darin, dass nicht immer klar wird, welchen Anteil jeweils Musik, visuelle Medien und die verbalen Aussagen der Aufführenden, der Fans und der Öffentlichkeit an der Konstruktion von Gender, in diesem Fall Männlichkeit, haben. Möglicherweise liegt das an der zwar umfassenden, aber eben teils auch diffusen Verwendung
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des Diskursbegriffs (vgl. Bloss 2000, 322f.). Die methodischen Werkzeuge sind seitdem weiterentwickelt worden. Stan Denski und David Sholle (1992) verwenden bereits kurz vor Walser den von Judith Butler in Gender Trouble (1990, auf Deutsch: Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) entwickelten Begriff der ›gender performance‹ in Studien zu männlichen Heavy Metal-Fans. Insbesondere hat sich innerhalb der Gender Studies ein eigener Zweig der Männerforschung etabliert, wenn auch nach wie vor im geringen Ausmaß, was die Musikwissenschaft betrifft. Bezieht sich Walser noch auf Klaus Theweleits zweibändige Studie Männerphantasien (1977/1978, 4. Aufl. 2009), gelten in der heutigen Männerforschung eher die Arbeiten der australischen Soziologin Raewyn (früher: Robert) Connell als maßgeblich (vgl. Horlacher 2010, Krenske, McKay 2000). Was den Analysegegenstand betrifft, ist die Betrachtung der visuellen Ebene in Musikaufführungen bzw. in Musikvideos zweifellos aufschlussreich in Bezug auf Geschlechterperformanzen. Als Beispiel einer Musikvideokünstlerin der 1980er Jahre, die sowohl Weiblichkeit als auch Männlichkeit darstellt, bezieht die Forschung sich besonders häufig auf Madonna (z.B. Herrmann, Walter 2002). Aber zum Verhältnis zwischen der klingenden Musik und Gender sind nach wie vor viele Fragen offen. Für das Forschungsfeld des Heavy Metal gilt es außerdem, verstärkt die Frauen in den Blick zu nehmen (vgl. Roccor 1998, 172–206), zumal deren Anteil auch auf der Bühne seit den 1980er Jahren beträchtlich gestiegen ist. Weiterer Forschungsbedarf besteht auch deshalb, weil sich zum einen das Genre in zahlreiche Subgenres mit je eigenen Formen der Geschlechterperformanz ausdifferenziert hat, und es zum anderen vielfältige Rezeptionsweisen in verschiedenen Kulturen dieser Welt zu beachten gibt, in denen die Frage nach geschlechtlichen Zuschreibungen möglicherweise verschieden beantwortet wird. Florian Heesch Textvorlage Robert Walser: Forging Masculinity. Heavy Metal Sounds and Images of Gender. In: Running with the Devil. Power, Gender, and Madness in Heavy Metal Music. Middletown 1993 (Music / Culture), 108–136 [Auszug].
Weitere Veröffentlichungen von Robert Walser [Zus. mit Susan McClary:] Start Making Sense! Musicology Wrestles with Rock (1988). Reprint in: Simon Frith, Andrew Goodwin (Hg.), On Record. Rock, Pop, and the Written Word. London 1990, 277–292. Keeping Time. Readings in Jazz History. New York 1999.
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Weiterführende Literatur Bloss, Monika: Musikwissenschaft. In: Christina von Braun, Inge Stephan (Hg.), GenderStudien. Eine Einführung. Stuttgart 2000, 313–327. Denski, Stan, David Sholle: Metal Men and Glamour Boys. Gender Performance in Heavy Metal. In: Steve Craig (Hg.), Men, Masculinity and the Media. Newbury Park u.a. 1992 (Research on Men and Masculinities 1), 41–60. Heesch, Florian: Performing Aggression. Männlichkeit und Krieg im Heavy Metal. In: Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.), Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik, Theater, Film. Wien 2011 (mdw Gender Wissen 2), 49–74. Herrmann, Britta, Walter Erhart: XY ungelöst: Männlichkeit als Performance. In: Therese Steffen (Hg.), Masculinities – Maskulinitäten. Mythos, Realität, Repräsentation, Rollendruck. Stuttgart 2002 (M & P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), 33–53. Horlacher, Stefan: Artikel »Männerforschung«. In: Lexikon Musik und Gender. Hg. von Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld. Kassel, Stuttgart 2010, 237–239. Krenske, Leigh, Jim McKay: »Hard and Heavy«. Gender and Power in a Heavy Metal Music Subculture. In: Gender, Place and Culture 7, 2000, Nr. 3, 287–304. Roccor, Bettina: Heavy Metal. Kunst, Kommerz, Ketzerei. Berlin 1998.
Ausgewählter Text Kap. 4: Die Erfindung der Männlichkeit. Heavy Metal-Klänge und Geschlechterbilder Gender-Konstruktionen in Heavy Metal-Musik und -Videos sind deshalb von Bedeutung, weil sie patriarchale Ideologien reproduzieren und beeinflussen. Aber vor allem erfahren wir vermutlich anhand von populärer Musik mehr über die Konflikte, Diskussionen, Legitimierungs- und Prestigeangebote, die kulturelle Aktivität stets beinhaltet, als anhand jeder anderen Kulturform. Heavy Metal ist – wie alles in unserer Gesellschaft – eine Gender-Arena, in der Gladiatoren auf spektakuläre Weise um Einfluss auf Vorstellungen von Männlichkeit, Sexualität und Geschlechterbeziehungen streiten. Der Einsatz ist hoch, im Metal ebenso wie überall sonst, aber er wird dort besonders deutlich anerkannt – sowohl in visuellen und musikalischen Formen als auch in den mündlichen und schriftlichen Debatten der Fans. Wer sich die Mühe macht, sorgfältig zwischen den verschiedenen Repräsentationen innerhalb des Heavy Metal zu unterscheiden, kann ein tieferes Verständnis für das Zusammenspiel von Gender und Macht im Allgemeinen erlangen. […]
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»Echte Männer tragen kein Make-up« Im Fall von Bands wie Poison könnte Androgynität als eine weitere Taktik verstanden werden, um mit den Ängsten der Männlichkeit umzugehen.1 Androgyne Musiker und Fans nähern sich den visuellen Codes femininer Identität an, um die Macht des Spektakulären für sich zu beanspruchen. Doch während es sicherlich wichtig ist, die Androgynität im Heavy Metal als patriarchal zu erkennen, partizipiert Metal ebenso an der Rock’n’Roll-Tradition der ödipalen Rebellion: Musikalische und visuelle Codes im Heavy Metal dienen dazu, Ängste um männliche Macht abzubauen, sind aber gleichzeitig inkompatibel mit den Stilen, die Männer früherer Generationen zum selben Zweck entwickelt haben. Teenager und junge Männer reiben sich ebenso an patriarchaler Kontrolle wie Frauen, und sie entwickeln dabei oft innovative Möglichkeiten, um Beherrschung von Frauen auszudrücken und zugleich ihren eben erreichten Männerstatus zu beweisen und gegen dominante Männer zu rebellieren. Diese innere Spannung ist niemals vollständig beherrschbar oder vorhersagbar; dabei überschreitet Heavy Metal die Grenzen der patriarchalen Kontrolle auf eine Art und Weise, die deren Grundsätze manchmal untergräbt und manchmal bestätigt. Möglicherweise sind sich die Musiker selbst der Tatsache bewusst, dass ihre androgyne Uneindeutigkeit Kompensationsstrategien hervorruft. In »Dude Looks like a Lady« ([d.i. »Der Kerl sieht aus wie eine Dame«,] 1987), sowohl als Song als auch als Video ein Hit, stellt sich [die Band] Aerosmith den durch die Androgynität erregten Gender-Ängsten, indem sie das Problem mit gespielter Hysterie behandelt. Und der Sänger David Lee Roth2 verbindet auf selbstreflektierte Weise seine Begeisterung für Body Building und Kampfsport mit seinem ›feminisierten‹ Bühnenimage: »Eine Menge von dem, was ich mache, kann als weiblich gedeutet werden. Mein Gesicht oder meine Art zu tanzen oder wie ich mich für die Bühne kleide… Aber um es mir selbst zu beweisen, um es [seine Männlichkeit] eindeutig festzustellen, musste ich 1 [Im vorangehenden Abschnitt (S. 124) charakterisiert Walser die Androgynität von Glam Metal-Bands: »Die Mitglieder von Bands wie Poison oder Mötley Crüe verwenden grelles Make-up, Schmuck und Kleidung, die sich stereotyp als ›sexy‹ beschreiben lässt – von Netzstrumpfhosen bis zu Schals. Außerdem tragen sie lange Haare, die aufwendig, ›feminin‹ frisiert werden. Obwohl sie normalerweise zum Genre des Heavy Metal gerechnet werden, gelten solche ›Glam‹-Bands bei vielen Fans als weniger ›heavy‹ als der Mainstream. Das liegt weniger an musikalischen Unterschieden als an jenem visuellen Stil, der weitaus überladener und androgyner ausfällt als der des härteren Metal.« Zur Anschauung verweist Walser auf die Coverfotos in den Alben Open Up and Say...Ahh! und Look What the Cat Dragged In von Poison und Shout at the Devil, Theatre of Pain und Girls, Girls, Girls von Mötley Crüe.] 2 [Bekanntheit erlangte Roth vor allem als Sänger der Band Van Halen.]
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meinen Körper aufbauen. Ich musste lernen, zu kämpfen.«3 Roths privates Trainingsprogramm erlaubt es ihm, in der Öffentlichkeit weiterhin androgyn aufzutreten. Seine persönlichen Ängste um Männlichkeit sind vom konventionellen Patriarchat geformt, doch auch die androgyne Grenzüberschreitung übt eine hohe Anziehungskraft aus. Als einer der anzüglichsten Textdichter des Rock scheint Roth weder persönlich noch künstlerisch abgeneigt zu sein, Frauen in sexistischer Weise als Objekte zu behandeln, wie seine berüchtigte Vaterschaftsversicherung oder sein Video zum protzenden Beach Boys-Remake »California Girls« belegen. Zugleich hat Roth öffentlich den Sexismus einer Gesellschaft kritisiert, die Frauen davon abhält, professionelle Musikerinnen zu werden: »Was wäre wohl, wenn ein kleines Mädchen eine Gitarre nähme und sagte: ›Ich will ein Rock-Star werden‹? In neun von zehn Fällen würden seine Eltern das niemals erlauben. Wir haben nicht deshalb so wenige Lead-Gitarristinnen, weil Frauen das Instrument nicht spielen können, sondern weil sie blockiert werden, weil ihnen beigebracht wird, sie müssten etwas anderes werden. Mir gefällt das nicht.«4 Roths Ideal von persönlicher Freiheit steht im Konflikt mit den Einschränkungen konventioneller Geschlechterdefinitionen. Dennoch hat er sich nie ernsthaft mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern die patriarchalen Machtverhältnisse durch Formen der Grenzüberschreitung verstärkt werden, in denen Frauen als Objekte dargestellt sind. Im Heavy Metal-Journalismus werden die hitzigsten Debatten über ›Authentizität‹ geführt, wobei es oft implizit um Fragen von Gender und Sexualität geht. In Leserbriefen an Metal-Magazine geht es Fans häufig darum, Glam Metal-Bands zu beschimpfen oder aber zu verteidigen. Die Angreifer bezeichnen solche Musiker als »Poser«, womit sie unterstellen, dass deren Band ausschließlich auf einem Image gründe, aber keine musikalische Substanz habe, oder sie empfinden Androgynität grundsätzlich als anstößig, als Perversion. Ein weiblicher Fan beschwerte sich in einem Brief an ein FanMagazin: »Echte Männer tragen kein Make-up.«5 Auf der anderen Seite sind die Verteidiger des Glam Metal schnell mit einer Antwort dabei, obgleich sie selten Androgynität als solche verteidigen: »An Kim of Cathedral City …, die gesagt hat, echte Männer tragen kein Make-up. Ich habe eine Frage an dich: Hörst du dir eigentlich auch die Musik an oder verbringst du bloß Stunden damit, Album-Cover anzustarren? Klar, Metallica und Slayer treten verdammt in den Ar*** und Megadeth sind die Macht – aber Poison, Motley Crue [sic]
3 Roberta Smoodin: »Crazy like David Lee Roth«. In: Playgirl. August 1986, 43. 4 [Zit. nach] Dave Marsh (Hg.), The First Rock & Roll Confidential Report. New York 1985, 165. 5 Kim of Cathedral City. In: RIP. Februar 1989, 6.
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und Hanoi Rocks bringens verdammt nochmal auch.«6 Da die Fans gewöhnlich nicht bereit sind, Gender-Konstruktionen direkt zu diskutieren, oder ihnen dazu keine kulturellen Präzedenzfälle bekannt sind, verteidigen sie das musikalische Können der Band-Mitglieder, oder sie berufen sich auf das intensive Erlebnis, das die Band vermittelt. Aber sie könnten ebenso die Courage respektieren, die all diejenigen benötigen, die durch Androgynität die symbolische Ordnung stören – jene, die dadurch sozialen Raum behaupten, dass sie »die Eier haben, Glam zu sein.«7 Männliche Fans ›härterer‹ Stilarten des Heavy Metal verurteilen Androgynität oft mit enormer Vehemenz. Sie verstehen Androgynität als Subversion männlich-heterosexueller Privilegien und verbinden sie mit der Gefahr der Homosexualität. Ein Album-Cover von MX Machine (Manic Panic, 1988) zeigt das Bild eines Grimassen schneidenden Jungen, der seine Faust reckt, kombiniert mit einem Aufkleber, der verkündet: »Keine Glam-Schwuchteln! Nur Metal! Kein Make-up!« Sowohl Homosexualität als auch das symbolische Überschreiten von Gender-Grenzen gefährden die patriarchale Kontrolle. Deshalb werden sie im Dienst einer Rhetorik, die nach Aufrechterhaltung von Differenz und Macht strebt, miteinander verschmolzen. Musiker, die Make-up tragen, kompensieren ihre Überschreitungen daher oft privat mit homophoben Scherzen, beschimpfen sich gegenseitig, um ihre Männlichkeit in Frage zu stellen und sich bei der Gelegenheit kollektiv ihrer Heterosexualität zu versichern.8 Ein Interview mit Charlie Benante, dem Schlagzeuger der Thrash Metal-Band Anthrax, bestätigt, dass den Konventionen nach sogar die Instrumente Gender-codiert sind, und dass man mit der Verwendung eines weiblich codierten Instruments im Heavy Metal-Kontext das Schreckgespenst der Homosexualität heraufbeschwört. Als ein Interviewer fragte, »Könntest du dir jemals vorstellen, im Hauptteil eines Songs Keyboards einzusetzen?«, antwortete Benante: »Das ist schwul. Die einzige gute Band, die Keyboards benutzt hat, war UFO. Dies hier ist eine Gitarren-Band.«9 Viele ›Glam‹ Metal-Künstler finden jedoch insbesondere bei jungen Frauen Anklang. Eine Analyse, die Heavy Metal als bloße Reproduktion männlicher Hegemonie deutet, läuft daher Gefahr, den Ausschluss, den sie beschreibt, zu 6 Ray R., Winter Springs, Fl[orida]. In: RIP, Mai 1989, 6. 7 Scott im Interview mit Robert Walser, 30. Juni 1989, St. Paul, Minnesota. 8 Dieses Verhalten habe ich bei Mitgliedern verschiedener Bands beobachtet und außerdem mit Musikern während zweier Interviews offen diskutiert. Unter Orchestermusikern ist ein solches Verhalten ebenso verbreitet; tatsächlich tritt es immer dann auf, wenn Männer gegen hegemoniale Männlichkeitsnormen verstoßen, indem sie expressiv, gefühlvoll oder aufsehenerregend agieren. 9 George Sulmers: »Anthrax: Metal’s Most Diseased Band«. In: The Best of Metal Mania 2, 1987, 24.
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duplizieren. Aus der Perspektive von Frauen verschmelzen in der Heavy Metal-Androgynität Zeichen der gängigen Vorstellungen von Weiblichkeit mit musikalisch und theatralisch erzeugter Macht und Freiheit, die konventionell als männlich gelten. Farbenfrohes Make-up, aufwendige, pompöse Kleidung, unpraktisch lange Haare, die mit viel Arbeit in Form gebracht werden – dies alles sind ausschweifende Zeichen der spektakulären Inszenierung des einen Geschlechts. Doch auf der Bühne eines Metal-Konzerts werden diese Zeichen mit der Macht und dem Ruhm angelegt, die normalerweise dem Patriarchat vorbehalten sind. Wie gewöhnlich wird Frauen als Bedingung zur Teilhabe an der Macht eine männliche Subjektposition angeboten, doch nun haben sich die Männer, mit denen es sich zu identifizieren gilt, durch ihre Verwendung weiblicher Zeichen transformiert. In ihrem Bemühen um Transgressionen und Spektakel überhöhen die Männer auf der Bühne solche Komponenten, die von vielen Frauen als bedeutende Anteile ihrer geschlechtlichen Identität empfunden werden; dabei werden kulturelle Repräsentationen männlicher Macht mit einer weiblich-erotischen Oberfläche verschmolzen.10 Auf der symbolischen Ebene wird Prestige – männliche Präsenz, Gestik und musikalische Kraft – auf ›weibliche‹ Zeichen übertragen. Da diese Zeichen Geschlechterdifferenzen markieren und zum Werben oder zur Manipulation benötigt werden, tun Männer sie als trivial ab, nehmen sie aber dennoch sehr ernst. Feministische Studien widmen sich seit langem den Gender-Aspekten im Verhältnis zwischen symbolischer und politischer Ordnung, und die anhaltende Assoziation von Frauen mit dem flüchtigen Spektakel ist von hoher Bedeutung für Metal-Videos. Kaja Silverman hat darauf hingewiesen, dass Frauen aufgrund der Unbeständigkeit weiblicher Moden in der Geschichte als unbeständig gelten, während der männliche Modekonservatismus die stabile und zeitlose Einstellung der Männer zu symbolischer und sozialer Ordnung repräsentiert.11 Die Heavy Metal-Androgynität hinterfragt diese ›natürliche‹ Verbindung, indem sie auf die Macht des musikalischen und visuellen Vergnügens zurückgreift. Selbstverständlich gibt es zwischen subversiven Textpraktiken und der Subversion von Macht keine inhärente Verbindung, doch die Bezüge, die ich zwischen Songtexten, Musik, Bildern, Fans, Musikern und Ideologien im Heavy Metal untersucht habe, liefern Argumente dafür, dass zumindest eine konventionelle Verbindung besteht – insbesondere in Bezug 10 Sheryl Garratt vertritt die Auffassung, dass Frauen sich deshalb mit androgynen Musikern identifizieren, weil sie sich wie diese kleiden und wie diese agieren können. Siehe Sue Steward, Sheryl Garratt: Signed, Sealed, and Delivered. True Life Stories of Women in Pop. Boston 1984, 144. 11 Kaja Silverman: »Fragments of a Fashionable Discourse«. In: Tania Modleski (Hg.), Studies in Entertainment. Bloomington 1986, 139–152.
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auf Gender.12 Glam Metal hat zu vielen Gedanken und Diskussionen über Gender angeregt, denn hier wird die Veränderlichkeit von Gender demonstriert, sogar zelebriert, und die semiotischen oder symbolischen Bereiche, die gängige Gender-Konfigurationen aufrechterhalten, erweisen sich als potentiell instabil. Auf gewisse Weise spiegelt sich im Heavy Metal die Wirkung dessen wider, was Jane Flax als größte Leistung der feministischen Theorie bezeichnet hat, die Problematisierung von Gender.13 Metal reproduziert den herrschenden Sexismus der gegenwärtigen Gesellschaft, aber er bietet ebenso einen gewissen Freiraum für bestimmte Frauen – Musikerinnen und Fans gleichermaßen. Weibliche Fans identifizieren sich mit einer Art Macht, die in unserer Kultur normalerweise als männlich verstanden wird, denn körperliche Stärke, Dominanz, Rebellion und das Kokettieren mit der dunklen Seite des Lebens sind allesamt als männliche Vorrechte kulturell markiert. Dennoch haben Frauen Zugang zu dieser Macht, weil sie durch das Medium der Musik kanalisiert wird – ein Medium, das nicht greifbar und schwer zu kontrollieren ist. Heavy Metal-Künstlerinnen haben die Möglichkeit, sehr kraftvolle Klänge zu produzieren und zu beherrschen, wenn sie auch anderen Anforderungen des Genres entsprechen und sich der körperlichen Zurschaustellung fügen, die in der Gesellschaft so sexistisch und verbreitet ist, dies aber tatsächlich im Metal weniger zu sein scheint, wo sich Männer auf ähnliche Weise selbst zur Schau stellen.14 Wenn daher die MetalGitarristin und -Sängerin Lita Ford prahlt, »I wear my balls on my chest« (d.i.: »ich trage meine Eier auf dem Brustkorb«), verbindet sie ihren scheinbar unausweichlichen Status als Objekt eines sexuellen Schauspiels mit ihrer ›metallischen‹ Gestalt, einem Subjekt, das das Schauspiel der Macht verkörpert.15 12 Für eine kritische Sicht dieser Position siehe Rita Felski: Beyond Feminist Aesthetics. Feminist Literature and Social Change. Cambridge, Mass. 1989. Felskis Kritik an der Deutung von Avantgarde-Strategien der Textbrüche als politischer Handlung beruht auf ihrer Auffassung von einer Verschmelzung von Gender und sozialer Schicht [class]: Avantgarde-Kunst ist ebenso elitär wie alles, was sie infrage stellen kann. Es ist bemerkenswert, dass dieses Problem im Heavy Metal kaum existiert. 13 Siehe Jane Flax: »Postmodernism and Gender Relations in Feminist Theory«. In: Linda J. Nicholson (Hg.), Feminism/Postmodernism. New York 1990, 39–62. 14 Pat Benatar erörtert, wie schwierig es für sie war, sich ihr eigenes Hard Rock-Image zu schaffen: »Ich habe die Rolle [die ich spiele] niemals als Sexsymbol verstanden. Ich habe lediglich nach extremer Stärke und Selbstsicherheit gesucht. … Ich habe mir viele männlich dominierte Gruppen wie die Stones und Led Zeppelin angehört. Es gab nicht viele Frauen, die ich hätte nachahmen können, nicht eine weibliche Persönlichkeit, also habe ich es einfach versucht und ausprobiert, was man tun kann, ohne doof oder wie ein Opfer auszusehen« ([zit. nach] Joe Smith: Off the Record. New York 1988, 406–407). Siehe außerdem Lisa A. Lewis: Gender Politics and MTV. Voicing the Difference. Philadelphia 1990, vor allem Kapitel 5. 15 Laurel Fishman: »Lita Ford«. In: Metal. Mai 1988, 36–38. Ein weiblicher Fan erzählte mir, dass sie Ford und andere Metal-Musikerinnen verachte, weil diese »dumme Sexobjekte«
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Wie diese Schauspiele aus der Sicht von Frauen wahrgenommen werden, ist komplex, und Heavy Metal-Künstlerinnen könnten provokante Argumente über Art und Grenzen weiblichen Machtstrebens hervorrufen. Ich habe weibliche Fans beobachtet und interviewt, die sich in ihrer Kleidung, ihrem Verhalten und in ihren Deutungen nicht von männlichen Fans unterscheiden – insbesondere bei Konzerten von Bands, wie Metallica, die GenderBezüge in ihren Texten vermeiden und sich stattdessen mit Erfahrungen der Entfremdung, Angst und Selbstermächtigung beschäftigen, die geschlechterübergreifend von Bedeutung sind. Maskulin codierte Elemente der Rockmusik, wie schwere Beats, sind verhandelbar, sofern weibliche Fans bereit sind, aus traditionellen Begrenzungen geschlechtlicher Identität herauszutreten.16 Es kann durchaus sein, dass sich in der Teilhabe weiblicher Metal-Fans der Einfluss des Feminismus widerspiegelt, durch den die Selbstermächtigung [empowerment] von Frauen weitgehend etabliert worden ist. Selbst in den 1970er Jahren hätten sich noch weniger Frauen gerne mit Macht identifiziert, da Macht noch strikter männlich codiert war. Es galt, sich zwischen Macht und Frau-Sein zu entscheiden – eine Dichotomie, die seitdem etwas brüchig geworden ist. Aber weibliche Fans behaupten auch ihre charakteristischen eigenen Arten, sich Heavy Metal zu widmen, einschließlich solcher Praktiken, die häufig allzu schnell als entwürdigende Verehrung abgetan werden. Sue Wise hat darauf hingewiesen, dass die jungen Frauen, die beim Anblick von Elvis schrien oder ohnmächtig wurden, diesen nicht so sehr vergötterten, wie zahlreiche männliche Kritiker annahmen, sondern ihn vielmehr benutzten. Statt eines Subjekts, das seine hilflosen Fans um den Verstand brachte, war Elvis für viele Frauen ein Objekt, das ihnen dazu diente, ihre eigenen Sehnsüchte zu erkunden und Freundschaften zu schließen.17 Ebenso finden viele weibliche Heavy Metal-Fans Vergnügen daran, Bilder von Heavy Metal-Musikern zu sammeln, zu besitzen und anzuschauen. Erwartungsgemäß stehen männliche Fans den Pin-up-Magazinen und ihren Anhängerinnen eher verächtlich ge-
seien; dasselbe denke sie aber auch von manchen männlichen Musikern (Rita, Interview mit Robert Walser, 30. Juni 1989). 16 Zur weiblichen Rezeption von Heavy Metal und Hardrock siehe Daniel J. Hadleys Vortrag »›Girls on Top‹. Women and Heavy Metal«, gehalten auf der Tagung »Feminist Theory and Music« University of Minnesota, Juni 1991, sowie Lisa Lewis: Gender Politics and MTV (wie Anm. 14), insbesondere 149–171. Sowohl Hadley als auch Lewis diskutieren das Fanzine [d.i. ein von Fans produziertes Magazin] Bitch, in dem weibliche Heavy Metal-Fans ihre eigene Verbindung zum Metal diskutieren. 17 Sue Wise: »Sexing Elvis«. In: Simon Frith, Andrew Goodwin (Hg.), On Record. Rock, Pop, and the Written Word. New York 1990, 390–398.
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genüber.18 Doch die Begeisterung junger Frauen für ›Glam‹-Stile des Heavy Metal ist nicht einfach ein Beispiel masochistischer Unterwerfung unter männliche Idole. Solche spektakulären Stile flößen den Zeichen der hegemonial konstruierten weiblichen Geschlechtsidentität Macht ein, bieten visuellen Genuss, wie er Frauen selten zugänglich ist, und ermöglichen ihnen, ihre eigenen Untergruppen innerhalb der Fan-Gemeinschaft zu bilden. So viel männliches Prestige in weibliche Formen zu kanalisieren stellt ein riskantes Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern dar, das auf verschiedene Weise gedeutet werden kann. Die Androgynität des Heavy Metal kann sehr verstörend sein – nicht nur, weil die konventionellen Zeichen für Weiblichkeit, die auf einen passiven Objektstatus verweisen, dynamisiert, überzeichnet und überschritten werden, sondern auch, weil hegemoniale Geschlechtergrenzen verwischt werden und die ›natürliche‹ Exklusivität heterosexueller männlicher Macht in Frage gestellt wird.19 Trotz all der männlichen Überlegenheitsrhetorik – phallische Symbolik, Macho-Posen, musikalische Zeichen männlicher Macht – bieten die Rebellion und das Fantasiespiel des Metal sowohl den männlichen als auch den weiblichen Fans die Möglichkeit, sich gemeinsam gegen bestimmte Formen der Unterdrückung zu stellen, selbst wenn derselbe Text ermöglicht, dass jedes Geschlecht damit seine spezifischen Ängste auf eigene Weise überwindet. Das Niveau von Gender-Diskussionen unter Heavy Metal-Fans ist beeindruckend; in ihren Aussagen spiegelt sich ein Bewusstsein für die Veränderlichkeit von Geschlechterrollen und anderen kulturellen Konstruktionen. Praktisch jede Ausgabe des Fan-Magazins RIP aus dem Jahr 1989 enthält Leserbriefe, in denen Fans gegen Sexismus, Rassismus und sogar gegen Homophobie protestieren.20 Der Glam Metal beförderte die Wahrnehmung konventioneller Geschlechterrollen. Damit trug er zu einer verstärkten Teilhabe von Frauen im Metal bei und regte Debatten über Geschlechterstereotype, Männlichkeit, Verhaltensweisen und Zugänge zu Macht an. 18 In Robert Walsers Interview mit Lisa, Tammy und Larry, 30. Juni 1989, wurde darüber ausgiebig diskutiert. 19 In ihrer interkulturellen Studie zur Androgynität stellt Wendy Doniger O’Flaherty fest, dass sich im Androgynen »der Konflikt des einen Geschlechts zwischen dem Verlangen nach und der Angst vor dem anderen [ausdrückt], … in erster Linie das männliche Verlangen nach und die Angst vor dem Weiblichen.« Sie kommt zu folgendem Schluss: »Während es mit dem süßen Versprechen der Gleichheit und Balance, Symbiose und Gegenseitigkeit winkt, legt das Androgyne jedoch bei genauerer Untersuchung bitteres Zeugnis ab von Konflikt und Aggression, Spannung und Ungleichgewicht« (Women, Androgynes, and Other Mythical Beasts. Chicago 1980, 331, 334). 20 Siehe z.B. den Brief von »Hard Rockin’ and Homosexual, Boston, Massachusetts« in RIP, August 1989, 5, sowie einen Brief, in dem eine Musikerin Sexismus im Metal anprangert, in RIP, Mai 1989, 5.
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Androgynität bietet männlichen Künstlern (und indirekt auch männlichen Fans) die Möglichkeit, mit Farbe, Bewegung, Extravaganz und Kunstfertigkeit zu spielen, was eine ungeheure Befreiung von der Härte bedeuten kann, die von ihnen als Männern erwartet wird. Philip Gordon vertritt die Auffassung, dass der Sänger Dee Snider »nicht nur deshalb sein Haar wachsen ließ, Frauenkleider und Make-up trug, um den Unterschied zu seinen Eltern zu betonen (als wenn jedes Zeichen der Differenz die gleiche Wirkung hätte), sondern dies war ein sorgfältig erdachter Stil, der Attraktivität, Energie und Widerstand gegen autoritäre Beschränkungen von bestimmten Arten des Vergnügens ausstrahlt.«21 Kritiker haben Glam Metal nicht immer auf diese Weise verstanden. E. Ann Kaplan bestreitet jegliche Bedeutung für die Geschlechterverhältnisse im Heavy Metal: »Im Unterschied zum genuinen bachtinschen Karneval bleibt der Protest oberflächlich: eher ein bloßes Spiel mit oppositionellen Zeichen statt eines Protests, der aus einer kraftvollen Klassen- und Gemeinschaftsbasis erwächst.«22 Doch Kaplan kann eine solche Aussage nur deshalb treffen, weil sie nicht versucht hat, etwas über die »Klassen- und Gemeinschaftsbasis« im Heavy Metal herauszufinden. In diesem Spiel ist nichts oberflächlich; Fans und Musiker leisten höchst bedeutsame ›Identitätsarbeit‹, wenn sie sich an den Gender- und Machtformationen beteiligen, auf denen der Heavy Metal basiert. Metal ist ein fantastisches Genre, jedoch eines, in dem reale soziale Bedürfnisse und Wünsche angesprochen und auf unwirkliche Weise vorübergehend befriedigt werden. Diese unwirklichen Lösungen sind genau deshalb attraktiv und wirkungsvoll, weil sie als ein Ausweg aus den normalen sozialen Kategorien erscheinen, durch die die Konflikte in erster Linie entstehen. Wie viele andere soziale Gruppen spielen Metal-Musiker und -Fans die verschiedenen Möglichkeiten, die ihnen die Mainstream-Kultur bietet, gegeneinander aus, während sie sich zugleich auf einen sozialen Kontext berufen können, der nicht Mainstream ist. Der androgyne Metal mit seiner Bricolage aus männlicher Macht und weiblicher Zurschaustellung und seinem Spiel mit Wirklichem und Unwirklichem ist eine komplexe Antwort auf die brennenden sozialen Widersprüche, die die Fans als gesellschaftliche Altlasten mitbekommen haben. Im kulturellen Wettstreit um die Definition der sozialen Wirklichkeit kollidieren die fantastischen Darstellungsformen des Heavy Metal oft mit den Vorstellungen anderer sozialer Gruppen. Wie die Spannungen, auf die sie reagieren, sind auch die Metal-Fantasien selbst voller Wider21 Philip Gordon: »Review of Tipper Gore’s Raising PG Kids in an X-Rated Society and Dee Snider’s Teenage Survival Guide«. In: Popular Music 8, 1989, Nr. 1, 122. 22 E. Ann Kaplan: Rocking Around the Clock. Music Television, Postmodernism, and Consumer Culture. New York 1987, 72.
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sprüche. Wenn männliche Heavy Metal-Fans und -Musiker sich manchmal ihrer Männlichkeit versichern, indem sie Zeichen der Weiblichkeit verwenden, erreichen sie damit nicht immer die Art von Männlichkeit, die sie gesucht haben, da die kollidierenden Ansprüche von Männlichkeit und Rebellion durch neue Modelle vermittelt werden und das freie Spiel androgyner Fantasie die Kategorien erschüttert, auf denen soziale Erfahrungen gründen. Androgynität ist jedoch keineswegs ein rein utopisches Zeichen. Der Kapitalismus nährt sich schließlich vom Neuartigen, das zum Konsum anspornt, und die Massenkultur wird existierende Spannungen und Widersprüche eher zu Konsumzwecken kolonisieren, anstatt neue Realitäten anzukündigen. Wie Fred Pfeil herausstellt, wird dem Massenpublikum vermehrt »skandalös ambivalentes Vergnügen« angeboten; dieselbe »Ent-Ödipalisierung« der amerikanischen Mittelschicht, die Androgynität ermöglicht, sie attraktiv und aufregend gemacht hat, kann weitere Entwicklungen zu neuen gemeinschaftlichen Sozialformen jenseits von Fragmentierungen verhindern.23 Darüber hinaus kann die postmoderne kulturelle ›Dezentrierung‹ kapitalistischen Interessen dienen, indem sie sinnlichen Befriedigungen derart entgegenkommt, dass Menschen davon abgelenkt werden, kritische Verbindungen zu erkennen. Doch die postmoderne Zerrissenheit eröffnet auch neue Möglichkeiten, und durch den Abbruch konzeptioneller Hürden lässt sie neue Verbindungen und Formulierungen zu. Es ist dem androgynen Metal anzuerkennen, dass er sozialen Kategorien, die viele immer noch als Normen akzeptieren, den Status des Vertrauten genommen hat. In der Musik und im Image von Poison spiegelt sich ein Wunsch, die Grenzen von Geschlecht und Wirklichkeit zu verschieben, der sich nicht einfach als unauthentische oder kommerzialisierte Fantasie abtun lässt; denn solche Fantasien sind semiotische Machtübungen, die infrage stellen, wer was repräsentiert. Wer Fantasie und Eskapismus nicht ernst nimmt, »weicht den wesentlichen Fragen aus, wovor geflüchtet wird, warum Flucht notwendig ist und wohin geflüchtet wird.«24 Simon Frith und Angela McRobbie schlossen ihren frühen theoretischen Aufsatz über Rockmusik und Sexualität mit der in ihren Augen »quälenden«
23 Fred Pfeil: »Postmodernism as a ›Structure of Feeling‹«. In: Cary Nelson, Lawrence Grossberg (Hg.), Marxism and the Interpretation of Culture. Urbana 1988, 381–403. 24 John Fiske: Television Culture. New York 1987, 317. Solche Erkundungen sind weder auf kapitalistische Gesellschaften begrenzt, noch auf Epiphänomene der Kommerzialisierung reduzierbar. Der Musikethnologe John Blacking hat durch seine Studien zur Musik der südafrikanischen Venda in Erfahrung gebracht, dass fantastische Musik keine Flucht vor der Realität ist, sondern eine kreative Erkundung der Wirklichkeit und anderer Möglichkeiten (How Musical Is Man? Seattle 1973, 28).
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Frage: »Kann Rock nicht-sexistisch sein?«25 Die offensichtliche Antwort scheint »Nein« zu lauten, denn es führt kein Weg aus der Geschichte eines Diskurses heraus, und Friths und McRobbies Frage zielt auf eine Art von Musik, die erkennbar – das heißt diskursiv – Rock ist, aber nicht am Sexismus teilhat, den die Rockmusik hervorgebracht hat. Rock kann niemals Genderneutral sein, weil Rockmusik nur im Rahmen ihrer historischen und diskursiven Kontexte zu fassen ist. Rock kann jedoch antisexistisch sein. Anstatt also von einer Musik zu träumen, die sowohl ›Rock‹ als auch ›nicht-sexistisch‹ ist, können wir zahlreiche Beispiele auffinden, in denen Rockmusik die verfügbaren starken Geschlechtercodierungen nutzt, um sich nicht nur mit den Geschlechterbildern im Rock auseinanderzusetzen, sie infrage zu stellen, zu stören oder zu transformieren, sondern ebenso mit den Überzeugungen und materiellen Praktiken, die mit diesen Bildern verbunden sind. Die Kritik sollte nicht darauf abzielen, zu entscheiden, ob Rockmusik sich in Bezug auf Gender, Klasse oder irgendeine andere soziale Kategorie abweisend oder zugewandt verhält, sondern sie sollte eher analysieren, wie Rock in bestimmten historischen Momenten Spannungen zwischen Abweisung und Zuwendung auflöst.26 [...] Heavy Metal ist wie nahezu jede kulturelle Praxis im ständigen Fluss, angetrieben von den eigenen konstitutiven Widersprüchen. Patriarchat und Kapitalismus bilden den Schmelztiegel, aber menschliche Erfahrungen finden niemals vollständig Platz in einem solchen Gefäß: Einige Aspekte des sozialen Lebens entziehen sich der einen Ordnung oder der anderen, andere Aspekte stehen aufgrund dieser gepaarten Ordnungen im Widerspruch zueinander. Kultur kann ihren materiellen Kontext nicht überschreiten, aber sie überschreitet sehr häufig die hegemonialen Bestimmungen ihres Kontexts: Heavy Metal schreibt einige der übelsten Erscheinungsbilder und Ideale des Patriarchats fort, während er im selben Moment ein Beispiel für jene Formen von fantasievoller Veränderung und Widerspruch verkörpert, wie sie Menschen aus repressiven Systemen heraus hervorbringen. Männlichkeit wird immer wieder erfunden, wenn sie in der Auseinandersetzung von Männern und Frauen mit den sich widersprechenden Positionen, die ihnen im jeweiligen Kontext zugänglich sind, von Neuem herausgearbeitet wird. Sie wird auch deshalb immer wieder erfunden, weil Männlichkeit wie ein ungedeckter Scheck weitergereicht wird – als ein Versprechen, das niemals eingehalten 25 Simon Frith, Angela McRobbie: »Rock and Sexuality«. In: Screen Education 29, 1978, 3–19 [siehe Kap. 10 im vorliegenden Band.] 26 Siehe George Lipsitz: Time Passages. Collective Memory and American Popular Culture. Minneapolis 1990, 102.
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wird. Männlichkeit wird immer neu erfunden werden, denn sie ist eine soziale Konstruktion, keine Zusammenstellung abstrakter Eigenschaften, sondern etwas, das durch die Handlungen und Machtverhältnisse von Männern und Frauen definiert wird. Denn – mit oder ohne Make-up – es gibt keine »echten Männer«.
19. Judith Butlers Performativitätsbegriff in der Musik Suzanne G. Cusick: Musikalische Geschlechterperformanzen (1999) Einleitung Wenn Gender eine soziokulturelle Kategorie ist, gibt es dann überhaupt einen natürlichen Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht? Innerhalb des dekonstruktivistischen Zweigs der Gender Studies wird die Vorstellung einer biologisch determinierten bipolaren Geschlechterordnung grundsätzlich infrage gestellt. Vielmehr geht man davon aus, dass sich Geschlechteridentitäten erst in der Interaktion mit dem kulturellen Umfeld herausbilden, dabei aber niemals Endgültigkeit erreichen, sondern beständig neu ausgehandelt werden. Der zentrale Begriff für diesen fortdauernden Prozess lautet ›Performanz‹. Geschlechtliche Identitäten, männliche wie weibliche, sind demnach ›performativ‹. Der Begriff der Performanz im Sinn einer Handlung stammt aus der Linguistik. John L. Austin hat ihn in seiner Vorlesungsreihe How to Do Things with Words (1955, auf Deutsch: Zur Theorie der Sprechakte, 1979) entwickelt. Außerdem hat sich der Begriff im Bereich des Theaters etabliert, wo er das Ereignis der Aufführung durch Darstellerinnen und Darsteller bezeichnet (Fischer-Lichte 2004). Hierbei ließ sich die Theoriebildung durch die Praxis der Performance Art der 1960er und 70er Jahre anregen, die den Fokus vom abgeschlossenen Dramentext zum Ereignishaften und zur Körperlichkeit der Aufführung verschob. In der Musikwissenschaft wurde der Performanzbegriff im Zusammenhang mit der Erschließung verschiedener neuer Forschungsfelder aufgegriffen: Verbindungen von Performance Art und Neuer Musik (Brüstle 2001), im Bereich der musikalischen Aufführungspraxis (Cook 2003) und auf dem Feld der Populären Musik (Frith 1996). Musikalische Geschlechterperformanzen bilden ein weiteres neues Forschungsfeld. In dem im Folgenden zitierten Text sondiert Suzanne Cusick die Möglichkeiten dieses Feldes, indem sie Judith Butlers Konzept der Performativität von Geschlecht auf Musik überträgt. Auf die US-amerikanische Philosophin Butler geht die Verknüpfung des austinschen Performanzbegriffs mit der Gender-Debatte zurück. Ihr Konzept hat sie in den Büchern Gender Trouble (1990, auf Deutsch: Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) und Bodies that Matter (1993, auf Deutsch: Körper von Gewicht, 1995) entwickelt, die in der dekonstruktivistischen Gender-Forschung international und disziplinübergreifend als zentraler Impuls aufgenommen worden sind. Butler geht davon aus, dass die
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Identität eines Subjekts – somit auch seine Geschlechtsidentität – nicht von vornherein gegeben ist, sondern sich erst als Position innerhalb eines Diskurses herausbildet. Dabei beruft sie sich auf Michel Foucaults Diskursbegriff. Identität entsteht, indem das Subjekt verschiedene Positionen im Diskurs durchspielt. Radikal an Butlers Theorie ist, dass sie darin nicht nur die soziokulturelle, sondern auch die biologische Seite der Identität einschließt. So kommt sie zu dem Schluss, dass sowohl das soziokulturelle als auch das biologische Geschlecht erst im Diskurs entstehen. Das Durchspielen der diversen Positionen bezeichnet sie als Performanz. Demnach ist geschlechtliche Identität nach Butler durch ihre Performativität gekennzeichnet: Sie entsteht erst, indem sie performiert wird. Butler betont, dass die Performanz von Geschlecht nicht auf theatralische Aufführungen beschränkt ist, sondern zur menschlichen Sozialisation dazugehört, die sich auch im Erwachsenenalter noch fortsetzt. Allerdings konnte ihr Performanzbegriff gerade auch in solchen kulturwissenschaftlichen Studien sinnvoll angewendet werden, die sich mit künstlerischen Inszenierungen geschlechtlicher Identität auseinandersetzen, insbesondere mit ihren Bruchstellen wie z.B. Cross-Dressing oder Hosenrollen. Dabei dominieren bisher Studien zur visuellen Dimension der Performanz. Cusick fragt ebenfalls nach künstlerischen Performanzen, lenkt den Fokus aber dezidiert auf die hörbare, musikalische Ebene. Dass sie bei der Untersuchung von musikalischer Performanz den Gesang als Angelpunkt ansieht, wird durch die inzwischen stark gewachsene Forschung zur Stimme bestätigt (vgl. Kolesch, Krämer 2006). Um zu untersuchen, inwiefern durch Singen geschlechtliche Identität performiert wird, muss sie das Verhältnis von Singstimme und Geschlecht zunächst allgemein bestimmen. Dabei zeichnet sich ihre Argumentation dadurch aus, dass sie stereotype Zuordnungen, wie »Frauen singen, Männer singen nicht«, nicht bloß benennt, sondern die Diskurse untersucht, die hinter den Stereotypen stehen. Als Musikhistorikerin, die sich ausgiebig mit Musik der Frühen Neuzeit beschäftigt, hat Cusick auch die historische Bedingtheit von Geschlechterperformanzen im Blick. Ausgangspunkt ihrer Fragestellung sind ihre Forschungen zur italienischen Komponistin Francesca Caccini (1587–ca. 1645). Ihre Argumentation zu musikalischen Geschlechterperformanzen entwickelt sie indessen vor allem anhand von zwei Beispielen aus (zum Zeitpunkt ihres Aufsatzes) aktueller US-amerikanischer populärer Musik, nämlich Eddie Vedder, Sänger der Rock-Band Pearl Jam, und den Indigo Girls, Emily Saliers und Amy Ray. Cusick, die sich im Text zu ihrer lesbischen Perspektive bekennt, hat in Bezug auf Geschlecht immer auch den Aspekt der Sexualität im Blick (vgl. Cusick 1994). So betont sie zum einen die Homosexualität Butlers und beschreibt zum anderen die Stimmen der Indigo Girls als Beispiele der Performanz lesbischer Sexualität.
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Wie Cusick in ihrer Einleitung ausführt, geht die Grundidee zu ihrem Aufsatz auf einen früheren Vortrag zurück. Diesen hielt sie erstmals 1992, also kurz nach Erscheinen von Butlers Gender Trouble, auf der Jahrestagung der Society for Music Theory, veröffentlicht als »Feminist Theory, Music Theory, and the Mind/Body Problem«. In: Perspectives of New Music 32, 1994, 8–27. Cusick ist Professorin für Musik an der Faculty of Arts and Science der New York University. Seit 2003 ist sie Herausgeberin der Zeitschrift Women and Music. A Journal of Gender and Culture. Florian Heesch Textvorlage Suzanne G. Cusick: On Musical Performances of Gender and Sex. In: Elaine Barkin, Lydia Harnessley (Hg.), Audible traces. Gender, Identity, and Music. Zürich, Los Angeles 1999, 25–48 [Auszug].
Weitere Veröffentlichungen von Suzanne G. Cusick Of Women, Music, and Power. A Model from Seicento Florence. In: Ruth A. Solie (Hg.), Musicology and Difference. Gender and Sexuality in Music Scholarship. Berkely 1993, 281–304. On a Lesbian Relationship with Music. A Serious Effort Not to Think Straight. In: Philip Brett, Elizabeth Wood, Gary C. Thomas (Hg.), Queering the Pitch. The New Gay and Lesbian Musicology. New York 1994, 67–83. Performing/Composing/Woman: Francesca Caccini Meets Judith Butler. In: Sally Macarthur, Cate Poynton (Hg.), Music and Feminism. Sydney 1999, 87–98. Gender, Musicology, and Feminism. In: Nicholas Cook, Mark Everist (Hg.), Rethinking Music. 2., korr. Aufl. Oxford 2001, 471–498. Francesca Caccini at the Medici Court. Music and the Circulation of Power. Chicago 2009.
Weiterführende Literatur Brandstetter, Gabriele: Staging Gender. Körperkonzepte in Kunst und Wissenschaft. In: Franziska Frei Gerlach, Annette Kreis-Schinck, Claudia Opitz (Hg.), KörperKonzepte – Concepts du corps. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung. Münster 2003, 23–43. Brüstle, Christa: Performance/Performativität in der neuen Musik. In: Paragrana 10, 2001, H. 1: Theorien des Performativen, 271–283. Cook, Nicolas: Music as Performance. In: Martin Clayton, Trevor Herbert, Richard Middleton (Hg.), The Cultural Study of Music. A Critical Introduction. New York 2003, 204–241. Ellmeier, Andrea, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (Hg.): Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film. Wien 2011 (mdw Gender Wissen 2).
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Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M. 2004. Frith, Simon: Performing Rites. On the Value of Popular Music. Cambridge, Massachusetts 1996. von Hoff, Dagmar: Performanz/Repräsentation. In: Christina von Braun, Inge Stephan (Hg.), Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln 2005, 162–179. Kolesch, Doris, Sybille Krämer (Hg.): Stimme. Annäherungen an ein Phänomen. Frankfurt a.M. 2006.
Ausgewählter Text Wie passen Butlers Ideen und Musik zusammen? Judith Butlers philosophische Arbeiten über die Performativität von Geschlecht werden in US-amerikanischen Kreisen der Frauenforschung und Gender Studies breit rezipiert.1 Ich werde mich hier mit Butlers meistdiskutierter Behauptung befassen, wonach Gender und Geschlecht [›sex‹] aus »Performanzen« gebildet seien. Dieses Konzept lässt sich am leichtesten aus seinen disziplinären Grenzen hinaus auf unser Verständnis musikalischer Performanzen übertragen. [...] Diese Performanzen eines auf Gender und Geschlecht festgelegten Selbst sind teilweise, wenn auch sicher nicht ausschließlich, Darstellungen des Körpers und geschehen durch den Körper. Diesen Aspekt in Butlers Konzept der Performativität von Gender und Geschlecht halte ich für besonders vielversprechend für das Nachdenken über musikalische Performanzen. Denn musikalische Performanzen sind ebenfalls (wenn auch nicht ausschließlich) körperliche Darstellungen, die in einer Kultur generell verstanden werden. Vieles an musikalischer ›Komposition‹ kann als eine Übersetzung von Ideen beschrieben werden, die darauf abzielt, diese Ideen durch Körper und mit Körpern darzustellen (Körper, deren Handlungen die Ideen in ein weiteres Medium übersetzen: wahrnehmbare Klänge). Musikalische Performanzen sind folglich oft die Begleitung von Ideen, die durch Körper mittels der Performanz von Körpern dargestellt werden. Wenn ich also Francesca Caccinis spirituelles Madrigal »Maria, dolce Maria« sänge, würde ich möglicherweise eine Idee 1 Siehe ihr wegweisendes Buch Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990) [auf Deutsch: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a.M. 1991]; ihren Aufsatz »Imitation and Gender Insubordination«. In: Diana Fuss (Hg.), Inside/Out. Lesbian/Gay Theories. New York 1991, 13–31; ihre Aufsatzsammlung Bodies That Matter. On the Discursive Limit of »Sex«. New York 1993 [auf Deutsch: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt a.M. 1995]; sowie ihren kürzlich veröffentlichten Quattrolog mit Seyla Benhabib, Drucilla Cornell und Nancy Fraser, Feminist Contentions. A Philosophical Exchange. New York 1995.
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mystischer Übertragung aus dem 17. Jahrhundert darstellen – als würde ich durch und in meinem Körper des 20. Jahrhunderts etwas über Ideen aus dem 17. Jahrhundert von der Körperlichkeit spiritueller Erfahrung (und deren Bedeutung für das Entstehen von Gender) wissen. Aber ich würde höchstwahrscheinlich auch meinen Körper als einen Körper des 20. Jahrhunderts darstellen, als einen weiblichen Körper instabiler Geschlechtsidentität. Meine Performanz würde – sofern sie von Zuschauern beobachtet wird, zum Beispiel im Rahmen eines Konzerts – mit großer Wahrscheinlichkeit ein dialogisches oder kontrapunktisches Verhältnis zwischen einer Verkörperung des 17. und einer Verkörperung des 20. Jahrhunderts darstellen. […] Gesang als Feld der Performanz von Gender und Geschlecht Stimmen, Innerlichkeit und die Grenzen des Körpers Warum stehen Stimmen für die körperlichen Notwendigkeiten des biologischen Geschlechts? Neben anderen haben Derrida und Lacan elaborierte, aber durchweg entkörperlichte Antworten vorgeschlagen.2 Ich möchte behaupten, dass Stimmen deshalb für die Zwänge des Geschlechts stehen, da sie, anders als die Verhaltensformen, die wir vermutlich einhellig als Geschlechterperformanzen bezeichnen würden (Kleidung, Gestik, die Art, zu gehen), innerhalb der Grenzen des Körpers und nicht auf dessen Oberfläche entstehen. Wir gehen davon aus, dass körperliches Verhalten, das innerhalb der Grenzen des Körpers (in den Körperhöhlen) entsteht, von seinem Entstehungsort determiniert wird – vom Körper selbst. Daher kann es sich bei diesem Verhalten nicht um ›Performanz‹ handeln, da ihm keine bewusste Entscheidung zugrundezuliegen scheint. Im Vertrauen auf unseren gesunden Menschenverstand glauben wir, die Stimme sei der Körper, das Heraustönen seines Atems und seiner inneren Form in die Welt als eine Weise, durch die wir anderen bekannt, sogar vertraut sind. 2 Siehe z.B. Jacques Derrida: La voix et le phénomène. Introduction au problème du signe dans la phénoménologie de Husserl. Paris 1967. Hg. und ins Englische übersetzt von David B. Allison. Evanston 1973 [auf Deutsch: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Frankfurt a.M. 2003]; Jacques Lacan: »Fonction et champ de la parole et du langue en psychanalyse« (Vortrag am Istituto di Psicologia della Università di Roma, 26. und 27. September 1953). In: La Psychanalyse 1, 1956, 81–166. Englisch: »The Function and Field of Speech and Language in Psychoanalysis«. In: Jacques Lacan, Écrits. A Selection. Hg. und übersetzt von Alan Sheridan. New York 1977, 30–113 [auf Deutsch: Schriften. 3 Bände. Hg. von Norbert Haas. Olten, Freiburg im Breisgau 1973]; Marie-France Castarède: La Voix et ses sortilèges. Paris 1987.
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Wenn wir aber näher darüber nachdenken, wissen wir, dass Stimmen letztlich kulturell konstruiert werden. Stimmen sind immer Performanzen eines Verhältnisses, das zwischen der individuellen Sängerin/Sprecherin (dem Sänger/Sprecher) und ihrer (oder seiner) Kultur ausgehandelt wird. Die beeindruckende stimmliche Bandbreite, die Cathy Berberian in ihrer Aufnahme von [Luciano] Berios Folksongs erzeugt, zeigt uns das ebenso wie Leontyne Prices legendäre, bemerkenswerte Wechsel von Timbres und Phrasierungen in Spirituals und in Songs von Margaret Bonds, mit denen sie ihre Konzertprogramme üblicherweise beendet.3 Während ich darüber nachdachte, wie diese Frauen jeweils ihre Stimme so verändern, dass sie wie die ›natürliche‹ Stimme einer bestimmten Ethnie klingt, sah ich mich zu der Frage abdriften, was es bedeutet, in meiner Zeit und an diesem Ort, dem mittelatlantischen Nordamerika der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts, zu singen. In meiner Welt gehören Singen und die Einstellung zum Gesang zu den wichtigsten Schauplätzen für Performanzen von Geschlecht, Gender und sogar Sexualität – Performanzen, die unweigerlich Darstellungen der Stimme sind. Ich glaube, ein Schlüsselelement der Zweckmäßigkeit des Gesangs als Medium zur Performanz von Gender und Geschlecht ist sein Verhältnis zu den Grenzen des Körpers: Alle Stimmen, aber singende Stimmen im Besonderen, stellen die Grenzen des Körpers dar. Sie performieren das Verhältnis dieser Grenzen sowohl zum Körperinneren als auch zur Außenwelt – ein Verhältnis, das hinsichtlich ihrer relativen Durchlässigkeit in der Kultur des späten 20. Jahrhunderts als ein geschlechtliches bestimmt werden kann.4 Was bedeutet es zu singen? 3 Luciano Berio: Epifanie/Folk Songs. RCA, LSC 3189, 1971. 4 In der Tat könnte man sagen, dass Grenzkontrollen innerhalb eines breiten Spektrums politischer Angelegenheiten in den Vereinigten Staaten zu einer kritischen Metapher geworden sind. 1994 und 1995 drehte sich die öffentliche politische Debatte darum, die Durchlässigkeit der nationalen Grenzen für Immigranten, illegale Drogen, billig produzierte Textilien und Autos sowie den Ebola-Virus aus Zaire – all dies neben der bekannten imaginären Bedrohung durch »ausländische Terroristen« und den Kommunismus – zu reduzieren. Innerhalb der nationalen Grenzen betont eine wachsende Kultur des radikalen Individualismus’ das Recht jedes Bürgers, seine oder ihre soziale Verbindung zur Gemeinschaft und zum Staat aufzukündigen – eine Bewegung, die die politischen und psychischen Grenzen des individuellen Bürgers kontrolliert. Im Gegensatz dazu ist eine Politik, die sich mit Angelegenheiten befasst, die Grenzen zwischen Bürgern und Regionen überschreiten, wie Umweltsicherheit, zwischenstaatlicher Handel und öffentliche Bildung, extrem unpopulär geworden; zum Ausdruck ihrer Ablehnung werden häufig rhetorische Strategien verwendet, die die Befürworter feminisieren.
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Singen ist zum Großteil wie Sprechen, indem es erfordert, eine Substanz – den Atem – vom Körperinneren in die Außenwelt hinauszustoßen. Wie das Sprechen überschreitet es im Wortsinn die Grenzen des Körpers, wodurch es diese darstellt und definiert. Ebenso wie das Sprechen wird Singen oft genutzt, um eine innere Wahrheit auszudrücken oder darzustellen: Die Wahrheit aus dem Inneren der Körpergrenzen wird vom Atem (dessen Ursprung außerhalb des Körpers liegt) über diese Grenzen hinausgetragen. Man könnte behaupten, dass der Gesang, ebenso wie das Sprechen, stets eine Performanz der Vorstellung von Subjektivität (im Sinn eines Innenlebens) darstelle. Sicherlich sind sowohl Sprechen als auch Gesang Performanzen des Körperinneren, Performanzen im Inneren. Das Singen unterscheidet sich insofern vom Sprechen, als es nicht unbedingt die speziellen Mundbewegungen erfordert, mit denen Wörter geformt werden. Sprechen ist letztlich der Innen-Außen-Kanal, der im wahrsten Sinn des Wortes unsere vermeintliche Unterordnung unter die Sprache (immer wieder) darstellt. Sprechen ist bis zu dem Zeitpunkt unverständlich, da der Mund den Klang, der durch die Bewegung des Atems aus dem Inneren des Körpers produziert wird, diszipliniert, um ihn den Bedeutungssystemen, die der Außenwelt verständlich sind, anzupassen. Sprechen erfordert also, den Klangstrom mit dem Mund zu Sprache zu formen. Aber die Disziplinen, denen die Singstimme unterworfen wird – insbesondere die Kontrolle von Tonhöhe, Klangfarbe und Lautstärke –, sind weit tiefer im Körperinneren verortet als jene, die aus der Stimme das Sprechen formen. Mehr noch, die Einstellungen, die an jenen Stellen tief im Körperinneren vorgenommen werden, sind winzig, und die klangliche Beherrschung von Tonhöhe, Register, Lautstärke und sogar Timbre erfordert feinste motorische Kontrolle. Der Akt des Singens reproduziert stets die Akzeptanz bestimmter Muster, die der eigenen kulturellen Kohorte klar verständlich sind. Insofern wiederholt sich in ihm auf körperliche Weise, tief im Hals, jener Austausch, den die eurozentrische Entwicklungstheorie als Entstehung eines Subjekts mit einer Geschlechtsidentität beschreibt. Das heißt, in diesem Akt wiederholt sich der Austausch zwischen einer sehr jungen Person, die gerade erst die Grenzen ihres Körpers kennenzulernen beginnt, und dem kulturellen Raum, in dem die Person zu funktionieren lernen muss. Für die meisten von uns hängt erfolgreiches Funktionieren in der Welt jenseits unserer Körpergrenzen zu einem Teil davon ab, dass wir Stimmgebungen erlernen, durch die wir zum einen die neu entdeckten Grenzen unseren Körpers nachzeichnen, indem wir sie dauernd überschreiten. Zum anderen benötigen wir Stimmgebungen, die uns angesichts dieser Entdeckung trösten, indem sie die Grenzen derart überschreiten, dass sich zweierlei Wahrnehmun-
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gen bestätigen: »Ich bin noch hier. Ich höre mich« und »Ich bin noch hier. Sie können mich hören. Wenn ich meine Stimmgebung in einer ihnen verständlichen Weise gestalte, kann ich mir ein wenig Kontrolle erhalten.« Wenn wir im Verlauf der Kindheit mit der Performanz jener Handlungen beginnen, die andere als Singen verstehen, fügen wir jenen Disziplinen, die zur Produktion verständlichen Sprechens erforderlich sind, andere hinzu, die nötig sind, um Tonhöhen und Klangfarben, Performanzen der Innenräume und Grenzen des Körpers, zu produzieren, die unsere Kohorte als Musik erkennen kann. Häufig wird dies als Zeichen für ein leidenschaftliches, non-verbales, sogar mystisches Innenleben verstanden, so dass unsere Fähigkeit, mit unseren Körpern diese ›Musik‹ zu machen – unsere Fähigkeit zu singen –, unserer kulturellen Kohorte auch vermittelt, wie weit wir die Innenräume und inneren Vorgänge unserer Körper von kulturellen Normen durchdringen und disziplinieren lassen haben. Der Erwerb von ›Sprache‹ und ›Gesang‹ Aufgrund dessen, was wir über die sprachliche und musikalische Entwicklung von Kindern wissen – oder zu wissen glauben –, können wir die Hypothese formulieren, dass die Performanzen von »das Innere dringt nach außen« und »das Innere erlangt Macht, indem es als verständlich gehört wird« in folgender Reihenfolge als Körperdisziplinen auftreten: 1) Vorsprachliches oder Lallen und Plappern: Der Klang der eigenen Stimme wird wieder und wieder erprobt, ebenso werden die Reaktionen anderer auf unsere Stimme imitiert. Umfang, Tonhöhengestaltung und Mundartikulation werden emsig trainiert. Verschiedene Klänge erhalten für die uns umsorgenden Menschen erkennbare Bedeutungen, wie Freude, Wut, Hunger usw. 2) Sprechen: Die Stimme beginnt, verständlich zu klingen, indem Umfang, Tonhöhengestaltung und Mundartikulation denjenigen Kombinationen angepasst werden, die andere (die umsorgenden Menschen) als verständlich wahrzunehmen scheinen.5 Dies ist der Eintritt in das Gesetz, der in den meisten Erzählungen von der menschlichen Entwicklung mit unserer Identifikation mit der sozialen Rolle, die wir Gender nennen, zusammenfällt. Frühe Sprechakte identifizieren das Selbst und wichtige Andere, vor allem die uns umsorgenden Personen. In einem Alter von drei Jahren beinhaltet die Sprache Spiele, in denen unsere emotionalen Bindungen und unsere Sehnsüchte nach Anderen realisiert und verständlich werden: Es werden Hochzeitsfantasien 5 Ich bedanke mich bei Megan Emily Wadin, die mir diese Entwicklungsstufen im Verlauf des vergangenen Jahres vorgeführt hat, und bei ihren Eltern, die mich sowohl an Megans Gesellschaft als auch an ihren Kommentaren über Megans Entwicklung teilhaben lassen.
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mit einem oder beiden Elternteilen artikuliert, oftmals in freier Kombination mit den Bezeichnungen ›Mann‹ und ›Frau‹.6 Obwohl wir wissen, dass der Spracherwerb ein lebenslanger Prozess ist, der für viele von uns den Eintritt in mehrere verschiedene Sprachen beinhaltet, geht die Entwicklungstheorie davon aus, dass der erste Eintritt in die Sprache unsere Identität hinsichtlich Gender und Geschlecht am stärksten bestimmt. Je nachdem, wem man Glauben schenkt, ist dies der Zeitpunkt, an dem entweder das grundlegende Selbst fixiert wird oder an dem wir uns entscheiden, bestimmte Performanzen von Gender und Geschlecht als zwingende Verhaltensweisen anzunehmen. 3) Gesang: Seltsamerweise wird dem Erwerb von Gesang im Allgemeinen keine ausschlaggebende Bedeutung für die menschliche Entwicklung oder Enkulturation beigemessen. Musikpsychologen weisen jedoch darauf hin, dass der Eintritt in den Gesang zur selben Zeit erfolgt wie der Eintritt in die Sprache.7 Ich habe gelesen, dass wir die beiden Diskurse für gewöhnlich zunächst nicht verbinden; das heißt, wir singen zu Beginn keine Wörter. Stattdessen beginnen Kinder im Alter von 18 bis 24 Monaten, zweitönige, repetitive Patterns zu singen, die man als Melodien beschreiben könnte. Der Sekundärliteratur zufolge beginnen wir mit dem Sprechen bei anderen Begebenheiten, die dazu scheinbar nicht in Beziehung stehen. Wie das Sprechen ist der Gesang eine Performanz der Beziehung ›hierdrinnen/dort-draußen‹, die im Lauf des Lebens immer komplexer wird. Mit fünf Jahren haben die meisten Kinder ein Repertoire verschiedener Lieder, die sie zum Teil von ihrer Kohorte gelernt haben, zum Teil selbst erfunden haben. Darüber hinaus können die meisten Kinder dieses Alters so singen, als ob sie den Grundton eines Liedes erkennen. Folglich akzeptieren wir etwa drei Jahre nach dem Eintritt in den Gesang die Disziplin der Tonalität, das heißt, die kognitiven und die körperlichen Disziplinen, die es uns ermöglichen, den richtigen Grundton hervorzubringen. Zwischen dem neunten und zwölften Lebensjahr erleben die meisten Kinder ein rapides Wachstum ihrer ›musikalischen Kognition‹. Dieses spiegelt sich in ihrem Vermögen, Tonstufen, die in 6 Ich denke beispielsweise an meinen Freund Everett, der mit drei Jahren unablässig von den Möglichkeiten sprach, die Intimität mit den Menschen, die ihm am wichtigsten waren, zu festigen: Er würde ein Mann sein und Mami heiraten; er würde eine Frau sein und Papi heiraten; er würde eine Frau sein und Mami heiraten; er würde ein Mann sein und Papi heiraten. Zum Erstaunen seiner Eltern artikulierte Everett dadurch alle vier Sexualitäten, die Butler zufolge möglich sind, wobei er auf hübsche Weise das biologische Geschlecht [›sex‹] – das er gewöhnlich daran festmachte, ob jemand ornamentale oder funktionale Brüste hat – von kulturellem Geschlecht [›gender‹] und Sexualität trennte. 7 In meiner Diskussion der musikalischen Entwicklungsstadien berufe ich mich größtenteils auf Mary Louise Serafine (Music as Cognition. The Development of Thought in Sound. New York 1988) und John A. Sloboda (The Musical Mind. The Cognitive Psychology of Music. Oxford 1985).
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Dur- und Molltonarten vorkommen, sauber zu singen (wodurch sie zeigen, dass sie sich das angeeignet haben, was ich eine Tonart nennen möchte: ein Verständnis davon, welche Tonstufen in der eigenen Kultur als Musik zu erkennen sind), ihren Gesang mit anderen zusammen zu intonieren (wodurch sie ihre Bereitschaft zeigen, die Klänge, die ihr Körperinneres darstellen, mit den ähnlich veräußerlichten Klängen ihrer Altersgenossen zu verbinden), mehrere Phrasen in der richtigen Reihenfolge zu singen (und damit Vorstellungen von Form darzustellen, die ihrerseits immer Vorstellungen von organisierter Zeit beinhalten). Der Sekundärliteratur zufolge werden alle Performanzen, auf denen der Eintritt in den Gesang gründet, vor dem Beginn der Pubertät beherrscht. Doch wir wissen, dass Stimmen sich durch die Hormonduschen, die die Pubertät mit sich bringt, ›verändern‹. Wenn die Stimmen sich ›ändern‹, müssen sicherlich viele der motorischen Fähigkeiten, jene die Tiefe des Körpers beherrschenden kulturellen Disziplinen, die als kulturell erkennbarer ›Gesang‹ erworben wurden, ebenfalls verändert, zumindest neu bewältigt werden. Es erschiene tatsächlich logisch, wenn das, was ich als ›Eintritt in den Gesang‹ bezeichnet habe, in der Adoleszenz von Neuem stattfände (genauso, wie wir – in unserer üblichen Erfahrung mit Gender-Performanzen – in der Adoleszenz von Neuem lernen, jene Handlungen zu ›performieren‹, die unser kulturelles Geschlecht [›gender‹] begründen und für andere erkennbar machen). ›Veränderungen‹ von Stimmen, Gesang und die Performanz von Geschlecht und Gender In Nordamerika erzählt man Jungen zu Beginn ihrer Pubertät, dass, bedingt durch die Testosterondusche der Adoleszenz, ihr Kehlkopf und ihre HerzLungen-Kapazität weit dramatischer wachsen werden als die von Mädchen, und dass dies eine Änderung der ›Grund‹-Tonhöhe ihrer Stimmbänder bewirken wird. Diese miteinander zusammenhängenden Veränderungen werden ihnen die Möglichkeit eröffnen, ihr biologisches Geschlecht – ihren geschlechtlichen Unterschied zu Mädchen – durch ihr stimmliches Register darzustellen. Die Performanz des Geschlechts [›sex‹] durch das Stimmregister ist ein gutes Beispiel für ein Verhalten, das zwingend ist, ohne aufgezwungen zu sein. Denn nichts in der Kette körperlicher Ereignisse verlangt von einem Jungen, das Register, welches er mit Mädchen teilt, aufzugeben, wenn er seinen neuen Zugang zu den Tenor und Bass genannten Registern antritt, die seine Identität als Mann darstellen. Aber in der nordamerikanischen Kultur des ausgehenden 20. Jahrhunderts verzichten fast alle Jungen mit Begeisterung auf jenes mit den Mädchen geteilte Register und entscheiden sich, stattdessen die Performanzen der Stimmproduktion im Körperinneren neu zu erlernen, die zur
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Erzeugung eines männlichen tieferen Sprechregisters erforderlich sind. Dadurch lernen sie, mit jeder Äußerung ihr (männliches) Geschlecht – ihren biologischen Unterschied zu Mädchen – und ihren erfolgreichen Übergang ins Erwachsenenalter darzustellen. Seltsamerweise hat in der letzten Generation nur ein kleiner Anteil der Jungen jene Körperhandlungen neu erlernt, die Gesang hervorbringen könnten. Stattdessen scheint es, dass die ›Veränderung‹ der Stimme, die so enthusiastisch mit der Aneignung eines neuen, männlichen Sprechens bewältigt wird, sehr häufig mit der Aufgabe (sogar Ablehnung) der kulturellen Praxis des Gesangs einhergeht. Dagegen bekommen Mädchen in der Pubertät sehr oft zu hören, dass sich ihre Stimmen nicht ›verändern‹, obwohl natürlich auch ihr Kehlkopf und ihre Herz-Lungen-Kapazität wachsen. Insofern wird Mädchen nicht gesagt, dass sie die Performanzen der Stimmproduktion im Körperinneren neu lernen müssten, die das Register einer erwachsenen Frau beim Sprechen oder Singen erfordert. Vielmehr werden sie angehalten, so zu sprechen und zu singen, als sei nichts passiert. Den Mädchen wird also beigebracht, durch die Fortführung ihrer kindlichen Stimmgebung in der erwachsenen Stimmproduktion die folgenden, zueinander in Wechselbeziehung stehenden Vorstellungen von Frau- und Erwachsen-Sein darzustellen: (a) Frauen sind nicht in der Pubertät gewesen, deswegen (b) erwerben Frauen niemals erwachsene Stimmen, denn (c) Frauen sind unfertige Personen, die sich zwischen Kindheit und Erwachsenenalter nicht verändern (genau wie Aristoteles und Galen glaubten). 8 Mädchenstimmen stellen somit automatisch sowohl ihr biologisches als auch ihr kulturelles Geschlecht als Ausbleiben von ›Veränderung‹ dar – eine Performanz, die für die meisten Mädchen in drastischem Widerspruch zu den sichtbaren Zeichen steht. Aus Mangel einer Ideologie der stimmlichen ›Veränderung‹, die zum Erlernen einer neuen ›Stimme‹ zwingt, singen Mädchen gewöhnlich weiterhin so, wie sie schon immer gesungen haben. Sie werden
8 Eine gute Zusammenfassung der geringfügig verschiedenen Ansichten, die diese beiden Naturphilosophen über die Unvollständigkeit der Frauen ausgearbeitet haben, findet sich im zweiten Kapitel »Destiny is Anatomy« von Thomas Laqueur: Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge 1990, 25–62 [auf Deutsch: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt a.M. 1992]. Die Vorstellung »Frauen waren nicht in der Pubertät« mag manchen Lesern seltsam vorkommen. Wie können wir die Entwicklung der Brüste, die Menarche, das Erscheinen von Körperbehaarung und subkutanem Fett vergessen? Doch von der nahezu zwingenden weiblichen Bein- und Achselrasur bis zum als sexy empfundenen Klang von Marilyn Monroes gehauchter, kindischer Sprechstimme zeugen kulturelle Praktiken von einem verbreiteten Drang, die Folgen geschlechtlicher Reife bei Frauen zu verleugnen oder auszulöschen. Diese Idee fand ich zuerst bei Germaine Greer: The Female Eunuch. London 1970.
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nicht dazu angeregt, die kulturellen Praktiken und körperlichen Disziplinen des Gesangs aufzugeben, noch nicht einmal, sie zu revidieren.9 Eine Folge dieser scharf abgegrenzten Erfahrungen in der Performanz von Geschlecht und Gender mit der Stimme ist die allseits bekannte Klage der Leiter von Erwachsenenchören: Chöre, die sich aus postpubertären Mitgliedern der allgemeinen Bevölkerung zusammensetzen, leiden fast immer unter einem Mangel an Männern. In der gegenwärtigen europäisch-amerikanischen Kultur verhält es sich mit anderen Worten so: Die meisten erwachsenen Frauen singen, die meisten erwachsenen Männer nicht.10 Als ein historisch und kulturell spezifisches Phänomen legt diese de facto durch die postpubertäre Teilhabe am Singen erfolgte Definition von Geschlecht [›gendering‹] nahe, dass alle stimmlichen Äußerungen, insbesondere aber die Teilhabe am Singen, in unserer heutigen Zeit zu einem Feld der Performanz sowohl von Geschlechter- [›sex‹] als auch von Gender-Differenzen geworden sind. Doch warum beinhaltet der Lernprozess, der zur Performanz des männlichen Geschlechts durch das Register der Stimme befähigt, nicht auch ein Neu-Lernen der Disziplinen, die für den Gesang erforderlich sind? Man muss erneut danach fragen, inwiefern sich Sprechen und Gesang unterscheiden: Damit Sprechen kulturell verständlich wird, sind weit weniger Disziplinen erforderlich, die tief in Kehle und Brustkorb ausgeführt werden. Sprechen wird vornehmlich im Mund produziert, nahe an der Grenze des Körpers. Steht die männliche Weigerung, das Singen von Neuem zu lernen, in irgendeiner Bezie9 Es muss sicherlich nicht erwähnt werden, dass diese Sichtweise, nach der Mädchenstimmen in der Adoleszenz keinerlei Veränderung unterliegen, falsch ist. Tatsächlich werden Mädchen, wenn sie weiterhin singen, sehr stark darin gefördert, ihren Umfang nach oben zu erweitern. ›Geübte‹ Sängerinnen haben meist geübt, das stimmliche Register, das sie mit Männern teilen, hinter sich zu lassen. Insofern führt die stimmliche Enkulturation von MittelschichtNordamerikanern und -amerikanerinnen zur Übertreibung der hörbaren Performanz von Geschlechtsunterschieden. 10 Es ist bemerkenswert, dass die Situation in der afroamerikanischer Kultur und in Migranten-Subkulturen, wie derjenigen der in Toronto ansässigen Prespa-Albaner, komplizierter ist. Siehe dazu Jane Sugarman: »The Partridge and the Nightingale. Singing and Gender Among Prespa Albanians«. In: Ethnomusicology 33, 1989, 191–215. Darüber hinaus ist die Vermeidung des Singens bei erwachsenen europäisch-amerikanischen Männern ein recht junges Phänomen: Sie betrifft beispielsweise nicht die nordamerikanische Kultur der 1930er Jahre, in der Männerchöre und die Barbershop-Quartett-Kultur florierten. Sie betrifft selbst heute nicht die in den Oststaaten beheimatete universitäre Subkultur von A-cappella-Gruppen, wie den Whiffenpoofs. Jedoch werden an der University of Virginia, wo solche Gruppen florieren, außergewöhnliche Maßnahmen getroffen, um sicherzustellen, dass die beteiligten Männer nicht für ›Schwuchteln‹ gehalten werden. Ich danke Shawn Felton, Co-Direktor des University Glee Club und Mitglied der Virginia Gentlemen sowie Donald Webb, ehemaliger Präsident beider Gruppen, für ihre Kommentare zu den Spannungen, die in rein männlich besetzten A-cappella-Gruppen an der University of Virginia in Bezug auf Männlichkeit aufgetreten sind.
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hung zu der allgemeinen Vorstellung, dass Männlichkeit damit zu tun habe, Körper und Seele zu einem vollständigen Individuum ausgeformt zu haben? Wobei die Grenzen des Körpers kontrolliert werden, so dass in dessen Innenräume nichts eindringen kann? Nicht einmal die Disziplinen der Körpertiefen, die das Singen erfordert?
Zur Herausgeberin und zum Herausgeber
Katrin Losleben Ausbildung zur Chor- und Ensembleleiterin, Studium der Instrumentalpädagogik und Musikwissenschaft, Literatur- und Medienwissenschaft in Hannover und Malmö. Ab 2004 Stipendiatin der Mariann Steegmann Foundation. 2004–2005 Mitarbeit an der Internetplattform MuGI der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Gemeinsam mit Annette Kreutziger-Herr Herausgeberin des Buches History | Herstory. Alternative Musikgeschichten, Köln 2009 (Musik – Kultur – Gender 5). 2010 Promotion mit Musik – Macht – Patronage. Kulturförderung als politisches Handeln im Rom der Frühen Neuzeit am Beispiel der Christina von Schweden (1626–1689) (= musicolonia 9) Köln 2012. 2006–2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »History | Herstory: Symmetrische Musikgeschichte« der Hochschule für Musik und Tanz Köln. Seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »SängerInnen und Rollen. Geschlechtskonzeptionen in der Oper des 19. Jahrhunderts« am Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. Florian Heesch studierte Schulmusik, Instrumentalpädagogik, Musikwissenschaft, Musikpädagogik und Germanistik in Hannover, Köln und Göteborg und promovierte 2006 mit einer Arbeit über die Rezeption von August Strindbergs Dramen in der Oper. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »History | Herstory« und Lehrbeauftragter an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Redakteur des von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld herausgegebenen Lexikons Musik und Gender (2010) und organisierte 2009 in Köln einen internationalen Kongress zum Thema »Heavy Metal and Gender«. 2007–2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter im interdisziplinären DFG-Projekt »Edda-Rezeption« am Institut für Skandinavistik der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Mitherausgeber des Sammelbandes »Sang an Ägir«: Nordische Mythen um 1900 (Edda-Rezeption 1, 2009). Derzeit vertritt er eine Professur für Musikwissenschaft am Forschungszentrum Musik und Gender (fmg) der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover und lehrt außerdem an der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf.
Namenregister
Im Namenregister sind alle Personennamen erfasst, die im Haupttext und in den Anmerkungen genannt werden mit Ausnahme von bibliografischen Angaben. Enthalten sind außerdem die Namen von Musikgruppen und die Namen fiktiver Figuren, z.B. Opernfiguren. Abbate, Carolyn 15, 49, 213–215, 227 Ackroyd, Peter 173 Ada Leonards All-American Girls 127 Adam, Adolphe 264 Adler, Guido 160, 162–164 Adorno, Theodor W. 226 Aerosmith 276 Akiyoshi, Toshiko 129 Alamanda 91 Alcasto 114 Al D’Artega’s All-Girl Band 127f. Alpern, Sara 191 Altenberg, Peter 139 Alternative TV 152 Ammer, Christine 14f., 116–118 Amor 112 Anderson, Laurie 37 Anna Amalia von Sachsen-Weimar 106f. Anthrax 278 Antler, Joyce 191 Apel, Willi 50 Apoll 51 Arbuckle, Matthew 120f. Argenore 115 Ariès, Philippe 133 Ariosti, Attilio 111 Arkel 134, 137f., 142 Armstrong, Lil Hardin 126 Armstrong, Louis 126 Aschoff, Peter 184, 188 Austin, John L. 287 Bach, Johann Sebastian 12, 27, 29, 65f., 70, 72, 159, 172 Bachmann, Ingeborg 140–143 Bachtin, Michail 213, 227–229, 239, 283 Baker, Josephine 234
Barthes, Roland 213, 221, 226 Bartók, Béla 70 Batta, Alexandre 269 Beach, Amy 116 Beach Boys 277 Beatles 152 Beatriz de Dia → Comtessa Beatriz de Dia Beauvoir, Simone de 199 Beethoven, Ludwig van 25–27, 31–33, 37f., 44–46, 50–52, 54, 56–61, 65, 72, 83, 87, 169, 172, 178, 225, 244, 246f., 249f., 253–255 Behrens, Hildegard 224 Bembo, Antonia 68 Benante, Charlie 278 Benjamin, Walter 160, 173, 226 Berberian, Cathy 292 Berg, Alban 131 Berger, Anna Teresa 120–122 Berio, Luciano 292 Bertran de Born 93 Bettelheim, Bruno 58 Birch, Dinah 230 Birnbach, Heinrich 248 Bishop, Elvin 150 Bizet, Georges 37, 121 Blahetka, Leopoldine 261 Bley, Carla 129 Bloch, Ernest 69 Bloch, Marc 101 Bloom, Allan 78 Bloom, Harold 74 Bogan, Lucille 184 Bohle, Laura 129 Bohlman, Philip V. 77 Bonds, Margaret 292
302
Namenregister
Bononcini, Giovanni 106, 111 Borchard, Beatrix 14, 159–161 Boston Symphony Orchestra 121 Boston Women’s Symphony Orchestra 128 Boulanger, Lili 69, 131 Boulanger, Nadia 69 Bourges, Clémentine de 68 Bovenschen, Silvia 131 Bowers, Jane 13f., 179–181 Bowie, David 152, 234 Boyd, Melinda 13 Brahms, Johannes 33, 37f., 83 Brandstetter, Gabriele 15 Brockhaus, Alfred 31 Brusatti, Otto 31 Budds, Michel J. 117, 126 Brown, James 232 Browne, Jackson 151 Butler, Judith 16, 274, 287–290, 295
Collins, Patricia Hill 189f. Colonna, Filippo 106 Colonna, Lorenza 106 Colored Female Brass Band 126 Comtessa Beatriz de Dia 91 Connell, Raewyn / Robert 274 Conrad, Patrick 214 Contessa de Proensa 91 Cook, Nicholas 215 Cope, Anthony 109 Corelli, Arcangelo 109 Cosimi, Nicola 109 Cowan, Odessa → Hutton, Ina Ray Cramer, Anna 82 Crawford Seeger, Ruth 69f. Culler, Jonathan 83 Cupido 112 Curzon, Clifford 69 Cusick, Suzanne G. 16, 49, 287–289 Czerny, Carl 248
Caccini, Francesca 68, 107, 288, 291 Caccini, Giulio 107 Caccini, Settimia 107 Cannabich, Rosina 263 Carby, Hazel 185–188 Carrenño, Theresa 69 Carter, Heneage J. 122 Carter Zouave Troupe 122 Castiglione, Baldassare 104f. Cayler, Joy 127 Chambers-Schillers, Lee 191 Chaminade, Cécile 81 Chamisso, Adelbert von 197, 199, 201 Chicago Symphony Orchestra 120 Chopin, Frédéric 25, 54, 56–58, 69 Christian Ludwig, Markgraf von Brandenburg-Schwedt, Prinz von Preußen 66 Christiani, Lise 260f., 270 Chrysander, Friedrich 159f. Citron, Marcia J. 12, 48, 72–75 Clair, Nathalie 128 Clark, Ida 121 Clarke, Rebecca 74 Clément, Catherine 213f., 223, 225 Cleveland Orchestra 128 Cohen, Leonard 151
Dahl, Linda 117 Dahlhaus, Carl 24, 160, 162, 243 Daltrey, Roger 148 Damon 112 Dane, Barbara 193 Daniels, Nellie 120 Danuser, Hermann 160 Davies, Fanny 176 Debussy, Claude 54, 131, 133f., 139f., 142f. Deleuze, Gilles 49 Denski, Stan 274 Derrida, Jacques 49, 291 Desmond, Astra 204 Desprez, Josquin 106 d’Este, Isabella 106 Deutsch, Otto Erich 166f., 172 D’Indy, Vincent 54, 121 DIVA 129 Dixon, Lucille 128 Domingo, Plácido 224 Domna H. 91 Donizetti, Gaetano 37 Donne, John 43 Drinker, Sophie Hutchinson 12, 21, 64f.
303
Namenregister
Duby, Georges 101 duCille, Ann 186–188 Dylan, Bob 153 Earl Hines Band 128 Eichenauer, Richard 50, 57 Elgar, Edward 54 Elisabeth Sophie von Brandenburg, Herzogin von Kurland 112 Eschstruth, Hans Adolf von 260 Eurythmics 146, 226–228, 230, 232f., 235f., 239, 240f. Fast, Susan 146 Fauset, Jessie 186 Fay Fife 153 Febvre, Lucien 101 Fehn, Ann Clark 78 Ferry, Bryan 152 Flax, Jane 280 Ford, Lita 280 Forkel, Nikolaus 159f. Forte, Allen D. 242f. Foucault, Michel 213, 273, 288 Franck, César 54 Franklin, Aretha 232, 239 Freni, Mirella 224 Freud, Sigmund 52, 204, 225 Friedlin, Paulina 112 Friedrich I. von Preußen, Kurprinz Friedrich III. 109f. Friedrich Wilhelm I. von Preußen 112 Frith, Simon 11, 14, 144–146, 226, 237, 284f. Füßmann, Klaus 160, 174 Galás, Diamanda 37 Galletti, Andrea Giovanni 115 Garber, Marjorie 234, 236 Gaucelm Faidit 93 Gausbert de Poicibot 93 George, Boy 234 Gervinus, Georg Gottfried 32 Giraut de Calanson 93 Glitter, Gary 152 Gluck, Christoph Willibald 214 Golaud 134–139, 141
Gonzaga, Elisabetta 106 Gonzaga, Familie 104 Gordon, Philip 283 Gore, Lesley 151 Gui d’Uissel 92f. Guillems de Peitieus 91 Gumprecht, Otto 34 Gutiérrez, Rachel 191, 194 Haas, Werner 166 Hahn, Barbara 174 Hale, Philip 121 Hall, Elise 121f. Hall, Stuart 145 Händel, Georg Friedrich 43, 159 Hanoi Rocks 278 Hans 141f. Härtling, Peter 168 Harvard Symphony Orchestra 120 Hausen, Karin 197 Haydn, Joseph 25, 28, 43, 54, 67, 250 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 36 Helfer, Erwin 193 Henderson, Fletcher 126 Hendrix, Jimi 148 Hensel, Fanny, geb. Mendelssohn 15, 22, 69, 81, 170, 242, 244–255 Henze, Hans Werner 29 Herder, Johann Gottfried 89 Herodes 130, 215, 217, 220 Heuvel, Christine 110 Hewitt, Eva 121 Hildegard von Bingen 179 Hildesheimer, Wolfgang 168 Hine, Darlene Clark 188f. Hisama, Ellie 48 Hoffmann, E.T.A. 247 Hoffmann, Freia 16, 117, 259–261 Hoggart, Richard 145 Holmès, Augusta 68, 74 Honegger, Arthur 69 Howard, D.W. 122 Huber, Annegret 15, 242–244 Hurston, Zora Neale 186f. Hutton, Ina Ray 127 Indigo Girls 288f.
304 International Sweethearts of Rhythm 127 Ives, Charles 54, 58, 61, Jackson, Mahalia 232 Jackson, Michael 234 Jackson, Millie 234 Jacquet de la Guerre, Elisabeth 68, 108 Jagger, Mick 146, 148, 234, 239 Janáček, Leoš 131 Jankélévitch, Vladimir 133 Jardine, Alice 83 Jauß, Hans Robert 171 John Braham’s Female Theater Orchestra 124 Johnson, Louise 184 Jones, Grace 234 Joplin, Janis 151, 238 Junker, Carl Ludwig 260, 263–265, 268 Kafka, Franz 139 Kampa’s Ladies Orchestra 124 Kaplan, E. Ann 283 Keil, Charles 182–184, 188 Keiser, Reinhard 29 Klimowsky, Ernst W. 25 Klinger, Barbara 222 Koldau, Linda Maria 101 Koskoff, Ellen 181 Kramer, Lawrence 215, 220 Kretzschmar, Hermann 55 Kreutziger-Herr, Annette 13f., 17, 87f. Kühn, Dieter 168, 175 Lacan, Jacques 226, 230, 291 Ladies (Amateur) Orchestra 126 Ladies Band (Audobon) 122 Ladies Cornet Band 120 Ladies Elite Orchestra 124 Ladies’ Military Band (Boston) 122 Ladies’ Talma Band 122 Lafayette Ladies Orchestra 126 La Mara → Lipsius, Marie Lara, Adelina de 176 Larsen, Nella 186f. Led Zeppelin 146, 280 LeFanu, Nicola 70
Namenregister
Leibniz, Gottfried Wilhelm 110 Lennon, John 152 Lennox, Annie 15, 227, 232–236, 238– 240 Leonidas 114f. Leopold, Prinz von Anhalt-Köthen 66f. Lewinsky, Ignaz 264 Liberace 234 Lipsius, Marie 165 Liszt, Franz 25, 254 Little Richard 234 Litzmann, Berthold 164f., 175 Lobe, Johann Christian 248 Loeffler, Charles 121 Logier, Johann Bernhard 266 Longy, George 121 Loo, Jacob van 270 Looser, Devoney 191 Lucille Dixon Orchestra 128 Ludwig II., König von Bayern 67 Ludwig XIV., König von Frankreich 68, 108 Lulu 131, 213 Lutyens, Elisabeth 70 Lynch, Leigh 121 Machaut, Guillaume de 199 Maconchy, Elisabeth 70 Madame de Montespan (Françoise Athénaïs de Rochechouart de Mortemart) 108 Madame Rentz’s Female Minstrels 126 Madonna 15, 37, 146, 233f., 274 Maeterlinck, Maurice 133, 139, 142 Mahler, Gustav 44, 82 Mahler-Werfel, Alma 82 Maiden Voyage 129 Mainwaring, John 159 Marcellus 136 Margarete von Österreich 106 Maria Antonia Walpurgis 107 Maria de Medici 68, 106 Maria Theresia, Kaiserin von Österreich 68f. Maricle, Sherrie 129 Marley, Bob 153 Marty, Emilia 131
305
Namenregister
Marx, Adolf Bernhard 75, 242, 246–248, 250 Massenet, Jules 54 Matt, Peter von 136, 138, 140 Mattheson, Johann 29, 159 McCartney, Paul 152 McClary, Susan 11–13, 22, 37f., 48–56, 59–61, 82f., 228, 233, 236, 240 McCrea, Brian 60 McRobbie, Angela 11, 14, 144–146, 284f. Mead, Margaret 66 Medtner, Nikolai 67 Megadeth 277 Melchior, Lauritz 224 Mélisande 131, 133–143 Melodears 127 Mendelssohn, Fanny → Hensel, Fanny Mendelssohn, Felix 54, 69, 171, 244–246, 251, 254f. Menuhin, Yehudi 69 Metallica 277, 281 Middleton, Richard 15, 226–228 Mieuyx, Leora 126 Millot, Claude-François- Xavier 92 Mimi 130 Minerva 112 Minnie, Memphis 184 Molza, Tarquinia 68 Monge de Montaudan 92 Monroe, Marilyn 297 Monteverdi, Claudio 37f., 40f. Morsch, Anna 165 Mötley Crüe 276f. Motte-Haber, Helga de la 24 Mozart, Wolfgang Amadeus 26, 54, 72, 130, 168, 250 Mulvey, Laura 222–224 Murray, Pauline 153 MX Machine 278 Na Bieiris de Romans 91 Na Carenza 91, 95 Na Castelloza 91, 94 Na Clara d’Anduza 91 Na Felipa 91 Na Guillelma de Rosers 91
N’Alaisina Yselda 91 N’Almuc de Castelnou 91 Na Lombarda 91 Na Maria de Ventadorn 91–93 Na Tibors de Sarenom 91 National Symphony Orchestra of Panama 128 Nattiez, Jean-Jacques 243 N’Azalais de Procairagues 91 Neefe, Christian Gottlob 27 Neukirch, Benjamin 109, 111 Neuls-Bates, Carol 13 New York Philharmonic Orchestra 128 Nikolaus Joseph von Esterházy 67 N’Iseut de Capion 91 Nostre-Dame, Jehan de 92 Novalis 33 Oakes, Kitty 129 Obdam, Jacob van 112 Oliveros, Pauline 70f. Orchestral Club of Boston 121, 126 Ormondo 114f. Osmond, Donny 149 Page, Jimmy 146 Palmide 114f. Pamina 130 Paradis, Maria Theresia 68 Patmore, Coventry 205 Pearl Jam 288 Pelléas 134–136, 138 Pendle, Karin 13 Penetration [Band] 153 Perry, Elisabeth Israels 191 Perry, Mark 152 Pet Shop Boys 234 Pfeil, Fred 284 Philadelphia Orchestra 120, 128 Phil Spitalnys All-Girl Orchestra 127 Plant, Robert 146, 148 Pleyel, Marie 263f. Poison 276f., 284 Pöllnitz, Henriette Charlotte von 112 Poly Styrene 153 Presley, Elvis 148, 234, 236, 281 Price, Leontyne 292
306 Prochaska, Eleonore 261 Purcell, Henry 40 Quatro, Suzi 152 Rahn, John 242 Raimbaut d’Aurenga 91 Raimbaut de Vaqueiras 93 Raimon de las Salas 91 Rainey, Ma 184, 187 Rainier, Priaulx 70 Ray, Amy 288 Raynourard, François-Juste-Marie 92 Redding, Otis 232 Reed, Lou 152 Reinmar 92 Reißiger, Carl 32 Rezillos 153 Ricci, Ruggiero 69 Rich, Adrienne 38, 45f., 59 Richard, Keith 239 Ridgefield Symphony Orchestra 128 Rieger, Angelica 90 Rieger, Eva 10–13, 21–23, 99, 116, 144, 213 Riemann, Hugo 97, 242 Rilke, Rainer Maria 92, 142 Robinson, Jackie 125 Robinson, Lillian 77 Robinson, Paul 223 Rochester Philharmonic Orchestra 128 Rode-Breymann, Susanne 14, 99–101, 117 Rolland, Romain 160 Rolling Stones 152, 280 Rosen, Judith 12, 64f., 144 Rotenburg, June 128 Roth, David Lee 276f. Rotten, Johnny 152 Rousseau, Jean-Jacques 103f., 266 Rue, Pierre de la 106 Runaways 152 Rusch, Bob 193 Said, Edward 49, 55 Saliers, Emily 288 Salome 130, 214–218, 220–222, 225
Namenregister
Salzedo, Carlos 67 Scheidler-Spohr, Dorette 261 Schenker, Heinrich 55, 242f. Scher, Steven Paul 197 Schleicher-Krähmer, Caroline 261 Scholes, Robert 38, 41f. Schönberg, Arnold 12, 37, 82 Schoonjans, Maria Regina 111 Schopenhauer, Arthur 35 Schroeder-Devrient, Wilhelmine 165 Schubert, Franz 26, 72, 167–169, 178, 254 Schumann, Clara, geb. Wieck 22, 33, 69, 103, 161, 164f., 168–170, 175–178, 197 Schumann, Marie 164 Schumann, Robert 15, 27f., 32f., 69, 103, 130, 165, 175, 197, 199, 201–212, 267 Schütz, Heinrich 40 Schwarzer, Alice 9 Schweitzer, Albert 29 Scobie, Ingrid Winther 191 Scranton Symphony Orchestra 128 Seeger, Charles 69 Seeger, Peggy 69 Seeger, Pete 69 Sholle, David 274 Sias, Laura → Bohle, Laura Sibelius, Jean 54, 68 Silverman, Kaja 221, 223, 279 Siouxsie Sioux 153 Slayer 277 Smith, Bessie 181, 184f., 187, 230 Smith, Patti 234 Smyth, Ethel 68 Snider, Dee 283 Solie, Ruth A. 13, 15, 48f., 130, 197f. Solomon, Maynard 54 Sophie Charlotte, Herzogin von Braunschweig-Lüneburg, Königin von Preußen 106, 109–114 Sophie Elisabeth, Herzogin von Braunschweig-Wolfenbüttel 99, 107 Soul, David 149 Spaulding, Georgie Dean 120 Spaulding’s Concert Company 120 Spitalny, Evelyn 127 Spitalny, Phil 127
307
Namenregister
Spitta, Philipp 159f. Stäblein, Bruno 50 Steffani, Agostino 111 Stein, Leon 31 Stevens, Cat 151 Stewart, Dave 227, 232, 235, 238, 240 Stewart, Rod 149 St. Louis Symphony Orchestra 128 Straight Ahead 129 Strauß, Johann 123 Strauss, Richard 82, 130, 214, 217f., 221 Subotnik, Rose Rosengard 56 Suppé, Franz von 123 Symphony of the New World 128 Szymanowska, Maria 69 Tate, Phyllis 70 Teagarden, Jack 126 Teagarden, Norma 126 Tick, Judith 13, 179 Tharpe, Rosetta 232 Theweleit, Klaus 274 Thin Lizzy 148f. Tipton, Billy 129 Toland, John 111 Tompkins, Jane 82 Tosi, Antonio 112 Towers, Joan 56 Travolta, John 149 Treitler, Leo 12, 49f., 88 Tschaikowsky, Pjotr 37, 54 Undine 140–143 Unseld, Melanie 13f., 17, 130–132, 218 Ustvedt, Hans Jacob 35 Valentino, Rudolph 234 Vandervelde, Janika 39, 46
Van Halen 276 Vaschalde, Henry 92 Vedder, Eddie 288 Verdi, Giuseppe 224 Vill, Susanne 115 Wagner, Richard 31, 54, 67, 213, 224 Wallach Scott, Joan 96 Walser, Robert 16, 272–274 Weinlich, Josephine 123 Weiss, Julius 268 Weissweiler, Eva 168, 175f. Whiteley, Sheila 146 Wieck, Clara → Schumann, Clara Wiener Damenorchester 118, 123 Wilde, Oscar 130 Wilhelmine von Bayreuth 99f., 106f., 112–115 Williams, Mary Lou 128 Willis, Paul 226 Wise, Sue 281 Wittenhorst-Sonsfeld, Dorothea Luise von 113 Wittgenstein, Ludwig 142 Woolf, Virginia 77, 199, 201 Wunder, Heide 101 Wunderle, C. (Ehefrau) 120 Wunderle, C. (Ehemann) 120 Yancey, Estelle »Mama« 14, 179–194 Yancey, Jimmy 192f. Young, Irma 126 Young, Lester 126 Yswabella 91 Zenta, Hermann → Holmès, Augusta Žižek, Slavoj 226
Sachregister
Adel 14, 91f., 94, 101, 260, 266 Afroamerikaner(in), afroamerikanisch, schwarz 14, 77, 79, 124, 126–129, 152, 179–190, 231f., 236, 239, 298 Aggression, Gewalt 43–47, 52, 55, 59, 83, 135, 282 aggressiv 31, 41, 145, 148f., 152f., 230f. Alter 10, 229 Kindheit 26–28, 33, 64, 69, 95, 99, 101, 108, 112, 114f., 121, 176, 209, 266, 294–297 Adoleszenz, Jugend 99, 144, 152, 154, 175, 230, 234, 266f., 276, 296–298 Erwachsenenalter 183, 192, 288, 297f. Alter, hohes 175, 192f. Analyse, musikalische 12, 14–16, 30, 49, 74, 81, 83, 153, 155, 170, 197–255, 272 Andere, das 14, 42, 48, 50, 66, 77f., 80, 84, 199, 212, 240, 282 Androgynie, androgyn 146, 231, 235, 238f., 273, 276–279, 282–284 androzentrisch, phallozentrisch 12, 24, 29, 42 Apartheid 117, 129 Archiv 22, 96, 172 Ästhetik, ästhetisch, ästhetisieren 10, 30, 34, 37, 55, 62, 74, 92, 162, 164, 223, 227, 243f., 249, 264f., 272 Autonomieästhetik 170 Aufführung / Darbietung, musikalische 16, 33f., 47, 70f., 87f., 105, 110–112, 114f., 122, 124, 144, 186, 190, 224, 239, 272 Aufklärung 41, 46, 103 Ausbildung → Bildung Ausschluss, sozialer 48, 55 Ausschluss von Frauen 12, 21–23, 64f., 67, 73, 75, 87, 103, 119, 160, 273, 278 Autobiografie → Biografie Autorschaft 12, 14f., 60, 74, 88, 161, 165–169, 174, 177f., 186, 190, 213, 215, 217, 220–222, 225–227, 241 Avantgarde 71, 280
Ballade 145, 149, 152, 230–233, 238 Ballett 68, 112, 124 Barock 27, 41, 68, 114 Beat 152 Bildung, Ausbildung, Erziehung, Pädagogik 21, 32, 53, 65, 67, 70, 96, 99–101, 103–105, 107f., 112f., 122, 125f., 148, 161, 165, 177, 179, 243f., 261, 263, 265f., 271, 292 Biografie, Autobiografie, Biografik 12, 14, 91f., 106, 115, 117f., 159–194, 260f. Blick, männlicher / weiblicher 16, 201, 214f., 217, 220, 222–225, 235, 237, 259, 263–265, 269, 271, 281 Blues 14, 148, 179–194, 228, 230f., 233, 239 Bordell 52, 100 Bürgertum, Bürger(in), bürgerlich 14, 16, 32, 34, 87f., 100f., 104, 130f., 140, 160, 172, 179, 186, 197, 213, 215, 259–271, 292 Chor 64, 124, 217, 298 Club, Tanzlokal 128, 148, 154 Cock Rock 145f., 148–151, 230 Code, Codierung 12, 38, 52f., 83, 88, 104, 140, 278, 281, 285 Country 153 Cross-Dressing, Travestie 56, 214, 220, 234, 236, 273, 288 Cultural Studies 144f., 226f., 272 Damenkapelle → Frauenensemble Darbietung → Aufführung Dekonstruktion 9, 49, 73 180, 259, 287 Determination, Determinismus 24, 287, 291 Dichotomie 15, 22, 48–50, 74, 140, 145, 242, 281 Dichter(in) 38, 59, 87, 89–93, 95, 203, 211, 277 Dirigent(in), dirigieren 34, 68, 116, 121, 126, 128
Sachregister
Disco 231f., 238 Diskriminierung 49, 116 Diskurs, diskursiv 10f., 21–23, 37f., 41, 43, 53, 58, 60f., 81–83, 93, 130–132, 163, 174, 186f., 212, 224, 226, 228– 233, 236, 242f., 260, 272–274, 285, 288, 295 Dualismus 48–50, 58, 61, 74, 84, 88, 145f., 213, 248 Ehe, Ehefrau / Ehemann 69, 91, 95, 100, 108f., 112, 114, 121f., 126, 128f., 175f., 183, 189, 192f., 197, 204–208, 261, 264 elektronische Musik / Klänge 70, 116, 214, 233, 272 Emanzipation 34f., 115 Emotion, Emotionalität, Gefühl 28f., 32, 35, 40, 54f., 58f., 62, 113, 115, 138, 149f., 188, 193, 201, 205, 210, 213, 230, 237, 264, 269, 278, 294 Empowerment, Selbstermächtigung 189, 281 Ensemble 14, 116–119, 122–129 Erotik, erotisch 39–43, 51, 55, 94, 131, 165, 230–232, 240, 271, 279 Erziehung → Bildung Essentialismus 15, 38, 42, 50, 58, 61f., 160, 220, 228, 241f., 259 Ethnizität, Ethnie, ethnisch 10, 23, 48, 50, 61, 63, 73, 96, 180, 229, 232, 236, 292 Ethnografie 180f., 272 Interview 180, 189f., 193, 278, 281f. Ethnologie 64, 77f., 181, 284 Fan 145f., 149–151, 154, 224, 273–284 Feminismus, Feministin, feministisch 9f., 12, 21, 37f., 42, 50f., 54, 61, 65, 73, 76, 83, 87f., 131, 146, 151, 160, 179–181, 191f., 197, 211, 213, 228, 231, 233, 236f., 239–241, 259, 279f. femme fatale, femme fragile, femme enfant 131, 133, 137, 139f., 213 Festival 92, 127–129, 180 Film 67, 87, 116, 155, 168, 175, 214f., 222–224, 235 Filmmusik 22, 30, 66 Folk-Musik 153, 180, 190
309 Frauenbewegung 65, 68 Frauenensemble (Damenkapelle, Frauenband, Frauenorchester etc.) 14, 117f., 122–129, 152 Frauenforschung 11, 13, 15, 36, 65, 77, 117, 170, 197, 290 Freizeit 145, 153–155 Funk 231 Gattung → Genre Gefühl → Emotion Geist, geistig 25f., 29, 31–33, 35, 48f., 58, 62, 103f., 113, 162, 191, 220, 251 Gender 9–16, 23, 37, 42, 48, 50, 52–55, 58, 60–63, 72, 82, 88, 94, 96, 102–104, 107, 114, 117f., 130, 144–146, 159, 179f., 183, 190–193, 213–215, 226– 238, 241, 259, 272–286, 287, 290–292, 295–299 Gender-Bending 233f., 237 Gender-Forschung, Gender Studies 9–14, 16f., 21, 23, 37, 48, 58, 65, 87f., 101, 118, 130f., 144, 161, 170, 179, 198, 259, 273f., 287, 290 Gender-Mainstreaming 9, 76–79, 102 Genie, genial 32, 54, 84, 159f., 164, 243 Genre, musikalisches, Gattung 15, 29, 34, 89f., 96f., 100, 115, 150, 190, 226f., 230, 272, 274, 276, 280, 283 Gesang → Stimme Geschichtsschreibung → Historiografie Geschlechterdifferenz 55, 61, 81, 103, 244, 279, 298 Polarität der Geschlechter 29–31, 34, 230, 232, 287 Geschlechterrolle 15, 22, 31, 42, 52f., 66–68, 93, 103, 114, 131, 140, 147, 176f., 183–186, 188, 191, 193f., 197, 209, 217, 230f., 233–235, 238f., 268, 282, 295 Geschlechterstereotyp 15, 25, 50, 53, 117, 125, 146, 148, 183, 189, 227f., 230, 232, 235, 238, 269, 282, 288 Geschlechtlichkeit 145, 147, 149f., 152– 155 Gesellschaft 9f., 30f., 35–38, 52, 68, 72f., 76, 82, 91, 94f., 97, 101–104, 112, 130, 139f., 142, 172, 183, 191f., 197f., 209,
310 213, 228, 237, 243, 263, 265f., 273, 275, 277, 280, 283f. Gewalt → Aggression Gospel 230f., 233 Gregorianik 49f., 87f. Handeln, kulturelles → Praktiken, kulturelle Häuslichkeit, häuslich 104, 151, 185, 197, 209, 264 Hautfarbe 127, 227, 236 Heavy Metal 47, 240, 272–286 Hegemonie 259, 278, 282, 285 Held(in), heroisch 22, 28, 109, 114, 148, 160, 166f., 191, 199–201, 203f., 209f., 230 Hip Hop, Rap 180, 190, 231 Historiografie, Geschichtsschreibung 13, 24, 41, 50, 59f., 77, 87f., 97f., 100, 105, 160, 164f., 167, 170, 173, 179, 197, 271 Hof 68, 70, 88–91, 94, 97f., 99f., 104–115 Hofdame 105, 111–114 House 231 Hosenrolle 130, 288 Hysterie 210, 276 Ideologie 12, 24, 30f., 33, 36, 43, 52, 61–63, 75, 77, 83, 93, 97, 151, 153– 155, 187, 191, 204, 222, 232, 163, 275, 279, 298 Ikonographie 148, 172, 187, 210 Inszenierung 15f., 159, 272, 279, 288 Instrumente, Instrumentalmusik 9, 14–16, 31f., 49, 53, 100, 105, 111, 113, 116–122, 124–126, 128, 148, 165, 169, 197, 218f., 221, 232, 259–271, 277f. Becken 120 Blechblasinstrumente 49, 120, 122, 126 elektrische Instrumente 232 Fagott 123 Flöte (auch Piccolo) 49, 114, 123, 126, 179 Gitarre 148, 193, 239f., 265, 277f., 280 Glasharmonika 265 Harfe 49, 67, 120, 123, 165, 264f., 267 Harmonium 123 Holzblasinstrumente 120, 126 Horn 123
Sachregister
Keyboard 278 Klarinette 122f., 125, 126 Klavier 26, 58, 69, 74, 81, 126, 165, 176, 193, 199, 204, 206, 210, 225, 247f., 250, 254f., 263, 265–267 Kontrabass 123–125, 218–221 Kornett 120–122, 124, 126 Laute 265 Oboe 123, 125 Posaune 123, 126, 225 Saxophon 121, 126, 129 Schlagzeug 49, 120, 123, 125f., 129 Tuba 125 Ukulele 126 Viola (Bratsche) 120, 123, 126, 218 Violine (Geige) 109, 119, 123, 126f., 165, 218 Violoncello 126, 238, 247, 251, 253, 260f., 264, 268–271 Interpret(in) → Musiker(in) Jazz 78, 116–118, 121, 126–129, 190 Jugend → Alter Kadenz 38, 40f., 43–45, 52, 202, 236, 249, 254f. Kanon 12, 21f., 37f., 48, 72–84, 87f., 113, 167, 169, 180f., 197, 243 Kapitalismus 31, 43, 154f., 284f. Karneval 109, 111, 283 Kastrat 112, 221f., 225, 234 Kindheit → Alter Kirche 40, 64, 67, 70, 101, 232 Klasse → Schicht, soziale Kloster 100f. Komponist, Komponistin 12, 15, 21f., 25, 29, 32f., 40, 51, 53, 58, 60, 64f., 67–76, 81, 87f., 99f., 105–107, 109, 111, 114, 116, 121, 123, 128–130, 159f., 162– 165, 167–170, 172, 175f., 197, 201– 204, 206, 211, 213f., 218, 221, 224f., 245f., 249, 255, 260, 288 Kontext, Kontextualisierung 14, 22, 38, 62, 82f., 87, 97, 130–134, 163, 170, 173, 182, 190f., 197, 209, 212, 229, 233f., 236f., 240, 242, 273, 278, 283, 285
Sachregister
Konsum → Rezeption Körper, Körperlichkeit 12, 16, 22, 32f., 37, 48, 53, 117, 148f., 151, 154, 185f., 217f., 220, 223f., 227, 232, 234, 259f., 263, 265–269, 272, 277, 280, 287, 290– 294, 296–299 Kulturgeschichte, Kulturwissenschaft 98, 109, 118, 130f., 226, 243, 288 Kunst, bildende 33, 59, 97, 108, 130, 140, 173 Kunstwissenschaft 144 Lehrer(in) 27, 79, 99, 121, 125, 128, 176 lesbisch → Sexualität Librettist(in) 114, 130, 224f. Libretto 115, 214f., 225 Liebe 34, 67, 88, 94f., 97, 111f., 114f., 134, 136–141, 143, 145, 148–150, 152, 197, 203, 209, 233, 238, 240, 273 Lied 15, 26, 33, 40, 69f., 82, 90–93, 96f., 112, 124, 130, 152, 169, 197, 199–212, 233, 238, 251, 295, 296 Literatur 41–43, 58, 68, 78f., 104f., 110, 130, 137f., 140, 159f., 172f., 190, 197, 205, 230, 265 Gedicht, Lyrik, Poesie 14, 38, 45, 59, 88–91, 93f., 96f., 108, 140, 177, 199, 201–203, 205f., 233 Roman 91f., 165, 168, 173, 175, 186f., 213, 227 Literaturwissenschaft, Literaturkritik 32, 37, 53, 60f., 72, 83, 96, 98, 131, 163, 170, 173f., 197, 213, 227 Macht 10, 38, 43, 60, 67, 73, 81, 93, 95, 108, 111, 113, 131, 150, 153, 184–186, 189, 215, 220f., 223, 232f., 235, 238, 240, 259, 264–266, 273, 275–284, 286, 294 Männerforschung 9, 272, 274 Männlichkeit, männlich 9, 12, 14–16, 22, 25–32, 34, 38, 41, 44, 47–54, 56–59, 61, 65–68, 70f., 74f., 75, 79–82, 84, 87, 89f., 93, 95, 97, 99, 103f., 121, 124, 126–128, 130f., 137, 141, 145–154, 160, 164, 169, 176, 183–185, 192f., 197, 207, 213–215, 217f., 220–225,
311 228, 230–232, 234f., 238, 240, 242f., 248, 259, 265f., 269, 272–286, 287, 297–299 männliche (Gruppen-)Dominanz 103, 145, 147f., 150f., 193f., 265, 273, 280, 298 Männlichkeitsbild 131, 150 Maskerade 129, 215 Matriarchat, matriarchal 231, 233, 239 Mäzenatentum, Mäzen(in), Patronage 66f., 92, 99f., 105f., 111, 116 Medium, medial, intermedial 16, 71, 114, 176, 197, 215, 280, 292 Meister(in), Meisterwerk 12, 69, 87, 103, 105, 109, 111, 121, 144, 169, 243, 269 Militär, militärisch 41, 122, 201, 266 Misogynie 74, 273 Mittelalter 22, 49, 87f., 96–98, 179, 233 Moderne 42, 66, 97, 142, 237 Musiker(in) 12, 54, 69, 72, 88, 99f., 107f., 117–129, 145–148, 150f., 153, 159f., 164f., 168–170, 172, 175, 178–182, 184, 193, 231, 234, 260f., 268, 271– 273, 276–284 Mythos, Mythologie 52, 83, 139, 184– 186, 188 Nachtclub 214 Nation, national 31, 72, 148, 159, 164, 167, 292 Nationalismus 231 Natur 34, 42, 48f., 58, 62f., 104, 154, 165, 232, 238, 244, 268f., 279, 282, 287, 292, 297 Netzwerk 22, 99, 101, 160 Oper 15, 29, 37f., 68, 111, 114f., 124, 130f., 134f., 137–140, 142, 165, 213– 225, 227, 234, 269 Orchester 67, 69, 72, 116, 118–129, 135f., 138, 217, 221, 225, 247, 263, 278 Ort / Raum, kultureller, sozialer 64, 76f., 100f., 107–110, 125, 144f., 185, 188, 190, 203, 206, 223, 225, 229, 278, 291, 293
312 Pädagogik → Bildung Patriarchat, patriarchal 25, 41, 45f., 74, 79, 83, 183, 197, 203f., 206, 208, 210, 215, 230, 232, 236, 259, 263, 271, 273, 275–279, 285 Patronage → Mäzenatentum Performanz, Performativität 15f., 131, 144, 146, 190, 239, 273f., 287–299 phallozentrisch → androzentrisch Phallus, phallisch 43, 51f., 59, 83, 148, 238–240, 282 Politik, politisch 9f., 55, 61f., 77, 96, 101f., 108, 110f., 113, 138, 164, 185, 231–234, 237, 239f., 279f., 292 Postmoderne 49, 226, 241, 284 Praktiken, kulturelle, Handeln, kulturelles 22, 64, 72, 100, 102f., 105, 107, 109, 116–118, 144f., 163, 178, 242, 279, 281, 285, 297f. Professionalität, Musik als Beruf 9, 65, 70f., 74, 81, 107, 117, 119, 125, 160, 169, 184, 188, 244, 261, 277 Pseudonym 68, 74 Punk, Post Punk 152f., 234 Quelle, Überlieferung 13f., 22, 88, 91, 93, 96f., 100f., 159–161, 165–169, 171f., 175, 178, 180, 190–192, 198, 247, 255, 259f., 265 race (Rasse) 50, 58, 61–63, 79, 96 Rap → Hip Hop Rassismus 23, 48, 58, 117, 187, 282 Rationalität, Rationalismus 41, 43, 49–51, 54, 56, 137–139, 232 Raum → Ort Religion, Spiritualität 29, 40, 51, 64, 72, 140, 149, 153, 229f., 233, 271, 291 Rezeption, Konsum 11, 37, 73, 87, 92, 132, 144–146, 150, 155, 168, 175, 177, 197, 222, 224, 244, 273f., 281, 284 Rhetorik 41, 201, 278, 282, 293 Rhythm and Blues 148, 152f. Riot grrrl 146 Rockmusik 14, 87, 144–155, 180, 230– 233, 238–240, 272–286, 288
Sachregister
Rock’n’Roll 148, 152, 276 Romanze 151, 230f., 238, 254f. Salon 74 Sänger(in) 14f., 67, 90, 92, 100, 105, 107, 111, 116, 127, 147, 153, 165, 166, 179, 183–194, 199, 210, 214, 217, 221, 224, 230–233, 239, 276, 280, 283, 288, 292, 298 Schicht, soziale, Klasse 10, 23, 30, 34, 48, 73, 78, 82, 96, 172, 182, 229, 236, 280, 283–285, 298 schwarz → Afroamerikaner(in) schwul → Sexualität Selbstermächtigung → Empowerment Sexismus, sexistisch 14, 23f., 29, 48, 153, 155, 277, 280, 282, 285 Sexualität, sexuell 10, 34, 37f., 40–43, 45, 47, 51f., 55–59, 62, 78, 82f., 131, 145f., 148–152, 154, 180, 184–187, 189, 215, 230, 233–235, 238–240, 265, 268, 275, 277f., 280, 284, 288f., 292, 295 Heterosexualität, heterosexuell 48, 150, 240, 278, 282 Homosexualität, homosexuell, lesbisch, schwul 48, 146, 169, 231, 234, 278, 288f. Sinfonie 26, 30, 33–35, 37f., 44–47, 50, 52, 54–56, 58–60, 72, 82f., 123 Sinnlichkeit 26, 32f., 42, 54, 56f., 131, 185, 229, 263, 265, 284 Sonate, Sonatensatz 15, 22, 25–27, 33f., 44, 52f., 74f., 81, 109, 225, 242–255 Soul 153, 230–233, 236–240 Sozialisation 79, 81, 105, 288 Spiritual 190, 292 Spiritualität → Religion Sport 124f., 150, 265f., 276 Sprache 12, 24, 55, 62, 90, 92, 141, 153, 293–295 Star 145, 148, 151, 153, 235, 239, 277 Stimme, Gesang 15f., 25, 28, 41, 64, 90, 93f., 96f., 107, 109, 111f., 114, 133– 136, 138f., 141f., 148, 153, 165, 183– 186, 188, 190, 192f., 197, 199, 203f.,
Sachregister
206, 213–225, 227, 232, 236–240, 268, 288f., 291–299 Streichquartett 245, 247, 254f. Tanz 9, 33, 53, 88, 100, 104f., 112, 127, 145, 148, 154, 265f., 276 Techno 232f., 238 Teenybop 145, 148–152, 154, 230 Travestie → Cross-Dressing Trobador 87–98 Trobairitz 14, 87–98 Überlieferung → Quelle Varieté, Vaudeville-Theater 123–126, 184, 186, 234 Virtuosität, Virtuose, Virtuosin 109, 120f., 148, 165, 261, 264f., 268f.
313 Weiblichkeit, weiblich 9, 12, 14–16, 25–28, 31f., 34, 37f., 41f., 45, 49f., 52–58, 61, 64, 66, 73–75, 77, 79–84, 88, 90, 95, 97f., 104, 106, 113, 122, 131, 139f., 145, 147, 149, 151–154, 165, 177, 185, 187f., 191f., 207, 213– 215, 217f., 220–225, 230, 233f., 237– 239, 242f., 248, 259, 264f., 268f., 273f., 276, 278f., 281–284, 287, 291, 297 weibliche Gruppenmitglieder 145f., 150f., 153, 164f., 169, 181, 184, 192, 209, 215, 231, 235, 239, 273, 277, 280–282 Weiblichkeitsbild 14, 30, 130f., 235, 273 Witwe 100, 106, 108f., 112, 176
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