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German Pages [354] Year 2022
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Otium Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße
Herausgegeben von Elisabeth Cheauré, Gregor Dobler, Monika Fludernik, Hans W. Hubert und Peter Philipp Riedl Beirat Barbara Beßlich, Christine Engel, Udo Friedrich, Ina Habermann, Richard Hunter, Irmela von der Lühe, Ulrich Pfisterer, Gérard Raulet, Gerd Spittler, Sabine Volk-Birke
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René Waßmer
Muße in der Metropole Flanerie in der deutschen Publizistik und Reiseliteratur um 1800
Mohr Siebeck
IV René Waßmer, geboren 1994; Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Freiburg i. Br.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im Teilprojekt R2 „Urbane Muße um 1800. Flanerie in der deutschen Literatur“ des SFB 1015 „Muße“; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Reinhart-Koselleck-Projekt „Narratologie diachron“; 2021 Promotion.
Diese Publikation entstand im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 1015 Muße (Teilprojekt R2: Urbane Muße um 1800. Flanerie in der deutschen Literatur, 2017–2020) und wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 197396619 – SFB 1015 gefördert. Bei der vorliegenden Monografie handelt es sich um die überarbeitete Dissertation des Verfassers, die im Juli 2020 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereicht und im April 2021 ebenda verteidigt wurde. ISBN 978-3-16-161121-6 / eISBN 978-3-16-161122-3 DOI 10.1628/978-3-16-161122-3 ISSN 2367-2072 / eISSN 2568-7298 (Otium) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger aus der Minion gesetzt, von Beltz Graphische Betriebe in Bad Langensalza auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Umschlagabbildung: Giuseppe Canella (1788–1847): Théâtre de l’Ambigu-Comique am Boulevard Saint-Martin in Paris, 1831. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei. Printed in Germany.
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Danksagung Genauso wie es den in dieser Studie behandelten Schriftstellerinnen und Schriftstellern unmöglich ist, die Metropolen London und Paris in ihrem ganzen Umfang zu beschreiben, fällt es auch mir schwer, all jenen mit wenigen Worten angemessen zu danken, die zur Entstehung dieser im Sommer 2020 an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg eingereichten und im Frühjahr 2021 verteidigten Dissertation auf ganz verschiedene Weise beigetragen haben. Der größte Dank gebührt dem akademischen Lehrer, in dessen Hauptseminar zur deutschen Geschichtsdramatik vor inzwischen sieben Jahren meine wissenschaftliche Reise begonnen hat: Prof. Dr. Peter Philipp Riedl. Er hat nicht nur diese Arbeit mit seinem unendlichen Wissen zur (urbanen) Muße und zur deutschen Literaturgeschichte auf eine wertschätzende, begeisternde und faszinierende Weise betreut, die ihresgleichen sucht. Er hat mir vor allem auch in vielen Dingen ermöglicht, als Wissenschaftler und als Persönlichkeit zu reifen und zu wachsen. Die vielen Jahre, in denen wir in unterschiedlichen Konstellationen erst in der Geschäftsstelle des SFB 1015, dann im Teilprojekt R2 „Urbane Muße um 1800. Flanerie in der deutschen Literatur“ zusammengearbeitet haben, habe ich stets ganz besonders zu schätzen gewusst. Prof. Dr. Monika Fludernik möchte ich herzlich für ihre fundierte Zweitbetreuung, ihre zahl- und hilfreichen inhaltlichen und redaktionellen Ratschläge sowie für die Übernahme des Zweitgutachtens danken. Darüber hinaus hat sie mir gleich zweimal unerwartet ermöglicht, die Arbeit an diesem Buch konzentriert weiterführen zu können; auch meine Dankbarkeit dafür lässt sich nur schwer in Worte fassen. Prof. Dr. Dieter Martin danke ich für seine wertvollen Hinweise zur Vorgeschichte der deutschen Großstadtliteratur um 1800, für die Übernahme des Drittgutachtens sowie für seine instruktiven Ratschläge hinsichtlich der redaktionellen Überarbeitung. Diese Dissertation wäre nicht ohne den beeindruckenden Forschungsverbund des SFB 1015 Muße denkbar gewesen. Seine inspirierende und kollegiale Arbeitsumgebung hat den institutionellen Rahmen für meine wissenschaftliche Arbeit geschaffen, die von den unzähligen Diskussionen, Veranstaltungen, Reisen und gemeinsamen Erfahrungen enorm profitiert hat. Besonders zu danken habe ich dabei dem Vorstand des SFB für die Aufnahme dieses Buches in die Otium-Reihe des SFB sowie für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses.
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Danksagung
Von den vielen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern aus dem SFB 1015, in deren Umfeld ich mich stets sehr wohl gefühlt habe und die hier alle einer dankenden Erwähnung wert wären, möchte ich Johannes Litschel herausheben. In kaum zählbaren Gesprächen mit ihm war ich immer wieder herausgefordert, meine T hesen und meine Vorgehensweise in einem intellektuellen, freundschaftlichen und heiteren Austausch zu verteidigen. Dies hat mir enorm geholfen, meine eigenen Gedanken zu sortieren und meine Ideen in die Form zu bringen, in der sie heute vorliegen. Susanne Mang und Tobias Stäbler vom Verlag Mohr Siebeck danke ich für ihre professionelle und schnelle Arbeit an meinem Manuskript. Dass die Arbeit an einer Dissertation leichter fällt, wenn man über ein privates Umfeld verfügt, das einen fortwährend unterstützt, ermutigt und vor allem einmal auf andere Gedanken bringt, durfte auch ich in den letzten Jahren erfahren. Stellvertretend für viele andere seien an dieser Stelle Saab Arzdorf, Armin Bauer, Marcel Buuck, Marcel Dürnberger, Julian Groenwoldt, Eike Reuter, Niklas Rüther und Konstantin Sinn genannt. Dieselbe Unterstützung durfte ich stets durch meine Familie erfahren. Meinen Eltern Hubert und Sabine Waßmer, meiner Schwester Adina Waßmer, meinen Großmüttern Inge Brotz und Margarete Waßmer, meiner Tante Heidi Brotz sowie Hans „Götti“ und Silvia Jehle danke ich daher ganz besonders für ihren Beistand. Auf ziemlich genau halber Strecke zu diesem Endergebnis habe ich die Frau kennen und lieben gelernt, die mir mit ihrer Zuneigung, ihrer liebevollen Art und ihrem Vertrauen auch in schwierigen Zeiten die nötige Kraft gegeben hat: Heike Berndt. Ihr, meiner Familie und meinen Freunden sei dieses Buch ge widmet. Bad Krozingen, im November 2021
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Inhaltsverzeichnis Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
I Einleitung:
etropolen ohne Muße? M Die deutsche Großstadtliteratur um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
II Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole: Konzeptuelle Grundlagen 1. 2. 3.
Schreckbild Stadt – Wunschbild Land: Lichtenbergs London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Flanerie als Form urbaner Muße: Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Literarisierte Raumzeitlichkeit: Zum Verhältnis von beobachtender und beobachteter Muße . . . . 46
III Historische und literarische Kontexte der deutschen Großstadtwahrnehmung um 1800 4. Deutsche Fremd- und Selbstwahrnehmung: London und Paris im Zeichen einer doppelten Fremdheit . . . . . . 67 5. Über das ‚richtige‘ Wahrnehmen in Städten: Literarische Traditionen und Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 6. Intertextualität: Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris und seine Wirkung auf die deutschen Großstadtberichte um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
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Inhaltsverzeichnis
IV Berichte aus London und Paris: Beobachterfiguren zwischen Teilnahme und Beobachtung 7. Georg Friedrich Rebmann: Der politische Reisende und die Pariser Alltagskultur 7. 1. Erzählschwierigkeiten: Das fragmentarische Prinzip . . . . . . . . 121 7. 2. Wahrnehmungsmodi des Bruchstückhaften: Brief, Tagebuch und Tableau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 7. 3. Unpolitische Spaziergänge eines Revolutionsreisenden? Rebmann erkundet Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 8. London und Paris I: Korrespondentenberichte zwischen Impression und Information 8. 1. Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Zeitschrift . . . . 8. 2. Leitbilder und Neubesetzungen: Die Korrespondenten des „Tableau mouvant“ und ihre Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. 3. Autopsie und Enzyklopädie: Literarische Spaziergänge durch London und Paris . . . . . . . . . 8. 4. Bilder der Großstadt: Tableau, Panorama und theatrale Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . 9. London und Paris II: Raumzeitlichkeiten urbaner Muße zwischen gesellschaftlicher Funktionalisierung und individuellen Freiräumen 9. 1. Naturverwandte Rückzugsräume: Ambivalente Spaziergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 2. Freuden aller Art: Vergnügungsorte als Mußeorte? . . . . . . . . . 9. 3. Exkurs: Wien, die geheime Hauptstadt der Flaneure um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 4. Weibliche Flanerie um 1800? Bericht eines Londoner Morgens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. 5. Heterotopien der Zeit: Beobachtungspotenziale jenseits des Alltags . . . . . . . . . . . . . . .
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10. Der ‚andere‘ Arndt in der Metropole: Ein Franzosenhasser liebt Paris 10. 1. .Gespiegelte Welt: Arndts Guckkasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 10. 2. .Gesellige Muße und nationale Bilder: Vergnügungsorte und Grünanlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 10. 3. Das Zentrum der „Welt“: Ein Tag auf den Boulevards . . . . . . 281
Inhaltsverzeichnis
IX
11. Das Schauspiel der Metropole: August von Kotzebues Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804 11. 1. Ein deutscher Kleinstädter in der Großstadt: D . er Reisebericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 11. 2. Szenen einer Metropole: Kotzebues Straßenbilder . . . . . . . . . 297
V Zusammenfassung: Muße in der Metropole – Fünf Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . 309 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
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I Einleitung: Metropolen ohne Muße? Die deutsche Großstadtliteratur um 1800 Als Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) und Karl August Böttiger (1760–1835) im Jahr 1798 das erste Stück ihres Journals London und Paris (1798–1815)1 herausgeben, begründen sie dies sowohl mit der historischen Bedeutung als auch mit der literarischen Popularität der im Titel genannten Metropolen: London und Paris haben sich, wie die zwey ältern Söhne des Kronos, in die Welt getheilt, und bevölkern nun das Reich des dritten Bruders um die Wette durch ihren Zwist. Alle übrigen Hauptstädte Europens sind freywillig in die zweyte Ordnung zurückgetreten. […] Was Wunder, daß nun auch auf diese zwey Mittelpuncte, um welche sich in entgegengesetzter Richtung alle Welthändel drehen, alle, die Augen zu sehen, und Hände zu schreiben haben, ihren Blick eben so unverwandt heften, als jene Königscandidaten den ersten Sonnenstral bewachten, dessen frühester Anblick dem Späher eine Crone brachte. (London und Paris I, 1798, 3 f.)
Mit bewunderndem und ironischem Unterton konstatieren die Herausgeber einen kultur- und literaturgeschichtlichen Befund, der den Ausgangspunkt für diese Studie bildet. Am Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert expandieren wenige literarische Genres wie die deutsche Reise- und Großstadtliteratur.2 Zahlreich reisen Schriftstellerinnen und Schriftsteller in die zwei taktgebenden Metropolen ihrer Zeit, in die Weltstädte an T hemse und Seine. Und in genauso großer Zahl verfassen sie Berichte über ihre Reisen, über ihre Aufenthalte vor Ort, vor allem aber über die urbanen Erfahrungen, mit denen sie in London 1 Zitiert nach Friedrich Justin Bertuch u. a. (Hg.), London und Paris, 30 Bde., Halle/ Rudolstadt/Weimar 1798–1815. Hinzuweisen ist auf ein hilfreiches Digitalisat der Universität Bielefeld, das die Zeitschrift zugänglich macht (URL: http://ds.ub.uni-bielefeld.de/ viewer/!toc/2238505/1/-/, letzter Abruf 19.07.2021). Zwecks vereinfachter Zitation sind die Bände nachfolgend von I bis XXX durchnummeriert, während bei den Originalausgaben mit der Umbenennung 1811 sowie der Neuauflage 1815 (Kap. 8. 1) jeweils wieder neu mit der Zählung begonnen wurde. In den Zitaten wurden für diese Studie dahingehend Vereinheitlichungen vorgenommen, dass typografische Spezifikationen wie Sperrsatz, Fettdrucke etc. generell als Kursivdrucke wiedergegeben werden. 2 Vgl. Erich Kleinschmidt, „Die ungeliebte Stadt. Umrisse einer Verweigerung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 12,48 (1982), 29–49, 35.
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I Einleitung
und Paris konfrontiert sind.3 Soziologische Faktoren, etwa die soziale Verbreiterung des Reisens im späten 18. Jahrhundert, ebenso wie literarische Aspekte, beispielsweise die wachsende Alphabetisierung, ein allgemein expandierender Literaturmarkt oder zunehmend entstehende Lesegesellschaften4, führen dazu, dass Reise- und Großstadtberichte um 1800 einen erheblichen Anteil des deutschen Literaturmarkts ausmachen.5 Obwohl das Reisen und dessen Literarisierung weiterhin vornehmlich das Privileg wohlhabenderer und gebildeter Gesellschaftsschichten ist, Frauen zudem sehr häufig von dieser Praktik ausgeschlossen bleiben6, ist die deutsche Reise- und Großstadtliteratur dabei von einer enormen Heterogenität geprägt. Die vor mehr als fünfzig Jahren von Karl Riha aufgestellte Forderung, „statt vom ‚Motiv der Stadt‘ sollte man besser […] von einer Vielfalt von Motivsträngen unterschiedlicher Herkunft und Prägung sprechen“7, bestätigt ein kursorischer Blick auf einzelne Zeugnisse der deutschen Großstadtliteratur um 1800. Manche reisen aus politischen Gründen, verfassen wie Joachim Heinrich Campe (1746–1818) in Briefen aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben (1790), Friedrich Johann Lorenz Meyer (1760–1844) in Fragmenten aus Paris im IVten Jahr der Französischen Republik (1797) oder Joseph Görres (1776–1848) mit Resultaten meiner Sendung nach Paris im Brumaire des achten Jahres (1799) aus3 Zur Geschichte der deutschsprachigen Reiseliteratur vgl. nach wie vor Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (Suhrkamp T aschenbuch 2097), Frankfurt am Main 1989; Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Sonderheft 2), Tübingen 1990. 4 Zu den soziologischen und literarischen Gesichtspunkten siehe Werner Faulstich, Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830) (Die Geschichte der Medien 4), Göttingen 2002; Etienne François, „Alphabetisierung und Lesefähigkeit in Frankreich und Deutschland um 1800“, in: Helmut Berding/Etienne François/Hans-Peter Ullmann (Hg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution (Edition Suhrkamp 1521), Frankfurt am Main 1989, 407–425. 5 Schätzungen gehen davon aus, dass allein bis 1800 rund fünf- bis sechstausend Reiseberichte auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen und ca. 5 % des Gesamtmarktes ausmachen, vgl. Johannes Bilstein, „Die Bildungsreise“, in: Gabriele Uerscheln/Matthias Winzen (Hg.), Reisen. Ein Jahrhundert in Bewegung, Baden-Baden/Köln 2009, 131–153, 136. 6 Zur weiblichen Reiseliteratur um 1800 u. a. Sabine Holländer, „Reisen. Die weibliche Dimension“, in: Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung (Aufklärung und Europa), Berlin 1999, 189–207; Annegret Pelz, „‚Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?‘ Das ‚reisende Frauenzimmer‘ als eine Entdeckung des 18. Jahrhunderts“, in: Wolfgang Griep (Hg.), Sehen und Beschreiben. Europäische Reisen im 18. und frühen 19. Jahrhundert (Eutiner Forschungen 1), Heide 1991, 125–135. 7 Karl Riha, Die Beschreibung der „Grossen Stadt“. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur (ca. 1750 – ca. 1850) (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 11), Bad Homburg v. d. H. 1969, 18. Ähnlich fordert dies für die Reiseliteratur der Zeit allgemein Ralph-Rainer Wuthenow, „Reiseliteratur in der Zeit der Aufklärung“, in: Hans-Friedrich Wessels (Hg.), Aufklärung. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch (AthenäumTaschenbücher 2177), Königstein/Taunus 1984, 161–182, 172.
Metropolen ohne Muße?
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führliche Schriften über die wechselhafte Zeitgeschichte. Andere setzen ihren Schwerpunkt bei nationalen Beobachtungen, wollen den stereotypen Charakter Englands oder Frankreichs erkunden, wie zum Beispiel Johann Wilhelm von Archenholz (1743–1812) in England und Italien (1785) oder Friedrich Schlegel (1772–1829) in Reise nach Frankreich und Pariser Neuigkeiten (1803). Und wieder andere sind aus beruflichen Gründen unterwegs, so Jacob Christian Gottlieb von Schäffer (1752–1826) mit Briefen auf einer Reise durch Frankreich, England, Holland und Italien in den Jahren 1787 und 1788 (1794), der einen Prinzen der T hurn und Taxis als Arzt durch halb Europa begleitet. Die „Zielvorstellungen und Motive für das Reisen selbst“8 variieren wie die literarischen Absichten der Großstadtberichte. Sie können „Selbstpräsentation und Abenteuer“ spiegeln, genauso aber „Unterhaltung und Zerstreuung, […] Lern- und Ausbildungszwecke oder […] allgemeinere Bildung“ zum Darstellungsziel haben.9 Die Reise- und Großstadtliteratur, die „wohl zu keiner Zeit in ihrer langen Geschichte eine solche Blüte […] wie am Ausgang des 18. Jahrhunderts“10 erlebt, kann gleichermaßen „wirtschaftliche und literarische Interessen, Erholungs- und Bildungszwecke, Neugier auf andere Gesellschaft und auf technische Zivilisation“11 ausdrücken. Diese Heterogenität hat auch für die verwendeten literarischen Formen Bestand. Briefe sind ebenso Ausdruck der literarischen Großstadterfahrung wie monografische Reiseberichte oder periodische Publikationen.12 Die angeführten Beispiele, die selbstverständlich nur einen kleinen Auszug aus der diversen deutschen Großstadtliteratur um 1800 bieten können, vereinigen sich trotz ihrer vielfältigen Rahmungen und Zielsetzungen in einer gemeinsamen „ästhetischen Herausforderung“.13 Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller suchen nach literarischen Wegen, ihre Aufenthalte in den zeitge 8 Wuthenow,
„Reiseliteratur in der Zeit der Aufklärung“, 172. Hans-Wolf Jäger, „Zum Frankreichbild deutscher Reisender im 18. Jahrhundert“, in: Gerhard Sauder/Jochen Schlobach (Hg.), Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert, Bd. 1 (Annales Universitatis Saraviensis. Philosophische Fakultät 19), Heidelberg 1985, 203–219, 207. Zur Heterogenität der Reiseliteratur siehe darüber hinaus vor allem Uwe Hentschel, Studien zur Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Autoren – Formen – Ziele (Studien zur Reiseliteratur- und Imagologieforschung 4), Frankfurt am Main u. a. 1999. 10 Klaus Laermann, „Raumerfahrung und Erfahrungsraum. Einige Überlegungen zu Reiseberichten aus Deutschland vom Ende des 18. Jahrhunderts“, in: Hans Joachim Piechotta (Hg.), Reise und Utopie. Zur Literatur der Spätaufklärung (Edition Suhrkamp 766), Frankfurt am Main 1976, 57–97, 78. 11 Wolfgang Kaschuba, „Aufbruch in die Welt der Moderne. Bürgerliches Reisen nach 1800“, in: Klaus Beyrer (Hg.), Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600–1900, Karlsruhe 1992, 222–235, 226. 12 Dazu ausführlicher Albert Meier, „Textsorten-Dialektik. Überlegungen zur Gattungsgeschichte des Reiseberichts im späten 18. Jahrhundert“, in: Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung (Aufklärung und Europa), Berlin 1999, 237–245. 13 Siegfried Jüttner, „Großstadtmythen. Paris-Bilder des 18. Jahrhunderts. Eine Skizze“, 9
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I Einleitung
nössischen Weltstädten ästhetisch zu verarbeiten, sie textuell zu verdichten und dem daheimgebliebenen Lesepublikum zu vermitteln.14 Die Reise- und Großstadtberichte stehen stellvertretend für den um 1800 immer stärker werdenden Versuch, das „wilde[] Wissen“15 der Metropolen in eine literarische Darstellung zu verformen. Sie geben Antworten auf die Frage, „welche literarischen Mittel geeignet wären“, den „historisch junge[n] Erfahrungsraum“ der Großstadt „kritisch und profund darzustellen“.16 Vor allem die Herausforderung, die „Fülle der Situationen und Eindrücke, d[as] diffuse[] Erscheinungsbild urbaner Wirklichkeit“17 zu verarbeiten, gerät zu einem Leitmotiv der Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dies gehen sie historisch betrachtet in einer Zeit an, in der Städte wie London und Paris einen „qualitative[n] Sprung“18 vollziehen. Dass sich „um die Wende zum 19. Jahrhundert […] in nie gesehener Geschwindigkeit Normen und Werte, Einstellungen und Ziele“19 verschieben, gilt in besonderem Maße für die Metro polen London und Paris. Es geht der deutschen Großstadtliteratur um 1800 darum, ästhetische Antworten zu liefern, wie städtische Betriebsamkeit, Reiz überflutung, Hektik, Menschenmassen, soziale Vielfalt und zeitgeschichtliche Entwicklungen idealerweise literarisch zu verarbeiten wären. Im Mittelpunkt steht die „Konstitution eines Diskurses“20, der einen Gegenstand textuell darstellt, der aufgrund seiner quantitativen wie qualitativen Breite schwer darstellbar scheint. Diese Herausforderung verschärft sich um 1800 für die Berichterstatterinnen und Berichterstatter umso mehr, da die Metropolen London und Paris einem enormen Wachstum unterliegen und einen „bis dahin quantitativ wie qualitativ unbekannten Grundzug der Stadtentwicklung“21 erleben. in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55,2 (1981), 173–203, 203. 14 Auf die enorme Bedeutung der Vermittlungsfunktion verweist insbesondere Tilman Fischer, Reiseziel England. Ein Beitrag zur Poetik der Reisebeschreibung und zur Topik der Moderne (1830–1870) (Philologische Studien und Quellen 184), Berlin 2004, 51. 15 Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewußtsein der Stadt, Wien 1993, 49. 16 Angelika Corbineau-Hoffmann, „An den Grenzen der Sprache. Zur Wirkungsgeschichte von Merciers ‚Tableau de Paris‘ in Deutschland“, in: Arcadia 27 (1992), 141–161, 153. 17 Heinz Brüggemann, „Aber schickt keinen Poeten nach London!“ Großstadt und literarische Wahrnehmung im 18. und 19. Jahrhundert. Texte und Interpretationen (Rororo 7928. Kulturen und Ideen), Reinbek bei Hamburg 1985, 12. 18 Angelika Corbineau-Hoffmann, Brennpunkt der Welt. Großstadterfahrung und Wissensdiskurs in der pragmatischen Parisliteratur 1780–1830 (Studienreihe Romania 6), Biele feld 1991, 11. 19 Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt am Main 2004, 97. 20 Corbineau-Hoffmann, Brennpunkt der Welt, 21. 21 Peter Schöller, „Die Großstadt des 19. Jahrhunderts. Ein Umbruch der Stadtgeschichte“, in: Heinz Stoob (Hg.), Die Stadt. Gestalt und Wandel bis zum industriellen Zeit-
Metropolen ohne Muße?
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Von der Forschung ist die deutsche Großstadtliteratur um 1800 vielfach beleuchtet worden. Sowohl zu London, Paris als auch zu weiteren europäischen Großstädten um 1800 liegen insbesondere überblicksartige Studien vor, welche die literarische Verarbeitung der Städte in den Blick nehmen und in ihrer Vielseitigkeit darstellen. So haben etwa Tilman Fischer (Reiseziel England) und Michael Maurer (Aufklärung und Anglophilie in Deutschland) für London, Angelika Corbineau-Hoffmann (Brennpunkt der Welt), T homas Grosser (Reiseziel Frankreich) und Karlheinz Stierle (Der Mythos von Paris) für Paris oder Linda Maria Pütter (Reisen durchs Museum) für italienische Städte zusammenfassende Darstellungen vorgelegt, welche die deutsche Großstadtliteratur um 1800 in ihrer Breite besprechen.22 Genauso ist darauf hinzuweisen, dass neben den auf einzelne Städte und Länder beschränkten Forschungsbeiträgen weitergreifende Betrachtungen vorliegen. Unter anderem eruieren der DFG-Symposien-Sammelband Rom – Paris – London, Heinz Brüggemanns „Aber schickt keinen Poeten nach London!“ oder Susanne Hausers Der Blick auf die Stadt die deutsche Großstadtliteratur (um 1800) ebenso überblicksartig wie sie Lektüren zu einzelnen Texten anbieten.23 Vielen dieser Forschungsbeiträge, die sich um zahlreiche Spezialstudien ergänzen ließen24, ist gemeinsam, dass sie für die deutsche Großstadtliteratur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein vergleichsweise einseitiges Narrativ formulieren. Sie heben darauf ab, die deutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller seien in und mit den Metropolen überfordert. Die Beobachterinnen und Beobachter würden – unter anderem, da es um 1800 in den deutschen Einzelstaaten keine Metropole wie London oder Paris gibt – vor allem auf die Sinnesüberforderung, auf die Hektik, die nicht zu bewältigende Akkumulation von Eindrücken und die zusehende Dynamik der Großstädte verweisen. Die „Entmächtigungserfahrung gegenüber der objektiven Realität Großstadt“25 sowie die alter (Städtewesen 1), Köln/Wien 1985, 275–313, 276. Für die Entwicklung seit dem 17. und 18. Jahrhundert vgl. Edith Ennen, „Mitteleuropäische Städte im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Wilhelm Rausch (Hg.), Die Städte Mitteleuropas im 17. und 18. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 5), Linz 1981, 1–20. 22 Corbineau-Hoffmann, Brennpunkt der Welt; Fischer, Reiseziel England; T homas Grosser, Reiseziel Frankreich. Deutsche Reiseliteratur vom Barock bis zur Französischen Revolution, Opladen 1989; Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 19), Göttingen/Zürich 1987; Linda Maria Pütter, Reisen durchs Museum. Bildungserlebnisse deutscher Schriftsteller in Italien (1770–1830) (Germanistische Texte und Studien 60), Hildesheim/Zürich/New York 1998; Stierle, Der Mythos von Paris. 23 Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London; Susanne Hauser, Der Blick auf die Stadt. Semiotische Untersuchungen zur literarischen Wahrnehmung bis 1910 (Reihe Historische Anthropologie 12), Berlin 1990; Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen (Germanistische Symposien-Berichtsbände 8), Stuttgart 1988. 24 Beispielhaft sei die Heine-Studie von Margit Dirscherl, Heinrich Heines Poetik der Stadt (Heine Studien), Stuttgart 2016, angeführt. 25 Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 19.
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„Auseinandersetzung mit der (Un‑)Abbildbarkeit der Stadt“26 seien die prägenden Diskurse der Zeit. Das Versagen herkömmlicher Erzählmuster „gegenüber einer städtischen Lebensdynamik, die die Sinne allseitig und anhaltend beansprucht[]“27, sei ebenso maßgebend wie die „wachsende, kaum überbrückbare Diskrepanz zwischen der Zeitstruktur des Großstadtlebens und seiner individuellen Verarbeitbarkeit“.28 Wenig Platz sehen die einschlägigen Studien hingegen für das, worum es in dieser Studie gehen soll: für Formen urbaner Muße, für eine „Freiheit von temporalen Zwängen, die mit der Abwesenheit einer unmittelbaren, die Zeit beschränkenden Leistungserwartung verbunden“ ist, für eine „Freiheit von den Zwängen der Zeit“.29 Stattdessen verweisen die bisher vorliegenden Studien zur deutschen Großstadtliteratur meist darauf, solche Erfahrungen seien den Berichten der Schriftstellerinnen und Schriftsteller fremd, im urbanen Trubel würden sie sich dem städtischen Geschehen gegenüber als hilflos und fremdbestimmt inszenieren. Dieser Befund verbindet sich eng mit der kulturgeschichtlich durchaus intuitiven und seit der Antike kursierenden Vorstellung, dass Lebensformen der Muße insbesondere dem ländlichen Raum, dem ruralen otium zuzurechnen seien. Demgegenüber steht das Bild der mußefeindlichen Stadt, die das negotium urbaner Hektik, Betriebsamkeit und Zweckrationalität verkörpert.30 Ziele der Studie Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass zwei jüngst erschienene Publikationen – die wie die vorliegende Monografie dem Freiburger SFB 1015 Muße entstammen – ein differenzierteres Bild zeichnen. Zum einen ist aus systematischer Perspektive der von Peter Philipp Riedl, Tim Freytag und Hans W. Hubert herausgegebene Sammelband Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen
Heinrich Heines Poetik der Stadt, 45. Ingrid Oesterle, „Bewegung und Metropole. Ludwig Börne, ‚der gegenwärtigste aller Menschen, die sich je in den Straßen von Paris herumgetrieben haben‘?“, in: Helmut Koopmann/Martina Lauster (Hg.), Vormärzliteratur in europäischer Perspektive II. Politische Revolution – Industrielle Revolution – Ästhetische Revolution (Studien zur Literatur des Vormärz 2), Bielefeld 1998, 179–206, 180. 28 Grosser, Reiseziel Frankreich, 370. 29 Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl, „Einleitung“, in: Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft (Otium 5), Tübingen 2017, 1–17, 1. 30 Dieses kulturgeschichtlich traditions- und einflussreiche Muster beschreiben u. a. T homas Klinkert, Muße und Erzählen. Ein poetologischer Zusammenhang. Vom „Roman de la Rose“ bis zu Jorge Semprún (Otium 3), Tübingen 2016; Peter Philipp Riedl, „Die Kunst der Muße. Über ein Ideal in der Literatur um 1800“, in: Publications of the English Goethe Society 80,1 (2011), 19–37; Anna Karina Sennefelder, Rückzugsorte des Erzählens. Muße als Modus autobiographischer Selbstreflexion (Otium 7), Tübingen 2018. 26 Dirscherl, 27
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zu nennen.31 In einem historisch wie disziplinär breiten Portfolio weisen die dort vertretetenen Autorinnen und Autoren nach, dass sich Erfahrungen der Muße, des freien Verweilens in der Zeit, mit dem Phänomen der Urbanität als „charakteristische Lebensweise, die vorwiegend in städtischen Räumen geprägt wird und ihrerseits auch städtische Räume prägt“32, engführen lassen. Besonders rekurrieren sie darauf, dass topische städtische Attribute wie Hektik, Stress, Betriebsamkeit und Zweckrationalität nicht per se verhindern, in größter urbaner Verdichtung Muße zu erfahren oder darzustellen.33 Darüber hinaus ist für das spezielle T hema der deutschen Großstadtliteratur um 1800 die Monografie Gelassene Teilnahme. Formen urbaner Muße im Werk Goethes von Peter Philipp Riedl bedeutend.34 Riedl eruiert in seiner Studie, inwieweit verschiedene Schriften Goethes (Italienische Reise, Das Römische Carneval, Römische Elegien, Vene zianische Epigramme) literarische Ausprägungen urbaner Muße beinhalten. Mit seiner eingehenden Analyse zeigt er exemplarisch auf, dass das Paradigma urbaner Muße für die deutsche Großstadt- und Reiseliteratur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts fruchtbar ist und differenziert insbesondere in den Ausführungen zur Italienischen Reise (1816/17) verschiedene Unterformen, die zwischen kontemplations- und erlebnisorientierter Muße oszillieren.35 Die nachfolgenden Ausführungen zur deutschen London- und Parisliteratur um 1800 nehmen diese neueren Forschungsansätze auf, spezifizieren sie allerdings für diejenige Literatur, die deutsche Reisende um 1800 über die britische und französische Hauptstadt verfassen. Die Studie will erstmalig nachweisen, dass Teile der deutschen Großstadtliteratur um 1800 aus London und Paris durch ein literarisches Muster gekennzeichnet sind, das nach bisher gängiger Forschungsmeinung erst deutlich später auftritt und als idealtypische Form
31 Peter Philipp Riedl/Tim Freytag/Hans W. Hubert (Hg.), Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen (Otium 19), Tübingen 2021. 32 Peter Philipp Riedl/Tim Freytag/Hans W. Hubert, „Einleitung“, in: Peter Philipp Riedl/Tim Freytag/Hans W. Hubert (Hg.), Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen (Otium 19), Tübingen 2021, 1–16, 4. 33 Besonders hinzuweisen ist auf den systematischen Aufsatz von Peter Philipp Riedl, „Urbane Muße – Muße in der Stadt. Perspektiven eines Forschungsfelds“, in: Peter Philipp Riedl/Tim Freytag/Hans W. Hubert (Hg.), Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen (Otium 19), Tübingen 2021, 17–52, der einschlägig darlegt, wie breit das Feld urbaner Muße und ihrer möglichen Forschungsgebiete ist. 34 Peter Philipp Riedl, Gelassene Teilnahme. Formen urbaner Muße im Werk Goethes (Otium 17), Tübingen 2021. Die Monografie ist wie die vorliegende Studie im von 2017 bis 2020 geförderten Teilprojekt R2 „Urbane Muße um 1800. Flanerie in der deutschen Literatur“ des SFB 1015 Muße an der Universität Freiburg entstanden. Einen Einblick in die gemeinsame Forschungsarbeit gibt überdies die Webseite Urbane Muße um 1800. Flanerie in der deutschen Literatur (URL: https://www.urbane-musse.uni-freiburg.de/, zuletzt abgerufen am 19.07.2021). 35 Vgl. Riedl, Gelassene Teilnahme, bes. 118–156.
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urbaner Muße verstanden werden kann: das der Flanerie.36 Im Mittelpunkt stehen dafür einerseits Reiseberichte von drei Autoren, die aus Paris berichten: Georg Friedrich Rebmanns (1768–1824) Holland und Frankreich, in Briefen geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris im Jahr 1796 und dem fünften der französischen Republik (1797/98) und Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris (1797/98), Ernst Moritz Arndts (1769–1860) Reisen durch einen T heil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799 (1803/04) sowie August von Kotzebues (1761–1819) Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804 (1804). Hinzu kommt das bereits genannte Journal London und Paris, in dem über mehr als 15 Jahre hinweg verschiedene Korrespondentinnen und Korrespondenten aus den beiden wichtigsten europäischen Metropolen berichten. Die Studie ist mit ihrer Textauswahl einem paradigmatischen Vorgehen verpflichtet. Sie unternimmt nicht den Versuch, die gesamte deutsche Großstadt literatur um 1800 auf Formen literarischer Flanerie hin zu untersuchen, sondern präferiert die Betrachtung einzelner Textzeugnisse, die besonders einschlägig für diesen Motivstrang stehen. Anhand der ausgewählten Texte soll aufgezeigt werden, dass die Flanerie einen integralen Bestandteil der literarischen Großstadtmotive um 1800 bildet und dabei wiederum einzelne Untermotive identifiziert werden können, die zwischen politischen Betrachtungen, nationalen Zuschreibungen und theatralen Formationen changieren. Aus der großen Masse der deutschen Großstadtliteratur um 1800 begründet sich die Textauswahl zweifach. Erstens ist den genannten Darstellungen gemeinsam, dass sie sich in besonderem Maße urbanen Erfahrungen im engeren Sinne widmen. Auch wenn alle drei Reisenden und das Journal je individuelle Beobachtungsschwerpunkte besitzen, sind sie im Versuch vereint, das (alltägliche) städtische Leben in London und Paris – aus einer deutschen Perspektive – zu beleuchten. Geleitet werden die dazugehörigen Analysen stets von einem doppelten Blick. Einerseits ist zu erfassen, wie die Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihre eigenen Erfahrungen, ihre urbanen Wahrnehmungen literarisieren. Andererseits steht zur Debatte, welche Zuschreibungen sie innerhalb dessen an die beobachtete Großstadtbevölkerung vornehmen. Die Überlegungen zur urbanen Muße in deutschen London- und Parisberichten um 1800 sind von einem doppelten Zugriff geprägt, der Beobachten und Beobachtetes in ihrem engen Zusammenspiel besprechen will. Daneben eint die ausgewählten Großstadtberichte das gemeinsame Erzählmuster der Flanerie, das sich unter dem Aspekt urbaner Muße erfassen lässt. Angestrebt ist in dieser Hinsicht ein vierfacher Erkenntnisgewinn durch die Studie. Erstens will sie nachweisen, in welchen verschiedenen Formen Flanerie in deutschen Großstadtberichten Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts 36 Zur Flanerie als idealtypischer Form urbaner Muße siehe auch Riedl, Gelassene Teilnahme, bes. 150–156, 209–238.
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auftritt. Zweitens ist angedacht, die Forschungen zur Kulturgeschichte der urbanen Muße weiter voranzutreiben und anhand der analysierten Texte Kategorien zu entwickeln, die über das T hema der deutschen Großstadtliteratur um 1800 hinaus fruchtbar sein können. Drittens geht dies damit einher, das literaturgeschichtliche Bild der deutschen London- und Parisberichte um 1800, besonders ihrer divergierenden Großstadtmotive, zu schärfen. Und viertens sollen die ersten drei Ziele daraus resultieren, Texte literaturwissenschaftlich in den Blick zu nehmen, die bisher entweder peripher oder unter anderen Gesichtspunkten als ihrer ästhetischen Gestaltung betrachtet wurden.37 Flanerie um 1800? Stand der Forschung Mit ihrem vierfachen Vorsatz betritt die Studie vor allem hinsichtlich des Leitbegriffs der ‚Flanerie‘ literaturwissenschaftliches Neuland. Was literarische Formen der Flanerie um 1800 betrifft, ist sich die Forschung bislang weitgehend einig, dass sie nicht existieren. Stattdessen orientieren sich einschlägige Beiträge zumeist an den T hesen Walter Benjamins (1892–1940), die den Beginn der Flanerie in das im Second Empire durch Baron Haussmann (1809–1891) umgestaltete Paris sowie in die Lyrik Charles Baudelaires (1821–1867) datieren. Die „Kunst des Flanierens“ habe sich „in den 1830er und 1840er Jahren in Paris ausgebildet“.38 Baudelaire habe ihr literarisch „als erster die bis heute gültigen Züge verlieh[en]“39, und es sei „der Flaneur“, der „Stadterfahrung, und das heißt in der historischen Situation um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris, die Erfahrung der großstädtischen Masse inkarniert“.40 Für die deutsche Literatur sind teilweise noch stärkere Einschränkungen zu lesen. Matthias Keidel argumentiert beispielsweise, „von spezifisch deutschen Flaneuren ist meines Erachtens erst nach 1900, insbesondere im Berlin der Weimarer Republik zu sprechen“.41 37 Dass eine Vielzahl deutscher Reise- und Großstadtberichte noch nicht tiefergehend analysiert ist, hat schon Conrad Wiedemann, „‚Supplement seines Daseins‘? Zu den kulturund identitätsgeschichtlichen Voraussetzungen deutscher Schriftstellerreisen nach Rom, Paris, London seit Winckelmann“, in: Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen (Germanistische Symposien-Berichtsbände 8), Stuttgart 1988, 1–20, 1, bemerkt und auch rund 30 Jahre später trifft dies zu. 38 Willi Bolle, Physiognomik der modernen Metropole. Geschichtsdarstellung bei Walter Benjamin (Europäische Kulturstudien 6), Köln/Weimar/Wien 1994, 361. 39 Angela Hohmann, „Der Flaneur. Gedächtnis und Spiegel der Moderne“, in: Die Horen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik 45,4 (2000), 123–145, 126. 40 Dieter Groh, „Kompensationsmodell – Historismusbegriff – Flaneurtypus“, in: Françoise Gaillard/Hans Robert Jauß/Helmut Pfeiffer (Hg.), Art social und art industriel. Funktionen der Kunst im Zeitalter des Industrialismus (T heorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 77), München 1987, 48–52, 51 f. 41 Matthias Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft
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Und Leonhard Fuest hält für Baudelaire, geradezu als Verbindung der beiden Argumente, fest, „ohne den Blick auf diese Poesie sind zentrale Flanerien in der deutschen Literatur nur unzulänglich nachvollziehbar“.42 Verbunden ist dies mit der T hese, die deutschen Großstadtbeobachterinnen und -beobachter würden um 1800 „noch alle Gewohnheit und Selbstverständlichkeit mit der Großstadt“43 vermissen lassen. Man müsse daher festhalten, „der innerstädtische Weg des Flaneurs zur Moderne ist den Deutschen verschlossen, sie bleiben zum größten Teil Außenstehende, Reisende“.44 Auffällig ist, dass sich viele der Studien, die dergestalt argumentieren, einer sozialhistorischen Lesart bedienen, die der Flanerie als literarischer Wahrnehmungsform gegenübersteht.45 Karlheinz Biermann konstatiert etwa, beim Flaneur handle es sich um einen „sozialen Typus […], dessen Geschichte in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begann“.46 Darüber hinaus wird die Flanerie einerseits als Praktik eines von der Entmachtung bedrohten Adels verstanden, sodass „die ursprüngliche Entstehungszeit der […] Flanerie […] im Paris der 1820er und 30er Jahre“ zu verorten sei, „als unter den Flaneuren Mitglieder des politisch entmachteten Adels verstanden wurden.“47 Vor allem auch der „Müßiggang des Dandys“48 wird immer wieder als entscheidendes Entstehungskriterium genannt und verweist auf eine festgelegte soziale Herkunft und Einordnung. Demgegenüber findet sich die Lesart, die Flanerie sei eine emanzipa-
536), Würzburg 2006, 9. Auch in den älteren Studien von Eckhardt Köhn, Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933, Berlin 1989, und Rüdiger Severin, Spuren des Flaneurs in deutschsprachiger Prosa (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 5), Frankfurt am Main 1988, rückt die deutschsprachige Flanerie erst für das mittlere und späte 19. Jahrhundert als analytische Leitkategorie in den Blick. 42 Leonhard Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800, München 2008, 103. 43 Severin, Spuren des Flaneurs, 73. 44 Günter Oesterle, „Paris. Einführendes Referat“, in: Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen (Germanistische Symposien-Berichtsbände 8), Stuttgart 1988, 345–360, 347. 45 Auf die maßgebliche Differenz von (sozial-)historischem und literarischem Flaneur weist Christiane Schneider, „Von der Schildkröte zur Datenautobahn. Verlaufsformen und Funktionen des Flaneurs“, in: Jörg Döring/Christian Jäger/T homas Wegmann (Hg.), Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert, Opladen 1996, 152–166, 152, hin. 46 Karlheinz Biermann, „Vom Flaneur zum Mystiker der Massen“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 2 (1978), 298–315, 298. 47 Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure, 13. Keidel vertieft das sozialgeschichtliche Verständnis überdies mit der T hese, „daß es weder in Berlin noch in anderen deutschen Großstädten die sozialhistorische Figur des Flaneurs gegeben hat. Als eine Figur, die das Straßenbild prägt, ist der Flaneur in Deutschland bis heute unbekannt“ (27). 48 Köhn, Straßenrausch, 29.
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tive bürgerliche Praktik, mit der das Bürgertum versuche, den aristokratischen Lebensstil zu imitieren.49 Neben diesem raumzeitlich und sozialhistorisch klar eingegrenzten Blickfeld hat die Forschung, erneut von Walter Benjamin ausgehend, die marxistische und kapitalismuskritische Rahmung des Flanierens stark ins Visier genommen.50 Vor allem die „Gleichsetzung des Flaneurs mit der Ware“51 wird als maßgebendes Kriterium betont. Dass Benjamin die Passagen samt ihren prunkvollen Warenauslagen in den Mittelpunkt stellt, gilt dabei als schlagender Beweis für diese T hesen.52 Die drei Gesichtspunkte zusammengenommen, ergibt sich ein essentialistisches Bild der Flanerie, das die Forschung bislang in weiten Teilen dominiert hat. Der Flaneur trete erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf und sei dabei sowohl an eine spezifische sozialhistorische Herkunft als auch eine dezidiert ökonomische Perspektive gebunden.53 Gespiegelt ist dies in Walter Benjamins Kurzformel, „den Typus des Flaneurs schuf Paris“54, so wie die „Haltung des flaneurs“ als „Abbreviatur für die politische Haltung der mittleren Klassen unter dem zweiten Kaiserreich“ aufzufassen sei.55 Diese verengende und einseitige Annahme ist zum einen auf die Quellen zurückzuführen, die als Beleg florieren. Walter Benjamin selbst formuliert seine T hesen zum Flaneur maßgeblich ausgehend von vier Schriften: seinem Passagen-Werk (1928/29, 1934–1940), seinen Baudelaire-Studien Über einige Motive bei Baudelaire (1939) und Das Paris des Second Empire bei Baudelaire (1938) sowie Die Wiederkehr des Flaneurs (1929), einer Rezension von Franz Hessels (1880–1941) Spazieren in Berlin.56 Neben Baudelaire und Hessel, die bereits in den Titeln auftauchen, kommen gelegentliche Betrachtungen anderer Literaten Vgl. bes. Bolle, Physiognomik der modernen Metropole, 361–363. Vgl. Wolfgang G. Müller, „Der Flaneur. Begriff und kultureller Kontext“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 54 (2013), 205–225, 217. 51 Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure, 43. Vgl. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. 5,1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1982, 537 f.: „Der Flaneur ist der Beobachter des Marktes. Sein Wissen steht der Geheimwissenschaft von der Konjunktur nahe. Er ist der in das Reich des Konsumenten ausgeschickte Kundschafter des Kapitalisten“. 52 Vgl. Walter Benjamin, „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, in: Benjamin, Abhandlungen, Gesammelte Schriften, Bd. 1,2, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1974, 511–604, 538. Dort postuliert er: „Die Flanerie hätte sich zu ihrer Bedeutung schwerlich ohne die Passagen entwickeln können […]. In dieser Welt ist der Flaneur zuhause“. 53 Vgl. verdichtet Dietmar Voss, „Die Rückseite der Flanerie. Versuch über ein Schlüsselphänomen der Moderne“, in: Klaus Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek bei Hamburg 1988, 37–60. 54 Benjamin, Das Passagen-Werk, 525. Ähnlich in Walter Benjamin, „Die Wiederkehr des Flaneurs“, in: Benjamin, Kritiken und Rezensionen, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1972, 194–199, 195. 55 Benjamin, Das Passagen-Werk, 529. 56 Benjamin, Das Passagen-Werk; Walter Benjamin, „Über einige Motive bei Baudelaire“, in: Benjamin, Abhandlungen, Gesammelte Schriften, Bd. 1,2, hg. v. Rolf Tiedemann, 49
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hinzu, etwa E. T. A. Hoffmann (1776–1822) mit Des Vetters Eckfenster (1822), Edgar Allan Poe (1809–1849) mit T he Man of the Crowd (1840) oder Sören Kierkegaard (1813–1855), den Benjamin als „Flaneur im Zimmer“57 tituliert. Daraus folgt ein ambivalenter Befund. So wie in der Rezeption Benjamins eine raumzeitliche Konstellation – Paris, Baudelaire, mittleres 19. Jahrhundert – präferiert wird, liegt beim Blick auf dessen Ausführungen ein deutlich vielseitigeres Bild vor. Die Forschung hat mehrfach darauf verwiesen, dass „ein geschlossenes Bild des Flaneurs bei Benjamin“ sich „nicht entwerfen“58 lasse und er „keinen klar definierten Begriff des Flaneurs entwickelt“59 habe. Vielmehr sei er „tendenziell bei einer Häufung inhaltlicher Attribute und einer Summe von Assoziationen“ stehengeblieben, „auf deren Folie er gleichwohl Urteile darüber fällt, wer historisch bzw. in fiktionalen Texten als Flaneur zu begreifen ist“.60 Betrachtet man die bislang beschriebenen Argumente der Forschung, lässt sich gar behaupten, dass genau dieser methodisch bedenkliche Kurzschluss in ihr ebenso stattfindet. Diesen einschränkenden und einseitigen Perspektiven stehen zwei Stränge der jüngeren Flanerieforschung gegenüber. Zum einen ist darauf zu verweisen, dass einzelne Beiträge immer wieder ‚Vorläufer‘ der literarischen Flanerien des mittleren und späten 19. Jahrhunderts identifiziert haben. Bereits Benjamin selbst postuliert mit E. T. A. Hoffmann und Edgar Allan Poe zwei solcher Beispiele. Wohl am häufigsten ist daneben der Name Louis-Sébastien Merciers (1740–1814) zu lesen, der mit seinem Tableau de Paris (1782–1788) einen frühen Flaneurstext geliefert habe.61 Elisabetta Niccolini konstatiert beispielsweise, der bei Mercier „spazierende Beobachter“ weise „die Züge des in späterer Zeit vor allem in den Schriften Walter Benjamins und Franz Hessels theoretisch definierten Flaneurs auf“.62 Für die deutsche Literatur wurden ebenfalls vereinzelt Vorläufer identifiziert, so nennt Ralph-Rainer Wuthenow Georg Christoph Lichtenberg (1742– 1799) als ersten deutschen Flaneur und Karlheinz Stierle zählt Ludwig Börne (1786–1837) dazu.63 Wiederholt rückt auch Heinrich Heine (1797–1856) als verFrankfurt am Main 1974, 605–654; Benjamin, „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“; Benjamin, „Die Wiederkehr des Flaneurs“. 57 Benjamin, Das Passagen-Werk, 530. 58 Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure, 41. 59 Müller, „Der Flaneur“, 215. 60 Harald Neumeyer, Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 252), Würzburg 1999, 381. 61 Vgl. etwa Julius Erdmann, „Un moi insatiable du non-moi. Der Mythos des Flaneurs zwischen visueller und mobiler Stadtaneignung“, in: Eva Kimminich/Judith Stein (Hg.), Mythos Stadt – Stadtmythen (Welt – Körper – Sprache 10), Frankfurt am Main 2013, 63–89. 62 Elisabetta Niccolini, Der Spaziergang des Schriftstellers. „Lenz“ von Georg Büchner, „Der Spaziergang“ von Robert Walser, „Gehen“ von T homas Bernhard (M & P-Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung), Stuttgart/Weimar 2000, 27. 63 Vgl. Stierle, Der Mythos von Paris, 217; Ralph-Rainer Wuthenow, „Die Entdeckung der Großstadt in der Literatur des 18. Jahrhunderts“, in: Cord Meckseper/Elisabeth Schraut (Hg.), Die Stadt in der Literatur, Göttingen 1983, 7–27, 21.
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meintlich erster deutscher Flaneur ins Blickfeld, jüngst bei Margit Dirscherl und Robert Krause.64 Für die in dieser Studie untersuchten Texte ist solcherlei insbesondere für die Zeitschrift London und Paris durch Heinz Brüggemann und Christian Deuling65 und für Ernst Moritz Arndts Reisen durch T homas Grosser und Johannes Weber formuliert worden.66 Flankiert werden diese Hinweise von neueren Quellenfunden, auf die Isabel Vila Cabanes rekurriert. Sie ediert und analysiert eine 1806 in Paris erschienene Flugschrift Le Flaneur au salon ou Mr. Bon-Homme; Examen joyeux des tableaux, mêlé de Vaudevilles sowie ein 1818 erstmals gedrucktes Lied mit dem Titel Le Flâneur.67 Auch dass der Begriff „flâneur“ erstmals 1808 im französischen Wörterbuch Larousse auftaucht, ist ebenso zu nennen wie die Differenzierung in „le flâneur politique […]; le flâneur des constructions […]; le flâneur lettré […]; le flâneur des jardins publics […]; enfin, le flâneur des parades“68, die 1836 im Dictionnaire de la conversation et de la lecture begegnet. Vor diesem Hintergrund moniert Vila Cabanes mit Blick auf die methodischen Problematiken, „Benjamins Beschreibung des Flaneurs“ sei „zu sehr an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort […] gebunden“. Sie fordert daher „eine Neudefinition des Flaneurs […], die sich nicht ausschließlich auf Benjamins Werk beruft und das Spektrum zu untersuchender Texte erweitert“.69 Ähnlich argumentiert der Anglist Wolfgang G. Müller, der sowohl festhält, „ein Forschungsdesiderat […] ist die Aufarbeitung der frühen französischen Tradition des Flaneurs“, als dass er fordert, die englische Literatur müsse stärker einbezogen werden.70 Aus komparatistischer Perspektive ist zudem auf einen Beitrag Jonathan Conlins zu verweisen, der sowohl für die englische Zeitschrift T he Spectator (1711–1714) als 64 Dirscherl, Heinrich Heines Poetik der Stadt; Robert Krause, „‚Dem müßigen Flaneur den angenehmsten Zeitvertreib gewähren‘. Figurationen des Müßiggangs im Heinrich Heines Briefen aus Berlin und Lutezia“, in: Claudia Lillge/T horsten Unger/Björn Weyand (Hg.), Arbeit und Müßiggang in der Romantik (vita activa), Paderborn 2017, 171–182. 65 Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 208; Christian Deuling, „Early Forms of Flânerie in the German Journal London und Paris (1798–1815)“, in: Richard Wrigley (Hg.), T he Flâneur Abroad. Historical and International Perspectives, Newcastle upon Tyne 2014, 94–116. 66 Grosser, Reiseziel Frankreich, 279; Johannes Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers. Ernst Moritz Arndt in Paris (1799)“, in: Wolfgang Griep/Hans-Wolf Jäger (Hg.), Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen (Neue Bremer Beiträge 3), Heidelberg 1986, 241–270, 263. 67 Isabel Vila Cabanes, „Zwei Dokumente der frühen Flaneur-Tradition. Edition und Kommentar“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 54 (2013), 169–204. 68 Ourry, „Flaneur“, in: Dictionnaire de la conversation et de la lecture, Bd. 27, Paris 1836, 196–197, 196. 69 Vila Cabanes, „Zwei Dokumente der frühen Flaneur-Tradition“, 171–173. Vergleichbares fordern Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure, 9; Nora Schmidt, Flanerie in der tschechischen Literatur. Flaneure, Prager Spaziergänger und flanierende Schreibweisen von Jan Neruda bis Michal Ajvaz (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 872), Würzburg 2017, 56. 70 Müller, „Der Flaneur“, 223.
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auch für Restif de la Bretonnes (1734–1806) Les Nuits de Paris ou le Spectateur nocturne (1788) Frühformen der literarischen Flanerie konstatiert.71 Das mehrfach genannte Stichwort des ‚Vorläufers‘ zeigt allerdings, dass diese philologischen und kulturhistorischen Hinweise weiterhin stark von der benjaminschen Prägung ausgehen. Obwohl sie argumentieren, dass auch um 1800 Formen der literarischen Flanerie präsent seien, vergleichen sie diese mit späteren literarischen Zeugnissen, was zu einer impliziten Abwertung der frühen Beispiele führt. Vor diesem Hintergrund sind die literaturhistorischen Beobachtungen für die vorliegende Studie zwar von heuristischem Wert, müssen aber angesichts der Frage, was eigentlich unter ‚Flanerie‘ verstanden werden soll, um den zweiten Strang der jüngeren Flanerieforschung ergänzt werden. Als bedeutender Einschnitt kann Harald Neumeyers um die Jahrtausendwende vorgelegte Studie Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne gelten.72 Er plädiert dafür, die literarische Flanerie losgelöst von einzelnen Textzeugnissen als eine bestimmte literarisierte Bewegungs- und Wahrnehmungsform zu verstehen. Flanieren, definiert er, sei ein vom Zufall bestimmtes Gehen, ein Gehen, das, was das Erreichen eines bestimmten Ortes oder das Durchschreiten eines festgelegten Raumes angeht, als richtungs- und ziellos zu verstehen ist, ein Gehen, das dabei zugleich frei über die Zeit verfügt, Zeit mithin keiner Zweckrationalität unterwirft.73
Ausgehend von dieser grundlegenden Annahme erweise „sich eine spezifische Gehbewegung als Bedingung einer spezifischen Wahrnehmung“.74 Letztere erscheine, führt er weiter aus, als „prinzipiell für alle Erscheinungen offene Wahrnehmungsdisposition“75, in welcher der Flaneur „in seinen Wahrnehmungen, Imaginationen und Erinnerungen von Assoziation zu Assoziation springt“.76 Neumeyer skizziert das analytische Bild eines Flaneurs, der als historisch variabel und offen für ganz verschiedene Formen der Großstadtwahrnehmung gelten kann. Mit seiner formalen Definition steht er zudem Charakterisierungen wie des Flaneurs als „ruheloses, jagend-gejagtes Tier“77 oder der Flanerie 71 Jonathan Conlin, „‚T his Publick Sort of Obscurity‘. T he Origins of the Flâneur in London and Paris, 1660–1780“, in: Richard Wrigley (Hg.), T he Flâneur Abroad. Historical and International Perspectives, Newcastle upon Tyne 2014, 14–39. Weitere Beispiele für Flanerien um 1800 in der englischen Literatur finden sich bei Christian Moser, „Flanieren mit dem Stadtplan? Literarische Peripatetik und die Kartographie der Großstadt“, in: Achim Hölter/Volker Pantenburg/Susanne Stemmler (Hg.), Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als M atrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst (Urbane Welten 1), Bielefeld 2009, 25–49, 42. 72 Neumeyer, Der Flaneur. 73 Neumeyer, Der Flaneur, 11. 74 Neumeyer, Der Flaneur, 12. 75 Neumeyer, Der Flaneur, 99. 76 Neumeyer, Der Flaneur, 252. 77 Heiner Weidmann, Flanerie, Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin, München 1992, 77.
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als „Robinsonade des freien Geistes“78 gegenüber. Sie muten wohlklingend an, sagen über den Gegenstand jedoch wenig aus, indem sie auf unkonkrete Metaphorisierungen zurückgreifen. Neumeyers konzise Definition bleibt ferner nicht rein wahrnehmungstheoretisch beschränkt. Mit Bezügen auf „Ziellosigkeit, frei verfügbare Zeit, Unabhängigkeit von Zweckrationalität“ weist er vielmehr „das Flanieren als eine Form von Muße aus“.79 Neumeyers Argument, die Flanerie sei nicht nur in einer formal bestimmten sowie offenen Fortbewegung und Wahrnehmung begründet, sondern darüber hinaus in einem spezifischen Umgang mit Zeit und Raum, ist höchst relevant für die Fragen urbaner Muße. Das Flanieren besteht demnach nicht allein in einem Wahrnehmungsmodus. Es ist gleichzeitig eingebettet in eine bestimmte Form der Raumzeitlichkeit, die ein freies Verweilen in der Zeit ermöglicht. Insbesondere rekurriert Neumeyers Definition zudem auf die literarische Qualität, insofern er die „literarische[] Figur des Flaneurs“80 herausstellt. Potenziell öffnen sich mit einer solchen formalen Definition des Flanierens neue literaturgeschichtliche Dimensionen, die bisher von der Forschung in den allermeisten Fällen ausgeblendet blieben.81 So kann zum Beispiel Matthias Keidel in seiner Studie Die Wiederkehr der Flaneure ein solches analytisches Konzept für die Literatur der 1970er- bis 1990er-Jahre fruchtbar machen und die dort vertretenen Ausprägungen der literarischen Flanerie elaborieren.82 Auch Nora Schmidt weist mit ihrer jüngst vorgelegten Studie zur tschechischen Flanerie nach, dass die „Flanerie als literarisches Verfahren“ verstärkt in den Blick zu nehmen ist und „das anfangs in der Forschung dominante Interesse an einer historischen und sozialen Rekonstruktion des Flaneurs“83 überwunden werden kann. Angesichts dessen ist umso erstaunlicher, dass Neumeyer selbst in seiner Studie nicht etwa Texte betrachtet, an denen in innovativer Perspektive sein eigenes Analyseinstrumentarium anwendbar wäre. Vielmehr unterzieht er vorzugsweise jene Texte einer Re-Lektüre, welche die Flanerieforschung von Benjamin und Baudelaire ausgehend bereits zuvor behandelt hat. Sein Diktum, „die Figur 78 T homas Steinfeld, „Die Metropole. Letzte Beschwörung“, in: T homas Steinfeld/Heidrun Suhr (Hg.), In der großen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie (Athenäums Monografien 101), Frankfurt am Main 1990, 173–189, 180. 79 Peter Philipp Riedl, „Die Muße des Flaneurs. Raum und Zeit in Franz Hessels Spazieren in Berlin (1929)“, in: Tobias Keiling/Robert Krause/Heidi Liedke (Hg.), Muße und Moderne (Otium 10), Tübingen 2018, 99–119, 99. 80 Neumeyer, Der Flaneur, 388. 81 Auf diese neueren Forschungstendenzen, die das Blickfeld der literarischen Flanerie weiten, geht Moser, „Flanieren mit dem Stadtplan?“, 26, lobend ein. 82 Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure. Er widerlegt damit T hesen, die von einem historisch bedingten Ende des Flaneurs sprechen und beispielsweise von „Franz Hessel, der historisch letzten Gestalt des Flaneurs“, ausgehen, wie Heinz Brüggemann, „Stadt lesen – Stadt beschreiben. Über historische und ästhetische Bedingungen literarischer Stadterfahrung“, in: Literatur und Erfahrung 14 (1984), 32–45, 35. 83 Schmidt, Flanerie in der tschechischen Literatur, 74.
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des Flaneurs in der Geschichte seiner Funktionen zu entziffern, heißt zugleich, die Geschichte der ästhetischen Moderne zu schreiben“84, ist daher zu ergänzen. Literarische Flanerien innerhalb verschiedenster Epochen und Gattungen zu untersuchen, bedeutet gleichzeitig, einen systematischen Blick auf die historisch variable Großstadtwahrnehmung zu werfen – und zwar über die bisher zumeist kanonisierten Grenzen hinaus.85 Nichtsdestotrotz ist Neumeyer mit seiner formal gehaltenen Flaneursdefinition ein entscheidender Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit solchen Wahrnehmungsformen. Dies hängt damit zusammen, dass er betont, wie variabel Großstadtschilderungen der Flanerie sein können: Die Heterogenität dieser Formen und die damit einhergehende Vielfalt von fiktionalen Typen des Flaneurs bestätigen die Eingangsthese, daß der Flaneur […] nicht auf einen Typ oder ein Wesen reduzierbar ist, sondern Gehen und Sehen des Flaneurs als ein ‚offenes Paradigma‘ zu verstehen sind, das seine konkreten Füllungen erst im Kontext der Funktionalisierungen […] erhält.86
Eine solche für diverse Ausprägungen offene, aber dennoch in ihren Ausgangsbedingungen klar umrissene Definition ermöglicht, ganz verschiedene Texte und in ihnen verhandelte Formen der Flanerie miteinander zu vergleichen und aufeinander zu beziehen. Die Vorstellung eines „offenen Paradigmas“ erlaubt jedoch nicht nur, unterschiedliche literarische Stile und T hemen zueinander in Bezug zu setzen. Sie verweist zudem auf eine historisch variable Dimension, die eine essentialistische Festlegung von Flanerie auf bestimmte Orte und Zeiten grundlegend ausschließt. Nimmt man Neumeyers Forderung, den „Flaneur […] nicht auf einen Typ oder ein Wesen“ zu reduzieren, ernst, dann ist die Flanerie primär unabhängig von literarischen Epochen und konkret geschilderten (Groß‑)Städten. Sie erweist sich vielmehr als ein Wahrnehmungsmuster, das in seiner allgemeinsten Definition als urbaner Spaziergang prinzipiell überall dort möglich ist, wo die städtischen Rahmenbedingungen erlauben, überhaupt von einem Flaneur und nicht von einem Spaziergänger in Landschaft oder Natur zu sprechen.87
Der Flaneur, 294. wäre die Position Benjamins konsequenter zu historisieren, wie es jüngst Riedl, „Die Muße des Flaneurs“, tut. 86 Neumeyer, Der Flaneur, 288. Neumeyer selbst weist dies für verschiedene Texte der literarischen Moderne nach. 87 Zur (räumlichen) Differenz von Spaziergang und Flanerie siehe vertiefend Claudia Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und T homas Bernhard, Tübingen/Basel 1999, 13; Gudrun M. König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges. Spuren einer bürgerlichen Praktik 1780–1850 (Kulturstudien 20), Wien/Köln/Weimar 1996; Angelika Wellmann, Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 70), Würzburg 1991. 84 Neumeyer,
85 Demgegenüber
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Das deutet an, dass auch das literaturgeschichtliche Kapitel der Flanerie um 1800 nicht als ‚Geburt‘ solcher Wahrnehmungsformen zu begreifen ist. Es ist vielmehr ein eigenständiger Abschnitt in einer darüber hinausreichenden Entwicklung. Und es zeigt des Weiteren, dass Flanerie als urbane Muße eine „kulturgeschichtliche Größe“ ist und keine „dem geschichtlichen Wandel enthobene, mehr oder wenige festgefügte oder gar einheitliche“88 Wahrnehmungsform. Insofern sie „gegenüber […] kulturellen Kontexten nicht invariant“ ist, sondern „historische Transformationsprozesse und kulturelle Varianz“89 reflektiert, ist die Untersuchung der rahmenden Faktoren besonders relevant. Aufbau der Studie Um nachzuweisen, dass die deutsche Großstadtliteratur um 1800 ein bislang übersehenes literaturgeschichtliches Kapitel der Flanerie im Sinne der neueren Forschungsansätze beinhaltet, geht die Studie in drei Schritten vor. Der Abschnitt zur Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole (II) grenzt das konzeptuelle Feld ein, innerhalb dessen sich die analysierten Texte bewegen. Danach bespricht der Abschnitt zu den Historischen und literarischen Kontexten der deutschen Großstadtwahrnehmung um 1800 (III), durch welche kultur- und literaturgeschichtlichen Rahmungen die untersuchten Berichte maßgeblich geprägt sind. Und abschließend zeigt der Abschnitt zu den Berichten aus London und Paris (IV) anhand der Texte Rebmanns, Arndts und Kotzebues sowie dem Journal London und Paris auf, welche Formen der Flanerie sich in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 identifizieren lassen. Der Abschnitt II mit Kapiteln zu Georg Christoph Lichtenberg, Ludwig Börne und zur literarisierten Raumzeitlichkeit soll dazu dienen, gleichermaßen historisch wie systematisch einzugrenzen, in welchem großstadtliterarischen Feld sich die in Abschnitt IV analysierten Quellen bewegen. Am Beginn dieser Ausführungen steht mit Lichtenbergs Brief aus London an Ernst Gottfried Baldinger (1738–1804) ein Dokument, mit dem sich die grundlegende Disposition der deutschen Großstadtliteratur um 1800 elaborieren lässt (Kap. 1). Anhand seines Briefs soll aufgezeigt werden, was es um 1800 für deutsche Beobachterinnen und Beobachter bedeutet, mit einer Metropole wie London oder Paris konfrontiert zu sein und sie in einem zweiten Schritt in einen literarischen Text zu verformen. Besonderes Augenmerk gilt dem Bild der überforderten Sinne, das Lichtenberg vom urbanen London zeichnet, sowie der kommunikativen Situation, die Metropole einem zuhausegebliebenen Deutschen darzustellen. Ergänzt wird diese Perspektive durch die kulturgeschichtlich bedeutende Gegenüberstellung 88 Burkhard
Hasebrink/Peter Philipp Riedl, „Einleitung“, in: Burkhard Hasebrink/ Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (Linguae & litterae 35), Berlin/Boston 2014, 1–11, 4. 89 Hasebrink/Riedl, „Einleitung“, 1–5.
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von Stadt und Land, von negotium und otium, die in Lichtenbergs Brief ebenfalls eine tragende Rolle einnimmt. Im anschließenden Kapitel zu Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris (1822– 1824) steht demgegenüber eine genauere Ausdifferenzierung des in der Studie verwendeten Flaneriebegriffs im Zentrum (Kap. 2). Insbesondere am Beispiel seiner Ausführungen zu einem Spaziergang durch die Pariser Innenstadt soll aufgezeigt werden, wodurch sich die literarische Wahrnehmungsform der Flanerie in ihren idealtypischen Grundzügen zu erkennen gibt. Eng verbunden ist dies mit einer genaueren Betrachtung der Flanerie als Form urbaner Muße. Angestrebt ist daher, anhand von Börnes Schilderungen nachzuzeichnen, inwiefern sich der urbane Spaziergang als Ausdruck urbaner Muße verstehen lässt und welche Eigenschaften ihn diesbezüglich besonders prägen. Das dritte Kapitel der Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole setzt sich mit dem raumzeitlichen Charakter der Großstadtberichte auseinander (Kap. 3). Durch ausgewählte Textbeispiele aus den in Abschnitt IV untersuchten Quellen wird dargelegt, inwieweit räumliche und zeitliche Konstruktionen in den Texten eine tragende Rolle spielen. Besonders gilt die Aufmerksamkeit der Frage, mittels welches methodischen Gerüsts die Darstellung urbaner Raumzeitlichkeit beleuchtet werden kann. In der Literaturwissenschaft etablierte Raumtheorien wie jene Michail Bachtins und Jurij M. Lotmans werden dabei ebenso einbezogen wie neuere raum- und stadtsoziologische Ansätze, etwa die Martina Löws. Flankiert wird dies durch eine weitere Aufschlüsselung des postulierten Mußekonzepts. Besonders die Unterscheidung zwischen Formen beobachtender und beobachteter Muße steht im Mittelpunkt. Der folgende Abschnitt, Historische und literarische Kontexte der deutschen Großstadtwahrnehmung um 1800 (III), hat daraufhin das Ziel, das zentrale T hema der Studie – die Wahrnehmung und literarische Inszenierung urbaner Erfahrungen – in ihren zeitgenössischen diskursiven und intertextuellen Bezügen genauer zu erfassen. Erstens soll diskutiert werden, inwiefern die Texte durch eine ‚doppelte Fremdheit‘ geprägt sind, die als maßgebend für die deutschen Beobachterinnen und Beobachter um 1800 gelten kann (Kap. 4). Daher setzt sich das Kapitel mit den nationalen und urbanen Bildern auseinander, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts von London und Paris kursieren. Vor allem stellt sich die Frage, ob und in welchem Maße die deutschen Großstadtberichte durch zeitgenössische Stereotype geprägt sind, die sich wiederum in den Darstellungen selbst abbilden. Ergänzt wird diese Perspektive durch den Blick auf die deutsche Selbstwahrnehmung in den Reise- und Großstadtberichten, ohne die das Verständnis der untersuchten Texte defizitär bliebe. Im darauffolgenden Kapitel steht die Frage im Zentrum, inwiefern die deutsche Großstadtliteratur von Debatten ihrer Zeit über das richtige Wahrnehmen während des Reisens sowie poetologischen Vorgaben hinsichtlich dessen geprägt ist, wie über eine Metropole am besten zu berichten sei (Kap. 5). Anhand früh-
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neuzeitlicher Beispiele, etwa Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius (1674/75) oder Der Fliehende Passagier Durch Europa (1698–1702), sowie um 1800 florierender Anleitungen zum ‚richtigen Reisen‘ – sogenannten Apodemiken – soll aufgezeigt werden, wie stark die deutsche Großstadtliteratur dieser Zeit von diesen literarischen Diskursen geprägt ist. Auf diese Weise wird nicht nur der gattungsformale Charakter der Reise- und Großstadtberichte näher eruiert, sondern gleichzeitig ist angedacht, sie literaturgeschichtlich genauer zu verorten. Das dritte und letzte Kapitel der Historischen und literarischen Kontexte ist der durchgehend bedeutenden Intertextualität der deutschen Großstadtliteratur um 1800 gewidmet (Kap. 6). In den Mittelpunkt rückt ein Text, auf den sich sämtliche in Abschnitt IV untersuchten Quellen explizit oder implizit beziehen. Mit Louis- Sébastien Merciers Tableau de Paris soll jene Großstadtdarstellung hinsichtlich der in ihr postulierten Wahrnehmungspräferenzen befragt werden, welche die deutsche Reise- und Großstadtliteratur um 1800 wie kein zweiter Referenztext prägt. Besonders wird zu ermitteln sein, inwieweit seine deutschen Rezipientinnen und Rezipienten einerseits die Wahrnehmungsmuster Merciers aufgreifen, sie aber zugleich für ihre eigenen Großstadtdarstellungen modifizieren. In Abschnitt IV, Berichte aus London und Paris: Beobachterfiguren zwischen Teilnahme und Beobachtung, stehen die einzelnen Großstadtberichte im Mittelpunkt. Die Textanalysen finden unter gemeinsamen Leitfragen statt, die sich rund um die Frage urbaner Wahrnehmung und ihrer Literarisierung gruppieren. Wie gestalten sich die Wahrnehmungsmuster der Berichterstatterinnen und Berichterstatter in den Metropolen? Mit welchen sprachlichen und rhetorischen Mitteln verarbeiten sie ihre Erfahrungen literarisch? In welchem Maße und in welchen Formen sind dabei literarische Stilisierungen erkennbar, die sich als Flanerie und als Form urbaner Muße erfassen lassen? Welche individuellen Schwerpunkte verbinden die Erzählerinnen und Erzähler mit ihren Flanerien? Welche urbanen Orte und Praktiken rücken jeweils besonders in den Vordergrund? Und vor allem wird zu fragen sein: Wie gestaltet sich das Verhältnis von Teilnahme und Beobachtung in den einzelnen Quellen? Sind die Beobachterinnen und Beobachter tendenziell externe und distanzierte Wahrnehmungsinstanzen oder nehmen sie tatsächlich an den urbanen Geschehnissen aktiv teil? Begleitet werden diese Fragen jeweils von einer biografischen und literaturhistorischen Verortung der Texte, sodass die Analysen unmittelbar an die zuvor dargestellten Historischen und literarischen Kontexte anschließen. Den Auftakt der Textanalysen bildet Georg Friedrich Rebmann mit Holland und Frankreich, in Briefen geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris im Jahr 1796 und dem fünften der französischen Republik90 sowie Zeich90 Zitiert
nach Georg Friedrich Rebmann, „Holland und Frankreich, in Briefen geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris im Jahr 1796 und dem fünften der französischen Republik“, in: Rebmann, Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Ritschel, Berlin 1990, 169–385.
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nungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris91 (Kap. 7). Seine zwei Parisdarstellungen sollen auf die Relation von Politik und Urbanität hin befragt werden. Während Rebmann in der Forschung bislang vor allem als politischer, gar als jakobinischer Autor rezipiert wurde, lässt sich anhand seiner beiden Großstadtberichte aufzeigen, dass daneben die städtische Wahrnehmung zu einem Leitmotiv gerinnt. Sowohl für die Briefe als auch für die Zeichnungen soll daher nachgewiesen werden, dass hier Politik und Urbanität ein letztlich unauflösliches Verhältnis miteinander eingehen. Dies wiederum, so die vertretene T hese, verbindet sich maßgeblich mit fragmentarischen Formen der Flanerie, mittels derer Rebmann die Metropole Paris literarisch inszeniert und seine subjektive Wahrnehmung der politischen und urbanen Erfahrungen konturiert. Im zweiten und dritten Kapitel (Kap. 8/9) der Berichte aus London und Paris steht mit dem von Friedrich Justin Bertuch herausgegebenen Journal London und Paris die wohl bedeutendste kulturgeschichtliche Quelle der deutschen Großstadtliteratur um 1800 zur Debatte. Die über mehr als 15 Jahre hinweg erschienene Zeitschrift soll ebenfalls dahingehend analysiert werden, inwieweit die für sie schreibenden Korrespondentinnen und Korrespondenten Formen der literarischen Flanerie inszenieren. Nachdem zuerst Publikationsgeschichte und Machart der Zeitschrift eruiert werden, rücken zwei literarische Aspekte besonders in den Mittelpunkt und gehen mit der Aufteilung in zwei größere Kapitel einher. Einerseits soll dargestellt werden, dass das Journal von einem grundlegenden Erzählmuster geprägt ist, das sich mit der Formel Impression und Information beschreiben lässt (Kap. 8). Konkret aufgezeigt wird dies durch ausgewählte Korrespondentenberichte, die zwischen dem Anspruch schwanken, das intendierte Lesepublikum sachkundig über London und Paris aufklären zu wollen, und zugleich ihre eigenen subjektiven Erfahrungen darzustellen. Des Weiteren ist das Augenmerk verschiedenen ‚Bildern der Großstadt‘ gewidmet, die zwischen statischen und dynamischen Erzählmustern oszillieren. Im zweiten Kapitel zu London und Paris sollen daraufhin die literarisierten Raumzeitlichkeiten genauer beleuchtet werden (Kap. 9). Als Leitmotiv dient die Spannung zwischen gesellschaftlicher Funktionalisierung und individuellen Freiheiten, die zudem die Differenz von beobachtender und beobachteter Muße aktualisiert. Sowohl die Darstellungen urbaner Rückzugs- und Vergnügungsräume, die Frage nach Genderaspekten der Flanerie um 1800 sowie Berichte 91 Zitiert nach Georg Friedrich Rebmann, „Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris“, in: Rebmann, Werke und Briefe, Bd. 2, hg. v. Wolfgang Ritschel, Berlin 1990, 387–442. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass in dieser Ausgabe nur jener Bestandteil der Zeichnungen enthalten ist, der im Frühjahr 1797 bei der Verlagsgesellschaft in Altona erschien. Der zweite Band, der wiederum im Herbst 1797 ebenfalls dort publiziert wurde, ist nicht abgedruckt worden. Eine Begründung hierfür gibt der Herausgeber nicht an. Obwohl beide Bände der Zeichnungen bereits 1797 in Altona veröffentlicht wurden, ist auf den Ausgaben als Erscheinungsjahr 1798 angegeben, wie Ritschel im Nachwort vermerkt.
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über urbane Feste und Feierlichkeiten rücken dabei ins Zentrum. Ergänzt werden diese Perspektiven durch einen Exkurs zu urbanen Wahrnehmungen aus Wien als dritter europäischer Metropole um 1800, über welche die Zeitschrift vorübergehend ebenfalls berichtet. Mit der dritten untersuchten Quelle, Ernst Moritz Arndts Reisen durch einen T heil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 179992, geraten verstärkt nationalstereotype Gesichtspunkte ins Blickfeld (Kap. 10). Der Parisbericht des vielleicht bekanntesten deutschen Franzosenhassers des 19. Jahrhunderts soll dahingehend genauer untersucht werden, dass Arndt in diesem frühen Dokument Frankreich, die französische Lebenskultur und Paris geradezu überschwänglich lobt. Dabei konzentrieren sich die Analysen zum einen auf Arndts ausdrücklich nationale Wahrnehmungen, die sich engstens mit der Darstellung städtischer Versammlungsorte verbinden. Darüber hinaus stehen Arndts urbane Spaziergänge in Mittelpunkt, die in besonderem Maße zwischen den skizzierten Polen von Teilnahme und Beobachtung changieren. Seine Rundgänge über die Boulevards oder durch das Palais Royal werden vor allem danach befragt, inwieweit der Beobachter selbst am urbanen Geschehen teilnimmt oder sich doch lieber als passiver Außenstehender inszeniert. Den Abschluss der Textanalysen bilden August von Kotzebues Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804 (Kap. 11).93 Mit dem Parisbericht des um 1800 höchst erfolgreichen Dramatikers rückt eine weitere Facette literarischer Flanerie in den untersuchten Quellen hinzu. Kotzebues Reise- und Großstadtbericht soll unter dem Gesichtspunkt untersucht werden, ob und wie der Beobachter dramatische und theatrale Erzählmuster in seine Metropolendarstellung einfließen lässt.
92 Zitiert nach Ernst Moritz Arndt, Reisen durch einen T heil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799, 4 Bde., Leipzig 1804. Die römischen Ziffern in der Zitation beziehen sich jeweils auf den dritten oder vierten „T heil“ von Arndts Reisebericht. Zu den editorischen Schwierigkeiten siehe die näheren Ausführungen in Kap. 10. 1. 93 Zitiert nach August von Kotzebue, Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804, Zweyte unveränderte Aufl., Berlin 1804.
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1. Schreckbild Stadt – Wunschbild Land: Lichtenbergs London Am 10. Januar 1775 verfasst Georg Christoph Lichtenberg einen der einflussreichsten deutschen Großstadttexte überhaupt. Seinem „wertheste[n] Freund“ (Lichtenberg, Briefwechsel, 486)1 Ernst Gottfried Baldinger, einem in der hannoverischen Heimat weilenden Mediziner, schildert er in diesem vielzitierten Dokument das in seinen Augen typische Londoner Großstadtleben um 1800. Es handelt sich um ein Zeugnis, das teilweise gar als „vielleicht die erste Großstadtschilderung deutscher Sprache“2 bezeichnet wurde. Obwohl der Brief erst nach 1900 öffentlich erscheint3, ist er für die historisch-vergleichende Perspektive auf deutsche Großstadtwahrnehmung einer der bedeutendsten Ausgangspunkte. In Lichtenbergs Darstellung bildet sich stellvertretend für eine ganze literarische Strömung ab, worin die Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole für die deutschen Beobachterinnen und Beobachter um 1800 besteht. Entscheidend ist dabei, dass Lichtenberg seine Beobachtungen in einer spezifischen Kommunikationssituation situiert. Es geht um die Frage, wie er einem Briefpartner die Großstadt vermittelt, der selbst noch nie in London war. Die Rhetorizität des Briefs ist nicht allein auf den Beobachter selbst ausgerichtet, sondern die imaginierte Perspektive des Briefpartners gerät zum Leitmotiv. Vor allem die Überlegung, welches Bild von der Metropole Lichtenberg seinem Adressaten vermitteln möchte – und vielleicht weniger, ob dies seinen eigenen Urteilen entspricht – steht daher im Mittelpunkt der nachfolgenden Analysen. Lichtenberg berichtet eingangs, bereits „14mal“ habe er die Metropole inzwischen während seines zweiten Englandaufenthaltes, den er 1774 und 1775 absolviert, besucht.4 Er wolle dem Adressaten „ein flüchtiges Gemählde von ei1 Zitiert nach Georg Christoph Lichtenberg, Briefwechsel, Bd. 1: 1765–1779, hg. v. Ulrich Joost u. Albrecht Schöne, München 1983, 486–498. 2 Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, 268. Auch Editha Ulrich, „London. Metropole und Residenz in den Augen einiger deutscher Englandreisender des 18. Jahrhunderts“, in: Raingard Eßer/T homas Fuchs (Hg.), Kulturmetropolen – Metropolenkultur. Die Stadt als Kommunikationsraum im 18. Jahrhundert (Aufklärung und Europa 9), Berlin 2002, 169–189, 188, bezeichnet den Brief „als die erste Darstellung großstädtischer Szenerie“, die „in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen ist“. 3 Vgl. Rainer Baasner, Georg Christoph Lichtenberg (Erträge der Forschung 278), Darmstadt 1992, 17. 4 Lichtenberg reist jeweils im April und Mai 1770 sowie von August 1774 bis Dezember 1775 nach England/London, vgl. Baasner, Georg Christoph Lichtenberg.
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nem Abend in London auf der Strase machen“, genauer noch „cheapside und fleetstreet nehmen, so wie ich sie in voriger Woche […] gefunden habe“ (Lichtenberg, Briefwechsel, 488). Ambivalent stellt der Beobachter die iterative, vierzehnmalige Großstadterfahrung einer vermeintlichen Unkenntnis der urbanen Lebensformen gegenüber. Die skizzierte kommunikative Situation, dass Lichtenberg besonders den Blickwinkel des Adressaten imaginiert, steht von Beginn an seiner eigenen Großstadterfahrung gegenüber. Lichtenberg wählt mit den geschäftigen Straßenzügen, betont er alsbald, Orte, an denen sich das genuin Urbane, die Londoner Erfahrung, besonders zugespitzt dem imaginierten Reisenden offenbart. In einem ersten Schritt inszeniert Lichtenberg jedoch kaum die städtische Betriebsamkeit und Geschwindigkeit, die sich erwarten ließe. Er hebt vielmehr auf die potenziell überforderten Sinne ab, die einer extensiven Beobachtungsvielfalt exponiert sind: Stellen Sie sich eine Strase vor etwa so breit als die Weender, aber, wenn ich alles zusammen nehme, wohl auf 6mal so lang. Auf beyden Seiten hohe Häuser mit Fenstern von Spiegel Glas. Die untern Etagen bestehen aus Boutiquen und scheinen gantz von Glas zu seyn; viele tausende von Lichtern erleuchten da Silberläden, Kupferstichläden, Bücherläden, Uhren, Glas, Zinn, Gemählde, Frauenzimmer-Putz und Unputz, Gold, Edelgesteine, Stahl=Arbeit, Caffeezimmer und Lottery Offices ohne Ende. Die Straße läßt, wie zu einem Jubelfeste illuminirt, die Apothecker und Materialisten stellen Gläßer, worin sich Dietrichs Cammer Husar baden könnte, mit bunten Spiritibus aus und überziehen gantze Quadratruthen mit purpurrothem, gelbem, grünspangrünem und Himmel blauem Licht. Die Zuckerbäcker blenden mit ihren Kronleuchtern die Augen, und kützeln mit ihren Aufsätzen die Nasen […], da hängen Festons von spanischen Trauben, mit Ananas abwechselnd, um Pyramiden von Aepfeln und Orangen, dazwischen schlupfen bewachende und, was den Teufel gar los macht, offt nicht bewachte weißarmigte Nymphen mit seidenen Hütchen und seidenen Schlenderchen. (Lichtenberg, Brief wechsel, 488)
Mit seinen ersten Bemerkungen betont Lichtenberg insbesondere die Größe und den Prunk der englischen Hauptstadt.5 Er stellt den „Schock der Menge und der gigantischen Ausmaße“6 einer umfassenden Warenwelt dar, die um 1800 in der deutschen Großstadtliteratur sowohl aus London als auch aus Paris strukturell im Mittelpunkt steht.7 Sprachlich auffällig ist die forcierte Adressierung an den 5 Vgl. zur Bedeutung von Ankunftsszenen in der deutschen Großstadtliteratur Steinfeld, „Die Metropole“, 182. 6 Gerhard Sauder, „London. Einführendes Referat“, in: Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen (Germanistische Symposien-Berichtsbände 8), Stuttgart 1988, 547–559, 551. 7 Vgl. jüngst Boris Roman Gibhardt, Vorgriffe auf das schöne Leben. Weimarer Klassik und Pariser Mode um 1800 (Ästhetik um 1800 14), Göttingen 2019. Auch Claudia Lillge/T horsten Unger/Björn Weyand, „Arbeit und Müßiggang in der Romantik. Eine Einführung“, in: Claudia Lillge/T horsten Unger/Björn Weyand (Hg.), Arbeit und Müßiggang in
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Briefpartner sowohl im Sinne einer direkten Anrede als auch durch Informationen („Dietrichs Cammer Husar“), die lediglich für den konkret angesprochenen Baldinger eine vergleichende Einordnung zulassen. Trotz dieser privaten Adressierung, die im Sinne einer imaginierten Beobachterfigur zu beachten bleibt, reiht sich der Beobachter recht eindeutig in einen klassischen Diskursstrang der Großstadtliteratur ein. Lichtenberg hebt mit seinen ersten Äußerungen auf eine Grundbedingung ab, welche die deutschen Berichte um 1800 aus London und Paris durchgehend prägt: die schwer erfassbare Quantität der beobachtbaren Eindrücke. Das „Verständnis der Großstadt als eines unerschöpflichen Erfahrungsfundus“8 spiegelt sein Bericht durch die Inszenierung einer kapitalen Sinnesüberforderung. Damit verbunden verweist Lichtenberg auf eine weitere entscheidende Rahmenbedingung für die deutsche Großstadtwahrnehmung um 1800. Er bemerkt, die „Weender“ – eine der damals bedeutendsten Göttinger Straßen – sei zwar in der Breite vielleicht noch mit den Londoner Verhältnissen vergleichbar, in ihrer Länge jedoch deutlich unterlegen. Lichtenberg ruft den scharfen Kontrast zwischen der Weltstadt London und der eigenen provinziellen Herkunft – das heißt, ebenfalls jener des Adressaten – auf. Quantitativ bedeutet dies: Während der Reisende sowie der Adressat aus einer rund 8 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden deutschen Kleinstadt stammen, leben in der englischen Hauptstadt nahezu eine Million Menschen. Was Lichtenberg dem Adressaten beschreibt, sind somit „phantastische Eindrücke und Bilder einer Reise, die ihm in Göttingen nur seine Einbildungskraft hätte vorspiegeln können“.9 Die Metropole London ist bei ihm – bezogen auf die eigene Heimat –, wie bei vielen seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, „die Projektion einer noch fernen Zukunft“.10 Dies ist, das haben die bisherigen Ausführungen gezeigt, unmittelbar an die Perspektive des Adressaten gebunden. Umso mehr ist der Blick darauf zu richten, mit welchen Attributen Lichtenberg die Großstadt versieht und welche Urteile er bei seinem Briefpartner evozieren möchte. Lichtenbergs Anweisung, Baldinger solle sich den Straßenzug vorstellen, ihn in seiner Imagination aufleben lassen, ist als Sinnbild einer ‚doppelten Fremdheit‘ zu lesen. Der Adressat hat weder die beschriebene Stadt respektive das darder Romantik (vita activa), Paderborn 2017, 11–36, betonen, bereits um 1800 sei der Großstadtliteratur die urbane Warenwelt thematisch inhärent. 8 Corbineau-Hoffmann, Brennpunkt der Welt, 128. 9 Monika Lengelsen, „Londoner Imaginationen. William Hogarth’s ‚modern moral subjects‘ und Georg Christoph Lichtenbergs ‚eigene Welt‘“, in: Marie-Luise Spieckermann (Hg.), „Der curieuse Passagier“. Deutsche Englandreisende des achtzehnten Jahrhunderts als Vermittler kultureller und technologischer Anregungen (Beiträge zur Geschichte der Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts 6), Heidelberg 1983, 109–117, 113. 10 Horst Walter Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen vornehmlich im Zeitalter der Aufklärung, Bd. 1 (Wissen und Kritik 6), Waltrop 1997, 214 f.
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gestellte Land besucht. Er hat aufgrund seiner deutschen Heimat keine leibhaftige Vorstellung davon, wie sich das Leben in der damals größten Stadt der Welt gestalten könnte. Lichtenberg ist herausgefordert, seinem „werthesten Freund“ einen Gegenstand darzustellen, der für den Adressaten nur ein imaginiertes Produkt bleiben kann. Er konzentriert sich zunächst auf die räumlich-statischen Aspekte. Der Reisende beschreibt vorrangig die verschiedenen Ladengeschäfte, Verkaufsgegenstände und anderen Einrichtungen, die ihm auf engstem Raum ins Auge fallen. Sie folgen in der urbanen Realität sowie sprachlich dicht aneinandergereiht. Die Straße, summiert Lichtenberg, erscheine angesichts der vielen aufmerksamkeitsheischenden Angebote „wie zu einem Jubelfeste illuminirt“ und der Beobachter konnotiert sie im ersten Moment durchaus positiv. Die vielfältige Warenwelt, die in einer Kleinstadt wie Göttingen nicht zu erblicken wäre, tituliert er schließlich gar als „Zauber“ (Lichtenberg, Briefwechsel, 489). Auffallend ist jedoch, dass der Beobachter in einer betont distanziert-passiven Rolle verharrt. Er nimmt die vielen Luxusgeschäfte und anderen Gegenstände nur aus einer wohldosierten Ferne in den Blick und meidet selbst das urbane Geschehen. Damit verbunden entstehen erste Brüche, mit denen Lichtenberg eine umfänglich überforderte Wahrnehmung stilisiert. Verschiedene Sinne, so die Auskunft, würden einer kaum zu bewältigenden Reizüberflutung ausgesetzt, „die Zuckerbäcker blenden mit ihren Kronleuchtern die Augen, und kützeln mit ihren Aufsätzen die Nasen“. Der Beobachter ist kurzerhand „fasziniert und erschreckt zugleich“.11 Lichtenbergs Brief ist unter anderem eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der beobachtenden Großstadtwahrnehmung sowie ihrer literarischen Repräsentation. Er ist schließlich nur „scheinbare Improvisation, tatsächlich aber ein genau geplanter, sprachlich ausgefeilter Versuch der lebendigen Vermittlung“.12 Bemerkenswert ist, dass die Schilderung von Cheapside und Fleetstreet aus zwei Teilen besteht. Im ersten, soeben zitierten Abschnitt konzentriert Lichtenberg sich vor allem auf die materiellen Gegebenheiten. Die durch Bewohnerinnen und Bewohner sowie Besucherinnen und Besucher praktizierten urbanen Lebensformen spielen lediglich eine periphere Rolle. Dabei suggeriert Lichtenberg, bei der Beobachtung der Schaufenster und Warenauslagen sei es durchaus möglich, ein stabiles Wahrnehmungsmuster aufrechtzuerhalten. Die einzelnen Gegenstände stehen sprachlich durch eine aufzählende Erzählweise wohlgeordnet nebeneinander. Obwohl der Beobachter verschiedentlich die Reizüberflutung andeutet, bleibt sie tendenziell noch im Hintergrund. Lichtenberg, ließe 11 Ulrich,
„London“, 187. Promies, „Lichtenbergs London“, in: Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen (Germanistische Symposien-Berichtsbände 8), Stuttgart 1988, 560– 570, 565. 12 Wolfgang
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sich literaturgeschichtlich argumentieren, bedient eine aufklärerische Tradition. Er registriert die verschiedenen Objekte fast enzyklopädisch und vermittelt dem intendierten Adressaten penibel genau, was sich erblicken lässt.13 Bei ihm klingt der distanzierte und wissenschaftliche Blick auf die urbane Lebenswelt durch, der viele seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen prägt.14 Allerdings ist diese Wahrnehmungsposition im Brief äußerst fragil gezeichnet und auf engem narrativem Raum mit ihrem unmittelbaren Gegenteil verbunden. Nachdem Lichtenberg die räumliche Struktur von Cheapside und Fleetstreet „flüchtig“ aufgezeigt hat, kommt er auf das urbane Publikum, auf die Menschen rund um ihn zu sprechen. Es gerät Bewegung in die bis dahin recht statisch gehaltene Erzählung: Dem ungewöhnten Auge scheint dieses alles ein Zauber; desto mehr Vorsicht ist nöthig, Alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen Sie still, Bums! läuft ein Packträger wider Sie an und rufft by Your leave wenn sie schon auf der Erde liegen. In der Mitte der Strase rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und Karrn hinter Karrn. Durch dieses Getöße, und das Sumsen und Geräusch von tausenden von Zungen und Füßen, hören Sie das Geläute von Kirchthürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leyern und Tambourinen englischer Savoyarden, und das Heulen derer, die an den Ecken der Gasse unter freyem Himmel kaltes und warmes feil haben. Dann sehen Sie ein Lustfeuer von Hobelspänen Etagen hoch auflodern in einem Kreis von jubilirenden Betteljungen, Matrosen und Spitzbuben. Auf einmal rufft einer dem man sein Schnupftuch genommen: stop thief und alles rennt und drückt und drängt sich […]. Ehe Sie es sich versehen, nimmt Sie ein schönes, niedlich angekleidetes Mädchen bey der Hand: come, My Lord, come along, let us drink a Glass together […]. Zwischen durch hören Sie vielleicht einmal ein Geschrey von hunderten auf einmal, als wenn ein Feuer auskäme, oder ein Haus einfiele oder ein Patriot zum Fenster herausguckte. (Lichtenberg, Briefwechsel, 488 f.)
Sowohl inhaltlich als auch sprachlich ist der Bruch markant gestaltet. Just in dem Moment, da die Beobachterfigur stillsteht und sich anschickt, im bislang dominanten Stil „Alles gehörig zu betrachten“, unterbricht das dynamische urbane Leben dieses Vorhaben abrupt. Nicht mehr „systematische Beobachtung und Registrierung“ stehen im Vordergrund, sondern der „sinnesberauschende Taumel“.15 In einem harten Schnitt stellt Lichtenberg die „Ambivalenz der Groß 13 Vgl. u. a. Hans Erich Bödeker, „Reisen. Bedeutung und Funktion für die deutsche Aufklärungsgesellschaft“, in: Wolfgang Griep/Hans-Wolf Jäger (Hg.), Reisen im 18. Jahrhundert. Neue Untersuchungen (Neue Bremer Beiträge 3), Heidelberg 1986, 91–110; T homas Grosser, „Der mediengeschichtliche Funktionswandel der Reiseliteratur in den Berichten deutscher Reisender aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts“, in: Hans-Wolf Jäger (Hg.), Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung (Neue Bremer Beiträge 7), Heidelberg 1992, 275–310. 14 Vgl. Uwe Hentschel, „Revolutionserlebnis und Deutschlandbild in der Reiseliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts“, in: Zeitschrift für historische Forschung 20,3 (1993), 321–344, 321. 15 Lengelsen, „Londoner Imaginationen“, 111.
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stadterfahrung eines deutschen Reisenden heraus: Lust und Gefahr“.16 Das plötzlich eingeschobene „Bums!“ und die unliebsame Begegnung mit einem britischen Lastenträger sind eine inhaltliche Verschiebung von den statischen Gegenständen zu den dynamischen Menschenmassen. Und sie bringen auch sprachlich gravierende Veränderungen mit sich. Hatte der Beobachter zuvor fein säuberlich und mit distanziertem Blick aufgelistet, was er erblicken konnte, inszeniert er jetzt eine gegenteilige Beobachtungsweise. Die Großstadt entfaltet nunmehr jene Wirkung, die ihr in deutschen Berichten um 1800 immer wieder zugeschrieben wird. Sie ist „[v]oller Anregungen, Reize und Zerstreuungen, anonym, flüchtig, schnelllebig und mobil“17, sodass der Beobachter den „rasche[n] Wechsel vielfältiger Bilder, die Unvorhersehbarkeit plötzlicher Eindrücke“18 zu seinem narrativen Leitkriterium erhebt. Wenn sich davon sprechen lässt, dass Metropolen wie London oder Paris eine „Instanz einer permanenten Umformung aller Dinge und Formen“19 darstellen, dann formuliert Lichtenberg an dieser Stelle das literarische Pendant dazu. Er betont, in welcher Schlagzahl die verschiedenen Impressionen eintreffen. Lichtenberg verweist insbesondere auf deren polysensorische Qualität. Der Beobachter ist mehr als ein „Augenwesen“20, denn Lichtenberg hebt beispielsweise genauso auf die enorme Lautstärke ab, die durch das beschleunigte, verdichtete und vor allem verkehrsreiche urbane Leben entsteht. Wer der Großstadt „gewachsen sein will“, so der vermittelte Eindruck, „bedarf aller Sinne in gleicher Weise“.21 Verwoben ist dies formal mit einem Reihenstil, der Eindruck an Eindruck, Szene an Szene heftet, sodass „Lichtenberg versucht, rhetorisch und syntaktisch Londons Leben zu evozieren“.22 In seinem Stil hat die Forschung wiederholt eine vorweggenommene moderne „simultanistische Schreibweise“ der „Collage- und Montageliteratur der Futuristen und Dadaisten“23 gelesen. Er spiegelt eine „formgewordene emotionale Bewegtheit des Schreibenden“, die „bis in die Rhythmik der Sätze unmittelbar sinnlich präsent“24 bleibt. Lichtenbergs Darstellung changiert zwischen akustischen, optischen und taktilen Eindrücken – das „Getöße“ 16 Helmut Peitsch, „Die Entdeckung der ‚Hauptstadt der Welt‘. Zur Ausformung eines Bildes von London in deutschen Zeitschriften und Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts“, in: Hans-Wolf Jäger (Hg.), Europäisches Reisen im Zeitalter der Aufklärung (Neue Bremer Beiträge 7), Heidelberg 1992, 131–156, 144. 17 Andreas Braun, Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert (Werkbund-Archiv 28), Frankfurt am Main 2001, 66. 18 Wellmann, Der Spaziergang, 165. 19 Köhn, Straßenrausch, 14. 20 Hauser, Der Blick auf die Stadt, 18. 21 Hanns-Josef Ortheil, „Der lange Abschied vom Flaneur“, in: Merkur 40,1 (1986), 30– 42, 32. 22 Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, 268. 23 Karl Riha, „Nachwort“, in: Karl Riha (Hg.), Stadtleben. Ein Lesebuch (Sammlung Luchterhand 419), Darmstadt/Neuwied 1983, 163–169, 163. 24 Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 25.
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vermengt sich mit dem „Lustfeuer“ und ehe sich der Beobachter versieht, macht er eine ganz leibhaftige Erfahrung mit einer der Bewohnerinnen. Durch seine „Froschperspektive“, die der „Vogelschau […] bei den meisten älteren Großstadtbeschreibern“25 diametral gegenübersteht, gerät er in den Sog des urbanen Lebens. Er „wählt den Standpunkt des Beobachters mitten im Getriebe“ und „führt den Leser dadurch unmittelbar an den Brennpunkt des Berichteten“.26 Die Reizüberflutung, die der erste Teil bereits angedeutet hatte, bildet nunmehr das narrative Leitmotiv. Die Stadt ist mit überbordender Vielfalt und Wahrnehmungsdichte versehen. Sie ist überdies unangenehm laut und birgt die Gefahr, schlagartig in ungewollte Situationen zu geraten. Der Beobachter stilisiert sich als hilflos verloren inmitten einer unkontrollierbaren Erfahrungswelt, die er mit einer vollständigen Fremdbestimmung engführt. Er kann nach eigenen Angaben weder beeinflussen, welche Eindrücke auf ihn zukommen, noch scheint er sich in irgendeiner Form souverän mit diesen auseinandersetzen zu können. Kaum nimmt er etwas näher in den Blick oder möchte etwas genauer anhören, rauscht bereits die nächste Impression in sein Wahrnehmungsfeld. Es bleibt ihm schließlich unmöglich, bei einem Gegenstand zu verweilen. Lichtenbergs Großstadtinszenierung erinnert frappierend an jene Attribute, die Georg Simmel (1858–1918) in seinem vielzitierten Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben (1903) den industrialisierten Metropolen um 1900 zuschreibt.27 „Masse und Bewegung, damit zusammenhängend dann auch: Lärm und Einsamkeit, ja Anonymität“28 sind allesamt urbane Eigenschaften, die aber bereits in den Großstadtberichten um 1800 eine tragende Rolle spielen. Wie die Forschung mehrfach aufzeigen konnte, gerät die urbane Menschenmasse zusehends zum leitenden Kriterium der literarischen Beschreibungen.29 Insbesondere die „unmittelbare[] und konkrete[] Erfahrung“30, die sich für deutsche Beobach terinnen und Beobachter auf den Reisen in die Großstädte ergibt, ist auch in der literarischen Inszenierung ein tragendes Narrativ. Dass Lichtenberg in dem Mo25
156.
Ulrich Joost, Lichtenberg. Der Briefschreiber (Lichtenberg-Studien 5), Göttingen 1993,
Lichtenberg, 152. Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: Simmel, Gesamtausgabe, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Bd. 1, hg. v. Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1995, 116–131. 28 Wuthenow, „Die Entdeckung der Großstadt“, 19. Zu nennen wäre ergänzend das in den Berichten um 1800 immer wieder aufgerufene Verkehrschaos, vgl. dazu Jüttner, „Großstadtmythen“, 175. 29 Vgl. Iris Lauterbach, „‚London und Paris‘ in Weimar. Eine Zeitschrift und ihre Karikaturen als kunst- und kulturgeschichtliche Quelle der Zeit um 1800“, in: Christoph Andreas/Maraike Bückling/Roland Dorn (Hg.), Festschrift für Hartmut Biermann, Weinheim 1990, 203–218, 205. Dass im Übrigen auch die Malerei sich mit diesem Gegenstand auseinanderzusetzen hat, zeigt Wolfgang Kemp, „Das Bild der Menge (1789–1830)“, in: Städel-Jahrbuch 4 (1973), 249–270. 30 Corbineau-Hoffmann, Brennpunkt der Welt, 94. 26 Joost,
27 Georg
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ment, da er das vermeintlich ‚typische London‘ darstellen will, genau auf diese Aspekte abhebt, rückt sie umso mehr in das Zentrum der Aufmerksamkeit.31 Seine Argumentation verstärkt er in diesem Sinne, wenn er explizit auf das Verhältnis von realer Erfahrung und literarischer Wiedergabe zu sprechen kommt: Bis hieher habe ich fast, wie man sagt, in einem Odem weg geschrieben, mit meinen Gedancken mehr auf jenen Gassen, als hier. Sie werden mich also entschuldigen, wenn es sich zu weilen hart und schwer ließt, es ist die Ordnung von Cheapside. Ich habe nichts übertrieben, gegentheils vieles weggelassen, was das Gemählde gehoben haben würde, unter andern habe ich nichts von den umcirkelten Balladen Sängern gesagt, die in allen Winckeln einen T heil des Stroms von Volck stagniren machen, zum horchen und zum stehlen. Ferner habe ich die liederlichen Mädchen nur ein eintziges mal auftreten lassen, dieses hätte zwischen jede Scene, und in jeder Scene wenigstens einmal geschehen müssen. (Lichtenberg, Briefwechsel, 489 f.)
Indem Lichtenberg behauptet, seine Schilderung unterliege literarisch raffenden, kürzenden und auslassenden Mustern, stilisiert er die von ihm vorab eingebrachten Aspekte zusätzlich. Die Textstelle zeigt paradigmatisch, dass insbesondere für Lichtenbergs Brief die tatsächliche urbane Erfahrung nicht unbedingt das entscheidende Kriterium ist. Dagegen verweist er expressis verbis auf die Rhetorizität seines Textes, stellt dessen literarische Gemachtheit als „Versuchsanordnung“32 explizit aus. Genau dadurch aber verleiht er seiner Darstellung einen umso wertenderen Charakter und suggeriert, er wolle die Großstadt weniger mimetisch beschreiben als vielmehr ein zugespitzt-wertendes Bild von ihr zeichnen. Dies korreliert eng mit einer räumlichen Distanz, die Lichtenberg flankierend einführt und die sich bereits eingangs des Briefs andeutet. Der Beobachter berichtet nicht aus der Großstadt selbst, sondern sein Brief ist aus dem damaligen Londoner Vorort Kew abgesandt. Die nachträgliche Stilisierung seiner Großstadterfahrung ist damit gebunden an eine weitere, räumlich differente Wahrnehmungswelt. Im Kontrast mit dem beschaulichen und wohlgeordneten Kewer Landleben, das noch genauer zu betrachten ist, wirkt das dargestellte urbane Treiben umso chaotischer.33 Die Stadt ist in Lichtenbergs Darstellung, lässt sich zuspitzen, auch eine rurale Projektion. Kein Wunder, dass er schließlich ein negatives Fazit zieht, das die nationale und infrastrukturelle Fremdheit eines deutschen Beobachters aktualisiert: „In Göttingen geht man hin und sieht wenigstens von 40 Schritten her an, was es giebt; hier ist man […] froh, wenn man mit heiler Haut in einem Neben Gäßgen den Sturm auswarten kan [sic]“ (Lichtenberg, Briefwechsel, 489). Mit seinen summierenden Worten – die dem Adressaten unumwunden raten, das Abenteuer Großstadt zu umgehen – spitzt Lichtenberg das Geschilderte zu. Sich an Der Mythos von Paris, 25. Aber schickt keinen Poeten nach London, 25. 33 Vgl. Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 22 f. 31 Stierle,
32 Brüggemann,
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einem Dezemberabend nach Cheapside und Fleetstreet, mitten in die Essenz des urbanen Lebens zu begeben, komme dem freiwilligen Gang in eine Naturkata strophe gleich. Dies gelte besonders für diejenigen, die aus der eigenen deutschen Heimat mit einer urbanen Erfahrung à la Cheapside oder Fleetstreet unvertraut seien. Sie gerieten, so die Perspektive Lichtenbergs, in einen nur schwerlich zu meisternden „Sturm“ der Londoner Welt. Bemerkenswert ist überdies, dass Lichtenberg neben seinen eigenen Empfindungen die beobachteten Personen genauer in den Blick nimmt. Er konstatiert: „Wo es breiter wird, da läuft alles, niemand sieht aus, als wenn er spatziren ginge oder observirte, sondern alles scheint zu einem sterbenden gerufen. Das ist Cheapside und Fleetstreet an einem December Abend“ (Lichtenberg, Briefwechsel, 489). Die von Lichtenberg beschriebene Hektik und Schnelllebigkeit spiegelt sich auf der beobachteten Ebene. Für einen verweilenden Blick auf die imposanten urbanen Einrichtungen scheinen die Vorübereilenden keine Zeit zu besitzen. Für den Reisenden ist „noch Zumutung, ja Skandal, was für die Menge, durch die er sich bewegt und sie sich durch ihn bewegt, schon Gewohnheit […] bedeutet“.34 Für ihn hetzen die Londonerinnen und Londoner von einem Ort zum anderen und scheinen davon angetrieben, möglichst schnell von A nach B zu gelangen. Demgegenüber formuliert er andere Wahrnehmungsformen, die er selbst in Cheapside oder Fleetstreet lieber praktizieren würde: Spazieren und Observieren.35 Doch genau diese gelassene und entschleunigte Art der Beobachtung bleibt dem Großstadtbesucher verwehrt. Lichtenberg selbst möchte am liebsten schnellstmöglich in ein „Neben Gäßgen“ fliehen und negiert einen Spaziergang durch die Straßen. Auch die Londonerinnen und Londoner wirken vor allem darauf bedacht, rasch und direkt zu ihrem Ziel zu gelangen. Vergleichbar verhält es sich mit den temporalen Bedingungen. Auch hier verfügen weder Lichtenberg noch die Beobachteten frei über die Zeit. Während der Beobachter eine entschieden fremdbestimmte Wahrnehmung inszeniert, sind die Londonerinnen und Londoner in seinem Großstadtbild in verschiedene Pflichten eingebunden, die ihnen ein schnelles räumliches Durchschreiten abnötigen. Die Bewohnerinnen und Bewohner sowie das durch sie produzierte Großstadtleben zeichnen sich durch Hektik, Unruhe, Stress, Geschwindigkeit und fortschreitende Beschleunigung aus. Diesen Umstand gibt Lichtenberg zuallererst sprachlich wieder. Für eines scheint dagegen kein Platz: Muße. Dass man in der Metropole frei in der Zeit verweilen, sich entschleunigt und gelassen dem urbanen Leben widmen und dem vom Beobachter aufgerufenen ‚Spazieren und Observieren‘ frönen könnte, bleibt eine Illusion. Sowohl Lichtenberg selbst als auch denjenigen, die er beobAber schickt keinen Poeten nach London, 28. Gegenüberstellung der verschiedenen Fortbewegungsarten vgl. Joost, Lichten-
34 Brüggemann, 35 Zur
berg, 15 f.
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achtet, scheint es unmöglich, sich einer Wahrnehmungs- und Lebensform zu widmen, die gerade diejenigen Attribute ausblendet, die topisch dem Stadtleben zugeordnet sind. Diese vermeintliche Unvereinbarkeit von Großstadt und Muße, einem hektischen und unruhigen Ort mit einem freien Verweilen in der Zeit, schreibt Lichtenberg zudem in ein literarisches Stadt-Land-Verhältnis ein. Bevor er Baldinger über die verheerenden Zustände in Cheapside und Fleetstreet berichtet, geht er auf seine Zeit in Kew, genauer in einem Park jenseits der Londoner Stadtgrenze, ein. Während er für die Stadt in erster Linie negative Attribute anführt, verhält es sich hier, von einigen durch schlechtes Wetter begründeten Ausnahmen abgesehen, grundlegend anders. Lichtenberg wird nicht müde, sein Wohlbefinden in der ländlicheren Umgebung zu betonen: Wenn das Wetter schön ist, so habe ich herrliche Tage. Ich gehe alsdann nach dem Observatorio bei Richmond, oder wenn es nicht gantz heiter ist, so spatzire ich in den Gärten. […] Noch vorgestern habe ich an einem solchen Tag die gantze Tour durch den hiesigen Garten gemacht. Die Glashäußer waren zum T heil aufgezogen, die Vögel sangen vollstimmig, die Gold und Silberfische spielten in ihren Bassins, bey jedem Schritte fast sah ich bald nah bald fern den Goldphasan oder einandern Vogel über den Weg schlüpfen, der nun nach einem Wasser zu führen schien, dann sich auf einmal wendete und mir eine reitzende Gegend oder einen niedlichen Tempel in der Ferne zeigte. Die zwo Stunden, die ich in diesen romantischen Spaziergängen in der süßesten Melancholie zugebracht habe, sind mir wie wenige Minuten hingegangen. (Lichtenberg, Briefwechsel, 487)
Im künstlichen Naturraum des Parks erfüllt sich für Lichtenberg, was im urbanen Raum verwehrt bleibt. Hier kann er nach eigenem Gefallen durch die Anlagen schlendern, die in mehrerlei Hinsicht ästhetischen Eindrücke genau inspizieren, bisweilen kontemplativen Beobachtungen nachhängen, sodass er schließlich die Zeit vollends vergisst. Lichtenbergs literarisierte Spaziergänge durch die Parkanlage entsprechen kurz gesagt dem, was in dieser Studie unter ‚Muße‘ gefasst wird. Die verstreichende Zeit rückt in den Hintergrund, äußere Pflichten und Zwecke spielen für den Beobachter keine Rolle mehr. Er kann sich – so stilisiert Lichtenberg es zumindest – weitgehend frei von allen fremdbestimmenden Elementen autonom in Zeit und Raum bewegen. Der Beobachter inszeniert einen gelassenen Modus, der in scharfem Kontrast zum vorübereilenden und gehetzten Großstadtpassanten steht.36 Bemerkenswert ist diesbezüglich, dass sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zur nachfolgenden Londondarstellung herauskristallisieren. Wie auf den innerstädtischen Straßen ergeben sich im Kewer Park zufällige und manchmal gar plötzlich-über raschende Augenblicke und Wahrnehmungen. 36 Zur kulturhistorischen Gegenüberstellung von Stadt und Land um 1800 vgl. Borscheid, Das Tempo-Virus, 144.
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Die Impressionen kontrastieren aber die später geschilderte urbane Schlagzahl und sind gegenüber den städtischen Eindrücken vor allem von ästhetischen Momenten durchzogen. Hier tritt die Londoner Reizüberflutung zugunsten der wohlsortierten Anordnung künstlicher Landschaftsanlagen zurück, die ein zeitliches Verweilen überhaupt erst ermöglicht. Bei Lichtenberg, lässt sich schließen, ist den verschiedenen Wahrnehmungsmodi eine klare räumliche Antinomie eigen. Der ästhetischen Parkanlage ist ein mußevolles Verweilen in der Zeit zugeordnet, während dieses im urbanen Raum vollends ausbleibt. Eng verbunden sind die Differenzen mit der rhetorischen Verformung durch den Beobachter selbst. Sowohl bei der Darstellung von Cheapside und Fleetstreet als auch beim Kewer Landschaftserlebnis handelt es sich um literarische Zuspitzungen durch die Erzählinstanz. Im Mittelpunkt steht weniger die Beschreibung faktisch getätigter Beobachtungen oder der Versuch, möglichst authentisch über London oder Kew zu berichten. Stattdessen ist der Brief davon geprägt, rhetorisch-überspitzt Stadt und Land einander gegenüberzustellen – genau in dieser literarischen Stilisierung aber die Dichotomie umso stärker zu betonen.37 Exakt aus diesem Grund ist Lichtenbergs Brief ein sowohl literaturhistorisch als auch systematisch entscheidender Referenzpunkt, wenn es darum gehen soll, Formen urbaner Muße, genauer der Flanerie, in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 zu eruieren. Lichtenbergs Kew- und Londondarstellung spiegelt die kulturgeschichtlich bedeutende topische Zuordnung von Muße und Land sowie Mußelosigkeit und Stadt. Dieses bereits seit der Antike wirkmächtige Muster aktualisiert Lichtenberg, wenn er Baldinger über die Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole in Kenntnis setzt. Er verbindet sie zudem mit dem um 1800 literarisch und kulturell weitverbreiteten Muster, den Spaziergang vorrangig dem Naturraum oder mindestens der städtischen Peripherie zuzuordnen.38 Für die gelassene Wahrnehmung eines Spaziergängers – oder seiner urbanen Spielart, des Flaneurs – ist bei Lichtenberg im wortwörtlichen Sinne nur jenseits der Stadtgrenze Raum.39
Vgl. Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 22 f. Zur Kulturgeschichte des Spaziergangs um 1800 siehe vor allem König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges; Wellmann, Der Spaziergang. 39 Auf dieses kontrastive Motiv in der deutschen Londonliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts weist auch Fischer, Reiseziel England, 625, hin. 37
38
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2. Flanerie als Form urbaner Muße: Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris Rund fünfzig Jahre nach Lichtenbergs Brief verfasst Ludwig Börne eine seiner bekanntesten Schriften, die über drei Jahre hinweg entstandenen Schilderungen aus Paris.1 Obwohl beide Texte formal weit auseinanderliegen – Lichtenberg wählt die privat-briefliche, Börne die publizistische Form –, lassen sie sich bezüglich der Großstadtwahrnehmung dennoch vergleichen. Genau wie Lichtenberg geht es Börne darum, die urbane Lebenskultur – nun der französischen Hauptstadt und zweiten europäischen Metropole um 1800 – literarisch darzustellen. Und obwohl er dafür eine andere Form als sein Vorgänger in London wählt, sind seine Inhalte durchaus ähnlich. Er überschreibt beispielsweise eines seiner insgesamt 26 Kapitel mit „Lebensessenz“ (Börne, Schilderungen, 15). Börne deutet an, herausarbeiten zu wollen, worin das urbane Pariser Leben letztlich besteht und welche Wirkungen es in variabler Dosis auf eine deutsche Beobachterin oder einen deutschen Beobachter entfalten kann. Seine dazugehörigen Ausführungen ähneln jenen Zuschreibungen, die bei Lichtenberg dominieren: Nicht einem Strome, einem Wasserfalle gleicht hier das Leben; es fließt nicht, es stürzt mit betäubendem Geräusch. […] Wer lange leben will, der bleibe in Deutschland, be suche im Sommer die Bäder und lese im Winter die Protokolle der Ständeversammlungen. Wer aber Herz genug hat, die Breite des Lebens seiner Länge vorzuziehen, der komme nach Paris. Jeder Gedanke blühet hier schnell zur Empfindung hinauf, jede Empfindung reift schnell zum Genusse hinan […]. Wenn man in Deutschland das Leben destillieren muß, um zu etwas Feurigem, Erquicklichem zu kommen, muß man es hier mit Wasser verdünnen, es für den täglichen Gebrauch trinkbar zu machen. (Börne, Schilderungen, 15 f.)
Wie viele Jahre früher Lichtenberg macht Börne eine umfassende Reizüberflutung als zentrales urbanes Merkmal aus. Mit seinem akustisch-eindringlichen Verweis auf das tosende Großstadtleben nimmt er das Motiv der potenziell überforderten Sinne auf. Börne verschärft es für Paris vor allem durch den abwägenden Blick auf die deutschen Zustände. Wie Lichtenberg für England verweist er auf die klaren Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich. Es versteht sich, dass dieser Vergleich bei Börne insbesondere unter politischen Gesichtspunkten zu lesen ist – ein Umstand, der sich zehn Jahre später in seinen Briefen 1 Zitiert nach Ludwig Börne, „Schilderungen aus Paris“, in: Börne, Sämtliche Schriften, Bd. 2, neu bearb. u. hg. v. Inge u. Peter Rippmann, Düsseldorf 1964, 3–192.
2. Flanerie als Form urbaner Muße: Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris
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aus Paris (1830–1833) noch einmal verstärkt. Das seiner Ansicht nach politisch, kulturell und lebensweltlich fortschrittliche Frankreich stellt er dem rückständigen, gemächlichen und provinziellen Deutschland ironisch gegenüber.2 Bemerkenswert ist, dass dieser kontrastierende Blick nicht auf die politische Dimension beschränkt bleibt, obwohl Börne sie explizit erwähnt. Viel deutlicher als in seinen anderen Schriften verortet er sie zusätzlich innerhalb städtischer Wahrnehmungen. Dies gipfelt schließlich in einem ambivalenten Bild vom urbanen Paris. Während Börne zwar überschwänglich zu einer Reise in die französische Hauptstadt rät, um „die Breite des Lebens“ gegenüber der deutschen Engstirnigkeit kennenzulernen, deutet er andererseits auf Schwierigkeiten voraus. Die „Lebensessenz“, den Titel spiegelt der kurzgehaltene Abschnitt formal wider, ist nur in wohldosierter und verdünnter Form erträglich. Börnes Aussage ist durchaus doppeldeutig lesbar. Während sie einerseits auf seine konkreten Erfahrungen in der französischen Hauptstadt rekurriert, ist sie andererseits literarische Selbstanweisung. Übersetzt in die eigene literarische Praxis bedeutet seine Aussage, eine Großstadtdarstellung aus Paris müsste sich darauf einlassen, das reizüberflutende und überwältigende Leben mitten im „Wasserfalle“ auf einzelne Tropfen zu beschränken. Genau in diesem Sinne konzipiert Börne anschließend den zweifelsohne bekanntesten Abschnitt seiner Schilderungen, ein mit „Der Greve-Platz“ überschriebenes Kapitel. Entscheidender als die eigentliche Darstellung des historischen Platzes sind jene allgemeinen Ausführungen zur Großstadtwahrnehmung, die der Beobachter voranstellt: Ein aufgeschlagenes Buch ist Paris zu nennen, durch seine Straßen wandern heißt lesen. In diesem lehrreichen und ergötzlichen Werke, mit naturtreuen Abbildungen so reichlich ausgestattet, blättre ich täglich einige Stunden lang. (Börne, Schilderungen, 34)
Mit seiner weit über die eigene Zeit hinaus berühmt gewordenen Formel von Paris als lesbarem Buch formuliert Börne eine Wahrnehmungsform, die als prototypisches Beispiel dafür gelten kann, was unter der Flanerie als Form urbaner Muße zu verstehen ist.3 Prägend ist die zufällige und kontingente Disposition, die der Beobachter seinen Großstadterkundungen zuschreibt. Mit dem Akt des Blätterns hebt er auf eine Großstadtlektüre ab, die sich mit „offenem Wahrnehmungs- und Erlebnishorizont“4 auf alle möglichen Eindrücke einlässt, die in den 2 Vgl. u. a. Gotthard Erler, „Nachwort“, in: Gotthard Erler (Hg.), Spaziergänge und Weltfahrten. Reisebilder von Heine bis Weerth, Rostock 1976, 379–406, 400. 3 Vgl. zur Metapher der lesbaren und gelesenen Stadt Brüggemann, „Stadt lesen – Stadt beschreiben“. Bezüglich Wahrnehmungsformen der Flanerie explizit Hohmann, „Der Flaneur“, 138. 4 Hans-Georg Soeffner, „Muße. Absichtsvolle Absichtslosigkeit“, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (Linguae & litterae 35), Berlin/Boston 2014, 34–53, 46.
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Straßen von Paris begegnen können. Die Lektüre der Großstadt erscheint als „eine ziellose Bewegung, […] fixiert den Blick nicht auf den Weg, der zum Ziel führt, hat keine Eile, die dem Blick ein Abschweifen und Verweilen verbietet, sondern gibt ihm Frei-Zeit, sich überall hin umzusehen“.5 Seine Wahrnehmung skizziert Börne als „potentiell für alles offen, […] was sich ereignet, und kann so das Spektrum großstädtischer Wirklichkeit zur Darstellung bringen“.6 Dabei hat es den Anschein, als könne der Beobachter völlig frei über seine Zeit verfügen. Dass Börne angibt, er „blättre […] täglich einige Stunden lang“ in den urbanen Geschehnissen, verweist auf eine Wahrnehmung, die nicht an äußere Zwecke und fremdbestimmte Rahmungen gebunden ist, sondern auf ein dezidiertes Maß an Freiheit während der Großstadtbeobachtung abzielt. Darüber hinaus spielt die paradoxale Wendung der ‚bestimmten Unbestimmtheit‘7 für Börne eine tragende Rolle, und zwar im räumlichen wie im zeitlichen Sinne. Einerseits rekurriert der Beobachter mit der Buchmetapher darauf, dass die Stadt Paris – bei all ihrer großstädtischen Unüberblickbarkeit – letztlich einen abgeschlossenen Kosmos darstellt. Innerhalb dieses bewegt er sich und lässt sich von dem überraschen, was ihm während der Großstadtlektüre begegnet. Ähnliches gilt für die zeitliche Dimension. Auch hier verweist Börne auf eine mehr oder minder definierte Zeitspanne („einige Stunden lang“), welche die in der Stadt verbrachte Zeit umreißt.8 Was jedoch innerhalb dieser Zeit geschieht, was der Beobachter unter- und/oder wahrnimmt, ist von einer ausdrücklichen Offenheit geprägt. Das „spezifische Spannungsverhältnis zwischen Offenheit und Geschlossenheit“9, das als Grundmuster des literarischen Spaziergangs gelten kann, ist für Börnes Darstellungen leitend. Dass schließlich die bestimmte Unbestimmtheit sich wieder in ihr Gegenteil verkehren kann, zeigt die Ambivalenz von „Blättern“ und „Lesen“. So wie Börne zufällig und mit offener Wahrnehmung durch die Pariser Eindrücke blättert, weist er darauf hin, dass die dabei gewonnenen Beobachtungen in einem zweiten Moment einer genaueren, einer mitunter kontemplativen Lektüre zu unterziehen seien. Schon auf konzeptioneller Ebene kann daher festgehalten werden, dass Börnes Wahrnehmung durch Elemente der Zerstreuung und Konzentration gleichermaßen geprägt ist. Während das Blättern auf eine oberflächliche Lektüre abhebt, implizieren die „naturtreuen Abbildungen“, dass der Beobachter sich vertiefend einzelnen Eindrücken in einer „lebenden Bibliothek“10 widmen kann. Der Flaneur, 88. Der Flaneur, 174. 7 Hasebrink/Riedl, „Einleitung“, 3. Sie sprechen von einem „Schwellencharakter der Muße […] zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit“. 8 Siehe zur räumlichen und zeitlichen Rahmung von literarischen Spaziergängen A lbes, Der Spaziergang als Erzählmodell, 13. 9 Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell, 14. 10 Wolfgang Bongers, „Die Stadt. Passagen zwischen Literatur und Architektur“, in: Pandaemonium Germanicum 7 (2003), 39–55, 49. 5 Neumeyer, 6 Neumeyer,
2. Flanerie als Form urbaner Muße: Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris
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Er formuliert eine „Affinität zwischen Gehen und Denken“11, die zum narrativen Grundgerüst avanciert. Diese grundlegende Wahrnehmungsdisposition der Flanerie ist zudem durch die literarische Qualität ergänzt. Allein die verwendeten Verben wie ‚blättern‘ und ‚lesen‘ zeigen dies deutlich an. Hinzu kommt die bemerkenswerte Doppelung von Beobachtungsgegenstand und dessen Literarisierung. Wenn Börne in einem literarischen Text darauf verweist, Paris sei letztlich als ein „aufgeschlagenes Buch“ aufzufassen, als „lehrreiche[s] und ergötzliche[s] Werke“, dann bindet er diese Argumente direkt an seine eigene ästhetische Darstellung. Genau diese textuelle Inszenierung ist wiederum durch die Attribute des Blätterns und damit der zufällig-kontingenten Wahrnehmung präziser erfasst. Börnes Parismetapher ist folglich ein paradigmatisches Beispiel dafür, inwieweit die Formen der literarischen Flanerie stets in ihrer inszenierten Gemachtheit, kurz: unter dem Gesichtspunkt des selektierenden und stilisierenden Blicks zu lesen sind. Dies verdeutlichen auch die weiteren Ausführungen Börnes, die einen seiner Stadtspaziergänge näher beschreiben: Es war zwei Uhr, da ich aus dem Hause trat […]. Bald kam ich in die Straße Vivienne. Hier ist das Paradies der weiblichen Welt, da findet sich alles, was die Häßlichkeit braucht, sich zu verbergen, und die Schönheit, sich zu verraten. Hüte, Blonden, Schleier, Geschmeide von Gold und Edelsteinen, und alles in so reichem und kostbarem Vorrate, daß selbst eine Königin mit Bedenken wählen müßte. Vor einem Putzladen hielt eine glänzende Kutsche; der gemächlichen Dame öffnete ein Mohr den Schlag. Ich sah mir das Wappen an – ein ganzes Stickmuster von farbigen Feldern, nebst Klauen- und Schnabeltieren aller Art. […] Ich ging weiter, ein kleiner Menschenkreis zog mich an, ich drängte mich durch. Zwei Lumpensammler waren in heftigen Wortwechsel geraten. Ihr kümmerliches Gewerbe folgt dem des Bettlers. Der eine hatte einen handbreiten wollenen Lappen im Kuhmist ausgestöbert, der andere als gleichzeitiger Entdecker machte Ansprüche darauf, hob drohend seinen Stock mit eisernen Haken in die Höhe und sprach mit wütenden Gebärden: veux-tu lâcher cela? […] So war ich zwei Stunden lang umhergewandert und hatte auf allen Straßen das regste Leben gefunden. Es hüpfte, sang und lachte zwar nicht immer dieses Leben, es schlich, stöhnte und weinte wohl auch – doch es lebte. (Börne, Schilderungen, 34 f.)
Auf der strukturellen Ebene ist erkennbar, wie Börne seine zuvor allgemein formulierte Buchmetapher literarisch umsetzt. Erkennbar ist eine „Organisation de[s] Texte[s] aus der Gehbewegung heraus“, die schließlich „die Beobachtung vom Einzelnen ins Allgemeine lenkt“.12 Als „spaziergängerisch erzählter Text“13 spiegelt die Darstellung vor allem die Bewegung durch die Stadt sowie die da11 Christian Moser/Helmut J. Schneider, „Einleitung. Zur Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs“, in: Axel Gellhaus/Christian Moser/Helmut J. Schneider (Hg.), Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs, Köln/Weimar/ Wien 2007, 7–27, 16. 12 Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure, 9. 13 Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell, 12.
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mit einhergehenden Impressionen. Auf engem narrativem Raum schildert Börne ganz verschiedene Ereignisse der urbanen Lebenswelt. Während er zuerst die prachtvolle Welt des Adels wahrnimmt, beobachtet er danach die prekäre Situation der Lumpensammler. Literarisch verdichtet wird die zufällige und kontingente Dimension der Flanerie noch einmal sinnfällig. Was Börne innerhalb weniger Momente wahrnehmen kann, ist aufgrund der Ereignisvielfalt in der Metropole offen und unvorhersehbar. So sehr es sich dabei um eine stilisierte Inszenierung handeln mag, die „das regste Leben“ in Paris zu komprimieren versucht, ist die grundlegende Wahrnehmungshaltung augenscheinlich. Der Beobachter geht entschleunigt durch die Straßen von Paris und ist gewillt, sich auf die einzelnen Eindrücke einzulassen. Neben den Rundgang durch die Straßen gesellt sich der „Spaziergang des Blicks“14, der divergente Eindrücke wahrnimmt und sich ihnen näher widmet. Vor allem an der Episode mit der Kutsche ist zu erkennen, inwiefern der Beobachter „der Lust an der Beobachtung verfallen“ ist und sich „in seiner Phantasie damit beschäftigt, sich Eigenarten und Geschichte der in seinen Blick geratenen Gestalten auszumalen“.15 Damit steht Börne in scharfem Kontrast zu dem, was bei Lichtenberg zu beobachten war. Der Londonbesucher hatte bei der direkten Begegnung mit der urbanen Lebenswelt, vor allem aber ihren prekären Seiten, dazu geraten, in einem Nebengässchen Zuflucht zu suchen und dort zu verharren, bis wieder Ruhe in das Stadtleben einkehrt. Börne indes inszeniert einen davon grundverschiedenen Typus des Großstadtbeobachters. Er nimmt zwar ebenso wie Lichtenbergs Beobachterfigur zufällige und plötzliche Eindrücke in der Stadt wahr, wendet sich diesen aber ausdrücklich zu. Seine Art der literarischen Flanerie ist kein „harking back and a nostalgia for a slower and more definite world“16; der Beobachter ist kein „Gegner der Schnelligkeit“, der versucht, „gegen den Strom zu schwimmen und der Zeit nicht atemlos hinterherzulaufen“.17 Stattdessen ist die bewusste Affirmation zum urbanen Geschehen das prägende Motiv. Gleichzeitig nimmt Börne diesen Eindrücken gegenüber eine bisweilen distanzierte Position ein. Er partizipiert nicht selbst an den urbanen Geschehnissen, sondern wählt den „Beobachtungsposten inmitten der Menge […], zu der er dennoch Distanz hält“.18 Doch auch in diesem Sinne steht der Beobachter dem gegenüber, was bei Lichtenberg noch dominierte, und zwar vor allem hinsichtlich der geschilderten Großstadtbewohnerinnen und ‑bewohner. Börne ist 14 Alain Montandon, „Spazieren“, in: Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.), Muße (Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 16), Berlin 2007, 75–86, 78. 15 Köhn, Straßenrausch, 38. Vgl. zur Beziehung von Spaziergang/Flanerie und Imagination zudem Montandon, „Spazieren“, 85. 16 Keith Tester, „Introduction“, in: Keith Tester (Hg.), T he Flâneur, London/New York 1994, 1–18, 15. 17 Borscheid, Das Tempo-Virus, 9. 18 Wellmann, Der Spaziergang, 140. Auf die Bedeutung solcher Erzählmuster für literarische Flanerien verweist ebenfalls mehrfach Neumeyer, Der Flaneur, bes. 134 f.
2. Flanerie als Form urbaner Muße: Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris
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kein Passant, „der vorübergeht, […] dem nichts mehr zustößt, auffällt, einer, dem nichts mehr begegnet oder geschieht“.19 Er verkörpert vielmehr jene Spannung von Zerstreuung und Konzentration, die sich bereits in seiner konzeptionellen Fassung der Buchmetapher abgebildet hatte.20 Als urbaner Spaziergänger kann der Beobachter mit den beobachteten Gegenständen verfahren, wie es ihm beliebt: „Er kann innehalten, um einen Gegenstand näher zu betrachteten, er kann weitergehen, um einen neuen Gegenstand ins Auge zu fassen, er kann den Blick wenden, um sich einen Überblick zu verschaffen“.21 Dies verbindet sich mit einem transgressiven Potenzial, das als leitend für die Flanerie als Form urbaner Muße anzusehen ist.22 Börne gelingt es trotz urbanem Trubel, trotz der Geschäftigkeit und Reizüberflutung im „Wasserfalle“ Paris, zu einer gelassenen Wahrnehmung zu gelangen. Sein „Chronotopos der Muße“, lässt sich daher festhalten, ist nicht „geprägt […] durch Lokalitäten des Innehaltens“ und kann dennoch „Betrachtung“ und Reflexion“ ermöglichen“.23 Das für den Flaneur markante „ziellose Umherstreifen durch den urbanen Raum, das nachsinnende Betrachten, die gelassene Bewegung“ 24 – diese Attribute spiegeln bei Börne eine „genießerische, zurückgezogene und kontemplative Haltung“ 25 ebenso wie sie in derselben Darstellung auf die Geschwindigkeit der Großstadt bezogen sind. Darüber hinaus sind aus Börnes Konzeption der Stadtwahrnehmung zwei weitere Aspekte abzulesen, die das literarische Flanieren als Form urbaner Muße näher definieren. Zum einen ist die Rahmung der Wahrnehmung genauer zu beleuchten. Dass Börne betont, er könne täglich einige, oder konkret: zwei Stunden durch Paris schlendern, hebt auf eine entscheidende äußere Bedingung ab. Der Beobachter muss überhaupt erst über die Möglichkeiten verfügen, solch einer Wahrnehmung nachzugehen. Erst wenn „das Diktat einer getakteten, drängenden Zeit zumindest vorübergehend aufgehoben ist“26, stellt sich die Möglichkeit ein, durch Paris zu schlendern und gelassen wahrzunehmen. In Börnes Darstellung bildet sich paradigmatisch ab, dass die Flanerie als Form urbaner Muße „aus einem Moment negativer Freiheit“ entsteht und „zu einer Erfahrung positiver Freiheit“27 hinführt. Nur ein Beobachter, der von 19 Ortheil,
„Der lange Abschied vom Flaneur“, 30. Vgl. zu diesen Spannungsverhältnissen bei Börne Oesterle, „Bewegung und Metropole“, 203. 21 Neumeyer, Der Flaneur, 12. 22 Vgl. Neumeyer, Der Flaneur, 79. 23 Klinkert, Muße und Erzählen, 151. 24 Sennefelder, Rückzugsorte des Erzählens, 8 f. 25 Sennefelder, Rückzugsorte des Erzählens, 64. 26 Jochen Gimmel/Tobias Keiling, Konzepte der Muße, Tübingen 2016, 2. Unter literarischer Perspektive hebt darauf T homas Klinkert, „Der arkadische Chronotopos als Manifestationsform von Muße und die Selbstreflexivität der Dichtung bei Iacopo Sannazaro“, in: Günter Figal/Hans W. Hubert/T homas Klinkert (Hg.), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium 2), Tübingen 2016, 83–108, 103, ab. 27 Gimmel/Keiling, Konzepte der Muße, 63. 20
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II Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole
äußeren Pflichten, von zweckrationalen Geschäftigkeiten befreit ist, ist überhaupt in die Lage versetzt, einen zweistündigen Stadtspaziergang zu unternehmen und dabei zufällig-kontingent Paris wahrzunehmen. An dieser Stelle wäre kulturhistorisch darauf zu verweisen, dass es um 1800 Frauen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum möglich ist, alleine über die städtischen Straßen zu schlendern.28 Dieser Umstand steht einerseits symptomatisch dafür, dass „Geschlechterverhältnisse in allen Zeiten und auf allen räumlichen Ebenen“ in die Stadtstrukturen „strukturell und prozessual eingewebt sein können“.29 Grundlegender zeigt es andererseits an, dass die jeweiligen kulturellen und biografischen Rahmungen der Beobachterfiguren – auch jene, die literarisch stilisiert sind – in die Analyse miteinzubeziehen sind.30 Und es verweist darauf, dass Muße als „Indikator sozialer Ungleichheit“31 auftritt, und zwar gerade auch in literarischen Inszenierungen. Die literarische Flanerie ist bei Börne des Weiteren als ein Konzept skizziert, dass sich durch Elemente ‚tätiger Untätigkeit‘ 32 ebenso auszeichnet wie durch solche der „produktiven Unproduktivität“.33 Der Stadtbeobachter ist davon befreit, an den zweckrationalen Tätigkeiten in der Großstadt teilnehmen zu müssen; er benennt weder berufliche noch private Verpflichtungen.34 Erst unter dieser Voraussetzung ergibt sich für ihn die Möglichkeit, die Metropole wie beschrieben wahrzunehmen und letztlich frei über seine Zeit zu verfügen. Der Beobachter formuliert deutlich, dass für ihn „die Unabhängigkeit der Muße vom Diktat der Zeit […] mit der Erwartung einer besonders wertvollen Ausfüllung dieser Zeit“35 einhergeht. In dieser temporalen und räumlichen Freiheit ergibt 28 Vgl. Karin Baumgartner, „Constructing Paris. Flânerie, Female Spectatorship, and the Discourses of Fashion in ‚Französische Miscellen‘ (1803)“, in: Monatshefte 100,3 (2008), 351–368. Zur Beziehung von Flanerie und Weiblichkeit siehe Lauren Elkin, Flâneuse. Women Walk the City in Paris, New York, Tokyo, Venice and London, London 2016. Die Beziehung von Stadt und Geschlecht unter stadtsoziologischer Perspektive konturiert Ingrid Breckner, „Stadt und Geschlecht“, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Wirklichkeit der Städte (Soziale Welt 16), Baden-Baden 2005, 241–256. 29 Breckner, „Stadt und Geschlecht“, 245. 30 Auf die Bedeutung biografischer Rahmungen in der Reise- und Kulturtransferliteratur rekurrieren u. a. Michel Espagne/Werner Greiling, „Einleitung“, in: Michel Espagne/ Werner Greiling (Hg.), Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers (1750–1850) (Deutsch-Französische Kulturbibliothek 7), Leipzig 1996, 7–22. 31 Gimmel/Keiling, Konzepte der Muße, 83. Auch die von Soeffner, „Absichtsvolle Absichtslosigkeit“, 40, betonte „Privilegstruktur der Muße“ wäre anzuführen. 32 Vgl. Christoph Wulf/Jörg Zirfas, „Die Muße. Vergessene Zusammenhänge einer idealen Lebensform“, in: Christoph Wulf/Jörg Zirfas (Hg.), Muße (Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 16), Berlin 2007, 9–11, 9. 33 Gregor Dobler, „Arbeit, Arbeitslosigkeit und Rhythmus“, in: Gregor Dobler/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße und Gesellschaft (Otium 5), Tübingen 2017, 61–85, 62. 34 Vgl. zur Bedeutung der individuellen Rahmung von Mußeerfahrungen Hasebrink/ Riedl, „Einleitung“, 3. 35 Hasebrink/Riedl, „Einleitung“, 3.
2. Flanerie als Form urbaner Muße: Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris
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sich zugleich das für den Beobachter produktive Potenzial – eine Zeit, die neben ihrem freiheitlichen Charakter auch „wertvoll gestaltet“36 ist. Er kann die „naturtreuen Abbildungen“ wahrnehmen und sich dergestalt am „lehrreichen und ergötzlichen Werke“ Paris erfreuen. Börne ist in der Lage, „das einzelne der Erscheinung nicht nur aufzunehmen, sondern es zu lesen und auf das Ganze der Stadt zu beziehen“.37 Deutlich wird hier, dass die Flanerie primär „zwar richtungs- wie ziellos ist, was einen zu erreichenden Ort betrifft, dabei jedoch nicht intentionslos sein muss“.38 Dieser spannungsreiche Zusammenhang verdeutlicht zudem, inwiefern die Flanerie als eine Form der urbanen Muße und nicht des Müßiggangs zu lesen ist.39 Börnes Spaziergänge durch Paris negieren ein reines Nichtstun, eine klare Entzugshaltung, sondern sind vielmehr durch die skizzierten „paradoxale[n] Wendungen wie bestimmte Unbestimmtheit, tätige Untätigkeit oder produktive Unproduktivität charakterisiert“.40 Seine Wahrnehmungen changieren zwischen raumzeitlich bestimmten und unbestimmten Mustern genauso wie zwischen der Negation urbaner Betriebsamkeit und einem daraus entstehenden produktiven Potenzial. Das zeigt, dass Flanerie als Form urbaner Muße zwar „Freiheit von den Zwängen der Zeit“ benötigt, „aber sie unterscheidet sich vom bloßen Nichtstun […] dadurch, dass ihr auf zweiter Ebene wieder Produktivität zugeschrieben wird“.41 Dabei gilt es eines jedoch explizit zu betonen. Wenn im vierten Abschnitt dieser Studie verschiedene Texte auf die diversen Formen literarischer Flanerie hin analysiert werden, dann sind sie stets in individuelle Rahmungen eingebettet. Oder anders formuliert: Börnes Darstellung der literarischen Flanerie ebenso wie die dabei entstehenden produktiven Potenziale sind eine, keineswegs aber die Möglichkeit, wie die gelassene und entschleunigte Stadtbeobachtung inszeniert sein kann. Vielmehr ist hervorzuheben, dass die Erfahrungsvielfalt der literarischen Flanerie durch jene Offenheit geprägt ist, welche die Wahrnehmungsform selbst auszeichnet. Von dem „einen Stil der Flanerie“42 zu sprechen, würde übersehen, dass die konkreten literarischen Ausprägungen stark divergieren können. Wenn Börnes Pariser Stadtspaziergang als prototypisches Beispiel für die 36 Dobler/Riedl,
„Einleitung“, 3. Der Mythos von Paris, 369 f. 38 Neumeyer, Der Flaneur, 320. Ähnlich Klinkert, Muße und Erzählen, 2. Er konstatiert, die tendenzielle „Selbstzweckhaftigkeit von Muße“ impliziere „nicht, dass andere, außerhalb der Muße liegende Zwecke damit kategorisch ausgeschlossen wären.“ 39 Diese T hese vertreten etwa Bolle, Physiognomik der modernen Metropole, 355; Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns, 101; Krause, „Figurationen des Müßiggangs“. 40 Dobler/Riedl, „Einleitung“, 3. Ähnliches konstatiert Montandon, „Spazieren“, 75, der den Spaziergang als „zielgerichtete Handlung ohne Ziel, eine Zweckmässigkeit ohne Zweck“ erachtet. 41 Dobler/Riedl, „Einleitung“, 1. 42 Montandon, „Spazieren“, 85. 37 Stierle,
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II Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole
Flanerie als Form urbaner Muße zu lesen ist, dann besitzt dies vor allem einen konzeptionellen Charakter, der in den einzelnen Quellen durch individuelle Rahmungen und literarische Beschreibungsmuster konkretisiert wird. Politische Beobachtungen (Kap. 7) können dabei ebenso zur tragenden Säule avancieren wie nationale Vergleiche (Kap. 10) oder theatrale Darstellungsformen (Kap. 11).43 Literarische Formen der Flanerie sind daher nicht mit einer „ahistorische[n] Basisdefinition des Flaneurs“ hinreichend erklärt, sondern müssen „im jeweiligen Fall kulturell kontextualisiert“44 werden. Der Charakter der beiden vergangenen Kapitel zu Lichtenberg und Börne wie des folgenden zur urbanen Raumzeitlichkeit ist genau durch diese Perspektive bestimmt. Sie stecken das kulturhistorische und konzeptionelle Feld ab, innerhalb dessen sich die einzelnen Quellen aus Abschnitt IV ansiedeln. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Börne als Großstadtbeobachter dem zuvor betrachteten Lichtenberg diametral gegenübersteht. Beim Londonbesucher dominiert die kulturhistorisch topische Zuschreibung, die das Städtische mit dem zweckbestimmten negotium engführt und das Ländliche als Erfahrung des otium charakterisiert.45 Bei ihm ist das „Schreckbild Stadt“ mit dem „Wunschbild Land“ kontrastiert.46 Bei Börne ist die grundlegende Disposition dieser Zuschreibungen – Hektik, Betriebsamkeit und Sinnesüberforderung in der Großstadt – weiter präsent, und doch nimmt er eine andere Wertung vor als sein literarischer Vorgänger. Erfahrungen der Muße sind bei ihm im urbanen Raum zu erkennen. Börnes Beobachtungsmuster stellen, lässt sich zuspitzen, einen Idealtypus der literarischen Flanerie dar. Besonders markant ist die enge Verbindung mit dem Konzept der urbanen Muße. Neben den zufälligen und kontingenten Beobachtungen ist eine positive Haltung zur Großstadt zu erkennen, die sich konfliktreich in die kulturhistorische Bewertung von Stadt und Land einschreibt. Nimmt man Lichtenbergs London und Börnes Paris zusammen, grenzen sie einerseits den in dieser Studie betrachteten Zeitraum ein. Sie stecken darüber hinaus aber auch die Extrempunkte der möglichen Großstadtwahrnehmung ab. Lichtenberg inszeniert den prototy43
Vgl. zu den verschiedenen Funktionalisierungen Müller, „Der Flaneur“, 206. „Der Flaneur“, 215. 45 Dazu ausführlicher aus literaturwissenschaftlicher Perspektive jüngst Magdalena Marszałek/Werner Nell/Marc Weiland, „Über Land. Lesen, erzählen, verhandeln“, in: Magdalena Marszałek/Werner Nell/Marc Weiland (Hg.), Über Land. Aktuelle literaturund kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit (Rurale Topografien 3), Bielefeld 2018, 9–26. 46 Friedrich Sengle, „Wunschbild Land und Schreckbild Stadt. Zu einem zentralen T hema der neuen deutschen Literatur“, in: Studium Generale 16,10 (1963), 619–631. Für die englische Literatur und mit Blick auf das 19. Jahrhundert beschreibt dies Uwe Böker, „Von Wordsworth schlummerndem London bis zum Abgrund der Jahrhundertwende. Die Stadt in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Cord Meckseper/Elisabeth Schraut (Hg.), Die Stadt in der Literatur (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1496), Göttingen 1983, 28–56. 44 Müller,
2. Flanerie als Form urbaner Muße: Ludwig Börnes Schilderungen aus Paris
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pisch überforderten Beobachter, der das hektische Leben und die Sinnesüberforderung in der Metropole missbilligt und daher das idyllische – aber genauso inszenierte! – Landleben präferiert. Börne indes spiegelt die gegensätzliche Perspektive, den affirmativen Blick auf die Großstadt, der zudem mit einem souverän-flanierenden Beobachter verbunden ist.47 Zwei Aspekte sind dabei methodisch für die weiteren Analysen besonders relevant. Erstens ist noch einmal auf die literarische Qualität beider Großstadttexte abzuheben. Sowohl Lichtenberg als auch Börne bieten literarische Stilisierungen der jeweiligen Metropolen. Sie selektieren, arrangieren und verdichten das Bild von London und Paris, sodass die rhetorische Gemachtheit der Texte kaum überschätzt werden kann. Und genauso ist darauf zu verweisen, dass beide Schilderungen von inneren Spannungen geprägt sind. Diese zumindest latente Ambivalenz der jeweiligen Textzeugnisse gilt es deshalb zu betonen, weil sie eine zentrale methodische Folie bildet, vor der die in Abschnitt IV analysierten Texte gelesen werden sollen. Bei Lichtenberg und Börne finden sich jeweils Hinweise auf jene Wahrnehmungsform, die sie konterkarieren. Lichtenberg äußert den Wunsch, in London gelassen zu spazieren und zu observieren. Börne hingegen macht zu Beginn seiner Schilderungen deutlich, inwieweit die Sinnesherausforderung Großstadt auch für seinen Aufenthalt prägend ist. Die beiden Großstadtbeobachter formulieren somit zwar einerseits das polare Feld, innerhalb dessen sich die in Abschnitt IV betrachteten Wahrnehmungsmuster ansiedeln. Sie weisen aber genauso darauf hin, dass diese urbanen Beobachtungen von Uneindeutigkeit geprägt sein können, und damit das spannungsreiche Zusammenspiel von überforderter und souveräner Wahrnehmungsmuster spiegeln. Die „zwischen Tristesse und Sensation gespannte Erfahrung der Großstadt“48, das zeigen Lichtenberg und Börne paradigmatisch, besteht zwischen den einzelnen Texten ebenso wie in ihnen selbst.49 Die unterschiedlichen Wahrnehmungsmuster sind daher nicht in einer zeitlichen Teleologie zueinander zu lesen50, sondern als basales und über die beiden Texte hinausweisendes Spannungsfeld.
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Zum Motiv des souveränen Flaneurs u. a. Hohmann, „Der Flaneur“, 138. Iris Denneler, „Großstadtverunsicherungen. Paris als Topographie und Topos. Eine Passage vom 18. ins 20. Jahrhundert“, in: Denneler, Ungesicherte Lektüren. Abhandlungen zu Bachmann, Pavese, Nossack, Haushofer und Schiller, zur Stadt Paris und zum Lesen in der Schule, München 2002, 120–185, 130. Vgl. dazu auch Riha, Die Beschreibung der „Grossen Stadt“, 40. Er erhebt das „Stadterlebnis“ selbst zum wesentlichen Kriterium, aus dem die zwiespältigen Urteile datieren. 49 Für Lichtenberg betont dies Hans Ludwig Gumbert, „Einleitung“, in: Hans Ludwig Gumbert (Hg.), Lichtenberg in England. Dokumente einer Begegnung. Band I. Einleitung und Text, Wiesbaden 1977, XV–LVI, XLIII. 50 So implizit bei Hauser, Der Blick auf die Stadt; Kleinschmidt, „Die ungeliebte Stadt“. 48
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3. Literarisierte Raumzeitlichkeit: Zum Verhältnis von beobachtender und beobachteter Muße Sowohl die Betrachtung von Lichtenbergs Londonbrief als auch von Börnes Schilderungen aus Paris hat gezeigt, dass die deutsche Großstadtliteratur um 1800 einer umfassenden raumzeitlichen Prägung unterliegt. Den Beobachterinnen und Beobachtern geht es darum, räumliche und zeitliche Erfahrungen aus den Großstädten literarisch zu inszenieren, zu ästhetisieren sowie sprachlich zu verdichten. Besonders gilt dies, wie der Blick auf Börnes Schilderungen demon striert hat, für die literarische Flanerie. Sie ist per definitionem raumzeitlich geprägt, insoweit es letztlich um die Frage geht, wie Beobachterinnen und Beobachter ihren zeitlichen Aufenthalt in urbanen Räumen literarisch beschreiben. Es liegt daher nahe, genau diese Aspekte – lokale ebenso wie temporale – zur übergreifenden Leitlinie der in Abschnitt IV unternommenen Textanalysen zu erheben. Zu diesem Zweck erscheint es sinnvoll, eingangs die theoretischen und konzeptuellen Grundannahmen zu klären und zu eruieren, welche raumzeit lichen T heorieansätze für die Analyse deutscher Großstadtliteratur um 1800 besonders ertragreich sein können. Besonderes Augenmerk gilt den theoretischen Ansätzen Michail Bachtins, Martina Löws und Jurij M. Lotmans1 sowie der Differenz von Beobachten und Beobachtetem, die für die Textanalysen tragend ist. Raumzeitlichkeit als leitendes Paradigma der deutschen Großstadtliteratur um 1800 Wie sehr die deutschen Großstadtberichte um 1800 durch ein enges Zusammenspiel von räumlichen und zeitlichen Elementen geprägt sind, zeigt ein ausgewähltes Beispiel eines anonymen Korrespondenten aus der Zeitschrift London und Paris:
1 Zur Bedeutung der Raumkonzepte Bachtins und Lotmans für die Literaturwissenschaft allgemein vgl. Michael C. Frank, „Die Literaturwissenschaften und der spatial turn. Ansätze bei Jurij Lotman und Michail Bachtin“, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, 53–80.
3. Literarisierte Raumzeitlichkeit
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Während vom T hore St. Denis an bis nach der Halle hinunter, allmählich Leben und T hätigkeit zu erwachen beginnen, der Gewürzkrämer, in Nachtmütze und Pantoffeln, gähnend seinen Laden öffnet, der Weinschenke in der noch verschlossenen Kneipe, ohne Zeugen und Municipalität, den ungestümen Bachus mit der friedlichen Seine vermählt, und die Bäckerin, andächtig ihr Morgenlied singend, bei verriegelter T hür, die zur Ausstellung bestimmten Brote aussucht, welche die Polizei kühnlich wägen mag; während hier die Glut der Schmiede wie ein Nordlicht an den benachbarten Häusern hinauf scheint, und die Tritte der Fußgänger allmählich von dem Rasseln der Wägen übertäubt werden, herrschen in den Seitenstraßen noch immer Nacht und tiefe Stille, so daß die Katzen, die doch sonst das mindeste Geräusch verscheucht, ihre zärtlichen Elegien mitten auf der Gasse anstimmen. (London und Paris XXIII, 1810, 70 f.)
Anhand der Schilderungen des Anonymus ist deutlich erkennbar, inwieweit die Darstellung urbaner Erfahrungen nur im Zusammenspiel von räumlichen und zeitlichen Aspekten möglich ist. Während der Beobachter Tätigkeiten eines prototypischen Pariser Morgens skizziert, entwirft er ein raumzeitliches Panorama. Er konzentriert sich mit Temporaladverbien wie „während“, „noch“ oder „immer noch“ einerseits auf die zeitliche Struktur des Beobachteten. Genauso formuliert er andererseits einen räumlichen Überblick, gibt verschiedene Handlungsstätten an und schildert auf diese Weise ein urbanes Gesamtbild. Es steht außer Frage, dass es sich dabei um eine literarische Verdichtung handelt und dass die Ausführungen von Klischees und bisweilen idyllischen Schwelgereien durchzogen sind. Doch genau in dieser Verdichtung bildet sich der genuin raumzeitliche Charakter des Berichts ab – temporale und lokale Ebene sind in der Skizze des Korrespondenten untrennbar. Besonders fällt dies auf, da der Beobachter fortwährend die beobachteten Praktiken sowohl zeitlich als auch räumlich aufeinander bezieht. Im Anschluss an Michail Bachtin lassen sich die Schilderungen des Korrespondenten, stellvertretend für alle anderen raumzeitlichen Darstellungen in den betrachteten Quellen, als „Chronotopos“ fassen, der „den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen“2 beschreibt. Während Bachtin mit seinem Konzept vorrangig verschiedene Romangattungen charakterisiert, sind seine grundsätzlichen Überlegungen auch für konkrete raumzeitliche Berichte ergiebig. Die Ausführungen des anonymen Korrespondenten „sind durchdrungen von chronotopischen Werten unterschiedlichen Grades und Umfanges“3, welche die räumliche und zeitliche Bewegung graduell modellieren. Das kurze Beispiel 2 Michail M. Bachtin, Chronotopos, übers. v. Michael Dewey (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1879), Frankfurt am Main 2008, 7. Vgl. zur Bedeutung des bachtinschen Chronotopos für die Literaturwissenschaft Sylvia Sasse, „Poetischer Raum. Chronotopos und Geopoetik“, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, 294–308. 3 Bachtin, Chronotopos, 180.
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II Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole
zeigt, inwiefern „Merkmale der Zeit […] sich im Raum“ offenbaren können und „der Raum […] von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert“ wird.4 Bachtins Konzept des ‚Chronotopos‘ für die betrachteten Texte fruchtbar zu machen, bedeutet daher in erster Linie, räumliche und zeitliche Komponenten in ihrem beziehungsreichen Zusammenspiel zu analysieren. An jenen Stellen, die sich als Flanerien charakterisieren lassen, geht dies zudem mit einem Chronotopos einher, der die bereits erläuterten Merkmale trägt (Kap. 2). Einerseits beschreiben die Beobachterinnen und Beobachter konkrete Orte und Zeiten; sie referenzieren ihre Wahrnehmungen innerhalb der urbanen Raumzeitlichkeit. Was andererseits innerhalb dieses Rahmens räumlich und zeitlich passiert, ist unbestimmt und bleibt offen. Es wäre daher verkürzt, Flanerie als Ausdruck urbaner Muße einseitig „als ein Verweilen, in dem die Sukzession der Zeiterfahrung zugunsten der Simultaneität […] und damit auch der Räumlichkeit der Erfahrung zurücktritt“5, zu beschreiben. „Dass sich Muße vorwiegend im Raum manifestiert“6 und „wesentlich räumlich“7 sei, ist vielmehr zu präzisieren. Muße, konkret in ihrer urbanen Form der Flanerie gefasst, ist per se raumzeitlich.8 Beispiele wie der zitierte Korrespondentenbericht deuten darauf hin, dass das enge Zusammenspiel räumlicher und zeitlicher Dimensionen für jede Darstellung flanerieartiger Wahrnehmungsformen jeweils neu auszuloten ist. Die Fragen nach „Statik oder Veränderung der Position des wahrnehmenden Subjekts, nach Arten der Bewegung und nach der Aufteilung des Raumes“9 sind verstärkt präsent. Paradigmatisch ist an dem anonymen Bericht aus Paris ablesbar, dass es in den Schilderungen des Pariser und Londoner Lebens, mehr aber noch in der Beschreibung der jeweiligen subjektiven Wahrnehmung, stets darum geht, das eigene Verhältnis zu Raum und Zeit zu erfassen. Hinzuweisen ist dabei auf den literarischen Charakter der Darstellungen. Die untersuchten Großstadtberichte eignen kaum für eine real- oder sozialhistorische Analyse von London und Paris um 1800, sondern stehen im Zeichen einer ausdrücklichen Ästhetisierung. Damit können im Zeichen künstlerischer Imaginationen potenziell „Raum- und Zeitverhältnisse herrschen, die weder physiChronotopos, 7. Konzepte der Muße, 6 f. 6 Franziska C. Eickhoff/Wolfgang Kofler/Bernhard Zimmermann, „Muße, Rekursivität und antike Briefe. Eine kurze Einleitung“, in: Franziska C. Eickhoff (Hg.), Muße und Rekursivität in der antiken Briefliteratur. Mit einem Ausblick in andere Gattungen (Otium 1), Tübingen 2016, 1–14, 3. 7 Günter Figal/Hans W. Hubert/T homas Klinkert, „Einleitung“, in: Günter Figal/Hans W. Hubert/T homas Klinkert (Hg.), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium 2), Tübingen 2016, 1–6, 1. 8 Zum T hema ‚Raumzeitlichkeit der Muße‘ vgl. den Sammelband Günter Figal/Hans W. Hubert/T homas Klinkert (Hg.), Die Raumzeitlichkeit der Muße (Otium 2), Tübingen 2016. 9 Natascha Würzbach, „Erzählter Raum. Fiktionaler Baustein, kultureller Sinnträger, Ausdruck der Geschlechterordnung“, in: Jörg Helbig (Hg.), Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert (Anglistische Forschungen 294), Heidelberg 2001, 105–129, 120. 4 Bachtin,
5 Gimmel/Keiling,
3. Literarisierte Raumzeitlichkeit
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kalisch, mathematisch noch geographisch belegbar sind“10, sondern sich gerade durch ihre literarisch-künstliche Formung charakterisieren. Auch imaginierte Räume können innerhalb der urbanen Wahrnehmungsmuster eine tragende Rolle einnehmen. Das komplexe Verhältnis zwischen den realen räumlichen Referenzen, deren literarischer Stilisierung sowie potenzieller imaginativer Sequenzen ist somit ein die Texte durchweg prägendes Leitmotiv und je einzeln zu untersuchen. Ein Ort, viele Räume: Der raumsoziologische Blickwinkel Um die stilisierten Darstellungen besser erfassen und einordnen zu können, orientiert sich die Studie unter anderem an neueren Ansätzen der Raum- und Stadtsoziologie. In den letzten Jahren hat sie besonders Martina Löw mit ihren Standardwerken Raumsoziologie11 und Soziologie der Städte12 formuliert. Entgegen früheren, einseitig absolutistisch oder relativistisch konzipierten Raumvorstellungen geht Löw von „einem prozessualen Raumbegriff“ aus, „der das Wie der Entstehung von Räumen erfaßt“.13 Wesentlich ist, dass sie innerhalb dieses Raumverständnisses „von einem sozialen Raum“ spricht, „der gekennzeichnet ist durch materielle und symbolische Komponenten“.14 Es versteht sich, dass die grundlegenden raumsoziologischen Annahmen zunächst einmal gegenüber der literarischen Qualität der untersuchten Quellen abzuwägen sind. Während es der Raum- und Stadtsoziologie um das Wirken realer Menschen geht – insbesondere um die Frage, in welchem Maße in den von ihnen konstruierten Räumen materielle und soziale Faktoren miteinander korrelieren –, beleuchtet eine literaturwissenschaftliche Betrachtung die ästhetisch-stilisierende Intention. Obwohl diese Sphären rein disziplinär unvereinbar scheinen, besitzen sie ihren gemeinsamen Bezugspunkt in der konstruierenden und anordnenden Komponente. Die literarische Gestaltung ist als „Prozess[] der Anordnung“15 fassbar und die „Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse“16, die Löw zum entscheidenden Kriterium von Raumkonstitution erhebt, spielen eine tragende Rolle. 10 Sasse,
„Poetischer Raum“, 298. Martina Löw, Raumsoziologie (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1506), Frankfurt am Main 2001. Einen Überblick über die jüngeren raumsoziologischen Ansätze geben Laura Kajetzke/Markus Schroer, „Sozialer Raum. Verräumlichung“, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, 192–203. 12 Martina Löw, Soziologie der Städte, Frankfurt am Main 2008. Als neuere Zusammenfassung ihrer wesentlichen T hesen siehe Martina Löw, Vom Raum aus die Stadt denken. Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie (Materialitäten 24), Bielefeld 2018. 13 Löw, Raumsoziologie, 15. 14 Löw, Raumsoziologie, 15. 15 Löw, Raumsoziologie, 18. 16 Löw, Raumsoziologie, 159. 11
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Zwei weitere Anknüpfungspunkte sind anhand des zitierten Pariser Korrespondentenberichts ersichtlich. Nachdem der Anonymus den städtischen Morgen ausführlich gezeichnet hat, widmet er sich tageszeitlichen Differenzen: Wenn das Gewühl der Straßen nachmittags sichtbarer wird, so ist es dagegen in den Frühstunden ungleich hörbarer. Viele tausend noch ungesättigte Kehlen – der Schornsteinfeger und das Fischweib, der Scheerenschleifer und die Käsefrau, der Wasserträger und die Lumpensammlerin, der Schuhflicker und die Prezeldame, der Kartoffelmann und das Obstmädchen, der Rebhühner-Händler und die Blumendirne u. s. w. u. s. w. – schreien auf einander los und miteinander um die Wette; die Männer im Discant, die Weiber im Baß; jeder und jede sucht sich durch einen eigenen Zetergesang auszuzeichnen, und man hört, besonders in der volkreichen Nachbarschaft des Palais-Royal, oft Trios und Quartette, die auch das geduldigste Trommelfell zerreißen möchten. (London und Paris XXIII, 1810, 86 f.)
Auffällig ist die Sinneshierarchie, die der Berichterstatter zu Beginn einführt. Er stellt klar, mit unterschiedlichen Tageszeiten gingen verschiedene sensorische Eindrücke einher. Diese Wahrnehmungen bindet er erneut sowohl an örtliche als auch an zeitliche Aspekte. Er rekurriert prinzipiell auf dasselbe „Gewühl der S traßen“, das er für den Pariser Morgen konstatiert hatte – die lokale Positionierung bleibt folglich konstant. Die konkreten Tätigkeiten der beobachteten Pariserinnen und Pariser hingegen variieren zeitlich und fordern in Konsequenz dessen unterschiedliche Sinne des Beobachters heraus. Hier offenbart sich, dass in den untersuchten Texten „Bewegung […] immer räumlich und zeitlich gleichermaßen“ zu lesen ist und „sobald Menschen Räume konstituieren, […] der Zeitpunkt den Handlungen immanent“17 ist. Entscheidend ist, dass Räume – und ebenso ihre textuelle Repräsentation – als dynamisch zu denken sind, als „relationale (An)Ordnung“, die „unaufhörlich in Bewegung“ ist, „wodurch sich die (An)Ordnung selbst ständig verändert“ und sich demgemäß „Raum […] auch in der Zeit konstituiert“.18 Von dieser Perspektive ausgehend besteht anschließend eine enge Beziehung zu den Formen der Flanerie. Insofern ihre Wahrnehmungsart genuin durch Bewegung – also eine „Kategorie, die Raum und Zeit gleichermaßen konstituiert“19 – gekennzeichnet ist, die körperlicher, visueller oder sensorischer Natur sein kann, weist sie eine umfassende Nähe zur raumzeitlichen Veränderlichkeit auf. Wenn die Beobachterfiguren ihre Perspektive ebenso kontinuierlich verändern wie die urbanen Geschehnisse aufeinander folgen, ergibt sich ein ständig modifizierter Eindruck. Raumsoziologie, 34 f. Raumsoziologie, 131. Bachtin, Chronotopos, 7, spricht unter literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive bereits von einem „untrennbare[n] Zusammenhang von Zeit und Raum“. 19 Hartmut Böhme, „Einleitung. Raum – Bewegung – Topographie“, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext (Germanistische Symposien-Berichtsbände 27), Stuttgart 2005, IX–XXIII, XIV. 17 Löw,
18 Löw,
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Der tageszeitlich-vergleichende Blick des Korrespondenten gibt zudem einen Hinweis darauf, weshalb eine dezidierte Unterscheidung von (literarischen) Orten und Räumen notwendig und sinnvoll ist. Er beschreibt, inwiefern an ein und demselben Ort zu verschiedenen Zeiten letztlich grundlegend differente Raum erfahrungen entstehen. Dieses Phänomen ist mit der Kurzformel der Raum soziologie – ein Ort, mehrere Räume20 – adäquat zu beschreiben. Obwohl rein örtlich die Pariser Straßenzüge das Zentrum des Geschehens bleiben, sind sie zu verschiedenen Tageszeiten mit divergierenden Attributen versehen. Das gilt sowohl für den Beobachter selbst als auch für die beobachtete Stadtbevölkerung und ihr alltägliches Leben. Beobachten und Beobachtetes gehen im Bericht des Pariser Anonymus ein unauflösliches Verhältnis ein, insofern es letztlich die Praktiken der Großstädterinnen und Großstädter sind, die zeitlich variabel determinieren, mit welchen Sinnen sich ihnen der Beobachter zu widmen hat. Der Umstand, dass gleichbleibende Orte mit verschiedenen räumlichen Handlungen und Semantiken aufgeladen sind, ist für die untersuchten Formen urbaner Muße von herausragender Bedeutung.21 Für ein freies Verweilen jenseits zeitlicher und gesellschaftlicher Zwänge scheint es topische Orte zu geben. Rückzugsgelegenheiten wie der Londoner St James’s Park oder der Pariser Tuileriengarten wirken prädestiniert dafür, die Beobachterinnen und Beobachter – aber ebenso die beobachtete Stadtbevölkerung – von zweckrationalen Bedürfnissen zu entbinden. Sie könnten prinzipiell Wahrnehmungsformen ermöglichen, die nicht durch die hektische und betriebsame städtische Kultur geprägt sind.22 Dagegen scheinen belebte Straßenzüge und überfüllte Plätze derartige Mußeerfahrungen tendenziell zu erschweren. Der prüfende Blick in die Quellen zeigt jedoch gleich doppelt, dass solche einseitig-topischen Zuweisungen die tatsächlichen Beschreibungen nur partiell angemessen erfassen. Zwar treten entsprechende Darstellungen wiederholt auf und zweifelsohne spielen gerade urbane Rückzugsräume (Kap. 9. 1) für eine Kartografie urbaner Muße eine tragende Rolle, sie bleibt dagegen nicht auf diese Dimension beschränkt. So kristallisiert sich einerseits heraus, dass topische Rückzugsräume sich bisweilen in ihr genaues Gegenteil verkehren können. In einem Bericht für London und Paris vermerkt Johann Christian Hüttner (1766–1847) zum Londoner Vauxhall:
Löw, Raumsoziologie, 53. Auf die literarische Möglichkeit, Orte und Räume mit verschiedenen Codierungen zu versehen, rekurrieren auch Wolfgang Hallet/Birgit Neumann, „Raum und Bewegung in der Literatur. Zur Einführung“, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, 11–32, 17. 22 Zu topischen urbanen Rückzugsräumen um 1800, vor allem in Paris vgl. Markus Fauser, „Die Promenade als Kunstwerk. Karl Gottlob Schelle Die Spatziergänge oder die Kunst spatzieren zu gehen“, in: Euphorion 84,2 (1990), 147–162, 151. 20 Vgl. 21
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Die Menge der Gäste schien so beträchtlich, daß man sie auf zehntausend schätzte. Aber wie erstaunte man am folgenden Tage, als es durch die Zeitungen kund wurde, daß fünfzehntausend gegenwärtig gewesen waren, wie sich aus der Einnahme am Eingange ergeben hatte. Außerdem drängten sich noch etliche hundert ohne zu bezahlen ein, weil der Menschenstrom unaufhaltsam wurde. […] [U]nbeschreiblich ist der Lärm, den die vielen Equipagen, Miethwagen und andere Fuhrwerke außerhalb machten. Ein solcher Wagentroß, ein so heilloser Spuk ist nur vor dem Londner Vauxhall anzutreffen. (London und Paris XV, 1805, 248)
Derselbe Hüttner, der die Gartenanlage von Vauxhall einige Bände zuvor (Kap. 9. 2) als topischen Rückzugsraum beschreibt, formuliert hier das genaue Gegenteil. Indem der Ort durch die vielen tausend Menschen faktisch eine ‚Reurbanisierung‘ erfährt, ändert sich seine räumliche Qualität. Er dient nicht mehr dazu, der urbanen Lebenswelt zu entkommen und bei abendlicher Musik gelassen zu verweilen. Vauxhall ist von einer belebten Londoner Prachtmeile kaum mehr unterschieden, was sich maßgeblich im markanten Verkehrschaos spiegelt. Hüttners Schilderung zeigt, dass im städtischen Kontext „das bloße Betreten von Rückzugsorten allein nicht notwendigerweise dazu führt, dass das jeweilige Subjekt tatsächlich Muße“23 erfährt. Eine voreilige Zuweisung von topischen Orten der Muße sowie der ‚Nicht-Muße‘ entspräche nur unzureichend den mitunter komplexen Aushandlungsvorgängen, welche die Berichterstatterinnen und Berichterstatter darstellen. Hüttners Darstellung von Vauxhall demonstriert außerdem, inwiefern unter raumzeitlicher Perspektive für potenzielle urbane Mußeerfahrungen von einem doppelt kodierten Transgressionsbegriff auszugehen ist. So wie es einerseits möglich ist, dass Rückzugsorte plötzlich zum Inbegriff urbaner Überfüllung mutieren, können andererseits städtische ‚Hotspots‘ erlauben, in Wahrnehmungsformen der Flanerie überzugehen. Beide Richtungen deuten überdies an, inwiefern Mußeerfahrungen oftmals zwischen Intention und Kontingenz oszillieren. Während „bestimmte Verhaltensweisen – wie etwa […] das Aufsuchen eines Rückzugsortes – günstige Rahmenbedingungen“24 entwickeln können, geht dies nicht immer zwingend mit einer entsprechenden Erfahrung einher. Diese grundlegende Differenz von Ort und Raum, die ihren Bezugspunkt in den je individuellen Konstruktionen der Beobachterinnen und Beobachter hat, ist intrawie intertextuell bedeutsam. Gerade der vergleichende Blick auf verschiedene deutsche London- und Paristexte um 1800 zeigt auf, dass zwischen den einzelnen Quellen signifikante Differenzen bestehen können. Insbesondere eifrig be-
Rückzugsorte des Erzählens, 127. Rückzugsorte des Erzählens, 127. Ähnlich beschreibt dies Bianca Edith Blum, „Räume weiblicher Muße in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts“, in: Elisa beth Cheauré (Hg.), Muße-Diskurse. Russland im 18. und 19. Jahrhundert (Otium 4), Tübingen 2017, 169–194, 174. 23 Sennefelder,
24 Sennefelder,
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suchte Orte wie das Londoner Vauxhall oder der Pariser Tuileriengarten sind hierbei von herausragendem Interesse. Der symbolische Raum Neben den literarischen Anordnungsmechanismen ist es vor allem die Verflechtung materieller und symbolischer räumlicher Faktoren, welche die Raumsoziologie für eine Analyse von Großstadtberichten anschlussfähig macht. Inwiefern dies bei der Inszenierung des Londoner oder Pariser Stadtraums eine größere Rolle spielt, zeigt ein literarischer Spaziergang aus London und Paris, in dem ein anonymer Korrespondent verkündet: Wer vor etwa zehn Jahren Paris verließ, und jetzt dahin zurückkehrt, wird Mühe haben, es wieder zu erkennen. Eine Menge neuer Häuser, Denkmäler, Straßen, Plätze, Brücken, Wasserdämme (Quais) u. s. w. und noch mehr neue Namen! Das Alte ist verschwunden, und mit ihm nicht selten auch zugleich jedes Andenken daran. Unablässig mit der genussreichen Gegenwart beschäftigt, achtet der leichtsinnige Pariser nicht mehr der für ihn unfruchtbaren Vergangenheit. Nur das Neue ist an der Tagesordnung, und nur, was an der Tagesordnung ist, heißt ihm wichtig. Das Alte übergiebt er, sobald es nicht unter einer neuen Gestalt, oder wenigstens unter einem neuen Namen erscheint, der ewigen Vergessenheit. (London und Paris XXIV, 1810, 17)
Der Anonymus weist darauf hin, in welchem Maße sich materielle und symbolische Ebenen miteinander verbinden können. Er beschreibt die unter Napoleon Bonaparte (1769–1821) vorgenommenen architektonischen Veränderungen und parallelisiert sie mit einer Gegenüberstellung früherer und heutiger politischer Zeiten. Die allgemein benannten Bauwerke und räumlichen Verhältnisse sind nicht nur „geschichtlicher Handlungsraum, sondern es werden auch Bewertungen impliziert“.25 Die beobachteten Veränderungen sind demnach „konkrete, geographisch-soziale Realität“, aber auch „durch symbolische Bedeutungen“26 gekennzeichnet. An der Beschreibung lässt sich gleich in mehrerlei Hinsicht ablesen, inwiefern „subjektbesetzte, d. h. von Subjekten wahrgenommene, gestaltete und benutzte Räume“ durch „Bedeutungszuweisungen“27 geprägt sind. Sowohl im Londoner als auch im Pariser Stadtraum treffen die Beobachterfiguren folglich jeweils auf mehr als sie beeindruckende und prachtvolle materielle Räume. Diese sind oftmals mit einer über sie hinausweisenden symbolischen Qualität versehen. Dass der Korrespondent verschiedene Zeitebenen räumlich übereinanderschichtet, deutet an, dass gerade in solchen Fällen „alle Zeit- und Raumbestimmungen untrennbar miteinander verbunden und stets emotio-
25 Würzbach,
„Erzählter Raum“, 112. Brennpunkt der Welt, 12. 27 Würzbach, „Erzählter Raum“, 108. 26 Corbineau-Hoffmann,
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nal-wertfüßig gefärbt“28 sind. Die neuen, das Pariser Stadtbild prägenden Bauwerke sind mehr als ein materielles Beobachtungsobjekt. Sie sind gleichzeitig mit einer zeitgeschichtlichen Dimension versehen, die der Korrespondent einer eindeutigen Wertung unterzieht. Diesen Aspekt betont auch Ludwig Börne in seinen Schilderungen aus P aris explizit. Er hält fest, „Paris ist der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Gegenwart und das Fernrohr der Zukunft. Es ist ein Register der Weltgeschichte […]“ (Börne, Schilderungen, 16). Mit seinem dreifachen Hinweis auf verschiedene mediale Konstellationen hebt der Beobachter einen Aspekt heraus, den ebenfalls jüngere stadtsoziologische Ansätze betonen: „In den Städten weilt das Gedächtnis der Menschheit. Städte sind Weltanschauungen, Lebensformen, Philosophien, Räume des Begehrens, Arenen der Macht und ihres Verfalls“.29 Die Metropolen geben sich in den Berichten der Beobachterinnen und Beobachter immer wieder als „ein Palimpsest, in dem sich die geistigen Haltungen und materiellen Bedingungen historischer Phasen räumlich überlagern und überschreiben“30, zu erkennen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die Raumbeschreibungen in den Texten strukturell durch Eigenschaften geprägt sind, wie sie unter anderem Jurij M. Lotman in seiner semiotischen Raumtheorie beschreibt und literaturwissenschaftlich anwendet. Der „Raum im Kunstwerk“, so seine wesentliche T hese, „modelliert verschiedene Beziehungen des Weltbilds: zeitliche, soziale, ethische“.31 Von diesem Grundsatz ausgehend, „übernimmt der ‚Raum‘ mitunter metaphorisch den Ausdruck gänzlich nichträumlicher Relationen in der zu modellierenden Weltstruktur“.32 Räumliche Darstellungen sind „auf Sinn und Werte bezogen, sie sind als Komponenten sich wandelnder Zeichensysteme aufzufassen […] und fungieren daher als Bedeutungsträger“.33 Die zitierten BeChronotopos, 180. Helmuth Berking/Martina Löw, „Wenn New York nicht Wanne-Eickel ist… . Über Städte als Wissensobjekt der Soziologie“, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Wirklichkeit der Städte (Soziale Welt 16), Baden-Baden 2005, 9–22, 9. 30 Konstanze Noack/Heike Oevermann, „Urbaner Raum. Platz – Stadt – Agglomeration“, in: Stephan Günzel (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010, 266–279, 266. Vgl. daneben Gotthard Fuchs/Bernhard Moltmann, „Mythen der Stadt“, in: Gotthard Fuchs/Bernhard Moltmann/Walter Prigge (Hg.), Mythos Metropole (Edition Suhrkamp 1912), Frankfurt am Main 1995, 9–19, 11; Stierle, Der Mythos von Paris, 40. Fuchs/Moltmann bezeichnen die Metropolenerfahrung als „geronnene Geschichte“, während Stierle sie als „Landschaft der Erinnerung“ betitelt. Letzterer spricht des Weiteren davon, „in der Stadt wird die geschichtete Zeit erfahrbar als materielle Kopräsenz des Ungleichzeitigen“ (45). 31 Jurij M. Lotman, „Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa“, in: Lotman, Aufsätze zur T heorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. v. Karl Eimer macher, Kronberg 1974, 200–271, 202. 32 Lotman, „Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa“, 202. 33 Ansgar Nünning, „Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung. Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven“, in: Wolfgang Hallet/ 28 Bachtin, 29
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schreibungen des sich raumzeitlich verändernden Paris sind wie gesehen eng mit entsprechenden Strukturen verknüpft. Der wandelbare materielle Raum spiegelt – teils explizit, teils implizit durch die historischen Anspielungen – eine zeitliche Veränderung und gleichzeitig moralische und gesellschaftliche Dimensionen, insbesondere zudem ein inzwischen verändertes politisches System. Der Kor respondent verknüpft „Elemente aktiv […] über Wahrnehmungs-, Vorstellungsoder Erinnerungsprozesse“.34 Er konstruiert einen Raum, der sich erst in seiner multidimensionalen Struktur verstehen lässt. Das Beispiel zeigt auf, dass die einzelnen Textstellen jeweils unter dieser Perspektive eingehend zu prüfen sind und die raumzeitlichen Beschreibungen die materiell-technische Darstellung überschreiten. Sie sind, sowohl mit Bachtin, Lotman als auch den Ansätzen der Raumsoziologie gesprochen, ein Konglomerat verschiedenster Wahrnehmungsund Wertungsprozesse. Beobachten und Beobachtetes: Harmonien und Dissonanzen Die betrachteten deutschen Großstadtberichte sind neben diesen allgemeinen raumzeitlichen Paradigmen durch die gleichzeitige Beschreibung von Beobachten und Beobachtetem geprägt. Stets geht es den Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten darum, einerseits den eigenen Wahrnehmungsstandpunkt sowie andererseits das konkret Wahrgenommene zu eruieren. Wie ein exemplarischer Blick in einen Bericht aus London und Paris zeigt, hat dies Folgen für die Frage, welche verschiedenen Formen urbaner Muße jeweils erkennbar sind. Im fünften Band beschreibt der wichtigste Pariskorrespondent Friedrich T heophil Winckler (1771–1807), wie er die Champs-Élysées inspiziert, einen „von den Lieblings-Spazierplätzen eines großen T heils der hiesigen Einwohner“ (London und Paris V, 1800, 135).35 Nachdem er den Ort allgemein beschrieben hat, rät er dem imaginierten Lesepublikum, „allein da es gerade Dekadi ist, und wir so nahe an den Champs Elysées sind, schlage ich Ihnen vor, […] mich unterdessen in Gedanken auf einem kleinen Spaziergange zu begleiten“ (London und P aris V, 1800, 138). Die anschließenden Darstellungen entsprechen einer geradezu prototypischen Flanerie. Der Korrespondent sowie seine imaginierte Begleitung beginnen einen Rundgang über die heute berühmteste Pariser Prachtmeile – die damals noch jenseits der Boulevards und des Stadtkerns liegt –, während sie die „mancherley Arten die Aufmerksamkeit der Lustwandler zu reizen“ (London Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld 2009, 33–52, 38. In seinem Aufsatz geht Nünning auch explizit darauf hin, dass der lotmannsche Ansatz für die Literaturwissenschaft fruchtbar sei. 34 Löw, Vom Raum aus die Stadt denken, 43. 35 Vgl. zur Geschichte Pariser Prachtstraße Wilfried Wiegand, „Champs-Élysées. Die Alleinerbin der Boulevards“, in: Klaus Hartung (Hg.), Boulevards. Die Bühnen der Welt, Berlin 1997, 57–83.
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und Paris V, 1800, 138) nach und nach beobachten. Sie laufen von einem kleinen urbanen Schauspiel zum nächsten und verweilen dort jeweils, um die gebotenen Attraktionen näher zu betrachten. Schließlich gelangen sie zu einem weiteren dieser Orte: Wo die zu beyden Seiten der Straße nach S. Germain en quincunx gepflanzten Bäume der Elyseischen Felder aufhören, beginnt eine Reihe, theils öffentlicher, theils Privatgärten, Restaurateurs, Kaffeewirthe u. s. w. bis an die Barrière. Auf der linken Seite der Landstraße führt hier eine Nebenallee zur Seine hin, und längs derselben sind wieder lauter öffentliche Gärten, wo sich die niedrigen Volksklassen theils beym Tanz, theils bey der Flasche, oft auch bey beyden belustigen. Man sieht es den lieben Leuten an, daß sie aller Sorgen sich entschlagen haben, und ihres Lebens recht froh zu werden suchen. Auch versäume ich selten wenn ich in diese Gegend komme, längs dieser Gärten hin, bisweilen auch ein wenig in denselben herumzugehen, und mich der frohen Gesichter zu freuen. (London und Paris V, 1800, 145)
Die Textstelle zeigt exemplarisch auf, wie in den untersuchten Quellen beobachtende und beobachtete Formen urbaner Muße miteinander korrelieren können. Der Korrespondent beschreibt einerseits die räumliche Gestaltung, die verschiedene topische Mußeorte bereithält. Mit den Restaurants, Kaffeehäusern und den verschiedenen Gartenanlagen listet er Einrichtungen auf, die zumindest intentional die Möglichkeit bieten, den alltäglichen Sorgen und Nöten zu entfliehen. Sie erlauben stattdessen, frei in der Zeit zu verweilen, sich dem Genuss hinzugeben und von Zwängen der urbanen Lebenskultur befreit zu sein. Genau diese Annahme bestätigt sich dem Korrespondenten zufolge etwas später. Seinen Aussagen nach sind die beobachteten „niedrigen Volksklassen“ maßgeblich vergnügt und wirken, als hätten sie „aller Sorgen sich entschlagen“ und wären „ihres Lebens recht froh“. Der Korrespondent verweist zusätzlich auf seine eigenen Handlungen und Empfindungen, die er mit dem beobachteten Raum verbindet. Er bemerkt, sobald er die Gegend besuche, sei es ihm ein besonderes Vergnügen, in den Gärten herumzuschlendern und sich darauf einzulassen, welche fröhlichen und vergnügten Eindrücke ihm begegnen. Sowohl auf der Ebene der eigenen iterativen Beobachtung als auch jener der beobachteten Menschen und Praktiken verweist der Korrespondent somit auf topische – und in diesem Fall tatsächlich eingelöste – Mußekonstellationen. Er selbst ist wie die anwesenden „Volksklassen“ befreit von den vielen negativen Attributen des Stadtlebens, die andernorts Eingang finden. Die Gleichzeitigkeit von beobachtenden und beobachteten Formen urbaner Muße signalisiert darüber hinaus, inwieweit „Muße“ als ein „eminent gesellschaftliches Phänomen“36, durch Beobachtungsinstanzen ästhetisch vermittelt, aufzufassen ist. Gerade im Zusammenspiel beobachtender und beobachteter Mußeformen besteht 36 Dobler/Riedl,
„Einleitung“, 1.
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das Potenzial, gesellschaftliche Privilegienstrukturen zu identifizieren und zu diskutieren, wie an vielen Textstellen zu erkennen ist.37 Es versteht sich, dass diese beiden Ebenen letztlich ineinander verschränkt sind. Das Beobachtete konstituiert sich im beobachtenden Akt selbst und verweist zurück auf die Beobachterinstanz, besonders zudem auf ihr Vorwissen, ihre Werte und Einstellungen, ihre Wahrnehmungsposition sowie auf Bilder vom fremden Land und der fremden Stadt (Abschnitt III). Dies zeigt das angeführte Beispiel der Champs-Élysées symptomatisch. Der Beobachter ist gerade deshalb in der Lage, die ausgelassene Stimmung der „niedrigen Volksklassen“ zu erkennen, weil er sich unter sie mischt und eine Nahaufnahme wagt. Indem er aber gleichzeitig externer Beobachter ist, bleiben seine Bewertungen an die eigene Position rückgebunden. Folglich besteht für jene Sequenzen, in denen die Berichterstatterinnen und Berichterstatter über die beobachteten Gegenstände urteilen, stets die Frage, durch welche diskursiven und weiteren Voraussetzungen sie bereits bis zu einem gewissen Grad vorbestimmt sind. Ihre Wahrnehmungen sind, um ein zentrales Diktum der Raumsoziologie aufzugreifen, „nichts Unmittelbares, sondern durch Bildung und Sozialisation vorstrukturiert“.38 Insbesondere die ‚doppelte Fremdheit‘ der deutschen Beobachterinnen und Beobachter (Kap. 4) sowie die diversen intertextuellen Bezüge, konkret die vorbereitende Reiselektüre wie Merciers Tableau de Paris (Kap. 6), können hier für die untersuchten Quellen als entscheidend gelten. Der auf mehreren Ebenen subjektive „Blickwinkel des Betrachters bzw. der Betrachterin“ ist folglich „jeder Raumkonstruktion immanent“.39 Die jeweils individuelle Perspektive steht wiederum in engster Beziehung zur tradierten literarischen Darstellung. Letztere ist einerseits durch erstere vorgeprägt und kann sie andererseits bestätigen oder widerlegen (Kap. 4). Dabei gilt es den besonderen Standpunkt der deutschen Beobachterinnen und Beobachter zu betonen. Obwohl ihre Wahrnehmungen voraussetzungsvoll und durch verschiedene zeitgenössische Diskurse geprägt sind, werfen sie dennoch einen anderen Blick auf die Metropolen als deren Bewohnerinnen und Bewohner. Sie fungieren als externe Instanz, die zudem literarisch oftmals die Perspektive der ‚Nicht-Verreisten‘, des im heimischen Deutschland weilenden Lesepublikums einnehmen. Innerhalb solcher außenstehenden Perspektiven können wiederum Beobachtungspotenziale entstehen. Vor allem die Wahrnehmung sozialer Verhältnisse und damit verbundene Wertungen sind signifikant. Im oben angeführten Bericht zu den Champs-Élysées deutet sich dies bereits an. Ein konkreter Raum ist einer ausgewählten gesellschaftlichen Klasse zugewiesen und rückt die beobach37
Vgl. u. a. Soeffner, „Absichtsvolle Absichtslosigkeit“, 40.
38 Löw, Raumsoziologie, 197. Löw verweist dabei auch darauf, dass aufgrund verschiede-
ner Parameter (etwa Klasse, Geschlecht) diese Vorprägung bei jeder/jedem Wahrnehmenden unterschiedlich vorstrukturiert sei. 39 Löw, Raumsoziologie, 220.
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tete Muße daher in ein spezifisches raumzeitliches Verhältnis. Noch stärker zeigt das ein weiterer Bericht aus London und Paris, in dem der anonyme Korrespondent „X.Y.“ den Jardin Türc, einen kleinen Abschnitt der Boulevards, skizziert. Nachdem er zunächst beschreibt, dass der Garten eine urbane Idylle darstelle und „alle diese Siebensachen […] nun freilich die schaulustige Welt herbeilocken“ (London und Paris XXVIII, 1812, 225), erfasst er anschließend die soziale Dimension: Ungeachtet die mehrmals erwähnten drei Vorstädte nur durch den Boulevard und einige Straßen von dem Mittelpuncte von Paris getrennt sind, so scheinen sie doch, in Rücksicht ihrer ganz verschiedenen Lebensweise, Sitten, Gebräuche u. s. w., mehr als hundert Meilen davon entfernt zu seyn, ja sogar einem ganz anderen Erdstriche anzugehören. […] Diese Verschiedenheit der Lebensart ist nicht leicht irgendwo sichtbarer, als im Jardin Türc, wo die Antipoden täglich zusammentreffen, die verschiedenen Zonen der Hauptstadt einander durchkreuzen; denn ob er gleich zunächst für die mittlere, einfachere Volksclasse geeignet zu seyn scheint, so findet doch auch die sogenannte elegante Welt es nicht unter ihrer Würde, sich zuweilen hier sehen zu lassen. (London und Paris X XVIII, 1812, 227 f.)
Der Korrespondentenbericht verdeutlicht, welch bedeutende Rolle soziale Unterschiede in den urbanen Beobachtungen der deutschen Berichterstatterinnen und Berichterstatter spielen können. Klassische Definitionskriterien der Stadt wie „Größe, Dichte und Heterogenität“40 geraten zu einem quantitativen ebenso wie zu einem qualitativen Beobachtungsmoment. Der Anonymus hebt zudem gesondert auf die soziale Vielfalt der Metropolen ab, die als verbindendes Wahrnehmungsmerkmal aller untersuchten Texte zu verstehen ist. Seine Ausführungen zeigen stellvertretend, dass in den Metropolen „beide Formen des Zusammenlebens, die distanziert gesellschaftliche und die Lebenswelt verschiedender sozialer Gruppen mit einer eigenen Binnenstruktur“41, auftreten. Diese Beobachtungen sind umso mehr zu betonen, als dass sie sich in das noch genauer zu betrachtende Verhältnis von deutscher Selbst- und Fremdwahrnehmung (Kap. 4) einschreiben.42 40
Helmuth Berking, „‚Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen‘. Skizzen zur Erforschung der Stadt und der Städte“, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung (Interdisziplinäre Stadtforschung 1), Frankfurt/New York 2008, 15–31, 20. Vgl. zum Begriff der heterogenen Stadt vor allem Löw, Soziologie der Städte; Martin Wentz, „Raum und Zeit in der metropolitanen Entwicklung“, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume (Die Zukunft des Städtischen. Frankfurter Beiträge 2), Frankfurt/New York 1991, 9–14. 41 Noack/Oevermann, „Urbaner Raum“, 267. 42 Vgl. Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 16. Er führt die Konfrontation mit den ‚anderen‘ sozialen Verhältnissen mit einem emanzipativen Potenzial eng, insofern die „neue Erfahrungswirklichkeit des großstädtischen Alltags soziokulturell dominante Anschauungsformen […] in einen Prozeß der Krise und der Auflösung“ versetzen könne.
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Die Passage zeigt außerdem, dass solche Zusammenhänge gerade über Formen sowohl der beobachtenden als auch der beobachteten Muße analysierbar sind. Der Bericht zum Jardin Türc ist in einen größeren Spaziergang über die Pariser Boulevards eingebettet, der sich als Flanerie erfassen lässt (Kap. 8. 3). Innerhalb dieser erzählerischen Rahmung kommt es zur Beobachtung sozialer Verhältnisse, die in enger Verbindung zur beobachteten Muße stehen. Mit dem Jardin Türc ist einer der topischen Rückzugsräume angesprochen, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner verweilen. In ihm sind sie scheinbar keinen äußeren Zwecken verpflichtet und können Abstand vom turbulenten städtischen Leben gewinnen. Bemerkenswert ist in diesem Kontext die enge Bindung an die gesellschaftlichen Pariser Verhältnisse, die als ambivalente Mischung aus Segregation und Integration formuliert sind. Während der Garten genuin die „mittlere, einfachere Volksclasse“ beheimatet, bietet er gleichzeitig die Möglichkeit, soziale Grenzen zu überschreiten – zumindest in einer raumzeitlich vorübergehenden Art und Weise. Sowohl das zitierte Beispiel der Champs-Élysées als auch die Beschreibung des Jardin Türc zeigen damit, dass die Beobachtung der deutschen Reisenden und Korrespondenten die Bewunderung sehenswerter Bauten und bloß registrierende Wahrnehmungen der Bevölkerung überschreitet. Gerade auch gesellschaftliche Verhältnisse sowie mit ihnen verbundene raumzeitliche Strukturen geraten in den Blick. Flanerie als urbane Muße kann hier „dazu dienen, […] vor allem das soziale Umfeld und die Welt insgesamt besser zu begreifen“.43 Sie zeigen zudem auf beobachteter Ebene – erneut lässt sich an die jüngeren T hesen der Raum- und Stadtsoziologie anschließen –, in welchem Maße „soziale Strukturen sich als räumliche niederschlagen oder wie räumliche Strukturen soziales Handeln prägen“44 können. „Mußeräume“, seien sie beobachtender oder beobachteter Natur, sind demnach „nicht nur individuell geprägt, sondern kulturell codiert“ und nach „unterschiedlichen […] gesellschaftlichen Kontexten“45 strukturiert. Der Zusammenhang von räumlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen zeichnet sich als entscheidende Leitlinie für die Analysen ab. Innerhalb des räumlich-sozialen Konglomerats tritt außerdem verstärkt zutage, inwiefern die geschilderten urbanen Räume als „Organisation des Nebeneinanders“46 aufzufassen sind. Dies betrifft, um eine weitere zentrale raumsoziologische T hese anzuführen, bauliche Strukturen genauso wie „relationale 43 Elisabeth Cheauré/Evgenija N. Stroganova, „Zwischen Langeweile, Kreativität und glücklichem Leben. Muße in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts “, in: Elisabeth Cheauré (Hg.), Muße-Diskurse. Russland im 18. und 19. Jahrhundert (Otium 4), Tübingen 2017, 83–167, 93. 44 Löw, Raumsoziologie, 46. 45 Dobler/Riedl, „Einleitung“, 6. Zur kulturellen Codierung von Mußeräumen siehe überdies den Aufsatz von Blum, „Räume weiblicher Muße in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts“. 46 Löw, Raumsoziologie, 12.
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Verflechtungen sozialer Güter und Menschen“.47 Erst im Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen – der materiellen Raumgestaltung wie den ihn belebenden Menschen –, offenbart sich seine eigentliche Qualität. Das zeigt beispielsweise ein genauerer Blick auf die angeführte Passage zum Jardin Türc. Bevor der Korrespondent auf die bereits angeführte soziale Bespielung eingeht, rekurriert er auf materielle Eigenschaften: Man darf nur hineintreten, um die kaum einige Dutzend Quadratruthen enthaltende Fläche, nebst allen ihren Herrlichkeiten von einem Ende bis zum andern zu übersehen. Gleichwohl hat der französische Erfindungsgeist auf dieser winzigen Fläche gleichsam als in einer Nußschale, nicht nur ein Kaffeehaus, nebst Billardsaale und anderem Zubehör, sondern auch Berg und T hal, eine Brücke und eine Grotte, Bildsäulen und Blumenbeete, Chinesische Tempel und Tatarische Zelte […], ja sogar […] einen großen Spiegel unter freiem Himmel anzubringen gewußt. (London und Paris XXVIII, 1812, 225)
Der Korrespondentenbericht zum türkischen Garten verweist damit letztlich auf beide Ebenen der sozialen Konstruktion. So wie der Anonymus darauf aufmerksam macht, wie der Mensch die Anlage gestaltet habe, bespricht der zweite Teil, wie ihn die Bewohnerinnen und Bewohner nutzen. Materielle Gestaltung, die wiederum sozialen Reglements folgt, steht somit in einem unauflöslichen Verhältnis zur sozialen Nutzung. Gleichwohl bleibt zu betonen, dass dieses Verhältnis auch unharmonisch sein kann. Die Wahrnehmungen von Beobachterinnen und Beobachtern sowie den Beobachteten zugeschriebene Wertungen können erheblich voneinander differieren. Besonders die Frage, ob die Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten selbst an den städtischen Ereignissen teilnehmen oder eher eine passiv-beobachtende Haltung einnehmen, ist dabei ein zentrales Analysekriterium. Die Eigenlogik der Städte: Erwartung und Erfahrung Es versteht sich, dass diese Beziehung von Teilnahme und Beobachtung stets literarischen Stilisierungen und bisweilen Imaginationen, wie z. B. gedanklich vorgestellten Vogelperspektiven, unterliegt. Gerade anhand jener Textstellen, in denen die Beobachterinnen und Beobachter soziale Prozesse wahrnehmen, ist jedoch ein Konnex zwischen der literarischen Darstellung und neueren stadtsoziologischen Ansätzen erkennbar. Was beispielsweise die Pariser Korrespondenten für die Champs-Élysées oder den Jardin Türc skizzieren, korreliert frappierend mit jüngeren Überlegungen der Stadtsoziologie, wie sie insbesondere Helmuth Berking und Martina Löw formuliert haben.48 Die Vorstellung, in Städten exisRaumsoziologie, 13. Vgl. bes. Löw, Vom Raum aus die Stadt denken; Löw, Soziologie der Städte; Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung (Interdisziplinäre Stadtforschung 1), Frankfurt/New York 2008. 47 Löw, 48
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tiere eine „Eigenlogik“, mit der „vor Ort eingespielte, zumeist stillschweigend wirksame Prozesse der Sinnkonstitution“49 beschreibbar sind, weisen alle drei Schilderungen auf. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Paris, so die Auskunft, beleben den Stadtraum nach klaren, wenngleich opaken, räumlich-sozia len Regeln. Während die Champs-Élysées dabei einen klar abgesteckten Raum bilden, in dem eine „routinisierte und habitualisierte Praxis“50 ihren Niederschlag findet, sind die Strukturen am türkischen Garten komplexer gestaltet. Hier ist, geht man nach den Aussagen des Korrespondenten, vielmehr ein Raum gegeben, in dem das soziale Gefüge überhaupt erst ausgehandelt wird und der symptomatisch für das Zusammenleben verschiedener städtischer Bevölkerungsgruppen steht. Das Beispiel verweist explizit auf „sozial konstruierte, sich verändernde sozialräumliche […] Eigenlogiken, welche sich auf die Erfahrungsmuster derer, die in ihnen leben, auswirken und deshalb für das Verständnis von Gesellschaft konstitutiv sind.“51 Dieser Zusammenhang lässt sich als eine allgemeine Eigenschaft aller Textstellen lesen, in denen die Beobachterinnen und Beobachter den urbanen Raum samt seiner sozialen Bespielung wahrnehmen. Im Mittelpunkt steht jeweils die Frage, inwieweit die beschreibenden Instanzen das Beobachtete als typisch, als ‚eigenlogisch‘ für die jeweils beobachtete Stadt skizzieren. Dies verweist wiederum verstärkt auf den Umstand, dass die Texte in verschiedener Weise durch zeitgenössische Bilder geprägt sind. „Was über eine Stadt erzählt werden kann“, hängt maßgeblich damit zusammen, „welche Deutungsmuster als plausibel etabliert werden“.52 Die stadtsoziologische Überlegung, „eingebrannte Sätze und Bilder liegen von jenen Städten vor, in denen Charakterisierungen auf plausible Weise in erzählerische Formen […] gebracht wurden“53, kann als geradezu symptomatisch für die deutsche Wahrnehmung von London und Paris um 1800 gelten. Wie aus den Ausführungen zu kulturellen und intertextuellen Rahmungen (Abschnitt III) ersichtlich ist, sind es die tradierten und topisch verfestigten Bilder der Metropolen, die das Wahrnehmungsverhalten wesentlich prägen. Damit besteht zwischen den beobachtenden und beobachteten Ebenen noch einmal eine neue Beziehung. Insofern die deutschen Reisenden und Korrespondenten graduell fremd in den Metropolen sind, treffen sie potenziell auf eine städtische Eigenlogik, von der sie selbst zunächst einmal ausgenommen sind. Gleichzeitig jedoch bringen sie ein umfangreiches Vorwissen, verbunden mit stereotypen Bildern der besuchten Orte, mit. Aus diesem komplexen Zusammenspiel resultiert bisweilen eine bemerkenswerte Beziehung von Erwartung und Erfahrung54, Soziologie der Städte, 19. Soziologie der Städte, 77. 51 Löw, Soziologie der Städte, 134. 52 Löw, Soziologie der Städte, 82 f. 53 Löw, Soziologie der Städte, 86. 54 Zu bisweilen ‚enttäuschten‘ Erwartungen, insbesondere im Fall Paris, vgl. Sabine Die49 Löw,
50 Löw,
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II Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole
wie paradigmatisch der allererste Londonartikel Johann Christian Hüttners aus London und Paris zeigt: London ist ein so aus allem Geschicke gewachsenes Ungeheuer, daß man, von welcher Seite auch die Einfahrt geschieht, nie recht sagen kann: Nun bin ich da! Nicht lange, so ist man mitten drinn. Wie groß, welch ein Gewühl von Fußgängern! Da sind ja meine Landsleute, die Frankfurter Juden auch! – Das ist wirklich ein schöner Laden – am Ende der Straße ist ein schrecklicher Tumult, alles läuft zu, gewiß Jemand ermordet. Nein! es war ein Bänkelsänger. Mitten in der City sind die Straßen heillos schmutzig. Vorher hatte ich zu mir gesagt: ja das ist eine ganz andre Stadt, als Hamburg oder Wien! Aber nun strafte ich mich, als lauter alte baufällige Häuser und eine von Steinkohlerauch geschwängerte Atmosphäre uns aufnahmen. (London und Paris I, 1798, 18)
Hüttners Ausführungen illustrieren, inwiefern die eigene Erwartung mit der tatsächlichen Erfahrung in situ kollidieren kann. Der Korrespondent inszeniert eigenlogische Strukturen der Metropole, mit denen er sich als Einreisender konfrontiert sieht. Er hebt auf seine eigene Erwartung an die Stadt ab, schürt die Erwartung, die urbanen Eindrücke müssten ihn begeistern; doch beschreibt dann eine Großstadt, die sich als expliziter Wahrnehmungsschock auszeichnet.55 Das vom Korrespondenten geschilderte London ist eine Metropole, die keine „Mischung[] vorgefertigter Ingredienzien“ ist, sondern „ihre Ingredienzien […] in einem hohen Maße eigenmächtig und in vielem auch selbst“56 hervorbringt. Dies ist umso bemerkenswerter, da Hüttner keineswegs das erste Mal nach London reist. Zu Beginn seines Berichts betont er vielmehr, „als eine ferne Dunstwolke den Ort andeutete, wo die reichste Stadt dem Meere Gesetze giebt, pochte mir das Herz, wie ehemals“ (London und Paris I, 1798, 17). Seine Ausführungen zeigen deutlich, inwieweit die Wahrnehmungen sowohl durch ein Vorwissen über die besuchten Orte als auch durch die eigene Erfahrung in den Städten selbst geprägt sind. Für die raumzeitlichen Rahmungen der untersuchten Texte lässt sich somit dreierlei festhalten. Erstens hat sich gezeigt, dass sie alle grundlegend das unauflösliche Verhältnis von Raum und Zeit verhandeln. Diese beiden Ebenen können nur in ihrem entschiedenen Zusammenspiel adäquat analysiert werden. Dies korreliert zweitens damit, dass sich die verhandelten Raumzeitlichkeiten stets auf verschiedenen Ebenen bewegen. Die Darstellungen der Beobachterinnen und Beobachter weisen über die topografische Dimension hinaus, sodass gleichfalls symbolische Aspekte zur Debatte stehen. Insbesondere zeitgeschichtliche zinger, „Paris in deutschen Reisebeschreibungen des 18. Jahrhunderts (bis 1789)“, in: Francia 14 (1986), 263–329, 328. 55 Vgl. Deuling, „Early Forms of Flânerie“, 95. 56 Petra Gehring, „Was heißt Eigenlogik? Zu einem Paradigmenwechsel für die Stadtforschung“, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung (Interdisziplinäre Stadtforschung 1), Frankfurt/New York 2008, 153– 167, 157.
3. Literarisierte Raumzeitlichkeit
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Implikationen nehmen dabei eine tragende Rolle ein. Sowohl unter allgemeiner Perspektive als auch für einzelne Raumzeitlichkeiten haben sich analytische Leitkriterien ergeben. Zuvorderst ist für die einzelnen Schilderungen zu fragen, inwiefern sie topische Orte der Muße oder anderweitig kodierte Lokalitäten beschreiben. Dass solche kulturell gefestigten Konstellationen nicht immer in den Berichten bestätigt werden müssen, haben ausgewählte Textpassagen aufgezeigt. Gerade in den betrachteten Quellen ist die jeweils individuelle Konstruktion der Raumzeitlichkeiten bedeutend – und zwar sowohl auf beobachtender als auch auf beobachteter Ebene. Schließlich korreliert dies eng mit der anschließend näher zu betrachtenden ‚doppelten Fremdheit‘. Die fremden Beobachterinnen und Beobachter treffen auf eine urbane Eigenlogik, von der sie zunächst einmal ausgenommen sind. Gerade aus dieser Differenz entsteht oftmals ihr Blick auf die Metropolen. Dies unterstreicht abschließend, wie entscheidend es ist, die Rahmenbedingungen der in Abschnitt IV untersuchten Texte zu klären. Die in ihnen verhandelten Wahrnehmungen sind, bei allen individuellen Schwerpunktsetzungen, durch strukturelle gemeinsame Bezugspunkte geprägt. Diese gilt es im folgenden Abschnitt näher zu eruieren.
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III Historische und literarische Kontexte der deutschen Großstadtwahrnehmung um 1800
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4. Deutsche Fremd- und Selbstwahrnehmung: London und Paris im Zeichen einer doppelten Fremdheit Fremd- und Selbstwahrnehmung: Der deutsche Blick auf London und Paris Der historisch-systematische Vergleich von Lichtenberg und Börne (Kap. 1/2) hat gezeigt, dass die deutschen Großstadtreisenden um 1800 sich einer gemeinsamen Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung stellen. Sie bereisen mit London und Paris zwei Metropolen, die mit ihrem sowohl quantitativ als auch qualitativ überbordenden Geschehen dem wahrnehmenden Subjekt vieles, vielleicht zu viel abverlangen. Das liegt auf der einen Seite zweifellos an den beobachteten Gegenständen selbst. London und Paris überwältigen die deutschen Beobachterinnen und Beobachter mit ihren schwerlich zähl- und erzählbaren Eindrücken. Sowohl Lichtenberg als auch Börne betonen, die Städte seien nicht als Ganzes narrativierbar, sondern nur in ihren partikularen Einzelbeobachtungen. Diese grundlegende Wahrnehmungsherausforderung, die sich wohl als (literatur-)historische Konstante beschreiben lässt, ist in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 allerdings um eine gesonderte Beobachtungsvoraussetzung ergänzt. Sie lässt sich mit dem Konzept einer ‚doppelten Fremdheit‘ beschreiben, wie es Erich Kleinschmidt und Conrad Wiedemann mit ihren Aufsätzen im Sammelband Rom – Paris – London maßgeblich formuliert haben.1 Wenn Deutsche um 1800 nach London oder Paris reisen, verbinden sich nationale und urbane Alterität. Besonders geraten Fremd- und Selbstwahrnehmung in ein enges und spannungsreiches Zusammenspiel. Kaum eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller bereist die beiden Metropolen, ohne den Vergleich zur eigenen Heimat zu ziehen. Sowohl auf nationaler als auch auf urbaner Ebene zeichnen sich dabei Unterschiede ab, die gravierend sind. National sehen sich die Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten mit zwei historisch verwurzelten Nationalstaaten konfrontiert, die überdies mit London und Paris jeweils über eine bestimmende Metropole verfügen. Demgegenüber kommen sie selbst aus einem politischen Deutschland, das bis weit ins 19. Jahrhundert hinein 1 Erich Kleinschmidt, „Die Ordnung des Begreifens. Zur Bewußtseinsgeschichte urbaner Erfahrung im 18. Jahrhundert“, in: Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen (Germanistische Symposien-Berichtsbände 8), Stuttgart 1988, 48–63; Wiedemann, „‚Supplement seines Daseins‘?“.
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III Historische und literarische Kontexte um 1800
durch territoriale Zersplitterung und ausbleibende Zentralität geprägt ist. Eine zentralistische Metropole fehlt den zeitweise rund 400 deutschen Einzelstaaten ebenso wie eine nationalstaatliche Struktur.2 Aus dieser Ungleichheit resultieren in einem zweiten Schritt ganz unterschiedliche Bewertungen der nationalen Unterschiede. Während manche die vermeintliche deutsche ‚Rückständigkeit‘ bedauern3, suchen andere in London und Paris die (Erfahrungs‑)Kompensation für das, was zu Hause verwehrt bleibt.4 Und Dritte wiederum betonen gerade die Vorteile einer staatlichen Zersplitterung. Christoph Martin Wieland (1733–1813) konstatiert noch 1795, „die dermalige Deutsche Reichsverfassung ist, ungeachtet ihrer unläugbaren Mängel und Gebrechen, für die innere Ruhe und den Wohlstand der Nation im Ganzen unendlich zuträglicher […] als die Französische Demokratie“.5 Die Perspektiven auf die nationalen, vor allem aber die politischen und gesellschaftlichen Differenzen zwischen den deutschen Einzelstaaten sowie Frankreich und Großbritannien weichen bisweilen diametral voneinander ab. Verstärkt wird dies durch die internationale Bedeutung beider Städte. London und Paris symbolisieren pars pro toto zwei Weltmächte, welche die Geschicke Europas und der Welt um 1800 besonders prägen. Politisch, militärisch und wirtschaftlich sowie als „Zentren neuer Kommunikations-, Verkehrs- und Lebensformen“6 sind London und Paris die Taktgeber der europäischen und globalen Entwicklung. Die beiden Metropolen, so ist unter dieser Perspektive festzuhalten, sind einerseits „ein regionales Verdichtungsphänomen“ und repräsentieren andererseits „bestimmte Kulturen oder Herrschaften“.7 Wenn die Herausgeber von London und Paris notieren, von London und Paris gingen „die Schläge aus, die in Philadelphia und Calcutta, an der Newa und in der Capstadt“ (London und 2 Vgl. Horst Günther, Versuche, europäisch zu denken. Deutschland und Frankreich (Edition Suhrkamp 1621), Frankfurt am Main 1990, 344. 3 Angelika Wellmann, „Vorwort“, in: Angelika Wellmann (Hg.), Der Spaziergang. Ein literarisches Lesebuch, Hildesheim 1992, 5–11, 9. 4 Wolfgang Griep, „Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert“, in: Rolf Grimminger (Hg.), Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 3), München/ Wien 1980, 739–764, 748. Vgl. zur deutschen Selbstwahrnehmung um 1800 auch Peter Philipp Riedl, „Das Alte Reich und die Dichter. Die literarische Auseinandersetzung mit einer politischen Krise“, in: Aurora 59 (1999), 189–224. 5 Christoph Martin Wieland, „Aufsätze über die Französische Revolution“, in: C. M. Wielands Sämmtliche Werke, Bd. 31: Vermischte Schriften, Leipzig 1857, 1–327, 237. Dass das Muster, die eigene nationale Identität im Kontrast zu anderen zu elaborieren, der deutschen Literatur und Kultur um 1800 großflächig inhärent ist, beschreibt Harold James, Deutsche Identität. 1770–1990, Frankfurt am Main/New York 1991, im Kapitel „Die Ursprünge eines deutschen Nationalbewußtseins“. 6 Oesterle, „Paris“, 346. 7 Harald Mieg, „Metropolen. Begriff und Wandel“, in: Jörg Oberste (Hg.), Metropolität in der Vormoderne. Konstruktionen urbaner Zentralität im Wandel (Forum Mittelalter Studien 7), Regensburg 2012, 11–33, 24.
4. Deutsche Fremd- und Selbstwahrnehmung
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Paris I, 1798, 4) zu spüren seien, so steht dies sinnbildlich für die wortwörtliche ‚metropolitane‘ Qualität, die deutschen Städten zeitgenössisch fehlt.8 Entscheidend ist zudem, dass urbane Größenverhältnisse, wie sie London und Paris zu bieten haben, den deutschsprachigen Gebieten um 1800 weitgehend fremd sind. Während die britische Hauptstadt bereits um 1800 mehr als eine Million Einwohnerinnen und Einwohner zählt, Paris mit rund 600.000 Menschen dahinter rangiert, bewegen sich die größten deutschsprachigen Städte wie Wien oder Berlin mit knapp unter 200 000 Menschen deutlich in anderen Regionen.9 Das schließt zwar nicht, wie das Beispiel Wiens als Habsburgerresidenz zeigt (Kap. 9. 3), prinzipiell aus, dass in diesen Städten ebenfalls urbane Lebensformen zu beobachten sind, die an London oder Paris erinnern. Aber es zeugt zugleich davon, dass London und Paris insbesondere unter quantitativer Perspektive europaweit herausragen. Dass die Einwohnerzahlen um 1800 teilweise sogar noch höher geschätzt werden, markiert schlaglichtartig, welche überbordenden Vorstellungen zeitgenössisch von den Metropolen existieren.10 Die Wahrnehmung der deutschen Großstadtbeobachterinnen und ‑beobachter ist folglich durch einen grundlegenden Differenzcharakter bestimmt. Angesichts kultureller Zentren wie des klassischen Weimar oder Kurstädten wie BadenBaden11 wäre es zwar verkürzt, „Provinzialität, sprich: Einzelgängerei und Naturkompetenz“12 einseitig als maßgebend anzusehen. Und des Weiteren gilt es zu bedenken, dass die Fremdheit den Metropolen gegenüber stets eine graduelle ist. Während – um das in Abschnitt IV untersuchte Textkorpus aufzugreifen – Schriftsteller wie Rebmann oder Arndt das erste Mal nach Paris reisen, leben Korrespondentinnen und Korrespondenten wie jene in London und Paris für längere Zeit in den Großstädten. Trotz dieser partiellen Einschränkungen ist der grundlegende Differenzcharakter zwischen den europäischen Metropolen und der deutschen Klein- und Vielstaaterei maßgebend für die Großstadtberichte. Das „Fehlen eines echten Mittelpunkts, einer Metropole wie London oder Paris“13 ist der strukturelle Ausgangspunkt zu Faszination wie Schrecken, welche die Großstädte wahlweise auf die deutschen Beobachterinnen und Beobachter entfalten. Die imagologische Annahme, „daß Heterostereotypen mehr über den urteilenden Sprecher selbst 8 Vgl.
Oesterle, „Bewegung und Metropole“, 182. den Einwohnerzahlen siehe Dirscherl, Heinrich Heines Poetik der Stadt, 22; Peitsch, „Die Entdeckung der ‚Hauptstadt der Welt‘“, 132. 10 So schätzt Friedrich Schulz in seinem einflussreichen Werk Ueber Paris und die Pariser, Erster Band, Berlin 1791, 33, für die französische Hauptstadt, man nähere sich bereits der Millionengrenze. 11 Vgl. Klaus Fischer, Baden-Baden erzählt. Der Kurort im alten und neuen Glanz, Bonn 1985. 12 Wiedemann, „‚Supplement seines Daseins‘?“, 2. 13 Bödeker, „Reisen“, 213. 9 Zu
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III Historische und literarische Kontexte um 1800
aussagen als gar dessen eigene Autostereotypen“14, ist dabei ein leitendes Kriterium. Die „enormen Unterschiede zwischen Weltstädten wie London und Paris und den deutschen Residenzstädten“15 führen dazu, dass jede Aussage über die ausländischen Metropolen implizit eine Stellungnahme zu den heimischen Verhältnissen darstellt. Um 1800 vollziehen die Unterschiede teilweise sogar einen qualitativen Sprung. Das zeigt unter anderem eine Bemerkung des London und Paris-Korrespondenten Karl Gottlieb Horstig (1763–1835).16 In seinem Artikel „Erweiterung der Stadt London“ (London und Paris XII, 1803, 102) berichtet er: Die ungeheure, von dem Gipfel der Paulskirche kaum zu übersehende Stadt, mit ihren die Zahl von 800 jetzt schon weit übersteigenden Straßen und Squares, mit ihren Vorstädten, die sich an die nächsten Dörfer anschließen, welche das Ansehen neuer Städte haben, würde zuletzt das ganze Land verschlingen, wenn man ihr nicht von der Nordseite, wo sie des Anbaues am meisten fähig ist, eine Grenze bestimmt hätte, die sie, nach den neusten Parlamentsschlüssen, in der Folge nicht überschreiten soll. (London und Paris XII, 1803, 102 f.)
Das von Horstig geschilderte „städtebauliche[] Mosaik“17 steht sinnbildlich dafür, dass „Wachstum […] de[n] Dauerzustand der Stadt“18 konstituiert. Seine Ausführungen heben daneben auf die Wahrnehmungsherausforderung ab, die damit für deutsche Beobachterinnen und Beobachter einhergeht. Selbst wer sich auf den architektonisch höchsten Punkt der Stadt begibt und den Panoramablick von St Paul’s Cathedral genießt, kann nur bedingt die ganze Stadt einsehen. Horstig charakterisiert die Metropole als „gewunden, ungenau und bedrückend“19 und stellt sie implizit dem idyllischen Landleben gegenüber, das durch die Expansion verschlungen wird.20 Inwiefern zusehende Verstädterung 14 Manfred Beller, „Vorurteils- und Stereotypenforschung. Interferenzen zwischen Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie“, in: Beller, Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006, 47–60, 57. 15 Köhn, Straßenrausch, 12. 16 Vgl. zu diesen historischen Entwicklungen Peter Borscheid, „Beschleunigungsdoping. Die Aufforstung der Welt mit Beschleunigungsimperativen“, in: Klaus-Michael Kodalle/Hartmut Rosa (Hg.), Rasender Stillstand. Beschleunigung des Wirklichkeitswandels. Konsequenzen und Grenzen (Kritisches Jahrbuch der Philosophie 12), Würzburg 2008, 23–34. 17 Jürgen Paul, „Großstadt und Lebensstil. London und Paris im 19. Jahrhundert“, in: Monika Wagner (Hg.), Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst I, Reinbek bei Hamburg 1991, 50–74, 54. 18 Peter Ackroyd, London. Die Biographie, München 2002, 113. Vgl. zum Stadtwachstum um 1800 zudem Karl Bosl, „Die mitteleuropäische Stadt des 19. Jahrhunderts im Wandel von Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Kultur“, in: Wilhelm Rausch (Hg.), Die Städte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 7), Linz 1983, 1–23. 19 Ackroyd, London, 130. 20 Dass dieses Motiv in der deutschen Londonliteratur um 1800 topisch ist, zeigt Ingrid
4. Deutsche Fremd- und Selbstwahrnehmung
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und urbanes Wachstum zudem ganz direkt die aus der deutschen Heimat bekannten Lebensformen konterkarieren können, zeigt das Beispiel der London und Paris-Korrespondentin Helmina von Chézy (1783–1856).21 Sie findet in einem „Brief einer teutschen Dame in Paris an eine Freundin in Deutschland“ (London und Paris XXIII, 1810, 241) scharfe Worte: Wer nicht in Paris zu leben verdammt ist, liebes Kind, der weiß von seinem Glücke nichts; das kannst Du mir glauben. […] Ich aber, seit acht Jahren an diesen Kaukasus geschmiedet und vom Geyer des Heimweh ärger genagt, als der arme Prometheus von Jupiters Racheboten, seufze und sehne mich nach dem Rheinufer hinüber, das ich beim Ueberfahren mit Wehmuth verließ, ohne indeß nur zu ahnen, was das neubegierige junge Herz um das Vaterland eintauschte. […] Dieser Dunst, der über den ganzen großen Steinklumpen wie eine Schreckenswolke verbreitet liegt und den man von Montmartre’s Höhe, sowohl am reinsten Frühlingsmorgen, als am kalten hellen Wintermorgen erblickt, ist ein Beweis der verpesteten Luft; dann die unaussprechliche Unreinlichkeit des Volkes, das tobende Getümmel auf den Straßen, der Schmutz, der im Sommer und Winter gleich ist, die drei Fuß breiten, und hundert Fuß hohen Gassen, in welche nie ein Strahl der Sonne dringt, wo Tausende ein elenderes Leben fortathmen, als der Verbrecher im Kerker, in Armuth, Laster und dumpfer Betäubung. Glanz und Elend, dessen greller Gegensatz überall sich dem Blicke aufdrängt. (London und Paris XXIII, 1810, 241 f.)
Zusammengenommen liegt sowohl Horstigs Wachstumskritik als auch Chézys allgemeinem Affront gegen die Pariser Urbanität die deutsche Wahrnehmungsperspektive zugrunde. Beide heben, sei es implizit oder explizit, darauf ab, in den Metropolen seien sie mit Strukturen konfrontiert, die der eigenen Heimat prinzipiell fremd seien. Dass dies nicht zwingend zu negativen Urteilen führen muss, sei noch einmal explizit betont. Denn so wie Helmina von Chézy in London und Paris ein urbanes Schreckbild zeichnet, hält ein anonymer Korrespondent „X. Y.“ im selben Journal fest, wer nach Paris reise, könne „Lutetiens vielgepriesene Herrlichkeiten“ (London und Paris XXVI, 1811, 98) bestaunen. Die ausgewählten Beispiele verdeutlichen, wie verschieden das Urteil über die Metropolen bisweilen ist. Gemeinsam ist ihnen allen jedoch die Ausgangsperspektive. Sie nehmen London und Paris aus einem deutschen Blickwinkel wahr, der aus heimatlicher Erfahrung mit Großstädten dieser Größenordnung weitgehend unvertraut ist. Zu bedenken ist, dass es sich sowohl um einen produktionsästhetischen als auch um einen rezeptiven Faktor handelt. So wie die Reisenden zumeist mit persönlichen Erfahrungen in den Metropolen unvertraut sind, gilt dies ebenKuczynski, „Ins gelobte Land der Freiheit und des Wohlstands. Reisen nach England“, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, 237–243, 239, auf. 21 Vgl. zu Chézy und ihren urbanen Bildern ausführlich René Waßmer, „Urbane Muße jenseits der Stadt. Literarische Idyllen aus London und Paris (1798–1815)“, in: Peter Philipp Riedl/Tim Freytag/Hans W. Hubert (Hg.), Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen (Otium 19), Tübingen 2021, 55–81.
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III Historische und literarische Kontexte um 1800
falls für die Rezipientinnen und Rezipienten der Berichte. Auf kommunikativer Ebene gerät die ‚doppelte Fremdheit‘ damit zu einem Leitkriterium, das die geschilderten Erfahrungen ebenso prägt wie die übergeordnete Kommunikationssituation und dergestalt auch die rhetorische Funktion der Texte. Die nachfolgenden Ausführungen wollen sich mit den nationalen wie urbanen Perspektiven und Argumenten befassen, die sich innerhalb dieser grundlegenden historischen Unterschiede besonders einschlägig abbilden. Zuvorderst soll es darum gehen, inwieweit die untersuchten deutschen Großstadtberichte durch die Muster der skizzierten ‚doppelten Fremdheit‘ präformiert und geprägt sind. Im Mittelpunkt stehen dafür imagologische Perspektiven, die sich als fruchtbar für die Analyse der Texte erweisen.22 Von besonderem Interesse ist, welche urbanen und nationalen Bilder von London und Paris respektive Großbritannien und Frankreich um 1800 in den deutschen Reise- und Großstadtberichten florieren. Die ideelle Folie dazu bildet das Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung, das wie gesehen als Beobachtungsdispositiv herausragt.23 Als Erstes steht zur Debatte, dass die Texte durch nationale und politische Stereotype ausgezeichnet sind, die sich als leitend für die urbane Wahrnehmung erweisen. Gerade der immer wieder beschworene, jedoch in der konkreten Beurteilung variable, (politische) Gegensatz zwischen Frankreich und Großbritannien gerät besonders ins Visier. So soll zunächst dargelegt werden, auf welche Weise die Wahrnehmung von städtischen Lebensformen für die deutschen Beobachterinnen und Beobachter auch damit einhergeht, ob man sich politisch und national eher Frankreich oder Großbritannien zugeneigt fühlt. Dies verbindet sich damit, ebenfalls genauer zu erfassen, welche urbanen Eigenschaften den beiden Metropolen ganz besonders zugeschrieben werden und wie die deutschen Großstadtbesucherinnen und -besucher diese wiederum einschätzen.
22 Vgl. zur literarischen Imagologie grundlegend Manfred Beller, Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006. Im selben Band findet sich der Aufsatz Manfred Beller, „Typologia reciproca. Über die Erhellung des deutschen Nationalcharakters durch Reisen“, in: Beller, Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006, 105–124, in dem Beller seine imagologischen Ansätze explizit auf die deutsche Reise- und Großstadtliteratur um 1800 bezieht. Zur Imagologie siehe als Standardwerk außerdem Franz K. Stanzel, Europäer. Ein imagologischer Essay, 2., aktual. Aufl., Heidelberg 1998. 23 Zur Bedeutung von Selbst- und Fremdwahrnehmung in der Großstadtliteratur allgemein vgl. Wolfgang Asholt, „Stadtwahrnehmung und Fiktionalisierung“, in: Walter Fähnders (Hg.), Berlin, Paris, Moskau. Reiseliteratur und die Metropolen (Reisen Texte Metropolen 1), Bielefeld 2005, 31–45, 45.
4. Deutsche Fremd- und Selbstwahrnehmung
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Der national-politische Gegensatz: Französische Revolution und englische Freiheit Dass Frankreich und Großbritannien um 1800 politische und historische Konkurrenten sind, ist hinlänglich bekannt und erforscht.24 Die kriegerischen Auseinandersetzungen im Zeichen der Französischen Revolution sowie der napoleonischen Ära stehen stellvertretend hierfür. Neben militärischen Streitigkeiten spielen auch nationalpolitische und gesellschaftliche Aspekte eine tragende Rolle, wie ein kursorischer Vergleich der historischen Entwicklungen um 1800 zeigt. Frankreich, genauer Paris, ist zweifelsohne vor allem durch ein Ereignis geprägt. Die Französische Revolution sorgt genauso für innernationale soziale und politische Erschütterungen wie sie gleichzeitig das europäische Zeitalter um 1800 maßgeblich mitbestimmt.25 Besonders „Reisen nach Paris“ sind damit „Reisen in die geschichtliche Gegenwart“26, die sich den deutschen Beobachterinnen und Beobachtern mit einer schnellen Abfolge von einander ablösenden politischen Entwicklungen präsentiert. Das revolutionäre Paris gerät in den Augen vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller zum „Inbegriff geschichtlicher Zeitbeschleunigung“27 und damit verbundener Unbeständigkeit. Zu beachten ist außerdem, dass aufgrund der französischen Expansionspolitik, besonders jener Napoleons, viele Deutsche in der eigenen Heimat leibhaftige Erfahrungen mit den politischen Wechselspielen des westlichen Nachbars machen.28
24 Für die Publizistik um 1800 vgl. Wolfgang Cilleßen/Rolf Reichardt, „Ein Journal und sein bildgeschichtlicher Hintergrund“, in: Wolfgang Cilleßen/Rolf Reichardt/Christian Deuling (Hg.), Napoleons neue Kleider. Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar, Berlin 2006, 7–35. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive einschlägige Kapitel bei Heiner Haan/Gottfried Niedhart, Geschichte Englands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Geschichte Englands 2), 2., durchges. Aufl., München 2002. 25 Eine umfangreiche Darstellung des deutschen Frankreichbildes (nicht nur) um 1800 liefert Bernard Trouillet, Das deutsch-französische Verhältnis im Spiegel von Kultur und Sprache (Studien und Dokumentationen zur vergleichenden Bildungsforschung 20), Weinheim/Basel 1981. 26 Ingrid Oesterle, „Der ‚Führungswechsel der Zeithorizonte‘ in der deutschen Literatur. Korrespondenzen aus Paris, der Hauptstadt der Menschheitsgeschichte, und die Ausbildung der geschichtlichen Zeit ‚Gegenwart‘“, in: Dirk Grathoff (Hg.), Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode (Gießener Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur und Literaturwissenschaft 1), Frankfurt am Main u. a. 1985, 11–75, 15. 27 Günter Oesterle, „Urbanität und Mentalität. Paris und das Französische aus der Sicht deutscher Parisreisender“, in: Michel Espagne/Michael Werner (Hg.), Transferts. Les rélations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIe et XIXe siècle), Paris 1988, 59–79, 67. 28 Vgl. Helmut Berding, „Die Ausstrahlung der Französischen Revolution auf Deutschland“, in: Holger Böning (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Deutsche Presseforschung 28), München 1992, 3–16, 8.
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III Historische und literarische Kontexte um 1800
Großbritannien und London indes sind innenpolitisch eher durch Konstanz geprägt und bilden für viele Beobachterinnen und Beobachter das „bevorzugte Gegenbild zum unruhigen Frankreich“.29 Der Inselstaat erlebt seine Revolution, die Glorious Revolution (1688/89), bereits im späten 17. Jahrhundert und verfügt daraus resultierend – unter anderem mit der 1689 verabschiedeten Bill of Rights – über ein vergleichsweise stabiles politisches System. Obwohl auch in Großbritannien um 1800 innenpolitische Verwerfungen immer wieder eine Rolle spielen30, etwa während der Kriege gegen Napoleon, ist der Unterschied zu Frankreich und Paris unübersehbar. Vielen Beobachterinnen und Beobachtern scheint Großbritannien „die einzige Großmacht […], in der […] eine auf der Freiheit basierende Verfassung verwirklicht war und deren Verhältnisse ein Studium der Auswirkungen der Freiheit in der Praxis zuließen“.31 Die „Manifestationen einer in den Grundrechten verankerten Freiheit“ können sogar das Potenzial entfalten, „utopische Zukunftsperspektive für die eigene Nation“32 zu sein. Vor allem das englische Parlament gilt vielen deutschen Beobachterinnen und Beobachtern als vorbildlich und steht metonymisch für die mit England verbundene Freiheit.33 Wenn etwa Johann Wilhelm von Archenholz in seinem bedeutenden Reisebericht England und Italien konstatiert, Großbritannien sei die „Königin der Inseln“34, dann ist es auf die skizzierten Kontraste zwischen dem Inselstaat und Frankreich bezogen. Zu bedenken ist für England und London schließlich die seit 1714 und bis 1837 bestehende Personalunion zwischen dem britischen und dem hannoverischen T hron, die ebenfalls für ein erhöhtes deutsches Interesse sorgt.35 Für Fragen urbaner Muße in deutschen Großstadtberichten um 1800 sind diese politischen und historischen Rahmenbedingungen vor allem aus drei Gründen bedeutend. Erstens gilt es zu bedenken, dass gerade in der deutschsprachigen Politik, Kultur und Literatur eine ausgeprägte Debatte darüber geführt wird, ob man sich politisch eher an Frankreich oder an Großbritannien orientieren solle. Diese Urteile sind, wie die dazugehörige Forschung immer wieder Reiseziel England, 389. Hans-Christoph Schröder, „Die neuere englische Geschichte im Lichte einiger Modernisierungstheoreme“, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt (Industrielle Welt 20), Stuttgart 1977, 30–65, 63 f. 31 Sisko Haikala, „Britische Freiheit“ und das Englandbild in der öffentlichen deutschen Diskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert (Studia Historica Jyväskyläensia 32), Jyväskylä 1985, 43. 32 Inge Rippmann, „Tradition und Fortschritt. Das frühindustrielle England aus der Perspektive eines aristokratischen Individualisten, Fürst Pückler-Muskau“, in: Recherches Germaniques 25 (1995), 159–179, 162. 33 Vgl. Peter Philipp Riedl, „Topographie der Freiheit. Das britische Parlament als Sehnsuchtsort in der deutschen Literatur“, in: Angermion 2 (2009), 3–20. 34 Johann Wilhelm von Archenholz, England und Italien, Bd. 1,1, Leipzig 1785, 1. 35 Vgl. Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen, 209. 29 Fischer, 30
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aufzeigen konnte, inkonstant und ändern sich besonders im Zeichen der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege in teils hoher Geschwindigkeit.36 So ist zu erkennen, dass viele Deutsche anfangs den Blick begeistert auf die französischen Entwicklungen des Jahres 1789 lenken, das in ihren Augen progressive Frankreich dem vermeintlich rückständigen Großbritannien gegenüberstellen – nur um dann angesichts der fortschreitenden innerrevolutionären Auseinandersetzungen, insbesondere der Jakobinerdiktatur, wieder Großbritannien den Vorzug zu geben.37 Nach dem Sturm auf die Bastille 1789 reisen viele Deutsche begeistert in die französische Hauptstadt und wollen selbst am revolutionären Umsturz mitwirken.38 Für manche, wie Joachim Heinrich Campe in seinen Briefen aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, mutiert die Reise in das „Experimentierfeld der Moderne schlechthin“39 gar zu einer religiös konnotierten Wallfahrt.40 Spätestens mit der Terreur der Jakobinerdiktatur mehren sich allerdings wieder die deutschen Stimmen, welche die Vorgänge im Nachbarland skeptisch bis ablehnend verfolgen. „Die deutschen Reaktionen auf das französische 1789“ sind somit mittelfristig durch „ein hohes Maß an Ambivalenz“ gekennzeichnet, das „Sympathien und Versuche der Übernahme“ ebenso abbildet wie „Strategien der Abwehr und einer politisch-sozialen Prophylaxe“.41 Und auch das napoleo nische Zeitalter ist in der deutschen Wahrnehmung durch solche Mehrdeutigkeiten geprägt. Der französische Herrscher wird als „unüberwindlicher Stratege, bald als Friedensfürst, bald als Vollender der Revolution, bald als kalt berechnen36 Stellvertretend für die breite Forschung seien nur zwei Sammelbände genannt: Holger Böning (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Deutsche Presseforschung 28), München 1992; Helmut Berding/Etienne François/Hans-Peter Ullmann (Hg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution (Edition Suhrkamp 1521), Frankfurt am Main 1989. 37 Vgl. ausführlich dazu Haikala, Britische Freiheit. 38 Vgl. zu dieser anfänglichen (literarischen) Revolutionsbegeisterung vor allem Wolfgang Kaschuba, „Revolution als Spiegel. Reflexe der Französischen Revolution in deutscher Öffentlichkeit und Alltagskultur um 1800“, in: Holger Böning (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Deutsche Presseforschung 28), München 1992, 381–398. Schätzungen gehen davon aus, dass allein zwischen 1789 und 1799 rund 4000 Deutsche aus solchen Motiven nach Paris reisen, vgl. Emanuel Peter, „Die Revolution als Fest – das Fest als Revolution. Zur Rezeption der französischen Revolutionsfeste in der deutschen Frühromantik und ihrer Geselligkeitstheorie“, in: Eitel Timm (Hg.), Geist und Gesellschaft. Zur deutschen Rezeption der Französischen Revolution, München 1990, 107–124, 112. 39 Denneler, „Großstadtverunsicherungen“, 138. 40 Vgl. zu dieser Motivik Johannes Weber, „Wallfahrten nach Paris. Reiseberichte deutscher Revolutionstouristen von 1789 bis 1802“, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, 179–186. 41 Kaschuba, „Revolution als Spiegel“, 386.
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der grausamer Tyrann“42 gezeichnet. Wie besonders T homas Grosser aufzeigen konnte, führt dies zu variablen T hemen in der daraus resultierenden Parisliteratur, die zwischen dem politischen Schwerpunkt und der Beobachtung urbaner Lebensformen – je nach den zeitgeschichtlichen Gegebenheiten – oszilliert.43 Großbritannien und London bilden aufgrund der historischen Unterschiede jeweils den ideellen Gegenpol. Die britische Konstanz kann den revolutionären Idealen als rückständig gegenübergestellt werden, wird genauso aber im Zeichen der blutigen Revolutionsfolgen wieder zum erstrebenswerten Zustand erhoben.44 Die ambivalenten Wertungen zeigen auf, dass die Jahre um 1800 keine reine „Blütezeit der Anglophilie“45 darstellen, sondern dass insbesondere im Zeichen der Französischen Revolution „das Englandbild der Deutschen […] ab 1789 in Bewegung geraten war“.46 Diese Konkurrenzen bilden sich übrigens, das sei ergänzt, nicht nur politisch ab. Vor allem die Gegenüberstellung von französischem Barock- und englischem Landschaftsgarten zeigt, dass auch kulturelle Aspekte mit den nationalen Zuschreibungen eng verbunden sind.47 Außerdem können „Detailbeobachtungen des Alltags“ durchaus auf das „Ideal der Gleichheit und Freiheit“48 bezogen werden. Vor allem aber, das ist für die Wahrnehmungen der deutschen Reisenden entscheidend, werden oftmals ergänzend nationale Attribute in den Bewertungen adressiert. Besonders einschlägig zeigt dies ein Artikel aus London und Paris. Hier verfasst der britische Hauptkorrespondent Johann Christian Hüttner einen Beitrag namens „Sind Archenholz und Küttner wahrhafte Schilderer englischer Sitten und Vortheile? – Die Kehrseite“ (London und Paris VIII, 1803, 3). Polemisch greift er klassische anglophile Schriften wie Johann Wilhelm Archenholz’ An42 Gonthier-Louis Fink, „Das Frankreichbild in der deutschen Literatur und Publizistik zwischen der Französischen Revolution und den Befreiungskriegen“, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81–83 (1977), 59–87, 85. 43 V. a. in T homas Grosser, „Der lange Abschied von der Revolution. Wahrnehmung und mentalitätsgeschichtliche Verarbeitung der (post-)revolutionären Entwicklungen in den Reiseberichten deutscher Frankreichbesucher 1789–1814/15“, in: Gudrun Gersman/ Hubertus Kohle (Hg.), Frankreich 1800. Gesellschaft, Kultur, Mentalitäten, Stuttgart 1990, 161–193. Aus literaturgeschichtlicher Gesamtperspektive betont auch Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil. Das Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1806 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 7,1), München 1983, die sehr verschiedenen Reaktionen auf Revolution und Napoleon in der deutschen Literatur. 44 Sehr detailliert zeichnet diese Zweideutigkeiten Haikala, Britische Freiheit, nach. 45 Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, 440. 46 Haikala, Britische Freiheit, 234. 47 Zur kulturellen Konkurrenz zwischen Frankreich und Großbritannien um 1800 siehe ausführlich Gonthier-Louis Fink, „Das Bild des Nachbarvolkes im Spiegel der deutschen und französischen Hochaufklärung (1750–1789)“, in: Bernhard Giesen (Hg.), Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 940), Frankfurt am Main 1991, 453–492. 48 Kuczynski, „Reisen nach England“, 240.
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nalen der britischen Geschichte der Jahre 1788–1796 (1788–1800) und England und Italien oder Carl Gottlob Küttners (1755–1805) Beyträge zur Kenntniss vorzüglich des Innern von England und seiner Einwohner (1791–1796) an. Er vermerkt etwa, „Fremdenverachtung […], insbesondre der Londner Franzosenhaß“ (London und Paris VIII, 1803, 13), sei ein Aspekt, der in der zeitgenössischen Debatte bisher zu kurz komme, und dass dergestalt bislang ein zu positives Bild der britischen Insel dominiere. Der ausgewählte Artikel Hüttners zeigt somit zuspitzend, dass um 1800 weniger eindeutige deutsche Blicke auf London und Paris respektive Großbritannien und Frankreich dominieren, als dass vielmehr ein breitgefächertes diskursives Feld vorliegt, in dem die einzelnen Positionen einander klar gegenüberstehen können. Darüber hinaus ist zu erkennen, dass sich die politischen Argumente oftmals mit dem Urteil über soziale Verhaltensmuster und vermeintlich ‚typische‘ französische oder britische Eigenschaften verbinden. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert präsente Stereotype wie die des galanten und leichtlebigen Franzosen gegenüber dem eher rationalen und nüchternen Briten werden fortwährend aktualisiert und jeweils mit den rezenten historischen Entwicklungen in enge Verbindung gebracht. Unter anderem betont auch Ernst Moritz Arndt in seinem Reisebericht die „Eleganz und Urbanität […], Leichtigkeit und Ungezwungenheit der Natur“, die er in Paris beobachten könne – und die vor allem dem „groben Takt manches Teutschen“ (Arndt, Reisen III, 346) eindeutig entgehenstehe. Wie insbesondere Erich Schneider für die deutsche Wahrnehmung Frankreichs um 1800 aufgezeigt hat, kann „das Bild, das man sich […] vom Nachbarvolk zumindest ansatzweise machte, […] als Waffe in der aktuellen politischen Auseinandersetzung“49 dienen. Besonders das „Klischee vom lebenslustigen, oberflächlichen Franzosen und der geschminkten, aufgeputzten Französin“50 avanciert immer wieder zum kontroversen Politikum. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang auch allgemeiner, dass um 1800 nationale Bilder eine zusehende diskursive Wichtigkeit erlangen.51 Die Metropolen, so lässt sich aus den Berichten immer wieder ablesen, wirken dabei auf die Beobachterinnen und Beobachter als Orte, an denen sich diese Eigenschaften besonders verdichten.52
49 Erich Schneider, „Revolutionserlebnis und Frankreichbild zur Zeit des ersten Koalitionskrieges (1792–1795). Ein Kapitel deutsch-französischer Beziehungen im Zeitalter der Französischen Revolution“, in: Francia 8 (1980), 277–393, 333. 50 Diezinger, „Paris in deutschen Reisebeschreibungen“, 317. 51 Vgl. dazu Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (Campus Bibliothek), 2., erw. Aufl., Frankfurt am Main/New York 2005. 52 Vgl. dazu für London Fischer, Reiseziel England, 144. Für Paris beschreibt dies u. a. Karl Hammer, „Paris als exemplarische Hauptstadt“, in: T heodor Schieder/Gerhard Brunn (Hg.), Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts 12), München/Wien 1983, 135–151.
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Zweitens ist anzumerken, dass genau diese nationalstereotypen Attribute, sowohl auf der politischen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene, die Wahrnehmungen der deutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller maßgeblich präformieren. Dies erklärt sich aus den Reisepraktiken um 1800. Wer nach London oder Paris reist, tut dies selten, ohne dass er oder sie sich zuvor intensiv mit den zu bereisenden Gegenden auseinandersetzt.53 Dass für die Reisen die „drei Phasen der Vorbereitung, Wahrnehmung und schriftlichen Fixierung“54 tragend sind, verdeutlicht das Gewicht hetero- und autostereotyper Vorstellungen. Die Lektüre von bereits bekannten Reiseberichten oder anderen publizistischen Erzeugnissen ist nahezu unabdingbar. Diese Intertextualität, die es unter literaturgeschichtlicher Perspektive genauer zu beleuchten gilt (Kap. 5/6), hat Konsequenzen für die Wahrnehmung vor Ort. Dass die Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten etwa wiederholt die Differenz von Erwartung und Erfahrung in ihren Berichten herausstellen, zeugt am deutlichsten von der Bedeutung des Vorwissens und der damit verbundenen Stereotype.55 Wer nach London oder Paris reist, kann von den dortigen Lebensumständen, der Topografie und den allgemeinen Eindrücken im Grunde nicht überrascht sein. Es handelt sich, so ist mit Blick auf den Leitbegriff dieses Kapitels zu bemerken, nicht um eine „unvertraute Fremde“, die sich „vorgegebenen Ordnungsmustern“56 entzieht. Vom vermeintlich fremden Land und den urbanen Lebensformen herrscht bereits vor Abfahrt ein Bild, das man auf der eigenen Reise bestätigt oder widerlegt sieht.57 Die durch Lektüre einschlägiger Berichte „erworbenen Muster […] ebenso wie […] durch solche Schemata wahrgenommene Wirklichkeit“ beeinflussen die Wahrnehmungen der deutschen Reisenden in solchem Maße, „daß [sie] der Andersartigkeit des Fremden überhaupt nicht unvoreingenommen begegnen“58 können. Explizit gilt
53 Vgl. dazu besonders Ralph-Rainer Wuthenow, „Weltbilder, Reisebilder. Bildungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert“, in: Klaus Beyrer (Hg.), Zeit der Postkutschen. Drei Jahrhunderte Reisen 1600–1900, Karlsruhe 1992, 125–136. 54 Manfred Beller, „Das Bild des Anderen und die nationalen Charakteristiken in der Literaturwissenschaft“, in: Beller, Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006, 21–46, 42. 55 Gleichwohl wäre zu bemerken, dass das Reisen und die direkte Erfahrung nicht zwingend zur Aufhebung der Stereotype führen, sondern sie gerade bestätigen können, wie u. a. Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart/Weimar 2001, 46, darstellt. 56 Herfried Münkler/Bernd Ladwig, „Dimensionen der Fremdheit“, in: Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit (Studien und Materialien der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Die Herausforderung durch das Fremde der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), Berlin 1997, 11–44, 27. 57 Vgl. zur wahlweisen Bestätigung oder Widerlegung von Vorurteilen und Stereotypen Beller, „Vorurteils- und Stereotypenforschung“, 58. 58 Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen, 1.
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dies für urbane Eindrücke, für politische oder historische Wahrnehmungen und genauso für die nationalstereotypen Bilder. Wer nach London oder Paris reist, hat im Regelfall recht genaue Vorstellungen, über welche Eigenschaften die ‚typische‘ Engländerin oder der ‚klassische‘ Franzose vermeintlich verfügt. Das zeigt einmal mehr, inwiefern die Leitlinie einer ‚doppelten Fremdheit‘ für die deutsche Wahrnehmung von London und Paris um 1800 prägend ist. Sowohl auf urbaner als auch auf nationaler Ebene spielt die durch Lektüre und zeitgenössische Diskurse vorgeprägte Perzeption eine kaum zu überschätzende Rolle. Sie ist zwar nicht als determinierend zu verstehen, insofern „das Reisen […] den Reisenden verändern“59 kann. Und doch zeigt sie, dass die ‚doppelte Fremdheit‘ letztlich als ein gradueller Faktor zu lesen ist, der sich besonders in den individuellen Vorannahmen und biografischen Hintergründen der Berichterstatterinnen und Berichterstatter spiegelt.60 Umso entscheidender ist die Fremdheit der persönlichen, der eigenen Erfahrungen, die mit zeitgenössischen literarischen Debatten rund um das ‚richtige Wahrnehmen‘ (Kap. 5) korreliert. Drittens bleibt zu bedenken, dass ein Aufenthalt in London oder Paris zugleich bedeutet, konkret mit jenen Gegenständen konfrontiert zu sein, über die bereits zuvor ein literarisches Bild existiert. Dass die subjektive Erfahrung, die eigene Anschauung in den Berichten immer wieder zur erzählerischen und poetologischen Leitlinie gerät61, ist daher vor allem im Spannungsfeld von Erwartung und Erfahrung situiert. Wer nach Paris reist, ist dort ganz konkret mit den lokalen Auswirkungen von Französischer Revolution und napoleonischer Herrschaft konfrontiert. Wer nach London fährt, kann den vielfach bewunderten Parlamentarismus und die oft beschworene Wirtschaftskraft mit eigenen Augen erblicken. Vor allem für das revolutionäre Paris ist zu bemerken, dass – um an die bekannte Formel Ludwig Börnes (Kap. 2) anzuschließen – „eine neue Dimension der lesbaren Stadt“62 entsteht. Sie ist weniger räumlich konnotiert – die architektonische Umgestaltung der Stadt findet erst unter Baron Haussmann im Second Empire statt63 –, sondern modifiziert unter zeitgeschichtlicher Perspektive die urbanen Wahrnehmungen.
59 Harro Segeberg, „Die literarisierte Reise im späten 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Gattungstypologie“, in: Wolfgang Griep/Hans-Wolf Jäger (Hg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts (Neue Bremer Beiträge 1), Heidelberg 1983, 14–31, 16. 60 Insofern ist es letztlich auch unzutreffend, die Metropolen als „Ort absoluter, faszinierender Fremdheit“ (Stierle, Der Mythos von Paris, 25) zu beschreiben. 61 Vgl. zu diesem literarischen Grundmuster insbesondere Hentschel, Studien zur Reiseliteratur; William E. Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre T heorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts (Literatur und Wirklichkeit 20), Bonn 1978. 62 Stierle, Der Mythos von Paris, 43. 63 Vgl. Johannes Willms, Paris. Hauptstadt Europas 1789–1914, München 1988, 235. Willms’ Studie ist nach wie vor ein Standardwerk zur Stadtgeschichte von Paris und bietet zwei ausführliche Kapitel zur Zeit um 1800.
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Erkennbar ist dieser Umstand in den Beschreibungen der deutschen Beobachterinnen und Beobachter selbst. Ernst Moritz Arndt etwa konstatiert recht genau zehn Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution: „Dieser Sommer, den ich bis in den August hinein hier verlebte, brachte manchen Stoff wieder zur Gährung, der vorher schon als Erdbeben und Orkan mit Städten und Menschengebeinen gespielt hatte […]“ (Arndt, Reisen III, 118 f). Des Weiteren integriert er in seinem Reisebericht ein Kapitel „Vom kleinen Volke“ (Arndt, Reisen III, 393) und hebt damit auf die sozialen Implikationen der politisch bewegten Zeit ab. Und auch Georg Friedrich Rebmann vermerkt bei einem Streifzug über die heutige Place de la Concorde: „Meine Einbildungskraft stellte mir den Totenzug dieses Opfers der Revolution dar, und ich stand, heiligen Schauers voll, auf der Erde, wo sowohl das Blut Ludwigs als auch das Blut der Edlen, welche – die Republik gestiftet hatten, der Märtyrer der heiligen Freiheit, vergossen wurde“ (Rebmann, Zeichnungen, 400). Die beiden Anmerkungen stehen stellvertretend dafür, inwieweit sich die politischen und historischen Ereignisse mit urbanen Wahrnehmungen verbinden können. Die persönliche Erfahrung in situ gilt es darüber hinaus zu betonen, weil sie eng mit dem korreliert, was im zweiten Kapitel dieses Abschnitts zur Debatte steht: den autoptischen Wahrnehmungsmustern, die in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 eine tragende Rolle spielen. Dass die Schriftstellerinnen und Schriftsteller beständig ihre ganz persönlichen Eindrücke betonen, weist über rein gattungsformale Traditionen und Vorgaben hinaus. Es erklärt sich ebenso durch die starke Bedeutung stereotyper Vorannahmen, die es jeweils während der eigenen Reise zu eruieren gilt. Inwiefern dabei die mitgebrachten Stereotype bestätigt oder widerlegt werden, entzieht sich letztlich einer eindeutigen und alleserklärenden Antwort. Der Blick in die einzelnen Großstadtberichte zeigt vielmehr, dass die Reaktionen auf die hautnahe Erfahrung grundverschieden ausfallen können. So wie sich einerseits klassische Stereotype bestätigt finden, lassen sich andererseits Dokumente identifizieren, in denen die Differenz zwischen Erwartung und Erfahrung zur Geltung kommt.64 Selbst ein erfahrener Großstadtberichterstatter wie Johann Christian Hüttner hält beim Besuch des Londoner Quartiers St James fest: „Hier fällt mir die Größe und Wichtigkeit der Britischen Hauptstadt am meisten auf! Du bist in London! sage ich erstaunt zu mir“ (London und Paris III, 1799, 109).65 64 Vgl. Anderson, Die Erfindung der Nation, 42 f. Er weist darauf hin, gerade im 18. Jahrhundert seien literarische Zeugnisse maßgeblich daran beteiligt gewesen, nationale Stereotype auszuformen. Ähnlich argumentiert explizit für die Publizistik Rudolf Stöber, Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3., überarb. Aufl., Konstanz/ München 2014, 93. 65 Zum Motiv des erfahrenen Großstadtbesuchers vgl. Michael Maurer, „Einleitung“, in: Michael Maurer (Hg.), O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts (Bibliothek des 18. Jahrhunderts), Leipzig/Weimar 1992, 7–39, 7.
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Urbane Gegensätze: Vergnügungs- vs. Wirtschaftsmetropole? Der vorangegangene Abschnitt hat nationalstereotype und politische Aspekte der ‚doppelten Fremdheit‘ diskutiert. Genauso gilt es den Blick auf deren zweiten tragenden Grundpfeiler zu lenken, auf die urbanen Attribute von London und Paris. Konsultiert man die bisherige Forschung zu der Frage, welche Zuschreibungen sich um 1800 vornehmlich mit den Städten verbinden, trifft man auf einen vergleichsweise eindeutigen Tenor. Paris sei die Hauptstadt der Vergnügung, selbst die vorübergehend starke Politisierung durch die Französische Revolution schwäche dies nicht maßgeblich ab. Die Metropole an der Seine werde als „Hauptstadt der vornehmen Welt“66 und „Kulturhauptstadt Europas“67 wahrgenommen. „Fragen der Eleganz und der Mode, der Urbanität und des artistischen Stils“68 würden sich in den Berichten aus Paris besonders spiegeln. London dagegen werde als die ökonomische Hauptstadt Europas gezeichnet, die eher nüchterne Sachlichkeit und ein tristes Stadtleben verkörpere.69 Vor allem von „der Infrastruktur, den Manufakturen […] und […] den Docks“70 würden die Beobachterinnen und Beobachter sich besonders fasziniert zeigen. Aspekte von Vergnügung, Luxus und Unterhaltung träten stattdessen eher in den Hintergrund. Das ins Deutsche übertragene Motto von London und Paris – „Alles, was die T hemse nährt, worüber die Seine lacht, die Späße, die Zerstreuungen sind unseres Büchleins gemischter Inhalt“71 – ist wohl eines der einschlägigsten Beweise für diese Kontrastierung. Das in der historischen Stadtforschung wiederholt aufgerufene Verdikt, „Paris ist sinnlicher, London nüchterner“72, findet folglich bereits in zeitgenössischen Wertungen seinen Niederschlag. Auf den ersten Blick scheint die stereotype Gegenüberstellung durchaus ihre Berechtigung zu besitzen. Paris wird schon im 17. und 18. Jahrhundert, oftmals in dezidiert bewundernder Weise, als Hauptstadt des Höfischen, des Prächtigen und des Luxuriösen gezeichnet.73 Vor allem die barocke Strahlkraft des Ancien Régime apostrophieren deutsche Beobachterinnen und Beobachter wiederholt Reiseziel Frankreich, 362. Der Flaneur, 160. 68 Oesterle, „Urbanität und Mentalität“, 62. 69 Dazu nach wie vor ausführlich Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. 70 Andrew Saint, „Die Baukunst in der ersten Industrie-Metropole“, in: Kulturstiftung Ruhr Essen (Hg.), Metropole London. Macht und Glanz einer Weltstadt 1800–1840, Recklinghausen 1992, 51–76, 51. 71 Vgl. Gerhard R. Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Herzoglicher Geheimsekretär, Literat, Verleger, Politiker im klassischen Weimar“, in: Ortrud Gutjahr/Harro Segeberg (Hg.), Klassik und Anti-Klassik. Goethe und seine Epoche, Würzburg 2001, 295–306, 301. 72 Paul, „Großstadt und Lebensstil“, 52. 73 Vgl. Alain Ruiz, „Heinrich Heines ‚arme Vorgänger‘. Zur Tradition der deutschen Freiheitspilger und politischen Emigranten in Frankreich seit 1789“, in: Heine-Jahrbuch 26 (1987), 92–115, 94. 66 Grosser,
67 Neumeyer,
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als erstrebenswert. Nicht zu vergessen sind damit einhergehend kulturelle Aspekte wie das französische T heaterwesen oder auch die Kunstwelt. Erst jüngst konnte Boris Roman Gibhardt mit seiner Studie Vorgriffe auf das schöne Leben. Weimarer Klassik und Pariser Mode um 180074 nachweisen, wie stark der Pariser Luxus zeitgenössisch auf die deutsche Wahrnehmung ausstrahlt. Literarisch wird dies besonders sinnfällig im von Friedrich Justin Bertuch herausgegebenen Journal des Luxus und der Moden (1786–1827), in dem ebenfalls das Bild von einem luxuriösen und vergnüglichen Paris dominiert.75 Demgegenüber kristallisiert sich London eher als europäische Wirtschaftsmetropole heraus, die den barocken französischen Prunk kontrastiert.76 Der London und Paris-Korrespondent Johann Christian Hüttner konstatiert bei einem seiner Rundgänge durch die britische Hauptstadt, als er ein Warenlager der Ostindienkompanie erblickt: Meine unbedeutenden Wahrnehmungen enthalten zwar keinen Ueberschlag der dießjährigen Ausfuhr dieser großen Handelscompagnie, oder andre Angaben, aus denen man auf ihr Capital schließen könnte; aber dennoch weiß ich aus eigener Erfahrung, daß die dürren, vorübergleitenden Zahlgerippe in den statistischen Büchern bloß für den vollendeten Cammeralisten taugen. Was ich sah und nach Vermögen mitzutheilen versucht habe, gab mir einen bleibendern Eindruck von der Handelsgröße dieses berühmten Staats im Staate, als alle Nullen, Brüche und Bilanzen der Rechner. (London und Paris III, 1799, 201)
Die Beschreibung zeugt hyperbolisch vom klassischen Stereotyp der britischen Wirtschaftskraft und zeigt auf, welch bedeutende Rolle die faktische Wahrnehmung vor Ort für deutsche Beobachterinnen und Beobachter spielt. Obwohl London um 1800 noch nicht jene industrialisierte Metropole darstellt, zu der es im weiteren 19. Jahrhundert gerät, ist der ökonomische Wahrnehmungsaspekt prägend.77 Bestimmt sind die Beobachtungen dabei, wie das Beispiel Hüttners aufzeigt, von einer ausdrücklichen Begeisterung und Faszination angesichts der britischen Wirtschaftskraft. London bietet dem Korrespondenten eine ökonomische Erfahrung, die dem deutschen Beobachter in der eigenen Heimat versagt bleibt und dort nur aus Büchern und Bilanzen bekannt ist. Es ist wohl erst Heinrich Heine mit seinen Englischen Fragmenten (1828), der den Blick auch Vorgriffe auf das schöne Leben. Angela Borchert, „Luxus als Komfort im Journal des Luxus und der Moden. Wissenspopularisierung und Kulturanthropologie am Beispiel kontrovers diskutierter Schuhmoden um 1800“, in: Jutta Eming (Hg.), Fremde – Luxus – Räume. Konzeptionen von Luxus in Vormoderne und Moderne (Literaturwissenschaft 43), Berlin 2015, 229–255. 76 Zum Motiv der Wirtschaftskraft in der deutschen Reise- und Großstadtliteratur um 1800 allgemein siehe ausführlicher Uwe Hentschel, „Die Romantik und der städtische Utilitarismus“, in: Claudia Lillge/T horsten Unger/Björn Weyand (Hg.), Arbeit und Müßiggang in der Romantik (vita activa), Paderborn 2017, 315–328. 77 Vgl. zur Bedeutung der britischen Wirtschaftskraft um 1800 Ulrich, „London“, 182. 74 Gibhardt, 75 Vgl.
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strukturell auf die mit den wirtschaftlichen Bedingungen einhergehende soziale Frage wirft.78 Sicher ist, dass diese stereotypen Annahmen für die deutsche Großstadtliteratur um 1800 oftmals eine bedeutende Rolle spielen. Gleichwohl gilt es auch zu betonen, dass sich das Bild nach dem prüfenden Blick in die Quellen selbst deutlich schattierter gestaltet. Paris rein auf die Funktion als „Kulturhauptstadt Europas“ und andererseits London auf eine „Hauptstadt nüchterner Sachlichkeit“79 zu reduzieren, geht an den heterogenen literarischen und publizistischen Bildern vorbei. Besonders fallen die bisweilen diametralen Wahrnehmungen für London ins Auge. So finden sich im Journal London und Paris innerhalb weniger Bände geradezu gegensätzliche Aussagen.80 Ein anonymer Korrespondent „S.“ konstatiert, „der Engländer ist am wenigsten geneigt einen Vergnügungstag halb ungenützt zu lassen und mit leerem Magen nach Hause zu gehen“ (London und Paris XIX, 1807, 212). Der bereits mehrfach zitierte Hüttner indes nimmt in London mehrfach wahr, „wie still und häuslich der eigentliche englische Bürger lebt“ (London und Paris XVII, 1806, 91). Und sogar bei Hüttner selbst finden sich kontrastive Aussagen. Während er einmal betont, die Engländer seien „bekanntlich verbessernde Nachahmer und keine großen Erfinder“ (London und Paris I, 1798, 18), weiß er genauso zu berichten, das „Interesse am Schönen und Guten […] durch die schönen Künste“ würde „in England […] so sehr blühen und belohnt werden, als unter andern zugleich lebenden Völkern“ (London und Paris IX, 1802, 382). Des Weiteren wäre zu ergänzen, dass auch die Wahrnehmung von Luxus in den Londonberichten immer wieder thematisiert wird.81 Bereits der Brief Lichtenbergs hatte dies einschlägig gezeigt, insoweit seine ersten Schilderungen aus Cheapside und Fleetstreet unter anderem davon geprägt sind, die prachtvollen Schaufensterauslagen zu beschreiben. Mit Blick auf die urbane Wahrnehmung ist bemerkenswert, dass die vielzähligen Londoner Umbaumaßnahmen um 1800 ebenfalls ambivalent beurteilt werden. So wie Reisende negativ über die zusehende Erweiterung der Metropole berichten, finden sich ebenfalls wertschätzende Argumente. Besonders, dass 78 Gerhard Müller-Schwefe, Deutsche erfahren England. Englandbilder der Deutschen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2007, 80. 79 Gerhard R. Kaiser, „‚Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen‘. Bertuchs Zeitschrift ‚London und Paris‘“, in: Gerhard R. Kaiser/Siegfried Seifert (Hg.), Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, Tübingen 2000, 547–576, 565. 80 Dass einander widersprechende Stereotype und Urteile kulturgeschichtlich eher die Regel denn die Ausnahme sind, verdeutlichen Hans Henning Hahn/Eva Hahn, „Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung“, in: Hans Henning Hahn (Hg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen (Mitteleuropa – Osteuropa 5), Frankfurt am Main 2002, 17–56. 81 Dies steht der bislang dominierenden Forschungsmeinung gegenüber, Luxus verbinde sich in der deutschen Wahrnehmung um 1800 in aller Regel mit Paris, etwa bei Gibhardt, Vorgriffe auf das schöne Leben.
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„London als die größte und reichste Stadt der Welt auch als erste ein umfassendes Wiederaufbau- und Verschönerungsprogramm in Angriff genommen hat“82, fasziniert die deutschen Beobachterinnen und Beobachter. Johann Christian Hüttner zum Beispiel geht auf die Umgestaltung der Londoner Altstadt ein, die „wegen ihrer Unansehnlichkeit in so übeln Rufe“ (London und Paris X, 1802, 16) sei. Gleichzeitig betont er, die Anlage neuer „Märkte für Fleisch, Geflügel, Fisch etc.“ als „geräumige überbaute Plätze“ sei vorbildhaft, denn „[d]ie Bequemlichkeit dieser Oerter gewinnt sehr dadurch, daß man sie mit vielen Gängen durchschnitten hat, welche alle […] in gutem Stande erhalten und sorgfältig gekehrt werden“ (London und Paris X, 1802, 16 f). Zu ergänzen ist außerdem, dass die Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten wiederholt das Motiv eines „rus in urbe“ aufgreifen (London und Paris III, 1799, 10). Urbane Rückzugsräume spielen für London, so viel sei aus den einzelnen Textanalysen vorweggenommen, ebenso eine Rolle wie für Paris.83 In Anlagen wie den Vauxhall Gardens oder Ranelagh, in Parks wie dem Hyde Park oder dem in den 1810ern unter John Nash (1752–1835) angelegten Regent’s Park und auf Märkten wie dem Coventgarden ist es Bewohnerinnen und Bewohnern genauso wie Besucherinnen und Besuchern möglich, sich aus dem betriebsamen urbanen Gedränge zurückzuziehen.84 Dass der bereits zitierte Johann Wilhelm von Archenholz festhält, „[d]ie Engländer sind gewiß die größten Spazierfreunde in Europa“85, unterstreicht dies markant. Für Paris hingegen scheinen sich die Verhältnisse auf den ersten Blick eindeutiger zu gestalten. Die angesprochenen Attribute der Vergnügung, der Unterhaltung und der europäisch führenden Kultur bestätigen sich bei einem Blick in die Quellen. Kaum ein Reise- und Großstadtbericht aus Paris kommt um 1800 ohne die typischen Darstellungen dieser kulturellen Ausprägungen aus. Die zahlreichen Schilderungen der Pariser Museen – zuvorderst des 1793 umfunktionierten Louvre –, die topisch aufgerufenen Promenaden durch den Tuileriengarten, durch Tivoli, die Champs-Élysées oder über die Boulevards sowie die ausschweifenden Berichte über das lokale T heaterwesen stehen paradigmatisch hierfür. Besonders sticht in der deutschen Wahrnehmung das Palais Royal heraus, das um 1800 als wichtigster Pariser Versammlungs- und Vergnügungsort gelten kann.86 82 Donald J. Olsen, Die Stadt als Kunstwerk. London, Paris, Wien, Frankfurt am Main/ New York 1988, 29. Zu nennen wäre hier auch die erstmalige Installation von Gaslaternen ab 1807, vgl. Nicole Brey/Michael Brey, „‚Exclusives, Beaux und Dandies‘. Lebensbilder des Regency“, in: Stiftung „Fürst-Pückler-Park Bad Muskau“ (Hg.), Englandsouvenirs. Fürst Pücklers Reise 1826–1829, Zittau 2005, 43–68, 44. 83 Vgl. zur „Naturgeschichte Londons“ Ackroyd, London, 417–448. 84 Zum Umbau Londons unter John Nash vgl. Gina T homas, „T he Strand. Die Quintessenz Londons“, in: Klaus Hartung (Hg.), Boulevards. Die Bühnen der Welt, Berlin 1997, 397–419, 406. 85 Archenholz, England und Italien, Bd. 1,2, 532. 86 Zu dessen historischer Bedeutung vgl. ausführlicher Willms, Paris, 338.
4. Deutsche Fremd- und Selbstwahrnehmung
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Ergänzt werden diese Bilder durch nationalstereotype Perspektiven, die auch die urbanen Lebensformen näher erfassen. So konstatiert ein anonymer Korrespondent in London und Paris, er beobachte die „nach Genuß lechzende[n] Bewohner der Seine-Ufer“ (London und Paris XXIII, 1810, 172), für die „das Wort Fest […] schon an und für sich das Wort aller Wörter, das Non plus ultra menschlicher Erfindungskraft, die Musik der Sphären“ (London und Paris XIII, 1810, 253) sei. Die hyperbolische Darstellung, die gar auf das pythagoreische Sphärenmodell rekurriert, ist nur eines von vielen Beispielen. Auch Ernst Moritz Arndt hält unter anderem fest, Gartenanlagen wie der Tuileriengarten würden demonstrieren, „welch ein zartes und wirklich liebenswürdiges Ding die feinere Geselligkeit ist“ (Arndt, Reisen IV, 86 f). Diese vermeintlich eindeutigen Perspektiven sind allerdings insofern zu relativieren, als dass sich die Wahrnehmung der französischen Hauptstadt um 1800 deutlich vielseitiger gestaltet. Denn so wie zu erkennen ist, dass Vergnügung, Mode und Eleganz immer wieder als stereotype Pariser Eigenschaften aufgerufen werden, existieren Gegenperspektiven. Dies betrifft zum einen die bereits ausgeführten politischen und revolutionären Implikationen, die vorübergehend das zeitgeschichtliche Wirken Frankreichs in ganz Europa in den Mittelpunkt rücken. Hinzu kommen urbane Perspektiven, die ebenfalls ein differenzierteres Bild von Paris zeichnen. Zu nennen sind um 1800 verstärkt anzutreffend moralische Schriften in der französischen Literatur, welche die urbanen Schattenseiten strukturell erfassen. Die prominentesten Beispiele dürften das noch intensiver zu beschauende Tableau de Paris Louis-Sébastien Merciers sowie Les Nuits de Paris ou le Spectateur nocturne von Restif de la Bretonne sein. Beide Darstellungen greifen die negativen Attribute urbanen Daseins auf und wollen mit ihren Ausführungen dazu anregen, die Lebensumstände in Paris zu verbessern.87 Dass solche Perspektiven – obschon sie nicht unmittelbar mit konkreten Handlungsaufrufen verbunden sein müssen – auch in der deutschen Parisberichterstattung anzutreffen sind, zeigen zwei exemplarische Ausschnitte aus London und Paris. Der bereits zitierte Karl Gottlieb Horstig hält unter dem Titel „Paris und London, eine kleine Parallele“ (London und Paris XII, 1803, 97) fest: Paris und seine Umgebungen bieten eine Fülle von Gebäuden dar, worunter einige im erhabensten Stile des Alterthums […] – andere im neueren, obgleich minder korrekten Geschmack der Baukunst […], gebaut und errichtet sind. Straßen und Palläste erdrücken einander. Die Luft wird verdüstert vom ewigen Qualm der über einander gethürmten Menschenwohnungen, und eine immerwährende Rauchsäule steigt an der Seine auf, die mit ihren schweren Dunstgebilden Felder und Wiesen feuchtet, und vielleicht nicht wenig zur Fruchtbarkeit des Bodens und zur Erwärmung des Klima’s beiträgt. (London und Paris XII, 1803, 98 f.)
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Vgl. zu prekären Lebensverhältnis in Paris um 1800 Willms, Paris, 38 f; 163.
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III Historische und literarische Kontexte um 1800
Mit seinem bemerkenswert ökologischen Blick verzeichnet der Korrespondent, welche Konsequenzen konkret aus urbaner Verdichtung resultieren können. Er hebt darauf ab, wer nach Paris reise, sehe sich mit einer Stadt konfrontiert, die primär Dunst und Rauch produziere und letztlich an ihrem eigenen Wachstum ersticke. Dass Horstig mit dieser Wertung nicht alleine steht, hat die zitierte Helmina von Chézy gezeigt, die ebenfalls betont, welche negativen Eigenschaften Paris als Metropole aufweise. Es überrascht daher nicht, dass in London und Paris die Korrespondentinnen und Korrespondenten sehr ausführlich Ausflüge in die nähere Umgebung der französischen Hauptstadt schildern – für London ließe sich Ähnliches darstellen.88 Zu beachten sind außerdem nationalstereotype Zuschreibungen, die ebenfalls kontrastreich ausfallen. Carl Bertuch (1777–1815), Sohn von Friedrich Justin Bertuch und zeitweilig Herausgeber von London und Paris, formuliert in einer „Ansicht von Paris, von Montmartre aus genommen“: Mit einem Blicke umfaßt hier der Fremde die kleine sonderbare Welt, wo Edelmuth und Grausamkeit, hohe Kultur und tiefe Barbarei, Asiatische Pracht und drückende Armuth so nahe an einander gränzen. Diese Phänomene sind hier innig mit dem Geiste der Nation gepaart; keine Hauptstadt der Erde kann sie daher so auffallend, so grell zeigen, als Paris. (London und Paris XIII, 1804, 255)
Bertuchs Ausführungen unterstreichen zum einen, wie eng politische und natio nalstereotype Erklärungsmuster um 1800 miteinander korrelieren können. Indem er beständig auf den französischen respektive Pariser Wankelmut abhebt, liefert er eine vermeintliche Erklärung für die politisch instabile und wechselreiche Zeit um 1800. Dies verbindet er zum anderen mit dem Pariser Stadtleben im engeren Sinne, das sich ebenfalls als „Ort der Ambivalenzen und Kontraste“, als „Labyrinth aus Macht, Geld, Armut, Hektik“89 zu erkennen gebe. Wenn der Korrespondent „hohe Kultur und tiefe Barberei“ ebenso wie „Edelmuth und Grausamkeit“ anspricht, parallelisiert er folglich historische Entwicklungen und urbane Lebensformen. Dass Paris in den deutschen Wahrnehmungen um 1800 als gleichermaßen „faszinierend, irritierend und abschreckend“90 betrachtet werden kann, zeigen Bertuchs Bemerkungen komprimiert auf. Der genauere Blick auf zeitgenössische Beschreibungen von London und Paris um 1800 hat insgesamt vor allem eines gezeigt. Die klassischen Stereotype, Paris sei einseitig die Hauptstadt der Vergnügung, London die des wirtschaftlichen und politischen Fortschritts gewesen, greifen zu kurz. Für beide Metropolen ist vielmehr erkennbar, dass unterschiedliche Wahrnehmungsebenen ein kom 88
Vgl. dazu Waßmer, „Urbane Muße jenseits der Stadt“. „Großstadtverunsicherungen“, 183 f. 90 Mirjam-Kerstin Holl, „Stereotype Wahrnehmungen in deutschen Berichten aus dem Paris der Jahre 1789–1799“, in: Ruth Florack (Hg.), Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 76), Tübingen 2000, 225–258, 225. 89 Denneler,
4. Deutsche Fremd- und Selbstwahrnehmung
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plexes Verhältnis eingehen und somit ein „Resultat unterschiedlichster Verdichtungen“91 darstellen. Für London spielen Aspekte der Vergnügung und Kultur ebenso eine Rolle wie Paris in den Berichten als moderne Metropole mit urbanen Schattenseiten gezeichnet wird. Für beide Städte ist unter imagologischer Perspektive zu betonen, dass „verschiedene Bilder […] nebeneinander bestehen oder sich ablösen“92 können. Das gilt für den nationalkulturellen und -stereotypen Gesamtdiskurs ebenso wie für einzelne Wahrnehmungen und Dokumente. Sowohl London als auch Paris lassen sich damit nicht auf stereotype Eigenschaften reduzieren, selbst wenn einzelne Quellen entsprechende Schwerpunkte besitzen mögen. Ganz im Sinne neuerer stadtsoziologischer Ansätze ist neben „Größe“ und „Dichte“ für die deutsche Wahrnehmung vor allem die „Heterogenität“93 der Metropolen entscheidend. Die ‚Eigenlogik‘ der Städte ist gerade nicht in einem essentiellen und alleserklärenden Kern erfassbar, sondern durch verschiedene Wahrnehmungsaspekte konstituiert. Für die Beobachtungen der deutschen Reisenden gilt es daher die urbane Vielseitigkeit zu betonen, die eine präzise Analyse der individuellen Perzeptionsmuster umso bedeutsamer macht. Die in Abschnitt IV vorgenommen Einzelanalysen verschiedener Quellen haben stets die Frage zu beantworten, welcher der geschilderten Diskursstränge für die jeweilige Darstellung sinnfällig wird – und vor allem, wie er ihre urbane Wahrnehmung beeinflusst.
91 Berking,
„Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen“, 22. Peter Boerner, „Das Bild vom anderen Land als Gegenstand literarischer Forschung“, in: Alexander Ritter (Hg.), Deutschlands literarisches Amerikabild. Neuere Forschungen zur Amerikarezeption der deutschen Literatur (Germanistische Texte und Studien 4), Hildesheim/New York 1977, 28–36, 30. 93 Berking, „Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen“, 20. 92
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5. Über das ‚richtige‘ Wahrnehmen in Städten: Literarische Traditionen und Einflüsse Die Frage nach der Großstadt angemessenen Wahrnehmungsmustern ist in den deutschen Großstadtberichten um 1800 äußerst präsent. Kaum eine Darstellung kommt ohne poetologische Überlegungen aus, wie man sich als Beobachterin oder Beobachter der Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Großstadt am besten zu stellen habe. Da genau diese Fragestellung in Abschnitt IV für jede Quelle einzeln beantwortet werden soll, ist es notwendig, zunächst die kultur- und literaturgeschichtlichen Voraussetzungen für die poetologischen Auseinandersetzungen in Erinnerung zu rufen. Betrachtet man die Vorgeschichte der deutschen Reise- und Großstadtliteratur um 1800, so ist rasch zu erkennen, dass die Frage der angemessenen Wahrnehmungsformen nahezu omnipräsent ist. Die Reise- und Großstadtliteratur des 18. Jahrhunderts ist, wie diverse Forschungsbeiträge aufzeigen konnten, maßgeblich durch die Auseinandersetzung darüber gekennzeichnet, wie man auf einer Reise erstens bestmöglich wahrnehmen und zweitens idealerweise über sie berichten könne. Die Forschung zu diesen theoretischen Debatten und konkreten literarischen Ausprägungen hat mehrfach nachweisen können, dass sich verschiedene Stränge gegenüberstehen. Als leitend können die Studien Die Reisebeschreibung und ihre T heorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts von William E. Stewart sowie Studien zur Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts von Uwe Hentschel gelten.1 Beide verdeutlichen, ebenso wie einige andere Interpretinnen und Interpreten, dass sich besonders im 18. Jahrhundert recht unterschiedliche Auffassungen davon identifizieren lassen, wie auf einer Reise wahrzunehmen und danach über sie zu berichten sei. Während einerseits lange aufklärerische Blicke dominieren würden, die an einer enzyklopädischen Katalogisierung der bereisten Länder und Städte interessiert seien, trete vor allem mit Laurence Sternes (1713–1768) A Sentimental Journey T hrough France and Italy (1768) ein struktureller Wandel ein.
1 Hentschel, Studien zur Reiseliteratur; Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre T heorie. Vgl. darüber hinaus den zusammenfassenden Aufsatz von Uwe Hentschel, „Die Reise literatur am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Vom gelehrten Bericht zur literarischen Beschreibung“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 16,2 (1991), 51–83.
5. Über das ‚richtige‘ Wahrnehmen in Städten
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Die Reiseberichte würden dann zusehends den „Charakter eines bloßen Sachberichts“2 verlieren und verstärkt „subjektiv-literarische Beschreibungsform[en]“3 aufnehmen. Dies gehe außerdem mit einer wachsenden „Informa tionssättigung im Bereich der geographischen Fachliteratur“4 einher, welche die Schwerpunkte der Berichte immer weiter in Richtung von persönlichen Erfahrungen und beobachteten Lebensformen verschiebe. Dies verbinde sich darüber hinaus eng mit den theoretischen Debatten über das ‚richtige‘ Reisen und Wahrnehmen, „[m]ehr und mehr wurde neben den Inhalten der Reisebeschreibungen, ihren Gegenständen, auch die Erlebnisform, die Art und Weise der Erfahrung bedeutsam, die etwas anderes ist als die bloße Registrierung des Wahrgenommenen“.5 Der wohl einschlägigste Ausdruck dessen dürften die zahlreichen Apodemiken des 18. Jahrhunderts sein – jene Schriften, die sich damit befassen, wie Reisende auf ihren Fahrten optimalerweise zu agieren haben.6 Zusehends würden die Reisenden in ihren Berichten die eigene Wahrnehmung, die persönliche Erfahrung vor Ort betonen.7 Beiden Wahrnehmungsformen sei indes gemein, dass sie auf ein deckungsgleiches Ziel hin ausgerichtet seien. Sowohl bei der wissenschaftlich-enzyklopädischen Erfassung der Länder und Städte als auch bei den stärker autoptisch-subjektiv ausgerichteten Mustern dominiere jeweils der Anspruch, möglichst wahrheitsgetreu und authentisch zu berichten. Der Blick in die deutsche Großstadtliteratur um 1800 – wie er in Abschnitt IV anhand ausgewählter Beispiele vorgenommen wird – zeigt allemal, dass solche teleologischen Deutungen zu kurz greifen. Allein das Journal London und Paris ist von divergierenden Wahrnehmungsmustern geprägt, sodass schwerlich die Rede von klaren und einseitigen Entwicklungen sein kann. So wie in der Zeitschrift Korrespondentinnen und Korrespondenten ausführlich über ihre autoptischen Streifzüge durch die Metropolen berichten, finden sich ebenfalls katalog artige Auflistungen über all jene Dinge, die sich in den Städten erblicken lassen. Und auch August von Kotzebues Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804 geben zu erkennen, dass grundverschiedene Wahrnehmungsmuster in ein und demselben Text auftreten können. Während er an der einen Stelle theatrale Spaziergänge 2 Bödeker,
„Reisen“, 109. „Die Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts“, 52. 4 Grosser, „Der mediengeschichtliche Funktionswandel der Reiseliteratur“, 278. 5 Hans Erich Bödeker, „Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung“, in: Hans Erich Bödeker/Georg G. Iggers (Hg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 81), Göttingen 1986, 276–298, 284. 6 Vgl. dazu u. a. Diezinger, „Paris in deutschen Reisebeschreibungen“, 270. Sie weist allerdings darauf hin, dass es daneben eine dezidierte Literatur gegen das Reisen gegeben habe; vgl. dazu auch Hans-Wolf Jäger, „Kritik und Kontrafaktur. Die Gegner der Aufklärungs- und Revolutionsreise“, in: Wolfgang Griep/Hans-Wolf Jäger (Hg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts (Neue Bremer Beiträge 1), Heidelberg 1983, 79–93. 7 Vgl. Ralph-Rainer Wuthenow, Erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung, Frankfurt am Main 1980, 15. 3 Hentschel,
90
III Historische und literarische Kontexte um 1800
durch die französische Hauptstadt inszeniert, finden sich andernorts kaum enden wollende Auflistungen, etwa zur Pariser Kulinarik.8 Diese schlaglichtartigen Einblicke verdeutlichen, dass gerade die deutsche Großstadtliteratur um 1800 von einer ausdrücklichen Vielfalt gekennzeichnet ist, wo es um die Frage der anzutreffenden Wahrnehmungsmuster geht. Im Folgenden soll es nicht darum gehen, die in der Forschung bereits geführte Debatte über die angemessenen Wahrnehmungsformen beim Reisen und in großen Städten noch einmal umfassend zu eruieren. Im Mittelpunkt steht dagegen die Frage, inwieweit die in dieser Studie untersuchten Beobachtungsmuster – jene der Flanerie – durch die skizzierten theoretischen Auseinandersetzungen sowie die verschiedenen Ausprägungen der Reise- und Großstadt literatur beeinflusst sind. Dafür sind zwei T hemenkreise bedeutend, die sowohl auf die literaturgeschichtliche Dimension der urbanen Wahrnehmung als auch auf entsprechende zeitgenössische Diskussionen um 1800 abheben. Zuerst richtet sich der Blick auf eine in der Forschung – zumindest jener zur deutschen Großstadtliteratur um 1800 – weitgehend übersehene Traditionslinie. Mit publizistischen Schriften aus der frühen Neuzeit, etwa Der Verkleidete Götter-Both/ Mercurius und Der Fliehende Passagier Durch Europa, liegen zwei Zeugnisse vor, die aufzeigen, inwieweit die Frage einer angemessenen urbanen Wahrnehmung bereits deutlich vor 1800 diskutiert wird.9 Zugleich lässt sich von ihnen ausgehend genauer beschreiben, worin demgegenüber Besonderheiten und Innovationen der deutschen Großstadtliteratur um 1800 liegen. Hinzu kommt die bereits angesprochene Apodemik, welche die Reiseberichte des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts maßgeblich rahmt. Die Lektüre von Franz Posselts (1753–1825) Apodemik oder Die Kunst zu reisen (1795)10 zeigt auf, inwieweit die zeitgenössische Debatte über das ‚richtige‘ Wahrnehmen auf Reisen die literarische Ausgestaltung der dazugehörigen Berichte mitbestimmt. Kurzerhand verdeutlichen beide Perspektiven, jene auf die frühneuzeitlichen Quellen ebenso wie die apodemische, dass die in dieser Studie verhandelten Formen der Flanerie voraussetzungsvoll auftreten. Sie sind wesentlich durch literatur- und wahrnehmungsgeschichtliche Debatten präformiert.
8 Vgl. René Waßmer, „Deutsche Gourmets in Paris. Zur Wahrnehmung der frühen ‚Restaurants‘“, in: Muße. Ein Magazin 5,1 (2020), 9–18, http://mussemagazin.de/2020/03/ deutsche-gourmets-in-paris-zur-wahrnehmung-der-fruehen-restaurants/ (zuletzt abgerufen am 19.07.2021). 9 Für Paris wird die Großstadtliteratur vor 1800 durch Grosser, „Der mediengeschichtliche Funktionswandel der Reiseliteratur“, besprochen. 10 Zitiert nach Franz Posselt, Apodemik oder Die Kunst zu reisen. Ein systematischer Versuch zum Gebrauch junger Reisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehender Gelehrten und Künstler insbesondere, 2 Bde., Leipzig 1795. In den folgenden Zitationen stehen die römischen Ziffern jeweils für den zitierten Band.
5. Über das ‚richtige‘ Wahrnehmen in Städten
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Tradition und Transformation: Literaturhistorische Vorgeschichte Die Forschung zur deutschen Großstadtliteratur hat immer wieder betont, dass sich um 1800 ein bedeutender Wandel in den literarisierten Wahrnehmungsformen ereignet habe. Angesichts des urbanen Wachstums, der „verwirrender, unüberschaubarer gewordene[n] Stadt“ hätten sich „neue Sehweisen und modifizierte Mittel der Darstellung“11 herausgebildet. Eine verstärkte „Bewegungskomponente“12 sei diesen Texten ebenso eigen wie „die Dynamik der großstädtischen Menge […] die Dynamisierung ihres Beobachters“13 erfordert habe. Besonders Berichte von „Straßen, Gassen und Stadtanlagen“14 hätten immer weiter zugenommen und stünden stellvertretend für den Versuch, „die Stadt in konzentrierter Form […] sinnlich zu erfassen“.15 Gleich zwei Einwände sind diesen Positionen gegenüber einzubringen. Einerseits bleibt zu betonen, dass die deutsche Großstadtliteratur um 1800 von einer ausdrücklichen Vielfalt geprägt ist. Das betrifft die divergierenden Berichtsmuster zwischen enzyklopädischwissenschaftlicher und autoptischer Wahrnehmung genauso wie die Diversität der verwendeten Gattungen und publizistischen Formate. Und zweitens sollte in den Blick geraten, dass die vermeintlich innovativen und neuartigen Erzählmuster des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts über eine längere literarische Vorgeschichte verfügen. Denn gerade die Integration vermeintlich ‚neuer‘ Erzählmuster zeigt, dass die deutsche Großstadtliteratur um 1800 nicht voraussetzungslos entsteht. Über die bedeutendsten Städte Europas zu berichten, und dies sowohl in einer dynamisierten als auch medial innovativen Weise zu leisten, ist keine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts. Ein Blick in die frühneuzeitliche Literatur des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts demonstriert, dass sich literarische Akteure wie Bertuch oder die deutschen Reisenden an Grundmustern bedienen, die bereits älteren Datums aufzufinden sind.16 Jüngst hat Nicolas Detering in seiner Monografie Krise und Kontinent darauf hingewiesen, wie sehr das zeitgenössische Interesse an ausländischen Berichten um 1700 gestiegen sei. Insbesondere die frühe periodische Presse habe ermöglicht, „Ereignisse nicht nur als akzidentielle Alltagseinbrüche zu verstehen, sondern sie in ihrer Prozessualität, im Zusammenhang ihrer Voraussetzungen und Folgen darzustellen“.17 Diese publizistischen Die Beschreibung der „Grossen Stadt“, 35. Brennpunkt der Welt, 304. 13 Neumeyer, Der Flaneur, 33. 14 Griep, „Reiseliteratur im späten 18. Jahrhundert“, 399. 15 Hauser, Der Blick auf die Stadt, 113. 16 Demnach wäre perspektivisch die Literaturgeschichte der deutschen Großstadtliteratur vor 1800 noch einmal zu eruieren, während sie in der bisherigen Forschung (z. B. bei Kleinschmidt, „Die ungeliebte Stadt“) eher peripher und abwertend betrachtet wurde. 17 Nicolas Detering, Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2017, 132. 11 Riha,
12 Corbineau-Hoffmann,
92
III Historische und literarische Kontexte um 1800
Neuerungen erinnern frappierend an das, was viele Großstadtschriftstellerinnen und ‑schriftsteller um 1800 betonen. Es geht darum, urbane Gegenstände weniger statistisch und statisch zu erfassen, sondern sie in ihrem komplexen Beziehungsgefüge zu lesen. Zu nennen sind vor allem zwei periodische Schriften an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Zum einen Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius18, der in vier Ausgaben erscheint und den die Forschung gemeinhin als „Archetyp der politischen Zeitschrift“19 handelt; zum anderen Philipp Balthasar Sinold genannt von Schütz’ (1657–1742) Vierteljahrsschrift Der Fliehende Passagier Durch Europa.20 Beide Quellen zeichnen sich durch den Versuch aus, die zeitgenössischen kriegerischen Wirren – insbesondere den Holländischen Krieg (1672– 1678) und den Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688–1697) – publizistisch näher zu erfassen. Dazu verwenden sie ein gemeinsames literarisches Muster. Sie entspinnen fiktive Rahmenhandlungen, die wahlweise den allegorischen Merkur oder einen fingierten Höfling Archinto – der einen flugfähigen Mantel sowie einen unsichtbar machenden Ring findet – in die verschiedenen europäischen Städte entsenden. Von dort übermitteln die inszenierten Beobachter neueste Informationen und liefern bedeutende Dokumente wie Ultimaten und Kriegserklärungen. Beiden fingierten Berichterstattern ist gemein, dass sie sich explizit unter die städtischen Menschenmengen mischen. Dort versuchen sie, die politischen Diskurse, gleichzeitig aber auch „T hemen wie wissenschaftliche Innovationen, neue Schriften und Erfindungen oder höfische Zeremonien oder Feste“21 zu erhaschen. Stilistisch verweben sie dies mit „alltäglichen Dialogen auf der Straße und in den Kneipen“22 und erinnern somit an Erzählmuster, die auch in der Großstadtliteratur um 1800 eine zunehmende Rolle spielen. So vermerkt der fiktive ‚Mercurius‘ zu seinem Besuch in London: „In solchem Lärmen und Gedränge in der Statt machete ich mich nach dem Königlichen Schloß Withall / umb mich zuer18 Voller Titel Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius, Welcher durch Europa wandernd / einige wichtige Discoursen / Muthmassungen und Meynungen / so bey den Teutschen / als Benachbarten dieses Welt-T heils begriffenen / und in jetzigem Krieg mit interessirenden Höffen und Ständen / unter vornehmen und geringen Standes-Persohnen vernommen / wahrhafftig der Welt zum Nachricht entdecket / und verlässet, Bd. 1, Nürnberg 1674. Danach erscheinen bis 1675 noch drei weitere Ausgaben, jeweils unter leicht veränderten Titeln. 19 Detering, Krise und Kontinent, 508. Zu dieser Funktion ausführlich Johannes Weber, Götter-Both Mercurius. Die Urgeschichte der politischen Zeitschrift in Deutschland, Bremen 1994. 20 Vollständig Philipp Balthasar Sinold genannt von Schütz, Der Fliehende Passagier Durch Europa / Welcher die remarquablesten Staats- und Privat-Händel / nebst einigen darüber geführten Raisonnements mittheilet, 12 Bde., Freystad 1698–1702. Von ihm wären als vergleichbare Zeugnisse Die europäische Fama (1702–1735) sowie Der europäische Niemand (1717–1721) zu nennen. 21 Detering, Krise und Kontinent, 508. 22 Detering, Krise und Kontinent, 508.
5. Über das ‚richtige‘ Wahrnehmen in Städten
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kündigen / was vor Freuden-Zeichen daselbst vorgenommen würden“.23 In Paris fügt er hinzu, er „marchirete in desse nach den Wirtshause zu / woselbst eben der Tisch gedecket stunde / und bey einem Camin Feuer eine ziemliche Quantität fremdbde Cavalliers“.24 Auch etwas später konstatiert er: „Weil einige Herren nach dem Louvre, so des Königs Residentz seyn sollte / sich begebnen wollten / als folgete ich von weiten / umb noch eines und das andere zuvernehmen“.25 Bei Sinold genannt von Schütz’ Fliehendem Passagier durch Europa indes spiegelt sich ein solches Erzählmuster unter anderem darin, dass bereits die zwölf Bände mit „Erste Promenade, Zweite Promenade“ und so weiter betitelt sind. Zudem konstatiert der fiktive Berichterstatter Archinto, auf seiner „Spatzier-Reise“ wäre beispielsweise „nichts curieusers / als daß er einmahl in einer grossen Stadt seine unsichtbare Nacht-Ronde vornähme“, um „so wohl in den vornehmsten Pallästen / als auch in den geringsten Hütten binnen einer eintzigen Stunde“26 einiges Neues zu erfahren. In den genannten periodischen Schriften, dem Götter-Both / Mercurius wie dem Fliehenden Passagier, liegen Erzählvarianten vor, welche die deutsche Großstadtpublizistik von Beginn an ein spezifisches Wahrnehmungsmuster knüpfen. Die, wenngleich fiktiven, Korrespondenten begeben sich in die Städte selbst, um dort die neuesten Meldungen in Erfahrung zu bringen. Sie betonen dabei insbesondere den autoptischen wie auch authentischen Charakter ihrer Darstellungen. Das weist insgesamt darauf hin, dass die deutsche Großstadtliteratur um 1800 nicht als formal und inhaltlich voraussetzungslos zu erachten ist, sondern sich die dort ausgewiesenen Wahrnehmungsmuster auch an älteren Formen orientieren, zumindest aber mit ihnen vergleichbar sind. Dies betrifft die Traditionslinie der Reiseliteratur und um 1800 verstärkt Merciers Tableau de Paris (Kap. 6) sowie frühere literarische Dokumente. Ähnliches kann unter internationaler Perspektive für die französische und englische Großstadtliteratur gelten, wie jüngst Jonathan Conlin am Beispiel des Spectators aufgezeigt hat.27 Gleichwohl bleibt zu konstatieren, dass vor allem thematisch ein erheblicher Unterschied zu jenen Quellen besteht, die es in Abschnitt IV zu analysieren gilt. Die frühneuzeitlichen Berichterstatter Merkur und Archinto konzentrieren sich auf die politischen Händel. Sie sind vornehmlich darauf aus, „die aktuelle Politik der Fürsten und Staaten in literarischer Form zu verhandeln“.28 Das urbane Alltagsleben indes, wie es in Berichten um 1800 vielfach im Mittelpunkt steht, betrachten sie maximal randständig oder fassen es lediglich als Rahmen ihrer politischen Ausführungen auf. An diesem vergleichenden Blick lässt sich folglich einmal mehr Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius, Bd. 1 (1674), 12. Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius, Bd. 1 (1674), 18 f. 25 Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius, Bd. 1 (1674), 30. 26 Sinold genannt von Schütz, Der Fliehende Passagier durch Europa, Bd. 2 (1698), o. S. 27 Conlin, „T he Origins of the Flâneur in London and Paris“. 28 Detering, Krise und Kontinent, 189. 23
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III Historische und literarische Kontexte um 1800
erkennen, worin ein Spezifikum der untersuchten Texte liegt. Sie beschränken sich nicht allein auf politische und zeitgeschichtliche Entwicklungen, sondern nehmen darüber hinaus die städtischen Alltagserscheinungen wahr. Reisen und Wahrnehmen: Die apodemische Perspektive Angesichts dessen, dass deutsche Großstadtberichte um 1800 weitgehend aus der Reiseliteratur datieren, nehmen die Darstellungen auch maßgeblich jene Debatten auf, die im reiseliterarischen Diskurs des 18. Jahrhunderts geführt werden. Besonders zu nennen ist dabei die durchweg präsente Diskussion, welche Wahrnehmungsformen eigentlich dem Reisen und später der daraus folgenden Literarisierung am besten eignen würden.29 Wie sehr die konzeptionellen Auseinandersetzungen die zeitgenössische Diskussion bestimmen, zeigt der Umstand, dass es eine eigene Textgattung gibt, die explizit adäquaten Reise- und Wahrnehmungsformen gewidmet ist: die Apodemik. Vermehrt entstehen im späten 18. Jahrhundert – daneben gibt es aber deutlich frühere Vorläufer30 – theoretische Schriften darüber, wie Reisende optimalerweise zu agieren hätten. Das bekannteste Beispiel ist die bereits genannte Apodemik oder Die Kunst zu reisen Franz Posselts. Posselt versucht, seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen darin zu unterrichten, wie sich eine Reise optimieren ließe und stellt dafür ein umfangreiches Sammelsurium an Regeln und Vorschriften auf. Zwar ist zu bedenken, dass er sich in erster Linie an gelehrte Reisende wendet und beispielsweise ausdrücklich ablehnt, „Ergötzungen aller Art, als: Lustparthien, Bälle, Schauspiele, Promenaden, Besuche, Spielgesellschaften u. s. w.“ (Posselt, Apodemik II, 471) allzu sehr in das Reiseprogramm aufzunehmen.31 Von Interesse sind für die Wahrnehmungsfragen daher vielmehr seine allgemeinen Ausführungen zur Reisepraxis, die er weitgehend von der gelehrten Reise abgelöst formuliert. Gleich einleitend zu seinen praktischen Ratschlägen und Vorschriften verdeutlicht er, wie entscheidend die Wahrnehmung als letztlich wichtigster Reisebestandteil sei. Er kündigt an, seine Apodemik wolle daher zuvorderst angemessene Beobachtungsformen elaborieren: Jährlich gehen sehr viele junge Leute auf Reisen, ohne zu wissen, wie sie reisen sollen; von Handwerksgesellen durch alle Stände bis zum Fürsten, will Alles die weite Welt beschauen; man hat aber noch nicht genug nachgedacht, geschweige hinlänglich dafür gesorgt, um alle die mannichfaltigen Klassen von Reisenden […] gehörig vorzubereiten […]. Das bloße Reisen in verschiedene Länder, und das bloße gedankenlose Anschauen 29 Diese zeitgenössischen Debatten diskutiert u. a. ausführlich Ute Heidmann Vischer, Die eigene Art zu sehen. Zur Reisebeschreibung des späten achtzehnten Jahrhunderts am Beispiel von Karl Philipp Moritz und anderen Englandreisenden (Zürcher Germanistische Studien 30), Bern 1993. 30 Posselt listet sie in seiner Apodemik selbst auf (vgl. Posselt, Apodemik I, IX–XI). 31 Vgl. Diezinger, „Paris in deutschen Reisebeschreibungen“, 270.
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von Merkwürdigkeiten lehrt an und für sich nichts. Wenn der Reisende nicht weiß, worauf er sehen, und wornach er fragen soll; wenn er die Kunst zu sehen und zu hören, und über das Gesehene und Gehörte nachzudenken nicht besitzt: so kann er alle Länder der Erde durchreisen, ohne im geringsten weiter und besser, verständiger, einsichtsvoller und brauchbarer für die Welt zu werden. (Posselt, Apodemik I, III–V)
Eindeutig ist erkennbar, dass Posselts Ausführungen tendenziell auf einen klaren Zweck der Reise und damit eine bestimmte Form – die gelehrte Reise – zielen. Dennoch stehen seine Ausführungen stellvertretend für die Debatte rund um die angemessenen Wahrnehmungsformen um 1800. Seine detaillierten und die Reisepraxis durchdenkenden Ausführungen rahmt er von Beginn an mit der Frage, welche Beobachtungsformen eigentlich adäquat sein könnten. Bloßes Reisen in andere Länder, ohne dabei zu wissen, wie und was wahrzunehmen sei, lehnt er entschieden ab. Dass er dies von bereits vorliegenden Berichten abgrenzt, verdeutlicht er an anderer Stelle. Im letzten Abschnitt, betitelt mit „Allgemeine nach der Reise zu beachtende Regeln und Vorschriften“, geht er mit der bisherigen Literatur hart ins Gericht: Wir haben in der T hat eine fast ungeheure Menge von Reisebeschreibungen, aber unter ihnen giebt es nur sehr wenige zweckmässige und vollständige in ihrer Art […]. Die meisten Reisebeschreibungen enthalten entweder nur geographische oder zum T heil statistische Beschreibungen von Ländern, und betreffen daher größtentheils bloß Dinge, die man in Handbüchern der Geographie oder Staatskunde eben so gut findet; und da sich dergleichen Reisebeschreibungen über zu viele Gegenstände verbreiten, so erschöpfen sie keinen einzigen Gegenstand ganz, oder sie enthalten Nachrichten von unbedeutenden Gegenständen und Personen, die niemand von ihnen zu wissen verlangt, und Raisonnements über Dinge, die ihre Verfasser nicht einmal gründlich zu beurtheilen im Stande sind. (Posselt, Apodemik II, 579 f.)
Posselts Polemik richtet sich eindeutig gegen die vornehmlich statistisch, geografisch und topografisch orientierte Reiseliteratur seiner Zeit. Er lässt keinen Zweifel daran, dass man dieser, seinen Worten nach dominierenden Beschreibungsart eine ganz andere Form der Berichterstattung gegenüberstellen müsse. Welcher Art die neuen Texte sein sollten, notiert Posselt in einem „Litterärische Regeln und Vorschriften“ benannten Kapitel. Dort formuliert er, was für ihn das eigentliche Wesen einer Reise konstituiere und wonach sich folglich die Literatur darüber auszurichten hätte: Jeder Reisende besehe an jedem Orte, in jeder Gegend, wohin er kömmt, die allda befind lichen Sehens- und Merkwürdigkeiten […]. Er muß sich daher nie auf die Berichte anderer verlassen, sondern alles selbst sehen, den Fall ausgenommen, wo eignes Sehen unmöglich ist. Denn das ist eben die Absicht des Reisens, das, was andere gesehen, oder auch nicht gesehen haben, selbst zu sehen und zu untersuchen. (Posselt, Apodemik II, 360)
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Mit seiner T hese, die eigene Anschauung, die Autopsie der bereisten Länder und Orte, konstituiere das eigentliche Reisen, ordnet Posselt sich einer klaren Ausrichtung der Reiseliteratur zu. Er impliziert, wer über die eigene Reise berichte, der habe sich ausschließlich mit dem auseinanderzusetzen, was sie oder er selbst gesehen habe. Der subjektive Eindruck der „Sehens- und Merkwürdigkeiten“ – und zwar ganz unabhängig davon, wie oft diese schon zuvor bereist und beschrieben sind – rückt hier ins Zentrum der Auseinandersetzung. Posselt steht damit beispielhaft für die verstärkte Hinwendung zu autoptisch orientierten Berichtformen um 1800. Etwas später spitzt er seine grundlegende Aufforderung sogar noch einmal zu und formuliert, welche Ausmaße die Wahrnehmung annehmen müsse. Zur Frage, was man überhaupt genau zu beobachten habe, schreibt er, alles, was ihm vorkömmt, was er sieht und hört […]. Jeder Reisende sollte daher […] sein Netz beständig aufgespannt haben, damit seinen Beobachtungen von allem ihm dienenden Gegenständen, auch nicht der geringste entgehe. Er überzeuge sich, daß er an jedem Orte etwas, so ihm vorher unbekannt war, und von jedem Menschen etwas Nützliches lernen könne. (Posselt, Apodemik II, 367)
Posselt deutet eine Wahrnehmungsform an, die eine totale Offenheit für allerlei zufällige und kontingente Eindrücke zeitigt. Der Reisende, so seine explizite Forderung, solle sich gerade nicht auf einzelne Gegenstände beschränken. Er müsse stattdessen weitgehend unvoreingenommen davon ausgehen, dass an jeder Ecke und hinter jedem Menschen eine neue bedeutende Beobachtung liegen könnte. Zwar bleibt hier anzumerken, dass Posselt das Reisen nach verschiedenen Personengruppen differenziert und dort auch Einschränkungen und Schwerpunkte angibt, welchen Dingen man sich je nach Reisezweck und individueller Persönlichkeit primär zu widmen habe. Nichtsdestotrotz sticht seine allgemeine Charakterisierung des Reisens hervor und bestärkt noch einmal, wie zentral die persönliche Wahrnehmung in den reisetheoretischen Diskussionen um 1800 ist. Posselts Ausführungen sind für Formen deutscher Großstadtwahrnehmung unter einer weiteren Perspektive von höchstem Interesse. In den „Litterärischen Regeln und Vorschriften“ liegt neben allerlei allgemeinen Angaben eine explizite Anweisung vor, wie Reisende sich am angemessensten in „großen Städten, besonders in Haupt- und Residenzstädten“ zu verhalten hätten. Dort, so seine Aufforderung, mache er sich zuerst mit dem Lokale der Stadt, d. h. mit ihrer Lage, ihrem Umfange, ihrer Eintheilung, mit ihren vornehmsten Straßen und Plätzen u. dergl. bekannt, um sich an Ort und Stelle zu orientiren. […] Um sich diese Kenntniß des Lokale zu verschaffen, muß er zuerst den Grundriß der Stadt studieren, und sich mit den Hauptabtheilungen derselben bekannt machen. Mann [sic!] kann sich dieses Studium des Lokale sehr erleichtern, und die Vorstellung von der Lage der Stadt und ihren einzelnen T heilen noch deutlicher und anschaulicher machen, wenn man das höchste Gebäude in der Stadt und die höchste
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Erhöhung in der Nachbarschaft, mit dem Grundrisse in der Hand, besteigt. […] Hierauf sollte er allein, oder in Begleitung des Lohnbedienten, die vornehmsten Straßen der Stadt durchwandern, und die öffentlichen Plätze besehen. (Posselt, Apodemik II, 368–370)
Für Posselt steht fest: Wer in eine große Stadt wie London oder Paris reist – beide erwähnt er in diesem Abschnitt noch explizit –, der muss sich in allererster Linie mit dem öffentlichen Stadtraum auseinandersetzen. Ausdrücklich fordert er dazu auf, Spaziergänge durch die Städte zu unternehmen oder panoramatische Aussichten zu genießen. Posselt unterstreicht damit noch einmal den Primat der Autopsie.32 Das sagt mitunter wenig über die konkrete, vor allem die literarische Ausgestaltung solcher Spaziergänge und Wahrnehmungsformen aus. Doch Posselts Kombination aus einer möglichst breiten und offenen Beobachtung, dem zentralen subjektiven Eindruck sowie dem klar formulierten Willen, zu Fuß die Stadt zu erkunden, präformiert in ihrer Zusammensetzung geradezu Wahrnehmungsformen des Flanierens. Literarische Konsequenzen Blickt man von dieser theoretischen Auseinandersetzung weg, hin zu den eigentlichen Texten, lässt sich rasch erkennen, dass zumindest Arndt, Kotzebue und Rebmann sowie die Korrespondentinnen und Korrespondenten von London und Paris Posselts Forderungen streckenweise einlösen. Das gilt für die zentrale Stellung der je eigenen Wahrnehmung ebenso wie für die verstärkte Integration von literarisierten Stadtspaziergängen. Die Herausgeber Bertuch und Böttiger beispielsweise fordern, die jeden Tag „erneuerte Scene des lebendigsten Menschenlebens, […] im Moment der regesten Bewegung aufgefaßt“ (London und Paris I, 1798, 5), literarisch festzuhalten. Etwas später geben sie außerdem zu Protokoll, die Zeitschrift wolle „treu geben, was ein Paar gesunde und nicht ganz ungeübte Augen an Ort und Stelle selbst, täglich wo anders herumgetragen sehen können“ (London und Paris I, 1798, 9). Die Herausgeber deuten hier eine Verbindung von Autopsie und Authentizität an, die alle untersuchten Quellen diskutieren und die auch im geweiteten Blick auf die Reise- und Großstadtliteratur um 1800 bedeutend ist. So hält unter anderem Ernst Moritz Arndt in seinem Pariser Vorwort fest, „ich will die Dinge treu und wahr geben, wie ich sie damals sah, und mein Urtheil nicht weniger“ (Arndt, Reisen III, 119). August von Kotzebue gibt zu bedenken: „Ich lege meinen flüchtigen Bemerkungen keinen andern Werth bei, als den, daß ich sie selbst gemacht habe“ (Kotzebue, Erinnerungen, III). Schlaglichtartig ist an diesen poetologischen Aussagen erkennbar, wie sehr im zeitgeVgl. zu diesen topischen reiseliterarischen Mustern um 1800 Grosser, Reiseziel Frankreich, 388. Zum ‚Kirchturmblick‘ u. a. Friedrich Wolfzettel, „Funktionswandel eines epischen Motivs. Der Blick auf Paris“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 1 (1977), 353–376. 32
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nössischen reiseliterarischen Diskurs die Frage nach einer angemessenen Wahrnehmung damit einhergeht, subjektive Eindrücke stark zu betonen. Die Debatte darüber, die urbanen Erfahrungen angemessen darzustellen, ist folglich zugleich eine über das Verhältnis von Wahrnehmung und Erzählung. Dieser Schwerpunkt verbindet sich für die Autorinnen und Autoren zumeist mit dem in Vorreden präsenten Ansinnen, möglichst authentisch und wahrhaftig zu berichten. Die gattungstypischen „zentralen Versprechen, die in den Vorreden gemacht wurden, […] wahrhaftige Beschreibung auf der einen und […] subjektive[] Darstellung auf der anderen Seite“33, erweisen sich als maßgebender Topos. Obwohl literarische Stilisierungen und Inszenierungen der Reise und der gemachten Erfahrungen zur Debatte stehen, versuchen die Berichterstatterinnen und Berichterstatter doch, ihnen einen glaubhaften Anstrich zu verleihen. „Einen Text zu erstellen, dem man nicht mehr ansieht, daß er nachträglich am Schreibtisch entstanden ist oder gar intentional geformt wurde“34, ist oftmals poetischer Anspruch. Die Reisebeschreibungen geraten in einen spannungsreichen Zusammenhang von authentischer Beschreibung und literarischer Inszenierung. Schon früh hat daher die Reiseliteraturforschung gefordert, „die Art und Weise der literarischen Gestaltung“35 besonders zu analysieren. Einerseits suggerieren die Berichterstatterinnen und Berichterstatter, so wahrhaftig wie nur möglich über ihre Reisen zu berichten, andererseits sind „Elemente der Fiktion […] auch ohne kriminalistische Forschungen durchaus erkennbar“.36 Wie die einschlägige Forschung durchgehend betont, ist die Differenz von tatsächlicher und literarisierter Reise ein maßgebliches Kriterium. Auf diese Weise lässt sich von „fiktionalen Gestaltungselemente[n]“ ausgehen, „die auch jeder noch so faktologisch ausgerichtete Reisebericht schon alleine durch das Moment seiner nachträglichen Redaktion enthielt“.37 Das wird umso sinnfälliger, als dass Reisen um 1800 dessen berichtende Verarbeitung geradezu prädestiniert: „Kaum eine Reise scheint in dieser Zeit ohne die Absicht unternommen worden zu sein, ein Buch über sie zu schreiben“.38 Dies zeigt eine zeitgenössisch umfangreiche technische Debatte darüber, wie man auf den Reisen idealerweise Reiseziel England, 234. Zur allgemeinen Bedeutung von Vorreden und vergleichbaren Mustern für die zeitgenössische Reiseliteratur vgl. Segeberg, „Die literarisierte Reise im späten 18. Jahrhundert“, bes. 15. 34 Fischer, Reiseziel England, 225. 35 Hans-Joachim Possin, Reisen und Literatur. Das T hema des Reisens in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts (Studien zur englischen Philologie 15), Tübingen 1972, 15. 36 Maurer, „Einleitung“, 21. Dies steht der älteren Forschung gegenüber, die teils noch „unter Reisebericht eine Darbietungsform, die in objektiv-nüchterner Redeweise den Reiseverlauf weitgehend unreflektiert und unredigiert wiedergibt und auf Fiktionalisierung und epische Integration verzichtet“ (Manfred Link, Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine, Köln 1963, 11), verstand. 37 Grosser, „Der mediengeschichtliche Funktionswandel der Reiseliteratur“, 285. 38 Laermann, „Raumerfahrung und Erfahrungsraum“, 77. 33 Fischer,
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die gewonnenen Eindrücke festhalten könnte, um sie später literarisch zu vermitteln.39 Die Reisenden stellen sich vielfach zur idealisierten Aufgabe, vor allem den eigenen Eindruck zu akzentuieren und die individuellen Erfahrungen darzustellen. Wie stark zeitgenössisch das rezeptive Verlangen nach solchen Erfahrungsberichten ist, verdeutlicht noch einmal Posselts Apodemik. Im Abschnitt „Allgemeine nach der Reise zu beobachtende Regeln und Vorschriften“ lässt er wenig Deutungsspielraum: Hat nun der Reisende seine Reise glücklich geendigt, und ist er in seine Heymath zurückgekehrt: so muß nun seine größte Sorgfalt dahin gehen, die auf seinen Reisen erworbenen Einsichten, Kenntnisse, Erfahrungen, Geschicklichkeiten und Fertigkeiten […] anzuwenden. Das Reisen war die Zeit des Sammelns; nach geendigter Reise, fängt die Zeit der Anwendung an. Die erste Anwendung, die der Reisende von seinen gesammelten Kenntnissen und Erfahrungen machen sollte, ist, daß er sie der Welt mittheile. (Posselt, Apodemik II, 577)
Eine schriftliche Dokumentation für das interessierte Lesepublikum ist nach Posselt einer Reise unbedingt inhärent.40 Obwohl festzuhalten bleibt, dass um 1800 die Mehrzahl der Reisen nicht literarisch verarbeitet wird, ist andererseits ersichtlich, dass die Reisenden Posselts Forderung reichlich Genüge leisten. Die genauere Lektüre der Texte zeigt indes, dass sich dies in heterogenen Formen ausdrückt. Die einzelnen Quellen zeichnen sich bereits selbst zumeist durch eine ausgeprägte Diversität aus. Passagen, in denen die Reisenden tatsächlich eigene Eindrücke wiedergeben und von ihren persönlichen Erfahrungen berichten, changieren mit Stellen, an denen sie in empirischer Manier die Metropolen genaustens inventarisieren und katalogisieren.41 Es lässt sich von einer „Spannung zwischen der trockensten Sachlichkeit und […] Bedürfnis nach persön licher Stellungnahme und Einordnung“42 ausgehen. Diese immanente Vielseitigkeit gilt es explizit zu betonen. Keine der vier untersuchten Quellen zeichnet sich, wie die jeweiligen Analysen zeigen, durch ein durchgängiges Erzählmuster aus. Jene Passagen, die literarische Flanerien präsentieren – und in denen der Primat des subjektiv-persönlichen Eindrucks mitunter am stärksten zum Tragen 39 Dies zeigt u. a. Andreas Hartmann, „Reisen und Aufschreiben“, in: Hermann Bausinger/Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, 152–159. Er hebt darauf ab, dass um 1800 zunehmend Apparaturen existieren, die unterwegs ein schnelles Notieren ermöglichen. 40 Vgl. zum „Publizitätsgebot“ der Apodemik T homas Grosser, „Reisen und soziale Eliten. Kavalierstour – Patrizierreise – bürgerliche Bildungsreise“, in: Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung (Aufklärung und Europa), Berlin 1999, 135–176, 160. 41 Grosser, „Der mediengeschichtliche Funktionswandel der Reiseliteratur“, 289. Er weist darauf hin, dass trotz „fiktionale[r] Elemente in expliziter Weise […] [d]ie enzyklopädische Tradition der Gattung […] keineswegs vollständig außer Kraft gesetzt“ werde. 42 Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. II. Die Formenwelt, Stuttgart 1972, 244.
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kommt –, stehen gleichberechtigt neben Abschnitten, in denen andere Darstellungsformen dominieren. Die einleitend konstatierte, systematische Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Darstellungsformen findet ihren Ausdruck bereits in den Quellen selbst und weist deutlich darauf hin, dass pauschalisierende Aussagen nur mit erheblichen Einschränkungen zu tätigen sind. Eines aber steht fest: Die literarische Darstellung der urbanen Erfahrungen orientiert sich in den deutschen Berichten an der zeitgenössischen Reiseliteratur und der mit ihr verbundenen Wahrnehmungs- und Darstellungsdiskussion. Sowohl in Anbindung als auch Abgrenzung zu ihr bildet sie folglich einen intertextuellen Bezugspunkt, der über die pure thematische Nähe weit hinausreicht. Vielmehr liest sich die Wahl der unterschiedlichen Darstellungsformen zugleich als Diskussion über eine angemessene reiseliterarische Verarbeitung. Daher ist unabdingbar, für die einzelnen Texte diesen literaturhistorischen und wahrnehmungstheoretischen Bezugspunkt jeweils individuell zu diskutieren.
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6. Intertextualität: Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris und seine Wirkung auf die deutschen Großstadtberichte um 1800 Sowohl der Blick auf die deutsche Selbst- und Fremdwahrnehmung als auch auf die literatur- und wahrnehmungsgeschichtlichen Einflüsse hat deutlich gezeigt, wie bedeutend intertextuelle Bezüge für die deutsche Großstadtliteratur um 1800 sind.1 Nur selten findet sich ein Reisebericht ohne Bezüge auf andere Reisende, die Schilderungen lesen sich zumeist als „Auseinandersetzung[] der Autoren mit den auf sie gekommenen Mustern“.2 Unter den zahlreichen Dokumenten findet sich nahezu kein Bericht, „der nicht andere Reisebeschreibungen von Vorgängern gekannt hätte, kaum einer, der sie nicht zu berichtigen, zu bestätigen oder zu widerlegen suchte“.3 Sich auf andere Berichte zu beziehen, kann dazu dienen, die eigene Belesenheit und Expertise zu untermauern, es kann aber auch zur scharfen Polemik führen. Eine Darstellung von London oder Paris zu schreiben, geht vorwiegend damit einher, sich innerhalb eines bereits vorhandenen Textkorpus zu verorten. Letztlich bildet diese intertextuelle Form ein Scharnier zwischen Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung. So wie andere Berichte die Wahrnehmung beeinflussen und insbesondere vorbilden können, bezieht man sich mit dem eigenen Dokument wieder systematisch auf die Prätexte. Diese intertextuelle Verwobenheit hat sich sowohl für die imagologischen Vorstellungen von London und Paris respektive Großbritanniens und Frankreichs als auch für die literarischen Traditionen und Einflüsse der Stadtwahrnehmung als leitend erwiesen. Hinzu kommt ein dritter Faktor, der bezüglich der in Abschnitt IV untersuchten Großstadtberichte kaum überschätzt werden kann: die Rezeption von Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris, das in den 1780er-Jahren erscheint. Mit seinem Tableau liefert der französische Autor die großstadtliterarische Vorlage, welche die deutschen Autorinnen und Autoren mit am stärksten beeinflusst. Nur zwei Jahre nach der französischen Erstausgabe vermerkt beispiels1 Zur Bedeutung der Intertextualität für die Reiseliteratur allgemein siehe Manfred Pfister, „Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext“, in: Herbert Foltinek/Wolfgang Riehle/Waldemar Zacharasiewicz (Hg.), Tales and „their telling difference“. Zur T heorie und Geschichte der Narrativik (Anglistische Forschungen 221), Heidelberg 1993, 109–132. 2 Hentschel, „Die Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts“, 54. 3 Maurer, „Einleitung“, 21.
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weise der deutsche Übersetzer Bernhard Georg Walch (1746–1805) in seiner Ausgabe Paris, ein Gemälde von Mercier (1783/84): „Der Werth des Tableau de Paris ist so entschieden anerkannt worden, daß sowohl eine neue Empfehlung desselben, als eine Rechtfertigung der übernommenen Uebersetzung unnöthig wird.“4 Zwar weist er wenig später darauf hin, „Mercier ist auch nicht der E rstre, welcher Paris von der Seite und mit den Farben geschildert hat“ – er nennt das „Werkgen“ Die Sitten von Paris, moralisch und satirisch beschrieben (1750) –, doch an der enormen Wirkung des Tableau lässt er keinen Zweifel aufkommen. Weitet man den Blick über diese Einzelaussage hinaus, ergibt sich ein vergleichsweise eindeutiges Bild. Dass bis 1790 bereits rund 100 000 Exemplare des Tableau verkauft werden, zeugt publikatorisch von seiner Bedeutung.5 Wie die Forschung mehrfach aufgezeigt hat, hat die Veröffentlichung des Tableau eine Vielzahl von an Merciers Werk angelehnten Großstadtbeschreibungen zur F olge.6 Das gilt nicht nur für die durch ihn beschriebene Metropole Paris, sondern das Tableau wird auch für Darstellungen aus anderen Metropolen – und selbst bis in die Schilderung von Kleinstädten hinein7 – zur poetischen Maßgabe. Der Pariser Autor wird in diesem Zusammenhang gerne als Begründer der modernen Großstadtliteratur dargestellt. Als erster Autor habe „Mercier […] ein Bewußtsein vom Ganzen der großen Stadt“8, hat beispielsweise Karl-Heinz Stierle festgehalten. Und auch Angelika Corbineau-Hoffmann konstatiert, er sei ein Pionier für die „Ästhetik der Großstadt“.9 Mit seiner 1049 Kapitel starken Parisbeschreibung gebe er der Großstadt historisch erstmals ein ausgewachsenes literarisches Gesicht. Gehäuft tituliert ihn die Forschung außerdem als einen der frühen Flaneure, der mit seiner subjektiven Wahrnehmung und Darstellung diesen bedeutenden Strang der Großstadtliteratur begründe.10 Nachfolgend soll es darum gehen, die Wirkung von Merciers Tableau auf die deutschen Berichte aus London und Paris näher zu untersuchen. Dabei zeigt sich ein ambivalenter Befund. Die Autorinnen und Autoren schließen einerseits insbesondere formal und wortwörtlich an den französischen Vorgänger an. Gleichzeitig modifizieren sie dessen Vorlage unter ihren eigenen Beobachtungs- und Darstellungsprämissen. 4 Louis-Sébastien Mercier, Paris, ein Gemälde von Mercier, 8 T heile, übers. v. Bernhard Georg Walch, Leipzig 1783/84, III. 5 Vgl. Annette Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, 128. 6 Stierle, Der Mythos von Paris, 138. Zur expliziten Wirkungsgeschichte in Deutschland siehe Corbineau-Hoffmann, „An den Grenzen der Sprache“; Jean Villain, „Der Fußgänger von Paris. Versuch über die Unsterblichkeit des Louis-Sébastien Mercier“, in: Louis-Sébastien Mercier, Mein Bild von Paris, Leipzig 1976, 439–501, 490. 7 Vgl. Corbineau-Hoffmann, „An den Grenzen der Sprache“, 145. 8 Stierle, Der Mythos von Paris, 112. 9 Corbineau-Hoffmann, Brennpunkt der Welt, 74. 10 Insbesondere Erdmann, „Un moi insatiable du non-moi“.
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Bezüge und Gemeinsamkeiten: Struktur, Autopsie, literarische Subjektivität Der Blick in Bertuchs London und Paris sowie in die Reiseberichte Arndts, Kotzebues und Rebmanns zeigt, dass Mercier zeitgenössisch eine enorme Wirkung auf die deutschen Großstadtbesucherinnen und -besucher hat. Drei Texte (London und Paris, Arndt, Rebmann) beziehen sich explizit auf seine literarische Vorlage und auch Kotzebues Bericht weist formal große Übereinstimmungen mit dem französischen Vorbild auf. Die London und Paris-Herausgeber Bertuch und Böttiger etwa heben auf den „Heißhunger“ ab, mit dem „Merciers erstes Tableau von Paris verschlungen, und in vervielfältigten Ausgaben und Uebersetzungen in Süden und Norden verbreitet“ (London und Paris I, 1798, 5) worden sei. Mit ihrem eigenen Konzept eines „Tableau mouvant“ knüpfen sie zudem die Maßgaben der Zeitschrift begrifflich unmittelbar an den französischen Referenztext, obwohl sie dessen literarische Vorlage modifizieren, wie noch genauer zu elaborieren sein wird.11 Auch Georg Friedrich Rebmann rekurriert in seinen Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris bereits im Titel auf das Vorbild. Ebenso betont er im dortigen Vorwort, er wolle im Anschluss an das Tableau „einzelne Risse“ liefern und „nicht ganz ohne Vergnügen und Nutzen“ (Rebmann, Zeichnungen, 396) über seinen Parisaufenthalt berichten. Ernst Moritz Arndt schließlich rekurriert in der Vorrede ebenfalls auf Mercier, indem er dessen Auffassung rezipiert, „das eigentliche Oeffentliche […] gehört nach seinem Urtheile dem Fremden an“ (Arndt, Reisen III, 116). Immer wieder sind neben dem allgemeinen Bezug auf Mercier direkte Zitate und Verweise auf das Tableau erkennbar. Beispielhaft dafür steht eine Passage aus London und Paris, in welcher der Pariser Korrespondent Friedrich T heophil Winckler die Champs-Élysées skizziert. Beim Überqueren einer belebten Straße bewegt sich der Verkehr „so schnell, daß ich immer an Mercier denke, der irgendwo in seinem Tableau sagt: marcher pendant une journée dans Paris, c’est monter à l’assaut […]“ (London und Paris V, 1800, 138). Dieser direkte Verweis auf Merciers Parisbeschreibung steht, ebenso wie beispielsweise derjenige Arndts, stellvertretend für eine Unmenge von unmittelbaren und verdeckten intertextuellen Bezügen, die zwischen dem Tableau und den deutschen Berichten bestehen. Es kann als wahrscheinlich gelten, dass die deutschen Autorinnen und Autoren Mercier in aller Regel aus dem französischen Original kennen. Der Status von Französisch als zeitgenössischer Bildungssprache sowie eine Vielzahl von originalsprachlichen Zitaten sind maßgebliche Hinweise darauf.12 Mercier ist für 11 Vgl. zur Rezeption von Mercier in London und Paris Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 152; Lauterbach, „‚London und Paris‘ in Weimar“, 206. 12 Aus diesem Grund sind die nachfolgenden Zitate aus der um 1800 am weitesten verbreiteten Ausgabe des Tableau entnommen, der ab 1782 erschienenen, verbesserten und erweiterten Amsterdamer Ausgabe: Louis-Sébastien Mercier, Tableau de Paris, Nouvelle
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Berichterstatter wie Arndt oder Rebmann und für die Korrespondentinnen und Korrespondenten in London und Paris gleich auf mehreren Ebenen eine tragende Bezugsgröße. Sie schließen zum einen gattungstechnisch an ihn an. Sie benennen eigene Texte als „Gemälde“ oder versehen sie mit vergleichbaren Titeln, um die Verwandtschaft zu betonen. Und zum anderen beziehen sie sich immer wieder auf einzelne Aussagen und Einschätzungen Merciers – vor allem dort, wo sie dieselben T hemen und Gegenstände wie der französische Vorläufer darstellen. Kaum zu übersehen ist ein formaler und struktureller Bezug zwischen Merciers Tableau und den deutschen London- und Parisberichten. Legt man alleine die Inhaltsverzeichnisse und damit verbunden die Gliederungen der Texte nebeneinander, lässt sich dies klar erkennen. Als Überschriften dienen einzelne Stichworte der urbanen Lebenskultur, die topografischer, kultureller oder personaler Provenienz sein können. Mercier listet zum Beispiel im ersten Band seines Tableau folgende Dinge einleitend auf: „Coup-d’œil général, Les greniers, Grosseur démesurée de la Capitale, Physiognomie de la grande Ville, Les Car rieres, Où est le Gouvernement féodal?“ (Mercier, Tableau I, Inhaltsverzeichnis). 1043 weitere Stichworte lässt er in insgesamt zwölf Bänden folgen. Diese thematische Bandbreite ist in den deutschen Zeugnissen genauso zu erkennen, unter anderem bei einem Blick in das Inhaltsverzeichnis Ernst Moritz Arndts: „Die Unheilbaren, Die Taubstummen, […] Der Tempel, Der Richtplatz […], Die Jakobiner, Das Fest des vierzehnten Junius […]“ (Arndt, Reisen, Inhaltsverzeichnis) – all diese Stichworte aus ganz verschiedenen T hemenbereichen listet Arndt auf und kündigt damit eine Berichterstattung über sie an. Vergleichbares lässt sich für London und Paris sowie die Reiseberichte Kotzebues und Rebmanns feststellen. Das verweist auf eine strukturelle Gleichförmigkeit der Texte, die jener bei Mercier sehr ähnlich ist. Zwar liegen sehr wohl Binnenunterschiede vor, inwieweit die Anordnung der einzelnen Gesichtspunkte einem inhaltlichen Programm folgt, das darstellerische Strukturprinzip aber bleibt dasselbe. Genannt werden zunächst enzyklopädisch anmutende Lemmata, welche die Beobachter dann einer näheren Betrachtung unterziehen. Dies leitet sich aus den zeitgenössischen reiseliterarischen Mustern ab und steht überdies in enger Verbindung zu Merciers Tableau. Wenn auch im Folgenden noch näher nachzuweisen ist, dass die deutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ihren Erzählmustern bisweilen deutlich vom französischen Vorbild abweichen, so ist die inhaltliche Anordnung oftmals im formalen Kontext des Tableau zu lesen. Die intertextuelle Bedeutung Merciers trifft genauso für Wahrnehmungsfragen und die Darstellung urbaner Lebensformen zu. Wie ein Vergleich des Tab leau mit den deutschen Berichten illustriert, besteht diesbezüglich eine enge Verwandtschaft. Die literarischen und darstellerischen Konzeptionen der deutÉdition, corrigée et augmentée, 12 Bde., Amsterdam 1782–1788. Die römischen Zahlen verweisen jeweils auf den zitierten Band.
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schen Großstadtliteratur entspringen nicht allein der zeitgenössisch bedeut samen Reiseliteratur. Sie orientieren sich gleichzeitig an den Vorstellungen Merciers, wie sich die Stadt am adäquatesten beschreiben lasse. Bereits die Vorrede zum Tableau demonstriert, inwiefern er inhaltliche Schwerpunkte und Prämissen legt, die viele deutsche Berichterstatterinnen und Berichterstatter nahtlos aufgreifen: Je vais parler de Paris, non de ses édifices, de ses temples, de ses monumens, de ses curiosités, &c. assez d’autres ont écrit là-dessus. Je parlerai des mœurs publiques & particulieres, des idées régnantes, de la situation actuelle des esprits, de tout ce qui m’a frappé dans cet amas bizarre de coutumes folles ou raisonnables, mais toujours changeantes. Je parlerai encore de sa grandeur illimitée, de ses richesses monstrueuses, de son luxe scandaleux. (Mercier, Tableau I, iii)
Mercier kündigt an, er wolle keine ausufernde topografische Darstellung des Pariser Stadtbilds anbieten, sondern eine Schilderung des öffentlichen Lebens, wie es ihm in der Stadt unter die Augen gekommen ist.13 Insbesondere die Beschreibung sozialer Gegebenheiten und vor allem ihrer Missstände ist ihm ein zentrales Anliegen, das er „in seiner konkreten Vielfalt und Komplexität zu erkunden“14 versucht. Dies unterstreicht er wenig später noch einmal: „Si quelqu’un s’attendoit à trouver dans cet ouvrage une description topographique des places & des rues, ou une histoire des faits antérieurs, il seroit trompé dans son attente“ (Mercier, Tableau I, iv). Von Anfang an grenzt Mercier seine Parisbeschreibung von tradierten literarischen Formen, vorrangig der topografischen Literatur, ab und stellt dem seine subjektive Beobachtung gegenüber. Daran lässt sich markant ablesen, inwiefern auch der französische Autor letztlich als Beispiel dafür gelten kann, mit welcher Intensität um 1800 über die literarische Darstellbarkeit und die Diskursivierung der Metropolen nachgedacht wird. Er ist wie viele seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen „auf der Suche nach einem Text, in dem auch das Disparate, Widersprüchliche, Ungereimte, Bewegliche und Veränderliche mit zum Ausdruck kommen sollte“.15 Mit seinem Tableau habe er jedoch, so konstatiert der Autor selbst, „n’ai fait ni inventaire ni catalogue“ (Mercier, Tableau I, v). Bereits die Vorrede deutet an, inwiefern Mercier von zeitgenössischen Vorläufermodellen abweicht: „Mit seinem Tableau hält Mercier dem ihm zutiefst widerstrebenden enzyklopädischen Wissen seiner Zeit ein anderes, neuartiges Wissen entgegen“.16 Obwohl das Tableau „äußerlich, d. h. in Aufbau, Typographie und den teilweise verwendeten Einleitungsformeln der Aufma13 Vgl. Eva Kimminich, „Chaos und Struktur. Schritt und Blick in Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris“, in: Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes/Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 18,3/4 (1994), 263–282, 264. 14 Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 117. 15 Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 121. 16 Kimminich, „Chaos und Struktur“, 279.
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chung enzyklopädischer Nachschlagewerke“ gleicht, differieren „Inhalt und Stil […] hingegen völlig vom damals üblichen Lexikonartikel“.17 Vielmehr steht für ihn anderes im Zentrum: J’ai crayonné d’après mes vues; j’ai varié mon Tableau autant qu’il m’a eté possible; je l’ai peint sous plusieurs faces; & le voici, tracé tel qu’il est sorti de dessous ma plume, à m esure que mes yeux & mon entendement en ont rassemblé les parties. (Mercier, Tableau I, v)
Mercier betont die eigene Wahrnehmung des Öffentlichen und nimmt damit eine literaturhistorische Transformation vor, welche die untersuchten deutschen Berichte deckungsgleich rezipieren. So unterstreicht beispielsweise Ernst Moritz Arndt, die Pariser Topografie wolle er randständig betrachten, den „großen Tummelplatz, worauf gespielt wird, setze ich als bekannt voraus“ (Arndt, Reisen III, 120). Und auch in London und Paris oder den Reiseberichten Kotzebues respektive Rebmanns sucht man in den Vorreden und weiteren Kapiteln vergeblich nach der Absicht, eine langwierige topografische Skizze anbieten zu wollen.18 Einschränkend ist gleichwohl anzumerken, dass es sich sowohl bei Mercier selbst als auch in dessen deutscher Rezeption vor allem um ein ideelles Konstrukt handelt. Untersucht man die Texte einmal genauer, bleibt wie schon für die bereits angesprochenen unterschiedlichen Wahrnehmungsformen zu konstatieren, dass sich das tatsächliche Textbild heterogener gestaltet. Beispielhaft steht dafür bei Mercier das Kapitel 178 „Promenons-nous“ (Mercier, Tableau II, 234). Wäre unter diesem Titel die Schilderung eines ausgedehnten Spaziergangs durch die französische Metropole erwartbar, womöglich gespeist durch individuelle Eindrücke, täuscht die durch die Überschrift vermittelte Stoßrichtung. Gleich zu Beginn kündigt Mercier an – entgegen den Postulaten seiner Vorrede –, nicht das gegenwärtige Paris erfassen zu wollen. Er verspricht vielmehr: „Jetons un coup-d’œil sur les établissemens de nos aïeux: ainsi j’apprendrai l’histoire des siècles qui m’ont précédé; & chaque église, chaque monument, chaque carrefour m’offrira un trait historique & curieux“ (Mercier, Tableau II, 234). Hier dient der Spaziergang einer historischen und vor allem architektonischen Inventarisierung.19 Vergleichbares lässt sich für die deutschen Berichte festhalten. Obwohl Protagonisten wie Arndt, Kotzebue oder die Herausgeber von London und Paris eifrig betonen, dass sie von einer topografischen 17 Kimminich, „Chaos und Struktur“, 271. Vgl. zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu enzyklopädischen Vorhaben Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 120. 18 Zu London und Paris vgl. Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen, 258. 19 Auf diesen Umstand hat Franziska Meier, „Die Verzeitlichung des Raums und der Ort des Subjekts. Überlegungen zur Stadtbeschreibung bei Mercier, Chateaubriand, Stendhal und Tocqueville“, in: Kurt Hahn/Matthias Hausmann (Hg.), Visionen des Urbanen. (Anti‑) Utopische Stadtentwürfe in der französischen Wort- und Bildkunst (Studia Romanica 172), Heidelberg 2012, 47–67, 51, hingewiesen.
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und katalogisierenden Darstellung Abstand nehmen wollen, gehen solche Passagen dennoch in ihre Texte ein, insbesondere hinsichtlich der architektonischen Gegebenheiten. Das verdeutlicht noch einmal die heterogenen Eigenschaften der untersuchten Quellen und lässt sich übergeordnet wieder in die zeitgenössische Suche nach einem großstädtischen Diskurs einordnen. Neben den inhaltlichen und darstellerischen Schwerpunktsetzungen ist es vor allem die urbane Wahrnehmung im engeren Sinne, bei der ein enger Bezug zwischen Mercier und seinen deutschen Rezipientinnen und Rezipienten besteht. Zum einen betrifft dies einen je nach Quelle mehr oder minder stark ausgeprägten fragmentarischen Stil und dazugehörige formale Strukturen. Obwohl Mercier mit seinen 1049 aus der Beobachtung gewonnenen Kapiteln einen der umfangreichsten Großstadttexte um 1800 anbietet, konstatiert er anfangs einschränkend: Il restera encore beaucoup plus de choses à dire que je n’en ai dites, & beaucoup plus d’observations à faire que je n’en ai faites; mais il n’y a qu’un fou & un méchant, qui se permettent d’écrire tout ce qu’ils savent ou tout ce qu’ils ont appris. Quand j’aurois les cent bouches, les cent langues & la voix de fer, dont parlent Homere & Virgile, on jugera qu’il m’eût été impossible d’exposer tous les contrastes de la grande ville; contrastes rendus plus faillans par le rapprochement. Quand on a dit, c’est l’abrégé de l’univers, on n’a rien dit. (Mercier, Tableau I, v f.)
Selbst für einen Pariskenner und in der Stadtbeobachtung geschulten Berichterstatter wie Mercier bleibt es unmöglich, die totale Metropole darzustellen. Bemerkenswert ist allemal, dass er seine fragmentarische Methode zweifach begründet. Auf der einen Seite verweist er auf die schlichte Aussichtslosigkeit, ein einzelner Beobachter könne jemals alles das wahrnehmen und folglich darstellen, was ein „abrégé de l’univers“ wie Paris zu bieten habe. Dieser klassische Topos der Unbeschreibbarkeit, der in vielen deutschen Berichten ebenfalls auftritt20, ist auch bei Mercier der entscheidend limitierende. Die T hese, Mercier unterwerfe „sein Tableau dem programmatischen Anspruch, die Totalität des urbanen Lebenszusammenhangs abzubilden“21, ist daher zu relativieren. Vielmehr begründet er bereits in seiner Vorrede, dass „Mosaiksteine von Einzelbeobachtungen das Gesamtbild“22 konstituieren und seine Darstellung letztlich ein „vorläufiges Bild von Paris“23 bleiben müsse. Daneben führt er jedoch einen weiteren Aspekt
20 Zum Topos der Unbeschreibbarkeit in der deutschen Reiseliteratur vgl. Fischer, Reiseziel England, 288. 21 Köhn, Straßenrausch, 18. 22 Hauser, Der Blick auf die Stadt, 106. Vgl. zum Fragmentarischen bei Mercier u. a. Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 134. 23 Ethel Matala de Mazza, „Biopolitik in Bildern. Merciers Tableau de Paris“, in: Friedrich Balke/Harun Maye/Leander Scholz (Hg.), Ästhetische Regime um 1800 (Mediologie 21), München 2009, 65–78, 69.
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an, der im zweiten Schritt auf den literarischen Status des Tableau und implizit einer jeglichen textlich dargestellten Großstadtwahrnehmung verweist. Mercier hebt explizit hervor, er habe weitaus mehr Beobachtungen und Erfahrungen gemacht, als er schließlich in den über tausend Kapiteln zu Papier gebracht habe. Damit deutet er einen Gesichtspunkt an, der auch für die deutschen Darstellungen von London und Paris als maßgebend zu erachten ist. Die Schilderung der eigenen Wahrnehmung unterliegt bisweilen weitreichenden Auswahlmechanismen. Gerade die Selektion und damit verbunden die bewusste und inszenierte Anordnung der ausgewählten Beobachtungen ist entscheidend. Daher ist es verkürzt, Merciers Erzählweise einseitig als „Spontaneität der Beobachtung“24 zu charakterisieren. Vielmehr handelt es sich bei dieser Erzählmethode ebenfalls um ein stilisiertes Verfahren. Die literarische „Augenblickhaftigkeit der Erscheinung“25 bleibt ein narratives Konstrukt. Auch hierin lässt sich wieder eine deutliche Verbindung zu Texten wie London und Paris oder Arndts Reisen ablesen. So wie die Korrespondentinnen und Korrespondenten nur ausgewählte Berichte an die Weimarer Redaktion schicken und abdrucken lassen, betont beispielsweise Arndt, sein Text sei von einer bewussten Selektion und damit einhergehenden Stilisierung geprägt: Um nicht Gefahr zu laufen, mehr wissen zu wollen, oder wissen und schreiben zu müssen, als ich weiß, werde ich aus meinem reichen Vorrath, der leicht zu Folianten verdickt werden könnte, nur einige Stücke geben, die ich sowohl wegen der Anlage des Ergötzens, das sie in sich tragen, als auch wegen der Gewißheit, womit ich sie vor aller Welt anerkennen darf, mit leichtem Herzen in die Welt schicke. (Arndt, Reisen III, 120)
Wie der literarische Vorgänger Mercier unterstreicht Arndt, seine Pariser Erfahrungen würden weit über das hinausreichen, was er in seinem literarischen Werk schildern möchte und könne. Stattdessen betont der deutsche Beobachter, er habe aus seinem reichen Fundus dasjenige filtriert, das am ehesten dem eigenen poetischen Anspruch eigne, einer unterhaltsamen und durchaus leichten Lektüre. Sowohl Mercier als auch exemplarisch Arndt weisen damit auf einen bereits angedeuteten Gesichtspunkt hin. Berichte aus London und Paris, die auf den Beobachtungen einzelner Autorinnen und Autoren basieren, zeichnen sich in aller Regel durch eine explizite oder implizite literarische Stilisierung und Inszenierung aus. Die Differenz zwischen „Beobachten und Beschreiben“26, die gerade die Forschung zur Reise- und Großstadtliteratur im24 Karlheinz Stierle, „Die Entdeckung der Stadt. Paris und sein Diskurs“, in: Friedrich Knilli/Michael Nerlich (Hg.), Medium Metropole. Berlin, Paris, New York (Reihe Siegen 68), Heidelberg 1986, 81–93, 82. 25 Karlheinz Stierle, „Baudelaires ‚Tableaux Parisiens‘ und die Tradition des ‚Tableau de Paris‘“, in: Poetica 6 (1974), 285–322, 311. 26 T horsten Sadowsky, „Gehen Sta(d)t Fahren. Anmerkungen zur urbanen Praxis des Fußgängers in der Reiseliteratur um 1800“, in: Wolfgang Albrecht/Hans-Joachim Kertscher (Hg.), Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Auf-
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mer wieder betont hat, ist damit zentral. Dies ist wiederum grundlegend mit dem Gesichtspunkt der oftmals überforderten Wahrnehmung verbunden, die „unter diesen Bedingungen […] eine konstruierende Tätigkeit“ darstellt, „die sich rigorosen Selektionsbeschränkungen unterwerfen muss“.27 Im Mittelpunkt kann daher kaum die Frage stehen, ob sich die Metropolen wirklich so gestalten, wie beispielsweise Mercier oder Arndt sie beschreiben. Angemessener ist vielmehr die Untersuchung, auf welche Art und Weise London und Paris erzählt werden und mit welchen Absichten und Funktionen dies womöglich zusammenhängt. Im Anschluss an Andreas Mahler bleibt festzuhalten, dass in den hier untersuchten Quellen „Stadttexte im Grunde immer nur Textstädte modellieren“.28 Neben dem topischen Hinweis auf das fragmentarische Erzählen sowie der stetig wiederholten Unbeschreibbarkeit der Metropolen ergibt sich ein weiterer Konnex zwischen Mercier und den deutschen Großstadtberichten. Bereits für die Reiseliteratur hatte die Frage nach der subjektiven und vor allem autoptischen Wahrnehmung als entscheidendes Paradigma herausgeragt (Kap. 5). Zieht man überdies Mercier als weitere Referenz zu Rate, lässt sich argumentieren, dass der forcierte Rückgriff auf autoptische Wahrnehmungs- und Darstellungsformen eine doppelte literaturhistorische Begründung besitzt. So hält der französische Autor für die Metropole Paris fest, il faut le voir, le parcourir, examiner ce qu’il renferme, étudier l’esprit & la sottise de ses habitans, leur mollesse & leur invincible caquet; contempler enfin l’assemblage de toutes ces petites coutumes du jour ou de la veille […]. Supposez mille hommes faisant le même voyage: si chacun étoit observateur, chacun écriroit un livre different sur ce sujet, & il resteroit encore des choses varies & intéressantes à dire, pour celui qui viendroit après eux. (Mercier, Tableau I, vi f.)
Für Mercier gibt es keine zwei Möglichkeiten. Nur wer selbst durch Paris streift und sich mithilfe seiner eigenen Sinne den verschiedenen urbanen Gegenständen und Lebensformen widmet, könne zu einer angemessenen Wahrnehmung gelangen. Weiterhin sei Paris ein solch vielseitiges Gebilde, biete unendlich viele Eindrücke, dass selbst nach Schilderungen von „mille hommes“ noch etwas Neues zu finden sei – vorausgesetzt, man suche überhaupt danach. Mercier zielt mit seiner Argumentation in eine ähnliche Richtung wie die zeitgenössische Reiseliteratur. Den eigenen Eindruck, die Autopsie des untersuchten und beschriebenen Objekts, erhebt er zum absoluten Maßstab. Nur „die bewegliche klärung und Frühindustrialisierung (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 11), Tübingen 1999, 61–90, 84. 27 Hauser, Der Blick auf die Stadt, 18. 28 Andreas Mahler, „Stadttexte-Textstädte. Formen und Funktionen diskursiver Stadtkonstitution“, in: Andreas Mahler (Hg.), Stadt-Bilder. Allegorie, Mimesis, Imagination (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 170), Heidelberg 1999, 11–36, 12.
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Perspektive des Spaziergängers, der die Metropole durchläuft“29, die „immediate[] Wahrnehmung des die Stadt mit seinen Sinnen erfahrenden Beobachters“30 scheint ihm der herausfordernden Großstadt angemessen. Obwohl es sich dabei um eine narrativ inszenierte Methode handelt, ist sie als poetische Vorgabe dennoch zentral. Es scheint daher plausibel, den Drang der deutschen Berichterstatterinnen und Berichterstatter, vor allem die subjektiven Impressionen zur poetischen Leitlinie zu erheben, als doppelt begründet zu erachten. Er speist sich zum einen aus der zeitgenössischen Diskussion rund um die vermeintlich adäquaten Wahrnehmungsformen auf einer Reise (Kap. 5). Zum anderen aber scheint er sich bei den Reisezielen London und Paris durch das Vorbild Mercier zu ergeben, der mit seinem Tableau viele Berichte formal und konzeptionell präfiguriert. Unterschiede: Kommunikative Rahmungen, Erzählformen, Dynamisierung Bei all den aufgeführten Parallelen und engen Beziehungen, die zwischen Merciers Parisbeschreibung und den untersuchten deutschen Großstadttexten vorliegen, wäre es verkürzt, über die gravierenden Unterschiede hinweg zu sehen. Während deutlich erkennbar ist, inwiefern ein umfangreicher, vor allem formal und konzeptionell bestimmter Zusammenhang zwischen den beiden literarischen Bereichen besteht, ergibt sich für die konkrete inhaltliche und narrative Füllung ein bisweilen grundverschiedenes Bild. So wie einerseits Mercier als Vorbild deutscher Großstadtliteratur um 1800 gelten kann, nehmen Autoren wie Arndt, Kotzebue oder Rebmann andererseits eindeutige Transformationen vor. Drei Unterschiede ragen heraus: die divergierenden Rahmungen der Texte, die narrative Ausgestaltung der einzelnen Stichworte sowie schließlich das Verhältnis von literarischer Statik und Dynamik. Allein angesichts der konzeptionellen Rahmung und den Ausgangsbedingungen ergeben sich grundlegende Differenzen. An erster Stelle steht die ambivalente Spannung von Heimat und Fremde. Mercier selbst berichtet als Pariser über Paris, die deutschen Berichte stammen dagegen zumeist aus der Feder von Reisenden. In seiner Einleitung weist Mercier darauf hin, „[m]on contemporain, mon compatriote, voilà l’individu que je dois spécialement connoître, parce que je dois communiquer avec lui“ (Mercier, Tableau I, x) – das seien die Umstände, mit denen er als Einheimischer konfrontiert sei. Mercier greift in seiner Beschreibung auf ein halbes Jahrhundert Pariser Lebenserfahrung zurück und berichtet aus einer internen Perspektive über die Metropole. Die Texte deutscher Berichterstatterinnen und Berichterstatter basieren auf einer fremden, zumeist vorübergehend-reisenden Perspektive. Zwar finden sich 29 Wellmann, Der Spaziergang, 132. Vgl. zur Rolle des Spazierens bei Mercier Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 140. 30 Kimminich, „Chaos und Struktur“, 277.
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Beispiele, in denen die deutschen Beobachterinnen und Beobachter bereits länger in London oder Paris leben, so einige Korrespondentinnen und Korrespondenten in London und Paris. Im Vergleich mit dem literarischen Mitstreiter Mercier sind sie dennoch keine Einheimischen.31 Das geht einher mit einer genuin verschiedenen Großstadtwahrnehmung. Während Mercier sie als erfahrener „compatriote“ betrachtet und die Geschichte von Paris zu seinen Lebzeiten hautnah miterlebt hat, unterliegen die Deutschen der beschriebenen ‚doppelten Fremdheit‘. Gerade der Vergleich mit dem Tableau macht deren Relevanz besonders deutlich. Sie besuchen in aller Regel ein fremdes Land und im Gegensatz zum literarischen Vorbild setzen sie sich zudem mit einem Gegenstand auseinander, den sie in ihrem Leben meistens bisher nicht alltäglich erlebt haben.32 Eng verbunden mit diesen grundverschiedenen Perspektiven ist der ebenso heterogene Adressatenkreis. Mercier richtet sich an die Pariser Bevölkerung selbst, will mit seiner moralischen Schrift die eigenen Mitbürgerinnen und Mitbürger auf verschiedene Missstände in der Metropole aufmerksam machen. Wie er selbst vermerkt, leiste das Tableau dabei einen aufklärenden Beitrag: Beaucoup de ses habitans sont comme étrangers dans leur proper ville: ce livre leur apprendra peut-être quelque chose, ou du moins leur remettra sous un point de vue plus net & plus précis, des scenes qu’à force de les voir, ils n’appercevoient pour ainsi dire plus; car les objets que nous voyons tous les jours, ne sont pas ceux que nous connoissons le mieux. (Mercier, Tableau I, iv)
Das ist ein bemerkenswerter Befund: Obwohl Mercier die Pariser Bevölkerung adressiert, bezeichnet er sie als „étrangers“ in der eigenen Stadt.33 Diese Fremdheit entspringt aber, im Gegensatz zu den deutschen Beobachterinnen und Beobachtern, der dauerhaften Erfahrung. Wer täglich in Paris lebt, so Merciers Argument, könne nur allzu leicht vergessen, in welchen Umständen sie oder er sich eigentlich befinde. Der „Erfahrungsverlust der Großstadtbewohner gegenüber ihrer Lebenswelt“34 ist für das Tableau damit maßgebliche Grundlage. Mercier geht es darum, die eigene Pariser Bevölkerung an die alltäglichen Lebensumstände zu erinnern und einen neuen Blick auf das bereits Bekannte zu werfen. Dezidiert ruft er sein Publikum daher zur literarischen Mitwirkung auf: „Le lecteur rectifiera de lui – même ce que l’écrivain aura mal vu, ou ce qu’il aura mal peint; & la comparaison donnera peut-être au lecteur une envie secrete de revoir l’objet & de le comparer“ (Mercier, Tableau I, v). Merciers Tableau zielt darauf ab, 31 Vgl.
Wiedemann, „‚Supplement seines Daseins‘?“, 13. zu Reise und Fremdheit bes. Wolfgang Neuber, „Zur Gattungspoetik des Reiseberichts. Skizze einer historischen Grundlegung im Horizont von Rhetorik und Topik“, in: Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (Suhrkamp Taschenbuch 2097), Frankfurt am Main 1989, 50–67, 54 f. 33 Vgl. zum Motiv der urbanen Fremdheit bei Mercier Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 118. 34 Köhn, Straßenrausch, 18. 32 Vgl.
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den Pariserinnen und Parisern im wahrsten Sinne die Augen zu öffnen und ihnen die eigene Lebensumgebung bewusst(er) zu machen. Die durch das T ableau angestrebte „intersubjektive Übertragbarkeit von Großstadterfahrung“35 richtet sich an ein Publikum, das eigentlich mit ihr vertraut ist und lediglich die allgegenwärtige Präsenz scheinbar verdrängt hat. Erst im zweiten Schritt der (unter anderem deutschen) Rezeption entfaltet das Tableau auch die Funktion, weniger Kundige grundsätzlicher über die Lebensbedingungen an der Seine zu informieren. Anders verhält es sich bei den deutschen Berichterstatterinnen und Berichterstattern. Sie schreiben ihre Texte primär für ein Publikum, das in den allermeisten Fällen weder London noch Paris jemals selbst besucht hat. Sie adres sieren einen Leserinnen- und Leserkreis, der folglich bei der Lektüre die ‚doppelte Fremdheit‘ inhaltlich geliefert bekommt und gleichzeitig persönlich von ihr betroffen ist.36 Aus beiden Aspekten – den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der Autorinnen und Autoren sowie dem grundverschiedenen Publikum – resultiert schließlich eine dritte rahmende Differenz. Die jeweiligen kommunikativen Funktionen des Tableau sowie seiner deutschen Rezeptionen sind ein weiteres entscheidendes Kriterium. In seiner Vorrede lässt Mercier keinen Zweifel daran, mit welchen Hintergedanken er sein Tableau abfasst und veröffentlicht. Ihm geht es vor allem darum, unzählige soziale, hygienische und andere Missstände offen anzusprechen. Er will ein neues, idealiter reformerisches Bewusstsein für die eigene Metropole erzeugen: J’ai pesé sur plusieurs abus. L’on s’occupe aujourd’hui plus que jamais de leur réforme. Les dénoncer c’est préparer leur ruine. Quelques-uns même, tandis que je tenois la plume, sont tombé. […] Malgré nos vœux ardens pour que tout ce qui est encore barbare se métamorphose & s’épure, pour que le bien, fruit tardif des lumieres, succede au long déluge de tant d ’erreurs, cette ville tient encore à toutes les idées basses & rétrécies que les siecles d’ignorance ont amenées. Elle ne peut s’en dégager tout-à-coup, parce qu’elle est fondue, pour ainsi dire, avec ses scories. (Mercier, Tableau I, vii)
Hier verweist Mercier auf den entscheidenden Punkt, den die Forschung wiederholt betont hat. Jedes seiner mehr als tausend Kapitel ist einem ganz konkreten Zweck untergeordnet. Es geht dem französischen Schriftsteller darum, die Schattenseiten des urbanen Lebens an der Seine aufzuzeigen. Mit seiner Schilderung will er letztlich dafür sorgen, dass andere sie mit aller Kraft beseitigen. Merciers Tableau ist folglich vorrangig eine moralische Schrift.37 Er berichtet immer unBrennpunkt der Welt, 43. Reiseziel England, 51. Er betont: „Geschrieben wurden Reisebeschreibungen vorwiegend für Nichtreisende […], denn nur wenige waren in der Lage, die Kosten (und die Zeit) für ein solches Unternehmen selbst aufzubringen“. 37 Vgl. zur moralischen Dimension des Tableau vor allem Corbineau-Hoffmann, „An 35 Corbineau-Hoffmann, 36 Fischer,
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ter der klaren Prämisse, möglichst viele Nachteile zu offenbaren und eine „Kartographie der Moral“38 zu erstellen. Die „Anprangerung von gesellschaftlichen Mißständen“ und der „Aufruf zu Reformbemühungen“39 sind die wesentlichen Absichten des Tableau, die Mercier strukturell in den Mittelpunkt rückt. Hierin ist Mercier beispielsweise seinem Zeitgenossen Restif de la Bretonne verwandt, der in seinen Les Nuits de Paris ou le Spectateur nocturne als Polizeispitzel durch Paris geht und versucht, allerhand soziale Missstände aufzuklären.40 Damit ist ein weiterer zentraler Unterschied zu den deutschen Berichten offenkundig. Freilich gibt es im Diskursstrang eines ‚Schreckbilds Stadt‘ auch Autorinnen und Autoren, die sich wie Mercier ebenfalls damit befassen, die düsteren Seiten des urbanen Lebens zu skizzieren und die genauso moralisieren. In aller Regel aber folgen die Erzählungen anderen Zwecken. Wie viele Studien gezeigt haben, dienen die Berichte aus London und Paris vor allem unterhaltsamen und/oder belehrenden Absichten. Eine bedeutende Ausnahme ergibt sich zwar für die Revolutionsliteratur, die konsequenterweise die politische Meinungsbildung und/oder Agitation zum Ziel hat. Dennoch: Wenn Deutsche von T hemse oder Seine berichten, ist es zumeist ihr primäres Ziel, das intendierte Lesepublikum authentisch und idealerweise noch vergnüglich zu unterhalten oder zu unterrichten. Natürlich bedeutet das nicht, dass sie die negativen Aspekte der Urbanität ausblenden, wie die Skizze der ambivalenten Großstadterfahrung gezeigt hat (Kap. 1/2). Aber ihre Texte sind vielfach primär darauf ausgerichtet, die Neugier und die Sensationslust der zu Hause gebliebenen Leserinnen und Leser zu stillen. Die Deutschen sind oftmals in erster Linie „Zuschauer par excellence“41, die ihre Eindrücke in die Heimat vermitteln wollen. So notieren Bertuch und Böttiger in der Vorrede zu London und Paris, die Zeitschrift wolle „bloß vergnügen, scherzen, erzählen, was heute in Paris, gestern in London zu sehen war“ (London und Paris I, 1798, 7). Georg Friedrich Rebmann dagegen vermerkt, seine Zeichnungen werde das Publikum „immer nicht ganz ohne Vergnügen und Nutzen lesen“ (Rebmann, Zeichnungen, 396). Und August von Kotzebue gibt zu Protokoll, bei seinen Spaziergängen habe er sich „treflich amüsirt, und nebenher auch nicht selten ein Körnlein der Erfahrung in mein Gedächtnis niedergelegt“ (Kotzebue, Erinnerungen aus Paris, 70). Zwar den Grenzen der Sprache“, 142. Unter politischer Prämisse außerdem Villain, „Der Fußgänger von Paris“, 467. 38 Angelika Corbineau-Hoffmann, „Stadt-Plan � � Text-Plan? Über Kartografie, Écriture und ‚Mental Mapping‘ in der Parisliteratur 1781 bis 1969“, in: Achim Hölter/Volker Pantenburg/Susanne Stemmler (Hg.), Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst (Urbane Welten 1), Bielefeld 2009, 51–75, 71. 39 Keidel, Die Wiederkehr der Flaneure, 16. 40 Restif de la Bretonne, Les Nuits de Paris ou le Spectateur nocturne, 14 Bde., London 1788/89. 41 Helmut Peitsch, „Jakobinische Metaphorik? Deutsche Reisende als ‚Zuschauer‘ der Französischen Revolution“, in: Literatur für Leser 90,4 (1990), 185–201, 189.
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ließe sich im ein oder anderen Fall trefflich darüber streiten, in welchem Maße der explizite Verweis auf die unterhaltsamen Eigenschaften womöglich politische Stellungnahmen camouflieren soll – vor allem auf London und Paris trifft dies sicherlich zu (Kap. 8. 2). Aber auch der Blick in die Inhaltsverzeichnisse und die grobe thematische Struktur bestätigt den bereits getätigten Befund. Reisende wie Arndt oder Kotzebue oder die Korrespondentinnen und Korrespondenten in Bertuchs Journal berichten aus London und Paris auch maßgeblich über vergnügliche Gegenstände. Sie widmen sich den Unterhaltungseinrichtungen, besuchen en masse die Schauspiele und Spektakel und richten den Blick eher seltener auf jene negativ konnotierten Bereiche, die bei Mercier zentral sind. Bei allen ambivalenten Ansichten, welche die deutschen Beobachterinnen und Beobachter den Metropolen gegenüber anbringen, ist in diesen Quellen eine unterhaltsame und belehrende Zuspitzung – maßgeblich orientiert an Rezeptionsinteressen – unverkennbar.42 Es ist plausibel, auch den zweiten zentralen Unterschied zwischen Merciers Tableau und den deutschen Berichten, die narrative Gestaltung, unter anderem mit den verschiedenen Rahmungen zu erklären. So sehr die gliedernde Struktur beider Textformen einander gleicht – Mercier wie die Deutschen ihre Großstadtbeschreibung anhand einzelner, fast lexikonartiger Stichworte anordnen –, eröffnet der genauere Blick gravierende Differenzen. Schlaglichtartig lässt sich dies an der Auseinandersetzung mit den Pariser Boulevards erkennen, jenem Ort also, der das urbane Leben mitunter für die Beobachterinstanzen am stärksten manifestiert. In Kapitel 53 seines Tableau beschreibt Mercier die im späten 17. Jahrhundert geschliffenen Festungsanlagen: C’est une promenade vaste, magnifique, commode, qui ceint pour ainsi dire la ville: elle est de plus ouverte à tous les états, & insiniment peuplée de tout ce qui peut la render agréable & récréative: on s’y promene à pied, à cheval, en cabriolet; & l’on peut placer les boulevards à côté de tout ce qu’il ya a plus beau à Paris. […] Cette espece d’écharpe ou de ceinture est admirable; mais elle renferme des objets pauvres, désagréables & mesquins. (Mercier, Tableau I, 168 f.)
Über lediglich rund eine Textseite hinweg skizziert Mercier einen der wichtigsten Pariser Versammlungs- und gegen Ende des 18. Jahrhunderts zusehends wichtiger werdenden Lebensorte. Er verwendet eine knappe und stark summierende, fast schon stichwortartige Beschreibung. Sie liegt in Merciers Tableau auch für andere Darstellungen solcher Plätze, etwa das Palais Royal in den Kapiteln 162 und 487, vor.43 Er wählt damit eine Erzähltechnik, die geradezu als bestimmen42 Vgl. Friedrich W. Block, „Nützlich und vergnüglich – vergnüglich oder nützlich. Zur Adressierung des Reiseberichts im 18. Jahrhundert“, in: Anselm Maler (Hg.), Lektüre im Kleinstaat (Schriften des Instituts für Literaturgeschichte Schloß Arolsen 1), Habichtswald 1997, 36–58. 43 Vgl. Corbineau-Hoffmann, Brennpunkt der Welt, 49. Sie stellt dar, inwiefern „das
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des Merkmal seines Textes, auch über räumliche Beschreibungen hinaus, gelten kann. Die einzelnen Kapitel bei Mercier zeichnen sich, bis auf seltene Ausnahmen, durch ihre pointierte Kürze aus. Sie prägt eine „gedrängte Erzählweise“, die „versucht […], so der Vielfalt der Wahrnehmungen gerecht zu werden“.44 In wenigen Sätzen fasst der Erzähler jeweils das Konstitutive der Beobachtungsgegenstände zusammen, um sogleich mit dem nächsten fortzufahren. Wie Annette Graczyk in ihrer Studie Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft aufzeigen konnte, schließt Mercier damit formal an die mediale Geschichte des Tableau an. Ursprünglich wissenschaftlichen Tafelbildern (‚tableau‘) entsprungen, dient es maßgeblich dazu, „die Vielfalt der empirischen Erscheinungen aufnehmen, komprimieren, ordnen und damit überhaupt erst darstellbar machen zu können“.45 Zwar lassen sich bei Mercier, wie Graczyk ebenfalls betont, erste Anzeichen einer „offene[n] Form“46 erkennen. Doch weitgehend bleibt er an das herkömmliche Muster gebunden. Stellt man dieser Erzählweise die deutschen Texte – zumindest die in Abschnitt IV untersuchten – entgegen, besteht dort eine grundverschiedene Herangehensweise. Das verdeutlicht paradigmatisch die Darstellung der Boulevards. In London und Paris finden sich zu ihnen in späten Ausgaben (Bände XXVI und XXVIII, 1811/12) fast monumentale Ausführungen mit einer frappierenden Begründung: Wer das Leben und Weben in Paris binnen wenig Stunden oder Tagen kennen lernen, oder, gleichsam als vor einer Zauberlaterne […], das bewegliche Gemälde dieser Hauptstadt beständig vor seinem Blicke vorübergehen sehen will, der miethe sich irgendwo auf dem nördlichen Boulevard ein […]. (London und Paris XXVI, 1811, 98)
Über zwei lange Artikel hinweg beschreibt ein anonymer Korrespondent daran anschließend in einem literarisierten Spaziergang alle Gegenstände, die der Beobachter auf den Boulevards entdecken könne. Vergleichbar gestaltet sich die Situation bei Ernst Moritz Arndt. Seine Beschreibung der alten Stadtmauern bildet einen der längsten und detailliertesten Abschnitte im Pariser Reisebericht und dazu einen der literarisch ausgefeiltesten: Man kann die Boulevards als eine stehende Messe von Paris ansehen […]. Ich will indessen thun, was ich kann, um wenigstens eine schwache Darstellung von diesem bleibenden und doch wandelbaren Leben zu geben, wie es meinen Sommer und die Tage meines Hierseyns in seinem größten Glanze und an den weidlichsten und frohsten Tagen war. (Arndt, Reisen III, 124 f.) summierende und auf das Wesentliche konzentrierte Verfahren“ Merciers Tableau auszeichnet. 44 Ernst Wolfgang Becker, Zeit der Revolution! – Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolutionen 1789–1848/49 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 129), Göttingen 1999, 47. 45 Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 12. 46 Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 19.
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Daran schließen wiederum mehr als dreißig Seiten Bericht an, auf denen Arndt – auch er in Form eines literarischen Spaziergangs – einen prototypischen Tag auf den Boulevards beschreibt. Das dortige Leben dient ihm geradezu als Schlüssel zur urbanen Lebenskultur und ihrem Verständnis (Kap. 10. 3). Ohne die näheren Befunde der Textanalysen umfassend vorwegnehmen zu wollen, bestehen im Vergleich mit Mercier bedeutende Unterschiede, die sich nicht auf den thematisch-moralischen Unterschied einschränken lassen. Vielmehr, und dafür steht das Beispiel der Boulevards stellvertretend, verkörpern die deutschen Großstadtberichte oftmals eine narrative Weiterentwicklung des Mercier-Modells.47 Die einzelnen Kapitel überschreiten – Ausnahmen gibt es auch hier – summarische Aussagen, sie folgen narrativ ausgearbeiteten Wahrnehmungsmustern, die sich mit dem für die Arbeit zentralen T hema des urbanen Spaziergangs verbinden. Dass dies mit den differenten Rahmungen und Zielsetzungen der Texte äußerst eng interagiert, sei noch einmal explizit betont. Mercier geht es darum, pointiert auf urbane Missstände hinzuweisen – den deutschen Berichterstatterinnen und Berichterstattern zumeist darum, einem heimischen Publikum die urbanen Lebensformen aus London oder Paris näherzubringen. Aus den abweichenden narrativen Mitteln folgt schließlich eine dritte Differenz, die besonders den urbanen Spaziergang und damit Wahrnehmungsformen der Flanerie betrifft. Es handelt sich um das Spektrum narrativer Statik und Dynamik. Wie bereits angedeutet, zeichnen sich Merciers Darstellungen durch ihren summarischen und vornehmlich deskriptiven Charakter aus. Knappen und letztlich entpersonalisierten Beschreibungen gibt er den Vorzug vor der Darstellung eigener subjektiver und eventuell tagesaktueller Erfahrungen. Der Spaziergang tritt bei Mercier vor allem auf der Entstehungsseite auf. In seinem Vorwort vermerkt er, die Stadt zu „parcourir“ sei das adäquate Mittel, ihren Eigenschaften beobachtend am nächsten zu kommen. Führt man dies mit der – zumindest dergestalt inszenierten – Zufälligkeit und Kontingenz seiner Beobachtungsgegenstände zusammen, lässt sich Merciers Methode auf dieser produktionsästhetischen Ebene durchaus als Spielart der Flanerie begreifen. In der literarischen Umsetzung hingegen spielen solche Spaziergänge oder vergleichbare dynamische Wahrnehmungsformen selten eine Rolle. Stattdessen vermittelt das Tableau, obwohl Mercier den großstädtischen Wandel selbst ebenfalls betont, einen vergleichsweise statischen Eindruck von Paris. Es liest sich als eine Art Zusammenfassung der urbanen Lebensformen, vor allem aber ihrer Missstände. Bewegung und Dynamik benennt der französische Autor immer wieder, in der literarischen Erzählweise stellt er sie jedoch geradezu still. 47 Insofern lässt sich bei einer Untersuchung das Forschungsdesiderat zumindest teilweise beheben, die „verengende Festlegung des literarischen Tableaus auf die Parisdarstellung im Sinne Merciers“ zu beenden, „um es wieder in den Kontext der vielen Tableauformen in anderen Gebieten stellen zu können“ (Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 20).
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Dem stehen die deutschen Berichterstatterinnen und Berichterstatter diametral gegenüber – zumindest in jenen Textpassagen, die sich mit dem eingangs erläuterten Konzept der Flanerie erfassen lassen. Um es noch einmal am konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Wo bei Mercier die Boulevards zwar durch Bewegung und insbesondere den Spaziergang gekennzeichnet sind, geben sie dennoch ein statisches Bild ab. In London und Paris oder Arndts Reisebericht werden eben diese Attribute dagegen zu einem formalen wie inhaltlichen Prinzip, wie die einzelnen Textanalysen noch genauer aufzeigen. Das ist, insofern es darum gehen soll, verschiedene Formen der Flanerie zu identifizieren und zu analysieren, die entscheidende Transformation zwischen dem Tableau und dessen deutschen Adaptionen. Dass für diesen Umstand bereits zeitgenössisch ein Gespür herrscht und die deutschen Beobachterinnen und Beobachter sich allem Anschein nach ganz bewusst abgrenzen, zeigen die eigenen Begriffe der Quellen. Die Herausgeber von London und Paris kündigen ihrem Lesepublikum ein „Tableau mouvant“ (London und Paris I, 1798, 5) an. Arndt indes charakterisiert seine Schilderungen an einer Stelle als „spazierende[s] Gemählde“ (Arndt, Reisen IV, 82). Und auch Georg Friedrich Rebmann spricht davon, ein „fortlaufendes Gemälde“ (Rebmann, Briefe, 347) von Paris anbieten zu wollen. Allein diese drei Begriffsbildungen zeigen eines: Statt Merciers Tableau einfach nachzuahmen, modifizieren die deutschen Autorinnen und Autoren dessen Großstadtpoetik. Zumindest die in dieser Studie untersuchten Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie gegenüber dem französischen Vorbild markante Veränderungen vornehmen, die zuvorderst mit einer dynamisierten Erzählweise einhergehen. Sie stellen die Metropolen vermindert als ein statisches Gebilde dar, sondern betonen gerade die Bewegungen und Veränderungen in ihnen, die sich gleichzeitig in den dazugehörigen Wahrnehmungsmustern ablagern. Es wäre verkürzt, die begrifflichen Bezugnahmen als „geradezu inflationären Gebrauch von Gemäldemetaphern“48 zu charakterisieren. Es scheint indes plausibel, die Begriffsverwendungen in einen expliziten intertextuellen Zusammenhang zu stellen. Sie markieren die strukturelle Anbindung an das Vorbild Mercier, bezeichnen aber ebenso die narrative Abgrenzung von ihm.49 Für die explizite und implizite Rezeption des Tableau ist damit wie für die konzeptionellen reiseliterarischen Einflüsse festzuhalten, dass die deutsche Großstadtliteratur um 1800 nicht durch einseitig mimetische Züge strukturiert ist. Vielmehr haben sowohl der Blick auf den zeitgenössischen Status solcher Berichte samt ihrer historischen Vorläufer, auf den bedeutenden Einfluss der im 18. Jahrhundert prominenter werdenden Reiseliteratur und schließlich auf Mercier gezeigt, dass sich die deutsche Großstadtliteratur um 1800 in komplexe inReiseziel England, 336. Peitsch, „Jakobinische Metaphorik?“, 190. Er weist darauf hin, insbesondere die deutschen Reisebeschreibungen unterscheiden sich „durch den Grad, in dem sie das traditionelle Muster des Tableaus durchbrechen konnten“. 48 Fischer, 49 Vgl.
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III Historische und literarische Kontexte um 1800
tertextuelle Bezüge einschreibt. Wenn daher nachfolgend die Analyse der für die Studie zentralen Quellen unternommen wird, sind gerade diese literaturgeschichtlichen Bezüge eines der maßgebenden Kriterien. Die einzelnen Darstellungen bilden keine autonomen Monolithen, sondern zur Debatte muss jeweils das literaturgeschichtliche Feld stehen, innerhalb dessen sie sich positionieren.
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IV Berichte aus London und Paris: Beobachterfiguren zwischen Teilnahme und Beobachtung
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7. Georg Friedrich Rebmann: Der politische Reisende und die Pariser Alltagskultur 7. 1. Erzählschwierigkeiten: Das fragmentarische Prinzip Als Georg Friedrich Rebmann von Juni 1796 bis November 1797 nach Paris reist, bricht er unfreiwillig auf.1 „Durch Neckereien von hundert verschiedenen Leuten dazu bewogen, die mir den Aufenthalt in meinem Vaterlande verdrüßlich gemacht hatten“ (Rebmann, Briefe, 171), macht sich der politische Schriftsteller auf den Weg in jene Metropole, die mit ihren politischen und sozialen Verwerfungen das zeitgenössische Europa prägt, genauso wie das private und literarische Leben Rebmanns. Zunächst ist der Schriftsteller den revolutionären Vorgängen eng verbunden, später nimmt er wie viele deutsche Beobachterinnen und Beobachter eine weitaus kritischere Perspektive ein.2 Nachdem er unter dem Vorzeichen der Jakobinerdiktatur eine Rede Robespierres (1758–1794) gegen den Krieg übersetzt hat, beginnt für ihn eine Odyssee, die von Dresden über Dessau nach Altona, auf seine große Reise nach Holland und schließlich in die Hauptstadt der Revolution, nach Paris, führt. Betrachtet man Rebmanns literarisches und publizistisches Schaffen zu dieser Zeit, fällt ein politischer Primat auf. So vermerkt der Autor selbst in der „Vorerinnerung“ zu Holland und Frankreich, in Briefen geschrieben3, das vorderste Ziel sei ihm gewesen, „meine Bemerkungen über diese Länder in Deutschland bekanntzumachen und dabei die Fortschritte der menschlichen Moralität und Freiheit zu meinem hauptsächlichsten […] Augenmerk zu wählen“ (Rebmann, Briefe, 171). Rebmann als politischer Schriftsteller scheint auf den ersten Blick 1 Zu den Reisedaten Rebmanns siehe Rainer Kawa, Georg Friedrich Rebmann (1768– 1824). Studien zu Leben und Werk eines deutschen Jakobiners (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 290), Bonn 1980, 316. 2 So zum Beispiel Wolfgang Albrecht, „‚Ich glaubte ins Heiligtum der Freiheit zu t reten …‘. Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten über seinen Pariser Aufenthalt 1796–1797“, in: Francia 19,2 (1992), 229–236, 232; Kawa, Georg Friedrich Rebmann, 371. 3 Während der erste Teil der Briefe (Briefe 1–11) 1797 zur Herbstmesse mit den Verlagsorten Paris und Köln erschien, wurde der zweite Teil zur Frühlingsmesse 1798 geliefert. Folglich erschienen die Briefe später als die Zeichnungen, obwohl sie ihnen laut Vorreden im Schaffensprozess vorausgegangen waren (vgl. Rebmann, Zeichnungen, 396). Vgl. Werner Greiling, „Rebmanniana. Die Publizistik eines deutschen Jakobiners“, in: Werner Greiling (Hg.), Ideen über Revolutionen in Deutschland (Röderberg-Taschenbuch 168), Köln 1988, 5–32, 18.
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IV Berichte aus London und Paris
jener Aspekt zu sein, unter dem man seine Großstadtberichte aus Paris – neben die Briefe treten die Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris – subsumieren könnte. Dieser Eindruck verstärkt sich umso mehr, wenn man bedenkt, dass er in Paris tatkräftig der politischen Publizistik nachgeht und an verschiedenen Journalen wie der Schildwache (1796–1798) oder der Geißel (1797–1799) mitwirkt.4 Es überrascht daher nicht, dass die Literaturwissenschaft Rebmann vornehmlich als politischen Literaten wahrgenommen hat. Gerade die Debatte, wie man seine Person in die verschiedenen revolutionären Strömungen einordnen muss, hat die Diskussionen maßgeblich geprägt.5 Seine Reise nach Paris wurde zuvorderst unter der Prämisse untersucht, der Schriftsteller sei dorthin gefahren, um „sich seinen Möglichkeiten gemäß an der Weiterführung eines unvollendeten, langwierigen gesellschaftlichen Umbruchs- und Neugestaltungsprozess zu beteiligen“.6 Besieht man jedoch Rebmanns ausführliche Parisschilderungen eingehender, kristallisiert sich rasch heraus, dass dies ein zu kurz gegriffenes Urteil darstellt. Keineswegs „kreisen alle seine Berichte und Briefe um das eine T hema, um die Gefährdung der jungen französischen Republik durch die erstarkte Reaktion“.7 So hat Hedwig Voegt für die Briefe darauf hingewiesen, Rebmann „entwirft seinen Lesern ein lebendiges Bild jener Städte, Straßen und Plätze, die er auf seiner Reiseroute kennenlernt, und vervollständigt seine Eindrücke mit philosophischen und politischen Räsonnements“.8 Selbst wenn festzuhalten bleibt, dass Rebmanns Schriften stark durch die politischen und sozialen Ereignisse beeinflusst sind, ist dies nur eine Seite der Parisberichte. Gleichermaßen beobachtet Rebmann urbane Lebensformen, die für ihn nicht nur politisch relevant sind, 4 Das erste Bändchen der Zeichnungen erschien gar als drittes Heft der Geißel. Vgl. zu Rebmanns politischer Publizistik aus Paris einführend Kawa, Georg Friedrich Rebmann, 322–330. Überdies Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 230, der für Rebmanns Pariszeit die „engagierte und aktivierende Publizistik“ hervorhebt. 5 In erster Linie ist die Debatte zu nennen, inwieweit Rebmann als Jakobiner bezeichnet werden kann – wesentlich ausgelöst durch die Studien Kawa, Georg Friedrich Rebmann; Inge Stephan, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789–1806) (Sammlung Metzler. Realien zur Literatur 150), Stuttgart 1976. Hier entstand eine rege Diskussion über den politischen Status Rebmanns. Intensiv analysiert die Auseinandersetzung Harro Segeberg, „‚Was gehn uns im Grunde alle Resultate an, wenn wir Wahrheiten feststellen!‘ Überlegungen zum Stand der Jakobinismusforschung, veranlaßt durch zwei Neuerscheinungen über Andreas Georg Friedrich Rebmann (1768–1824)“, in: Wolfgang Frühwald/Georg Jäger/ Alberto Martino (Hg.), IASL. 1. Sonderheft. Forschungsreferate, Tübingen 1985, 160–182. 6 Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 230. 7 Maria Anna Sossenheimer, Georg Friedrich Rebmann und das Problem der Revolution. Revolutionserfahrungen, Revolutionsinterpretationen und Revolutionspläne eines deutschen Republikaners (Europäische Hochschulschriften. Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 368), Frankfurt am Main 1988, 199. 8 Hedwig Voegt, „Nachwort“, in: Georg Friedrich Rebmann, Holland und Frankreich in Briefen. Geschrieben auf einer Reise von der Niederelbe nach Paris im Jahr 1796 und dem fünften der französischen Republik, hg. v. Hedwig Voegt, Berlin 1981, 299–320, 310.
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sondern ebenso hinsichtlich alltagskultureller und lebensweltlicher Ausprägungen. Dass die beiden Pole als ineinander integriert und verschränkt zu verstehen sind, zeigen die weiteren Textanalysen paradigmatisch auf. Poetologische Selbstbeschreibung: Zwischen Briefen und Tableau Von Rebmanns Zeit in Paris, und damit von seiner politischen und urbanen Beobachtung, zeugen zwei Dokumente, die formal auf den ersten Blick gravierende Unterschiede aufweisen. Auf der einen Seite stehen die bereits angeführten Reisebriefe, die Rebmann selbst als „nicht mehr als eine sehr unzusammenhängende Reihe von allgemeinen Beobachtungen“ (Rebmann, Briefe, 171) charakterisiert.9 Sie enthalten, im Anschluss an die eigentlichen Briefe, überdies umfangreiche „tägliche Bemerkungen, welche ich am Abend des Niederschreibens nicht ganz unwürdig gefunden habe“ (Rebmann, Briefe, 172). Diese Fragmente sollen Rebmann zufolge „zur angenehmen Unterhaltung, zum Nachdenken und zur richtigen Beurteilung der gegenwärtigen Stimmung eines großen ungeschaffenen Volkes“ (Rebmann, Briefe, 172) dienen. Zusammen mit der eingangs zitierten politischen Bemerkung wird deutlich, dass Rebmann selbst eine zweifache thematische Stoßrichtung intendiert. Während er einerseits den politisch-moralischen Fort- oder Rückschritt betrachtet, kommen Beobachtungen hinzu, die sich verstärkt dem Pariser Alltagsleben widmen. Noch markanter tritt dies womöglich im zweiten Text zutage, in dem Rebmann seinen Parisaufenthalt beschreibt: den Zeichnungen zu einem Gemälde des jetzigen Zustandes von Paris. Bereits im Vorwort markiert er, dass er mit ihnen seine Briefe fortführen und ergänzen möchte: Dieses Büchlein soll enthalten, was für mein Tagebuch zu groß, zu weitläuftig oder was ich darin vergessen habe oder was ich einer längern Betrachtung wert finde. Ich liefre Zeichnungen, Ansichten, oder wie man es sonst nennen will, von Menschen, von ihren Taten, mitunter auch von den Werken ihrer Kraft und Kunst. Ich versetze den Leser mit mir auf den Schauplatz einzelner Szenen, aus denen Volkscharakter, Fortschritte der Wissenschaften und Künste abzunehmen sind. […] Ich sahe täglich nach, um wieviel und wodurch die Menschheit weiter- oder zurückgekommen ist. (Rebmann, Zeichnungen, 396)
In der poetologischen Beschreibung versinnbildlicht sich noch einmal das bereits für die Briefe Konstatierte. Für Rebmann sind politische und urban-alltagskulturelle Gegenstände grundlegend ineinander verschränkte Kategorien. Im Mittelpunkt stehen bei ihm die Beobachterinstanz selbst sowie die als thea tral markierten Szenen des täglichen urbanen Schauspiels. Die bisherige Rebmann-Forschung hat das zwar grundlegend erkannt, jedoch nicht weitergehend 9 Auf die große Bedeutung von Briefen im Kontext der Revolutionsliteratur weist u. a. Stephan, Literarischer Jakobinismus in Deutschland, 180, hin.
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untersucht. Nur in sehr allgemeiner Manier verweist beispielsweise Helmut Peitsch darauf, Rebmann erhebe „die öffentliche Meinung und das Volk zur zentralen Figur“.10 Wolfgang Albrecht hat daneben auf die „mannigfaltigen gesellschaftspolitischen sowie kulturellen Berichte und Reflexionen“11 aufmerksam gemacht. Darüber hinaus hat T homas Grosser konstatiert, gerade die Zeichnungen seien „noch mehr dem gesellschaftlichen Leben der Metropole, ihren T heatern, Bällen, Konzerten und öffentlichen Vergnügungen“12 gewidmet. Einen polemischen Blick auf die T hematik wirft zudem Rainer Kawa, der festhält, „im Resultat finden sich oft nicht nur klare politische Aussagen, sondern auch seitenfüllende Sammelsurien von Belanglosigkeiten“.13 So sehr Rebmanns politisches Wirken die Forschung, gerade hinsichtlich seiner Revolutionswahrnehmung, interessiert hat, so wenig hat sie die Aufmerksamkeit bisher – sowohl inhaltlich als auch narratologisch – den Schilderungen des Pariser Alltagslebens geschenkt. Bisweilen zweifeln einzelne Interpreten sogar deren literarischen Charakter an, wenn etwa Wolfgang Albrecht behauptet, „wie stets stellte er [Rebmann] Kriterien der Operativität, Aktualität, Information und Agitation über ästhetische Aspekte“.14 Eine erhebliche Forschungslücke besteht demnach in der Frage, wie Rebmann es literarisch umsetzt, wenn er „nicht eine Stadt, sondern eine Welt, in ewigem Umtriebe“ (Rebmann, Zeichnungen, 390) präsentieren will. Zur Beantwortung dieser Fragestellung gehört, den allgemeinen Charakter seiner beiden Parisschriften zu beleuchten. Trotz der inhaltlich-konzeptionellen Gemeinsamkeiten ist eine gattungsspezifische Differenzierung vonnöten. Mit Rebmanns Briefen liegt eine Textserie vor, die tendenziell diaristisch geprägt ist – ein Umstand, den das ‚Tagebuch‘ im zweiten Teil noch potenziert. Zwar ist zu bedenken, dass die Briefe von Anfang an – trotz ihrer vermeintlich privaten Adressierung an den Altonaer Demokratenfreund Johann Friedrich Albrecht (1752–1814) – auf eine Veröffentlichung ausgerichtet sind15 und somit (nachträgliche) redaktionelle Eingriffe sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene beachtenswert sind.16 Dennoch unterliegen sie weitestgehend tagesaktuellen 10 Helmut Peitsch, „Das Schauspiel der Revolution. Deutsche Jakobiner in Paris“, in: eter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen P Literatur (Suhrkamp Taschenbuch 2097), Frankfurt am Main 1989, 306–332, 317. Er bemerkt des Weiteren, in Paris sei für die Revolutionsreisenden „Alltag als Geschichte“ (306) präsent. 11 Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 230. 12 Grosser, Reiseziel Frankreich, 262. 13 Kawa, Georg Friedrich Rebmann, 322 f. 14 Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 230. 15 Voegt, „Nachwort“, 309. Voegt weist zudem darauf hin, dass „auf diese Weise […] Rebmanns Gedanken und Eindrücke ein großes Lesepublikum“ erreichen und „durch die Macht des Wortes eine ideelle Verbundenheit Gleichgesinnter“ geschaffen hätten. Ebenso Kawa, Georg Friedrich Rebmann, 317, der darauf periphere private Eindrücke und nähere Informationen über Rebmanns Bekanntenkreis zurückführt. 16 Vgl. zur zeitgenössisch üblichen redaktionellen Nachbearbeitung Griep, „Reise
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Grundsätzen, was sie strukturell von den eher überblicksartigen Zeichnungen unterscheidet. Indem Rebmann seine Reise Station für Station und Tag für Tag literarisiert, sind die jeweiligen jüngst beobachteten Geschehnisse und Erfahrungen leitend. Daher lassen sie sich durchaus, wie Helga Brandes betont hat, als mit Korrespondentenberichten verwandt erachten, insoweit sie öffentliche und periodische Berichterstattung miteinander verbinden.17 Gerade die Briefe sind außerdem als „Medium der kontinuierlichen Standortbildung und Eigenverständigung“18 sowie „subjektiver Impressionen, erster Eindrücke, spontaner Bekenntnisse“19 gestaltet, in dem der Reisende seine rezenten Eindrücke wiedergibt. Freilich ist festzuhalten, dass das diaristische Prinzip in Paris stellenweise hinter eine tableauartige Struktur zurücktritt, wie sie in den Zeichnungen noch stärker dominiert. Demgegenüber steht der zweite Text, der sich mit seinem Titel in eine andere literarische Tradition der Reise-, und vor allem Stadtbeschreibung einordnet. An Rebmanns eigenem Verweis auf das Tableau Merciers – samt kritischem Unterton, jener habe es mehr verfasst, „um sich hören zu lassen, als um dem Leser Paris zu zeigen“ (Rebmann, Zeichnungen, 396) –, lässt sich dies erkennen. So kündigt der Parisreisende an, er „gebe einzelne Risse und glaube, daß man sie immer nicht ganz ohne Vergnügen und Nutzen lesen wird“ (Rebmann, Zeichnungen, 396). Auch der Verweis auf Friedrich Schulz’ (1762–1798) Ueber Paris und die Pariser (1791) hebt mittelbar auf das Vorbild Mercier ab, insofern der zitierte deutsche Schriftsteller das Tableau maßgeblich adaptiert.20 Rebmann stilisiert sich als Berichterstatter, der zwar formal an das französische Vorbild anschließt, zugleich aber bereits andeutet, dass er gegenüber Mercier einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt setzen wolle. Obwohl Rebmann die Verbindung eigens in seiner Vorrede betont, hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung sie allenfalls randständig beachtet.21 literatur im späten 18. Jahrhundert“, 754. Zur Bedeutung literarischer Stilisierung von Briefen allgemein siehe Wolfgang G. Müller, „Der Brief“, in: Klaus Weissenberger (Hg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 34), Tübingen 1985, 67–87, 68. 17 Vgl. Helga Brandes, „‚Ein Volk muss seine Freiheit selbst erobern…‘. Rebmann, die jakobinische Publizistik und die Französische Revolution“, in: Francia 18,2 (1991), 219–230, 227. 18 Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 231. 19 Erler, „Nachwort“, 402. Gleichwohl wäre zu bemerken, dass die Literarisierung in Briefen konventionalisierten Mechanismen unterliegt, vgl. Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen, 144. 20 Vgl. zu Schulz Peter Brüne, „Friedrich Schulz (1762–1798). Ein Schriftsteller aus dem Umkreis Friedrich Justin Bertuchs“, in: Gerhard R. Kaiser/Siegfried Seifert (Hg.), Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, Tübingen 2000, 481–488. 21 Auf die Beziehung Rebmann-Mercier weist Peitsch, „Das Schauspiel der Revolution“, 319, hin, geht allerdings nicht näher auf sie ein.
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IV Berichte aus London und Paris
In der weiteren Analyse ist noch genauer auf den Zusammenhang von Merciers Tableau und Rebmanns Zeichnungen einzugehen, grundlegend ist jedoch festzuhalten: Indem sie begrifflich an eine überblicksartige Wissensform anschließen, grenzen sich die Zeichnungen vordergründig von den diaristischen Briefen ab. Gleichzeitig modifiziert Rebmann sehr wohl seine Berichterstattung gegenüber dem französischen Vorbild. Dominieren dort, wie die Analyse einiger Passagen gezeigt hat (Kap. 6), vornehmlich statische und summative Darstellungen, fließen beim deutschen Reisenden verstärkt dynamische Muster ein. Sowohl die Berichterstattung über unikale und tagespolitische Ereignisse als auch die Darstellung verschiedener Spaziergänge zeugen zeitlich und räumlich hiervon. Ebenso bedeutend ist eine weitere Verschärfung. Während Mercier bereits den fragmentarischen Beobachtungscharakter andeutet, verabsolutiert Rebmann ihn. Er gibt kein mehr als tausend Kapitel umfassendes urbanes Gesamtbild, sondern „einzelne Risse“ und schließt damit eher an das an, was er selbst für die Briefe formuliert. Folglich gehen die von Rebmann gewählten Gattungen eine symbiotische Beziehung ein, die gleichwohl literarische Unterschiede zulässt. Die Berichterstattung ist als ein Kontinuum zu erachten, das zwischen statischen und dynamischen Mustern schwankt, die der Reisende immer wieder neu auslotet. Erkennbar macht Rebmann dies selbst in seiner Vorrede zu den Zeichnungen. Wenn er betont, die ausgewählten Gegenstände beruhten maßgeblich darauf, eine zum ‚Tagebuch‘ komplementäre Präsentation zu bieten, markiert er Verwandtschaft und Alterität der zwei Berichte deutlich. Wo auf der einen Seite vergleichsweise rezente Eindrücke dominieren (Briefe und Tagebuch), erweisen sich die Zeichnungen vielmehr als ein Resümee des über ein Jahr dauernden Parisaufenthalts. Gleichzeitig schließt diese größere Überblickshaftigkeit nicht grundlegend aus, dass kleinteilige räumliche und zeitliche Entwicklungen ihren Platz finden. Bedenkenswert ist darüber hinaus der Adressatenbezug, gerade hinsichtlich der verschiedenen Gattungen. Wo in den Briefen mit dem Altonaer Demokratenfreund Albrecht ein persönlich Angesprochener vorliegt, tritt der Aspekt in den Zeichnungen zurück. Ausnahmen finden sich lediglich dort, wo eine Passage augenscheinlich anfänglich als Brief gedacht war. Schließlich ist darauf zu verweisen, dass die angesprochene Heterogenität nicht allein zwischen den beiden Texten prägend ist, sondern gleichermaßen in den Zeugnissen. Wie die weiteren Analysen zeigen, sind in ihnen durchaus verschiedene Darstellungsmuster integriert, die nur schwerlich vereinheitlichende Aussagen zulassen. Muße und Beobachtung: Ein fragmentarischer Ansatz Eine Gemeinsamkeit beider Texte, die gleichsam als strukturelles Muster seiner Berichterstattung gelten kann, erläutert Rebmann in der „Vorerinnerung“ zu seinen Briefen:
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Die vielen Geschäfte anderer Art, welche sich bei mir anhäuften und mir dornichte, mühsame und unfruchtbare Negoziationen zur Pflicht machten, denen ich mich mit Aufopferung meiner Gesundheit und meiner Vorteile unterzog, hemmten meine schriftstellerischen Arbeiten beinahe ganz und gar. Kaum blieb mir Zeit übrig, um dann und wann ein paar Briefe nach Deutschland zu schreiben, die fast immer das Gepräge meiner jedesmaligen hypochondrischen oder vergnügtern Laune tragen und die ich kaum noch mal zu überlesen Zeit hatte. (Rebmann, Briefe, 171)
Rebmann betont erneut den fragmentarischen Charakter seiner Briefe, knüpft ihn aber gleichzeitig an persönliche Lebensumstände, die ihm eine freie literarische Beschäftigung verunmöglichen würden. Rebmann konturiert seine briefliche Berichterstattung als „Medium emotionaler Kommunikation“22, das mit einer „Formulierungsanstrengung, für die Zeit, Muße und Kraft erforderlich sind“23, einhergeht. Deutlich manifestiert sich zudem der pragmatische Charakter der Briefe, die zwecks Abfassung einen von anderen Verpflichtungen freien Zeitraum benötigen.24 Rebmann entschuldigt seine unvollständigen Briefe in diesem Moment auf produktionsästhetischer Ebene. So zieht er schließlich sein Fazit: „Mein Feld, das ich mir gewählt habe, ist so groß und reichhaltig, daß noch manche Blume gepflückt werden kann, ehe es vollkommen geleert ist“ (Rebmann, Briefe, 172). Dies ist letztlich zweideutig zu verstehen. So wie Paris als zu beschreibender Gegenstand ein überbordendes Material anbietet, kann Rebmann seine eigenen und individuellen Beobachtungen nur partiell ausformulieren. Sowohl die Pragmatik der gewählten literarischen Form, mangelnde Muße zur Abfassung der Texte als auch die stofflichen Bedingungen verweisen somit in den Briefen auf eine selektive und bruchstückhafte Wahrnehmung. Von Anfang an verdeutlicht Rebmann, dass eine Darstellung der französischen Hauptstadt in toto unmöglich sei. Während seine Zeichnungen genauso fragmentarisch strukturiert sind, begründet Rebmann dies dort stärker auf der Gegenstandsebene: Die bürgerliche Mediengesellschaft, 87. „Der Brief“, 75. Ähnlich Robert Vellusig, Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert (Literatur und Leben 54), Köln/Weimar/Wien 2000, 22, der „Mitteilung von Informationen und eine Form des persönlichen Umgangs“ als konstitutiv für Briefliteratur erachtet. 24 Vgl. Wolfgang Kofler, „Prekäre Muße. Die Inszenierung der Langeweile in Ovids Exildichtung. Mit einem Ausblick auf Stefan Zweig“, in: Franziska C. Eickhoff (Hg.), Muße und Rekursivität in der antiken Briefliteratur. Mit einem Ausblick in andere Gattungen (Otium 1), Tübingen 2016, 177–192, 182. Bei Kofler bezieht sich der Konnex in erster Linie auf die von ihm betrachtete antike Briefliteratur Ovids. Zugleich kann der Zusammenhang von Briefschreiben und benötigter Muße darüber hinaus als allgemeines Paradigma gelten. Zur Verbindung von Muße und literarischer Kreativität um 1800 vgl. überdies Dieter Martin, „Muße, Autonomie und Kreativität in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts“, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (Linguae & litterae 35), Berlin/Boston 2014, 167–179. 22 Faulstich, 23 Müller,
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Ich stehe in der Nähe eines ungeheuren T heatervorhanges, sehe nichts als unförmliche Massen von Weiß und Schwarz, Grün und Rot, Gelb und Blau, als wenn der Maler Farbentöpfe in bunter Unordnung hingeworfen hätte. Eben in dem Augenblick, da ich dies Gekleckse für ein künstliches Gemälde zu halten die Torheit hatte, entferne ich mich auf zwanzig Schritte, schaue wieder hin, und – o Wunder aller Wunder! – Form geht aus Unform, Regel aus Unordnung, Zweck der Allmacht aus Zufall hervor […]. (Rebmann, Zeichnungen, 391)
Anknüpfend an das Konzept ut pictura poesis und eine ‚Stadt als Bühne‘ andeutend, beschreibt Rebmann die grundlegende Schwierigkeit, die sich für Paris ergibt. Es ist scheinbar nie gänzlich erfassbar. Glaubt man, einen Überblick gewonnen zu haben und wirft einen erneuten Blick auf das Gemälde, so erkennt man die eigene Sinnestäuschung. Rebmann parallelisiert über das doppeldeutige tertium comparationis des Gemäldes das referentielle Phänomen und dessen literarische Umsetzung. So wie Paris als Kunstwerk für den Beobachter letztlich nie angemessen zu erfassen ist, muss eine ganzheitliche Stadtbeschreibung zwangsläufig scheitern. Das Fragmentarische gerät, stärker noch als in Merciers Tableau, zum forcierten erzählerischen Grundmuster. Damit ist markiert, auf welcher Ebene bei aller gattungstypologischen Gemeinsamkeit die Differenzen zwischen dem Tableau Merciers und Rebmanns Texten zu sehen sind. Erweist sich für Merciers Projekt (Kap. 6) das fragmentarische und unabgeschlossene Prinzip zwar ebenfalls als tragend, steigert Rebmann diesen Anspruch vom ersten Moment an noch einmal. Die Wahrnehmungsformen des reisenden Großstadtbesuchers sind einzig noch als kontingente und bruchstückhafte Beobachtungen greifbar. Daraus ergibt sich gleichzeitig, dass Rebmanns Schilderungen des Pariser Alltagslebens stets unter dieser Prämisse zu verstehen sind. So teilt er dem Lesepublikum mit, „ich überlasse ihm, das Ganze nach seiner Willkür zu ordnen und zu reihen“ (Rebmann, Zeichnungen, 396).25 Die einzelnen beobachteten Gegenstände und Ereignisse gewinnen dadurch genuin austauschbare und zufällige Eigenschaften. Das Fragmentarische ist in Rebmanns Texten mit einem weiteren Aspekt verbunden, der für das Verständnis seiner Parisbeschreibung unabdingbar scheint: der Differenz zwischen Erwartung und Erfahrung.26 So vermerkt er vier Wochen nach seiner Ankunft am 30. Fruktidor IV [16. September 1796] im ersten Brief aus Paris:
25 Auf die inszenierte Kommunikation Rebmanns mit dem Lesepublikum verweist Evelyn Radczun, „Poesie und Prosa in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Zur politischen Publizistik am Beispiel der Reisebeschreibung“, in: Weimarer Beiträge 25,12 (1979), 21–35, 24. 26 Vgl. zu dieser für die zeitgenössische Reiseliteratur bedeutenden Differenz sowie das Bewusstsein für sie Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen, 200 f.
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Ich bin bereits vier Wochen hier, teuerster Freund! und noch kann ich Ihnen von der neuen Welt, in der ich lebe, nichts sagen. Die ungeheure Menge von neuen Eindrücken, die ich mit jeder Minute empfange, jagt und drängt sich so schnell und so sehr, daß ich einen über den andern vergesse und am Abend müde und überwältigt in mein Zimmer zurückkehre. Noch habe ich nicht einmal dazu kommen können, meine Briefe abzugeben und meine ersten und notwendigsten Geschäfte zu besorgen. (Rebmann, Briefe, 269)
Was Rebmann nach seinem ersten Pariser Monat beschreibt, ist eine Wahrnehmungsstruktur, die er zum funktionalen Beschreibungsprinzip in den Zeichnungen erhebt. Paris ist, dieses Wort greift er im späteren Werk einleitend explizit auf, eine „Welt“, die eine enorme Verdichtung und Betriebsamkeit kennzeichnet. Für denjenigen, der diesen Orbit beschreiben möchte, liegt die Herausforderung darin, die eigenen Sinneseindrücke zu ordnen. Dies setzt voraus, er kann sich angesichts der enormen Schlagzahl überhaupt an das Einzelne erinnern. Besonders verweist Rebmann einerseits auf die Korrelation von verdichteter und beschleunigter Erfahrung, die sich mit der „ungeheuren Menge“ zu einem quantitativen Verarbeitungsproblem auswächst. Zugleich markiert der Verweis auf die „neuen Eindrücke“, dass ergänzend eine qualitative Komponente hinzukommt. Die pure gesehene und erlebte Menge und deren Unbekanntheit für den fremden Beobachter erschweren das Erzählen. Auffällig ist, dass Rebmann hier – wie in der „Vorerinnerung“ zu seinen Briefen – darauf verweist, die vielen Eindrücke zu verarbeiten und die damit einhergehende Müdigkeit hätten es ihm versagt, wie anvisiert Briefe in die Heimat zu senden und seine Pariser Erfahrung dergestalt zu literarisieren. Rebmann deutet letztlich an, warum einzig ein fragmentarisches Erzählen für ihn eine narrative Option darstellt. In einer „Welt“, die den Beobachter erschlägt, scheint es ihm unmöglich, Ganzheitlichkeit zu garantieren. Schließlich beschreibt Rebmann, inwiefern die eigene Lebensführung betroffen ist. Angesichts der andauernden Reizüberflutung und damit einhergehender abendlicher Müdigkeit und Erschöpfung entsteht kaum der Raum, das Erfahrene literarisch zu manifestieren. Diese Argumentation hatte er bereits mehrfach in seinen Darstellungen formuliert. Erwartung und Erfahrung: Politik und Alltag Was in den Briefen noch einleitend zu einer Reihe von inhaltlich ganz verschiedenen Dokumenten führt, wird in den Zeichnungen zum Fazit des ganzen Parisaufenthalts. So erinnert Rebmann seine Reise und Ankunft im Herzen Frankreichs: Wenn ich mir, ehe ich selbst […] nach Paris kam, diese Stadt mit alle ihrem Leben und Weben vorgestellt habe, so dachte ich mir darunter nicht viel mehr als eine etwa respektive vier-, fünf- oder neunmal größere und acht-, zehn- oder zwölfmal vollere Stadt als Hamburg, Dresden, Berlin etc. mit einigen Meisterwerken der Pracht und Verschwendung Ludwigs XIV.; mit einem Senat, an dessen Beschlüssen Wohl und Wehe nicht nur
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IV Berichte aus London und Paris
eines großen Landes, sondern auch der ganzen Menschheit insoferne hängt, als sich in seinem Schoße alle menschliche und – teuflische Künste konzentrieren müssen, jene, um der Menschheit Fortschreiten, diese, um ihren Stillstand oder Rückgang zu bewürken. (Rebmann, Zeichnungen, 389)
Ganz anders die Erfahrung, die Rebmann der skizzierten Erwartung gegen überstellt: Aber ich erblickte in der Würklichkeit mehrere, mindere, bessere oder schlimmere Dinge, als ich erwartet hatte. Eine Menschenmasse von 900 000 Menschen ist etwas ganz anderes als eine Menschenmasse von 225 000 Menschen viermal aneinandergereiht. Ein Volk ist etwas ganz anderes als das ens rationis, welches man unter diesem Namen in Manifesten, meinetwegen eines Friedrich Wilhelms oder eines Robespierre, bezeichnet, eine Revolution ist etwas ganz anderes als jene politische Chrie, auf einem Zimmer entworfen […]. Die Menschen sind etwas ganz anderes, als sie in ihren Büchern und Reden erscheinen, die Gesichtspunkte, in welche man sie in der Revolution erblickt hat, sind nur optische Täuschungen. (Rebmann, Zeichnungen, 390)
Dass sich Rebmanns Erwartungen an und Erfahrungen aus Paris als Enttäuschung über die revolutionären Auswirkungen auszeichnen, ist von der Forschung mehrfach beschrieben worden. Insbesondere Wolfgang Albrecht, Rainer Kawa und Maria Anna Sossenheimer haben in ihren umfangreichen Rebmann- Studien diesen Konnex auf politisch-revolutionärer Ebene nachgewiesen.27 Gerade angesichts eines wiedererstarkenden Royalismus „wurde der durch Ideale und Utopien enthusiasmierte Revolutionsfreund Rebmann im direktorialen Paris des Jahres 1796 reichlich erschüttert und enttäuscht“.28 Fährt er noch mit „einer aufklärerischen kosmopolitischen Einstellung, […] gespeist aus dem Gedanken einer menschheitlichen und welthistorischen Mission der Französischen Revolution“29, nach Paris, erodieren seine Hoffnungen alsbald. Auffällig ist jedoch, dass sich die politischen Prospektionen und Resultate genuin damit verbinden, urbane Lebensformen zu erfassen, die über das rein Politische hinausragen. So entsteht wiederholt der Eindruck, dass politische und alltagskulturelle Phänomene eine enge Symbiose eingehen. Wenn Rebmann nachträglich seine Erwartungen an die große Stadt formuliert, verbindet er zwei Aspekte. Einerseits geht es ihm zwar darum, die Revolutionsergebnisse zu analysieren, dane-
27 Vgl. Wolfgang Albrecht, „Vom reformerischen zum revolutionär-demokratischen und liberalen Aufklärertum. Entwicklungen politisierter literarischer Spätaufklärung am Beispiel Georg Friedrich Rebmanns“, in: Werner Schubert/Reiner Schlichting (Hg.), Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, Berlin/Weimar 1990, 147–200; Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“; Kawa, Georg Friedrich Rebmann; Sossenheimer, Georg Friedrich Rebmann und das Problem der Revolution. 28 Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 232. 29 Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 231.
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ben interessieren ihn aber genauso die urbanen Ausprägungen einer führenden Metropole. Dass er an dieser Stelle die damals größten deutschen Städte als gedankliches Vergleichsmuster aufruft, verdeutlicht die alteritäre Wahrnehmung, der das strukturelle Defizit der deutschen Urbanität um 1800 gegenübersteht (Kap. 4). Paris, lautet schließlich Rebmanns Fazit, lässt sich im Vergleich zu deutschen Städten nicht über ein quantitativ-lineares Prinzip beschreiben, sondern eine solche Metropole zeitigt einen qualitativen Sprung, der Wahrnehmung und Erzählung gleichermaßen herausfordert. Rebmann vermerkt darüber hinaus, dass Materialität und soziale Belebung hierbei äquivalent sind: Paris ist aber nicht bloß das Zentrum dieser sich entwickelnden Schöpfung; es ist auch der Mittelpunkt nicht nur, sondern der Sammelplatz aller Künste und Wissenschaften, aller Originale, aller Glücksritter, aller Wüstlinge etc. Was die Menschheit Großes und Kleines, Erhabnes und Niedriges hervorgebracht hat, ist hier anzutreffen, jedes Bedürfnis findet oder kann Befriedigung finden. (Rebmann, Zeichnungen, 391)
Dass er Paris gleichsam als Mittelpunkt der Welt zeichnet, in dessen Organismus sich sämtliche menschlichen Phänomene anordnen, deutet noch einmal an, inwiefern für Rebmann der Konnex von urbanen Lebensformen und politischen Auswirkungen unabdingbar ist. Folglich hält er für seine weiteren Beobachtungen fest, wolle man eine gesellschaftliche Ordnung finden, die der menschlichen Existenz angemessen und würdig sei, müsse man sich vorrangig eingehend den urbanen Lebensformen widmen: Um aber zu finden, wie alles sein solle, müssen wir kennenlernen, wie alles ist. Um dieses zu erfahren, müssen wir hören, wie es einzelne ansehn, nach ihrer Fassungsgabe, nach ihrem Beobachtungsgeist, nach ihren Vorurteilen, wenn man will. Nichts ist der Menschheit unnötig in und an einem Punkt, wo 900 000 denkende Wesen würken, in Masse, um alles besser zu machen, im einzelnen, um ihre Existenz und ihre Bedürfnisse zu erhalten. (Rebmann, Zeichnungen, 395)
Zum einen reflektiert Rebmann wiederholt, wie partikulare Einzelbeobachtungen und ganzheitliche Metropole zusammenhängen, was sich gleichzeitig auf die politische Sphäre beziehen lässt. Daneben rückt er die Beobachterperspektive und das eigene Urteil in den Mittelpunkt. Für eine angemessene Deskription sei es nötig, auf selbstgemachte Wahrnehmungen zu rekurrieren. Rebmann schließt hier umfänglich an autoptische Argumentationsmuster der zeitgenössischen Reiseliteratur und Merciers an und reformuliert sie für seine politisch geprägte Beobachtung. Obwohl die Revolution und ihre Nachwirkungen schon oft beschrieben sind, hebt der Reisende explizit darauf ab, nur mittels seiner eigenen Wahrnehmung könne er die nötigen Urteile differenziert genug fällen. Wenn er festhält, „einen nicht überflüssigen Tropfen in den Ozean“ (Rebmann, Zeichnungen, 395) der unzähligen Parisdarstellungen gießen zu wollen, ist es genau in diesem Sinne zu verstehen. Bewusst doppeldeutig scheint es angelegt,
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dass der Impetus zweifach kodiert ist. So wie er einerseits dazu auffordert, mit den Stadtbewohnerinnen und -bewohnern in Kontakt zu treten – ein Umstand, den er schon in der Vorrede zu seinen Briefen explizit betont –, ist er gleichzeitig poetologische Legitimation. Mit dem Hinweis, die subjektive Wahrnehmung sei von höchster Bedeutung, verweist Rebmann auf den eigenen Text, der dieses Desiderat erfüllen möchte. Fasst man Rebmanns Gesamteindrücke sowie die daraus resultierende Programmatik und angekündigte Textstruktur zusammen, sind zwei zentrale Punkte festzuhalten. Auf der einen Seite korrelieren eine überbordende Eindrucksfülle und eine fragmentarisch-kontingente Beschreibungsabsicht eng miteinander. Andererseits deuten Rebmanns einleitende Worte jeweils an, dass für ihn der Kurzschluss von Politik und Alltag, von welthistorischer Begebenheit und urbaner Lebensform, den Nukleus der Pariser Welt konstituiert. Davon ausgehend besteht die Frage, inwiefern Rebmann die eigene Poetik konkret umsetzt. Zunächst ist der Blick auf die allgemeine Textstruktur sowie ihre inhaltliche Zusammenstellung zu richten, die aus einem spezifischen Wahrnehmungsmodus resultieren. Was bereits in gattungstypologischer Hinsicht aufscheint, also der Bezug auf die Textformen Brief, Tagebuch und vor allem das Tableau, ist formal und inhaltlich zu differenzieren und zu schärfen (Kap. 7. 2). Anschließend liegt der Schwerpunkt auf seinen einzelnen Beschreibungen und insbesondere auf einer narrativen Technik, die er beständig anwendet: dem urbanen Spaziergang (Kap. 7. 3). Hierbei kristallisiert sich heraus, wie stark Rebmann politische und urbane Beobachtungen jeweils miteinander verknüpft und sie zuvorderst in einem zufällig-kontingenten Wahrnehmungsmodus münden. Hinzu kommt, so weisen die Betrachtungen weiterhin nach, größtenteils ein distanzierter Erzählmodus, innerhalb dessen der Reisende nicht selbst am beobachteten Geschehen teilnimmt, sondern vielmehr passiv beobachtet. Sein Blickwinkel, der von außen urbane und politische Geschehnisse miteinander verbindet, schlägt sich somit inhaltlich, formal und sprachlich nieder. 7. 2. Wahrnehmungsmodi des Bruchstückhaften: Brief, Tagebuch und Tableau Rebmanns Briefe: Eine Gattungsfrage Die Vorreden sowohl zu den Briefen als auch zu den Zeichnungen haben gezeigt, dass Rebmann ein fragmentarisches Erzählprinzip leitet. Gleichzeitig verdeutlicht gerade sein Beispiel, dass „die Reise […] zum gattungstheoretischen Pro blem“30 gerät und sich die Herausforderung stellt, die gemachten Wahrnehmungen literarisch zu verarbeiten. Wie sich dies inhaltlich ablagert, lässt ein Blick 30 T homas Bleicher, „Einleitung. Literarisches Reisen als literaturwissenschaftliches Ziel“, in: Komparatistische Hefte 3 (1981), 3–10, 4.
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auf die Grobstruktur der beiden Texte erahnen. Allemal ist, wie eingangs anmerkt, für die Briefe eine Binnendifferenzierung vorzunehmen. Während sich im Anschluss an die „Vorerinnerung“ insgesamt sechszehn Briefe – davon sechs aus Paris (Briefe 11–16) – finden, folgen schließlich Auszüge aus Rebmanns Tagesnotizen, wie er selbst angibt. Die sechs Briefe, die Rebmann aus Paris an seinen Altonaer Freund Albrecht schickt, besitzen wiederum inhaltlich ganz verschiedene Schwerpunkte. Die ersten beiden Briefe (11 und 12) stellen jeweils einen Spaziergang durch die Innenstadt dar, auf sie kommt der nächste Abschnitt zurück. Wie bei allen anderen Briefen finden sich einleitend Schlagworte zu den jeweils behandelten Schauplätzen und T hemen, beispielhaft im zwölften Brief: „Brothalle. Grève-Platz. Guillotine. Peinliches Tribunal. Volkssitten. Marsfeld. Lager bei Grenelle“ (Rebmann, Briefe, 284). Paradigmatisch lässt sich ablesen, was für Rebmanns Spaziergänge prototypisch aufleuchtet: die Vermengung von topografischen und darüber hinausgehenden Räsonnements. So wie die brieflichen Zusammenstellungen einerseits dem Lesepublikum den Pariser Stadtraum näherbringen, kommen wiederholt allgemeinere Dimensionen sowie gesellschaftliche Verhältnisse – hier konkret die „Volkssitten“ – zur Geltung.31 Letztlich korrespondiert dies mit der Verbindung von Revolutionsgeschichte, Politik und Alltag, die bereits die Vorreden geprägt hatte. Obwohl für die Briefe das diaristische Prinzip grundlegend ist – insbesondere im zweiten Teil, der als „Tägliche Bemerkungen“ (Rebmann, Briefe, 348) tituliert ist –, sind die Übergänge zur tableauhaften Form fließend. Während im Tableau Merciers (Kap. 6) sowie in den Zeichnungen Rebmanns tendenziell je ein Kapitel einem thematisch begrenzten Schwerpunkt zugeordnet ist, sind die Briefe etwas anders strukturiert. So fasst der Reisende, wie es in nuce am zwölften Brief zu erkennen ist, mehrere T hemen in einem Brief zusammen. Das ist sicher auf pragmatische Hintergründe der Briefkommunikation zurückzuführen. Die Briefe ermöglichen Rebmann, so stilisiert er es selbst, „wechselnden individuellen Interessen nachzugehen, ohne systematisch und vollständig sein zu müssen“.32 Schließlich sei daran erinnert, dass Rebmann bereits eingangs der Briefe klagt, er habe über viel zu wenig Zeit verfügt, überhaupt briefliterarisch tätig zu werden. Auch wenn für die untersuchten urbanen Mußeformen vorrangig Rebmanns Spaziergänge durch Paris bedeutsam sind, sollten die darauffolgenden Briefe – d. h. die Briefe 13 bis 16 sowie das Tagebuch – nicht außen vor bleiben, insofern sie Auskunft über seine grundlegenden Wahrnehmungsmodi geben. Dass es zwischen Rebmanns ersten beiden Briefen und den weiteren einen inhaltlichen und formalen Bruch gibt, hat auch Rainer Kawa betont. So seien sie anfänglich 31
Vgl. Hermann Tiemann, „Hanseaten im revolutionären Paris 1789–1803. Skizzen zu einem Kapitel deutsch-französischer Beziehungen“, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 49/50 (1964), 109–146, 138. 32 Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 231.
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noch „auf Abwechslung und Vermittlung von sinnlicher Anschauung und Reflexion hin angelegt“. Anschließend dominiere eine „hektische[] Reihung von Vorfällen und T hesen oder abusiv-oberflächlichen Beschreibungen“.33 Anstatt jedoch wie Kawa mit defizitärem Unterton zu argumentieren, lässt sich die Verschiebung ebenso als Modifikation der Wahrnehmung und ihrer Verarbeitung lesen. Von Interesse sind vor allem die Briefe 14 und 15, in denen die Frage von urbaner Vielfalt und ihrer wahrnehmenden und literarisierenden Übersetzung markant hervortritt. Im vierzehnten Brief beschreibt Rebmann ausführlich die Pariser T heater, genauer „Les Français. Große Oper. Komische Oper. T heater Feydeau. T heater Louvois. T heater der Republik. T heater Montansier. Vaudeville. T heater der Cité. Odéon. T heater de Molière“ (Rebmann, Briefe, 306). Allein die Überschrift demonstriert, inwiefern sich Rebmann an einer literarischen Stadtanordnung versucht. Die sukzessive Abhandlung verschiedener T heaterhäuser schwankt zwischen einer enzyklopädischen Erfassung und einer Fragmentarisierung angesichts dessen, dass es in Paris „dreißig verschiedene Schauspiele“ (Rebmann, Briefe, 332) gebe. Ein ähnliches Anordnungsprinzip ist im fünfzehnten Brief zu erkennen, wo Rebmann unter anderem mit „Nachrichten aus Deutschland. Pariser Freudenmädchen. Journalisten“ (Rebmann, Briefe, 318) aufwartet. Betrachtet man die Passagen zu den letztgenannten T hemen, fällt erneut das ordnende Prinzip auf. Der Reisende teilt sowohl die „Freudenmädchen“ als auch die „Journalisten“ in verschiedene „Klassen“ (Rebmann, Briefe, 321; 325) ein und unterwirft sie einer Art taxonomischem Prinzip. Paradigmatisch zeigen die Beispiele, wie Rebmann der Wahrnehmungs- und Erzählherausforderung Metropole beizukommen versucht. Gemessen an seinen eigenen Verweisen auf ein grundlegend fragmentarisches Prinzip ergeben sich zwei Stränge in den eigentlichen Briefen. Einerseits handelt es sich um ein selektives Vorgehen, sowohl thematisch als auch bei der konkreten Ausfüllung der einzelnen Schwerpunkte. Andererseits versucht Rebmann dort, wo er die Auswahl getroffen hat, die Gegenstände mit einem klassifizierenden und taxonomischen, bisweilen gar enzyklopädischen Prinzip zu erfassen. Rebmanns Briefe stehen stellvertretend für die intratextuelle Vielfalt, die allgemein für die deutsche Großstadt- und Reiseliteratur um 1800 zu erkennen ist. Rebmann ist, den anderen untersuchten Text eng vergleichbar, ein einschlägiges Beispiel dafür, dass verschiedene reiseliterarische Konzeptionen synchron ineinander verschränkt sind. Diese Vorgehensweise steht allemal konträr zum zweiten Abschnitt der Briefe, den „Tägliche[n] Bemerkungen, welche ich am Abend des Niederschreibens nicht ganz unwürdig gefunden habe, die aber oft wochenlang unterbrochen worden sind“ (Rebmann, Briefe, 348). Wie eine Anmerkung des Herausgebers – vermut33 Kawa,
Georg Friedrich Rebmann, 334.
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lich Peter Villaume (1746–1825) – erklärt, war dieser Teil der Briefe ursprünglich um einiges ausführlicher geplant: Da Herr Rebmann aber weiterhin, durch andere Geschäfte, an der Fortsetzung dieses Tagebuchs verhindert worden, so würde der 2te Teil sehr schwach und der erste weit stärker geworden sein. Um daher zwei gleiche Bändchen zu liefern, ist das Ganze in zwei gleiche Teile geteilt. (Rebmann, Briefe, 348)
Erneut führt Rebmann, über einen Mittelsmann, mangelnde zeitliche Möglichkeiten zur literarischen Betätigung entschuldigend an, um sogleich zu betonen, dass Briefe und Tagebuch ursprünglich in einem gleichberechtigten Verhältnis gedacht gewesen seien. Bemerkenswert ist dabei insbesondere die vorhergehende Begründung im sechzehnten Brief, warum er nachfolgend nur noch die Auszüge seines Tagebuchs liefern wolle: Doch genug von aller Politik! Ich habe Sie jetzt erst durch einen kleinen Teil der Stadt Paris geführt und Ihnen nur eine allgemeine flüchtige Übersicht unsrer hiesigen Lage zu geben versucht. Ich werde Ihnen von nun an bloß mein Tagebuch mitteilen und Ihnen gleichsam ein fortlaufendes Gemälde von Paris darzustellen mich bemühen, was mir um so leichter werden wird, da ich nur auf die angegebenen Data mich zu beziehen brauche. Vielleicht erleben wir bald hier interessante Auftritte, welche es mir erlauben, Ihnen mannigfaltigere Gegenstände zu schildern als bisher. – Inzwischen leben Sie wohl! (Rebmann, Briefe, 347 f.)
Deutlich ist erkennbar, dass Rebmann die Problematik selbst in der Gattungsfrage verortet. Nachdem er in sechs Pariser Briefen versucht hat, in einer Mischung aus diaristischem Prinzip und überblickender Gesamtschau die Revolutionsmetropole wiederzugeben, präferiert er nun scheinbar Ersteres. Er stilisiert dies, wieder in gleichzeitiger Anlehnung und Abgrenzung zu Mercier, als ein „fortlaufendes Gemälde“, das als geplante Modifikation des französischen Vorbilds aufscheint. Handelt es sich dort um eine Gesamtdarstellung der Stadt Paris in einer thematisch klassifizierenden und ursprünglich wissenschaftlichen Systematik, will Rebmann den unmittelbaren Tageswahrnehmungen verstärkt Geltung verschaffen. Das Epitheton des „Fortlaufenden“ ist dabei doppeldeutig. Es zeichnet zwar in erster Linie die diaristische Textstruktur nach, verweist aber implizit auch auf die städtische Dynamik, die nicht als ein stehendes Gemälde wie noch bei Mercier darzustellen sei. Sein Tagebuch löst Rebmann noch stärker vom französischen Vorbild ab. Er versteht die dynamisierte Metropole nicht mehr nur als Beobachtungsgegenstand, sondern will ihre Eigenschaften formal abbilden. Dass sich Rebmann nicht in jedem seiner Einträge an das eigene Vorhaben hält und das ausführliche politische Räsonnement wiederholt an den tagesak tuellen Ereignissen entbrennt, ist offensichtlich. So berichtet er beispielsweise über die Hinrichtung eines Ausgewanderten in den Notizen vom 1. Nivôse V [21. Dezember 1796]. Überdies spiegeln die Tagebucheinträge – wenig überra-
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schend, sind sie doch als redaktionell vorgängige Grundlage der Briefe ausgezeichnet – die darstellerische Heterogenität. So treten erneut eher assoziative Passagen neben enzyklopädische Erfassungen, unter anderem eine Auflistung der Pariser „medizinische[n] Topographie“ (Rebmann, Briefe, 373). Bedeutender als die thematischen Schwerpunkte ist die grundlegende Problematik, die das soeben Geschilderte spiegelt. Die Herausforderung, wahrzunehmen und literarisch zu verarbeiten, die Rebmann beständig hervorhebt, kehrt in der textuellen Struktur wieder. Die Darstellungsformen sind genuin heterogen angelegt und bedienen sich durchaus unterschiedlicher Traditionsstränge zwischen enzyklopädischen, tableauartigen und assoziativen Narrationen. Damit zeigen Rebmanns Briefe: Die Frage nach einer spezifisch urbanen Wahrnehmung kristallisiert sich in den poetologischen Aussagen des Schriftstellers ebenso heraus wie in der formalen Gliederung und Darstellung. Zeichnungen: Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit Mercier Noch deutlicher tritt dies in den Zeichnungen zutage, die das Substrat der rebmannschen Pariserfahrung bilden. Es hat sich gezeigt, dass Rebmann mit diesem Text zwar explizit an Merciers Tableau anknüpft, zugleich aber eine Transformation stattfindet. Das Vorhaben, „den Leser mit mir auf den Schauplatz einzelner Szenen“ (Rebmann, Zeichnungen, 396) zu bringen, ihn zum Zuschauer des urbanen Schauspiels zu machen, setzt Rebmann sehr verschieden um und grenzt sich phasenweise deutlich von seinem französischen Vorgänger ab. Einerseits ist zu erkennen, dass er sich weitgehend an seinen Briefen orientiert. Das zeichnet sich bereits in der Ankündigung ab, die Zeichnungen sollten all dasjenige enthalten, für das andernorts kein Platz gewesen sei. Vor dem Hintergrund erstaunt es wenig, dass Rebmann beispielsweise den Erzählmechanismus des literarisierten Spaziergangs wieder aufgreift, auf den das nächste Unterkapitel genauer eingeht. Doch schon auf der vermeintlich homogenen Ebene gibt es gravierende Unterschiede. Wo Rebmann mit der „Wanderung zu den Bastilletrümmern und in einige Schauspiele“ (Rebmann, Zeichnungen, 422) einen äußerst ausführ lichen Rundgang durch Paris schildert, stehen in anderen „Szenen“ singuläre Gebäude im Zentrum, so das Panthéon oder der Tempel. Neben die räumlich ausgerichteten Beiträge treten zudem Abschnitte, die primär zeitlich konnotiert sind. Rebmann berichtet sowohl von der „Feier des 21sten Januars“ (Rebmann, Zeichnungen, 396) als auch darüber, dass er umfangreiche Auszüge „aus dem Tagebuch des Grafen Brinncasa während seines Aufenthalts zu Paris“ (Rebmann, Zeichnungen, 415) offerieren könne. Insgesamt zeigt sich in diesen literarischen Mechanismen, inwiefern Rebmann bisweilen deutlich vom statisch gehaltenen Tableau abweicht. Er integriert verstärkt dynamische Wahrnehmungs- und Erzählmuster, die vor allem auf persönlichen Erfahrungen basieren, die Rebmann fortwährend in literarischen Spaziergängen reformuliert.
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Neben diese Darstellungsformen tritt schließlich eine dritte Kategorie, die sich als ‚Kulturklassifikation‘ fassen ließe und wieder eher an das Tableau anschließt. So wie sich Rebmann in seinen Briefen wiederholt einzelnen kulturellen Elementen paradigmatisch und taxonomisch annimmt, führt er das Prinzip nun fort. Abschnitte wie „Deutsche Schöne Literatur in Frankreich“ (Rebmann, Zeichnungen, 414) oder „Ehemalige geistliche Prozessionen“ (Rebmann, Zeichnungen, 440) stehen symptomatisch hierfür. Nimmt man all dies zusammen, wird deutlicher, worin die strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Mercier und Rebmann bestehen. Das Gemeinsame ist dort zu finden, wo es darum geht, die eigenen Impressionen textuell zu ordnen, und zwar in stichwortartiger Manier. Übereinstimmungen finden sich überdies, insoweit Rebmann versucht, spezifische T hemenkomplexe zu überblicken und sich insbesondere kulturklassifikatorischen Mustern widmet. Wesentliche Unterschiede indes bestehen vor allem, wo Rebmann auf seine urbane Wahrnehmung abhebt und versucht, seine (tagesaktuellen) Beobachtungen städtischer Lebensformen zu narrativieren. Die unterschiedlichen Ausgangspunkte der Darstellung, seien sie räumlicher, zeitlicher oder kultureller Provenienz, weisen zudem auf eine polyperspektivische Wahrnehmung hin. So entsteht letztlich das Gesamtbild, dass „Rebmanns Berichte aus Paris […] nicht nur den allgemeinen Tendenzen, sondern auch den wesentlichen aktuellen Begebenheiten gewidmet“34 sind. Die wesentliche Differenz zum Tableau lässt sich dabei über das angedeutete Verhältnis zwischen Statik und Dynamik fassen. Beide Tendenzen treten in Rebmanns Berichten auf. Gerade dort, wo er sich aber den für die Studie relevanten Gesichtspunkten – urbaner Wahrnehmung ebenso wie den entsprechenden Lebensformen – zuwendet, dominieren dynamisierte Erzählmuster, die Merciers Tableau bisweilen diametral gegenüberstehen und die im Folgenden genauer zu analysieren sind. Zu beachten ist die jeweilige textuelle Rahmung. Handelt es sich bei Mercier um den Versuch, die eigene Lebenswelt unter moralisch verbesserungswürdigen Gesichtspunkten zu betrachten, steht bei Rebmann die Reise im Vordergrund. Die verschiedenen Formen der Wahrnehmung – räumliche, zeitliche, aber eben auch der allgemeine kulturelle Eindruck – finden allesamt auf ihre Weise Eingang in die Briefe und Zeichnungen. Dass all dies letztlich nur fragmentarisch bleiben kann, macht Rebmann bereits in seinen Vorreden jeweils deutlich. Der Gegenstand Paris ist – und hier liegt eine weitere entscheidende Differenz zu Merciers Tableau – für den Be sucher in einem solchen Zeitraum nur in sehr kleinen Bruchstücken und nicht in 1049 Kapiteln erfassbar.
34 Kawa,
Georg Friedrich Rebmann, 328.
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7. 3. Unpolitische Spaziergänge eines Revolutionsreisenden? Rebmann erkundet Paris Obwohl sich Rebmanns Paristexte wie gesehen strukturell sowie in ihren Wahrnehmungsformen durch ein fragmentarisches und kontingentes Vorgehen auszeichnen, finden sich andererseits längere erzählerische Passagen. Besonders ins Auge fallen mehrere literarisierte Spaziergänge, die Rebmann jenseits seiner alltäglichen Verpflichtungen unternimmt und die als Kernstück seiner Stadtbeobachtung auftreten.35 Von der Forschung sind die Passagen dagegen bisher nur peripher beachtet worden. Lediglich Rainer Kawas Monografie gibt den Hinweis, diese Form der Stadterkundung habe es Rebmann ermöglicht, „einzelne Reflexionen […] zwanglos mit den Eindrücken des Tages“36 zu verknüpfen. Von umso größerem Interesse ist daher, den Blick vor allem auf die Eigenheiten der urbanen Spaziergänge zu richten, die konzeptionell an die aufgerufenen Komponenten anschließen: Fragmentarismus sowie die Durchdringung von politischer und alltäglicher Pariser Welt. Dass die Wahrnehmungsform des Spaziergangs als paradigmatisch aufscheint, hängt auch damit zusammen, dass es sich um das Erste handelt, das Rebmann überhaupt aus der Hauptstadt beschreibt. Der Gleichheitspalast: Paris im Kleinen Nachdem er, wie eingangs zitiert, darüber klagt, die unzähligen Eindrücke sowie seine zahlreichen Verpflichtungen hätten ihn sowohl an einer detaillierten Stadtbeschreibung als auch einer literarischen Verarbeitung gehindert, berichtet Rebmann sogleich, wie er bald nach Ankunft eine Stadterkundung per pedes unternommen habe. Von Beginn an formuliert sich der symptomatische Konnex von verfügbarer Mußezeit und hierin integrierter Spaziergänge. Für seinen ersten Rundgang wählt Rebmann jene Einrichtung, die wie vielleicht keine zweite für den Pariser Trubel steht: Mein erster Weg war in den ehemaligen Palais Royal oder nunmehrigen Gleichheitspalast, diese Stadt im kleinen, deren ehemaligen Zustand und Geschichte Sie in Schulzens Buch „Über Paris und die Pariser“ besser beschrieben gelesen haben, als ich Ihnen zu schildern imstande sein würde. Ich begnüge mich auch also damit, Ihnen ein Gemälde der jetzigen Welt zu geben, welche man in diesem Palais antrifft. (Rebmann, Briefe, 270)
Paradigmatisch zeigt sich einleitend das Grundprinzip von Rebmanns Parisbeschreibung, insbesondere jenes aus den Briefen. Er möchte dort verweilen, wo sich die urbane Masse befindet, wo das Pariser Leben seinen dichtesten Ausdruck findet, sich von einer „Stadt im kleinen“ sprechen lässt. Er begibt sich mit dem Palais Royal an jenen urbanen Ort, der als „Versuchsobjekt deutschsprachi35
Explizit zu Rebmann macht dies Voegt, „Nachwort“, 309, stark. Georg Friedrich Rebmann, 333.
36 Kawa,
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ger Großstadtästhetik“37 um 1800 gelten kann, insofern die Reisenden und anderen Berichterstattenden ihn nahezu massenhaft besuchen und literarisieren. Zugleich macht Rebmann deutlich, dass ihn an dieser Stelle weniger das historische Monument interessiert, sondern dessen gegenwärtige Belebung. Er verweist hinsichtlich der topografischen und historischen Eigenschaften vielmehr auf Friedrich Schulz’ Ueber Paris und die Pariser, der eine äußerst ausschweifende Beschreibung des Palais liefert und selbst festhält, „daß er allein wohl Monate lang beschäftigen kann“.38 Dass die anzutreffende Vergnügungskultur für Rebmann tiefere Dimensionen als eine pure Lebensfreude widerspiegelt, betont er eigens. Indem er einleitend die verschiedenen zeitgenössischen Epochen kontrastiert, verweist er erneut darauf, wie eng für ihn politische Entwicklung und alltägliche Auswirkungen miteinander verbunden sind. Angesichts Rebmanns progressiver politischer Orientierung ist es konsequent, dass er sich auf ein „Gemälde der jetzigen Welt“ beschränken möchte. Weniger das Überholte der alten Zeit ist für ihn interessant, sondern das Jetzt, von dem sich Rebmann erhofft, eine neue Egalität umzusetzen.39 Zwar implementiert er eine knappe architektonische Beschreibung des Baus, „um Ihnen ein Gemälde des Gleichheitspalasts in seiner jetzigen Beschaffenheit liefern zu können“ (Rebmann, Briefe, 271). Doch die Schilderung dient lediglich dazu, das Gegenwärtige noch besser versinnbildlichen zu können. Zunächst erklärt Rebmann, wie sich das Lesepublikum einen Morgen im Palais vorzustellen habe: Mit Tagesanbruch wird die Welt hier lebendig. Die Gewölbe öffnen sich, und es erscheinen Käufer und Verkäufer und Leute, welche in den vielen Coffeehäusern frühstücken. Hier werden dann die ehrlichen Geschäfte gemacht und über Politik kannengießert. Freudenmädchen und Agioteurs schlafen noch. Aber schon um zehn Uhr morgens ist die Szene ganz verändert. Die Stille hat dem Geräusch und der ehrliche Mann den Spitzbuben Platz gemacht. Sie treffen nun schon den ganzen Garten oder vielmehr Hof des Palastes mit Gruppen angefüllt, die teils über die Regierung schimpfen, teils aber agiotieren. Überall stehn mehr als fünf- bis sechshundert Menschen zusammen, die Mandate feilbieten oder einhandeln. Bei jedem Schritte begegnet Ihnen jemand, der Ihnen entweder große Ballen Mandate vor die Augen hält oder mit Laubtalern klappert und fragt: „En vendez-vous?“ oder „En achetez-vous?“ (Rebmann, Briefe, 271)
Deutlich lässt sich erkennen, inwiefern der „nunmehrige[] Gleichheitspalast“ über den Tag hinweg durch eine stetig veränderte raumzeitliche Belebung geprägt ist. Das wirbelnde großstädtische Treiben, wie es Rebmann in seinen Einleitungen beschreibt, präzisieren die urbanen Praktiken an einem konkreten Vorgriffe auf das schöne Leben, 115. Ueber Paris und die Pariser, 397. 39 Peitsch, „Das Schauspiel der Revolution“, 307, hat gar davon gesprochen, in „Paris enträtselten sich Rebmanns Blick die Zeichen der Zukunft“. Wie in dieser ersten Szene zu sehen ist, steht dem stets die vorrevolutionäre Zeit als Vergleichsfolie gegenüber. 37 Gibhardt, 38 Schulz,
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Ort. Den verschiedenen Tätigkeiten im Palais sind klare Zeiten zugeordnet, die sich quasi eigenlogisch – so zumindest der vermittelte Eindruck – ergeben.40 Demgegenüber steht der Beobachter, für den die temporale Distribution sekundär ist. Er selbst, so scheint es, hält sich den ganzen Tag dort auf und betrachtet die regelmäßig changierende Szenerie. Dabei arbeitet Rebmann sukzessive heraus, dass sich für den außenstehenden Beobachter die verschiedensten zufälligen und plötzlich auftretenden Eindrücke ergeben. Insoweit er einen ganzen Tag im Palais verbringen würde, könnte er ganz heterogene Dinge wahrnehmen, die „bei jedem Schritte“ eine neue Impression bereithalten. Obwohl klar bestimmt ist, in welchem räumlichen und zeitlichen Umfeld der Beobachter agiert, bleibt letztlich kontingent, was ihm begegnet. Zugleich scheint die räumliche Nutzung für Rebmann einem politischen Zweck zugeordnet zu sein. So beschreibt er, inklusive eines leicht abwertenden Untertons, zuvorderst jene Akteurinnen und Akteure, die den Ort nutzen, um sich über die gegenwärtige Politik munter auszulassen. Auffällig ist vor allem die skizzierte Gleichzeitigkeit von ökonomischen Interessen und Formen des Verweilens. So wie das Palais einerseits als durchorganisierter Hort des wirtschaftlichen Profits aufscheint, konstituiert es andererseits einen Platz, der Rückzugsmöglichkeiten wie ein Kaffeehaus und das damit verbundene politische Räsonnement anbietet. Schließlich markiert Rebmann entschieden, inwieweit kontingent auftretende Elemente für die urbane Wahrnehmung relevant sind. Mit dem Hinweis, geradezu „bei jedem Schritte“ könne einem ein Handel begegnen, ruft er einen Topos der Plötzlichkeit auf, der weitestgehend mit einer assoziativen Beschreibungstechnik korreliert. Unter Einbezug dramatischer Elemente, genauer der direkten Rede, verweist Rebmann außerdem auf den theatralen Charakter des Palais. Dieser verstärkt sich in der folgenden Schilderung: Verlassen Sie den Garten, um unter die Arkaden zu treten, so fällt Ihnen wieder ein Schauspiel andrer Art in die Augen. Hundert Schreier bieten hier Broschüren des Tages und Journale feil, deren Inhaltsanzeige sie laut herlesen, immer von einer Gruppe umrungen, welche die Vorlesung mit einer kleinen Kritik begleitet. Sie können leicht denken, daß jeder Journalist diese Anzeigen so auffallend zu machen sucht, als es immer möglich ist. Sie hören daher rufen: „Détail de la mort de Drouet“ etc. […] Es ist unglaublich, mit welcher Industrie man hier auf Neuigkeiten spekuliert. Kaum ist die Sitzung der beiden Räte geendigt, als sie schon im Palais im Vaudeville verkauft wird. (Rebmann, Briefe, 272)
Nachdem sich Rebmann zuvor der raumzeitlichen Veränderung des Palais gewidmet hat, kommt er verstärkt auf die verschiedenen Räume im Haus selbst zu sprechen. Dabei nimmt er wieder die theatrale Motivik auf, die er in der Beschreibung der politischen Agitationskultur anmerkt und die er hier verstärkt. Erneut ist es ein unvermittelter Eindruck, ein „in die Augen fallen“, das für die 40 Vgl. zum Palais Royal als heterogenem urbanem Versammlungsort Wolfgang Kraushaar, „Die Passage als städtischer Mikrokosmos“, in: Freibeuter 3 (1980), 84–91, 87.
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Wahrnehmung prägend ist. Entscheidend ist an dieser Stelle zudem der Einbezug der Leserinnen und Leser – sei es der Adressat Albrecht oder das prospektive deutsche Lesepublikum – durch ein einvernehmliches Erzählen. Indem Rebmann die Ich-Perspektive meidet und stattdessen die Rezipientinnen und Rezipienten zum Akteur erhebt, entspricht er dem Versuch einer lebendigeren Vermittlung. Das für die Großstadtliteratur um 1800 typische Verfahren verbindet sich mit einer durchweg szenischen Darstellung.41 Hierbei vereinigen sich verschiedene Sinneseindrücke zu einer dramatischen Szenerie, die visuelle Eindrücke sowie akustische Untermalung betont. Dass es sich bei den Szenen um einen Wettbewerb der gegenseitigen Überbietung handelt, schließt unmittelbar an die vorherigen Beschreibungen an, in denen eine solche Konkurrenzsituation bereits angedeutet wurde. Für den Beobachter ergibt sich auf diese Weise ein aneinandergereihtes Aufgebot an Darbietungen, eine „Industrie“ der Zurschaustellung, die Rebmann mit einem leicht ironischen Unterton zur hiesigen Presse enden lässt. Es kann als symptomatisch für seine politisch konnotierten Parisschilderungen gelten, dass ihn die gemachten Beobachtungen sogleich zu einem Räsonnement über das Pressewesen anstacheln, bis er schließlich festhält, er werde andernorts „mehr Gelegenheit haben, über diesen Gegenstand zu sprechen“ (Rebmann, Briefe, 273). Dass aber Rebmann trotz seiner Ankündigung den Spaziergang durch das Palais Royal zuvorderst als Möglichkeit erachtet, eine politische Analyse von Paris vorzunehmen, zeigt eine weitere Schlussfolgerung programmatisch: Dieser Palais, in welchem bekanntlich die Revolution ihren Ausbruch nahm, ist noch immer eine Art von Barometer, woran man sehr leicht merken kann, ob es in Paris ruhig oder stürmisch ist. Ohne bestimmt die Zeichen angeben zu können, welche auf Sturm deuten, bin ich doch immer imstande gewesen, die beiden Explosionen, welche sich während meines Hierseins ereigneten […], voraus zu verkündigen. Die Gruppen sind vor einer solchen revolutionären Bewegung kleiner, aber heftiger; es herrscht abends eine verdächtige Stille; die Coffeehäuser, in welchen sich gewisse Parteien treffen, sind minder oder mehr angefüllt als gewöhnlich. Verdächtige Figuren, Arm in Arm, sprechen leise und doch hitzig miteinander, und die Freudenmädchen, welche ihre Rechnung an solchen Tagen nicht finden, verschwinden früher. Wenn diese Zeichen eintreten, so gehe keiner ins Haus, der auf dem Felde ist, und keiner ins Feld, der im Hause sitzt, wenn nicht seine Pflicht ihn ruft. (Rebmann, Briefe, 274)
An dieser Stelle lässt sich schließlich erkennen, warum Rebmann seinen ersten Spaziergang überhaupt in das Palais unternimmt. Nicht nur, weil sich dort die große Pariser Welt im Kleinen spiegelt. Mehr noch, da an diesem Ort jener Zusammenhang von Politik und Alltag auffindbar ist, den Rebmann von Anfang an für seine Schilderungen als leitend erklärt. Folglich ist der urbane Beobachter stets ein politischer und umgekehrt. Wenn Rebmann die tageszeitliche Nut41
Vgl. Hentschel, „Die Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts“, 35.
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zung beschreibt, wenn er verschiedene theatrale Szenen aus dem Vergnügungsund Versammlungsort wiedergibt, so sind die Passagen unter einer doppelten Prämisse zu verstehen. Sie zeugen zum einen vom politischen Interesse eines Schriftstellers, der sein Leben der Revolution und ihren Auswirkungen widmet. Sie präsentieren gleichzeitig einen Beobachter, der genau diese Verhältnisse – die eingangs geäußerte Absicht, die „Fortschritte der menschlichen Moralität und Freiheit“ (Rebmann, Briefe, 171) zu prüfen – unmittelbar an die urbanen Lebensformen knüpft. Von der Warte aus fungiert Rebmanns Ausflug in das Palais R oyal geradezu als Blaupause für seine weiteren Spaziergänge. Markant sind dabei nicht nur die engen Beziehungen zwischen urbanen und politischen Gesichtspunkten, sondern die Darstellung des Palais zeichnet sich durch ein einschlägiges Wahrnehmungsmuster aus. Rebmann hebt eindeutig hervor, dass einem Beobachter, der die nötige Zeit in der Anlage verbringen könne, äußerst heterogene und zufällige Eindrücke begegnen würden. Er arbeitet entschieden heraus, inwiefern es letztlich unbestimmt bleibt, was dem Berichterstatter begegnet, sodass sich das Palais tatsächlich als ein mikroskopisches Abbild des öffentlichen Pariser Stadtlebens erweist. Politische Reflexionen und Schauspiele des Boulevards Dass die enge Verflechtung von politischen Geschäften und urbanen Lebensformen Rebmann selbst offenkundig ist, zeigt die Fortsetzung des elften Briefs. Er berichtet, nach seinem Besuch im Palais Royal habe er einen Ausflug ins Nationalmuseum des Louvre unternommen. Deutlich markiert Rebmann noch einmal die ungeheuren Dimensionen, die in einer Stadt wie Paris bisweilen zu bewältigen sind. So sei „das Louvre […] das ungeheuerste Gebäude, das mir in dieser Erdenwelt noch zu Gesicht gekommen ist. Man hat eine gute Viertelstunde zu gehen, um nur die Länge der Façade abzumessen“ (Rebmann, Briefe, 276). Nachdem Rebmann sich kurz dem früheren Königspalast deskriptiv gewidmet hat, geht er näher auf jenen bedeutenden urbanen Versammlungsort ein, der direkt neben dem Louvre liegt – den Tuileriengarten: Geht man durch das Portal dieses Gebäudes, so befindet man sich in dem Garten der Tuilerien, zwischen welchem und den bekannten Elysäischen Feldern der Revolutionsplatz liegt. […] Hier war es, wo die Freiheit der Welt begründet wurde, hier war es aber auch, wo Brissot, Camille Desmoulins und die ersten Gründer und Stifter der Republik ihre Liebe zur Freiheit mit dem Tode besiegelten. (Rebmann, Briefe, 276)
Markant zeigt sich wie zuvor, dass die Pariser Topografie für Rebmann politische Ereignisse widerspiegelt. Freilich gewinnen sie eine spannungsvolle Ambivalenz. So wie der Platz in den Tuilerien ein freiheitliches Symbol darstellt, steht er gleichzeitig für die jakobinische Schreckensherrschaft und die mit ihr verbundenen politischen Säuberungen. Komprimiert bündelt sich für den Beob-
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achter an einem einzigen Ort die Geschichte der Französischen Revolution samt ihrer Errungenschaften und tragischen Geschehnisse. Wie bedeutend der Platz allemal für den politischen Rebmann ist und dergestalt zu einem Ort der historischen Selbstvergewisserung mutiert, zeigt sich anschließend: Ich habe diesen Platz, um ungestört meinen Betrachtungen nachhängen zu können, in einer der hellsten Nächte um halb ein Uhr ganz allein besucht. Alles Geräusch hatte sich verloren, nur das Rufen der Grenadierwache und das Rauschen der Seine war noch zu hören. Den Platz, einen der schönsten in der Welt, beleuchtete zauberisch der Mond, dessen Strahlen den Helm auf der Bildsäule wie eine Glorie umgaben. Links liegt der große Quai und die Vorstadt St-Germain, rechts zwei prächtige Gebäude, zwischen welchen der Magdalenenkirchhof mit seinen Säulen die Aussicht schließt, dieser Kirchhof, wo Tausende der Geopferten schlummern. (Rebmann, Briefe, 277)
Rebmann zeichnet ein bemerkenswertes Bild. Einerseits schildert er ein idyllisches nächtliches Plätzchen inmitten der Weltstadt Paris, das abseits der tagsüber anzutreffenden Menschenmenge die Möglichkeit bietet, in Reflexion und Kontemplation zu verweilen. Im gleichen Moment eröffnen sich dem Beobachter genau in dieser Idylle die revolutionären Abgründe – sei es beim Gedanken an die hingerichteten Revolutionäre oder beim Blick auf die Magdalenenkirche, die ein Massengrab vor sich birgt. Die vom Beobachter gemachten „Betrachtungen“ sind damit doppelbödig kodiert. Sie verweisen zuerst auf die visuelle Raumwahrnehmung, die in einem nächsten Schritt zum Nachdenken über all jenes führt, das sich historisch und tagespolitisch mit der betrachteten Topografie verbindet. Auf diese Weise sind zwei Sphären ineinander verschränkt. Wo der Rückzug aus dem alltäglichen Treiben eine reflektierende Perspektive jenseits von Lärm und Hektik ermöglicht, ist sie keineswegs mit einer idyllischen Schwelgerei parallelisiert, sondern mit einem krisenerschütterten Nachdenken. In scharfem Kontrast steht das zur gewöhnlichen Belebung des Platzes tagsüber: Bei Tage sollte kein Mensch sich träumen lassen, daß hier so große Revolutionsszenen noch vor wenigen Jahren vorgefallen seien. Tausende von Menschen, unter denen doch gewiß viele einen Vater, Bruder oder Anverwandten betrauren, der durch die Guillotine fiel, gehn hier vorüber und hängen ihrem Vergnügen nach. Die Elysäischen Felder und die Tuilerien werden nie leer von Spaziergängern, und in den ersten sieht man so viele Cabriolets und Equipagen, daß der entsetzliche Staub, der dadurch erregt wird, beinahe die Luft verdunkelt. (Rebmann, Briefe, 277)
Anders als bisher setzt Rebmann die politisch-historische und die alltägliche Welt zueinander in Beziehung. Den äußeren Rahmen bilden die Tageszeiten, die den Ort zu einer nächtlichen Idylle inmitten der Metropole machen. Tagsüber wird er dagegen zum Sinnbild des bunten Pariser Treibens, das sich durch Vergnügung und vermeintliche Geschichtsvergessenheit auszeichnet. Durch den Kontrast gewinnt gleichsam der Beobachter eine exponierte Position. Er ist für den Moment der Einzige, der beide Seiten des Platzes kennt und daher den Ort
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anders lesen kann als all jene, die ihn massenhaft bevölkern. Für ihn ist er Teil der Pariser Vergnügungs- und Freizeitkultur 42 und gleichzeitig die lebendige Erinnerung an alles, was sich in den vergangenen Jahren welthistorisch in der Stadt abgespielt hat. Kurz gesagt, Rebmanns knappe Beobachtung des Revolu tionsplatzes bestimmt die kulturellen Koordinaten der Metropole. Sie ist das Zentrum eines einmaligen historisch-politischen Vorganges. Sie ist aber auch der Ort, an dem sich die urbanen Lebensformen über das Politische hinaus entfalten. Diesem engen Zusammenhang folgend, schließt Rebmanns eine ausgiebige Betrachtung über soziale Verwerfungen in der französischen Hauptstadt an, bis er schließlich an den Leser gewandt anmerkt, doch ich will Sie in Paris weiterführen, ohne mich immer durch revolutionäre Anmerkungen zu unterbrechen. Wenn ich auch zuzeiten etwas über Dinge mich ärgere, so meine ich es darum doch nicht so böse mit der Revolution und den Franken, und es geht mir wie einem Vater, der seinen ungeratenen Sohn schilt und es doch äußerst übelnehmen würde, wenn irgendein Fremder sich darin mischen und von dem lieben Söhnchen etwas Übles sagen wollte. Wir wollen jetzt noch den ganzen Quai, die Cité und die Faubourg St-Germain links liegenlassen und rechts einen kleinen Spaziergang über die Boulevards unternehmen. (Rebmann, Briefe, 279)
In seiner Funktion als Cicerone bemerkt Rebmann, dass er sich zu sehr dem Politischen und zu wenig dem ebenso bedeutenden Alltagskulturellen gewidmet habe. Allerdings, so ist im Folgenden zu sehen, handelt es sich dabei um einen nur kurz währenden Vorsatz. Dennoch verrät die Passage einiges über das Selbstbild Rebmanns, das er von sich als Beobachter zeichnet. Sowohl hinsichtlich seiner Beziehung zum Lesepublikum als auch bezüglich seiner gefällten Urteile formuliert er eine privilegierte Position. Er stellt sich als denjenigen dar, der über die Expertise und Weitsicht verfügt, die zur räsonierenden Bewertung qualifizieren. Zum revolutionären Geschehen und dessen Auswirkungen nimmt er gar eine patriarchalische Stellung ein, in der er eine ambivalente Beziehung zu Paris aufbaut. So wie Rebmann als dessen größter Kritiker verstanden sein will, stellt er sich zugleich als liebenden Vater dar, der ‚sein‘ Paris verteidigen möchte. Die Stellungnahme liest sich als Zusammenfassung jener Textpassagen, die bisher im Blick waren. Hier hatte Rebmann stets jene Rolle eingenommen, die er in seinem überleitenden Fazit präsentiert. Einerseits markiert er den kritischen Blick auf alles Gesehene, gleichzeitig schwingt die positive Grundhaltung mit, die er zur Stadt einnimmt.43 42 Zur Bedeutung des Tuileriengartens als urbanem Versammlungs- und Vergnügungsort vgl. Mark Girouard, Die Stadt. Menschen, Häuser, Plätze. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt am Main/New York 1987, 181. Zu seiner politischen Bedeutung Willms, Paris, 76. 43 Vgl. Albrecht, „Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 234; Walter Grab, „Die politischen Konzeptionen und Kämpfe des deutschen Jakobiners Georg Friedrich Rebmann“, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte 9 (1982), 389–397, 391.
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Dennoch lässt sich das Folgende zunächst einmal als Bruch mit der bisherigen Narration auffassen. Denn nachdem im vorherigen Erzählabschnitt klar das Politische dominiert hatte, scheint sich Rebmann nun verstärkt den alltäglichen städtischen Gegebenheiten widmen zu wollen. Wieder präsentiert er den literarisierten Spaziergang als Mittel, mit dem dies am besten möglich sei: Wenn jemand von einer Erschöpfung der Stadt Paris von Menschen radotiert, so hat man weiter nichts nötig, als ihn an einem Dekaden- oder Sonntage durch die Tuilerien, durch die Elysäischen Felder und auf die Boulevards zu führen. […] Diese Boulevards machen den gewöhnlichsten Spaziergang der schönen Welt aus, so wie sich hingegen auf der andern Seite die sansculottische Welt den Quai zu ihrem hauptsächlichsten Sammelplatz erwählt hat. Vom Magdalenenkirchhof anzufangen, stellen die Boulevards eine Fortsetzung des Palais Égalité vor, denn links sind Kramladen und Kaffeehäuser, rechts T heater und in der Mitte Spaziergänge, davon man die elegantesten in der Gegend antrifft, welche Klein-Koblenz genannt wird. (Rebmann, Briefe, 279)
Rebmann möchte den Leserinnen und Lesern das pulsierende städtische Leben vermitteln und wählt daher Plätze des Konsums, der Vergnügung und der Promenade zu seinem neuen Erzählgegenstand. Zwar sagt dies noch wenig darüber aus, wie deren Belebung konkret gestaltet ist, der Beobachter betont aber allemal, dass eine soziale Verteilung erkennbar sei. So elaboriert Rebmann, dass sich die einzelnen Örtlichkeiten zugleich mit gesellschaftlich-politischen Gruppen verbinden. Wo einerseits die Hautevolee der „schönen Welt“ ihren Ort gefunden hat, versammeln sich, spiegelbildlich angeordnet, gegenüber die sansculottischen Kleinbürger und Arbeiter. Die soziale Segregation manifestiert sich räumlich – und Rebmanns Vorhaben, er wolle revolutionäre Anmerkungen nunmehr reduzieren, gerät unweigerlich ins Wanken. Dass er im gleichen Atemzug darauf hinweist, an den genannten Orten könne man sonntags „eine Armee von 30.000 jungen Menschen liefern“ (Rebmann, Briefe, 279), verdeutlicht die gewaltigen Dimensionen, die sowohl für die Stadt als auch für den Beobachter zu bewältigen sind. Umso mehr stellt sich die Frage nach einer ordnenden Wahrnehmung, die Rebmann selbst postuliert: Es ist eine wahre Freude, hier die unendliche Menge von Schauspielen aller Art zu sehen, die sich für jede Menschenklasse darbieten. Vom Italienischen T heater an, wo Martin singt, bis gegen die Vorstadt St-Antoine hin reiht sich ein Schauspiel an das andre, und wenn auch zwei Männchen, die Purzelbaum machen, alles sein sollte, was hier oder da zu sehen ist, so findet der Entrepreneur doch sicher ein Publikum an einigen Poissarden und Wasserträgern, das einige Liards für Circenses anwendet. Die hiesigen Schauspiele werden mir Stoff zu einem langen Briefe geben. Ich will hier nur ein kleines Gemälde der Welt auf den Boulevards geben und die Buden durchgehn, welche sich hier, nur natürlich in größerer Menge, ungefähr so aneinanderreihn wie auf dem Wege von Hamburg nach Altona. (Rebmann, Briefe, 279 f.)
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Die Boulevards stellt der Reisende als Inbegriff des T heatralen und des Schauspiels dar.44 Für alle gesellschaftlichen Gruppen scheint es eine zugehörige Vorstellung zu geben, bei der man seinem Vergnügen frönen kann. Wie Rebmann wiederholt betont, ist es für den Beobachter nahezu unmöglich, der Angebotsfülle überhaupt beizukommen. Er beschränkt sich schließlich darauf, nur einen Ausschnitt – erneut dominieren fragmentarische Erzählmuster – desselben zu beschreiben. Er ergänzt dies um die Ankündigung, zu einem späteren Zeitpunkt ausführlich auf das andere einzugehen. Wie viele seiner zeitgenössischen literarischen Mitstreiterinnen und Mitstreiter korreliert der Beobachter seine Wahrnehmungen mit den heimischen Verhältnissen, die er aus Deutschland kennt. Dass Rebmann die Buden zwischen Hamburg und Altona mit jenem Schauspiel vergleicht, das in Paris herrscht, hebt die frappierende Dimension dessen umso deutlicher hervor. Ebenso zeigt sich die Einstellung des Beobachters. Als eine „wahre Freude“ charakterisiert er es, die verschiedenen Darbietungen zu beobachten. Er äußert eine spezifische Begeisterung, die – wie in den Vorreden gesehen – gerade bei Rebmann volatil ist. Der Reisende betont demnach, wie verschieden und letztlich zufällig die Eindrücke sind, die er bei einem Spaziergang über die Boulevards gewinnen kann. Er hebt außerdem hervor, mit welchen emotionalen Impressionen dies für den Beobachter einhergeht. Rebmann konstatiert, dass es für ihn kaum ein schöneres Gefühl gebe, als über die Boulevards zu schlendern, dabei seine anderweitigen Verpflichtungen zu vergessen und schließlich gar die Möglichkeit zu erhalten, alsbald brieflich ausführlichst über die gewonnenen Eindrücke zu sinnieren. Wie sehr diese Zuneigung durch die unendliche und schwerlich zu verarbeitende Eindrucksvielfalt geprägt ist, zeigt Rebmanns weitere Beschreibung: Quacksalber reiten und fahren, zur Ehre der Polizei, hier an allen Ecken und preisen ihre Ware an. Unter und neben ihnen stehn Bänkelsänger, welche erst immer den Inhalt der Strophe ihrer Romanzen ablesen und dann mit Begleitung einer Violine, die meistens von einem Blinden gespielt wird, absingen, Marionettenkrämer, Hundeballettmeister, optische Kästen etc. etc. Zwischen alle diesem Lärmen schreien die Journalverkäufer ihre Überschriften oder ihre Sitzungen der Räte in Vaudeville, die kleinen Krämer ihr „Cinquante sous la pièce!“, und die Freudenmädchen zischeln ihr „Bst! Bst!“ dem Vorübergehenden in die Ohren. Während diese Ankündiger das Gehör der Vorübergehenden würken, suchen andere dem Publikum ins Gesicht zu fallen. An allen Ecken stehen mit ellenlangen Buchstaben Annoncen von Instituten, von Banken, von Gesellschaften, von Ärzten, von Anstalten gegen venerische Krankheiten. (Rebmann, Briefe, 280)
44 Vgl. zu dieser literarischen Motivik Klaus Hartung, „Corso – Avenue – Boulevard. Die Utopie des Boulevards“, in: Klaus Hartung (Hg.), Boulevards. Die Bühnen der Welt, Berlin 1997, 13–55, bes. 21.
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Das „etc. etc.“ drückt am treffendsten aus, was Rebmann erfährt und beschreibt. Die unendliche Menge an Impressionen, die sich für den Beobachter als polysensorische Herausforderung manifestiert, wirkt anfangs wie ein wildes Durcheinander. Doch der ordnende Blick überführt das vermeintliche Chaos letztlich in eine Struktur. Wo das, wie Rebmann es selbst nennt, „Charivari“ (Rebmann, Briefe, 282) allerlei optische, akustische und taktile Eindrücke durcheinanderwirbelt, findet in der Narration eben doch eine Anordnung statt, die ein erzählerisches Nebeneinander darstellt. In überblicksartiger Manier, die bisweilen wieder an die merciersche Tableautechnik erinnert, ergibt sich für den Beobachter doch ein klares Bild, selbst wenn es inhaltlich über eine entschiedene Unordnung bestimmt ist. Es scheint, dass die Ordnung der Eindrücke – die Simultaneität und Sukzession gleichermaßen suggeriert – mit einer spezifischen Beobachterposition einhergeht. Obwohl er inmitten des Geschehens agiert – so meint Rebmann später, man habe sich nun „unter dieser Menschenklasse genug herumgetrieben“ (Rebmann, Briefe, 282) –, wirkt er distanziert. Indem er teilweise eine exzentrische Perspektive einnimmt, die das Geschehen tatsächlich wie ein ‚Gemälde‘, wie eine Malerei wirken lässt, vermengt sich der Eindruck mit den dramatischen Elementen, insbesondere durch direkte Rede45, andererseits. Die Passage ist damit erzählerisch-perspektivisch von einer gewissen Ambivalenz geprägt. So wie Rebmann suggeriert, er befinde sich inmitten des urbanen Geschehens als eine Art ‚teilnehmender Beobachter‘, nimmt die Perzeption zugleich exzentrische Formen an. Das Zusammenspiel lässt sich als narrativer Rückzug mitten im urbanen Trubel begreifen – eine Wendung, die vor allem in London und Paris erneut begegnet (Kap. 8. 3). Dass bei all den freudebringenden Eindrücken eine ermüdende Wirkung auf den Beobachter gleichzeitig eintritt, verdeutlicht Rebmann abschließend. Er bemerkt den Leserinnen und Lesern gegenüber, „daß ich Sie auf einem Wege von wenigstens zwei Stunden herumgeschleppt habe. Es ist also billig, daß ich Ihnen Ruhe gönne“ (Rebmann, Briefe, 283).46
45 Auf die Bedeutung von wiedergegebener direkter Rede für die Authentizität in Großstadtberichten rekurriert Michael Cronin, „Andere Stimmen. Reiseliteratur und das Problem der Sprachbarrieren“, in: Anne Fuchs/T heo Harden (Hg.), Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne (Neue Bremer Beiträge 8), Heidelberg 1995, 19–34. 46 Die von Rebmann genannten „zwei Stunden“ entsprechen genau jener Zeitspanne, die für den kulturgeschichtlich klassischen ‚Spaziergang‘ gemeinhin als ideale Zeit angenommen werden, vgl. Albes, Der Spaziergang als Erzählmodell, 13.
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Das politische Fest und sein Beobachter Zwei wesentliche Gesichtspunkte lassen sich bis hierhin für Rebmanns literarische Spaziergänge festhalten. Ein erster Schritt hat gezeigt, dass die enge Verflechtung von politischen und alltäglich-urbanen Beobachtungen eine konstitutive Rolle spielt. Sie tritt selbst dort rasch wieder ins Bild, wo Rebmann den ständigen Wiederholungen eine Absage erteilt. Zweitens war festzustellen, dass, sobald sich der Blick auf das eigentlich Urbane lenkt, eine zugespitzte Wahrnehmungsherausforderung vorliegt, die in erster Linie darin besteht, die unzähligen Eindrücke zu verarbeiten. Dabei, so haben die ersten Textstellen gezeigt, sind die zufälligen Impressionen prägend, die das Stadtleben dem Beobachter jeweils bietet. Er lässt sich offen auf sie ein und betont durchweg, wer einen Rundgang durch Paris unternehme, könne nie gewiss sein, was ihr oder ihm begegnet. Beide Komponenten treten auch in jenen Spaziergängen auf, die Rebmann in den Zeichnungen literarisiert. Gerade in den Berichten zur „Feier des 21sten Januars“ sowie einem Ausflug zu den Bastilletrümmern ergeben sich allerdings Akzentverschiebungen. Hatte Rebmann in den eben analysierten Passagen eher den Charakter eines Fremdenführers, der imaginierten Parisbesucherinnen und -besuchern die Metropole zeigt, kommt in den Zeichnungen stärker das persönlich-subjektive Element hinzu. Grob sind für Rebmanns Spaziergänge in den Zeichnungen drei Ausgangspunkte leitend. Auf der einen Seite basieren sie auf singulären Anlässen, so der „Feier des 21sten Januars“, zum anderen widmen sie sich einzelnen Örtlichkeiten, etwa dem Botanischen Garten oder dem Panthéon. Schließlich liegt mit einer „Wanderung zu den Bastilletrümmern und in einige Schauspiele“ der umfangreichste aller rebmannschen Spaziergänge vor. Wie eng in all diesen Passagen die Beziehung zwischen dem einmalig Beobachteten und dem daraus abgeleiteten Allgemeineren ist, zeigen paradigmatisch die Äußerungen zur „Feier des 21sten Januars“, dem Jahrestag der Enthauptung Ludwigs XVI. (1754–1793). Nachdem Rebmann eingängig beschrieben hat, inwieweit das Fest bereits vor seinem Beginn zu Diskussionen zwischen den verschiedenen politischen Akteuren geführt habe, kommt er auf das eigentliche Ereignis zu sprechen: Das Fest wurde also, trotz alles Geschreis, gefeiert, und Sie können leicht glauben, daß ich nicht säumte, wenigstens etwas davon zu sehen. Das Gedränge auf dem Pont Neuf war so groß und hauptsächlich durch die Menge Militärs, welche ihn umringte, die Brücke so besetzt, daß ich verzweifelte, durch die übrigen, noch engern Straßen in die Kirche Notre-Dame zu kommen, und lieber in den Rat der Alten zu gehen beschloß, wo mir einer meiner Freunde unter den Repräsentanten Gelegenheit verschafft hatte, den Eid der Volksstellvertreter ruhig und gemächlich anhören zu können. (Rebmann, Zeichnungen, 398)
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Für Rebmann als geneigten politischen Beobachter steht es außer Frage, dass er an dem Ereignis teilhaben möchte. Von Anfang an exponiert er sich als tendenziell außenstehender Beobachter, obwohl er selbst gewissermaßen am Geschehen partizipiert. Überdies verzeichnet er, wie sehr sich die Menschenmassen verdichtet hätten, so dass er schließlich entscheidet, sich aus der Menge zu lösen und den Weg zum „Rat der Alten“ zu wählen. Erst vor diesem Hintergrund beginnt überhaupt der Spaziergang, den er nachfolgend unternimmt. Dass er die Stimmung des Volkes am ‚Festtag‘ aufzuspüren vermag, verdeutlicht er unmittelbar: Das Volk, welches die Journalisten so gern hätten in Bewegung setzen wollen, war ganz ruhig und nahm an dem Feste, um die Wahrheit zu sagen, keinen Anteil. Jeder ging seine Straße wie gewöhnlich, und niemand blieb stehen als diejenigen, welche das Gedränge am Weitergehen hinderte, oder die, welche immer stehenbleiben, wo es etwas zu sehen gibt. Weder Freude noch Leid war auf den Gesichtern zu lesen, einige Poissarden erlaubten sich nach ihrer Art Sarkasmen gegen den Zug und gegen die vielen Kutschen, welche ihn begleiteten. (Rebmann, Zeichnungen, 398 f.)
Zunächst einmal verfestigt sich der Eindruck, dass Rebmann sich in dieser Passage als externer Beobachter stilisiert. Er nimmt die Stellung einer bewertenden Instanz ein, die distanziert zur urbanen Menge steht. So wenig sich die Pariserinnen und Pariser, bis auf einige Ausnahmen, für den Fortgang des Festes zu interessieren scheinen, umso mehr gilt dies für den Beobachter. Während die Pariserinnen und Pariser schweigen, sprechen sie für Rebmann Bände. Hinzu kommt in der Paradoxie ein zweites Element, das Aufschluss darüber gibt, wie der urbane Alltag funktioniert. Rebmann beschreibt ein mechanisch wirkendes Funktionieren der Stadt, das sich unter dem Stichwort der Eigenlogik fassen lässt. Deutlich markiert er die Routinen der Stadtbewohnerinnen und ‑bewohner, die gerade an einem Tag, an dem ihre Suspendierung möglich erscheint, umso markanter hervortreten müssen. Dass beides wiederum nicht als absoluter, sondern lediglich als dominierender Eindruck verbleibt, zeigt die Fortführung des kleinen Rundgangs: Ich begab mich auf die Terrasse der Tuilerie, welche an den Quai längst der Seine stößt, und fand hier mehrere Menschen, welche, wie ich, nicht Gedränge, sondern lieber ruhige Betrachtungen von weitem zu lieben scheinen. Mehrere Grenadiere des gesetzgebenden Korps hatten sich auf der Terrasse versammelt und teilten sich ihre Bemerkungen über das Fest mit. Mit vieler Freude fand ich sie sehr gerade und richtig und die Leute sehr republikanisch gesinnt. Ich mischte mich mit ins Gespräch und entdeckte unter ihnen zwei Landsleute. Wir sprachen lange und viel, als plötzlich gegenüber am entgegengesetzten Ufer der Seine der Knall von zwölf Kanonen uns verkündete, daß im nämlichen Augenblick die ersten Obrigkeiten eines freien Volkes den heiligen Eid des Hasses gegen die königliche und demagogische Anarchie ablegten. (Rebmann, Zeichnungen, 399)
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Dass Rebmann den Rückzug im urbanen Raum schätzt, macht er ebenso deutlich wie seine Sympathien für die Rolle eines unbeteiligten Zuschauers. Umso bemerkenswerter ist es, dass die vermeintlich passive Stellung, die angesichts seines ständigen Räsonnements von Beginn an erodiert, zusehends ins Wanken gerät. Sobald Rebmann einige Gleichgesinnte, auf politischer wie auf sprachlicher Ebene, antrifft, mischt er sich doch ein und vertieft sich gemeinsam mit seinen Mitstreitern in eine Debatte. Seine Teilnahme am politischen Fest steht symptomatisch dafür, dass Rebmann sich „in Paris durchaus als Franzose“47 fühlt, gleichzeitig aber den Kontakt zu den Deutschen in der französischen Hauptstadt sucht. Hierbei scheint das zeitliche Momentum vorerst zurückzutreten und kehrt schließlich erst durch einen lauten Kanonenknall, also eine äußere Intervention, zurück. Dass die Unterbrechung für Rebmann im eigentlichen Wortsinn nur vorübergehend ist und sich in ihm eine noch stärkere reflektierende Stimmung als sonst festgesetzt hat, wird kurz darauf augenscheinlich: Unwillkürlich schwiegen wir still, und jeder wiederholte im Herzen den Eid. Das sah ich an den Mienen meiner braven Leute. Die Wachen standen still und schlugen an ihr Gewehr. Betrachtungen über die Größe der Revolution, über Menschenkraft und Menschenschwachheit übermannten mich, ich schlug die Allee vor mir ein und befand mich bald auf dem Revolutionsplatze zwischen den beiden Pferden, wo Ludwigs XVI. Schafott stand und mit ihm, dem Schwachen, die letzte Hoffnung der Königsfreunde fiel. Meine Einbildungskraft stellte mir den Totenzug dieses Opfers der Revolution vor, und ich stand, heiligen Schauers voll, auf der Erde, wo sowohl das Blut Ludwigs als auch das Blut der Edlen, welche – die Republik gestiftet hatten, der Märtyrer der heiligen Freiheit, vergossen wurde. Ihr Bild, majestätisch und erhaben, stand vor mir. […] Die Erde, von Blute überall benetzt, bebte unter mir, Wolken umhüllten das Bild der Freiheitsgöttin, als plötzlich ein Strahl der Sonne auf sie fiel und das abermalige Krachen der Kanonen und die Musik des Abschiedsgesangs, welche vom Platz des 10ten Augusts hertönte, mich weckten. (Rebmann, Zeichnungen, 399 f.)
Bemerkenswert ist vor allem, wie die zutiefst emotionale und zugleich kontemplative Situation zustande kommt. Nachdem sich die Beteiligten zu einem Moment der Stille und des Innehaltens eingefunden haben, brechen sich Rebmanns Eindrücke freie Bahn. In einem zugespitzten Augenblick, ausgelöst durch die Betrachtung einiger Wachen, übermannen ihn seine Gedanken und Impressionen. Dies äußert sich zunächst darin, dass es Rebmann sogleich zum Revolutionsplatz drängt, den er bereits in den Briefen als metonymisch für alle Revolutionsereignisse und -phasen präsentiert hatte. Alles andere tritt in den Hintergrund, die Konzentration liegt einzig und allein auf dem inneren Durchleben der Revolution, das durch äußere Örtlichkeiten entsteht.48 Die Grenzen zwischen Imagination und Realität verschwimmen erheblich. Zwar sind die Szenen der verschiede47 Albrecht,
„Revolution und Aufklärung in Rebmanns Buchberichten“, 234. Voegt, „Nachwort“, 311. Sie weist darauf hin, Rebmann „berührt […] in seinem Reisebericht auch immer wieder die revolutionäre Vergangenheit“. 48 Vgl.
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nen Hinrichtungen nur eine innere Erfahrung, im gleichen Atemzug aber gehen sie dem Beobachter körperlich nahe. Das Empfinden eines „heiligen Schauers“ sowie zuvor das „Übermannende“ zeugen eindrücklich hiervon. Diese Erfahrung gipfelt schließlich im bebenden Boden, der sowohl auf die inneren Empfindungen Rebmanns als auch auf die außen knallenden Kanonen zurückzuführen ist. Es ließe sich von einer immersiven Erfahrung sprechen, in der äußere Stimulanzien und eigene, innere Gedanken und Gefühlen ein umfangreiches Zusammenspiel eingehen. Nur an wenigen Stellen seiner Schilderungen berichtet Rebmann von einer solchen Emotionalität, die in der engen Verbindung von Tagesgeschehen, Historie und politischem Räsonnement begründet ist. Rundgang durch die Revolutionszeit: Vom Gleichheitspalast zu den Trümmern der Bastille Zugleich zeichnet sich in der Schilderung der Feier, oder vielmehr der daraus entstehenden Gedanken, ein Zusammenwirken von individuellen Beobachtungen und allgemeinen Überlegungen ab, das auch für den umfangreichsten aller rebmannschen Spaziergänge konstitutiv ist. In seiner „Wanderung zu den Bastilletrümmern und in einige Schauspiele“ (Rebmann, Zeichnungen, 422), die er sehr ausführlich beschreibt, ist es insbesondere wieder eine äußere Bedingung, die für den weiteren Verlauf ausschlaggebend ist: Es war heute so vortreffliches Wetter, daß ich mich entschloß, meine schon lange angefangenen Wanderungen durch verschiedene Teile von Paris fortzusetzen. Ohnerachtet ich schon über ein halbes Jahr in Paris bin, so komme ich doch noch lange nicht an die Beschreibung des Panthéons, des Museums etc. Ich will erst mit dem Lebenden recht bekannt sein, ehe ich mich mit den leblosen Sehenswürdigkeiten bekannt mache. Müde und matt – denn ich habe einen Spaziergang von etwa zwei und einer halben deutschen Meile gemacht, erhole ich mich damit, daß ich alles, was mir vorgekommen ist, die Revuen passieren lasse und das aufzeichne, was mir charakteristisch und merkwürdig schien. Ob es Ihnen, mein Freund! nicht höchst unwichtig vorkommen mag, weiß ich freilich nicht. (Rebmann, Zeichnungen, 422)
Eine grundlegende Differenz ergibt sich im Anlass der Verschriftlichung. Auch wenn gegen Ende erkennbar ist, dass es sich um eine Passage handeln muss, die ursprünglich für einen Brief gedacht war, so ist eine gravierende Differenz zu den meisten anderen in den Zeichnungen skizzierten Spaziergängen, wie beispielsweise zum Panthéon oder dem Tempel, unverkennbar. Entgegen der dortigen Praxis verweist der Beobachter auf ganz konkrete Ereignisse, über die er anschließend vermeintlich tagesaktuell berichtet. Literaturgeschichtlich bemerkenswert ist dabei sein Hinweis, er wolle sich zunächst mit der lebendigen Stadt vertraut machen, bevor er ihre „leblosen[] Sehenswürdigkeiten“ bestaune. Dies steht in ausdrücklichem Kontrast zu seinem Vorgängertext, Friedrich Schulz’ Ueber Paris und die Pariser, der noch explizit betont hatte, „ich setzte mir vor, erst
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das Todte der Stadt […] zu sehen und mich damit bekannt zu machen, sodann auf das Lebendige“.49 Rebmann konterkariert dieses Vorhaben und bestätigt sein eigenes literarisches Programm. Schon in den Briefen hatte er suggeriert, es handle sich um Deskriptionen realer Spaziergänge. Die literarische Ausführung war jedoch über weite Strecken von einer Perspektive geprägt, welche die Spaziergänge als ein verallgemeinertes Substrat vieler verschiedener Erfahrungen und Wahrnehmungen erschienen ließ. Hervorstechend ist, dass Rebmann den Entstehungsprozess der literarisierten Promenade expliziert. Er verweist darauf, dass er eben erst nach Hause zurückgekehrt sei und sie nun – quasi als Erholungsmethode – verschriftliche. Ob es sich dabei um eine literarische Stilisierung handelt, bleibt unüberprüfbar, ist aber sekundär. Entscheidend ist vielmehr der Eindruck, den er vermittelt. Dass Rebmann angibt, er habe die schriftliche Verarbeitung vorgenommen, als die Impressionen noch am frischesten waren, dient der erhöhten Authentizität, die in einer rezent erworbenen autoptischen Wahrnehmung begründet liegt.50 Das wiederum markiert einen zentralen Unterschied zu den Briefen, die Rebmann eigenen Angaben zufolge bisweilen erst vier Wochen später anfertigen kann. Neben der Verarbeitung spricht er auch das Wahrnehmen selbst sowie die nötige Selektion an. Einerseits vermerkt Rebmann, es ginge ihm zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch viel mehr um die Menschen in der Metropole und weniger um die Bausubstanz, die in späteren Abschnitten sehr wohl zu ihrem Recht kommt. Zum anderen verweist er instruktiv auf die entschieden subjektive Note, die sich in seinen Beschreibungen notgedrungen ergeben müsse. Am markantesten tritt dies durch die Ich-Perspektive zutage. Rebmann hatte sie zwar in den Briefen partiell verwendet, die nachfolgend betrachtete Passage zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie durchgängig auftritt. Damit rückt die Beobachterrolle, die sich bereits in den Briefen in verschiedenen Facetten als tragend erwiesen hatte, in ein neues Licht. Rebmann verdeutlicht von Beginn an, dass er eine ‚objektive‘ Beschreibung von Paris nicht liefern könne. Ihn interessiert lediglich eine Auseinandersetzung mit demjenigen, das ihm selbst als „charakteristisch und merkwürdig“ erscheint. Komplementär dazu installiert er die mehrdeutige Adressateninstanz, die einen ganz anderen Blick auf die Gegenstände haben mag. Dies korreliert letztlich mit jener grundsätzlichen Herausforderung, die sich in den Briefen wiederholt abzeichnet und die ihre Antwort im fragmentarischen Prinzip findet. Angesichts der enorm verdichteten Eindrücke, die selbst nach einem halbjährlichen Aufenthalt fragmentarisch sind, bleibt nur eine explizit subjektive Narration, die grundlegend selektiv ist. Die Ausdrucksform des literarischen Spaziergangs steht paradigmatisch hierfür. Er führt nur über einen Ueber Paris und die Pariser, 7. zur unmittelbaren Verschriftlichung von Reiseeindrücken noch einmal Hartmann, „Reisen und Aufschreiben“. 49 Schulz, 50 Vgl.
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gewissen Weg und schränkt den Gegenstandsbereich von vornherein ein. Und in einem zweiten Schritt rückt er die Beobachterfigur in den Mittelpunkt, welche die Selektion auf einer weiteren Ebene durchführt – kann sie doch immer nur einen Ausschnitt des gesamten durchschrittenen Raums wahrnehmen. Während folglich einerseits eindeutig festgelegt ist, welche Strecke der Reisende literarisch zurücklegt, bleibt gleichzeitig grundlegend offen, was ihm dabei an Impressionen begegnet. Gerahmt ist der neuerliche Spaziergang schließlich durch zwei Umstände. Rebmann verweist erstens auf das schöne Wetter, das ihm den Rundgang durch die Stadt erst erlaubt habe. Und zweitens greift er seine Argumentation der mangelnden Zeit wieder auf. Schon in seiner „Vorerinnerung“ zu den Briefen sowie in der Konzeption der Zeichnungen hatte Rebmann die fehlenden zeit lichen Kapazitäten als hemmenden Faktor formuliert. Erneut zeigt sich, dass der Reisende seine Spaziergänge als Mußezeit kennzeichnet, die frei von anderen Verpflichtungen ist und eine kontingente Beobachtung ermöglicht. Betrachtet man Rebmanns zweiten großen Spaziergang durch Paris, so sind markante Kongruenzen mit dem ersten erkennbar. Erneut berichtet der Reisende in dieser Reihenfolge über Palais Royal, Tuileriengarten und Boulevards. Die dabei anzutreffenden Erzählmuster ähneln ebenfalls im Wesentlichen jenen, die an den zitierten Textstellen aufgezeigt werden konnten. In Rebmanns zweiten Pariser Rundgang ist daher ein weiter ausdifferenziertes Bild der Pariser Innenstadt prägend, wobei die Spannung zwischen Teilnahme und Beobachtung leitend bleibt. So konstatiert der Beobachter beispielsweise für das Palais Royal, „[d]ieser Zaubersitz verändert sich mit jeder Stunde, und ob ich ihn gleich alle Tage einmal durchstreiche, so finde ich doch immer etwas Neues“ (Rebmann, Zeichnungen, 422). Für die Tuilerien indes hält er fest, „[d]er Garten der Tuilerien ist mir immer einer der liebsten, stillsten Plätze in Paris“ (Rebmann, Zeichnungen, 425). Und für die Boulevards schließlich notiert er, „[m]an muß das Gewühle und Getreibe von Menschen hier selbst sehen und die Gradation zwischen dem vornehmern und geringern Teile derselben selbst bemerken“ (Rebmann, Zeichnungen, 426). Diese Charakterisierungen unterstreichen noch einmal den grundlegenden Habitus von Rebmanns Darstellungen, die zwischen der Teilnahme am urbanen Geschehen einerseits und dem beobachtenden Rückzug andererseits changieren. Neben dieser Konzentration auf das Pariser Zentrum widmet sich Rebmann teils den Vorstädten, genauer der Faubourg St-Antoine. Ein Zufall ist dies angesichts des politischen Schwerpunkts nicht, hatte just hier die Bastille bis zu ihrer Stürmung und Zertrümmerung 1789 gestanden. Bemerkenswert ist vor allem, wie Rebmann Zentrum und Peripherie einander gegenüberstellt:
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Sooft ich in die Vorstadt Antoine trete, ist mir’s, als ob ich eine reinere Luft atmete, und Paris mit all seinen Palästen, mit allem seinen Reichtum kommt mir vor wie Ninive dem Propheten Jona unter seinem Baume. In der Vorstadt hat man die Revolution gemacht, in Paris hat man sich ihrer gerühmt und sie verdorben; in der Vorstadt fühlt man, in Paris beschreibt und deklamiert man Gefühle; in der Vorstadt erwirbt man, was man braucht, in Paris stiehlet der Reiche seine Bedürfnisse dem Armen. […] Für den Beobachter ist es angenehm, die Verschiedenheiten zwischen dem Treiben und Lärmen in Paris und der Stille in der Vorstadt zu betrachten. Die Trümmern der Bastille scheiden den Sammelplatz der schönen Welt – die rauschenden Boulevards – von einer kleinen Landstadt. Jenseits ist Müßiggang und Pracht, diesseits Arbeit und Dürftigkeit. In St-Antoine rät man nicht darauf, daß das üppige Paris zwei Schritte davon beginnt. (Rebmann, Zeichnungen, 428 f.)
Gewissermaßen steht Rebmann mit der summierenden Kontrastierung der Pariser Innenstadt und der Außenbezirke wieder am Ausgangspunkt all seiner urbanen Beobachtungen. Politische Analyse und diverse städtische Lebensformen korrelieren erneut eng. Das Bild, das Rebmann von den Vorstädten zeichnet, ist das einer idyllischen und moralisch integren Armut, eines einfachen Lebens, das sich trotz seiner materiellen Defizite über das verkommene Pariser Zentrum erhebt.51 Rebmanns Beobachtung steht beispielhaft für die um 1800 zunehmende Charakterisierung, „daß Paris zwei Gesichter hatte, das des Reichtums und der Pracht, aber auch das der Armut und des Elends“.52 Obwohl die soziale Ungleichheit dominiert – und der Reisende sie in das Spannungsfeld von Arbeit und Müßiggang einbettet –, spricht er der Vorstadt gleichsam eine wesentlich höhere Authentizität zu. Frappierend ist jedoch, dass es sich um eine reine Außenperspektive handelt. Zur Sprache kommt lediglich der eigene Eindruck Rebmanns, während die Erfahrungen der Bewohnerinnen und Bewohner zurücktreten. Die Idyllisierung der Vorstädte bei gleichzeitig vorhandenem Elend ist eine Projektion von Rebmanns eigenen politischen Vorstellungen, mehr noch seiner Wünsche.53 So hält er etwa fest: „Hier, unter diesen niedrigen Dächern, und bei unsrer braven republikanischen Armee in Italien ruht der Stock unserer Kraft, hier weht der Freiheit Genius, in Luxembourg nicht“ (Rebmann, Zeichnungen, 429). Kurzum: Das „tugendhafte und arbeitsame Volk insonderheit der Pariser Vorstädte galt Reb51 Eine Skizze der französischen Unterschichten und der mit ihr verbundenen Armut um 1800 liefert Gérard Gayot, „Die städtischen Unterschichten in Frankreich 1770–1820“, in: Helmut Berding/Etienne François/Hans-Peter Ullmann (Hg.), Deutschland und Frankreich im Zeitalter der Französischen Revolution (Edition Suhrkamp 1521), Frankfurt am Main 1989, 339–369. 52 Diezinger, „Paris in deutschen Reisebeschreibungen“, 317. 53 Dies deckt sich mit der T hese von Wolfgang Griep, „Reisen und deutsche Jakobiner“, in: Wolfgang Griep/Hans-Wolf Jäger (Hg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts (Neue Bremer Beiträge 1), Heidelberg 1983, 48–78, 62, „der Blick auf das einfache Volk bleibt, bei allen Näherungsversuchen, immer ein Blick aus sozialer Distanz“.
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mann als Garant der gesellschaftlichen Vervollkommnung“.54 Man muss aber festhalten: Zu einer Auseinandersetzung mit urbanen Lebensformen kommt es in dieser Passage eher peripher. Vielmehr dient der besuchte Ort dazu, bereits mitgebrachte Vorurteile zu bestätigen.55 Der Reisende wirkt hier weniger als „wachsam-kritischer Beobachter der gesellschaftlichen Verhältnisse, der seine Augen vor den Nöten der Unterschicht nicht verschloß“.56 Er ist eher außenstehender Betrachter, der sich oberflächlich mit den wahrgenommenen Umständen befasst. Dies ist umso auffälliger, als dass Rebmann in der Beschreibung der Vorstadt wieder von der zuvor eingenommenen tagesaktuellen Perspektive abweicht. Hier tritt die Deskription des ‚heute‘ Erfahrenen zurück, stattdessen dominiert die allgemein gehaltene Kontrastfunktion, welche die Vorstadt zum Zentrum politisch-moralisch einnehmen soll. Rebmann selbst bleibt das keineswegs verborgen, insofern er schließlich in seinem Fazit konstatiert, wie zentral das Revolutionäre für seine Beobachtungen sei: Nach dieser starken Wanderung kam ich endlich ziemlich müde nach Hause. Ich bemerke nur noch, daß ich den Kreis aller Plätze in einem Tage durchwandert habe, die sich in der Revolution ausgezeichnet haben. Vom Gleichheitspalast ging ich aus, in ihm lebte Orléans –, von da ging ich durch den Palast der Tuilerien – in die Wohnung der Bourbons und den Sitz des Nationalkonvents –, vom Revolutionsplatz kam ich vor dem Magdalenenkirchhof vorbei, von da über die Boulevards nach den Bastilletrümmern und der Vorstadt, endlich hart am Palast des Revolutionsgerichts vorbei nach Hause. Wo ehemals Katharina von Medici mordete, sitzt jetzt ein Volkssenat; wo ein Gefängnis stand, findet man Trümmer; wo Fouquier nach dem Sinne Englands würgte, ist jetzt der Sitz der vernünftigen peinlichen Rechtspflege. Nur die Bewohner der Boulevards sind noch zu reich und die Vorstädter zu arm; die beiden Endpunkte der Revolution sind vollendet, an dem, was in der Mitte liegt, müssen wir noch arbeiten. Dies können wir umso eher, da wir immer sehen, wo wir ausgegangen sind und wo wir hinkommen wollen. (Rebmann, Zeichnungen, 431)
Dass die revolutionäre Geschichte und der urbane Alltag bei Rebmann eine untrennbare Symbiose eingehen – folglich keineswegs unpolitische Spaziergänge begegnen –, hatte sich bereits durchgehend gezeigt. Bemerkenswert ist abschließend, in welchem Sinne Rebmann dies konzeptualisiert. Der Hinweis, der eigene Blick auf den Ausgangspunkt und die Zielsetzung der Revolution sei entscheidend, ist letztlich als parallel zu den eigenen Spaziergängen durch Paris zu se54 Albrecht, „Vom reformerischen zum revolutionär-demokratischen und liberalen Aufklärertum“, 172. 55 Insofern hat Grosser, Reiseziel Frankreich, 262, in gewisser Hinsicht recht, wenn er Rebmanns Berichte über die Vorstädte in defizitärem Kontrast zum Pariser Zentrum sieht und sie als „merkwürdig blaß, undifferenziert und […] verhältnismäßig peripher“ bezeichnet. Ähnliches kann Fischer, Reiseziel England, 570, für die zeitgenössische Reiseliteratur aus England und London aufzeigen. 56 Albrecht, „Vom reformerischen zum revolutionär-demokratischen und liberalen Aufklärertum“, 187.
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hen. Erst die Wahrnehmung des alltäglichen und gesellschaftlich belebten Stadtraums ermöglicht dem Beobachter ein differenziertes Urteil über den Fortgang der angestrebten revolutionären Sache. Dass sich dabei Vorurteil, Erwartung und Erfahrung vermengen, ist an vielen Stellen zu sehen. Entscheidend ist die grundlegende Beziehung zwischen urbanem Spaziergang und politischer Meinungsbildung. Rebmann nutzt seine Zeiten der Muße, um sich vordergründig anderem zu widmen als dem eigenen publizistisch-politischen Wirken. Im gleichen Moment jedoch gibt es an einem Ort wie Paris kein Entrinnen aus dieser Sphäre. Insofern der Stadtraum von verschiedenen (vor‑)revolutionären Zeitschichten geprägt ist, können einem politischen Geist die verschiedenen historischen Dimensionen nicht entgehen. Metonymisch bilden sie sich im beobachteten Alltäglichen ab, denn das Treiben an Orten wie dem Palais Royal oder den Boulevards, ebenso der Rückzug etwa im Tuileriengarten, spiegeln für Rebmann stets die politische Dimension. Das zunächst einmal kontingent Beobachtete, das sich jeden Tag neu gestaltet, eröffnet dem Beobachter den Blick für das Tieferliegende, für die mehr oder minder lebendige Revolution. Wenn man davon spricht, Rebmann sei sich in Paris seiner Enttäuschung über die Revolution bewusst geworden und habe die Widersprüchlichkeiten der zeitgenössischen Pariser Entwicklungen identifiziert, so ist gleichzeitig zu sagen: Er inszeniert sie in einer Praktik der Muße. Diese verbindet sich weitgehend mit einer klar konturierten Perspektive. Rebmann verharrt zumeist als außenstehender Beobachter, der nicht selbst an den Geschehnissen teilnimmt. Er nimmt sie vielmehr aus einer externen Perspektive – die grundlegend jener des Reisenden entspricht – wahr. Nur selten mischt er sich in die beobachteten Abläufe ein, und an den verstreuten Stellen, wo dies erkennbar ist, dient die modifizierte Stellung dazu, sein externes Urteil weiter schärfen zu können. Die Literarisierung seiner Einschätzungen, so haben die Analysen aufzeigen können, sind dabei durchaus heterogen. So wie Rebmann einerseits zeitgenössische reiseliterarische Muster miteinander kombiniert, sind auch seine stilisierten Stadtspaziergänge verschiedenartig angelegt. Sie schwanken zwischen überblicksartigen Zusammenfassungen der eigenen Erfahrungen und als tagesaktuell stilisierten Passagen. In Rebmanns Briefen und Zeichnungen bildet sich kurz gesagt ein vielseitiges Spektrum der literarischen Flanerie ab.
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8. London und Paris I: Korrespondentenberichte zwischen Impression und Information 8. 1. Entstehungs- und Publikationsgeschichte der Zeitschrift Wer nach den bedeutendsten kulturgeschichtlichen Zeugnissen für die deutsche Wahrnehmung von London und Paris um 1800 fragt, trifft früher oder später auf Friedrich Justin Bertuchs Journal London und Paris. Über mehr als fünfzehn Jahre hinweg berichtet das umfangreiche Korrespondentinnen- und Korrespondentennetzwerk des Weimarer Verlegers und Industriellen zwischen 1798 und 1815 aus den beiden Metropolen. Bertuchs Journal ist für die deutsche Großstadtliteratur um 1800 ein Meilenstein. So hat Karl Riha festgehalten, „für das Genre der Stadtbeschreibung […], für das Erlebnis der Großstadt und die spezifische Erkenntnis des Großstädtischen bedeutet das regelmäßig erscheinende Journal eine entscheidende Markierung“.1 Christian Deuling bezeichnet das Blatt gar als „pioneering contribution to a fledging public sphere in Germany“.2 Und auch bereits die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wissen die Zeitschrift zu honorieren. Sie kann mit einer für ihre Zeit hohen Auflage von rund 1250 Exemplaren, einer Rezeption unter anderem in Sankt Petersburg sowie einer kurzzeitigen schwedischen Übersetzung auf eine publizistische Erfolgsgeschichte verweisen.3 Markant dafür steht die Bemerkung eines anonymen Tableauschriftstellers, „das Beste über Paris besitzen die Deutschen immer noch ausschließend […] in dem, dieser Stadt eigen gewidmeten Journale London und Paris“.4 Freilich ist das kein Zufallsprodukt, sondern in erster Linie auf die publikationshistorische Verortung zurückzuführen. Zum einen ist zu bedenken, dass Die Beschreibung der „Grossen Stadt“, 56. Christian Deuling, „Aesthetics and Politics in the Journal London und Paris (1798– 1815)“, in: Maike Oergel (Hg.), (Re‑)Writing the Radical. Enlightenment, Revolution and Cultural Transfer in 1790s Germany, Britain and France (Spectrum Literaturwissenschaft 32), Berlin 2012, 102–118, 116. 3 Vgl. zur Rezeptionslage bes. Siglinde Hohenstein, Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Bewundert, beneidet, umstritten, Berlin/New York 1989, 75; Gerhard R. Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch. Versuch eines Porträts“, in: Gerhard R. Kaiser/Siegfried Seifert (Hg.), Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, Tübingen 2000, 15–39, 32. 4 Neues Paris, die Pariser und die Gärten von Versailles. (Als eine Fortsetzung von Friedrich Schulze’s: über Paris und die Pariser), Altona 1801, 26. 1 Riha, 2
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Zeitschriften, wie Johann Friedrich Reichardts (1752–1814) Frankreich, allgemein eine Säule der deutschen Großstadtliteratur um 1800 bilden.5 Wie wiederum Karl Riha nachweist, hat London und Paris andererseits insofern eine weitreichende Wirkung, als „mit ihr […] eine ganze Reihe von Wie es ist-Publi kationen, neben Paris auch über andere Großstädte wie London, Rom oder Madrid, dann auch über […] Berlin oder Wien“6 startet. Der genauere Blick auf die Konzeption (Kap. 8. 2) zeigt zwar noch auf, dass Bertuchs Zeitschrift zwischen literarischer Tradition und Transformation oszilliert, die literaturhistorische und diskursive Wirkung ist dennoch weitreichend.7 Der große Erfolg ist auf die Interessenslage des Lesepublikums sowie die Entstehungsgeschichte und Machart zurückzuführen. Hinter dem Journal steht mit Friedrich Justin Bertuch kein Geringerer als einer der prägendsten zeitgenössischen deutschen Herausgeber.8 Bertuch, der unter anderem am Teutschen Merkur (1773–1789), der Allgemeinen Literatur-Zeitung (1785–1849) und dem Journal des Luxus und der Moden mitwirkt, schafft mit seinem „‚Industrie-Comptoir‘, ab 1802 ‚Landes-Industrie-Comptoir‘ […] die institutionelle Grundlage für eine schon bald umfängliche, thematisch breit gestreute verlegerische Tätigkeit“.9 Insbesondere das Journal des Luxus und der Moden ist für die Großstadtliteratur ergänzend zu nennen, bildet es doch ein vorgängiges Schwestermagazin zu London und Paris.10 Sind dort zwar die beiden Metropolen nicht allein Zentrum 5 Vgl. exemplarisch Riha, Die Beschreibung der „Grossen Stadt“, 33, der die Gründung von London und Paris als einschlägigen Hinweis auf die Beliebtheit von Großstadtberichten um 1800 liest. Dass in dem Zusammenhang die allgemeine Expansion publizistischer Zeugnisse in der Aufklärung auch für London und Paris bedeutsam ist, hat Werner Greiling, „Kultur aus den ‚zwey Hauptquellen‘ Europas. Friedrich Justin Bertuchs Journal ‚London und Paris‘“, in: Hellmut Seemann (Hg.), Europa in Weimar. Visionen eines Kontinents (Klassik-Stiftung Weimar Jahrbuch), Göttingen 2008, 138–158, betont. Schließlich verweist Gunther Blaicher, „Zur Entstehung und Verbreitung nationaler Stereotypen in und über England“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 51 (1977), 549–574, 574, darauf, dass publizistische Formen an der Ausbildung von nationalen Stereotypen beteiligt sind. 6 Riha, Die Beschreibung der „Grossen Stadt“, 62. 7 Vgl. Lauterbach, „‚London und Paris‘ in Weimar“, 215, die betont, das Journal habe in seiner „Art und Weise der Ausstattung und Berichterstattung weiterführende Auseinandersetzungen angeregt“. 8 Vgl. Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 549, der „die sichere Hand eines seit Jahrzehnten erfahrenen Journalmachers“ als Erfolgsrezept der Zeitschrift identifiziert. 9 Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 20. Vgl. dazu ausführlich die Biografie von Hohenstein, Friedrich Justin Bertuch. So weist die Redaktion im ersten Band darauf hin, „die Liebhaber können ihre Bestellungen bey allen Postämtern, guten Buchhandlungen, oder Intelligenz- und Zeitungs-Comptoires, durch welche sie gewöhnlich ihre Zeitungen und Journale erhalten, machen; da die Verlagshandlung dieser Zeitschrift […] mit allen in Handelsverbindungen steht“ (London und Paris I, 1798, 11). 10 Zur engen, formal konnotierten Verwandtschaft der beiden Journale siehe Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 30.
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der Berichterstattung – und ist die Zeitschrift vor allem durch umfangreiche ökonomische Werbeinteressen geprägt11 –, so ist die verwandtschaftliche Beziehung unübersehbar, zumal die Herausgeber sie eingangs des ersten Bandes von London und Paris betonen. London und Paris ruft ein Herausgeber ins Leben, der nicht nur „zu seiner Zeit einer der erfolgreichsten und führenden Unternehmer auf dem Gebiet des Verlags- und Zeitungswesens“12 ist. Er hat zudem unter thematischer Perspektive entscheidende Standortvorteile. Für die Umsetzung einer periodischen Schrift aus London und Paris sind zweifelsohne die dazugehörigen Beitragenden, in Bertuchs Fall Korrespondentinnen und Korrespondenten, das entscheidende Kriterium. Der Herausgeber kann auf die ihm länger bekannten Johann Christian Hüttner in London und Friedrich T heophil Winckler in Paris zurückgreifen. Sie liefern den wesentlichen Berichtanteil aus beiden Städten. Auf ihre Vita sowie gesellschaftliche Herkunft geht das nachfolgende Unterkapitel näher ein.13 Wie Christian Deuling herausarbeitet, ist es wohl sogar Hüttner selbst, der ursprünglich die Idee zur Zeitschrift hat.14 Die Hauptkorrespondenten sind indes nicht die einzigen Beteiligten. Mit Nina d’Aubigny von Engelbrunner (1770– 1847), Helmina von Chézy, Georg Bernhard Depping (1784–1853), Carl Gottlieb Horstig, Johanna Schopenhauer (1766–1838) sowie weiteren anonymen Berichterstatterinnen und Berichterstattern ergibt sich ein breites Netz an persönlichen Quellen, aus denen das Journal schöpft.15 Allerdings besteht die pragmatische philologische Schwierigkeit, dass in den Anfangsjahren die Beiträge flächendeckend ungezeichnet bleiben, während erst im späteren Verlauf zusehends namentliche Signaturen zu finden sind.16 Die Vielfalt der Autorinnen und Autoren ist insofern bedeutend, als dass sie den einzelnen Beiträgen jeweils eine unterschiedliche Rahmung verpasst. Nicht nur, dass die Korrespondentinnen und Korrespondenten teilweise unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören, gerade ihre jeweilige (berufliche) Betätigung in den Metropolen ist gewichtig. Das bleibt bei der Betrachtung der Textstellen näher auszudifferenzieren, grundlegend ist aber festzuhalten, dass ein Vgl. Hohenstein, Friedrich Justin Bertuch, 78. Gotthard Brandler, „Friedrich Justin Bertuch und sein Journal ‚London und Paris‘. I. London und Paris und die Journalliteratur um 1800“, in: Greizer Studien 1 (1989), 128–145, 130. 13 Vgl. insbesondere Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 31 f. 14 Vgl. Deuling, „Aesthetics and Politics in the Journal London und Paris“, 104. 15 Vgl. Christiane Banerji/Diana Donald, Gillray Observed. T he Earliest Account of his Caricatures in London und Paris, Cambridge 1999, 19 f. Nicht mehr am Journal mitwirken konnte Friedrich Schulz, der 1798 verstarb. 16 Vgl. Paul Hocks/Peter Schmidt, Literarische und politische Zeitschriften 1789–1805. Von der politischen Revolution zur Literaturrevolution (Sammlung Metzler. Realien zur Literatur 121), Stuttgart 1975, 27 f. Dass es sich dabei um ein zeitgenössisch übliches Verfahren handelt, zeigte bereits Margot Lindemann, Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse. Teil I (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik 5), Berlin 1969, 185. 11
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zentraler Unterschied zu den anderen untersuchten Texten vorliegt. Das reicht neben der personellen Ebene in die Darstellungsformen hinein. An der Seite der dominierenden Korrespondentinnen- und Korrespondentenberichte gruppieren sich Auszüge aus Briefkonversationen sowie statistisch-enzyklopädisch ausgeprägte Passagen. London und Paris verkörpert komprimiert die vielseitigen literarischen Formen, die um 1800 die deutsche Großstadtliteratur prägen. Es wäre zweifelsohne ein lohnenswertes Unterfangen, die verschiedenen journalistischen Darstellungsmodi einmal umfassend zu beschreiben. Angesichts der Frage nach urbaner Muße kann das nachfolgend jedoch nur punktuell geleistet werden. Schließlich ergänzen zwei weitere Protagonisten das Personalgeflecht. In den Anfangsjahren zuvorderst Karl August Böttiger, der maßgeblich an der publizistischen Konzeption mitwirkt und besonders dafür verantwortlich ist, politische und andere Karikaturen aus den beiden Metropolen, die einen großen Teil der Berichterstattung ausmachen, zu kommentieren.17 Nachdem er Weimar und das Journal 1804 verlässt, rückt der Herausgebersohn Carl Bertuch als neuer Mitarbeiter nach, der von Böttiger die Karikaturen übernimmt, ab 1808 Herausgeber ist und bisweilen selbst aus Paris berichtet.18 Durch das skizzierte personelle Netz erscheint alle acht Wochen ein Stück der Zeitschrift, wobei jeweils vier Stücke einen Band bilden und acht Stücke respektive zwei Bände einen Jahrgang. Auf diese Weise erscheinen bis 1815 insgesamt 30 Bände der Zeitschrift.19 Dass Bertuchs Zeitschrift hinsichtlich ihrer Beitragenden und Mitarbeitenden sowie bei den politischen Umständen gewissen Unwägbarkeiten unterworfen ist, zeigt sich darin, dass die Publikationsgeschichte differenziert zu betrachten ist. Sind die ersten Jahre durch ein stabiles und regelmäßiges Erscheinen geprägt, entsteht ein erster Bruch im Jahr 1804. Nachdem man in einem Heft des Jahres 1803 eine Napoleon-kritische Karikatur abdruckt, wechselt der Verlagsort nach Halle und schließlich 1808 nach Rudolstadt.20 Wohl noch prägender für die Erscheinungsgeschichte ist, dass man ab 1808 mit zusehends gestörten Nachrichtenkanälen aus London konfrontiert ist, die zu Böttiger als entscheidendem Protagonisten für London und Paris Hocks/ Schmidt, Literarische und politische Zeitschriften 1789–1805, 28. 18 Vgl. zu den personellen Wechseln Christian Deuling, „Die Karikaturen-Kommentare in der Zeitschrift London und Paris (1798–1815)“, in: Wolfgang Cilleßen/Christian Deuling/Rolf Reichardt (Hg.), Napoleons neue Kleider. Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar, Berlin 2006, 79–93; Werner Greiling, Presse und Öffentlichkeit in T hüringen. Mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für T hüringen 6), Köln 2003, 352. 19 Zum periodischen Erscheinen von London und Paris vgl. Hocks/Schmidt, Literarische und politische Zeitschriften 1789–1805, 27. 20 Vgl. Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 32. Eine recht umfangreiche Beschreibung des entsprechenden Vorgangs liefern Walter Steiner/Uta Kühn-Stillmark, Friedrich Justin Bertuch. Ein Leben im klassischen Weimar zwischen Kultur und Kommerz, Köln 2001, 110 f. 17 Vgl.
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sich in der napoleonischen Kontinentalsperre begründen.21 Das führt so weit, dass in den Jahrgängen 1812 und 1813 keine Berichte mehr aus der britischen Hauptstadt erscheinen und der „transfert triangulaire“22 ins Stocken gerät. Bereits 1811 nimmt man als Ersatz für die ausbleibende englische Berichterstattung mit Wien eine neue Großstadt in das Programm auf (Kap. 9. 3). Auf diese Umstände ist letztlich zurückzuführen, dass das Journal ab 1811 unter wechselnden Titeln erscheint. 1811 trägt es den Namen Paris, Wien und London. Ein fortgehendes Panorama dieser drei Hauptstädte, dann für zwei Jahre Paris und Wien. Ein fortgehendes Panorama dieser beiden Hauptstädte und, nachdem 1814 keine Ausgabe erscheint, 1815 leicht modifiziert wieder London, Paris und Wien. Ein fortgehendes Panorama dieser drei Hauptstädte. Die Zeitschrift endet schließlich mit einem tragischen personellen Einschnitt. Im Alter von 37 Jahren verstirbt Carl Bertuch 1815 kurz nach seiner Teilnahme am Wiener Kongress.23 Die Zeitschrift verliert ihren führenden Kopf und eine Neuauflage bleibt aus. 8. 2. Leitbilder und Neubesetzungen: Die Korrespondenten des „Tableau mouvant“ und ihre Berichte Adaption und Abgrenzung: Medienhistorische Selbstverortung Bertuchs Zeitschrift ist, wie gesagt, bei der Entstehung kein ganz neuartiges Produkt. Zuvor und parallel gibt es unter seiner Ägide das Journal des Luxus und der Moden, das unter anderem über die neuesten modischen und kulturellen Entwicklungen in den europäischen Hauptstädten berichtet. In „Plan und Ankündigung“ zu London und Paris verdeutlichen die Herausgeber Bertuch und Böttiger, wie man sich das Verhältnis der beiden Produkte zueinander vorzustellen habe. So solle sich das neue Journal „schwesterlich“ zum bereits bestehenden verhalten, „zu dem [es] gleichsam den zweyten, ausländischen T heil macht, und das weiter ausführt, was dort nur angedeutet werden konnte; aber [es] wird weder dieß, noch ein anderes Journal, das sich ähnliche Zwecke vorgenommen haben könnte, entbehrlich machen“ (London und Paris I, 1798, 9).24 Die verlagsinterne Abgrenzung deutet an, was die Beteiligten insgesamt für ihre neue Zeitschrift betonen. Es geht einerseits darum, tradierte Großstadtberichterstattung nachzuahmen, zugleich aber um eine Verbesserung derselben, die nach neuen und womöglich treffenderen Ausdrucksformen sucht. Das lässt sich daran ablesen,
21 Vgl. Lauterbach, „‚London und Paris‘ in Weimar“, 203. Zur Bedeutung der Kontinentalsperre für den reiseliterarischen Betrieb allgemein siehe Fischer, Reiseziel England, 54. 22 Greiling, Presse und Öffentlichkeit in T hüringen, 350. 23 Vgl. Brandler, „Friedrich Justin Bertuch und sein Journal“, 143; Hohenstein, Friedrich Justin Bertuch, 138. 24 Vgl. Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 30.
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wie Bertuch und Böttiger die zeitgenössische Berichterstattung aus London und Paris charakterisieren: Nie ist das Neue so schnell alt, und das Alte aller Jahrhunderte so oft neu geworden, als in dem letzten Jahrzehend, seit Revolution die Losung des südwestlichen Europas ist. Die Zeitungsschreiberey ist in den cultivierten Staaten ein mächtiger Erwerbszweig, und in einigen Ländern, wie in Frankreich, und neuerlich auch in Batavien und Helvetien, die einzige nahmhafte Literatur geworden. Das papierne Zeitalter erstickt fast unter allen Journalen und Zeitungsblättern. Und alle diese Welt- und Zeitkunde, die sich in so viele größere und kleinere Canäle ergießt, strömt eigentlich nur aus zwey Hauptquellen. London und Paris […]. Was Wunder, daß nun auch auf diese zwey Mittelpuncte, um welche sich in entgegengesetzter Richtung alle Welthändel drehen, alle, die Augen zu sehen, und Hände zu schreiben haben, ihre Blicke eben so unverwandt heften, als jene Königscandidaten den ersten Sonnenstral bewachten, dessen frühester Anblick dem Späher eine Crone brachte. Nur ist das, was gesehen und geschrieben wird, oft sehr zweydeutiger Natur; Gaukelspiele der Fee Morgan; politische Truggestalten, leere Tonnen, vom Redacteur oder dem Star zur Belustigung der gaffenden Menge hingeworfen; um das geheime Spiel desto sicherer spielen zu können. Selbst die glaubwürdigsten Berichte officieller Tageblätter, wie unbefriedigend und abgerissen sind sie, da sie höchstens nur den letzten Erfolg, selten oder nie das eigentliche Warum? und Wodurch? angeben. (London und Paris I, 1798, 3 f.)
Das Vorwort beginnt gleichermaßen mit einer Zustandsbeschreibung und einer unmittelbar daran anknüpfenden Polemik. Zunächst weisen die Herausgeber darauf hin, angesichts des beschleunigten historischen und politischen Wandels habe die Berichterstattung enorm expandiert. Die Herausgeber skizzieren „die wachsende Diskrepanz zwischen der Zeitstruktur des Gestaltwandels der nächsten Umwelt in der Großstadt und den eigensinnigen, lebensgeschichtlichen Zeitperspektiven der in ihr lebenden […] Subjekte“.25 Diese verbinden sie mit der grundlegenden Ansicht, die beiden Metropolen seien „Laboratorien der Zukunft“26, in denen sich gegenwärtig die weitere Entwicklung Europas und der Welt abzeichne. Die Hauptfaktoren dafür sind rasch identifiziert, gehen doch „von London und Paris die Schläge aus, die in Philadelphia und Calcutta, an der Newa und in der Capstadt oft eher gefühlt werden, als der empfindlichste Electrometer den politischen Beobachtern ihr Ausströmen bemerkbar machen konnte“ (London und Paris I, 1798, 4). Damit zusammenhängend weisen Bertuch und Böttiger sowohl auf die dazugehörige Publizistik als auch auf die subjektive Wahrnehmung hin, wobei sie ein autoptisches Prinzip andeuten.
25 Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 18. Die Zeitmetaphorik in der Zeitschrift und besonders in der Vorrede betont Astrid Köhler, „Weimar, ‚London Und P aris‘. T he Provincial Cultural Elite Views the Big Wide World“, in: Publications of the English Goethe Society 69,1 (1999), 52–64, 55. 26 Cilleßen/Reichardt, „Ein Journal und sein bildgeschichtlicher Hintergrund“, 7.
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Im selben Moment unterminieren sie dies jedoch ironisch, insofern sie behaupten, die Berichterstatter würden nach den neuesten Meldungen wie nach einer Krone lechzen. Die Ironie deutet auf die Polemik voraus, die sich anschließt. Was man in den einschlägigen Texten lesen könne, seien sie in- oder ausländischer Natur, bleibe letztlich defizitär, da sie sich lediglich mit Oberflächlichkeiten und Trugbildern befassen würden. Die Herausgeber charakterisieren die zeitgenössische Presse als ein Organ, das die eigentlichen politischen Machenschaften verdecke und das Lesepublikum undifferenziert informiere. Ebenso formulieren sie, die tieferen politischen Strukturen zu ergründen sei vorrangig eine Aufgabe „der ernsten Geschichte, die ihren Griffel vielleicht jetzt noch nicht einmal anzusetzen wagt“ (London und Paris I, 1798, 4). Von Anfang an geht es in Bertuchs und Böttigers Konzeption darum, sich von verschiedenen Gattungen und Berichtformen abzugrenzen und ihre jeweiligen defizitären Implikationen auszudeuten. Vor diesem Hintergrund ist es weiterführend zu lesen, inwieweit die beiden die eigene Zeitschrift skizzieren: Aber die Gemälde der Menschenmaßen, wie sie während diesen Folgeschwangeren Weltbegebenheiten in London und Paris, von tausend Begierden und Bedürfnissen gepeitscht, im buntesten Gewühl sich täglich herumtreiben, eine mit jedem Morgen, der die Gallerie des Louvres und die gothischen T hürme der Westmünsterabtey röthet, erneuerte Scene des lebendigsten Menschenlebens, kurz ein Tableau mouvant dieser beyden Städte, von geübten Beobachtern an Ort und Stelle selbst, im Moment der regesten Bewegung aufgefaßt und niedergeschrieben, periodisch aufzustellen, und dadurch dem teutschen Zeitungsleser und Beobachter der laufenden Welthändel in schneller Aufeinanderfolge einen sich immer aufs neue verjüngenden, den Zeitlauften sich aufs neue anpaßenden Grundriß der zwey T heater in die Hand zu geben, wo jetzt auf Unkosten des übrigen Europas täglich neue Haupt- und Staatsactionen einstudiert werden, dieses ist kein vergebliches, und, könnte es nur recht ausgeführt werden, kein verwerfliches, und kein langweilendes Beginnen. (London und Paris I, 1798, 4 f.)
Sogleich kommen die Herausgeber darauf zu sprechen, welchen Gegenständen sich ein wie von ihnen geplantes Journal zuzuwenden habe: den urbanen Lebensformen, dem täglichen Treiben der beiden Metropolen mit all ihren „buntesten“ Facetten. An welche literarische Konzeption es sich anschließt und zugleich überwinden möchte, ist klar ersichtlich. Merciers Tableau bildet, wie unter anderem bei Rebmanns Parisberichten, die entscheidende Bezugsgröße, wobei explizit von der modifizierten Form eines „Tableau mouvant“ die Rede ist.27 Merciers Werk ist insofern statisch ausgerichtet, als dass das geschlossene Opus einer gewissen Überblickshaftigkeit und Abgeschlossenheit nicht entbehrt. Demge27 Bereits in den 1970ern haben Hocks/Schmidt, Literarische und politische Zeitschriften 1789–1805, 27, gefordert, die Beziehung zwischen London und Paris und dem mercierschen Tableau genauer auszuloten. In der jüngeren Forschung ist eher die Verwandtschaft zwischen Tableau und London und Paris betont worden, etwa bei Graczyk, Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, 152.
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genüber arbeiten Bertuch und Böttiger für London und Paris genuin die dynamisierte Perspektive heraus. Die Herausgeber betonen für ihre eigene Vorgehensweise das periodische und sich folglich ständig erneuernde Element, das ihnen zufolge die Möglichkeit bietet, die stetig veränderten Ereignisse und Erfahrungen in den beiden Metropolen angemessen auszudrücken. Sie grenzen sich damit von Mercier ab, der mit seinem Tableau vornehmlich auf statische Darstellungsmuster zurückgreift. Bertuch und Böttiger zielen insbesondere auf die medialen Vorteile einer periodischen Zeitschrift ab. Sie schließen, wie unter anderem der Blick auf Vorläufer aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert gezeigt hat (Kap. 5), an topische Argumentationsmuster an. Bereits das Vorwort markiert die für die Zeitschrift prägenden „Bewegungs-, Geschwindigkeits- und Turbulenzmetaphern“.28 Von Beginn an führen die Herausgeber dabei erfahrene urbane Beobachterinnen und Beobachter als tragendes und geradezu unabdingbares Element an.29 So weisen Bertuch und Böttiger darauf hin, solche Korrespondentinnen und Korrespondenten müssten über eine gewisse „Übung“ verfügen, in puncto städtischer Wahrnehmung ausreichend geschult und erfahren sein. Ebenso verdeutlichen sie, was es bedeute, sich als Berichterstatterin oder Berichterstatter in einer der beiden Weltstädte aufzuhalten. Die tagtäglich wechselnden Entwicklungen nötigen es ab, in der „regesten Bewegung“ die essentiellen Gegebenheiten aufzufassen und zu Papier zu bringen.30 Markant tritt zudem eine theatrale Motivik auf, welche die Herausgeber auf die Städte sowie auf die „Haupt- und Staatsactionen“ der dortigen politischen Akteure beziehen.31 Des Weiteren setzen die Herausgeber die urbanen Beobachterinnen und Beobachter in eine direkte kommunikative Beziehung zum heimischen deutschen Lesepublikum. Letzteres ist der Fluchtpunkt, auf den hin sich das ganze Vorhaben ausrichtet. Das Verhältnis von Selbst- und Fremdwahrnehmung stilisieren die Herausgeber zu einem zentralen Gesichtspunkt. Bemerkenswert ist schließlich, mit welcher Rhetorik sie ihre Zeitschrift als notwendig und unausweichlich stilisieren. Keineswegs benennen sie bereits konkret, selbst den journalistischen Bedürfnissen nachkommen zu wollen. Sie suggerieren – klar ökonomischen Prinzipien folgend – zunächst einmal die augenscheinliche Nachfrage. Dabei räumen Bertuch und Böttiger mit möglichen Gegenargumenten auf. Wenn ein solches Vorhaben in ihrem Sinne gelänge, würden ein sehr nützliches Pressepro28 Karl Riha, „Großstadt-Korrespondenz. Anmerkungen zur Zeitschrift ‚London und Paris‘“, in: Conrad Wiedemann (Hg.), Rom – Paris – London. Erfahrung und Selbsterfahrung deutscher Schriftsteller und Künstler in den fremden Metropolen (Germanistische Symposien-Berichtsbände 8), Stuttgart 1988, 107–122, 114. 29 Vgl. Köhler, „Weimar, ‚London Und Paris‘“, 55 f. 30 Vgl. zur praktischen Umsetzung in den Parisberichten zumindest ansatzweise Lauterbach, „‚London und Paris‘ in Weimar“, 207. 31 Auf die theatrale Metaphorik der Vorrede hebt auch Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 16, ab.
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dukt und eine angenehme Unterhaltung für die Leserinnen und Leser entstehen. Oder anders gesagt: ein sich rasch und in hoher Zahl verkaufendes Produkt.32 Dass die Herausgeber nicht als Pioniere zu sehen sind, sondern sich am Erfolg ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger orientieren, zeigt der Blick auf die allgemeine Popularität von Großstadtberichten um 1800. Auch die beiden selbst verstärken den Punkt: Mit welchem Heißhunger wurde Merciers erstes Tableau von Paris verschlungen, und in vervielfältigten Ausgaben und Uebersetzungen im Süden und Norden verbreitet? Mit welcher Begierde sieht man seit zwey Jahren seinem zweyten Tableau entgegen, das sich nur darum so verspätet, weil dem kundigen Scenenmahler, seine neuesten Gemälde unter der Hand alt geworden sind? Wie reizte Friedrich Schulz durch den Glanzfirniß, den er über Paris und die Pariser noch vor 8 Jahren herzog? Wie willkommen waren Meiers Fragmente? Wie hastig greift man im Journale Frankreich zuerst nach den Briefen teutscher Männer aus Paris, weil sie den Stempel an der Stirn tragen, daß sie in keiner teutschen Studierstube geschrieben sind? als Forster Wendeborns London zuerst namenlos erscheinen ließ, und Archenholz in seiner Länder- und Völkerkunde das stückweise austheilte, was später zu Einem Gemählde sein England vereinigte, und seine Annalen fortsetzten, wie fand man sich auf einmal so gern zu Londons Lust- und Trauerscenen, Spielplätzen, Wetten, Gerichtshöfen, Hinrichtungen, Ausgelaßenheiten und Kraftäußerungen hingezaubert? (London und Paris I, 1798, 5 f.)
Bertuch und Böttiger arbeiten heraus, wie lukrativ und erfolgreich die jüngsten Schilderungen aus den Metropolen seien. Sie nennen darüber hinaus jene literarischen Größen, an denen sich das eigene Vorhaben orientieren sollte. Diese Bezüge bilden letztlich eine ambivalente Argumentationsfigur, in der die Herausgeber auf nachahmenswerte Aspekte und implizit auf die eigene, modifizierende Konzeption rekurrieren.33 So wie es sich einerseits um jene Werke handelt, die den zeitgenössischen Erfolg der Großstadtberichte besonders konturieren, sind es genau die Texte, welche die beiden mit ihrer Zeitschrift ausstechen möchten. Das machen sie anschließend stark, indem sie vermerken, „wer ein Buch darüber schreibt, setzt Grabsteine. Aber eine regelmäßig wiederkehrende periodische Schrift verjüngt sich mit dem verjüngenden, fliegt mit dem fliegenden Genius der Zeit, und liefert stets frische Gemälde, so wie sie selbst frisch ist“ (London und Paris I, 1798, 7). Mit ihrer Konzeption wollen Bertuch und Böttiger inhaltliche und formale Aspekte deckungsgleich miteinander in Einklang bringen. So wie sich das Leben in den Metropolen wandelt, müssten das Medium und die dazugehörige Be32 Die ökonomische Ausrichtung Bertuchs wurde von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen (womöglich u. a. Georg Friedrich Rebmann) teilweise sehr kritisch gesehen, wie Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 17, darstellt. 33 Vgl. Riha, „Großstadt-Korrespondenz“, 109, der konstatiert, „zwar greifen die Korrespondenten immer wieder auf ältere Beschreibungsmuster […] der ‚großen Stadt‘ zurück, doch lösen sie deren feste Schemata auf und schaffen […] neue Arrangements“.
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richterstattung variabel und anpassungsfähig sein. Dies zeugt erneut vom medienhistorischen Bewusstsein der Herausgeber. Sie nehmen bestehende mediale Formen, hier zeitgenössisch populäre Unterhaltungszeitschriften, auf und modifizieren sie für ihr eigenes publizistisches Vorhaben. Dabei ist das Konzept mehr oder minder gegen die literarischen Vorbilder gewandt – insbesondere gegen Mercier und sein Tableau –, die als konzeptionelle Folien dienen34, zugleich aber überwunden werden sollen. Das „frische Gemälde“ steht einer monografischen Darstellung diametral gegenüber und dient den Herausgebern umso mehr als eigene poetische Legitimation. Machart der eigenen Zeitschrift Verhältnismäßig uneindeutig bleibt bis dahin die konkrete Machart der eigenen Zeitschrift. Diese skizzieren die Herausgeber erst anschließend an die Forderung, ein adäquates Journal für London und Paris müsse von einer stetigen Erneuerung geprägt sein: Eine solche Zeitschrift soll von nun an unter der Aufschrift: London und Paris erscheinen. Ihr sind keine langen Ankündigungen vorausgegangen. Sie erfüllt den Wunsch vieler Einzelnen. Sie steht keinem andern Journale im Wege. Sie schließt sich an alle an, die statistischen, politischen oder weltbürgerlichen Inhalts sind. Sie will bloß vergnügen, scherzen, erzählen, was heute in Paris, gestern in London zu sehen war. Sie hütet sich vor der Politik, als vor einer Sphinx, die täglich die Söhne und Töchter der Böotier frißt. Alle Staatsverhandlungen, alle politischen Raisonnements, alles, was in die zwey großen Hauptrubriken, Krieg und Frieden, gehört, liegt immer außer ihrem Plane. (London und Paris I, 1798, 7)
Erneut zeigt sich, wie sehr die Herausgeber sich sowohl affirmierend als auch abgrenzend gegenüber früheren und konkurrierenden Großstadtberichten verhalten. Einerseits betonen sie, dass man sich an verschiedene Genres anlehnen wolle, dass Statistik genauso wie Kosmopolitisches von Interesse sei. Die Herausgeber verdeutlichen, dass sie mit dem zeitgenössischen Markt intensiv vertraut seien und daher die Lesebedürfnisse ihres Publikums besonders herausragend erfüllen könnten. Gleichzeitig grenzen sie sich jedoch in zweierlei Hinsicht ab. Zum einen merken sie forciert an, die geplante Zeitschrift überkreuze sich mit keinem anderen Produkt, wodurch sie an eigenem und unabhängigem Wert gewänne. Außerdem weisen Bertuch und Böttiger darauf hin, man wolle sich von der politischen Berichterstattung grundsätzlich fernhalten. Dass man dieses Vorhaben nicht unumstößlich einlöst, ist an der oben genannten zensorischen Episode symptomatisch erkennbar. Wie diverse Einzelanalysen aufzeigen können, sind auch die Berichte über urbane Lebensformen sowie den öffentlichen Raum zumindest stellenweise von politischen Einflüssen geprägt. Der in der Vorrede getätigte an34
Dies betont in erster Linie Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 15.
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tipolitische Hinweis dagegen ist wohl vorrangig als präventive Maßnahme gegenüber einer potenziellen zensorischen Überwachung zu lesen.35 Darüber hinaus dienen die konzeptionellen Rahmungen dazu, der neuen Zeitschrift einen besonderen Anstrich zu verleihen und ihre Ausnahmestellung im Großstadtdiskurs um 1800 zu markieren. Nachdem die beiden Herausgeber weitergehend das Verhältnis des Journals zur politischen Sphäre genauer bestimmen – mehrfach betonen sie, dass man an politischen Tiefenstrukturen interessiert sei, geringer indes am Oberflächlichen und Tagesgeschehen –, nennen sie einige weitere Merkmale, die zu erfüllen seien. Bedeutend für die Gesamtkonzeption sei der Anspruch, „sie wird […] gelehrt seyn“ (London und Paris I, 1798, 8), der den kulturellen Hintergrund pointiert charakterisiert. London und Paris ist ein Periodikum, das sich in erster Linie an ein gebildetes Bürgertum richtet, das in der Nachfolge des aufgeklärten Zeitalters interessiert ist, gelehrt und gleichzeitig unterhaltend über die Metropolen unterrichtet zu werden.36 Dies wiederum ist erneut inhaltlich und medial zu verstehen. Indem die Herausgeber eine der zeitgenössisch bedeutendsten Medienformen, die publizistische Berichterstattung, aufgreifen, schließen sie – obwohl sie Modifikationen vornehmen – an den bereits bestehenden Literaturmarkt an. Bei aller Unterhaltungsfunktion37, bei allem ‚Vergnügen, Scherzen, Erzählen‘ bleibt letztlich doch die Zielsetzung, einen intellektuellen und gebildeten Diskurs über London und Paris zu führen. Daher ist es treffender, mit Werner Greiling von „Unterhaltungs-, Informationsund Orientierungsbedürfnissen“38 zu sprechen, die das Journal befriedigen will. Mit welchen journalistischen und literarischen Mitteln die Herausgeber dies zu bewerkstelligen versuchen, betonen sie gegen Ende ihres Vorworts:
35 Zur Bedeutung der napoleonischen Zensur für die deutsche Publizistik um 1800 vgl. T homas Birkner, Das Selbstgespräch der Zeit. Die Geschichte des Journalismus in Deutschland 1605–1914 (Öffentlichkeit und Geschichte 4), Köln 2012, 92 f. Dass Zeitschriften, die sich vordergründig unpolitisch gerieren, oftmals doch Medien politischer Meinungsbildung sind, beschreibt für den untersuchten Sachverhalt Haikala, Britische Freiheit, 17. 36 Vgl. zum Lesepublikum des Journals Christian Deuling, „Karikatur und Kommentar. Die Zeitschrift ‚London und Paris‘ (1798–1815)“, in: Karikatur und Kommentar 7 (2005), 277–296, 280; Greiling, Presse und Öffentlichkeit in T hüringen, 358. Beide weisen auf die eindimensionale Orientierung an der in erster Linie bürgerlichen, teils adligen Leserschaft hin. 37 Entsprechend ist die Funktion wiederholt betont worden, so u. a. von Deuling, „Karikatur und Kommentar“, 278; Lauterbach, „‚London und Paris‘ in Weimar“, 204. Zugleich zeigen die einführenden Worte der Redaktion, dass die T hese, Zeitschriften wie London und Paris „dienten ausschließlich der Unterhaltung“, wie Ellen Riggert, Die Zeitschrift „London und Paris“ als Quelle englischer Zeitverhältnisse um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts (London im Spiegel ausländischer Berichterstattung), Göttingen 1934, 8, formuliert hat, zu relativieren ist. 38 Greiling, „Kultur aus den ‚zwey Hauptquellen‘ Europas“, 153.
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Sie macht nur Einen Anspruch, aber auf diesen hält sie auch, wie das arme Rosenmädchen zu Salancy auf ihren Kranz. Sie will wahr seyn. Sie will treu geben, was ein paar gesunde und nicht ganz ungeübte Augen an Ort und Stelle selbst, täglich wo anders herumgetragen sehen können. Zwey Männer, beyde Teutsche, beyde nicht seit heute oder gestern in jenen Tummelplätzen der weltbeherrschenden Diode, haben sich vereinigt, treue Berichte regelmäßig einzuschicken, und, wo ihnen selbst die Allgegenwart versagt ist, sich durch Wohlunterrichtete zu vervielfältigen. Unsere Zeitschrift liefert also lauter Originalaufsätze, zu welchen sich der Herausgeber nur hier und da eine auf nähere Beziehungen deutende Anmerkung und Erläuterung zu setzen erlauben wird, und als Belege zu diesen Aufsätzen die bedeutendsten Plane und Zeichnungen, die sinnreichsten Carrikaturen und Spottbilder und die gangbarsten Songs und Vaudevilles, die in den beyden Hauptstädten die Neuigkeit des Tages ausmachen. (London und Paris I, 1798, 9)
Bertuch und Böttiger heben insbesondere auf einen Punkt ab, der für die Analyse urbaner Wahrnehmungsformen von herausragendem Interesse ist. Die Beobachterfiguren spielen in der Zeitschrift die zentrale Rolle. Die Wahrnehmung der Großstädte London und Paris durch das deutsche Lesepublikum macht erst ihre Vermittlung möglich, die wiederum auf eine persönliche Inspektion zurückgeht. London und Paris steht, das zeigen diese Forderungen mehr als deutlich, ebenso wie die anderen untersuchten Texte im Zeichen eines umfassenden Autopsiegebotes. Statt sich aber wie die Reisenden Arndt, Kotzebue und Rebmann nur auf eine Anschauung verlassen zu müssen, eröffnet die umfangreiche Auslandskorrespondenz neue Wege. Wie im vorherigen, eher allgemein gehaltenen Abschnitt machen die Herausgeber zunächst die unmittelbaren und tagesaktuellen Attribute stark. So wie sie eingangs betonen, ein solches Vorhaben könne genuin nur eine Zeitschrift erfüllen39, transponieren sie diesen Konnex nun auf eine andere Ebene. Die T hemen hätten sich demnach dem stetigen Wandel in den beiden Metropolen anzupassen. Vorgängig sei dem, dass die Korrespondentinnen und Korrespondenten selbst in der Lage seien, die raschen Wechsel im urbanen Getriebe angemessen zu erfassen. Damit grenzen die Herausgeber sich erneut von der Leitfigur Mercier und seinem Tableau ab, der letztlich eine vergleichsweise statische Darstellung von Paris vorlegt. Mit regelmäßigen Berichten, die mediengeschichtlich durchaus an die um 1800 populäre Briefkultur erinnern40, heben sie auch formal auf die ständig variable Großstadt ab. Markant ist, wie eng Bertuch und Böttiger Autopsie und Authentizität verbinden. Die Herausgeber betonen konstant, dass die Korrespondentinnen und Korrespondenten regelmäßige, frische und reflektierte Eindrücke liefern könnten und heben ergänzend die ma39
Vgl. Greiling, „Kultur aus den ‚zwey Hauptquellen‘ Europas“, 144. Vgl. zur mediengeschichtlichen Verbindung von Brief und Zeitschrift Faulstich, Die bürgerliche Mediengesellschaft, 225. Ebenso weist Greiling, „Kultur aus den ‚zwey Hauptquellen‘ Europas“, 150, darauf hin, in London und Paris gestatte „die häufig gewählte Briefform […] eine sehr persönliche Sicht auf die berichteten Sachverhalte“. 40
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terielle Dimension hervor. So ist zu lesen, die Zeitschrift liefere ausnahmslos „Originalaufsätze“ und verstärke ihre fundierten Informationen zudem durch anschauliches Material wie Stadtkarten und andere originale Dokumente.41 Tatsächlich zeigt ein systematischer Blick in die langjährige Berichterstattung, dass die Korrespondentinnen und Korrespondenten ihre literarischen Darstellungen oftmals um solche Beiwerke ergänzen.42 Grundlegend formulieren die Herausgeber damit einen Konnex, der für die einzelnen Artikel prägend ist und der ein Zusammenspiel impressiver und informativer Elemente abbildet. Darüber hinaus erheben sie einen Anspruch, der an das gelehrsame Postulat anschließt. Die beiden Hauptkorrespondenten – gemeint sind Hüttner und Winckler – sind keine, hier liegt ein gewichtiger Unterschied zu allen anderen untersuchten Quellen, Reisenden. Sie sind vielmehr zwei Berichterstatter, die seit Längerem in den Metropolen weilen und sich somit anderweitig zu den dortigen Lebensformen in Bezug setzen. Ihre Wahrnehmungen sind biografisch deutlich weniger durch die herausgearbeitete ‚doppelte Fremdheit‘ bestimmt, wenngleich diese hinsichtlich des intendierten Lesepublikums auch für ihre Berichterstattung eine mitunter tragende Rolle spielt. Sie ist, angesichts der personellen und biografischen Differenzen zu anderen Texten, auf eine andere Ebene verschoben. Der Verweis auf urbanes ‚Expertentum‘ erneuert zugleich den Primat des Authentischen. Bertuch und Böttiger betonen ihn gesondert, indem sie den ‚originalen‘ Textcharakter eigens hervorheben. Er steht aber ebenso für die eingeforderte Gelehrsamkeit. Hüttner und Winckler verkörpern für London und P aris personell das Verlangen nach „überprüften Informationen, erfahrungsgesättigten Berichten und sicheren Urteilen“.43 Selbst wenn die Expertise im Zweifel pragmatisch auf Dritte ausgelagert ist, bleibt sie dennoch zentral und konstitutiv.44 Schließlich verweisen Bertuch und Böttiger auf die prominenten Bildmedien in der Zeitschrift, insbesondere auf die Karikaturen, die man zahlreich abdruckt und kommentiert. Auch an diesem Schwerpunkt lässt sich – gemessen daran, dass sie aus den Städten selbst stammen – das Verlangen nach Authentizität erkennen.
41 Vgl. zum Authentizitätspostulat der Zeitschrift Cilleßen/Reichardt, „Ein Journal und sein bildgeschichtlicher Hintergrund“, 7. Zur Bedeutung von Stadtkarten, vor allem � Textihrer „Übertragung auf fiktionale Texte“, vgl. Corbineau-Hoffmann, „Stadt-Plan � Plan?“, 73. 42 Dass ein umfangreicher Bild- und Dokumentteil prägend für zeitgenössische „Modeund Unterhaltungszeitschriften“ ist, zeigt Faulstich, Die bürgerliche Mediengesellschaft, 247. 43 Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 564. 44 Vgl. zur Integration von ‚Dritten‘ in die Großstadtberichterstattung um und nach 1800 Fischer, Reiseziel England, 223. Er arbeitet heraus, es habe sich um ein typisches Merkmal solcher Texte gehandelt.
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IV Berichte aus London und Paris
Die Hauptkorrespondenten und ihre Berichte Auskünfte zu den Hauptkorrespondenten sind spärlich zu finden, vermitteln aber grob das Entstehungsumfeld ihrer Beiträge. Während für Hüttner immerhin eine ältere Monografie zur Verfügung steht45, liegen für Winckler deutlich weniger Informationen vor. Beiden Korrespondenten ist grosso modo ihr sozialer Status gemeinsam. Auf der einen Seite steht Johann Christian Hüttner, ein deutscher Reise- und Tagesschriftsteller, der insbesondere mit seinen Englischen Miszellen (1800–1807) auf sich aufmerksam macht. Die in 25 Bänden erschienenen Anekdoten aus der englischen Hauptstadt bilden ein Pendant zu seinen Beiträgen in London und Paris. Wie bereits angedeutet, ist Hüttner ein enger Bekannter Bertuchs und Böttigers, der an der Entstehung des Journals maßgeblich mitwirkt. Nachdem Hüttner in den 1790ern eine Gesandtschaftsreise nach China begleitet hat, zieht er nach seiner Rückkehr in Richtung London weiter, arbeitet dort vorrangig als Korrespondent für verschiedene Zeitschriften und agiert ab 1809 als Dolmetscher im Ministerium für auswärtige Angelegenheiten.46 Hier deutet sich an, dass Hüttner Teil jener Gesellschaft ist, über die er im Journal berichtet.47 Dies rahmt seine Korrespondenzen aus der Metropole entscheidend. Den englischen Hauptkorrespondenten ergänzt Friedrich T heophil Winckler aus Paris, über den ungleich weniger bekannt ist. Wie Gerhard Kaiser und Christian Deuling aufgezeigt haben48, arbeitet er in der französischen Hauptstadt als Museumsassistent für Louis-Aubin Millin (1759–1818), der unter anderem als Abgeordneter der Archäologie in der Nationalbibliothek wirkt. Dank Millin hat Winckler Zugang zu gleich zwei Salons, überdies ergibt sich durch den Mäzen ein reger Kontakt zu Böttiger. Auf diese Weise dürfte Winckler letztlich als Pariser Hauptkorrespondent verpflichtet worden sein. Dass er darüber hinaus auf vielfältige Weise kulturell aktiv ist, zeigen schlaglichtartig Beiträge für das Magasin encyclopédique (1795–1816) sowie sein Mitwirken an Millins Dictionnaire des beaux-arts (1806).49 Auch eine bemerkenswerte di45 Paul Gedan, Johann Christian Hüttner. Ein Beitrag zur Geschichte der Geographie, Leipzig 1898. Gedans Abhandlung ist hinsichtlich Hüttners Biografie hilfreich, widmet sich jedoch nur peripher seiner literarischen Tätigkeit. 46 Friedrich Ratzel, „Hüttner, Johann Christian“, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Leipzig 1881, 480. Hüttner wirkt nicht nur für Bertuchs London und Paris, sondern beispielsweise auch für den Neuen Teutschen Merkur, vgl. Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 550. 47 Zum Aufenthalt von Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten in ihnen wohlvertrauten sozialen Umgebungen vgl. Diezinger, „Paris in deutschen Reisebeschreibungen“, 286. 48 Zu den Informationen über Winckler vgl. Deuling, „Early Forms of Flânerie“, 99; Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 550. 49 Zu Wincklers gesellschaftlicher Integration vgl. Köhler, „Weimar, ‚London Und P aris‘“.
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rekte Verbindung zu Hüttner gibt es: Winckler übersetzt dessen Reisebericht aus China.50 Für die Korrespondenten lässt sich jeweils feststellen, dass sie aufgrund ihrer (beruflichen) Tätigkeiten umfänglich in den Londoner und Pariser Kulturbetrieb involviert sind. Durch ihre gesellschaftliche Stellung sind sie für Bertuchs Journal eine fruchtbare Quelle. Sie können unmittelbar auf die benötigten Informationen aus erster Hand zugreifen und haben Zugang zu verschiedenen Gesellschaftsschichten. Überdies zeigt sich hier der wesentliche Unterschied zu beispielsweise Rebmann oder Arndt. Handelt es sich bei den beiden um Reiseschriftsteller, so sind Hüttner und Winckler anderweitig in die städtischen Abläufe eingebunden und verankert. Das verleiht den einzelnen Beiträgen eine andere Rahmung. Sie sind von gründlichen Kennern der Metropolen verfasst. Selbst wenn diese Integration ins Stadtleben nicht zwingend als thematisches Leitmotiv auftritt, so ist der rahmende Unterschied zu ihren reisenden literarischen Mitstreitern offenkundig. Mit ihren Beiträgen sind Hüttner und Winckler letztlich ein tragendes Stück in der frühen deutschen Auslandskorrespondenz, die jüngst Sonja Hillerich umfassend beleuchtet hat.51 Fasst man die redaktionelle Konzeption von London und Paris zusammen, so ergeben sich gleich zwei Aspekte, unter denen eine Analyse des Paradigmas ‚Urbane Muße‘ von besonderem Interesse ist. Zum einen ist es, wie bei Rebmann, die von Anfang an herrschende Absicht, man wolle sich besonders den urbanen Lebensformen in ihrer stetigen Wandelbarkeit widmen. Zum anderen lässt sich strukturell erkennen, dass die Beobachterfiguren für das journalistische Produkt zentral sind. Dass die Korrespondentinnen und Korrespondenten in Bertuchs Zeitschrift über weite Strecken zu Fuß durch die Metropolen gehen und sich auf Spaziergängen den urbanen Lebensformen und Verhaltensmustern widmen, steht in direktem Zusammenhang mit der journalistischen Konzeption. Zugleich bleibt festzuhalten, dass dies genuin unter verschiedenen Bedingungen stattfindet. Entscheidend ist, dass sich die Korrespondentinnen- und Korrespondentenberichte mit ihrer periodischen Qualität von den anderen untersuchten Texten unterscheiden. Gleichermaßen ist die Sonderstellung zu bedenken, welche die Korrespondentinnen und Korrespondenten einnehmen. Im Gegensatz zu allen anderen Beobachterfiguren sind sie, zumindest in den meisten Fällen, eben keine fremden Reisenden, sondern leben dauerhaft in den Metropolen.
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Vgl. Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 550. Hillerich, Deutsche Auslandskorrespondenten im 19. Jahrhundert. Die Entstehung einer transnationalen journalistischen Berufskultur (Pariser Historische Studien 110), Berlin/Boston 2018. Zur Entwicklung des frühen Journalismus um 1800 siehe zudem Birkner, Das Selbstgespräch der Zeit. 51 Sonja
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Struktur und T hemen der Zeitschrift Bevor sich der Blick auf die literarisierten Spaziergänge richtet und deren breite Auffächerung in London und Paris ausdifferenziert wird, gilt es, die konkrete Umsetzung dessen näher zu beleuchten, was Bertuch und Böttiger mit ihren einleitenden Worten einfordern. Das Inhaltsverzeichnis des ersten Bandes zeigt, dass eine angemessene Frage kaum lauten kann, über was die Korrespondentinnen und Korrespondenten berichten, sondern vielmehr, über was sie eigentlich keine Auskunft geben. So finden sich allein im ersten Band heterogene Beobachtungsgegenstände wie die Schwierigkeit der englischen Aussprache, die infla tionären Preissteigerungen in englischen Gasthöfen, die neuesten Wachsbusen, ein Bericht über den Eintritt eines Korrespondenten in London, öffentliche Versammlungsplätze in Paris, eine Promenade nach Longchamp, ein Artikel zur Pariser Festkultur oder ausführliche Darstellungen zum Straßenräuberwesen der französischen Hauptstadt (vgl. London und Paris I, 1798, Inhaltsverzeichnis). Einerseits ist daran erkennbar, dass die inhaltliche Vielfalt sich schwer fassen lässt und scheinbar keinen denkbaren Beobachtungsgegenstand übersieht. Die thematische Vielfalt ließe sich an allen anderen Bänden von London und Paris ebenfalls darstellen und ist eine konstitutive Eigenschaft des Journals. Strukturelles Merkmal sind innerhalb der Diversität sprunghafte thematische Wechsel, die durchaus an Merciers Tableau erinnern. Das „Prinzip der lockeren Reihung“52, das sich als „Verfahren der Bilderkette“53 deuten lässt, vermittelt den Eindruck, „die Berichte über die beiden Hauptstädte setzen sich aus kleineren Artikeln in bunter Folge ohne einheitliche Linie zusammen“.54 So wie die urbane Topografie im Mittelpunkt steht55, sind andererseits die tagesaktuellen Ereignisse besonders relevant. Hinzu kommen schließlich Räsonnements über die allgemeine Lebenskultur, die sich vorrangig mit einer sozialen Ausdifferenzierung verbinden. Gerade verschiedene Personengruppen, und damit verbunden ihre unterschiedlichen Lebensformen, stellen die Korrespondentinnen und Korrespondenten ins thematische Zentrum.56 Die zeitgenössisch eifrig betriebene „Inventarisierung des gesellschaftlichen […] Lebensraumes“57 ist also auch genuiner Bestandteil von London und Paris.
Die Beschreibung der „Grossen Stadt“, 66. Aber schickt keinen Poeten nach London, 16. 54 Hohenstein, Friedrich Justin Bertuch, 138. 55 Hier ist Rihas, „Großstadt-Korrespondenz“, 109, T hese, „[d]ie großen – bedeutsamen – Baulichkeiten der beiden Großstädte […] treten in den Hintergrund“, teilweise zu relativieren. Obwohl in der Zeitschrift zusehends urbane Lebensformen eine markante Rolle einnehmen, bleibt die topografische Darstellung der beiden Metropolen weiterhin präsent. 56 Vgl. Riggert, Die Zeitschrift „London und Paris“, 70. 57 Hentschel, „Revolutionserlebnis und Deutschlandbild“, 321. 52 Riha,
53 Brüggemann,
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Auffällig ist von Beginn an, dass die Inhalte nicht auf „die neuesten Manifestationen der modernen bürgerlichen Lebenswelt“58 beschränkt bleiben, sondern gleichzeitig Unterschichten in den Blick nehmen.59 Insbesondere unter letztgenanntem Gesichtspunkt hebt sich die Berichterstattung durchaus deutlich von vielen anderen zeitgenössischen Zeugnissen ab, die soziale Abgründe eher ausblenden. Die inhaltliche Ausprägung entspricht jenen Vorgaben, welche die Herausgeber eingangs formulieren: Aktualität, Autopsie und eine breite Auffächerung der Inhalte. Für die verschiedenen Beobachtungsformen lässt sich vorerst konstatieren, dass wie bei Rebmann Form und Inhalt eng miteinander korrelieren. Dominiert dort ein fragmentarisches Prinzip, entsteht für London und Paris ein abweichendes Bild. Die grundverschiedenen Gattungsmechanismen ermöglichen, ein viel umfassenderes und periodisch vielfältiges Bild der Metropolen zu liefern, selbst wenn sich die konkreten Beschreibungstechniken literarisch ähneln. Die breitere Aufstellung resultiert dabei aus dem größeren Textumfang und der Periodizität und ist darüber hinaus auf die verschiedenen Korrespondentinnen und Korrespondenten zurückzuführen. In London und Paris, ist zu resümieren, verbinden sich die Anforderungen und Möglichkeiten einer Zeitschrift sehr eng mit den Wahrnehmungsformen, die für die beiden Metropolen fruchtbar gemacht werden. Dies weist auf den Gesichtspunkt voraus, durch den die meisten der disparat erscheinenden Beiträge miteinander verknüpft sind. Obwohl sie thematisch in sehr verschiedene Richtungen weisen, lassen sie sich weitgehend unter der Leitkategorie ‚urbane Lebensformen‘ subsumieren. In erster Linie geht es den Korrespondentinnen und Korrespondenten darum, die Wirkmechanismen, das wirbelnde großstädtische Treiben in eine strukturierte Ordnung zu bringen und ihre alltagskulturellen Ausformungen differenziert zu beschreiben. Der Versuch wäre genauso an allen anderen Stücken und Bänden aufzeigbar und sticht als allgemeine Eigenschaft von London und Paris hervor.60 Das schließt nicht aus, dass bisweilen davon abweichende Artikel auftreten, doch die journalistische Leitlinie sind urbane Lebensformen und ihre Wahrnehmung durch die Beobachterinnen und Beobachter. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeitschrift noch einen weiteren sehr bedeutenden inhaltlichen Bestandteil hat. Im Anschluss an die Berichte über urbane Lebensformen – teilweise sogar darin inkludiert – finden sich jeweils die in der Vorrede angekündigten tagesaktuellen Karikaturen sowie andere kleinkünstlerische Formen, im ersten Stück beispielsweise Vaudevilles und Anschlagzettel. Diese Abschnitte von London und Paris zeigen am deutlichsten, 58 Kaiser,
„Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 571. Vgl. Banerji/Donald, Gillray Observed, 8. Gleichwohl bemerkt Lauterbach, „‚London und Paris‘ in Weimar“, 207, „auch wenn der Blick auf Armut und soziales Elend fällt, so geschieht dies nicht aus sozialen Engagement, sondern gleichsam um die dunklen Farben für das ‚tableau mouvant‘ zu liefern, letztlich also in ästhetisierender Absicht“. 60 Vgl. Greiling, Presse und Öffentlichkeit in T hüringen, 354. 59
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dass die angekündigte politische Distanz eine Illusion bleibt. Das geht, so haben verschiedene Beiträge der Forschung gezeigt, weit über den Gesichtspunkt hinaus, dass es „praktisch […] einfach nicht zu umgehen“ ist, „daß die Politik ihre Spuren hinterließ“.61 Das Eingreifen der französischen Zensur mag als vielleicht wirkmächtigster Beleg dafür dienen, dass Bertuchs Journal letztlich trotz aller Unterhaltungsfunktion, die das Politische sowieso inkludieren kann, ein „Organ prinzipiell offener protopolitischer Meinungsbildung“62 ist. Die „politisch, gesellschaftlich und ökonomisch meinungsbildende Tendenz“63 sowie ihre verschiedenen Graduierungen sind daher in jenen Berichten besonders zu beachten, die vordergründig lediglich der Topografie gewidmet sind. Stand der Forschung Betrachtet man die bisherige Forschung zu Bertuchs Zeitschrift, liegt zwischen der Analyse der karikaturlastigen Zeitschriftenteile und den eher alltagskulturell ausgerichteten Passagen ein klares Ungleichgewicht vor. So sehr die Karikaturen, unter anderem hinsichtlich ihrer politischen Aussagekraft, in den Mittelpunkt der eingehend analysierenden Beobachtungen rücken64, tritt die urbane Lebenskultur in den Hintergrund. Monografisch aufgearbeitet hat sie lediglich Ellen Riggert in der älteren Forschung65 – eine Arbeit, die in einer deskriptiv gehaltenen Darstellung nur die Londonberichte behandelt. Zwar sind einzelne kürzere Studien zu nennen, die sich durchaus intensiv mit der Großstadtwahrnehmung befassen – zuvorderst ein entsprechendes Kapitel in einer Monografie von Heinz Brüggemann66 –, weitgehend überwiegen jedoch kursorische Aussagen. Das ist insofern widersprüchlich, als dass die Interpretinnen und Interpreten unisono unterstreichen, London und Paris habe im Bereich alltagskultureller Darstellung eine besondere und betonenswerte Leistung erbracht. So hält beispielsweise Gerhard Kaiser fest, Bertuch sei ein „Beförderer einer Wahrnehmung von Alltag und Gegenwartsgeschichte, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer weniger 61 Brandler,
„Friedrich Justin Bertuch und sein Journal“, 141. Gerhard R. Kaiser, „‚Volksgeist‘ und Karikatur in Bertuchs Zeitschrift ‚London und Paris‘“, in: Ruth Florack (Hg.), Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 76), Tübingen 2000, 259–288, 281. 63 Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 22. 64 Neben den bereits genannten Titeln wären noch anzuführen Gretel Wagner, „James Gillrays Karikaturen in Deutschland. Druckvorlagen für die Weimarer Zeitschrift London und Paris“, in: Adelheid Rasche (Hg.), Die Kultur der Kleider. Zum hundertjährigen Bestehen der Lipperheideschen Kostümbibliothek (Sammlungskataloge der Kunstbibliothek), Berlin 1999, 59–76; Wolfgang Cilleßen/Christian Deuling/Rolf Reichardt (Hg.), Napoleons neue Kleider. Pariser und Londoner Karikaturen im klassischen Weimar, Berlin 2006. 65 Riggert, Die Zeitschrift „London und Paris“. 66 Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London. 62
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abweisen ließ“67, gewesen und habe die „deutsche Leserschaft jahrzehntelang mit Informationen über praktische oder ästhetische Verbesserungen der Lebenswelt in den westlichen Metropolen“68 versorgt. In dem Zusammenhang ist auf Kaisers Argument aufmerksam zu machen, Bertuchs Zeitschrift habe sich maßgeblich am von Montesquieu (1689–1755) abgeleiteten Konzept des ‚Volksgeistes‘ orientiert.69 Christian Deuling weist zudem darauf hin, „die Nationalklischees werden dabei nicht entkräftet, sondern nur gedämpft, um in ihren Grundaussagen bestätigt zu werden“.70 Von dieser Überlegung ausgehend argumentieren mehrere Beiträge, inwiefern eine fremdnationale Grundhaltung des Journals auszumachen sei. So sei erkennbar, dass die Zeitschrift wesentlich deutsche Anglophilie repräsentiere71, zugleich aber ein phasenweise durchaus positives Frankreichbild aufscheine.72 Bemerkenswert ist, dass die letztgenannten positiven Aspekte vorrangig mit den urbanen Phänomenen korreliert werden, während für die politisch-zeitgeschichtliche Perspektive klar ein polares Verhältnis von Anglophilie und Frankreichskepsis festzustellen sei.73 Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass sich London und Paris als Medium zu erkennen gibt, das die Hauptstädte miteinander vergleicht und sie derweil „nicht nur als militärische, sondern auch als politische, gesellschaftliche und kulturelle Alternativen“74 versteht. Was an dieser Stelle über allgemeingültige Aussagen hinaus fehlt, ist wie bei allen untersuchten Texten eine genauere Auseinandersetzung mit den spezifischen Wahrnehmungsformen sowie den damit einhergehenden literarisch-narrativen Techniken. Allein ein Blick in die dreißig Inhaltsverzeichnisse deutet an, dass in Bertuchs Journal die Wahrnehmungsform des urbanen Spaziergangs eine tragende Rolle spielt – zumindest, wenn es um die topografische Erkundung des urbanen Lebensraums geht. So betiteln die Korrespondentinnen und Kor67 Kaiser,
„‚Volksgeist‘ und Karikatur“, 279. „Friedrich Justin Bertuch“, 26 f. 69 Vgl. Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 561; Kaiser, „‚Volksgeist‘ und Karikatur“, 264. 70 Deuling, „Karikatur und Kommentar“, 279. 71 Vgl. Deuling, „Aesthetics and Politics in the Journal London und Paris“, 104. Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 302, argumentiert sogar, bereits der Titel gebe „nicht eine neutrale Reihen-, sondern eine Rangfolge wieder, zumal in der Regel über Paris ausführlicher als über London gehandelt wurde“. 72 Vgl. Greiling, Presse und Öffentlichkeit in T hüringen, 357; Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 557. Kaiser weist im selben Atemzug darauf hin, man müsse der Zeitschrift sehr wohl eine „revolutionskritische[] Tendenz“ (550) attestieren. 73 Vgl. vorwiegend Deuling, „Karikatur und Kommentar“, 283; Kaiser, „‚Volksgeist‘ und Karikatur“, 268–270; Ian Maxted, „Bertuch und England. Vorbild oder Nachklang?“, in: Gerhard R. Kaiser/Siegfried Seifert (Hg.), Friedrich Justin Bertuch (1747–1822). Verleger, Schriftsteller und Unternehmer im klassischen Weimar, Tübingen 2000, 409–416. Zum Lob der französischen Urbanität siehe Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 557. 74 Kaiser, „Friedrich Justin Bertuch“, 300. 68 Kaiser,
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respondenten ihre Artikel mehrfach explizit als „Promenaden“ oder „Spaziergänge“. Das verbindet sich mit dem topografischen Schwerpunkt, der die Zeitschrift durchzieht. Auf die Bedeutung dieser Passagen weist vor allem Heinz Brüggemann mit seiner vorsichtigen T hese, „gelegentlich lesen sich ihre Texte wie Notizen von Flaneuren avant la lettre“75, hin. Jüngst hat Christian Deuling einen Artikel vorgelegt, in dem er frühe Formen der Flanerie in London und Paris analysieren möchte. Sein Beitrag bleibt jedoch in zweierlei Hinsicht defizitär. Zum einen verschweigt er, was er unter ‚Flanerie‘ eigentlich versteht. Lediglich identifizierte „innovative forms of writing“76 führt er als Kriterium an, eine genauere Einordnung derselben bleibt aus. Zweitens beschränkt Deulings Analyse sich auf eine rein benennende und deskriptive Ebene. Eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Textstellen bleibt weitgehend aus. Die beiden fragmentarischen Hinweise sind allemal erste Signale, dass Erzählmuster der Flanerie für das Journal zumindest stellenweise konstitutiv sind. Es versteht sich, dass dieser Befund wiederum kontextuell einzuordnen bleibt. Zum einen ist darauf zu verweisen, dass diese Darstellungsarten nur eine von diversen Wahrnehmungsformen sind, die literarisch Eingang finden. So stehen eher enzyklopädische Abschnitte neben politisch-philosophischen Räsonnements oder den ausführlichen Beschreibungen und Interpretationen der zeitgenössischen Karikaturen, die sich vor allem eng an Georg Christoph Lichtenbergs Hogarth-Erläuterungen orientieren.77 Anders gesagt: Flanerieartige Rundgänge durch London und Paris sind im Journal präsent, bilden aber nicht dessen einzigen Wesenskern. Daher sind die folgenden Analysen der urbanen Spazier- und Rundgänge stets gesamtheitlich einzuordnen. Sie können keineswegs London und Paris als Ganzes darstellen oder gar erklären. Über die konzeptionelle Ebene hinaus ist außerdem zu erkennen, dass selbst jene Passagen, in denen urbane Spaziergänge als maßgebliche Wahrnehmungsform auftreten, als heterogen und erzählerisch vielfältig zu erachten sind. Die folgenden Abschnitte sehen vor, genau diese Heterogenität zu erfassen, innerhalb derselben jedoch verschiedene Erzähl- und T hemenkomplexe zu identifizieren, in denen sich Spielarten urbaner Muße besonders ablagern. Zu diesem Zweck sind die weiteren Ausführungen zu London und Paris zweigeteilt. In den nächsten beiden Unterkapiteln (Kap. 8. 3/8. 4) geht es darum, die wesentlichen narrativen Muster des Journals zu elaborieren. Sie zeichnen sich zuvorderst durch zwei Aspekte aus. In London und Paris, so möchte ein erster Abschnitt aufweisen, sind die flanerieartigen Wahrnehmungsmuster in eine erzählerische Struktur eingewoben, die impressive und informative respektive autoptische und enzyklopädische Elemente miteinander verbindet (Kap. 8. 3). Den im VorAber schickt keinen Poeten nach London, 208. „Early Forms of Flânerie“, 107. 77 Vgl. Banerji/Donald, Gillray Observed, 25. 75 Brüggemann, 76 Deuling,
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wort geäußerten Absichten folgend, sowohl unterhaltende als auch gelehrte Eindrücke liefern zu wollen, sind insbesondere die Darstellungen des Londonkorrespondenten Hüttner sowie einige Berichte über die Pariser Boulevards durch ein gemeinsames Erzählmuster gekennzeichnet. In ihnen geraten kontingent in den Großstädten gewonnene Impressionen in einen engen Zusammenhang damit, das Lesepublikum fachkundig und gelehrt über das Erlebte informieren zu wollen. Dabei, so lässt sich darstellen, spielen besonders verschiedene Wahrnehmungsmuster eine herausragende Rolle, die sich durch eine zufallsgeleitete und prinzipiell für alles offene Perzeption auszeichnen. Im Anschluss an dieses grundlegende Erzählmuster ist darüber hinaus bedeutsam, dass sich die beschriebenen Wahrnehmungen insgesamt in verschiedene ‚Bilder der Großstadt‘ eingliedern (Kap. 8. 4). In London und Paris, gesondert in den Londondarstellungen Johann Christian Hüttners, oszillieren die für die Studie relevanten Beschreibungen beständig zwischen statischen und dynamischen Narrationen. Sie ordnen sich, obwohl in ihnen durchweg die skizzierte Wahrnehmungsweise tragend bleibt, in ein Feld ein, das bisweilen eng an das Vorbild Mercier anschließt, andererseits jedoch das literarische Programm graduell modifiziert. Von diesen narrativen Grundmustern ausgehend widmet sich das zweite Kapitel (Kap. 9) zu London und Paris anschließend verstärkt urbanen Raumzeitlichkeiten. Sie stehen in den Korrespondentinnen- und Korrespondentenberichten zumeist unter dem Vorzeichen gesellschaftlicher Funktionalisierung bei gleichzeitigen individuellen Freiräumen. Die Struktur dieses Kapitels ist dort näher beschrieben. 8. 3. Autopsie und Enzyklopädie: Literarische Spaziergänge durch London und Paris Wie für die Parisberichte Rebmanns ist für die literarisierten Stadtspaziergänge in London und Paris zu konstatieren, dass sie sich in eine um 1800 frequente Form der Großstadtdarstellung einschreiben. Was in der Zeitschrift indes erzählerisch herausragt, ist die erwähnte Formenvielfalt, die sich in erster Linie durch die verschiedenen Korrespondentinnen und Korrespondenten ergibt. Betrachtet man alle dreißig Bände der Zeitschrift, so sind rund fünfzig Beiträge identifizierbar, die literarische Spaziergänge durch die Stadt schildern.78 Außen vor sind all jene Passagen, in denen Landpartien außerhalb der Metropolen die tragende Rolle spielen und in denen Spaziergänge ebenfalls von herausragender Bedeutung sind.79 Beide Befunde weisen allemal darauf hin, dass der literarisierte Spaziergang als Darstellungsform in London und Paris ein konstitutives Merkmal ist. Im Grunde nehmen die Herausgeber das in „Plan und Vorankün78 Vgl. 79
Riha, „Großstadt-Korrespondenz“, 111. Dazu ausführlich Waßmer, „Urbane Muße jenseits der Stadt“.
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digung“ vorweg. Sie verweisen darauf, die informierten Berichterstatterinnen und Berichterstatter würden sich an Ort und Stelle mit dem befassen, was „he rumgetragen“ zu sehen sei. Das autoptisch ausgerichtete Konzept deutet auf eine subjektive Stadterkundung hin, die sich primär über die Ausdrucksform des Spaziergangs bewerkstelligen lässt. Die Spaziergänge, so ist hinsichtlich der inhaltlichen Konzeption erkennbar, sind dabei mehr als rein topografische Wahrnehmungen, denn sie verweisen auf die Beobachtung städtischer Lebensformen. Für London und Paris gilt, was für die weiteren untersuchten Reiseberichte ebenso zutrifft. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten verbinden in ihren literarisierten Stadtspaziergängen verschiedene Darstellungsebenen, durch die sie jeweils spezifische Schwerpunkte formulieren. Soweit liegt eine Gemeinsamkeit aller untersuchten Texte vor. Was London und Paris von den betrachteten Reiseberichten, beispielsweise jenen Rebmanns und Arndts, unterscheidet, ist dagegen die Expertise, mit der die Korrespondentinnen und Korrespondenten versehen sind. Das deutet Bertuchs und Böttigers Vorrede an, insofern die beiden eine gelehrsame Leitkategorie formulieren, die zur prägenden Eigenschaft vieler einzelner Beiträge gerät. Die Zusammenstellung von subjektiver Autopsie einerseits und gelehrter Expertise andererseits ist als strukturelles Merkmal der Zeitschriftenbeiträge zu verstehen. Vor diesem Hintergrund lässt sich davon sprechen, dass eine ‚Vielfalt der Formen‘ nachfolgend unter zwei Gesichtspunkten herauszuarbeiten ist. Sie betrifft verschiedene Wahrnehmungsmodi ebenso wie verschiedene aufgerufene Darstellungsmodi, die zwischen subjektiven Schilderungen und enzyklopädisch anmutenden Passagen changieren. Markant ist für London und Paris, dass die Berichte Impressionen und Informationen miteinander verknüpfen. Wie Christian Deuling bemerkt hat, dienen die literarisierten Spaziergänge meistens dem „summing up the main characteristics of the journalists’ experiences and showing what is typical rather than offering one specific and unique experience“.80 Obwohl die Korrespondentinnen und Korrespondenten durchweg betonen, die jeweils geschilderten Erfahrungen tatsächlich erlebt zu haben, spiegeln sie oft einen allgemeineren Blick auf das Londoner oder Pariser Leben. Die Artikel in London und Paris sind, wie in den anderen Zeugnissen der deutschen Großstadtliteratur um 1800, nicht in erster Linie „authentische Berichte[]“81, sondern literarische Stilisierungen. Abendspaziergang durch London Das zeigt beispielsweise ein „Abendspatziergang durch London“, wie ihn der Korrespondent Johann Christian Hüttner im zweiten Band schildert. Der Spaziergang ist durch eine zweckrationale, für London typische, ökonomische Be80 Deuling,
„Early Forms of Flânerie“, 97. „Ein Journal und sein bildgeschichtlicher Hintergrund“, 7.
81 Cilleßen/Reichardt,
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schäftigung gerahmt, an die ein Rundgang durch die Innenstadt anschließt. Hüttner beschreibt, wie ein Freund ihn in London besucht habe und die beiden, nachdem sie sich bei einem Geldwechsler verdingt haben, einen abendlichen Spaziergang durch die englische Metropole unternehmen. Der Korrespondent betont eigens, man habe sich bewusst für einen Fußmarsch statt einer Kutschfahrt entschieden: Wir hätten uns in einem Miethwagen nach meinen Hausgöttern verfügen können; allein der Abend war sehr schön, und wir giengen lieber. Unterwegs mußte ich meinem Gesellschafter allerley erklären; natürlich fällt einem auf den Londner Straßen manches Ungewöhnliche auf und wenn es Ihnen auf ein Weilchen nicht sauer ankömmt, mögen Sie uns begleiten. (London und Paris II, 1798, 42)
Hüttner klärt gleich anfangs, in welcher funktionalen Position er sich selbst als Berichterstatter sieht. Als informierter Großstadtbewohner fungiert er als eine Art Gelehrter, der seinem unkundigen Begleiter die auf den abendlichen Straßen zu sehenden Gegenstände näher erklären muss. Für die Szene gilt, was für das ganze Journal in puncto literarische Spaziergänge prägend ist. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten bleiben keineswegs „im Hintergrund“82, sondern bilden oftmals das narrative Zentrum. Das verbindet sich konkret damit, dass es sich bei der Begleitfigur um einen Londonfremden handelt – was wiederum die Hierarchie zwischen den Figuren unterstreicht. Die für die Großstadterfahrung konstitutive Beziehung von Vorwissen und eigenem Erlebnis versinnbildlicht sich im ausdrücklichen Kontrast. Die bisweilen tragende Rolle von fingierten Begleitfiguren für die Großstadtberichte um 1800 hat unter anderem T homas Grosser herausgearbeitet.83 Sie manifestiert sich hier besonders einschlägig, insofern verschiedene implizierte Ebenen entstehen. Wenn Hüttner darauf verweist, man könne ihn als Leserin oder Leser gedanklich auf einem kleinen Spaziergang begleiten, so reiht sich dies in die verschiedenen Formen des einvernehmlichen Erzählens ein. Wie bei Rebmann zu sehen war, ist ein solcher Erzählmodus unter anderem als Mittel zu lesen, eine größere Unmittelbarkeit und Authentizität zu evozieren.84 Indem der Korrespondent die Leserinnen und Leser imaginativ auf den Schauplatz selbst versetzt, gewinnt die ganze folgende Textstelle, die über weite Strecken als Dialog zwischen Hüttner und seinem Begleiter gehalten ist, eine doppelte Dimension. Immer dort, wo der Berichterstatter von „Sie“ und „Ihnen“ spricht, bleibt unklar, ob der Begleiter vor Ort oder das Lesepublikum gemeint Die Zeitschrift „London und Paris“, 13. Vgl. Grosser, „Der mediengeschichtliche Funktionswandel der Reiseliteratur“, 291. 84 Auf ‚Unmittelbarkeit‘ als zentrales Stichwort haben u. a. Brüggemann und Greiling hingewiesen. Beide betonen das Ineinandergreifen von medialer Konzeption und konkreter Berichterstattung, vgl. Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 207; Greiling, „Kultur aus den ‚zwey Hauptquellen‘ Europas“, 144. 82 Riggert, 83
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ist. Der literarisierte Begleiter fungiert als Stellvertreter der Leserinnen und Leser, die zwar die Metropole nur lesend erfahren können, die der Korrespondent jedoch unmittelbar in seine Erzählung miteinbezieht.85 Auffällig ist zudem, dass Hüttner raumzeitlich auf den Spaziergang vorausblickt. Er weist darauf hin, man werde sich unbestimmt für „ein Weilchen“ auf die „Londner Straßen“ begeben, wo man allerhand beobachten könne, das als „Ungewöhnliches“ zu charakterisieren sei. Die raumzeitliche Qualität ist von Beginn an auf ein doppeltes Verweilen hin angelegt: den Aufenthalt im urbanen Raum sowie die eingehende Betrachtung zu erblickender Gegenstände. Was den beiden Spaziergängern indes auf ihrem Weg begegnet, bleibt vorerst offen. Kurz nachdem der Gang durch die Straßen begonnen hat, formulieren Hüttner und sein imaginierter Begleiter, inwiefern sich für sie im abendlichen London besondere Wahrnehmungsbedingungen ergeben: Es ist doch ein herrlicher Anblick, sagte mein Freund, wenn man eine Londner Hauptstraße herabsieht; die großen crystallenen Lampen machen alles fast so hell, wie am Tage – noch mehr thun das die Läden, unterbrach ich ihn. Sehen Sie nur wie Gewölbe an Gewölbe stößt, und wie eines immer schöner und reichlicher, wie das andre, erleuchtet ist! Die großen Damenladen, wie man sie nennen möchte, […] haben meist zwey große vielärmige Argandsche oder Patentlampen von der Decke herabhangen, ausser den vielen Leuchtern, die auf den Ladentischen stehen. […] Man dünkt sich bey manchen Läden wahrlich in ein Lichtmeer zu sehen, vornehmlich wenn weisse Zeuge darinn die Strahlen so allgemein zurückwerfen. (London und Paris II, 1798, 42)
Deutlich ist erkennbar, wie äußere (technische) Bedingungen und die urbane Wahrnehmung einander überschneiden. Aus dem grell ausgeleuchteten Stadtraum, der wie eine illuminierte T heaterbühne wirkt, auf die man „herabsieht“, resultiert für die beiden Spaziergänger erst die Möglichkeit, die verschiedenen Attraktionen der Straßen genauer zu beobachten. London erscheint abends und nachts „wie am Tage“, was dem späten Spaziergang eine herausgehobene sensorische Qualität verleiht.86 Die englische Hauptstadt ist für den Korrespondenten „eine Stadt, die immerzu hellwach ist“ und deren „Regsamkeit […] weder bei Tag noch bei Nacht“87 endet. Doch nicht nur dieser Zusammenhang ist in der Passage entscheidend, sondern auch das wiederholt bemerkenswerte Figurenverhältnis. Indem Hüttner seinem Begleiter ins Wort fällt und ihn hinsichtlich 85 Vgl. zu dieser ‚Stellvertreterfunktion‘ und ihrer Bedeutung für die zeitgenössische Reise- und Großstadtliteratur Hentschel, Studien zur Reiseliteratur, 38. Mit ausdrücklichem Hinweis auf die damit oftmals einhergehende Fiktionalisierung zudem Harro Segeberg, „Aufklärer unterwegs. Zur ‚Literatur des Reisens‘ im späten 18. Jahrhundert“, in: Vorstand der Vereinigung der deutschen Hochschulgermanisten (Hg.), Textsorten und literarische Gattungen, Berlin 1983, 489–507, 501. 86 Auf die nächtliche Illumination Londons bereits im 18. Jahrhundert verweist Ackroyd, London, 451. 87 Ackroyd, London, 90.
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seiner Analyse des erleuchteten London korrigiert, verfestigt er die konstatierte Hierarchie. Noch stärker tritt das zutage, wenn der Bericht nachfolgend in einen dialogischen Modus übergeht, der den abendlichen Spaziergang zwischen thea traler Szene und enzyklopädischer Wissensvermittlung präsentiert: B. Was für ein vielfarbiger Schein aus jenem Fenster stralt! Verkauft man hier seine Wasser von rother, grüner, gelber Farbe? A. Nein! alles das ist zum Aufputze. Es ist ein Apothekerladen, und die großen farbigen Gläser enthalten nichts, als gemeines Wasser. […] B. Dort ist gewiß ein Auflauf; gehen wir doch ja nicht dorthin. B [sic!]. Bleiben Sie ruhig, es ist nichts als eine Balladensängerin. […] B. Mir deucht, wir begegnen vielen wohlgekleideten Frauenzimmern und, wenn ich nicht irrig bin, mitunter Damen. A. Weit gefehlt, lieber Mann! Alles das sind feile Geschöpfe, deren Preis nach ihren Reizen und Kleidern steigt oder fällt. […] B. Wo kommt denn das herrliche Getön her, das auf meine Ohren trifft? ich habe es schon etlichemal gehört: es scheint uns zu folgen. A. Es sind die Handorgeln, welche mit sinkender Nacht zu Dutzenden die Londner Straßen beleben. (London und Paris II, 1798, 43–46)
Die ausgewählten Frage-Antwort-Passagen zeigen paradigmatisch, wie die Textstelle konstruiert ist. Die Begleitfigur ist ein unkundiger Stichwortgeber, der symptomatisch für eine ‚ungeübte‘ Großstadtwahrnehmung steht. So wie er die wahrgenommenen Eigenschaften mangels eigener Kenntnis nicht präsentieren kann, steht seinem Defizit der gelehrte und erfahrene Hüttner gegenüber.88 Die für die zeitgenössische Großstadtliteratur durchaus übliche dialogische Form erweckt kaum den Eindruck „eines fiktionalisierten Gesprächs zwischen zwei gleichberechtigten Partnern“89, sondern vermittelt eine hierarchische Struktur. Die Passage gerinnt zu einem urbanen Katechismus, wodurch sich die belehrende Dimension umso deutlicher abzeichnet. Die dialogische Struktur dient damit der „Verlebendigung“90 und erhält eine erzählerische Funktion, die verschiedene Wahrnehmungsformen einander entschieden gegenüberstellt. Dass die Konstellation nicht allein auf einen vermeintlich konkreten Spaziergang durch London verweist, sondern allgemeinerer Natur ist, zeigt unter anderem die Benennung der Figuren als „A“ und „B“.91 Sie stehen vergleichbaren dialogischen Mustern entgegen, die beispielsweise Restif de la Bretonne in seinen Les Nuits de Paris verwendet. Während dort persönliche Bekanntschaften und zwischenmenschliche Beziehungen eines einheimischen Pariser Stadtbewohners tragend sind, dominiert in Hüttners Bericht vielmehr der verallgemeinerte, der didaktische Charakter. Er spiegelt die wesentlich verhandelte ‚doppelte Fremd88 Deuling, „Early Forms of Flânerie“, 95, weist darauf hin, Hüttner versuche in seinen Beiträgen immer wieder, „to underline the authenticity and the immediacy of his experiences“. 89 Hentschel, Studien zur Reiseliteratur, 35. 90 Hohenstein, Friedrich Justin Bertuch, 138. 91 Deuling, „Early Forms of Flânerie“, 103, spricht davon, die Benennung als A und B würde dem „indicating its fictional character“ dienen.
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heit‘ wider. Dadurch entsteht eine gewisse Austauschbarkeit, die dem Abschnitt einen abstrakteren, einen fiktionalisierten Impetus verleiht.92 Indem verschiedene Wahrnehmungsmodi stetig changieren, sich der unwissende Begleiter und der informierte Hüttner abwechseln, tritt die jeweilige Perspektive umso stärker zutage. Das assoziative und naive Zuordnen ist mit dem souveränen und gelehrten Erklären kontrastiert. Gemeinsam ist beiden Beobachterfiguren dagegen ihre szenische Position. Sie sind trotz ihrer leiblichen Präsenz nicht direkt in das Geschehen involviert, sondern als externe Beobachter konzipiert. Auf diese Weise verstärkt sich die theatrale Wirkung, die das Großstadtgeschehen ausstrahlt. Hinzu kommt eine Vielzahl von disparaten und kontingenten Sinneseindrücken. Hüttners Begleiter drückt die vielfältigen Wahrnehmungen über visuelle oder akustische Reize aus, womit die Polysensorik besonders prominent hervortritt. Das steht letztlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der naiv-plötzlichen Wahrnehmungsweise, welche die Begleitfigur auszeichnet. Neben den stichwortartigen Einwürfen des Begleiters lassen sich Szenen ausmachen, in denen Hüttner selbst auf etwas hinweist und seine Rolle als informierte Erklärinstanz aus einer weiteren Perspektive verfestigt. Während es sich beim Begleiter zumeist um zufällige und plötzliche Impressionen handelt, dominiert bei Hüttner eine deiktische Herangehensweise, die kenntnisreich auf einzelne Besonderheiten hinweist: Hier! wissen Sie, wer die kleinen Jungen dort mit den rothen Jäckgen und den zwey großen ledernen Felleisen an der Seite sind […]? […] Nehmen Sie hier diese zerlumpte Figur im rothen Mantel in Obacht! […] Ha, kommen Sie mit mir dort hinüber, wo sich der Kreis gebildet hat. Ein Erzähler ganz aus der Mitte des frohen John Bulls giebt den herzlich lachenden Leuten allerley Spaße zum besten, die für Sie und mich vielleicht etwas zu sehr gewürzt sind, aber, wie Sie hören, mit einem Humor und einer Trockenheit vorgetragen werden, die selbst den Misanthropen zum ausgelaßensten Lachen zwingt. Bemerken Sie nur, wie dieser Mann im Charakter erzählt. […] Lieber Himmel, ein Feuer. Hierbey ist nicht gut seyn! Aber bemerken Sie, wie schnell die Spritzen herbeieilen. (London und Paris II, 1798, 44–48)
Ähnlich wie an jenen Stellen, an denen der Begleiter einen Einwurf tätigt, handelt es sich zwar um kontingente Beobachtungen des Straßenlebens. Sie sind jedoch von einem viel bestimmteren Charakter. Wo bei Hüttners Freund die Wahrnehmung aufgrund seiner Unkenntnis unbestimmt bleibt, kann der Korrespondent selbst mit seiner Erfahrung unmittelbar eine strukturelle Einordnung vornehmen. Er verbindet „das Bedürfnis nach Zerstreuung zugleich mit der charakteristischen Wißbegier des Städters“.93 Die trianguläre Beziehung 92 Auf fiktionalisierende Elemente in London und Paris hebt u. a. Riha, „Großstadt-Korrespondenz“, 110, ab. 93 Brandler, „Friedrich Justin Bertuch und sein Journal“, 129.
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zwischen Korrespondent, Begleiter und Lesepublikum verstärkt sich. Indem Hüttner den Begleiter und imaginierten Leser direkt anspricht, baut er den bereits zuvor vorhandenen, unmittelbaren und leibhaftigen Eindruck aus. Der Korrespondent gewinnt das Format eines Reiseführers, eines urbanen Cicerone, der dem außenstehenden Begleiter – und folglich dem zu belehrenden Publikum – seine gegenwärtige Heimatstadt nahebringt. Schließlich zeigt der literarische Abendspaziergang die große Bedeutung nationalstereotyper Bilder für die urbanen Wahrnehmungsmuster. Das mag man schon daran ablesen können, dass der beschriebenen Londoner Straße ein konkretes Korrelat fehlt. Es handelt sich um eine beliebige „Londner Hauptstraße“, die metonymisch für das urbane englische Leben steht. Die Textstelle weist eine eigentümliche Spannung auf, die zwischen einem inszenierten Ereignis und einer übergeordneten Beschreibung Londons oszilliert. In Hüttners Erklärungen ist ablesbar, wie er die einzelnen beobachteten Szenen auf die abstraktere Ebene eines ‚typischen‘ Londoner oder englischen Lebens hebt. Phasenweise gewinnen die Darstellungen überdies einen geschlechterbezogenen Charakter: Die Engländerinn, wenn sie auch käuflich ist, dünkt sich darum nicht geringer, als andre ihres Geschlechts, und achten Sie nur darauf, mit wie viel Artigkeit, Schonung und Zuvorkommung man sich ihnen naht, und wie kalt, wie tributartig sie dies Betragen annehmen. […] [I]n London geht keine Dame, keine reputierliche Frau, keine Bürgerinn Abends und Nachts ohne männliche Begleitung, oder zu Fuße, aus, weil sie sich den Zudringlichkeiten der flüchtigen Jünglingswelt und den Verhöhnungen der Dirnen aussetzen möchte. (London und Paris II, 1798, 45)
Hüttner ruft hier die um 1800 übliche Zuordnung auf (Kap. 2), nach der alleine spazierende Frauen vorrangig als Prostituierte oder mindestens als Sexualobjekt gelten.94 Der Korrespondent verstärkt seine zuvor formulierte Expertise, die er auf die Metropole selbst und zugleich auf die ganze Nation bezieht. Beispielhaft ist an den postulierten Geschlechterrollen erkennbar, dass die Beobachtungen auf dem abendlichen Spaziergang zu einer Diagnose des Londoner Lebens mutieren, die einen allgemeingültigen Anspruch postuliert.95 Die verschiedenen Stichworte, die der Begleiter dem kundigen Hüttner mit auf den Weg gibt, dienen dazu, die konkrete Szenerie zu beschreiben. Sie bereiten außerdem das Terrain, anhand einer ausgewählten und nicht näher definierten „Hauptstraße“ London in einigen Gesichtspunkten metonymisch zu charakterisieren. Dass die Stichworte letztlich zufällig und kontingent bleiben, hat sich ebenfalls gezeigt. Auf die Weise verbinden sich erneut die verschiedenen Wahrnehmungsmodi, welche 94 Vgl. u. a. Susan Buck-Morss, „Der Flaneur, der Sandwichman und die Hure. Dialektische Bilder und die Politik des Müssiggangs“, in: Norbert Bolz/Bernd Witte (Hg.), Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, München 1984, 96–113, 107. 95 Mit Londoner Geschlechterverhältnissen befasst sich auch ein Kapitel bei Ackroyd, London.
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die beiden Beobachterfiguren symptomatisch verkörpern. Obwohl sie zwei ganz verschiedene Muster repräsentieren – das souverän-wissensgesättigte sowie das naiv-unerfahrene – vereinigen sich die Wahrnehmungen schließlich in einem gemeinsamen Modus. Sie lassen sich jeweils offen auf das ein, was ihnen auf den Londoner Straßen zufällig und immer wieder erneuert begegnet. Wahrnehmen und Wissen im Strand Wie dominant das Zusammenspiel der verschiedenen Wahrnehmungsformen bei Hüttner selbst sein kann, zeigt exemplarisch eine „Promenade durch den Strand“ (London und Paris III, 1799, 189), die er im dritten Band schildert. In der Passage befindet sich der Korrespondent inmitten des innerstädtischen Lon doner Trubels in einer der bedeutendsten zeitgenössischen Geschäftsstraßen. Trotz seiner umfangreichen Kenntnisse beschreibt er sie als explizite Beobachtungsherausforderung.96 Er hält fest: Da man sich endlich an alles gewöhnt, so hat mich’s oft Wunder genommen, daß ich nie durch den Strand und durch Fleetstreet, welche zusammen hängen, gehen kann, ohne zu staunen, und zu fühlen, daß ich in London bin. Sobald man sich Charingcross nähert, kommt man in einen Wirbel von Menschen, Wagen und Pferden, der einen auch aus dem tiefsten Traume wecken muß. Wenn man nur wüßte, was ein Dutzend von den Leuten eigentlich vorhaben, die den Begegnenden beynahe umrennen und in der allerausgelassensten Eile zu seyn scheinen, so würde man ohne Zweifel charakteristische Züge dieser Hauptstadt erfahren. (London und Paris III, 1799, 189 f.)
Hüttner skizziert die überforderte eigene Wahrnehmung angesichts einer enormen sensorischen Verdichtung in Strand und Fleetstreet. Selbst ein Kenner Londons, als der sich Hüttner zweifelsohne zu erkennen gibt, muss gegenüber den überbordenden Impressionen scheinbar kapitulieren. Dabei erhebt er das Gesehene, und explizit auch das „Gefühlte“, zu einem Substrat hauptstädtischer Kultur, wie sie einem in der englischen Hauptstadt begegnet. An einem Ort, an dem das Urbane in Menschenmassen und durcheinanderrasenden Verkehrsmitteln kulminiert, merkt selbst der routinierte Hüttner, was für eine Wahrnehmungsherausforderung die Stadt darstellen kann. Gleichzeitig ist eine spezifische Lebenskultur relevant. So weist der Korrespondent explizit darauf hin, die Menschen würden äußerst eilig wirken und in ihrer Zielgerichtetheit nahezu den Nebenstehenden umrennen. Demgegenüber positioniert sich allmählich die Beobachterfigur, indem sich Hüttner distanziert zur Situation verhält. Sowohl das explizite „Staunen“ als auch das gedankliche Räsonnement über die Umherrennenden sind erste Hinweise. Dass dafür Überwindung und Konzentration vonnöten sind, arbeitet Hüttner anschließend heraus: 96 Einen Überblick zur urbanen, aber auch literarischen Bedeutung des Strands für London gibt T homas, „T he Strand“.
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Nachdem man sich von dem Erstaunen über das Gedränge und den Lärm gesammelt hat, fängt man an um sich zu sehen. Andere mögen mehr Gewalt über sich haben; allein wenn mich kein nothwendiges Geschäft durch den Strand jagt, gelingt es mir nimmer, daß ich meines Weges gehen kann, ohne an einem Laden stehen zu bleiben, etwas vorher nicht Bemerktes zu begucken, oder gar wohl hinein zu gehen und zu kaufen. (London und Paris III, 1799, 190)
In erster Linie beschreibt der Korrespondent die sich wandelnde eigene Wahrnehmung. Während er angesichts der Menschenmasse und des eifrigen Trubels in einen „Wirbel“ gerät, kommt es nun zu einer transgressiven Wende. Hüttner gelingt es, sich in der größten Verdichtung zu sammeln und in einen anderen Beobachtungsmodus überzugehen. Er stellt seine exponierte Position heraus, indem er „um sich sieht“ und einen „verfügungsmächtige[n] panoramatische[n] Blick auf die Stadt“97 gewinnt. Der Korrespondent vermerkt dennoch einschränkend, dass ihm eine solche Stadtbeobachtung nur möglich sei, wenn er nicht von äußeren Verpflichtungen zu anderen Tätigkeiten genötigt sei. Zum wiederholten Male stellt er die äußere zeitliche und praktische Rahmung urbaner Spaziergänge heraus. Erst die zeitliche Freiheit ermöglicht dem Beobachter, sich seinen kontingenten Wahrnehmungen und Assoziationen hinzugeben. Hüttner skizziert das insofern weiter, als dass die Zeit tatsächlich kaum eine Rolle spielt und er ausgedehnt durch die verschiedenen Läden schlendert. So weist er zum Beispiel darauf hin, „nachdem verweile ich bey einem Perfumer“ (London und Paris III, 1799, 193), und untermauert den gewonnenen Eindruck. Bisweilen spitzt sich dies in einer ambivalenten Form zu. Nachdem Hüttner mehrere Geschäfte durchwandert hat, kommt er auf seine eigene raumzeitliche Wahrnehmung zu sprechen: Weil ich mich zu lange aufgehalten habe, gehe ich schnell fort, des festen Entschlusses, mich heute bey keinem Ladenfenster mehr zu verweilen, bis ein paar herrliche Stiefeln mich bestechen, noch etliche Minuten zu verlängern. Ein Schusterladen hat, wenn mir meine Erinnerung treu ist, nirgends in Europa, am wenigsten in Deutschland, etwas Anziehendes. […] Aber in London muss man den Ton höher stimmen. (London und Paris III, 1799, 195)
Obwohl Hüttner offensichtlich nicht länger verweilen möchte, übermannt ihn die Eindrucksfülle und -qualität. Zwar ruft er sich kurzzeitig in Erinnerung, dass er einige Zeit im Strand vor verschiedenen Schaufenstern verbracht hat, unmittelbar darauf verblasst die Einsicht jedoch zugunsten einer tiefergehenden Beobachtung. Auffällig ist die Kontrastierung verschiedener Tempi. Wo der Korrespondent zuerst „schnell“ fortgeht, bringt ihn das erblickte Schuhwerk sogleich zum „Verweilen“ und „Verlängern“. Deutlich stellt der Korrespondent hier verschiedene Wahrnehmungsmuster gegenüber. Während er zunächst den eilig vorbeihuschenden Passanten repräsentiert, erlauben ihm seine zeitlichen Frei97 Mahler,
„Stadttexte-Textstädte“, 22.
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heiten, die er zuvor noch explizit erwähnt hatte, stehen zu bleiben und eine genauere Inspektion vorzunehmen. Dabei, so hält er überdies fest, entstehen ganz spezifische Beobachtungspotenziale. Indem er bei einem „Schusterladen“ verweilt, ist Hüttner gleichzeitig imstande, die nationalen Eigenschaften Deutschlands und Englands einander gegenüberzustellen und seinem verweilenden Blick weitere Konnotationen zu verleihen. Die komplette restliche Textstelle, in der Hüttner der Leserschaft die verschiedenen Einkaufsmöglichkeiten des Strands präsentiert, ist von jener Mixtur geprägt, die sich für den „Abendspatziergang durch London“ als konstitutiv erwiesen hat. Assoziative Eindrücke vermengen sich mit dem gelehrten Kenner der britischen Hauptstadt und ihrer Konsumkultur. So beschreibt er beispielsweise den Besuch in einem „Glasladen“: Erst bewundere ich einen Glasladen. Alles was man hier sieht, ist von geschliffenem oder geschnittenem Krystallglase, dabey so rein und zum T heil so polirt, daß eine einzelne Lampe des Abends Wunder thut. Das Englische Krystallglas ist durchaus weißer und reiner, als das im übrigen Europa. Schon die gemeinen Weingläser, und die Flaschen, worein man den Wein abklärt, fallen jedem, der zuerst nach England kommt, als außerordentlich fein und krystallen auf. […] In einem Glasladen sieht man wenigstens ein Dutzend großer und kleiner Kronleuchter, Lampen für Treppen, Hauseingänge, Wände; Salzfässer von den mannichfaltigsten Formen, oval, gezackt, tulpenförmig, in Silber gefaßt […]; Gläser, in denen man sich nach der Tafel, ohne aufzustehen, die Hände und den Mund wäscht; kostbar geschliffene Obstteller; Gestelle, worauf man Eis, Gefrornes, Orgeade, Bavaroise setzt; vielseitig geschliffene T hürhandhaben; verschiedenartige Farbengläser und Flaschen; Blumengläser, Blumenzwiebelgläser, Prunkpokale u. dgl. (London und Paris III, 1799, 190 f.)
An dieser Stelle fällt der Bezug zwischen einer zweiten erzählerischen Rahmung und der darauffolgenden inhaltlichen Ausfüllung auf. Hüttner vermerkt, dass ihn als Erstes ein Glasladen erstaunt habe und er sich wie angekündigt einer genaueren Inspektion desselben gewidmet habe.98 Die Berichterstattung ist allerdings so allgemein gehalten, dass letztlich unklar bleibt, ob der Korrespondent wirklich das konkrete Geschäft schildert oder einen ganzheitlichen Überblick der englischen Glasproduktion offeriert. In dem Zusammenspiel deutet sich das Verhältnis zwischen Impression und damit verbundener sowie enzyklopädisch anmutender Assoziation an, das im späteren Verlauf noch stärker hervortritt. Solche Wahrnehmungsmuster lassen sich für sämtliche von Hüttner besuchten Läden identifizieren, gewinnen jedoch bisweilen einen anderen Einschlag. So sind die folgenden Seiten der Zeitschrift davon geprägt, dass ein umfangreicher Fußnotenapparat über all jene Wunderdinge informiert, die Hüttner in einem angrenzenden Silberladen aufzufinden vermag. Dem Lesepublikum bietet der 98 Dass der Blick in Londoner Schaufenster und Auslagen um 1800 topischen Charakter annimmt, zeigt Girouard, Die Stadt, 200.
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Korrespondent zweierlei in nur einer Narration. Die Schilderung dessen, was mit den eigenen Augen in einem typisch britischen Laden zu erblicken ist, verbindet sich mit einer taxonomischen und letztlich bis ins Statistisch-Enzyklopädische reichenden Darstellung. Hüttners Bericht ist ein schlagender Beweis dafür, dass auch vermeintlich überholte Erzählformen wie die enzyklopädische Darstellung um 1800 weiterhin in die deutsche Großstadtliteratur einfließen.99 Dass das mehrfach an Äußerungen über vermeintlich ‚typische‘ englische Eigenarten gekoppelt ist, hat bereits der Besuch im Glasladen gezeigt und kennzeichnet die Textstelle durchgehend. Beide Berichte Hüttners, der Abendspaziergang wie die Promenade über den Strand, stehen damit paradigmatisch für die Verbindung von Impression und Information, die London und Paris maßgeblich prägt.100 Für beide präsentierten Textstellen aus der Feder Hüttners lässt sich überdies zusammenfassen, dass die Darstellung und Aushandlung verschiedener Wahrnehmungsmuster, die sowohl einander gegenübergestellt als auch miteinander verbunden auftreten können, konstitutiv ist. Wie „Plan und Ankündigung“ andeuten, gliedert sich das nahtlos in das publizistische Programm von London und Paris ein. Dennoch hat sich gezeigt, dass gar für einen Kenner Londons die Metropole eine solche Wahrnehmungsherausforderung darstellt, dass selbst beim einzelnen Korrespondenten keineswegs von homogenen Mustern zu sprechen ist. Die daraus entstehende literarische und stilistische Formenvielfalt ist ebenfalls signifikant für die Zeitschrift. Es zeigt sich erneut, inwiefern pauschalisierende Aussagen über den Charakter deutscher Großstadtberichte um 1800 bei Überprüfung durch die Texte kaum haltbar sind. Im Gegenteil: In der Durchdringung verschiedener Wahrnehmungs- und Darstellungsmuster ist die zentrale Eigenschaft der Berichte zu erkennen. Das hat sich beispielsweise bei Rebmann gezeigt und trifft in London und Paris durch die redaktionelle Vielfalt umso stärker zu. Entscheidend für die Studie ist, dass Hüttner hierbei besonders auf zufällige und von äußeren Verpflichtungen befreite Wahrnehmungen abhebt. Mehrfach betont er in seinen Darstellungen, wenn er einmal von anderen Geschäftigkeiten befreit sei und sich der Metropole eingehend widmen könne, unternehme er dies mit einem besonderen Vergnügen. Dann eröffne sich ihm die Möglichkeit, nach eigenem Belieben zu verweilen und teilweise fast kontemplativ bei einzelnen Beobachtungsgegenständen zu verharren.
99 Sie stehen folglich der in der Forschung immer wieder aufgestellten T hese gegenüber, man habe „nicht länger beim Sammeln und Registrieren stehenbleiben“ wollen, s. Bödeker, „Reisebeschreibungen im historischen Diskurs der Aufklärung“, 294 f. 100 Die Zeitschrift lässt sich damit vielfach der zeitgenössischen Reiseliteratur vergleichen, in der sich ebenfalls ästhetische und erkenntnisvermittelnde Aspekte verbinden, vgl. Bleicher, „Einleitung“, 8.
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Pariser Boulevards: Geballte Urbanität Während sich für die Londonberichte durch die journalistische Dominanz Hüttners eine vergleichsweise homogene Aussage treffen lässt, ist die Situation für Paris ungleich diffiziler. Die höhere Anzahl an Korrespondentinnen und Korrespondenten erschwert, die Beobachterkonstellation konzis zu beschreiben. Schließlich liegt für Paris aufgrund der oben geschilderten politischen Umstände (Kontinentalsperre) genuin eine größere Berichtmasse vor. Dennoch lässt sich in den späten Zeitschriftenbänden erkennen, dass die Korrespondentinnen und Korrespondenten einen Ort als symptomatisch für die Metropole herausstellen: die Boulevards. Die Schleifung der Bollwerke im späten 17. Jahrhundert bildet neue urbane Orte heraus, die gerade für die Verbindung zwischen urbanen Lebensformen und sozialen Implikationen von herausragendem Interesse sind.101 So berichtet im zwanzigsten Band ein anonym gebliebener Korrespondent: Man würde einen ziemlich dicken Band von allen den Auftritten schreiben können, die Einem in Zeit von drei Monaten auf dem Boulevard vor die Augen kommen. An schönen Tagen sieht man auf solchem die schöne Welt eben so gut, als in dem Garten der Tuile rien, und daher kommt es, daß sich alles dahin zieht, was einen ambulanten Handel betreibt. (London und Paris XX, 1807, 228)
Die Boulevards beschreibt der Anonymus als Ort, an dem sich, analog zur „Hauptstraße“ oder dem Strand bei Hüttner, das urbane Leben enorm verdichtet erfahren lässt. Besonders markant ist die theatrale Metaphorik, die schon in der Überschrift des Artikels, „Boulevard’s Auftritte“ (London und Paris XX, 1807, 228), aufleuchtet.102 Er parallelisiert die Straße überdies mit dem Tuileriengarten, der in den Journalbeiträgen ebenfalls wiederholt als bedeutender Pariser Versammlungsort, und damit als Ausdruck geronnener urbaner Lebensformen, aufscheint (Kap. 9. 1). Für die ehemaligen Bollwerke hebt der Anonymus derweil heraus, welche Wahrnehmungsmöglichkeiten, aber auch -herausforderungen sich dort ergeben könnten. Der Beobachter kann an einem solchen Ort die verschiedensten Schauspiele erblicken. Getreu dieser Grundannahme sind die nachfolgenden Abschnitte aufgebaut. Der Korrespondent beschreibt wiederholt kleine Szenen, die sich auf dem Boulevard ereignen, und weist damit eine Erzählhaltung auf, die vor allem in den Überlegungen zu August von Kotzebue noch einmal eine bedeutende Rolle spielt (Kap. 11. 2).
101 Vgl. zur zeitgenössischen Bedeutung der Boulevards als Orte des Spaziergangs F auser, „Die Promenade als Kunstwerk“, 152. 102 Lauterbach, „‚London und Paris‘ in Weimar“, 207, weist zumindest andeutungsweise auf die für Paris tragende T heatralität hin. So sei „die Lebensart der Pariser […] von der gewissen Öffentlichkeit, von der Zurschaustellung in dem ‚T heater‘ Paris geprägt“. Eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem T hemenfeld bleibt jedoch aus.
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Während der erste Artikel vergleichsweise knapp bleibt, verdichtet sich die Darstellung in den Bänden 26 und 28 der Zeitschrift. So wie der zweite Teil aus Band 28 sich explizit einer Pariser Gartenanlage (Jardin Türc) widmet, ist der erste als Essenz urbaner Wahrnehmungsmuster zu lesen. Ein anonymer Korrespondent, der seine Beiträge durchgehend mit „X.Y.“ signiert, weist darauf hin, dass an den Boulevards das Pariser Leben in reinster Form und Güte zu beobachten sei. In einem mit „Spaziergang auf dem Boulevard in Paris, von der Magdalenenkirche bis zum T hore St. Denis, im April 1811“ übertitelten Artikel berichtet er: Wer das Leben und Weben in Paris binnen wenig Stunden oder Tagen kennen lernen, oder, gleichsam als vor einer Zauberlaterne, ohne sich selbst viel zu bewegen, das bewegliche Gemälde dieser Hauptstadt beständig vor seinem Blicke vorübergehen sehen will, der miethe sich irgendwo auf dem nördlichen Boulevard ein, welcher bekanntlich in Westen bei der Magdalenenkirche anfängt und in Osten auf dem Platz der ehemaligen B astille, oder vielmehr hinter demselben, vor der Brücke von Austerlitz, endigt. Wem aber das Glück versagt ist, Lutetiens vielgepriesene Herrlichkeiten in der Nähe zu schauen; wer sich wie weiland Moses, begnügen muß, nach dem gelobten Lande aus weiter Ferne hinüberzublicken, der begleite uns in Gedanken und verfolge unsern auf der beigefügten Charte dargestellten Pfad von der Magdalenenkirche bis zu dem in der Ueberschrift bezeichneten östlichen Ziele. (London und Paris XXVI, 1811, 97 f.)
Für den Korrespondenten gibt es keinen Zweifel. Auf den Boulevards, genauer auf den nördlichen, verdichten sich die Eigenheiten von Paris und dessen verschiedene Lebensformen. Noch stärker als in den beiden Hüttner-Artikeln macht er das „Straßenbild“103 zum literarischen Leitmotiv. Der nördliche Boulevard ist kurzerhand Paris in nuce und gerinnt zum Sinnbild für das „bewegliche Gemälde dieser Hauptstadt“. Der direkte sprachliche Verweis auf ein „Tableau mouvant“, das die Herausgeber in „Plan und Ankündigung“ formuliert hatten, hebt das spezifische Beschreibungsmuster noch einmal hervor. Paris lässt sich, so die zentrale Botschaft, nicht als ein statisches Objekt erfassen, sondern lediglich über dynamisierte Wahrnehmungsformen. Doch obwohl die Überschrift sowie das „bewegliche Gemälde“ auf eine dynamisierte Perspektive hindeuten, ist eine Mischung aus statischen und beweglichen Elementen anzutreffen. Wie in einer Laterna magica104 ließen sich, so die Korrespondentenauskunft, Projektionen und einzelne Bilder des Pariser Lebens erblicken, die dann „vor seinem Blicke vorübergehen“. Das beobachtete Geschehen sowie das ihm zugeordnete Wahrnehmungsmuster geraten hier in eine Spannung, in welcher der Korrespondent zunächst aus dem städtischen Geschehen zurücktritt. Wie in Hüttners Abendspaziergang ist die Beobachterposition eine tendenziell passive. Es geht nicht darum, selbst an den verschiedenen kulturellen und gesellschaftlichen AuspräDie Beschreibung der „Grossen Stadt“, 44. Vgl. zu diesem Motiv bes. Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 12.
103 Riha, 104
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gungen aktiv teilzuhaben, sondern sie vielmehr wie aus einem T heater- oder Illusionspublikum heraus wahrzunehmen. Zentral ist bei all dem eine Unbestimmtheit der Wahrnehmungen. Welche Phänomene genau zu beobachten sind, bleibt offen und kontingent. Der Anonymus betont, man solle bestenfalls eine gewisse Zeit auf den Boulevards verweilen und sich überraschen lassen, was einem währenddessen begegne. Implizit ist erneut markiert, dass Beobachterinnen und Beobachter erst über die rahmenden Bedingungen für eine solche intensive Beobachtung verfügen müssen. Nur wer überhaupt die nötige zeitliche Freiheit besitzt, sich über Stunden oder Tage hinweg an den Boulevards „einzumiethen“, kann in den Genuss derselben kommen. In diesem Zusammenhang bezieht der Anonymus die Leserinnen und Leser mit ein, den literarischen Mitteln Hüttners sehr eng vergleichbar. Auch der Pariser Korrespondent initiiert einen imaginativen Spaziergang, der konkret über eine dem Journal beigelegte Stadtkarte leiblich verfolgt werden kann.105 Die Beobachterfigur gerät zu einem Reise- oder Fremdenführer, welcher der unkundigen Leserschaft, die nicht vor Ort sein kann, Aufschluss über die verschiedenen urbanen Phänomene geben will. Nähe und Ferne der Beobachtung verschwimmen insofern, als die Leserinnen und Leser den weitblickenden Moses verkörpern, zugleich aber durch den kundigen Korrespondenten vermeintlich direkt an den Ort des Geschehens versetzt sind. Dass Letzterer die Pariser Boulevards gar mit dem gelobten Kanaan parallelisiert, rückt den Ort selbst in ein besonders positives Licht und formuliert eine klare Begeisterung für die städtischen Lebensformen. Die darauffolgenden, teilweise assoziativ-summativ, dann wieder intensiv und detailliert wirkenden Schilderungen erweisen sich wie Hüttners Beiträge als dem Zeitschriftenkonzept getreu. Gelehrte Sachkundigkeit und assoziative Beobachtungen auf dem Spaziergang ergänzen einander. So schließt beispielsweise an die einleitenden Worte direkt eine längere historische Abhandlung zu den beiden wichtigsten Boulevards, dem nördlichen und dem südlichen, an und steckt die faktischen örtlichen Gegebenheiten wie Länge und Alter der Straßen ab. Der Korrespondent bietet, ganz im Sinne von ‚Impression und Information‘, zuerst eine historische und soziologische Einordnung der Boulevards an, bevor er auf die eigentlichen Beobachtungen zu sprechen kommt, die sich dort machen lassen. Markant ist dabei seine Differenzierung, „[i]m Ganzen genommen verhalten der nördliche und südliche Boulevard sich gegen einander, wie Stadt und Land“ (London und Paris XXVI, 1811, 99). Diesem Diktum folgend, skizziert der Korrespondent daraufhin die gesellschaftlichen Unterschiede der beiden Boule vardsteile, bevor er schließt, „[d]a, wie schon erwähnt, das Leben und Weben der Menschen […] für dies Mal der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit ist, 105 Dies verweist noch einmal auf die bereits skizzierte Wichtigkeit von über die Berichte hinausreichenden Materialien in London und Paris (Kap. 8. 2).
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so wird hier nur vom nördlichen Boulevard die Rede seyn“ (London und Paris XXVI, 1811, 100). Seine Ankündigung greift der Berichterstatter anschließend auf, indem er seine urbanen Beobachtungen im engeren Sinne mit dem Verweis auf die Wahrnehmungsherausforderungen der Boulevards rahmt: Und was ist es denn, das diese Promenade vor so viel Tausend andern in der Welt auszeichnet? T heils die große Menge und Mannichfaltigkeit von Producten der Natur und Kunst, welche hier auf die anlockendste Weise ausgestellt und feilgeboten werden; theils die große Anzahl von Spaziergängern, welche sich, gleichsam als durch stillschweigende Verabredung, täglich daselbst versammelt, um jene Erzeugnisse in Augenschein zu nehmen, vorzüglich aber um einander zu besehen und sich selbst sehen zu lassen. Welch einen ungeheuren Vorrath von Gegenständen der Nothdurft und der Bequemlichkeit, des Luxus und der Armseligkeit, der Weisheit und der T horheit, des tiefsten Forschungsgeistes und der tollsten Phantasie findet man hier neben und über einander beisammen! Hier ist ein Brennholzmagazin, dort eine Eisbude; hier ein Cabinet de lecture, darneben eine Decrottir-Anstalt; hier ein pensionist de jeunes demoiselles, gegen über ein allegorisches Magazin des papiers peints. (London und Paris XXVI, 1811, 122)
Den nördlichen Boulevard schildert er als prototypischen öffentlichen Spaziergang, dessen Belebung nach eigenlogischen Prinzipien abläuft, sowie als Anlage, auf der sich unendliche Eindrücke akkumulieren. Was sich in den einleitenden Passagen andeutet, verstärkt er nun unter Zuhilfenahme deiktischer Erzählmechanismen.106 Der Korrespondent hebt eigens hervor, auf den Boulevards würden äußerst heterogene und stets zufällige Impressionen dominieren. Die alten Bollwerke, so spitzt er zu, stünden paradigmatisch für eine in Paris erlebbare Wahrnehmungsvielfalt. Ihr könne sich der Korrespondent, und mit ihm das imaginierte Lesepublikum, aufgrund der exponierten Position in aller Ruhe widmen. Die räumlich-verweisende Auflistung verschiedenster Gegenstände setzt sich noch über einen ganzen Absatz hinweg fort. Schließlich kommt der Korrespondent zum Fazit: „Wenn 50 000 Personen beiderlei Geschlechts, auf einer wüsten Insel von Allem entblößt, morgens plötzlich auf den Boulevard in Paris sich versetzt sähen, so würden sie daselbst vor Sonnenuntergang Alles finden, was Bedürfniß oder Laune ihnen nur immer wünschenswerth machen könnten“ (London und Paris XXVI, 1811, 123). Die Boulevards sind für den Korrespondenten ein urbanes Schlaraffenland sowie Ausdruck von Urbanität an sich – ein Umstand, der im Kontrast zur „wüsten Insel“ umso stärker sinnfällig wird. Die für die Zeitschrift vergleichsweise äußerst lange Schilderung des Spaziergangs – sie umfasst allein im ersten Teil mehr als 50 Seiten – zeichnet sich jenseits ihres Wechselspiels von detaillierten Beobachtungen und enzyklopädisch wirkenden Passagen durch die eingangs angedeutete, imaginierende Integration 106 Zur Bedeutung deiktischer Strategien für die literarische Raumkonstruktion vgl. Würzbach, „Erzählter Raum“, 108.
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der Leserschaft aus. Erkennbar ist das, wenn der Korrespondent auf einzelne „Merkwürdigkeiten“ der Boulevards hinweist. So beschreibt der Anonymus beispielsweise einen Mann, den, „wer seit einem Jahrzehend irgend einmal länger als einige Tage in Paris verweilt hat, […] unfehlbar“ (London und Paris XXVI, 1811, 106) gesehen habe müsse.107 Hierzu vermerkt der Korrespondent, man denke sich einen Menschen von etwa 60 Jahren, mittler, stämmiger Statur, mit einem kahlen, nur rings umher mit flachsähnlichen Haaren eingefaßten Kopfe, blauen Augen, einer Habichtsnase, blühendem, etwas kupfrigen Gesichte, das fast ganz aus einem Flachsbarte besteht, der bis auf die Brust herabsteigt; man denke sich diesen Capuzinerkopf in einem alten dreieckigen Renommistenhute und den ganzen Kerl in einer abgetragenen blauen Husaren-Uniform, wie er, in einem an Tragriemen vor dem Leibe ruhenden flachen Korbe, Nachtlichtchen, Haarringe, knöcherne Zahnstocher und dergleichen Kleinigkeiten mit großem Geschrei feilbietet, dabei unaufhörlich mit den Armen in der Luft umhersieht, den Kopf mit den rollenden Augen nach allen Seiten wirft […], während eine lebendige Eule stier und philosophisch auf seiner Schulter sitzt […]. (London und Paris XXVI, 1811, 106 f.)
Die Beschreibung, die als symptomatisch für den ganzen Spaziergang über den Boulevard gelten kann, versinnbildlicht die Erzählhaltung und -intention des Korrespondenten. Zum einen geht es um eine möglichst hohe Integration der Leserschaft in das beobachtete Geschehen. Sie ist nur umsetzbar, wenn sich der Berichterstatter die nötige Zeit nimmt, das Beobachtete detailliert zu beschreiben. Während einerseits die Wahrnehmungen unbestimmt und kontingent bleiben, insofern sich unzählige Impressionen bieten, kommt es andererseits zu einer kontemplativen Versenkung in einzelne Gegenstände.108 Die Spannung zwischen Zerstreuung und Konzentration gerät hier zu einem narrativen Leitmotiv. Davon, dass dies ganz verschiedene Formen annehmen kann, zeugt eine weitere Stelle: Im Begriff, den Marché Daguesseau zu verlassen und nach der Rue du Faubourg St. Honoré zu gehen, erblickte ich in dem Durchgange, welcher beide mit einander verbindet, eine Bude mit der Inschrift Ecrivain publique, und durch das offene Scheibfenster derselben eine Frau von mehr als siebzig Jahren, bleich, abgezehrt und mißmüthig, mit untergeschlagenen Armen und einer Brille auf der Nase auf einem niedrigen Stuhle sitzen, harrend, ob ihr der Himmel nicht einen Bissen Brots (für heute, wie es schien, den ersten) bescheeren würde. Vom Mitleid übereilt griff ich an die Tasche und zog ein gedrucktes Blatt eines lateinischen Werkes hervor. „Madame, möchten sie nicht die kleine Mühe übernehmen, mir das Blatt abzuschreiben?“ (London und Paris XXVI, 1811, 116 f.)
107 Vgl. zum Motiv des Flaneurs als „Menschenkenner[]“ Weidmann, Flanerie, Sammlung, Spiel, 77. 108 An der Stelle sei noch einmal auf die Differenzierung erlebnis- und kontempla tionsorientierter Formen urbaner Muße verwiesen, wie sie u. a. Riedl, Gelassene Teilnahme, vornimmt.
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Insbesondere das „Erblicken“ sticht heraus und verkörpert jene plötzliche und augenblickhafte Beobachtung, die kontingente Formen der Großstadtwahrnehmung konstituiert. Das simultane räumliche Durchschreiten und Beobachten einzelner Phänomene bildet den narrativen Kern. Was hierbei auffällt, ist die Art und Weise, in der sich die Erzählperspektive ändert. Berichtet der Korrespondent zuvor noch in der unpersönlichen dritten Person, wechselt er nun in eine Ich-Erzählung. Das erhält nachfolgend eine weitere Dimension, wenn der Anonymus gar den Dialog zwischen ihm und der alten Frau wörtlich wiedergibt. Hier erinnert der Bericht frappierend an Restif de la Bretonnes Les Nuits de Paris, das genau solche Erzählmuster gehäuft aufweist. Paradigmatisch ist ein perspektivisches Wechselspiel zu erkennen, das ebenfalls als zentrales Merkmal verschiedener Spaziergänge in London und Paris aufscheint. Das Changieren hängt unmittelbar mit den beobachteten Gegenständen zusammen. Um es an den beiden zitierten Beispielen zu verdeutlichen: Wo der Korrespondent den Leserinnen und Lesern einen markanten Vertreter des urbanen Lebens näherbringen möchte, verwendet er eine impersonale Perspektive. Wo er hingegen seine eigenen, mitunter emotional besonders eindrücklichen Erfahrungen berichtet, wechselt er in den Modus eines Ich-Erzählers. So unterschiedlich und vielfältig das Beobachtete sich auf den Boulevards gestaltet, so divers sind gleichzeitig die Formen der damit verbundenen Berichterstattung. Wie bei Hüttners Londonpassagen sind vielfältige und bisweilen kontrastive Wahrnehmungsformen zu konstatieren, die pauschalisierende Aussagen erschweren. Gemeinsam ist ihnen die Verbindung von Impression und Information, die sich in allen drei betrachteten Textstellen als konstitutiv erwiesen hat und die selbst wieder einem graduellen Verhältnis unterliegt. Dieser bereits durch die konzeptionelle journalistische Rahmung begründete Konnex kann als paradigmatisch für die ganze Zeitschrift London und Paris gelten, insofern er sich über die als urbane Spaziergänge gestalteten Beiträge hinaus als maßgebend erweist. Herausragend ist in diesem Zusammenhang die kommunikative Funktion, verbunden mit der Integration der imaginierten Leserinnen- und Leserschaft. Obwohl die zitierten Korrespondenten urbane Experten sind, gestalten sie ihre Beiträge nach dem Muster der erläuterten ‚doppelten Fremdheit‘. Sie richten sich entschieden an ein deutsches Lesepublikum, das mit London und Paris so wenig vertraut ist wie mit den großstädtischen Lebensformen allgemein. Indem die Korrespondenten Impression und Information miteinander verbinden, elaborieren sie verschiedene Wahrnehmungsmuster und spiegeln eine grundlegende deutsche Beobachtungsdisposition. Um die dabei prägende erzählerische Vielfalt noch genauer zu erfassen, lohnt es sich weitergehend, den Blick auf die verschiedenen ‚Bilder der Großstadt‘ zu werfen, die unter anderem der Londonkorrespondent Hüttner in seinen Beiträgen zeichnet.
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8. 4. Bilder der Großstadt: Tableau, Panorama und theatrale Verfahren „Plan und Ankündigung“ des Journals haben gezeigt, dass die Korrespon dentinnen und Korrespondenten in London und Paris sich mit der Frage auseinandersetzen, in welchen literarisch-darstellenden Formen die Großstadt erfahrung am adäquatesten zu erfassen wäre. Ein gewichtiger Bezugspunkt – den man für die eigene Berichterstattung unmittelbar modifiziert – ist zweifelsohne Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris, das die Herausgeber mittels eines „Tableau mouvant“ (Kap. 8. 2) auch in ihrer eigenen Zeitschrift aufgreifen wollen. Dass Merciers für die (deutsche) Großstadtliteratur folgenreicher Text als Referenz auftritt, ist keine Überraschung, wie die Ausführungen zu seiner stilbildenden, aber gleichzeitig literarisch herausfordernden Bedeutung gezeigt haben (Kap. 6). Umso mehr stellt sich die Frage, wie die Korrespondentinnen und Korrespondenten in London und Paris konkret mit dem literarischen Vorbild und seiner Großstadtpoetik umgehen. Es steht zur Debatte, ob sie mehrheitlich seinem Schema einer vergleichsweise statischen Stadtdarstellung folgen oder eigene Akzente setzen, wie es sich beispielsweise auch bei Georg Friedrich Rebmann (Kap. 7) oder Ernst Moritz Arndt (Kap. 10) erkennen lässt. Bleiben sie, kurz gesagt, den traditionellen Modellen eines Mercier verhaftet oder setzen sie tatsächlich das Programm eines „Tableau mouvant“ um? Ein systematischer Blick in die dreißig Bände zeigt, dass sich diese Frage einschlägig anhand des Londonkorrespondenten Johann Christian Hüttner beantworten lässt. Gerade in den frühen Ausgaben liefert er einige Berichte, in denen er versucht, die urbane Essenz der Londoner Innenstadt und ihrer Lebensformen wiederzugeben. In den genannten Beschreibungen lagert sich markant ein Übergang vom mercierschen, tableauhaft angelegten Programm hin zu davon abweichenden Wahrnehmungsformen wie panoramatischen oder theatralen Verfahren ab. Seine Darstellungen stehen damit paradigmatisch für ein Phänomen, das sich unter ‚Bildern der Großstadt‘ subsumieren lässt. So wie sich auf einer ersten Ebene die Frage stellt, ob und wie die Beobachterfiguren sich durch eine zufällig-kontingente Wahrnehmung auszeichnen (Kap. 8. 3), ist im zweiten Schritt zu überlegen, in welche literarischen Großstadtbilder die einzelnen Impressionen eingegliedert sind. Statische Wahrnehmungen Inwiefern beispielsweise Hüttner stellenweise dem mercierschen Verfahren einer statischen Großstadtbeschreibung verhaftet bleibt, verdeutlicht ein Bericht über das „Quartier St. James“ (London und Paris III, 1799, 106). Zunächst widmet sich der Korrespondent ausführlich dem St James’s Palace, der bis 1837 als offizielle Residenz der britischen Monarchinnen und Monarchen
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fungiert.109 Nachdem er dort die „zur Cour Eilenden“ (London und Paris III, 1799, 106) eingehend gemustert hat, konzentriert er sich auf das benachbarte Stadtviertel. Er betont von Anfang an, inwieweit dieser Ort letztlich paradigmatisch für die Londoner Lebensformen, insbesondere jene der aristokratischen Welt, stehe: Voll dieser Gedanken, wand ich mich aus dem Gewühl von Wagen, Bedienten, Wachen, Neugierigen und Müßiggängern, um die St. James’s Straße hinauf zu gehen. Sie ist nicht lang, aber eine der reichsten und ergiebigsten an Stoff zum Nachdenken. Wo ich mich hinwende zeugt alles vom Glanze des Hofes und dem Luxus seiner Diener. Links ist das Caffeehaus, wo Herzoge, Earls, Lords, Gardenofficiere, reiche Gentlemen so hoch spielen. Hier wurde letztens Mr. N. in zwey Stunden zu Grunde gerichtet! Hier schüttelt der Königssohn den unbetitelten Squire bey der Hand; hier hört aller Rangstreit auf, weil der große Ebner aller Ungleichheiten, das Geld, die Parallele zwischen den Besuchern zieht. (London und Paris III, 1799, 108 f.)
Hüttners Beschreibung der aristokratischen Straße lässt sich auf zwei Ebenen lesen. Einerseits manifestiert sich ein Wahrnehmungsmodus, der einzelne Impressionen in den Blick nimmt und sie assoziativ mit weiterführenden Informationen verbindet. Die Textstelle schließt folglich an jenes poetische Konzept an, das sich für Hüttner bereits unter der Perspektive verschiedener Beobachtungsformen herauskristallisiert hat (Kap. 8. 3). Auf einer zweiten Stufe zeigt sich, dass die einzelnen Beobachtungen in ein Gesamtbild integriert sind, das vergleichsweise statisch bleibt. Hüttner geht es weniger darum, spezifische Vorkommnisse in St James’s aufzuzeigen. Seine Eindrücke ordnet er vielmehr dem Anspruch unter, den Leserinnen und Lesern ein allgemeines Bild zu vermitteln. Diese statische Beschreibungsweise korreliert mit der räumlichen Dimension. Hüttner betont einleitend, die Straße sei „nicht lang, aber eine der reichsten und ergiebigsten an Stoff zum Nachdenken“. Die verdichtete Skizze des aristokratisch geprägten Stadtteils110 ist nicht nur auf der Ebene einer tableauartig komprimierten Darstellung gespiegelt, sondern bereits im beobachteten Gegenstand angelegt. Selbst dort, wo der Blick des Korrespondenten zu schweifen beginnt, bleibt diese Struktur konstant. Zwar verlässt die Wahrnehmung des Korrespondenten vorübergehend die statische Position, doch der beobachtete Gegenstand bleibt mit denselben Qualitäten versehen. Es spielt kaum eine Rolle, wo er sich 109 Eine Skizze des Londoner Adels um 1800 findet sich bei Hartmut Berghoff, „Adel und Bürgertum in England 1770–1850. Ergebnisse der neueren Elitenforschung“, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848 (Schriften des Historischen Kollegs 31), München 1994, 95–127. 110 Hüttners Beschreibung relativiert die T hese, „daß London […] keine Stadt der höfischen Kultur war und daß dort der Prunk der Staatsmacht nur selten in Erscheinung trat“, s. Celina Fox, „Einleitung. Führer durch die Metropole London“, in: Kulturstiftung Ruhr Essen (Hg.), Metropole London. Macht und Glanz einer Weltstadt 1800–1840, Recklinghausen 1992, 11–20, 14.
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hinwendet, es „zeugt alles vom Glanze des Hofes und dem Luxus der Diener“ – kurz gesagt, vom grundlegenden T hema, das Hüttner dem interessierten Lesepublikum vermitteln möchte. Inwiefern diese Statik auch den weiteren Verlauf prägt, lässt sich erkennen, sobald Hüttner vermeintlich erneut eine dynamisierte Beobachtungsposition vertritt. Nachdem er sich zuerst der räumlichen Dimension von St James’s gewidmet hat, kommt er auf die zeitliche zu sprechen: So lange der Londner Morgen dauert, das ist etwa von 11 bis 4 Uhr Nachmittags, drehen sich hier die vornehmsten Leute herum. Wer den Stutzer und die sorgfältigst angezogenen Damen vom ersten Tone sehen will, der gehet hierher. Am ersten kann man hier den Prinzen, seine Brüder, die Großen des Reichs, die Parliamentsmitglieder, die vornehmen Staatsbeamten, die steinreichen Nabobs, die Wollüstlinge, die Prasser, die Faullenzer Arm in Arm miteinander gehen sehen. Hier fällt mir die Größe und Wichtigkeit der Britischen Hauptstadt am meisten auf. Du bist in London! sage ich erstaunt zu mir. Welch ein Zusammenfluß von allem, was die Menschen für groß und begehrungswerth halten! (London und Paris III, 1799, 109 f.)
Hüttners Darstellung erhält bisweilen einander gegenläufige Züge. Zunächst rekurriert er eigentlich auf eine dynamisierte Wahrnehmung. Er verrät dem intendierten Lesepublikum, die Straße über einen längeren Tageszeitraum hinweg zu beobachten, führe zu einem breit angelegten Überblick der aristokratischen und politischen Londoner Welt. Doch bei seinen konkreten Ausführungen entsteht ein bemerkenswert statisches Bild. Er zählt zwar auf, welche unterschiedlichen Personengruppen dem geneigten Beobachter ins Blickfeld geraten, doch dieses bleibt über den ganzen Zeitraum hinweg homogen angelegt. Hüttner beschreibt nicht, wie einzelne Gruppen sich verhalten, wie verschiedene Szenen gestaltet sind, sondern gibt vielmehr einen recht allgemeinen Eindruck wieder. Er orientiert sich in diesem Sinne sehr eng an einem Muster, wie Mercier es in seinem Tableau ebenfalls vorlegt. Auch bei seiner Parisdarstellung stehen selten einzelne dynamische Szenen im Zentrum der insgesamt 1049 Kapitel, sondern sie spitzen sich jeweils auf eine summarische Perspektive zu. In Hüttners Darstellung verstärkt sich dies umso mehr, als dass er seine Beobachtungen aus St James’s als Londoner Quintessenz verstanden wissen möchte. Das stillgestellte Bild des kurzen Straßenzugs erlaubt ihm schließlich, einen statischen Eindruck der gesamten Metropole zu vermitteln. Der „Zusammenfluss von allem, was die Menschen für groß und begehrungswerth halten“, ist für ihn weniger ein dynamischer Prozess als vielmehr ein bereits bestehendes Resultat. Eine bewegliche Perspektive ist lediglich in den eigenen Gedanken des Korrespondenten erkennbar. Das statische Bild von St James’s ermöglicht ihm scheinbar, einen inneren gedanklichen Prozess anzustoßen, der ihn zur frappierenden Erkenntnis führt, worin der Inbegriff der Londoner Urbanität eigentlich liegt.
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Dass es sich für Hüttner bei dieser Textstelle um ein durchaus paradigmatisches Beispiel handelt, zeigt sein „Spaziergang durch die Alt-Stadt“ (London und Paris V, 1800, 100). Der Darstellung von St James’s vergleichbar, verwendet er auch hier vornehmlich statische Erzählmuster. Markant tritt dies zutage, wenn er in einem kurzen Abschnitt zur Fleetstreet, dem Zentrum des britischen Pressewesens, eine Beschreibung der alltäglichen Umstände liefert. Im ersten Moment bleibt ihm eine umfassende und überblickende Wahrnehmung des Straßenzugs versagt, „manchmal harret man volle fünf Minuten ehe man es wagen darf quer über zu gehen; ja furchtsame Personen halten sich nicht einmal auf dem Fußwege für sicher“ (London und Paris V, 1800, 101). Erst als es zu einem überraschend ruhigen Moment kommt, entfaltet Hüttner seine eigentliche Beobachtung: Ist dieses Gewühl sehr groß, so verschränken und versitzen sich die Räder, und die ganze lange Straße gewährt einen Anblick, der höchst sonderbar ist. In einem Nu steht alles stille. Der Wagen des Pairs, ein Meisterstück von funfzig Künstlern spiegelglatt polirt und wie ein Etuis gehalten, ist hier zwischen zwey stämmigen Steinkohlwagen eingezwängt. Eine stutzerhafte Lade auf einem leichten Curricule von zwey schmucken Bedienten zu Pferde begleitet, hat von einer Seite ein langes breites Ungeheuer von Käsewagen aus Chesire, und auf der andern einen verpestenden Dr–ckkarn; der Reuter ist noch übler dran, weil er immer auf sich wirken lassen muß, ohne wieder die grobe Wagenburg Repressalien brauchen zu dürfen. (London und Paris V, 1800, 102)
Hüttner hebt deutlich hervor, dass sein Blick erst über die chaotische Straßen szene schweifen kann, wenn sie – paradoxerweise durch eigenen Überdruss – stillgestellt ist und ihrer dynamischen und lebhaften Essenz widerspricht. Den Leserinnen und Lesern ein Bild von Fleetstreet zu vermitteln ist dem Berichterstatter nur möglich, wenn er sich mit ihrer regulären Herausforderung des urbanen Verkehrschaos nicht mehr auseinandersetzen muss. Wie in der Darstellung von St James’s ist demnach auch hier eine statisch gehaltene Beobachterperspektive tragend. Sie vermittelt die umfassenden beobachteten Eigenschaften maßgeblich aus einer stillgestellten Position. Eine weitere Parallele besteht räumlich. Betont Hüttner für St James’s, die örtliche Gedrängtheit würde einer summarischen Beschreibung entgegenkommen, beschränkt er sich auch in der Altstadt auf einen klar umgrenzten Ausschnitt. Wie sehr diese Wahrnehmungsform dennoch durch kontingente und überdies assoziative Selektionsprozesse geprägt ist, stilisiert Hüttner in einem weiteren Schritt: Was sind denn nun die Wunder der City? Warum erstaunt der Neustädter wie der Ausländer? Durch die ganze Natur wirken solche Gegenstände stärker auf die Einbildung, die uns mehr vermuthen lassen, als zeigen. Hundert Dinge liegen hier vor den Augen des Beobachters, aus denen er bey sich folgern muß, daß an diesem Orte ungeheure Schätze theils unmittelbar, theils durch die geheimnißvollen wundersamen papiernen Hülfsmittel des Handels, aus einer Hand in die andere gehen. Dieses ganze Gemählde, wovon wir jetzt nur einen flüchtigen Umriß geben, ist es, was so mächtig auf jeden wirkt, der von
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Sanct Pauls bis über die Bank und die Börse hinaus an das Ostindische Compagniehaus geht. (London und Paris V, 1800, 103)
Der Korrespondent hebt im Anschluss an seinen ruhenden Blick über Fleetstreet hervor, der Beobachter dürfe sich nicht allein auf eine Wahrnehmung plastischer Gegenstände beschränken, sondern müsse hinter die materielle Fassade blicken. Die „City“, so sein Fazit, biete dem interessiert und offen-zufällig wahrnehmenden Einheimischen oder Fremden eine solche Vielzahl von Wahrnehmungsmöglichkeiten, dass eine Selektion letztlich unvermeidlich sei. Diese Vorstellung verwendet Hüttner gleichzeitig als literarische Legitimation. Denn, so sein zentrales Argument, „dieser Gegenstand ist oft abgehandelt worden; aber er hat viele Seiten, aus denen vielleicht eine oder die andere hervorgehoben werden könnte, womit unsere Leser noch nicht völlig bekannt sind“ (London und Paris VI, 1800, 101). Seine vorerst statisch gehaltene Großstadtbeschreibung verbindet er dabei direkt mit dem Stichwort eines „Gemähldes“. Obwohl dieser Terminus angesichts der um 1800 ubiquitär verwendeten Kunst- und Bildmetaphern nicht zwingend auf Merciers Tableau verweisen muss, scheint hier ein konkreter Zusammenhang offenkundig. Dem französischen Vorbild ähnlich, versucht auch Hüttner, einen möglichst summarischen Eindruck der Londoner Innenstadt zu vermitteln. Als Mittel wählt er eine eher statisch gehaltene Beschreibung, die sich weniger für einzelne Szenen oder Vorkommnisse interessiert als für eine pauschale Vorstellung von der urbanen Wirklichkeit. Dynamische Variationen: Panorama und theatrale Szenen Es wäre andererseits verkürzt, Hüttners Erzähl- und Bilderformen lediglich als auf statische Muster beschränkt zu erachten. Die Auseinandersetzung mit seinen didaktischen Spaziergängen hat gezeigt, dass der Londonkorrespondent Passagen liefert, in denen er seine Wahrnehmung und seine literarisierte Darbietung dynamisiert. Inwiefern diese Wahrnehmungsformen von fließenden Übergängen geprägt sein können, verdeutlicht stellvertretend eine „Betrachtung einer langen Straße (etwa Bakerstreet) in der Gegend von Portmansquare“ (London und Paris VI, 1800, 121). Sie zeichnet sich durchweg durch eine zufällig über das Stadtbild schweifende Beobachtung aus. Auffällig ist dabei, dass Hüttner einen ‚Spaziergang des Blicks‘ inszeniert, der alle möglichen Beobachtungsgegenstände erfasst und einer genaueren Inspektion unterzieht. Genau dieses Blickregime allerdings lässt sich in einem zweiten Schritt unter der Perspektive von Statik und Dynamik binnendifferenzieren. Seinen Bericht beginnt der Berichterstatter in jenem Duktus, mit dem er St James’s und die City beschreibt: Der bloße Anblick dieser weitaussehenden Straße, an deren Ende ich jetzt stehe, würde mich überzeugen, daß sie zu einer sehr großen Stadt gehören müsse. Alles was mir in die Augen fällt, trägt das Gepränge eines reichen Königssitzes. Die lange Gasse ist schnur-
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gerade. Die Häuser alle drei Stock hoch und mit Schiefer gedeckt. Jedes Haus hat einen sanftgerundeten Balkon von eisernen kunstreich gearbeiteten Stäben. Auf diesen stehen weiße Blumenscherben mit goldnen Rändern aus Englischer Fayance auf wohl ausgedachten und netten Gerüsten. Es sind wahre hängende Gärten. Dahinter prangen die hohen italienischen Flügelfenster, die seit fünf Jahren erst in London angekommen sind […]. (London und Paris VI, 1800, 121)
Hüttners Blick und Beschreibung bleiben zunächst vollends statisch. Er vermittelt den Leserinnen und Lesern einen stillgestellten Eindruck von Bakerstreet, den er auch in den unmittelbar nachfolgenden Textpassagen beibehält. Es geht ihm, den beiden zuvor zitierten Abschnitten vergleichbar, weniger darum, das dynamische urbane Geschehen zu vermitteln, als vielmehr um einen destillierten Eindruck des Straßenzugs, der grosso modo seine wesentlichen Charakteristika beschreibt. Doch der Korrespondentenbericht zu Bakerstreet unterscheidet sich insofern grundlegend von den anderen beiden Passagen, als dass Hüttner weitere Wahrnehmungsformen elaboriert: ein panoramatisches Muster ebenso wie ein dynamisiertes Beobachtungsverfahren. Beides kristallisiert sich zusehends heraus, sobald Hüttner seine eigene Position expliziert und sie von anderen möglichen Stellungen zum Geschehen abgrenzt. Er imaginiert die Vorkommnisse innerhalb der Häuser, um dann festzuhalten: Alles das denke ich mir stillstehend in der Straße und hinabschauend wie die prachtvollen Säle nach und nach erleuchtet werden, wie man die Lampen an hervorgestreckten Armen der theuren Eisengeländer anzündet, und wie die köstlichen Wagen häufig hergerollt kommen, um […] theils die erst von der Morgenfahrt zurückkommenden Damen der Zofe in die Hände zu liefern. Was für Wagen! wie viele! wie die Leute alle so blühend, so schön darinn sind! […] Und in dieser langen Straße, die wenigstens an vierhundert Häuser hat, lebt man überall so! Und wie viel solcher Straßen giebt es nicht hier in L ondon! (London und P aris VI, 1800, 122 f.)
Obwohl Hüttner in einer statischen Position verharrt, ist seine Wahrnehmung verschieden von den bisherigen Darstellungen. Sie weitet sich sowohl unter zeitlicher als auch unter räumlicher Perspektive. Die zitierte Passage sowie die unmittelbar folgenden Abschnitte sind einerseits maßgeblich davon dominiert, dass Hüttner die zeitlichen Veränderungen des Straßenbilds und die damit verbundenen Praktiken der urbanen Akteurinnen und Akteure skizziert. Er vermittelt zwar weiterhin einen allgemeinen Eindruck des Geschehens, jedoch unter einer geweiteten und dynamisierten Prämisse. Dies apostrophiert Hüttner zudem sprachlich, insofern dicht aneinandergereihte und emphatische Ausrufe die informierende und sachlich gehaltene Beschreibung ablösen. Auch räumlich ist Vergleichbares erkennbar. Gelten bei St James’s und der City noch klare lokale Beschränkungen, sind diese jetzt aufgehoben. Hüttner betont explizit, es sei gerade die Größe und Länge der Straße – die er im zweiten Schritt auf ganz London transponiert –, aus der sich die raumzeitliche Qualität ergebe.
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Die Darstellung von Bakerstreet negiert eine räumlich wie zeitlich beschränkte respektive statische Perspektive und lässt sich unter einem panoramatischen Charakter fassen.111 Dieser manifestiert sich unter anderem in der erhöhten Beobachterposition. Hüttners Blickwinkel entspricht seinen eigenen Angaben geradezu dem einer Kirchturmbesteigung, wie sie die zeitgenössischen apodemischen Vorgaben verlangen (Kap. 5).112 Aus seinem erhöhten und zentralen Horizont resultiert für den Korrespondenten ein urbanes Panorama, das die Statik einer tableauartig angelegten Beschreibung übersteigt. Die Perspektive verbindet sich gar mit einer Selbstermächtigung des Korrespondenten: „Das alles ist so groß, so hebend! Unzähligemal habe ich das schon gesehen, aber immer fällt es mir wieder mächtig ins Auge! Es ist mir, als ob aller dieser Reichthum mein wäre“ (London und Paris VI, 1800, 123). Die tableauartig-verdichtete Wahrnehmung verblasst hier. Stattdessen betont Hüttner die Weite seiner Impressionen, die er räumlich und zeitlich perspektiviert – sowohl im Sinne einer längeren tageszeitlichen als auch einer sich wiederholenden allgemeinen Beobachtung. Die dynamisierte Perspektivierung lagert sich in der Gesamtschau von Baker street ab und ist ebenso Bestandteil der einzelnen Beobachtungen, die Hüttner bei seinem Spaziergang tätigt. Die Bilder, die er nunmehr vermittelt, haben ihren Schwerpunkt in bewegten Szenen, die bisweilen theatralen Charakter besitzen: Dort unten kommt ein Italienischer Leyermann mit einer Drehorgel, Geige und Triangel! Ist das nicht eine Welt! Auch die Musik bringt man ihnen in die Gasse! Ein ganzes Konzert und lauter sangbare Weisen, bei denen einem die schönen Texte beifallen. Und dann muntere Reels oder schottische Tänze. Diese Musik ist das Fest des Gesindes; wie es überall herauskommt! und wie wohl angezogen! (London und Paris VI, 1800, 124)
Der Korrespondentenbericht zeichnet sich in seinen abschließenden Zügen durch eine vollends dynamisierte Perspektive aus. Sie setzt noch einmal einen anderen Schwerpunkt als die tableauartigen und panoramatischen Passagen. Hüttner konzentriert sich darauf, einzelne kleine Szenen in den Blick zu nehmen, die gleichzeitig auf ein allgemeines Bild der Stadt verweisen. Seine bewegliche Perspektive – die sich in der äußeren Bewegung des inzwischen begonnenen Spaziergangs rekursiv spiegelt – erweitert folglich die ‚Bilder der Großstadt‘ um ein theatrales und bisweilen filmisch anmutendes Verfahren.113 Dazu verhalten sich die beobachteten Gegenstände parallel, insofern Musik und Tanz die in Bewegung gesetzte Großstadt unterstreichen. Zusehends mutiert das „Lon111 Auf panoramatische Erzählformen in diversen Ausprägungen in London und Paris verweisen Deuling, „Die Karikaturen-Kommentare in der Zeitschrift London und Paris“, 91; Köhler, „Weimar, ‚London Und Paris‘“, 59. 112 Vgl. zu diesem literarischen Motiv u. a. Hauser, Der Blick auf die Stadt; Wolfzettel, „Funktionswandel eines epischen Motivs“. 113 Zu London als „Schaubühne“ vgl. Ackroyd, London, 172–182.
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doner Leben […] zum Straßentheater“114, das Hüttner neue Wahrnehmungsformen abverlangt. Die einzelnen Handlungen der Bewohnerinnen und Bewohner sowie insbesondere die akustische und optische Variabilität rücken an die Stelle einer eher summarischen Charakterisierung. Das zeigt schließlich, inwiefern Hüttners Korrespondentenberichte als paradigmatisch für die Heterogenität deutscher Großstadtberichte um 1800 gelten können. Der Kontrast zwischen statischen und dynamisierten Beobachtungs- und Beschreibungsformen ist ein eindeutiges Anzeichen für die Vielfältigkeit solcher Muster, die selbst innerhalb ein und desselben Textes miteinander konkurrieren können. Daraus lässt sich gleichzeitig ablesen, inwiefern Hüttners diverse ‚Bilder der Großstadt‘ in einem engen Verhältnis zu den zuvor identifizierten Erzählmuster zwischen Autopsie und Enzyklopädie stehen. In London und Paris, so kann das Fazit des ersten Kapitels zur Zeitschrift lauten, überkreuzen sich sowohl formal als auch konzeptionell verschiedene Darstellungsmodi. Das Journal steht wie vielleicht kein zweites literarisches Produkt um 1800 paradigmatisch dafür, verschiedene Wahrnehmungsmuster deutscher Beobachter zueinander in Beziehung zu setzen. Bereits in der umfangreichen Vorrede der Herausgeber hat sich dies andeutungsweise abgezeichnet und die einzelnen Berichte haben es umso stärker konturiert. Wenn die Berichterstatterinnen und Berichterstatter in London und Paris vorrangig urbane Lebensformen aus den beiden Metropolen in den Blick nehmen, verbinden sie dies stets mit einer polyvalenten literarischen Darstellung. Sie greifen tradierte Erzählmuster ebenso auf wie sie versuchen, mittels ihrer dynamisierten Erzählweise neue literarische Akzente zu setzen. Sie bringen dabei Impressionen und Informationen in ein Zusammenspiel, das zwar oftmals eine zufällige und für alle möglichen Eindrücke offene Großstadtwahrnehmung konzipiert. Dieses bindet sie aber nicht minder daran, ein wissbegieriges und großstadtunerfahrenes Publikum sowohl zu unterhalten als auch zu unterrichten. So sehr die Korrespondentinnen und Korrespondenten einerseits Wahrnehmungsmuster der Flanerie skizzieren, die sich mit den in dieser Studie formulierten Kriterien erfassen lassen, bleiben diese an eine vergleichsweise eindeutige kommunikative Absicht geknüpft. In London und Paris verschränken sich Impressionen und Informationen.
114 Ackroyd,
London, 172.
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9. London und Paris II: Raumzeitlichkeiten urbaner Muße zwischen gesellschaftlicher Funktionalisierung und individuellen Freiräumen Im zweiten Teil zu London und Paris stehen noch stärker urbane Raumzeitlichkeiten im Mittelpunkt. Sie bündeln sich insbesondere unter einer thematischen Leitlinie: der Spannung zwischen gesellschaftlichen Funktionalisierungen und individuellen Freiräumen. Als Erstes geraten topische Rückzugsorte wie Gärten und Parks in den Blick, innerhalb derer die Beobachter sowie die Beobachteten versuchen, der hektischen und betriebsamen Stadt zu entkommen (Kap. 9. 1). Dabei zeigt sich, dass diese beiden Raumtypen letztlich interdependent sind, und vor allem, dass in solchen Anlagen ein ambivalentes Spannungsverhältnis vorliegt. So sehr sie einerseits als Rückzugsmöglichkeiten fungieren, treten sie gleichzeitig als Schauplatz einer gesellschaftlichen Inszenierung auf, die dem freiheitlichen und zwanglosen Charakter der Muße vermeintlich diametral gegenübersteht. Vergleichbar verhält es sich mit dem zweiten Schwerpunkt, den städtischen Vergnügungsanlagen (Kap. 9. 2). Mehr noch als in den zuvor betrachteten Rückzugsorten ist für sie die Beziehung zwischen urbanen Attributen und dem Versuch, sich aus diesen zurückzuziehen, zu diskutieren. Beide Unterkapitel ergänzt überdies ein Exkurs zu Wien, das zeitweise als Londonersatz in der Zeitschrift fungiert (Kap. 9. 3). Während sich hier auf den ersten Blick mit London und Paris vergleichbare Strukturen zu erkennen geben – gesellschaftliche Versammlungsorte folglich eine tragende Rolle spielen –, besteht nachgeordnet ein gewichtiger Unterschied. Dominieren für die britische und französische Hauptstadt weitgehend gesellschaftliche Differenzen, die an den genannten Orten ausgehandelt werden, gerät in der österreichischen Großstadt ein grundlegend davon abweichendes Argument hinzu. Die Korrespondenten heben hervor, dass sich in den öffentlichen Anlagen die sozialen Unterschiede verwischen würden und nicht entscheidend seien. So wie sich die ersten drei Abschnitte vornehmlich räumlichen Rahmungen widmen, stehen in den letzten beiden Unterkapiteln verstärkt zeitliche Konnotationen zur Debatte. So wird einerseits der einzige weibliche Großstadtbericht betrachtet, in dem sich in London und Paris Formen literarischer Flanerie zu erkennen geben – und der sich auf einen typischen Londoner Morgen konzentriert (Kap. 9. 4). Anschließend richtet sich der Blick auf urbane Feste und Feier
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lichkeiten, welche die Korrespondentinnen und Korrespondenten regelmäßig beschreiben (Kap. 9. 5). Beide Fälle konturieren noch einmal das zentrale T hema des Kapitels. Die Berichte schwanken zwischen der Beschreibung gesellschaftlicher Funktionalisierungen, vor allem denen der Stadtbevölkerung, einerseits und individuellen Freiräumen andererseits. Während die Beobachterinnen und Beobachter skizzieren, in welche Funktionslogiken insbesondere die beobachteten Einwohnerinnen und Einwohner involviert sind, heben sie zugleich heraus, wie sehr sie selbst von den temporal herausgehobenen Wahrnehmungsbedingungen profitieren können. 9. 1. Naturverwandte Rückzugsräume: Ambivalente Spaziergänge Dass die Metropolen London und Paris sich für Besucherinnen und Besucher sowie Bewohnerinnen und Bewohner in erster Linie mit Trubel, Hektik und Betriebsamkeit verbinden, ist mehrfach in den untersuchten Textstellen deutlich geworden. Doch die Vorstellung, das „Getriebe der Großstadt“ kenne „kein Verweilen, keine Reflektion, keine Geborgenheit“1, greift zumindest für London und Paris zu kurz. Die Beobachterfiguren entziehen sich in den betrachteten Textstellen den Gegebenheiten häufig, indem sie eine Art narrativen Rückzugsraum inszenieren. Ihn zeichnet zumeist eine exzentrische Perspektive aus. Neben den erzählerischen Regressionen, die im Mittelpunkt des ersten Kapitels zu London und Paris standen, lassen sich solche Strukturen auch auf topografischer Ebene feststellen. In London und Paris sind mehrfach Abschnitte zu finden, in denen die Korrespondentinnen und Korrespondenten Orte aufsuchen, die dem Städtischen vermeintlich diametral entgegenstehen und Abgeschiedenheit von den topischen negativen Großstadtattributen verheißen.2 Das betrifft die zahlreichen Landpartien, die sie unternehmen, ebenso wie Rückzugsräume in der Stadt selbst. Gehäufte Berichte aus Parks, Gärten und anderen Grünanlagen zeugen umfassend hiervon.3 Als Gemeinsamkeit dieser Artikel sticht eine enge Verknüpfung von Stadt und Natur heraus. Bei den aufgezählten Orten handelt es sich allesamt um Vermengungen der beiden vermeintlichen Antipoden, die im urbanen Raum eine besondere Charakteristik entfalten.4 Das zeigt sich daran, dass es sich ausTempo, Tempo!, 63. Damit zeigt sich, dass die Zeitschrift nicht einseitig durch „Bewegungs-, Geschwindigkeits- und Turbulenzmetaphern“ (Riha, „Großstadt-Korrespondenz“, 114) geprägt ist, sondern ebenso das genaue Gegenteil ins Blickfeld rückt. 3 Die Bedeutung der „vielen grünen Plätze in London“ für die Berichterstatter hat Riggert, Die Zeitschrift „London und Paris“, 18, hervorgehoben. Zur Bedeutung von Landpartien für die Zeitschrift vgl. Waßmer, „Urbane Muße jenseits der Stadt“. Dass sich die Zeit um 1800 auch jenseits von Metropolen wie London und Paris durch eine Expansion öffentlicher Grünanlagen auszeichnet, argumentiert König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges, 39. 4 Zur problematischen Differenzierung von Stadt und Natur im Kontext von Metropo1 Braun, 2
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nahmslos um gestaltete Grünanlagen handelt, sodass die Pole Kultur und Natur keineswegs dichotom zu setzen sind. Vielmehr lässt sich gerade nachweisen, dass die Rückzugsorte, oftmals mit ländlichen Attributen aufgeladen, als städtische Projektionen aufzufassen sind. Ihr je eigener Charakter ergibt sich erst vor der urbanen Kontrastfolie.5 Gerade diese Passagen bilden damit ein Verhältnis von Stadt und Natur ab, das durch Kontrastierungen und Interdependenzen geprägt ist. Zugleich laden die Orte zu Promenaden ein, die sich aufgrund der Spannung von Stadt und Natur an die kulturhistorische Provenienz des Spaziergangs anlehnen.6 Mit Räumen, die qualitativ zwischen urbanen und ländlichen Mustern oszillieren, ist prototypisch genau jener Ort des Spaziergangs aufgerufen, der um 1800 eine tragende Rolle spielt (Kap. 1). Das korreliert eng mit der ausdifferenzierten sozialen Bespielung der genannten Rückzugsräume. Wie die Kor respondentinnen und Korrespondenten betonen, unterscheiden sich die diversen Orte vor allem dadurch, wie sehr die Städterinnen und Städter sie bevölkern und durch welche sozialen Spezifika sie geprägt sind. Die Vielfalt reicht von entvölkerten Arealen bis zu massenbevölkerten Plätzen wie dem Tuileriengarten. Damit einhergehend erodieren die primär regressiven räumlichen Prämissen bisweilen. Oder anders gefragt: Was passiert, wenn sich an einem vermeintlichen Rückzugsort mehrere tausend Menschen befinden? Die skizzierten Fragestellungen deuten an, dass sich urbane Rückzugsorte unter zwei spannungsreichen Perspektiven beleuchten lassen. Einerseits unterliegen sie einer beziehungsreichen Ambivalenz zwischen kulturell gezähmten und vermeintlich ‚natürlichen‘ räumlichen Qualitäten. Und andererseits ist dieses Spannungsmomentum in einem urbanen Umfeld situiert, das die genuine Rückzugsfunktion gefährden oder mindestens modifizieren kann. Obwohl die Rückzugsorte auf den ersten Blick von den Schilderungen urbaner ‚Hotspots‘ deutlich abweichen, indem sie sich von der städtischen Betriebsamkeit abgrenzen, bleibt diese T hese kritisch zu hinterfragen. Eine Analyse entsprechender Textausschnitte, genauer zu Coventgarden, Jardin des Plantes und Tuileriengarten, kann vielmehr zeigen, wie eng sich die Verflechtungen zwischen urbanem und ‚natürlichem‘ Raum literarisch ausgestalten. Hinzu kommt für die in London und Paris geschilderten Rückzugsräume die einleitend aufgerufene Ambivalenz von gesellschaftlichen Funktionalisierungen und individuellen Freiräumen. Wählen vgl. Maria Frölich-Kulik/Sigrun Langner, „Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt“, in: Sigrun Langner/Maria Frölich-Kulik (Hg.), Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt (Rurale Topografien 7), Bielefeld 2018, 9–28. Explizit für die deutsche Großstadtliteratur um 1800 diskutiert dies u. a. Wuthenow, „Die Entdeckung der Großstadt“. 5 Vgl. aus der neueren Forschung Marszałek/Nell/Weiland, „Über Land“. Hinzuweisen wäre auch auf Simon Schama, Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination, München 1996, der solche Rückzugsorte dezidiert als städtische Imaginationen erachtet. 6 Vgl. besonders Fauser, „Die Promenade als Kunstwerk“; König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges.
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rend die zitierten Korrespondenten insbesondere für sich selbst die Möglichkeit betonen, in den Rückzugsmöglichkeiten den städtischen Funktionslogiken entfliehen zu können, konstatieren sie für die Bewohnerinnen und Bewohner bisweilen Grundverschiedenes. Wie besonders die Passage zum Tuileriengarten aufzeigt, gliedert sich der vermeintlich zurückgezogene Spaziergang dort wieder entschieden in sozial funktionalisierte Verhaltensmuster ein. Coventgarden: Marktidylle in London Als Erstes geht der Blick auf einen Bericht Johann Christian Hüttners, der über einen prototypischen Rückzugsort Auskunft gibt. Er referiert zu Coventgarden, einer früheren klösterlichen Gartenanlage, die um 1800 einer der wichtigsten Londoner Marktplätze ist. Selbst wenn der Markt zu Coventgarden, wie ihn Hüttner präsentiert, nur schwerlich mit Gartenanlagen oder Parks gleichzusetzen ist, repräsentiert er doch das enge Zusammenspiel von Stadt und Natur. Das ist bereits daran erkennbar, dass einleitend von einem „Reich der Flora und Pomona“ (London und Paris I, 1798, 122) die Rede ist. Von Beginn an vermittelt der Korrespondent implizit, dass allemal eine genaue Beobachtung vonnöten ist, um dessen Eigenheiten zu entdecken: So oft ich in die Gegend von Coventgarden komme, gehe ich mitten über diesen merkwürdigen Platz hin, ohne je die Zeit zu bereuen, die es mich kostet. Die Londner mögen alles gern groß und überflüßig haben, und wo sie jetzt etwas anlegen, überlassen sie sich diesem Hange. Allein ehedem war’s nicht so. Die Nation, zwar immer dem Pompe ergeben, sah doch mehr auf die jedesmaligen Bedürfnisse und ökonomisirte mit ihrem Platze, wie mit ihrer Zeit. Das mag der Fall mit Coventgarden gewesen seyn. Denn dieser Markt ist weder groß, noch schön. Mehr als ein Fremder, dem ich den Ort wieß, dehnte nach einem übelbedeutenden Zögern: Ist das Coventgarden? Bey dem allen soll mir einer in Europa einen Ort aufweisen, der in dieser Art etwas reicheres darböte! Coventgarden hat eine bequeme Lage, um die mannigfachen Bedürfnisse der Leute in Westmünster schnell zu befriedigen: denn nur diese markten hier; die Altstadt, oder City, hat ihren Fleetmarkt, der aber diesem an Fülle nicht gleichzustellen ist. (London und Paris I, 1798, 122 f.)
Hüttner formuliert eine Spannung zwischen Erwartung und Erfahrung, die sich erst für den geübten Stadtbeobachter aufzulösen vermag. Er charakterisiert den Markt lokal und nationalstereotyp, sieht in ihm eine nostalgische Rückbesinnung auf eine ästhetisch goldene Zeit. Den Markt stellt er der restlichen Stadt als Rückzugsort gegenüber, wobei die raumzeitlichen Implikationen überdies eine historische Reichweite gewinnen. Im weiteren Verlauf stilisiert Hüttner Coventgarden gar zum Inbegriff des englischen Fleißes und Strebens nach Vollkommenheit: „Heißen Sie mich Anglomanen oder voreingenommen, aber ich kann mir nicht helfen, hier den Zug wieder zu finden und zu beloben, daß jeder auf dieser Insel in seinem Fache unermüdet das Vollkommenste zu liefern strebt“ (London und Paris I, 1798, 127). Den Markt erhebt er zu einem Musterbeispiel
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an sich, denn Hüttner betrachtet ihn gleichzeitig als Ausdruck einer stereotypisierten anglophilen Einstellung. Dem tradierten Primat der Ökonomie folgend, müssten sich unkundige Stadtbesucherinnen und ‑besucher augenscheinlich wundern, ob man es tatsächlich mit jenem verheißungsvollen Ort zu tun habe, den man sich vorgestellt hatte. Wie im Londoner „Abendspatziergang“ geriert sich Hüttner als Kenner der Örtlichkeit, der sie als Einziger angemessen einzuordnen vermag. Um den gewonnenen Eindruck zu untermauern, stellt er dem „Pompe“ des gegenwärtigen London den Reichtum von Coventgarden entgegen, den er gar auf europäischer Ebene absolut setzt. Etwas später präzisiert der Beobachter, der „Reichthum dieses Marktes besteht aus einer ungemeßnen Menge von Obst, Gemüse, Blumen, fremden und inländischen Bäumen, medizinischen Kräutern, Treibhaus-Produkten, Blumenzwiebeln, Sämereyen, Gekörn und trocknen Baumfrüchten“ (London und Paris I, 1798, 124). Doch Hüttner verbleibt nicht bei einer rein äußeren und materiellen Beschreibung, sondern führt seine eigene raumzeitliche Wahrnehmung mit ein. So betont der Korrespondent, er empfinde die in Coventgarden verbrachte Zeit als besonders wertvoll – selbst wenn er durch das Schlagwort des „Kostens“ andeutet, dass er die Zeit für anderes hätte aufbringen können. Hüttner hebt für die Marktanlage hervor, deren mehrdimensionaler „Reichthum“ mache sie letztlich zu einem Ort, an dem er seine Zeit besonders gerne verbringe und an dem er vor allem den topischen urbanen Eigenschaften paradigmatisch entkommen könne. Durch welche Faktoren die Empfindungen sich bei ihm freisetzen, führt der Korrespondent weiter aus: Wenn ich Ihnen sagen wollte, daß am Morgen eines Sommer-Markttages Coventgarden einem eine Straße vorher entgegen duftet, so dürften Sie vielleicht antworten: daß dies der Fall häufig an andern Orten sey: allein ich entsinne mich auch sogar bey den blumenliebenden Italiänern nie den Blumen-Raub ganzer Beete, noch solche vollkommne Gärten auf den Märkten, wie hier, gesehen zu haben. Es giebt zwey bis drey Blumenläden in Coventgarden, vor welchen auf Quadersteinen diejenigen Gewächse und Stauden, welche so eben in der Blüthe stehen, zierlich geordnet in runden Gruppen also gestellt sind, daß immer ein Blumenstock über den andern sieht und in der Mitte ein Orangenbäumchen, oder sonst ein ausgezeichnetes Gewächs mit prachtvoller Blüthe hervorragt. Dies thut eine herrliche überraschende Wirkung. Man meynt, in ein Gewächshaus zu treten. Die Eigner dieser Kunstgärten wissen die Farben der Blumen so zu mischen und den spärlichen Raum so zu nutzen, daß man hier allezeit mit Wonne verweilt. (London und Paris I, 1798, 124 f.)
Als leitendes Motiv scheinen verschiedene Sinneseindrücke und damit einhergehende Wahrnehmungsmuster auf. Der erste Eindruck, ästhetisch gerahmt durch einen Sommertag, ist ein einzigartiges olfaktorisches Genießen. Tragend ist für die Beobachtungen die wahrgenommene Schönheit, die im „Vollkommenen“ gipfelt. Hüttner suggeriert eine Art naturales Paradies, das im Herzen der
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Weltstadt London existiert. Eigens stellt er heraus, für ein solches Ergebnis sei zuvorderst die Kunstfertigkeit der Eigner verantwortlich, die mit ihren Fähigkeiten dem Ort erst seinen eigentümlichen Charakter verliehen. Im Vordergrund steht der enge Zusammenhang zwischen der geballten städtischen Kultur und dem „Kunstgarten“. Hüttner erklärt über die ganze Schilderung hinweg, dass nur an einem Ort wie London ein vollkommenes Zusammenspiel von Natur und Kultur überhaupt möglich sei. Ein simuliertes Paradies, wie Coventgarden es für Hüttner zweifelsohne ist, scheint vermeintlich allein in einer Umgebung wie der Metropole denkbar. In seiner Darstellung lagert sich somit ein Argumentationsmuster ab, das den ländlich und natürlich konnotierten Rückzugsraum umfänglich an seine städtische Provenienz bindet. Coventgarden ist letztlich das Produkt urbaner Imaginationen. Es entfaltet seine vollendeten Eigenschaften für Hüttner gerade deshalb, da es trotz seiner Kontrastfunktion weitgehend an den städtischen Raum angegliedert bleibt.7 Wie in seinen ersten Ausführungen betrachtet Hüttner die sinnlichen Konsequenzen. Als er in eines der „Gewächshäuser“ eintritt, bringt dies eine „herrliche überraschende Wirkung“ hervor, die dazu führt, dass „man“ vor Ort „allezeit mit Wonne verweilt“. Der Korrespondent spezifiziert die eingangs angeführte wertvolle Ausfüllung der verbrachten Zeit. Vorrangig das Schöne und Ästhetische, die akkurat simulierte Natur, führt zu den erhebenden Eindrücken. Alles andere bleibt vorerst ausgeblendet. Selbst das „Gewühl“ (London und Paris I, 1798, 128), das sich dem Korrespondenten zufolge stets auf dem Markt befindet, rückt völlig aus der Beobachterperspektive. Coventgarden erscheint als Rückzugsort par excellence, der durch die Metropole bedingt ist. Bemerkenswert ist erneut, dass Hüttner den Zusammenhang auf sich selbst bezieht und das Lesepublikum gleichermaßen integriert. Schon die Anrede einer fingierten Begleitfigur bei der Ankunft deutet darauf hin. Schließlich spitzt er es mit der T hese zu, „man“ verweile gerne an Ort und Stelle. Das führt zur Überlegung, welche sozialen Gruppen sich hinter dem unpersönlichen „man“ verbergen könnten. In seiner Beschreibung von Coventgarden bleibt Hüttner diesbezüglich schweigsam. Er beschreibt nur allgemein, durch die „Feld- und Gartengewächse“ würden „die vielen Leute“ (London und Paris I, 1798, 126) herbeigezogen, die sich dann an den eingebrachten Kulinaria verdingen. Nichtsdestotrotz bindet der Korrespondent die geschilderte ästhetische Wahrnehmung an zwei Bedingungen. Man müsse über die nötige freie Zeit verfügen und zudem fachliche Expertise besitzen. Erst dann werde ein Aufenthalt wie der geschilderte möglich. Er knüpft seinen Bericht über Coventgarden an die grundlegende publizistische Konzeption von London und Paris, sodass er festhält:
7
Vgl. zu solchen Mustern in der Zeitschrift Waßmer, „Urbane Muße jenseits der Stadt“.
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Dieser Ort hat, eben erwähntermaßen, nichts Anziehendes und Auffallendes bey’m ersten Anblicke; aber wer sich die Mühe nimmt, sich durch das Gedränge zu winden, die Sachen nahe anzusehen, die Preise zu erfragen, von dem Gewühl auf Londons Bedürfnisse zu schließen, und zuletzt alles mit dem, was er in andern großen Plätzen von dieser Art gesehen, aufrichtig zu vergleichen, der wird selten Coventgarden verlassen, ohne durch eine interessante Erfahrung bereichert zu seyn. (London und Paris I, 1798, 128)
Mit seiner abschließenden Anleitung zum vertieften Studium setzt Hüttner gleichzeitig die Grenzen für eine verweilende Erkundung. Zum einen sei sie nur möglich, wenn man über die nötige Zeit verfüge, detailliert die verschiedenen Eindrücke zu inspizieren und damit einhergehend auf höhere Ebenen der (großstädtischen) Erkenntnis zu gelangen. Und ebenso verdeutlicht er, dass sich eine solche Wahrnehmungsform ausschließlich an ein gebildetes und weitgereistes Publikum richten kann. Erst durch eine eingehende Kenntnis nicht nur Londons, sondern allgemein von „großen Plätzen von dieser Art“ erscheint eine „interessante Erfahrung“ als subjektiver Gewinn möglich. Bei aller Öffentlichkeit, die dem Ort inhärent ist, bleibt die Korrespondentenperspektive soziokulturell beschränkt. Jardin des Plantes: Idylle und Wissenschaft Mit ähnlichen Fragestellungen versehen ist ein Bericht über den Botanischen Garten zu Paris, den der Korrespondent Winckler ebenfalls im ersten Band wiedergibt. Er greift einen Schauplatz heraus, der gerade in der deutschen Paris literatur um 1800 immer wieder als nahezu glorifizierter Rückzugsort auftritt. So konstatiert beispielsweise Ernst Moritz Arndt, man könne hier „einsam und selig in der getümmelvollen Stadt“ (Arndt, Reisen III, 179) verweilen, und Georg Friedrich Rebmann hält fest, er sei ihm einer der „angenehmsten Spaziergänge“ (Rebmann, Zeichnungen, 438).8 Vergleichbar verhält es sich mit dem London und Paris-Korrespondenten Winckler, auch er stellt den grundlegenden Rückzugs charakter heraus: So eben komme ich aus dem Jardin des plantes von einem Besuch zurück, den ich der dortigen todten und lebenden Natur machte. Ich will Ihnen also jetzt als Cicerone dienen, und sie bey den todten und lebendigen Elephanten, im naturhistorischen Museum, in der Menagerie und im Garten selbst herumführen. […] Wohnte ich in der Nachbarschaft des Jardin des plantes, so wäre er gewiß den Sommer über mein Lieblingsaufenthalt; ich würde mehr als einmal auf dem dasigen Belvedere die Sonne erwarten, und hier die große Stadt, von den ersten Strahlen der Sonne beschienen, noch in tiefen Schlummer 8 Auch über die genannten Quellen hinaus ließen sich weitere Beispiele anführen, etwa Friedrich Johann Lorenz Meyer mit seinen Fragmenten aus Paris im IVten Jahr der Französischen Republik, der zu seinen Stunden im Jardin festhält, „ihr seid das Fest meiner Phantasie, unvergeßliche Stunden des reinsten Genusses“, s. Friedrich Johann Lorenz Meyer, Fragmente aus Paris im IVten Jahr der Französischen Republik, Bd. 2, Hamburg 1797, 69.
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gewiegt, bis zum Montmartre hin, an dem jenseits der Seine entgegengesetzten Ende der Stadt, vor mir ausgebreitet da liegen sehen. (London und Paris I, 1798, 328 f.)
Wie Hüttner in Coventgarden hebt Winckler die von der Stadt abgegrenzten Eigenschaften hervor. Durch explizit erwähnte „Natur“ sowie mit der Besteigung eines markanten Aussichtspunktes stellt er den Botanischen Garten der restlichen Metropole doppelt gegenüber. Zugleich erwähnt er die für den Rückzug konstitutive Praktik: den Spaziergang. Was bei Hüttners Schilderungen zu Coventgarden eher sporadisch und implizit auftritt, erhebt Winckler zum zentralen narrativen Element. Und auch die Rahmung variiert. Dominiert für Coventgarden ein allgemein gehaltener Sommertag, rekurriert Winckler auf einen vermeintlich „so eben“ durchgeführten Aufenthalt. Die zeitliche Referenz scheint zuvorderst einer erhöhten Authentizität gewidmet, welche die Stilisierung als „Cicerone“ zu untermauern vermag. Indem sich der Korrespondent als eine Art Fremdenführer geriert, aktualisiert er die Hierarchie zwischen dem geübten Beobachter und dem uninformierten Lesepublikum. Diesen Eindruck verstärkt er durch die gewählte Ich-Perspektive, durch die er Authentizität und Autopsie eng aneinanderbindet. Neben die eigene Wahrnehmung tritt weitergehend die Anlagennutzung, denn „in den Abendstunden ist dieser Garten der Lieblingsspaziergang vieler, in diesem Quartiere wohnender Personen, […] er steht dem Publikum, wenn das Wetter schön ist, von Morgens früh, bis Abends spät offen“ (London und Paris I, 1798, 330). Zwei Elemente des Botanischen Gartens hebt Winckler eigens hervor. Zum einen ist er als „Lieblingsspaziergang“ so vieler Bewohnerinnen und Bewohner ein paradigmatischer Rückzugsort. Mit dem Garten ist grundlegend „ein topischer Mußeraum, ein Raum des Rückzugs, der Einkehr und Kontemplation“9 aufgerufen. Damit geht konkret eine gewisse Liberalität einher, insofern es sich um eine öffentliche Anlage handelt, die vorerst keinen sozialen Restriktionen unterliegt. Insgesamt lässt sich davon sprechen, dass Winckler die subjektive Perspektive und urbane Öffentlichkeitskultur miteinander parallelisiert. Das ist eine Differenz zu Hüttner, der die eigene Wahrnehmungsform letztendlich absolut setzt. Im Folgenden dominiert eine umfängliche Beschreibung des Gartens, innerhalb derer der Korrespondent besonders die akkurat angelegte Natur und die verschiedenen Tiergehege näher betrachtet. Durchweg formuliert Winckler, wie sehr sich im Rückzugsraum natürliche und kulturelle Elemente vermengen. Beispielhaft zeigt das ein knapp dargestellter Gartenteil: Auf dieser Seite ist der Garten durch ein eisernes Gegitter von dem Quai abgesondert. Von diesem Eingange an ziehen sich mehrere, mit schönen schattigten Bäumen besetzte Alleen den Garten hinauf, in die Gegend, wo man gerade vor sich das Gebäude hat, wel9 Klinkert,
Muße und Erzählen, 102.
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ches das naturhistorische Kabinet enthält, und rechts die Treibhäuser, Wohnungen der Professoren, Amphitheater u. s. w. Der Raum zwischen diesen Alleen ist in verschiedene kleine Felder eingefriedigt, und mit mancherley seltenern Vegetabilien bepflanzt; man sieht hier sehr oft ausländische Getreidearten, Futterkräuter und andere Pflanzen, wovon der Saame aus den fernen Gegenden hieher geschickt worden, recht schön fortkommen; eine dabey befindliche Aufschrift zeigt gewöhnlich den Namen der Vegetabilien und die Zeit, wenn sie gepflanzt worden. (London und Paris I, 1798, 331 f.)
In der Passage schildert der Korrespondent, mit welchen Eindrücken und Implikationen ein Spaziergang durch die Gartenanlage einhergeht. Einerseits findet er eine gezähmte Natur vor, die akkurat geformt und einer enzyklopädischen Anpflanzung unterzogen ist.10 Zugleich entsteht die Perspektive auf jene Gebäude, in denen sich andere den Naturphänomenen wissenschaftlich annähern. Und schließlich dienen die zahlreichen pflanzlichen Wunderdinge nicht nur einem ästhetischen Vergnügen, sondern sind vom Geist der taxonomischen Wissenschaftlichkeit durchzogen. In nuce spiegelt sich, was für den ganzen Bericht als paradigmatisch gelten kann. In Wincklers Darstellung verbindet sich die ästhetische Erfahrung einer künstlich gestalteten Naturanlage mit dem Anspruch, eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu führen. Seine narrativen Leitlinien verweisen wiederum zurück auf die publizistische Grundstruktur von London und Paris, die ebenfalls beide Aspekte betont. Das Ganze gipfelt in einem Besuch des naturhistorischen Museums, bei dem es „unglaublich“ sei, „welche Menschenmenge an diesen öffentlichen Tagen hieherströmt“ (London und P aris I, 1798, 336). Gerade dort, wo sich der Korrespondent eingehend seinen naturwissenschaftlichen Gedanken widmet – und sogar verrät, er habe exklusiven Zutritt zu nicht-öffentlichen Bereichen des Museums –, tritt aber ein Ungleichgewicht auf. Der Korrespondent und die sonstigen Besucherinnen und Besucher fallen bei der Raumnutzung in verschiedene Lager. Bestimmend wird dies, wenn er mit Blick auf das Museum festhält, „wer daher mit etwas mehr Muße diesen Schatz besehen will, muß Gelegenheit suchen, von einem Professor eine schriftliche Erlaubniß zu bekommen, an einem der übrigen Tage eingelassen zu werden“ (London und Paris I, 1798, 336). Sichtbar rücken die öffentliche Anlagennutzung und das private Beobachterinteresse auseinander. Wie bei Hüttner ist der Rückzugsort für den Korrespondenten ein anderer als für die restlichen Stadtbewohnerinnen und -bewohner. Das kontrastiert den Anfang der Textstelle, als Winckler noch explizit auf die Gemeinsamkeiten mit der Pariser Stadtbevölkerung hinweist. Mit dem Rückzug entkommen beide Korrespondenten letztlich den großstäd10 Zur künstlichen Gestaltetheit von Garten- und vergleichbaren Anlagen vgl. Katharina Krause, „Drinnen und draußen. Wüste und Garten als Orte der Muße im Frankreich des 17. Jahrhunderts“, in: Burkhard Hasebrink/Peter Philipp Riedl (Hg.), Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen (Linguae & litterae 35), Berlin/Boston 2014, 260–278, 261.
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tischen Menschenmassen und besinnen sich auf eine tendenziell kontemplative und wissenschaftlich orientierte Beobachtung. Sie unterstreichen damit den paradigmatisch aufgezeigten Zusammenhang von Impression und Information, den die Korrespondenten zudem wissenschaftlich erweitern. Tuileriengarten: Erste Dissonanzen Dass dies auf die Parisberichte nicht durchgängig zutrifft, sondern sehr wohl anderweitig gestaltete Passagen auftreten, zeigt beispielsweise eine Schilderung des Tuileriengartens. Paradigmatisch deutet diese an, inwiefern die Anlage als topischer Rückzugsort fungiert, zugleich aber urbane Umstände widerspiegelt. Im vorletzten Band widmet sich der mit „X.Y.“ signierende Korrespondent ausführlich der (architektonischen) Historie des Tuilerienpalastes. Schließlich kommt er auf den angrenzenden Garten und die dortigen gesellschaftlichen Verhältnisse zu sprechen: Außer den Reizen der umgebenden Natur und der beabsichtigten Bewegungen in freier Luft locken indessen auch noch verschiedene Nebenzwecke zu allen Tageszeiten eine große Anzahl von Menschen hieher, welchen Zwecken Verabredung, Bequemlichkeit, Gewohnheit u. s. w. gewisse bestimmte Plätze angewiesen haben, so daß der Garten hier einer offenen Landstraße, da einer Kinderstube, dort einem Lesecabinette, anderswo einem Sprach-, Disputations-, Kaffeesaale u. s. w. gleicht. Zwischen den T hüren, die aus der Rue Rivoli nach dem Gitter vor der Tuilerienbrücke führen, ist ein beständiger Durchzug von Personen, die aus der nordwestlichen Gegend der Stadt nach dem Faubourg St. Germain sich begeben, oder von dem jenseitigen Ufer der Seine nach den Umgebungen jener Straße zurückkehren […]. (London und Paris XXIX, 1813, 103 f.)
Von Beginn an kennzeichnet der Korrespondent die merklichen Widersprüche, die den Ort prägen. Während er auf einen naturverwandten Rückzugsort rekurriert – „Natur“ und Spaziergang stehen symptomatisch dafür –, konterkariert die konkrete Raumnutzung diesen Eindruck unmittelbar. Obwohl es sich vordergründig um einen Gegenpol zur Stadt handelt, ist die typisch urbane „große Anzahl von Menschen“ präsent, die für Betriebsamkeit und vielseitigen Trubel sorgt.11 Dies verbindet der Anonymus mit einer spezifischen Taxonomie, sind doch den Besuchen im Tuileriengarten verschiedene Zwecke vorgängig, die sich räumlich manifestieren. Die genannten Absichten, „Verabredung, Bequemlichkeit, Gewohnheit“, grenzen die Anlage zwar von der großstädtischen Arbeitswelt ab, symbolisieren jedoch eine gewisse Routine, mit der alles stattfindet. Somit wirkt der Garten auf den Beobachter trotz der großen Menschenmenge wohlsortiert. Die diversen Personengruppen und ihre ebenso verschiedenen Prakti11 Vgl.
zu solchen Spannungsmomenten, wenngleich mit dem Schwerpunkt London, Lothar Reinermann, „Königliche Schöpfung, bürgerliche Nutzung und das Erholungsbedürfnis der städtischen Unterschichten“, in: Angela Schwarz (Hg.), Der Park in der Metropole. Urbanes Wachstum und städtische Parks im 19. Jahrhundert, Bielefeld 2005, 19–105.
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ken lassen den Ort letztlich wie eine konzentrierte Pariser Freizeitkultur in nuce erscheinen. Den Konnex von räumlichen und praktischen Dimensionen unterstreicht der Korrespondent anschließend noch einmal: Wir sagten oben, der Tuileriengarten gleiche hier und da einer Kinderstube, oder einem Lesecabinette. Jenes gilt besonders von den, in dessen Umfange zerstreuten Rasenplätzen, die vom frühen Morgen bis gegen Abend von Kindern, nebst ihren Ammen und Wärterinnen, zu denen sich zuweilen auch noch die Mütter gesellen, belagert sind. […] Das den bejahrten Politikastern zuträglichste Klima ist indessen der sonnige Platz hinter dem Wachthause, welches an der Gitterthür steht, die nach den Elysäischen Feldern führt. (London und Paris XXIX, 1813, 108 f.)
Scharfe räumliche Abgrenzungen zwischen den einzelnen Tätigkeiten und mit ihnen verbundenen sozialen Gruppen sind entscheidend. Die umfangreiche Bandbreite bekräftigt der Korrespondent schließlich, indem er auf einen ständigen „Durchzug“ verweist. Er präsentiert den Garten bewusst als Raum, in dem es zu sozialen Vermischungen kommt. In den Augen des Beobachters entsteht allemal ein ambivalentes Bild. Obwohl er verschiedene Praktiken und Lebensformen vorfindet, sind sie klar voneinander abgegrenzt. Dass die Beobachtungen gleichzeitig an einen historischen Fluchtpunkt geknüpft sind, erklärt der Korrespondent weiterführend: Während der alten Regierung durfte sich kein Bürger im Tuilerien-Garten sehen lassen, ohne einen Degen an der Seite und einen Haarbeutel oder kleinen Kaffeebrenner […] im Nacken zu haben; wenn wir nicht sehr irren, so mußte man sogar den Hut in der Hand oder unter dem Arme tragen. Den Kriegsmännern war der Zutritt gänzlich untersagt. Während der Periode der Freiheit und Gleichheit lief Jedermann, wie, wann und womit er wollte, hindurch, Kohlenträger, Fischweiber, Käsehökinnen, schreiend, singend, lärmend u. s. w. Gegenwärtig befolgt man in diesem Betrachte eine von steifem Zwange und unanständiger Zügellosigkeit gleichweit entfernte Mittelstraße, welche dem Bürgerstande in Rücksicht der Kleidung nichts vorschreibt und den Soldaten um so weniger von dem öffentlichen Spaziergange ausschließt, da seit der Einführung der Conscription jeder Bürger ein geborner Soldat ist. (London und Paris XXIX, 1798, 104 f.)
Was der Beobachter präsentiert, ist eine Beschreibung des lokalen Reglements und seiner Veränderungen genauso wie ein konzises Panorama der politisch-historischen Umstände Frankreichs um 1800. Die Ordnung des Ancien Régime stellt er einem tendenziellen Chaos der Revolutionszeit und schließlich einem ausgleichenden Mittelweg der napoleonischen Zeit gegenüber. Mit den politischen Veränderungen wird zugleich die soziale Raumgestaltung modifiziert.12 Der Korres12 Vgl.
zur Veränderung aristokratischer Spazierorte hin zu bürgerlich konnotierten Arealen Sabine Krebber, Der Spaziergang in der Kunst. Eine Untersuchung des Motives in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften. Kunstgeschichte 108), Frankfurt am Main 1990, 105.
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pondent hebt die nunmehr vorhandene Liberalität hervor, die ihn weder zu strikt noch zu freizügig dünkt. Davon ausgehend gewinnt der Tuileriengarten für den Beobachter ein idealisiertes Potenzial, schwingt doch die Vorstellung mit, der Garten bilde einen besonders vollkommenen Rückzugsort. Der Korrespondent widmet sich weiterhin verstärkt den konkreten Praktiken, die zu beobachten sind. Er skizziert topische Handlungen des Spazierens, die einer bemerkenswerten Klassifizierung unterliegen: Man könnte diejenigen, welche den Tuileriengarten besuchen, um daselbst längere oder kürzere Zeit zu verweilen, in Spazier-Gänger und Spazier-Sitzer eintheilen, von welchen beiden Classen jede ihre, nach der besonderen Absicht eines jeden Individuums auszuwählenden, bestimmten Plätze vorzuziehen pflegt. Die eigentlich so zu nennenden Wandler haben sich bei stillem Wetter die beiden Terrassen, welche den Garten auf der Nord- und Südseite einfassen, bei merklichem Luftzuge und vorzüglich Abends hingegen die in einer tiefern, geschütztern Lage zwischen beiden in der Mitte befindliche Allee zugeeignet. (London und Paris XXIX, 1798, 105 f.)
Da der Spaziergang bei den Gartenbesucherinnen und -besuchern dominiert, erhebt der Korrespondent ihn zum erzählerischen Leitmotiv. Die Differenzierung in tatsächlich gehende und sitzende Spaziergängerinnen und -gänger ist besonders auffällig. Während der Korrespondent später präziser erläutert, worin sich die beiden Gruppen unterscheiden, zielt er zunächst auf die räumliche Dimension. Wie bereits in der allgemeinen Gartendarstellung hebt er auf die verschiedenen zu beobachtenden, räumlich wie sozial kodierten Praktiken ab, die das Areal klar aufteilen. Explizit spricht der Korrespondent von einer Raum aneignung und postuliert, erst durch die sozialen Handlungen würde der Raum seine eigentliche Qualität gewinnen. Erneut gesellt sich eine hervorstechende Liberalität hinzu, denn der Anonymus rekurriert auf die „besondere Absicht eines jeden Individuums“. Somit ergibt sich ein Zusammenhang zwischen den einzelnen Besucherinnen und Besuchern und einer geselligen Atmosphäre, die sich durch die Aufteilung in verschiedene lokale Untergruppen konstituiert. Obwohl die zu beobachtenden Menschenmassen auf den ersten Blick homogen wirken, spricht der Berichterstatter ihnen gleichzeitig individuelles und scheinbar selbstbestimmtes Handeln zu. Inwiefern diese Handlungen indes zwischen gesellschaftlicher Funktionalisierung und individuellen Freiräumen oszillieren, erläutert der Korrespondent daraufhin: Das Non plus ultra des Genusses jedes ächten Pariser Lustwandlers ist aber die erwähnte große Allee, denn hier gränzt, wie schon die an derselben hinlaufenden 10 bis 12 Reihen Strohstühle beweisen, sein Gebiet an die Residenz der Spazier-Sitzer, deren bei weitem zahlreichere Hälfte weiblichen Geschlechts ist. Hier versammelt man sich, um zu sehen und sich sehen zu lassen, um über alle die wichtigen Dinge zu plaudern, wovon man vorher noch kein Wort weiß und beim Weggehen sich keiner Sylbe mehr erinnert, um, in dichten Reihen an einander gedrängt, in Gesellschaft und folglich angenehmer zu er
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sticken. Hier sitzt man nieder, um eine Bekanntschaft zu machen, die oft eben so viel werth ist, als der Stuhl, für welchen man zwei Sols bezahlt; um sich nach Jemandes Gesundheit zu erkundigen, die einem im Grunde sehr gleichgültig ist, kurz, um die Angel auszuwerfen, Netze auszustellen, auf dem Anstande zu lauern, und wie die weidmännischen Ausdrücke weiter heißen, die alle nur einen und denselben Gegenstand bezeichnen. (London und Paris XXIX, 1798, 106 f.)
Der Anonymus beschreibt Phänomene, die für die Zeit um 1800 als typisch gelten können, wie beispielsweise Gudrun König in ihrer Kulturgeschichte des Spazierganges aufgezeigt hat. Der Tuileriengarten ist hier „ein öffentlicher Ort des geselligen Vergnügens, wo Sehen und Gesehenwerden, politisches Räsonieren, Modenschauen und Klatsch quasi im ‚Vorbeigehen‘ erledigt werden konnten“.13 Die Handlungen der Pariserinnen und Pariser unterliegen einer gesellschaftlichen Inszenierung, die dem freiheitlichen Charakter der Muße diametral gegenüberzustehen scheint. Der Spaziergang im Tuileriengarten ist vermeintlich einzig darauf ausgerichtet, ostentative soziale Muster zu bedienen, die über ihre zurschaustellende Funktion hinaus inhaltlich entleert wirken.14 Die Pariserinnen und Pariser erscheinen hier fast wie jene ‚leisure class‘, die T horstein Veblen in seiner T heorie der feinen Leute für die industrielle Gesellschaft der USA im späten 19. Jahrhundert skizziert hat.15 Es geht nicht darum, von sozialen Zwängen befreit im Tuileriengarten zu verweilen. Letztlich entfaltet sich stattdessen ein gesellschaftliches Schauspiel, das den geschilderten Spazierpraktiken eine umfängliche Funktionalisierung zuweist. Die Szenerie und das Handeln sind gleichzeitig durch kontingente Muster geprägt, die sich durch die eigens hervorgehobene Menschenmenge ergeben. Darin besteht für den Korrespondenten schließlich der gemeinsame Nenner von „Spazier-Gängern“ und „Spazier-Sitzern“. Sie widmen sich, so ist es zumindest inszeniert, zufällig dem Geschehen, das gleichwohl letzten Endes vergleichsweise inhaltslos bleibt. Der Beobachter formuliert kurzerhand ein Spannungsfeld zwischen Muße und Müßiggang, das zugleich mit den gesellschaftlichen Funktionen verbunden ist. So lässt sich die Schilderung gleich in drei Varianten lesen. Der Korrespondent beschreibt erstens eine sozial funktionalisierte Gartenanlage, in der sich die Anwesenden ihres gesellschaftlichen Status versichern. Gleichzeitig hebt er mit dem „Non plus ultra des Genusses“ heraus, dass diese Tätigkeiten durchaus einen erfüllenden Charakter besitzen können. Und drittens bezichtigt er die PaEine Kulturgeschichte des Spazierganges, 12. König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges, 14. Zur sozialen Funktionalisierung von Gärten im 18. Jahrhundert siehe außerdem Cornelia Klinger, „Zwischen Haus und Garten. Weiblichkeitskonzepte und Naturästhetik im 18. Jahrhundert“, in: Christiane Holm/Holger Zaunstöck (Hg.), Frauen und Gärten um 1800. Weiblichkeit – Natur – Ästhetik, Halle (Saale) 2009, 12–35. 15 Vgl. T horstein Veblen, T heorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen (dtv Bibliothek), Köln 1958. 13 König, 14 Vgl.
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riserinnen und Pariser jedoch des Müßiggangs, denn ihr Aufenthalt würde letztlich wenig Produktives abwerfen und sei vielmehr als eine Zeitverschwendung zu charakterisieren. Und noch zwei weitere Aspekte fallen auf. Die Vorgänge verknüpft der Anonymus mit einer geschlechterspezifischen Rollenverteilung, in der die weiblichen ‚Spazier-Sitzerinnen‘ eine entschieden passive Rolle einnehmen. Eigens betont der Korrespondent in diesem Zusammenhang das gesellige Miteinander, das durch das „Ersticken“ ironische Ambivalenz offenbart. Insgesamt changieren die beschriebenen Praktiken zwischen Rückzug und Geselligkeit. Was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt, gerät für den Tuileriengarten zum wesentlichen Kriterium. Prägend ist eine klare Abtrennung der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen – eine Unterscheidung, die bis in die Spazierpraktiken hineinreicht. Insgesamt jedoch bleibt festzuhalten, dass die Darstellung des Tuileriengartens den zuvor geschilderten Coventgarden und Jardin des Plantes deutlich gegenübersteht. Hatte dort das freie Verweilen in der Zeit durch die Beobachter dominiert, verschiebt sich die Perspektive hier auf die beobachteten Pariserinnen und Pariser. Dies geht damit einher, dass verstärkt soziale Praktiken ins Zentrum rücken, die gesellschaftlich-ostentative Muster bedienen und so zusammen mit den ersten beiden Textstellen ein spannungsreiches Feld entwickeln. Nimmt man die drei dargestellten Rückzugsorte und die dazugehörigen Beobachterkonstellationen zusammen, so lässt sich folglich von zwei Stoßrichtungen sprechen. Während in den ersten beiden Beiträgen die Erfahrung des einzelnen Korrespondenten sowie dessen Bildungsarbeit zentral sind, wechselt die Perspektive im Tuileriengarten. Dort sind nicht nur die Fragestellungen zwischen gesellschaftlicher Trennung und räumlichem Zusammenleben entscheidend. Vielmehr betont der Berichterstatter, dass das Zusammenspiel beider Pole zu einer herausragenden Beobachtungsposition führen könne. Schließlich, so lässt sich der Eindruck gewinnen, korreliert die inhaltliche Verschiebung unmittelbar mit einer modifizierten Erzählweise. Dominieren in Coventgarden und dem Botanischen Garten persönliche räumliche Erkundungen der Korrespondenten, verschiebt sich der Schwerpunkt in der dritten Textstelle auf die beobachteten Akteurinnen und Akteure. Die Differenzierung in beobachtende und beobachtete Formen urbaner Muße (Kap. 3) gerät zu einem maßgeblichen Kriterium. Zugleich zeigt sich, dass gerade die aus den Pariser Gartenanlagen geschilderten urbanen Verhaltensmuster ambivalent inszeniert sind. Sie oszillieren, so vermitteln es die zitierten Korrespondenten, zwischen gesellschaftlicher Funktio nalisierung und individuellen Freiräumen. Während die Berichterstatter selbst durchweg den genießerischen Aspekt betonen, schreiben sie den Stadtbewoh nerinnen und ‑bewohnern durchaus davon abweichende Attribute zu. Sie wirken oftmals wie in ein zweckrationales Schauspiel eingegliedert, das gleichwohl auf die deutschen Beobachter einen müßiggängerischen Eindruck vermitteln kann.
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9. 2. Freuden aller Art: Vergnügungsorte als Mußeorte? Alle im vorangegangenen Kapitel untersuchten Textstellen haben zwei Dinge gemeinsam. Zum einen verhandeln sie urbane Rückzugsräume, die sozial in ganz unterschiedlichen Konstellationen auftreten. Selbst dort, wo sich größere Menschenmengen einfinden, bleibt die urbane Regression dominant. Zweitens zeichnet alle Passagen eine Spannung zwischen einem künstlich angelegten Naturraum mitten in der Stadt und der kulturellen Belebung desselben aus. Der letztgenannte Aspekt lässt sich sowohl bei London als auch in Paris für eine weitere Ortsgruppe identifizieren. Aus beiden Metropolen datieren Berichte, die im axiologischen Feld von Natur und Kultur verortet sind und sich vornehmlich nicht dem Rückzug widmen. An Vergnügungsorten wie dem Londoner Vauxhall oder dem Pariser Tivoli ist vielmehr die Affirmation des urbanen Lebens zentral, das sich in verschiedenen Vergnügungsformen spiegelt. Dass sowohl Paris als auch London in der Hinsicht eine Rolle spielen, widerlegt zumindest stellenweise die T hese, in London und Paris stehe „dem nährende[n] London d[as] belustigende Paris gegenüber“.16 Hinsichtlich Formen urbaner Muße besteht die Frage, ob unter solchen turbulenten und betriebsamen Gegebenheiten ein freies Verweilen in der Zeit überhaupt möglich ist. Mehr noch als in den bisherigen Passagen ist die Differenz zwischen den Beobachterfiguren und den Beobachteten relevant. Dabei geht es erneut um die Frage, inwiefern die Darstellungen zwischen gesellschaftlich inszenierten und funktionalisierten Schauspielen einerseits und individuellen Freiräumen andererseits schwanken. Gerade in den Darstellungen zu Vauxhall und Tivoli treten durchaus heterogene Muster auf. Während der Londonkorrespondent Hüttner Parallelen zwischen seiner eigenen Wahrnehmung und den anwesenden Menschenmassen zieht, entfaltet der Pariskorrespondent Winckler ein komplexeres Bild. Seine Darstellung vermengt, ganz im Sinne der bereits für die Rückzugsräume verhandelten Spannungsverhältnisse, verschiedene Wahrnehmungsmuster, die beständig zwischen städtischem Trubel und erzählerischem Rückzug changieren. Vauxhall: Zentrum der Londoner Vergnügung Für London steht in der Zeitschrift vor allem eine Anlage zur Debatte, Vauxhall Gardens.17 Dass sie um 1800 als topischer Vergnügungsort fungiert, zeigen unter anderem die zeitgenössischen Berichte, wie sie beispielsweise Hüttner in London und Paris präsentiert. Der Londoner Berichterstatter informiert im zweiten 16 Kaiser,
„‚Volksgeist‘ und Karikatur“, 266 f. Zur Geschichte Vauxhalls um 1800 siehe Alan Borg/David Coke, Vauxhall Gardens. A History, New Haven u. a. 2011; Jonathan Conlin, „Vauxhall Revisited. T he Afterlife of a London Pleasure Garden, 1770–1859“, in: Journal of British Studies 45,4 (2006), 718–743. 17
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Band über einen erst kürzlich absolvierten Besuch in Vauxhall. Dass dieser trotz einer vermeintlich zurückgezogenen Gartenanlage ein genuin urbanes Massen erlebnis sein muss, postuliert Hüttner gleich einleitend: „Gestern war der große Garten in Vauxhal [sic] prächtig erleuchtet, und der schöne Abend hatte wenigstens 2000 Zuschauer dorthin gezogen“ (London und Paris II, 1798, 9). Von Anfang an manifestiert sich die enge Beziehung zwischen dem gestalteten Raum und den ihn belebenden gesellschaftlichen Gruppen. Einerseits handelt es sich um einen „Garten“, einen künstlichen Naturraum, der dem Städtischen entgegensteht. Andererseits kommt es durch die zahlreich Anwesenden, wie sie nur in einer Großstadt auftreten können, zu einer Urbanisierung der Anlage.18 Dass Hüttner den Besuch dennoch als ästhetische Erfahrung konturiert, zeigt sich gleich anfangs: Man mag dieses Londner Elysium noch so oft sehen, es zeigt immer neue Reize. Ranelagh ist der Hauptstadt nicht unwürdig, aber doch kommt es diesem Orte weder an Größe, noch Pracht, noch Bequemlichkeit bey. So oft ich in diesen Lustwald trete, fallen mir die heiligen Hayne bey Delphi ein. Ungeachtet der Anzahl Leute, hört man doch nie Lärm, nicht einmal Geräusch, sondern eine Art von Geflüster und leichtem Geraschel, welches durch die Menge langsam lustwandelnder Personen entsteht, die, von den himmlischen Tönen einer sehr guten Musik, von der mächtigen Wirkung einer der reichsten Erleuchtungen und von dem großen, unbeschreiblichen Contraste entzückt, den das darauf ruhende Dunkel hervorbringt, blos zum Genuße hier versammelt sind. (London und Paris II, 1798, 9 f.)
Indem er den Londoner Vergnügungsort mit paradiesischen Topografien und geografischen Orten der griechischen Kulturgeschichte parallelisiert, deutet der Korrespondent auf eine idyllische Erfahrung, die er über den ganzen Bericht hinweg stilisiert.19 Der Vergleich mit einem anderen Vergnügungsort (Ranelagh) lässt diesen Aspekt umso stärker hervortreten. Zentral ist die imaginierende Kraft des Beobachters, den die räumlichen Impressionen zu idyllischen Assozia tionen verleiten. Er ästhetisiert Vauxhall zu einem Ort, der eine Gegenwelt zur Stadt bietet, obwohl er sie angesichts der zahlreichen Besucher gleichzeitig inkorporiert. Diesen heterotopen Charakter unterstreicht er zusätzlich dadurch, dass es zu einem klaren Bruch zwischen den angenommenen Konsequenzen der Personenzahl („Lärm, Geräusch“) und den tatsächlich erfahrenen Wahrnehmungen kommt. Besondere Geltung erfährt das ästhetische Vauxhall, das sich aus einer umfassenden Polysensorik ergibt. Sie ist von vermeintlichen Gegensätzen durchzogen. So wie die Stille der Anwesenden einen abgeschiedenen Charakter impliziert, konterkariert die andauernd anwesende – „himmlisch“ tönende – Musik ihn. Inwiefern die musikalischen Elemente für die ästhetische Erfahrung 18 Vgl. zu dieser T hematik Reinermann, „Königliche Schöpfung, bürgerliche Nutzung und das Erholungsbedürfnis der städtischen Unterschichten“. 19 Den historischen Aufbau Vauxhalls beschreibt Girouard, Die Stadt, 191 f.
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prägend sind, betont Hüttner später noch einmal eigens. So handle es sich bei der „Musik in der Mitte“ um die „beständige Feder, welche ein so verschiedenes Publikum in Spannung erhält“ (London und Paris II, 1798, 10).20 Die akustischen Gegenläufigkeiten spiegeln sich zusätzlich auf visueller Ebene. Wo einerseits die Illumination des Sommerabends wesentlich und stimmungsbildend ist, kon trastiert die nächtliche Rahmung sie andererseits scharf. Vauxhall ist für den Berichterstatter kurzerhand ein Ort miteinander harmonisierender Antinomien. Eines ist den genannten Gesichtspunkten indes gemeinsam. Die Anwesenheit der vielen Menschen sowie die ästhetische Raumqualität durch akustische und visuelle Maßnahmen zielen letztlich auf den Genuss ab, der sich besonders in den „langsam lustwandelnden Personen“ niederschlägt. Somit gehen Beobachterfigur und Beobachtete ein zueinander paralleles Verhältnis ein. Der Spaziergang durch die Vergnügungsanlage, wie der Korrespondent ihn praktiziert, spiegelt sich in den beobachteten Personengruppen. Wie bereits bei den urbanen Rückzugsräumen spricht er die soziale Ausdifferenzierung an.21 Die Skizze der Anwesenden führt unmittelbar zur Frage, welchen gesellschaftlichen Gruppen sie entstammen. Hierzu bezieht Hüttner sehr wohl Stellung: Man trifft hier nicht die beste Gesellschaft an; sie ist vielmehr nirgends vermischter und zweydeutiger, und wenn sich ja Leute vom ersten Tone hierher verirren, so ist es im nachläßigsten Halbanzuge, um nicht erkannt zu werden. Aber dies gilt doch eigentlich nur von den Damen. Denn sonst jagt hier mancher Lord, mancher Nabob nach verbotenen Früchten, die allerdings hier in der größten Mannigfaltigkeit feil sind. Je bürgerlicher, je geputzter, obwohl hier und da ein Landmann erscheint, der seinen feinen Hut noch mit einer Wachsleinwanddecke überzogen hat, und ein Landprediger, dessen Perücke vor acht Tagen gepudert gewesen ist. (London und Paris II, 1798, 2)
Wie beispielsweise im Tuileriengarten ergibt sich die soziale Raumnutzung durch gleichermaßen segregierende und integrierende Momente. Auf den ersten Blick wirkt Vauxhall gesellschaftlich liberal, was sich in „vermischter und zweydeutiger“ Manier niederschlägt. Bald wird klar, dass der Vermengung unterschiedlicher Lebensformen jedoch gleich doppelt Schranken gesetzt sind. Zum einen unterliegt die Anlage einem geschlechterspezifischen Reglement. So wie die Besucherinnen scheinbar verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen entstammen, gilt dies umso weniger für die männlichen Besucher, die in aller Regel den wohlhabenden Schichten zugehören. Überdies findet sich der eindeutige Hinweis, dass der Garten grosso modo auf ein sozial definiertes Publikum beschränkt sei. 20 Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung von Kunst in Garten- und Parkanlagen vgl. Marianne Kesting, „‚Arkadien in der Hirnkammer‘ oder Die Enklave des Parks als Sonderfall artifizieller Landschaft“, in: Manfred Smuda (Hg.), Landschaft (Suhrkamp Taschenbuch 2069), Frankfurt am Main 1986, 203–214, 204. 21 Hüttners Bericht ist ein symptomatisches Beispiel für die zeitgenössische Tendenz, in England und London soziale Verhältnisse und Gruppen zu beobachten, vgl. Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen, 233.
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Es handle sich um eine bürgerliche Vergnügungsgesellschaft, wodurch Vauxhall zu einem Ort bürgerlicher Selbstverständigung gerate.22 Ironisch spitzt Hüttner dies mit einer simulierenden Inszenierung zu. Selbst jene Besucherinnen und Besucher, die genuin nicht dem städtischen Bürgertum entstammen, versuchen sich äußerlich an die verlangte soziale und vestimentäre Optik anzupassen. Das wirft insgesamt ein neues und differenziertes Licht auf Vauxhall. Was im ersten Moment auf den Beobachter wie eine harmonische und authentische Menschenmenge wirkt, ist bei genauerem Hinsehen eine wohldurchdachte Inszenierung bürgerlicher Lebensformen.23 Zwischen dem „so verschiedene[n] Publikum“ (London und Paris II, 1798, 10) und einer auf den ersten Blick homogen wirkenden Zurschaustellung ergibt sich die Verbindungslinie einer gesellschaftlichen simulatio. Erneut ist die Beobachterposition wesentlich. Er befindet sich, wie in den vorherigen Berichten öfters zu erkennen, zwischen einer eigenen Teilnahme an den Geschehnissen und einer externen Beobachtung. Es ließe sich gar von einer Art ‚teilnehmender Beobachtung‘ sprechen, insofern er sich einerseits als Bestandteil der vergnüglichen Menge inszeniert, zugleich aber von dieser Warte aus beobachtet. Das zeigt sich abschließend noch einmal, wenn Hüttner einen typischen Abend in Vauxhall näher beschreibt: Um 8 Uhr geht das Conzert an. Während der Synfonien schlendert man in den weiten Gängen oder in den großen Sälen, wo historische Gemählde, Landschaften […] sind, umher, oder verliert sich ins Dunkel der Bäume, setzt sich in eine Loge, besieht die Transparenzen, ergötzt sich an den mannichfaltigen, auffallenden, schönen Gesichtern und Figuren, sieht die ersten Fäden der nächtlichen Romane anspinnen, bewundere wie die Mädchen ihre Netze nach diesem oder jenen auswerfen, bestellt sich ein Nachtessen, eine besondere Loge u. s. w. […] Ungefähr um 10 Uhr läutet man zu den Cascaden. […] Der gedachte Wasserfall macht dem hierher kommenden Publikum viel Vergnügen: das Geräusch ist gut nachgeahmt. Aber die vorüberfahrenden Kähne, die Fischerinnen könnten interessanter seyn. Die über die Brücke gehenden Wagen und Soldaten sind besser. […] Nach einigen Gesängen werden die Feuerwerke ungefähr um 11 Uhr abgebrannt. Ich habe hier nie ein gutes aber immer ein erträgliches Feuerwerk gesehen. Auch ist der Einlaß so mäßig (drey Schillinge) daß man nichts Vollkommenes verlangen kann. (London und Paris II, 1798, 11 f.) 22 Vgl. Kerstin Fest, „Strumpets and Nightingales. T he Amusement Parks of London“, in: Peter Wagner/Kirsten Dickhaut/Ottmar Ette (Hg.), Der Garten im Fokus kultureller Diskurse im 18. Jahrhundert (LAPASEC 4), Trier 2015, 101–113, 105. Sie analysiert Vauxhall „as one of the prime eighteenth-century public spaces where the rising middle-classes congregate and enjoy themselves“. Sie weist überdies darauf hin, „a concern with the dangers of too much social intermingling is also evident in contemporary texts“. 23 Vgl. zur Verschiebung Vauxhalls vom adligen zum bürgerlichen Repräsentationsort u. a. Riggert, Die Zeitschrift „London und Paris“, 83. Allgemeiner Kaiser, „Jede große Stadt ist eine Moral in Beispielen“, 570, der die Zeitschrift im Ganzen als Repräsentation bürgerlicher Denk- und Lebensformen versteht.
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Die vom Korrespondenten angeführten Tätigkeiten sowie die raumzeitliche Strukturierung gestalten sich parallel zum persönlichen Aufenthalt. Der erblickte Inhalt besteht in dem, was Hüttner selbst praktiziert. Im Mittelpunkt stehen neben dem ausschweifenden Spazieren das Beobachten der anderen Gäste sowie der Genuss der ästhetischen Darbietungen – jene Tätigkeiten, die Hüttner anfangs als zentral charakterisiert.24 Man „schlendert […], verliert sich, […] ergötzt sich“ in Vauxhall – alle diese Zuschreibungen suggerieren einen genießenden und entschieden entschleunigten Wahrnehmungsmodus. Die Gartenanlage, so erweckt Hüttner den Eindruck, steht damit diametral den urbanen Lebensbedingungen gegenüber, die in Geschwindigkeit und Hektik münden. Insbesondere über das Pronomen „man“ formuliert sich zudem die zwischen Teilnahme und Beobachtung changierende Korrespondentenposition. Er ist Teil der anwesenden Menschenmenge und genießt die gleichen Annehmlichkeiten von Vauxhall. Zugleich ist er aber eine Art externer Beobachter, der den Leserinnen und Lesern die lokalen Eigenarten vermitteln möchte. Das gewinnt insofern eine Doppeldeutigkeit, als dass der Modus des genießenden und ästhetischen Beobachtens exakt jene Form der Wahrnehmung abbildet, die allgemein in Vauxhall dominiert. Für Hüttner steht außer Frage, dass die Vergnügungen das Nonplusultra darstellen, denn „wenn allemal viel auf die ersten Eindrücke ankömmt, so kann man den Ankömmling an keinen Ort des Vergnügens führen, der ihn mehr für London einnähme, als Vauxhall“ (London und Paris II, 1798, 12). In einem weiteren Artikel berichtet Hüttner unter der Überschrift „Neueste Feten im Vauxhall“ (London und Paris XV, 1805, 244) erneut über den Vergnügungsort. Die dortigen Beschreibungen lassen sich weitgehend mit dem ausführlicher zitierten Artikel vergleichen. Von gesondertem Interesse ist das jedoch das zu lesende Fazit, das verstärkt die Londoner Wahrnehmung registriert: „Doch wie die Londner und alle Großstädter sind! den meisten von ihnen, besonders den Weibern, ist so ein Gewühl in und außerhalb Vauxhall, nichts weniger als unangenehm. Je toller es hergeht, desto mehr ‚delightful‘, ‚charming:‘ nur muß es ihnen weder an den Staat noch an die Person kommen“ (London und Paris XV, 1805, 249).25 Die Conclusio bestätigt, was sich bereits in Hüttners längerem Bericht angedeutet hatte. Vauxhall schwankt zwischen einem urbanen Rückzugsund einem massenbevölkerten Versammlungsort. Daraus lässt sich, sowohl für den Korrespondenten als auch die Besucherinnen und Besucher, nicht homogen auf das Vorhandensein urbaner Muße schließen. Gerade Hüttners Berichte über die Londoner Vergnügungsanlage demonstrieren, dass im größten Trubel – selbst an Orten, die diesem primär etwas entgegensetzen wollen –, solche zur Bedeutung von künstlerischen Darbietungen in Vauxhall um 1800 Fest, „Strumpets and Nightingales“, 102–104. 25 Auf dieses Motiv in London und Paris hat bereits Riggert, Die Zeitschrift „London und Paris“, 83, hingewiesen. 24 Vgl.
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Formen des Verweilens denkbar und möglich sind. Insbesondere die topische Mußepraktik des Spazierens sticht dabei deutlich hervor und stellt für den Korrespondenten das eigentliche Vergnügen dar. In starkem Kontrast steht dies teilweise zu den geschilderten Londonerinnen und Londonern. Sie nehmen, so die Auskunft Hüttners, an einem inszenierten gesellschaftlichen Schauspiel teil. Tivoli: Natürliche Idylle und urbane Mechanismen Was Vauxhall für London ist, muss Tivoli für Paris sein. So lautet zumindest das Fazit, wenn der Blick auf einen Bericht des Pariser Hauptkorrespondenten Winckler gleich im ersten Band von London und Paris geht. In vielen Gesichtspunkten konturiert er für die bedeutende Pariser Vergnügungsanlage ein Bild, das sich mit dem vergleichen lässt, was Hüttner für Vauxhall formuliert. Was an der Passage indes heraussticht, ist eine grundlegend veränderte Erzählhaltung, die das von anderen Textstellen bekannte Prinzip des imaginierten Spaziergangs aufgreift. Mit der modifizierten narrativen Ausrichtung geht eine zunehmend betonte Subjektivität einher, wie die ersten Abschnitte des fünf Kapitel umfassenden Artikels erkennen lassen. Nach einigen einleitenden Bemerkungen zur Pariser Vergnügungssucht lädt Winckler ein: Begleiten Sie mich nun einmal an einige dieser Orte. Schade daß ich nicht Zeichner bin, ich fände oft hier herrliche Gruppen zu kopiren. – Unser erster Ausflug soll billig nach Tivoli (oder dem ehemaligen jardin Boutin) gehen. Sie treffen hier nicht nur die zahlreichste sondern auch glänzendste Gesellschaft an; der Garten ist sehr weitläufig, und sehr mannichfaltig. (London und Paris I, 1798, 352)
Von Beginn an führt der Korrespondent einen Spaziergang durch die Anlage und damit verbundene Beobachtungen ein. Sie zeichnen sich vorrangig durch vielfältige Eindrücke und eine besondere Ästhetik aus. Gleichzeitig deutet Winckler erneut jenen Konnex an, der für Vauxhall prägend war. Die erwarteten unzähligen Eindrücke korrelieren mit einer Vielzahl von Gästen. Beides signalisiert die Spannung zwischen einer massenbevölkerten Vergnügungsanlage und einer tendenziell exzentrischen Beobachtung. Das zeigt sich umso mehr, wenn der Korrespondent und die imaginierte Begleitfigur den Garten betreten: Sie können sich leicht vorstellen, wie die Menge hieherströmte! Der Garten wurde ohngefahr um 4 Uhr geöffnet; da aber der beau monde hier erst zwischen 5 und 6 Uhr, auch wohl später zu Tische geht, so kam die Menge der Zuschauer erst zwischen 7 und 8 Uhr an. Ich setzte mich, während dieser Zeit, eine gute Weile in die Gegend des Eingangs, aber wer in diesem Augenblick hinaus hätte gehen wollen, hätte sich im eigentlichen Sinne des Worts durch den Strom der Hereinkommenden durchdrängen müßen. […] Finden Sie ein Vergnügen daran, die ankommenden Personen zu mustern, die Perrucken à la Brutus, à la Titus, à la Caracalla, und wie sie noch alle heißen mögen, […] zu sehen, so setzen Sie sich hier ein wenig auf einen der daselbst befindlichen Stühle; Sie sind in einem angenehmen, kühlen Schatten, auf der einen Seite sorgt ein auf einer Anhöhe be-
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findliches Orchester für die geistigern Bedürfnisse Ihres Ohrs, […]. (London und Paris I, 1798, 353–355)
Winckler eröffnet gleich anfangs einen Erzählbogen, der im weiteren Verlauf zum maßgeblichen narrativen Kriterium gerät. Ihm geht es in erster Linie um eine umfassende raumzeitliche Beschreibung, die sich sehr eng mit gesellschaftlichen Aspekten verbindet. Das zeigt sich, wenn er die anschwellenden Besuchermassen mit dem Auftritt der „schönen Welt“ gleichsetzt und als sozial bedingt charakterisiert. In einem zweiten Schritt spezifiziert er zusätzlich die Beziehung zwischen dem zu beobachtenden Geschehen und der Beobachterposition. Für den Moment, so seine Auskunft, sei es für eine angenehme Beobachtung wenig gelegen, sich unter die ankommende Menschenmenge zu mischen. Vielmehr präferiert er eine räumlich stabile und klar externe Perspektive, in der die spazierende Dynamik auf die ankommenden Besucherinnen und Besucher ausgelagert ist. Dies unterstreicht die Annehmlichkeit des sitzenden Wahrnehmens, welche die polysensorische Erfahrung um taktile, akustische und kulinarische Eindrücke bereichert. Überdies zurrt Winckler den ästhetischen Maßstab für einen Abend in Tivoli fest, wenn er die Vorteile der gegenwärtigen Beobachtungsposition anführt. Das größte „Vergnügen“ bereitet es ihm, wenn er die schöne Welt in ihrer ästhetisierten Aufmachung bewundern kann. Was konkret über einen beigemischten ironischen Unterton verfügt, verweist noch einmal auf jene Expertise der Beobachterfiguren, die sich als Charakteristikum von London und Paris herauskristallisiert. Für diese Beobachtungsart ist schließlich wieder eine „angenehme“ Perspektive bedeutsam, die Winckler mehrfach heraushebt. Das steht in genuiner Spannung zum beobachteten Geschehen, das, wie der Korrespondent ausdrücklich betont, explizit von körperlichen Unannehmlichkeiten geprägt sein kann. Anschließend präsentiert Winckler vier Kapitel, die jeweils „Französische Gärten“, „Die große Wiese“, „Illuminationen“ und „Feuerwerke“ behandeln. Markant ist – insbesondere für den ersten Abschnitt –, wie enzyklopädische und subjektive Elemente einander durchdringen. Sie münden nach ausführlichen Erläuterungen zur botanischen Gartenanlage darin, den eigenen Spaziergang genauer zu beschreiben: Haben Sie nun in den sogenannten Champs Élysées mit der langsam, durch die links und rechts sitzenden Zuschauer, fortwallenden Spaziergängermaße bis ans Ende der Allée sich fortgeschoben und fortschieben lassen, so finden Sie ein großes Zelt, ein wohlbesetztes Orchester, und also alle mögliche Gelegenheit, Ihre etwaige Tanzlust zu befriedigen. […] So hätten Sie nun die eine Hälfte des Französischen Gartens durchwandert. Von der andern Hälfte sehen wir noch etwas im Rückweg. – Wenn wir nicht Krieg mit England hätten, so würde ich Sie in einen Englischen Garten führen. Da jetzt aber alle Englische Waaren bey uns verboten sind; so führe ich Sie in einen Iardin pittoresque. (London und Paris I, 1798, 357 f.)
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Nachdem der Korrespondent und die imaginierte Begleitperson anfangs sitzend verharren, kommt nunmehr der Spaziergang als weitere Wahrnehmungsform hinzu. Beim Lustwandeln durch die typisch französischen Barockgärten zeigt sich, dass die Fortbewegungsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Angesichts der angeführten Menschenmassen ist es schwer möglich, sich frei zu bewegen und zu entscheiden, wem oder was man seine Beobachtung widmen möchte. Allerdings verweist die Formulierung „fortgeschoben und fortschieben lassen“ auf ein Äquilibrium der Bewegungsfreiheit, das mit einer langsamen Fortbewegung einhergeht. Obwohl die Besuchermassen ein störendes Element bilden, entsteht durch die vielen langsam Spazierenden eine Entschleunigung, die der Berichterstatter als angenehm empfindet. Demgegenüber steht das fixierte Tanzzelt, in dem sich die Besucherinnen und Besucher vergnügen können. Es deutet sich an, was im späteren erzählerischen Verlauf noch bedeutender wird. Obwohl Tivoli grundlegend als paradigmatischer Vergnügungsort auftritt, liegen in der Anlage selbst Binnendifferenzierungen vor. Schließlich ist bemerkenswert, dass an einem vermeintlich unpolitischen Ort das Politische zum entscheidenden Kriterium gerät. Der Korrespondent ruft die Differenz zwischen französischem Barock- und englischem Landschaftsgarten (Kap. 4) auf, wobei seine Kritik am gegenwärtigen Kriegszustand maßgebend ist. Dass sich der wohlgeordnete und systematisch angelegte Barockgarten auf anderer Ebene spiegelt, zeigt die erste Beobachtung im angekündigten pittoresken Garten: „Sie sehen hier einige Erhöhungen, wir wollen sie Hügel nennen; auf einigen derselben sind in Umzäunungen etliche Lämmer und junge Ziegen; ein Knabe und ein Mädchen, als Schäfer und Schäferin verkleidet, hüten sie, und sollen wahrscheinlich in Gedanken uns nach Arkadien versetzen“ (London und Paris I, 1798, 358 f). Die Parallele zwischen der barock konzipierten Gartenanlage und dem Schäferidyll sticht markant hervor. Mit dem Verweis auf die idyllischen Traditionen schimmert eine Ästhetik heraus, die für die Spielarten urbaner Muße als geradezu topisch gelten kann. Mit „Arkadien“ ist jene literarische Wunschlandschaft aufgerufen, die kulturgeschichtlich wie keine zweite für Mußeerfahrungen steht.26 Indem sie allerdings inmitten einer urbanen Vergnügungsanlage situiert ist, besteht eine bemerkenswerte Spannung zwischen dem genuin der Stadt entgegenstehenden Rückzugstopos ‚Arkadien‘ und seiner konkreten Verräumlichung. Es ließe sich zugespitzt behaupten, dass die thea tralen Szenen den Besucherinnen und Besuchern eine Mußeerfahrung präsentieren, die es vermeintlich nur jenseits der Stadt geben kann und die sich ihnen zugleich inmitten derselben präsentiert. „Die räumliche Versetzung eines Städters in einen ländlichen Zufluchtsraum, der durch die topischen Merkmale des zu Arkadien als literarischer Mußelandschaft u. a. Klinkert, Muße und Erzählen; Klinkert, „Der arkadische Chronotopos“. In erweiterter Perspektive als „literarische Wunschlandschaft“ Klaus Garber, Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur, München 2009, bes. 12. 26 Vgl.
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angenehmen Raumes (locus amoenus) gekennzeichnet ist“27, verbindet sich hier dezidiert mit dem urbanen Getriebe. Wie bei den Rückzugsorten lassen sich die ländlichen Attribute als urbane Projektion fassen.28 Dass die Muster einer naturalen Idylle inmitten des städtischen Treibens gleichzeitig nur teilweise den Garten charakterisieren, zeigt die Schilderung der „große[n] Wiese“ (London und Paris I, 1798, 359), die dem Korrespondenten ein eigenes Kapitel wert ist. Wo erwartbar wäre, dass die idyllischen Anklänge fortgesetzt würden, dominiert ein grundverschiedenes Bild: „Aus dem Iardin pittoresque kommen wir nun auf einen großen freyen Platz, la grande prairie benamset, –, allmählig wird nun der Garten lebhafter, und die mancherley Arten von Belustigungen beginnen. Sie sind nun in einem Nu auf den boulevard du temple versetzt“ (London und Paris I, 1798, 359). Die Parallelisierung der vielleicht belebtesten Straße von Paris (Kap. 8. 3) mit der Gartenanlage verschränkt urbane und naturale Muster.29 Zugleich ist im folgenden Textabschnitt erkennbar, dass damit eine neue Wahrnehmungsform für die Beobachterfiguren einhergeht. Hatten bei der Bewunderung der ankommenden Besucherinnen und Besucher sowie des arkadischen Idylls kontemplative Assoziationen dominiert, wandelt sich dies grundlegend. Bei der Betrachtung der „großen Wiese“ regiert eine kontingente Beobachtung, wie sie sonst eher auf den bevölkerten Straßenzügen vorkommt. Die wahrgenommenen „Spectakel“ (London und Paris I, 1798, 363) erhalten je einen eigenen Absatz und sind mit Deiktika wie „dort“ (z. B. London und Paris I, 1798, 364) oder unvermittelt eingeschobenen Ausrufen versehen. Der Korrespondent stilisiert die „große Wiese“ zu einem Ort, an dem sich urbane Wahrnehmungsmuster eins zu eins widerspiegeln. Das zeigt letztlich auch das erzählerische Fazit: „Der ganze Garten ist also, wie Sie sehen, außerordentlich lebhaft; – Gaukler, Taschenspieler, Bänkelsänger, Gukkastenmann […] alle diese zogen den ganzen Abend bis zum Einbruch der Nacht in den verschiedenen T heilen des Gartens umher“ (London und Paris I, 1798, 364 f). Die lebhafte Beschreibung der großen Wiese kontrastiert das vorweg Dargestellte. Sowohl bei der Ankunft in Tivoli als auch mitten in der Anlage dominieren die Menschenmassen die Wahrnehmung. Wo im ersten Abschnitt langsame und zurückgezogene Epitheta sowie ästhetisierende Muster stilbildend waren, rücken im zweiten Teil assoziative und reihende Techniken ins Zentrum.
27 Klinkert,
„Der arkadische Chronotopos“, 105. Vgl. u. a. jüngst Frölich-Kulik/Langner, „Rurbane Landschaften“, 13. Zur Verbindung von Idyllik und Muße um 1800 daneben Jan Gerstner, „Idyllische Arbeit und tätige Muße. Transformationen um 1800“, in: Tobias Keiling/Robert Krause/Heidi Liedke (Hg.), Muße und Moderne (Otium 10), Tübingen 2018, 7–18. 29 Zur Überlagerung von städtischen und ländlichen Darstellungsmustern vgl. Garber, Arkadien, 39–42. 28
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Wie schnell die Muster variieren können, zeigt abschließend die Schilderung des nächtlichen Tivoli, dem der Korrespondent gleich zwei weitere Kapitel widmet. Er hebt die veränderte ästhetische Perspektive sowie damit einhergehende neue Eindrücke hervor: Indessen ist es völlig Nacht geworden, und der Garten hat durch eine prächtige, geschmackvolle Illumination wieder neue Reize erhalten. Die vielen geraden und gekrümmten Alleen sind zu beyden Seiten mit einer guirlandenförmig geordneten Reihe von farbigten gläsernen Lampions behangen, die ein sehr angenehmes Licht verbreiten. In gehörigen Distanzen sind überdies noch prächtige Lustre’s angebracht, und zu Ende der etwas beträchtlichern Alleen bildet eine schöne etwa acht Schuh hohe Vase, deren Zeichnung aus Illumination en verres de couleur besteht, mehrere hübsche coups d’oeil. Eine Menge Spaziergänger und Spaziergängerinnen bewegen sich indessen langsam, und Arm in Arm durch die verschiedenen T heile des Gartens, um alle diese Herrlichkeiten zu besehen….“ (London und Paris I, 1798, 366 f.)
Mit dem Einbruch der Nacht erhält die optische Ästhetik wieder ihre leitende Bedeutung. Für den Beobachter ist es insbesondere das „sehr angenehme[] Licht“, das zu einer idyllisch angelegten Stimmung beiträgt. Sie verstärkt sich durch Verweise auf das ein oder andere zu erblickende Kunstwerk, denen der Korrespondent durch einen „coup d’oeil“ herausragende Eindrücklichkeit zuschreibt. Zeichnet die große Wiese ein tendenzielles urbanes Chaos aus, das zu überlasteten Sinnen führt, ist nunmehr die anfangs prägende Ordnung zurückgekehrt. Dies unterstreicht Winckler durch einen erneuten Blick auf die Spaziergängerinnen und -gänger, die für ihn das zentrale Geschehen bilden. Er parallelisiert die beobachtenden und beobachteten Praktiken und weist ebenso auf die explizite Langsamkeit hin, mit der alles vonstattengeht. Der Zirkelschluss zum anfänglichen Bericht ist vollzogen und das bisweilen chaotische Intermezzo auf dem „boulevard du temple“ der großen Wiese wirkt wie eine vorübergehende Episode. Dennoch bleibt festzuhalten: In Wincklers Darstellung offenbart sich Tivoli als heterogener Garten, der einzig durch den Rückzug in eine paradiesisch anmutende Anlage charakterisiert ist. Das Nebeneinander von idyllischen Passagen und großstädtischer Verworrenheit konstituiert das eigentliche Tivoli. Für die intendierten Leserinnen und Leser hält der Korrespondent indes abschließend noch etwas bereit: Da Sie nach einem so langen Spaziergang müde seyn dürften, und sich leicht, wenn Sie die Straßen noch nicht genau genug kennen, besonders wenn Sie weit von hier wohnen, auf dem Nachhauseweg verirren könnten, so rathe ich Ihnen, sich durch ein Cabriolet in ihr Logis führen zu laßen; und da es schon Mitternacht ist, so wünsche ich Ihnen gute Nacht. Während Sie sich auskleiden lassen, können Sie noch das Liedchen: les plaisirs de Tivoli, lesen, es kann Ihnen noch einmal als Rückerinnerung an alle die schönen Sachen dienen, die Sie heut sahen. Sind Sie Sänger oder Klavierspieler, so wird Ihnen die hinten angefügte Musik nicht unwillkommen seyn. (London und Paris I, 1798, 376)
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Nachdem die Zeitlichkeit sowie damit einhergehende Ermüdung zurückgedrängt waren, führt Winckler sie wieder ein. Hervorstechend sind die verschiedenen imaginativen Ebenen, die der Korrespondent anspricht. Durch eine musikalische Erinnerung an den Spaziergang – tatsächlich sind Text und Melodie ebenfalls abgedruckt – kommt es zu einem Kurzschluss zwischen berichtetem und imaginiertem Spaziergang. Es geht dem Korrespondenten weiter darum, Tivoli dem Lesepublikum mit seiner Beschreibung so nahe wie möglich zu bringen. Er versucht, eine multidimensionale Erfahrung zu erzeugen. Hier kehrt argumentativ das Postulat der Herausgeber wieder, ein bürgerliches Publikum mit dazugehörigen kulturellen Zeugnissen, seien es die ästhetisierten Berichte oder eine musikalisch-lyrische Beigabe, zu versorgen.30 Nimmt man die Berichte zu Vauxhall und Tivoli zusammen, lässt sich überblickend hinsichtlich der sozialen Implikationen ansetzen. Obwohl es Unterschiede zwischen beiden Orten gibt und sich in Tivoli das Urbane verstärkt ausdrückt, zielen beide Darstellungen auf ähnliche Gesichtspunkte ab. In beiden Fällen dominiert eine soziale Disposition, welche die Nutzung vorrangig klar definierten gesellschaftlichen Gruppen zuweist. Eng damit verbindet sich eine stark ausgeprägte Ästhetisierung des ‚Angenehmen‘, in der das Londoner „Schöne“ parallel zur „beau monde“ steht, die Tivoli besucht. Von der Warte aus ist die eingangs aufgeworfene Überlegung, ob an Plätzen wie Vauxhall oder Tivoli von urbaner Muße gesprochen werden kann, neu zu beleuchten. Es sind verschiedene Formen entsprechender Wahrnehmung, kontemplationsorientierte wie assoziativ-kontingente, identifizierbar. Dies gilt sowohl für die Beobachter als auch für die beschriebenen Beobachteten. Stets bleiben sie dabei jedoch umfänglich an die jeweiligen sozialen Spezifika gebunden. Nur bestimmte gesellschaftliche Gruppen haben überhaupt Zugang zu den Orten und agieren dort nach einem spezifischen Reglement. Wie für die urbanen Rückzugsräume ist daher eine Spannung zwischen gesellschaftlicher Inszenierung und subjektiven Freiräumen als leitend zu verstehen. Die Möglichkeit urbaner Muße, genauer noch spazierender Wahrnehmungsformen, kristallisiert sich zusehends vor der Frage heraus, inwiefern die Beobachter oder Beobachteten die nötigen individuellen Freiräume inszenieren. Dies verbindet sich konkret überdies mit spannungsreichen räumlichen Beziehungen. Die Darstellungen sehen in den geschilderten Vergnügungsanlagen einen Rückzugsort; gleichzeitig markieren sie insbesondere, wie sehr sich etwa Vauxhall oder Tivoli durch urbane Attribute auszeichnen. Wie im vorherigen Kapitel gerät das Verhältnis zwischen städtischem und gezähmtem natürlichem Raum zu einem Leitkriterium. 30 Vgl. zur Bedeutung solcher Materialien für den zeitgenössischen deutsch-französischen Kulturtransfer Rolf Reichardt, „Probleme des kulturellen Transfers der Französischen Revolution in der deutschen Publizistik 1789–1799“, in: Holger Böning (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts (Deutsche Presseforschung 28), München 1992, 91–146.
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9. 3. Exkurs: Wien, die geheime Hauptstadt der Flaneure um 1800 Wesentlich bedingt durch die napoleonische Kontinentalsperre, gerät London und Paris um 1810 in größere journalistische Schwierigkeiten. Die 1806 durch den französischen Kaiser verhängte Wirtschaftsblockade gegen Großbritannien bewirkt, dass Berichte aus der englischen Metropole die deutsche Redaktion nur eingeschränkt und sukzessive seltener erreichen. Die Journalherausgeber entschließen sich daher, der Zeitschrift einen neuen Gegenstand einzuverleiben. Ab 1811 stellen sie – unter verändertem Titel (Kap. 8. 1) – Wien als zweite Metropole neben Paris.31 Mit ihr rückt eine dritte Großstadt in das Journal, die noch einmal andere Spezifika birgt als London und Paris. Obwohl Wien quantitativ hinter den französischen und englischen Pendants zurücksteht, ist es als „Metropole der Habsburgermonarchie und Residenzstadt um 1800 das wichtigste urbane Zentrum im deutschsprachigen Raum“.32 Hinsichtlich der nationalen Dimension – für London und Paris ein maßgebliches Kriterium – handelt es sich um einen außergewöhnlichen Gegenstand. Darauf weisen die Zeitschriftenherausgeber anfänglich hin: Seitdem die österreichische Monarchie sich von Teutschland getrennt hat, ist die Aufmerksamkeit […] auf den Zustand dieses Reiches geweckt worden; – sey es, weil man den Werth eines amputirten Gliedes erst nach dem Verluste desselben kennen lernt, oder weil das Fremde überhaupt mehr die Neugierde reizt, als das Einheimische. (London und Paris XXV, 1811, 45)
Die Herausgeber liefern für die Auswahl Wiens als neuem publizistischem Gegenstand ein bemerkenswertes politisch-nationales Argument. Sie verweisen auf die Konstitution des Kaisertums Österreich anno 1804 sowie auf die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im Jahre 1806. Mit diesen territorialen Umgestaltungen verbinden sie ein neues Verständnis der Beziehungen zwischen Österreich und dem restlichen früheren Reich. „Oesterreich“, so ihre feste Überzeugung, „ist uns fremde geworden“ – obwohl sie „das unsichtbare des gleichen Interesse, der Sprache, des Characters, und der Sitten“ (London und Paris XXV, 1811, 45) weiterhin als verbindendes Element sehen. Nichtsdestotrotz rücken die Herausgeber das fremdnationale Argument in den Vordergrund, indem sie mit ihm ihren Artikel eröffnen. Auch für Wien konstituiert folglich das enge Zusammenspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung ein maßgebliches Kriterium. Entsprechend formuliert der eröffnende Beitrag eine Großstadtpoetik, wie sie ebenfalls für London und Paris Bestand hat. In der „Einleitung der Herausgeber bei Eröffnung dieses Artikels“ (London und Paris XXV, 1811, 45) kündigen die Herausgeber an, „ein lebendiges, sprechendes Gemälde von der […] Stadt zu liefern, in ihrer Beständigkeit, wie in ih31
Zu Wien als Großstadt im 19. Jahrhundert vgl. Olsen, Die Stadt als Kunstwerk. „Gehen Sta(d)t Fahren“, 70.
32 Sadowsky,
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rer Veränderlichkeit, woraus der Leser das Characteristische von Wien kennen lernen […] könnte“ (London und Paris XXV, 1811, 50). Sie schließen mit ihren Ankündigungen unmittelbar an jene Großstadtpoetik an, die sie für London und Paris im allerersten Band formulieren. Sie wollen ein „lebendiges, sprechendes Gemälde“ präsentieren, eine transformierte Variante des Mercier-Modells (Kap. 6), um ein möglichst authentisches Bild der österreichischen Hauptstadt zu liefern. Sie stellen in Aussicht, dank „achtungswürdigen Männern in Wien“ und dem „erprobte[n] Beobachtungsgeist [d]er Correspondenten“ dem „Leser die stets sich verändernde, bewegliche Scene, welche die große Menschenmasse in Wien darstellt, so zu gegenwärtigen, daß er ein Zuschauer derselben zu seyn glaubt“ (London und Paris XXV, 1811, 52–54). Die Herausgeber heben auf eine theatrale Metaphorik ab, die als zentraler Bestandteil der deutschen Großstadtliteratur um 1800 gelten kann (Kap. 11). Hervorstechend ist, dass die Herausgeber für ihren neuen journalistischen Gegenstand auf einen Beobachtungsbereich abheben, der in engster Verbindung zur urbanen Wahrnehmung und zur spazierenden Großstadterkundung steht. Sie betonen in ihrer „Einleitung“ bezüglich der Korrespondentinnen und Korrespondenten: Sie werden treue Schilderungen des öffentlichen Lebens in Wien mittheilen, den Leser in die feinen Gesellschaften einführen, oder auch in die lustigen Versammlungen des Volkes; sie werden mit einem Wort die neusten authentischen Nachrichten von allen Gegenständen liefern, die Land und Volk characterisieren können. (London und Paris XXV, 1811, 51)
Das formulierte journalistische Programm hebt zum einen die Kriterien hervor, die auch für die englischen und französischen Pendants essentiell sind. Die zentrale Verbindung von Expertise und Authentizität sowie eine genauere Betrachtung nationaler Charakteristiken stehen für die London und Paris-Herausgeber im Mittelpunkt. Gleichzeitig elaborieren sie, an welchen konkreten Beobachtungsgegenständen sich diese Aspekte besonders ablesen ließen. Sie verweisen, hierin ist das Programm der arndtschen Großstadtpoetik sehr eng verwandt (Kap. 10. 1), insbesondere auf die öffentliche Dimension. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten sollen vorrangig öffentliche Versammlungsorte besuchen, um dort ihre kulturellen und gesellschaftlichen Eindrücke aufnehmen zu können. Daran anknüpfend schärfen die Herausgeber die inhaltliche Konzeption weiter: Man soll in dieser Zeitschrift eine fortlaufende Uebersicht aller öffentlichen Anstalten, der Schauspiele, Promenaden, der Feste und Volksspectakel, des Zustandes der Literatur und Kunst, der merkwürdigsten neuen Erscheinungen derselben, und möglichst genaue Auskunft über alle allgemein interessanten Angelegenheiten finden […]. (London und Paris XXV, 1811, 51 f.)
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Die Herausgeber formulieren ein eindeutiges thematisches Spektrum, das sich weitestgehend parallel zur Londoner und Pariser Berichterstattung verhält. Eine politische Berichterstattung über das von Napoleon 1809 in den Schlachten von Aspern und Wagram bekämpfte Österreich vermeidet das Journal. Es konzentriert sich auf die nationalen Eigenschaften sowie das öffentliche Wiener Leben. Das mag, analog zu London und Paris, in Vorsichtsmaßnahmen vor etwaiger Zensur begründet sein. Festzuhalten bleibt allemal, dass die verschiedenen Korrespondenten dem postulierten Anspruch reichlich Genüge leisten. Der Beobachtungsschwerpunkt: Öffentliches Leben Exakt den geschilderten Kontrast hebt ein anonymer Korrespondent hervor, der unter dem Titel „Wien im Sommer 1810“ (London und Paris XXV, 1811, 55) den allerersten Artikel liefert. Er betont: Ich glaubte hier noch viele Nachwehen von dem Ungemach des letztverfloßnen Jahres, Verstimmung, Noth und Klagen zu finden. Keineswegs! Kaum spricht man noch von dem Vergangenen, man lebt in der Gegenwart und ist dabei froher und glücklicher, als durch alles Brüten über Dinge, die nicht mehr zu ändern sind. Ich habe die Schlachtfelder von Aspern und Wagram besucht. Wie staunte ich, auf dem Boden, wo die Sichel des Todes so viele Tausende gemäht und verstümmelt hatte, schon nach Einem Jahr alles aufs sorgfältigste gebaut und im üppigsten Wachstum zu sehen. (London und Paris XXV, 1811, 55 f.)
Der Korrespondent verweist mit seinen überraschten Beobachtungen auf jene Aspekte, welche die Wienberichterstattung auch in den nachfolgenden Beiträgen maßgeblich prägen. Obwohl angesichts der zeitgenössischen Umstände anderes erwartbar wäre, steht die politisch-historische Dimension geringfügig zur Debatte. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten erleben vielmehr eine wachsende Großstadt, deren Bewohnerinnen und Bewohner sich durch eine glückselige Wohlstimmung und Geselligkeit auszeichnen. Geprägt sind die Artikel verschiedener Berichterstatterinnen und Berichterstatter von einem gemeinsamen Narrativ, das sich in erster Linie an spezifischen Örtlichkeiten äußert: den Promenaden und anderen öffentlichen Versammlungsorten. Dies lässt sich unter anderem am Artikel zu „Wien im Sommer 1810“ markant ablesen. Nachdem der Korrespondent zur Kriegsfolgenbewältigung referiert hat, kommt er sogleich auf zwei der wichtigsten Wiener Versammlungsorte zu sprechen: Der Prater ist mit seinen Schenkhäusern und herrlichen Alleen noch immer der Tummelplatz der eleganten Welt und der niedern Stände. […] Die Menge schöner Pferde und geschmackvoller Equipagen, welche sich in der Hauptallee beständig auf und ab bewegen, gewähren ein sehr unterhaltendes Schauspiel […]. Einen starken Zulauf hatten die sogenannten Volks- oder Belustigungsfeste, welche im Laufe des letztvergangenen Sommers im Augarten meistens zum Besten der Invaliden gegeben wurden. Sie waren eine Nachahmung des Vauxhall in London und des Tivoli in Paris; beide müssen aber in An-
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sehung des prächtigen Locals dem Augarten weit nachstehen. (London und Paris XXV, 1811, 57–59)
Öffentliche Vergnügungsorte wie der seit 1766 freigegebene Prater oder der seit 1775 zugängliche Augarten stehen symptomatisch für die Wiener Berichterstattung.33 Der anonyme Korrespondent hebt doppelt hervor, worin dies seine Gründe hat. Zum einen verweist er auf die allgemeine Dimension der öffentlichen Anlagen und ihren Status im europäischen Vergleich. Augarten und Prater, so das unbescheidene Fazit, seien das Nonplusultra der europäischen Vergnügungskultur. So sehr man diese Epitheta literarischen Stilisierungen zurechnen mag, verweisen sie auf eine Großstadtwahrnehmung, die Wien auf ein und dieselbe Stufe wie London und Paris stellt – zumindest unter dem Gesichtspunkt öffentlicher Vergnügungen. Der Beobachter verstärkt dies, indem er sein Argument durch ein stadtstereotypes Merkmal unterstreicht: „Ueberhaupt gefällt sich der Wiener nirgends besser, als unter einer zahlreichen Menge von Menschen, wo er bei jedem Schritte neue Gesichter und abwechselnde Gestalten erblickt“ (London und Paris XXV, 1811, 60).34 Er beschreibt eine urbane Verhaltens- und Wahrnehmungsform, die den Darstellungen aus London und Paris (Kap. 9. 1) ähnlich ist. Bemerkenswert ist indes, dass der Beobachter nur auf das Beobachten und maximal randständig auf das Beobachtet-Werden abhebt. Der Korrespondent formuliert damit eine wesentliche Differenz zu den englischen und französischen Berichten. Gerade unter dieser Perspektive kommt ein zweiter Aspekt hinzu, der für die urbanen Wahrnehmungsformen noch bedeutender ist. Der Korrespondent charakterisiert die Darbietungen im Prater als ein „unterhaltendes Schauspiel“ und hebt indirekt auf seine eigene Beobachtungsposition ab. Er stilisiert sich als externer Beobachter und verleiht seinen Beobachtungen gleichzeitig ein unterhaltendes Prädikat. Seine Ausführungen erinnern stark an vergleichbare Londoner und Pariser Anlagen, denen die Korrespondentinnen und Korrespondenten ähnliche Attribute zuschreiben (Kap. 9. 1). Er verweist aber zumindest in nuce auf eine weitere Dimension, die sich durchaus als Unterschied zu den Beschreibungen verstehen lässt. Bereits anfangs hebt er ausdrücklich darauf ab, der Prater sei „der Tummelplatz der eleganten Welt und der niedern Stände“. Er führt eine soziale Dimension ein, die gerade im Vergleich mit den Londoner und Pariser Beiträgen besonders heraussticht. Mit der räumlichen und bisweilen enthierarchisierten Gleichzeitigkeit von gesellschaftlichen Unterschieden bringt 33 Zum Prater als öffentlichem Wiener Vergnügungsort um 1800 siehe Girouard, Die Stadt, 193. 34 Darauf, dass Spaziergänge und Flanerien ein bedeutendes Element der literarischen Wienwahrnehmung konstituieren, weist u. a. Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns, 159, hin. Er ordnet sie jedoch, den eingangs skizzierten Argumentationsmustern folgend, erst im mittleren und späten 19. Jahrhundert ein.
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er einen Aspekt ins Spiel, der als Leitmotiv der wienerischen Berichterstattung zu verstehen ist. Spaziergänge durch Wien: Gesellschaftliche Gleichheit Paradigmatisch zeigt dies ein Artikel auf, den ein mit „A.“ signierender Korrespondent im selben Journalband veröffentlicht und der seine Ankunft in der österreichischen Hauptstadt skizziert. In seiner umfänglichen Darstellung hebt er zunächst auf den allgemeinen Charakter urbaner Lebensformen ab. Am stärksten arbeitet er die anonyme Dimension sowie die damit verbundene persönliche Freiheit heraus: Schon um dieser allgemeinen Vorzüge großer Städte willen, war mir’s, als träte ich in ein neues Leben, in ein freies Element, als ich, nach einer dreijährigen Abwesenheit, wieder durch die Straßen dieser volkreichen Hauptstadt fuhr. Kein Fenster öffnete sich, kein Fußgänger blieb stehen, um unser ziemlich abenteuerliches Fuhrwerk in Augenschein zu nehmen. Man verliert sich unter der Menge, wo Niemand von uns Notiz nimmt, und das ist der wahrhaft freie Styl des Lebens. (London und Paris XXV, 1811, 146)
Die historisch oftmals negativ gewandte urbane Anonymität versteht der London und Paris-Korrespondent als wesentlichen Vorteil des städtischen Lebens.35 Er betont explizit, dass niemand einen weiter beachte oder erkenne – und dies trotz eines Fortbewegungsmittels, das solche Wahrnehmungen sehr wohl zulassen würde –, ermögliche dem fremden Beobachter eine Freiheit, die er eindeutig positiv konnotiert. Der Anonymus wendet hier Argumentationsmuster an, die rund einhundert Jahre später Georg Simmel in seinem Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben ebenso betont, wenn er die urbane Anonymität als „eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit“36 registriert. Der Korrespondent unterstreicht sein Argument zusätzlich, indem er einen Begleiter namens „E*“ sprechen lässt, der „aus dieser Gleichgültigkeit, die man uns beim ersten Eintritt in Wien bemerken ließ, sogleich einen nachtheiligen Schluß […] auf die Trägheit des Geistes der Oesterreicher“ (London und Paris XXV, 1811, 147) ableiten will. Der Korrespondent weiß dieses Argument präventiv zu desavouieren: „Ich ließ ihn reden, und freute mich im Stillen, daß der junge Mann […] in Wien bald von seinem hohen Seelenschwunge herabsteigen […] und seinen gesunden Menschenverstand wieder finden würde“ (London und Paris XXV, 1811, 147). Indem er seine eigenen erfahrungsgesättigten Prognosen mit dem vermeintlich unwissenden jungen Begleiter kontrastiert, pointiert der anonyme Korrespondent seine herausgehobene Beobachterposition. 35 Zum Motiv der großstädtischen Anonymität in der deutschen Reiseliteratur um 1800 vgl. Wuthenow, „Die Entdeckung der Großstadt“, 19. 36 Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, 124.
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Nachdem die beiden Wienreisenden schließlich mit einigen Beschwernissen ihr Quartier eingerichtet haben, widmen sie sich sogleich – literarisch streng dem journalistischen Programm folgend – den öffentlichen Promenaden. Sie begeben sich zur Bastei, den durch Napoleon geschliffenen Festungsanlagen, und nehmen die dort spazierenden Menschenmassen wahr.37 Durchweg heben sie auf eine Besonderheit ab, die auf ähnliche Londoner und Pariser Anlagen eher selten zutrifft (Kap. 9. 1/ 9. 2): In diesen langen Processionen von Menschen aus allen Ständen herrscht eine auffallende Freiheit und Gleichheit. Neben der ehrwürdigen Matrone erblickt man die leichtfertige Hetäre, neben der uraltadelichen dann das Judenmädchen […]. Außer dieser moralischen Buntheit der Lustwandelnden offenbart sich eine andere ungleich merkwürdigere. Fürsten und Grafen, Erzherzoge, ja selbst der Kaiser sind ohne alle Auszeichnung unter dem übrigen Publikum vermischt. Der Hof giebt das Beispiel von Einfachheit, Popularität, und weit entfernt, daß die Achtung der großen Menge dadurch geschwächt würde, hat sie eben darin ihre festeste Stütze. (London und Paris XXV, 1811, 151)
Der Anonymus zielt maßgeblich auf die soziale Dimension ab. Auf den Wiener Promenaden, so sein zentrales Argument, seien die gesellschaftlichen Unterschiede zwar präsent, aber sie gipfeln nicht in der ostentativen Zurschaustellung sozialer Privilegien. Obwohl äußerst heterogene Personengruppen sich an ein und demselben Ort befänden, „das gesellige Sichvorführen“38 dominiere, würden sie sich dadurch auszeichnen, dass sie ihre gesellschaftliche Ungleichheit verdecken. „Im öffentlichen Raum“, lässt sich zumindest für die wahrnehmende Beobachterinstanz behaupten, „sind die Imperative der sozialen Ordnung […] in gewisser Weise außer Kraft gesetzt“.39 Dies führe, so die Pointe, zu einer paradox anmutenden Struktur. Indem die adligen Wienerinnen und Wiener bis hin zum Kaiser darauf verzichten würden, die eigene Vormacht prunkvoll zur Schau zu stellen, könnten sie sich dieser beim Volk umso mehr versichern. Für den Korrespondenten führt dies gar so weit, dass er das beobachtete Geschehen mit den revolutionären Attributen von „Freiheit und Gleichheit“ versieht. Vor allem aber hebt sich der Versammlungsort damit über weite Strecken von seinen Londoner oder Pariser Pendants ab. Dort registrieren die Korrespondentinnen und Korrespondenten viel stärker ein ostentativ zur Schau gestelltes soziales Kapital, das sich im funktionalisierten Spazieren, im ‚Sehen und Gesehen-Werden‘, äußert.40 Demgegenüber scheint dieser Aspekt in den beschriebenen Wiener Anlagen verdrängt und lediglich unterschwellig eine Rolle zu spielen. 37 Vgl. zur europaweiten Bedeutung solcher geschliffener Bollwerke für die zeitgenössische Spaziergangskultur Fauser, „Die Promenade als Kunstwerk“, 153. 38 König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges, 13. 39 Sadowsky, „Gehen Sta(d)t Fahren“, 80. 40 Zur ostentativen Funktion des Spaziergangs um 1800 König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges, 14.
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In einem zweiten Schritt hebt der Berichterstatter noch mehr auf seine eigene Wahrnehmung ab. Nachdem er mit der Bastei eine der bedeutendsten Promenaden geschildert hat, kommt er intensiver auf die Wiener Innenstadt zu sprechen. Hier kann er den bisherigen gemachten Beobachtungen äquivalente Eindrücke hinzufügen: Auch in den Straßen gehen die Wiener und Wienerinnen viel spazieren. Besonders sind in dieser Rücksicht der Kohlmarkt und der Graben berühmt. Beide Gassen gehören zu den schönsten in Wien, wiewohl sie in Petersburg oder Berlin keine glänzende Figur machen würden. Aber in Wien sind es nicht die Steinmassen, die einer Straße Reiz und Annehmlichkeit geben, sondern die Menschen. Könnte ich Ihnen ein lebhaftes Bild entwerfen von dem hiesigen Gewühl auf den Gassen, Sie würden Unterhaltung dabei finden. Da reibt und drängt sich Alles an einander, Geschäftigkeit und Müssiggang, Alt und Jung, Adel und Pöbel, der Ungar, der Pohle, Croaten, Wallachen, Türken, Griechen, Italiener, Teutsche und Böhmen, – und mehrere dieser Landsleute, besonders die entfernteren morgenländischen, sehen Sie in ihrer Nationaltracht. (London und Paris XXV, 1811, 151 f.)
Für die Wiener Straßen aktualisiert der Korrespondent, was er für die Promenaden festgehalten hat. Sie sind zum einen gekennzeichnet durch verdichtete Menschenmassen, denen der Beobachter mit einer gewissen Distanz begegnet. Der anonyme Berichterstatter reiht sich in die Riege jener Beobachterinnen und Beobachter ein, die nur durch einen Abstand vom beobachteten Geschehen in den Genuss desselbigen kommen. Er hebt allerdings heraus, dass gerade aus dieser Distanz das eigentliche Vergnügen resultiere. Wer nämlich eine externe Position einnehme und das „Gewühl“ in seiner totalen Perspektive erfasse, könne dessen genuine Eigenschaften erkennen. Er betont in diesem Zusammenhang, dass die Wienerinnen und Wiener weitaus interessanter seien als die architektonischen Gegebenheiten. Er reformuliert darüber hinaus die bereits für die Bastei getätigten Schlussfolgerungen. Wie an der geschliffenen Festungsanlage dominiert eine bemerkenswerte Variation homogener und heterogener Eindrücke. Die versammelte Menschenmasse erweist sich einerseits als Struktur, innerhalb derer soziale oder kulturelle Unterschiede für die Teilnahme und Teilhabe sekundär sind. Gesellschaftlicher Status ist – entgegen anderen urbanen Orten – zunächst kein Kriterium, findet jedoch über die genauere Beobachtung wieder Eingang.41 Der Korrespondent lässt seinen Blick über das vermeintlich bunt gemischte Publikum schweifen und seine zufällig aufgefangenen Impressionen signalisieren soziale Ungleichheit: Da wandelt zierlich, nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, eine Dame im eleganten Negligée, und wenige Schritte von ihr erblicken Sie einen slovakischen Bauen im zottigen T hierfell gehüllt […]. Da stößt ein Karrenschieber an einem geputzten Herren, der ihn nicht gewahr wird, weil er einer hübschen Köchin ins Gesicht sieht und ihr mit den 41 Vgl.
Sadowsky, „Gehen Sta(d)t Fahren“, 81.
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Händen zu verstehen giebt, daß sie ihm gefalle; und die Köchin stößt an einen geistlichen Herrn, dem sie zu nahe auf den Leib rückt […]. (London und Paris XXV, 1811, 152)
Zum einen sticht der Wahrnehmungsmodus des Korrespondenten heraus. Er lässt sich als schweifender Blick über das urbane Geschehen begreifen. Der Beobachter widmet sich kontingent den Geschehnissen, die sich zufällig im Straßengewühl ergeben und bisweilen zu kuriosen Szenerien auswachsen. Vor allem die zahlreichen Deiktika wie „da“ weisen auf diese Beobachtungsform hin und heben das simultane Geschehen heraus. Die dem verbundene theatrale und dynamisierte Note verstärkt der Berichterstatter wenig später selbst, wenn er resümiert: „Allerlei Raritäten sind zu sehen in diesem lebendigen Guckkasten“ (London und Paris XXV, 1811, 153). Gleichzeitig rücken die Beobachtungen unmittelbar neben die grundlegend durch den Korrespondenten skizzierten Umstände, innerhalb derer gesellschaftliche Differenzen austariert werden. Tatsächlich ergibt sich ein ambivalentes Bild. Die einzelnen beobachteten Personen sind eindeutig – unter Einbezug stereotyper Wahrnehmungsmuster – verschiedenen sozialen oder kulturellen Gruppen zugeordnet. Im selben Moment jedoch berühren sich die verschiedenen Gruppen wortwörtlich und sorgen zumindest auf der Ebene außenstehender Beobachtungen für eine gewisse Gleichheit. Die Wahrnehmungen des Wiener Korrespondenten reihen sich nahtlos in den allgemeinen Eindruck ein, den London und Paris von Wien wiedergibt und den die Herausgeber in ihrem Vorwort betonten. Im Zentrum steht der öffentliche Raum, der zum Darstellungs- und Verhandlungsort simultaner gesellschaftlicher Interaktionen und Ungleichheiten mutiert. Die deutschen Korrespondenten indes positionieren sich entschieden zu diesem mit Wohlwollen beobachteten Geschehen. Sie bleiben außenstehende, letztlich am eigentlichen Stadtleben unbeteiligte Berichterstatter, die sich vornehmlich als urbane Experten stilisieren und ein gesellschaftliches Schauspiel rezensieren. Sie ordnen sich, um es systematisch zu erfassen, in die Reihe derjenigen Berichterstatterinnen und Berichterstatter ein, die ihren Genuss an der urbanen Beobachtung finden, wenn sie nicht selbst an diesem Leben teilnehmen müssen. 9. 4. Weibliche Flanerie um 1800? Bericht eines Londoner Morgens Im Zentrum der bisherigen Textanalysen standen fast ausnahmslos männ liche Berichterstatter, sodass Harald Neumeyers T hese, „Flanieren ist Männer sache“42, bestätigt scheint. Konsultiert man die bisherige Forschung zur deutschen Großstadtliteratur um 1800, ist dies kein überraschender Befund. Bei weiblichen Berichten über Metropolen wie London und Paris handelt es sich um ein im Geschlechtervergleich seltenes Phänomen der deutschen Reiselite42 Neumeyer,
Der Flaneur, 282.
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ratur dieser Zeit.43 Auch bekannte Reiseberichte wie Journal einer Reise durch Frankreich (1787) respektive Tagebuch einer Reise durch Holland und Frankreich (1787) aus der Feder Sophie von La Roches (1730–1807) oder Johanna Schopenhauers Reise durch England und Schottland (1818) sind weibliche Ausnahmen in einer männlich geprägten literarischen Strömung. Hinzu kommt ein bereits angesprochener, kulturgeschichtlich rahmender Aspekt, der von herausragender Bedeutung ist. Um 1800 ist es Frauen schwerlich möglich, alleine einen Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen, ohne dabei als Prostituierte zu gelten.44 Die „Grenzen zwischen männlichen und weiblichen Bewegungsräumen“ sind, so zeigt dieses Beispiel, „scharf markiert“ und „der Zirkel der weiblichen Tätigkeiten war bis ins kleinste Detail normiert“.45 Diese kontextuelle Einbettung zeigt sich in jenen Reise- und Großstadtberichten, die von Frauen verfasst wurden, immer wieder. Zumeist schildern sie Rundgänge durch die Großstädte nur in Gruppenkonstellationen und es erstaunt daher nicht, dass Formen der Flanerie seltenst anzutreffen sind. Hinzu kommt, dass, wie bei den männlichen Mitstreitern, nicht alle Beobachterinnen begeistert sind von dem, was sie in den Metro polen erfahren. Das im Kontextkapitel zu London und Paris (Kap. 4) zitierte Beispiel der Helmina von Chézy steht paradigmatisch dafür. Genau vor diesen Hintergründen frappiert in London und Paris ein Artikel der Korrespondentin Nina d’Aubigny von Engelbrunner, in dem sie einen morgendlichen Rundgang durch London beschreibt und der flanerieartige Wahrnehmungsmuster zeitigt. D’Aubigny von Engelbrunner selbst stammt aus einer Adelsfamilie Sachsen-Gothas und bringt es mit ihrem Buch Briefe an Natalie über den Gesang (1803) zu erstem literarischen Ruhm. Ihre Schwester Susette (1767–1845) indes heiratet 1795 den bereits erwähnten (Kap. 4/8. 2) Carl Gottlieb Horstig, sodass die persönliche Verbindung zu London und Paris offenkundig ist. D’Aubigny von Engelbrunner zieht 1803 nach England und wirkt dort vor allem als Hauslehrerin, berichtet aber auch für Bertuchs Journal. Sie ist eine der wenigen Autorinnen, von denen sich zeitgenössische großstädtische Zeugnisse ausmachen lassen.46 Womöglich spielt sie darauf anfangs ihres Artikels an: 43
Vgl. Elke Frederiksen, „‚Im Wechsel von Anfang und Aufbruch‘. Selbsterfahrung in der Erfahrung des Fremden. Zur Reiseliteratur von Frauen (Johanna Schopenhauer und Rahel Varnhagen zum Beispiel)“, in: Yoshinori Shichiji (Hg.), Erfahrene und imaginierte Fremde (Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokio 1990), München 1991, 209–219. 44 Dass dies auch für Spaziergänge außerhalb von Städten und ihre literarische Repräsentation gilt, zeigen u. a. T homas Koebner, „Versuch über den literarischen Spaziergang“, in: Wolfgang Adam (Hg.), Das achtzehnte Jahrhundert. Facetten einer Epoche, Heidelberg 1988, 39–76, 40; König, Eine Kulturgeschichte des Spazierganges, 45. 45 Holländer, „Reisen“, 189. 46 Vergleichbar wäre die ebenfalls für London und Paris wirkende Helmina von Chézy, die sich jedoch verstärkt den ländlichen Gegenden rund um Paris zuwendet, vgl. Baumgartner, „Constructing Paris“; Waßmer, „Urbane Muße jenseits der Stadt“.
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Sie wünschen einmal einen Tag mit einer Londoner fashionablen Dame zu durchleben, um den Unterschied nach dem Teutschen Maaßstabe zu messen und zu bemerken, auf welche Seite die Zunge der Waagschale sich hinneigt, so bald man die Lebensart vernünftig oder unvernünftig abwägen will. […] Ich selbst habe mir ein paarmal den Spaß gemacht, die schönen Maimorgen zu genießen, indem ich mit eignen hohen Händen, die Kette der Mahagonihaustür löste, und während alles im Hause im Todesschlaf lag, durch die stillen Straßen schlüpfte, um eine 2 Engl. Meilen weit wohnende Freundin zu wecken, und bei der Gelegenheit London im Morgenkleide zu sehen. Diese Frühstunden aber sind übrigens durch nichts anziehend, als durch die Art Freiheit, so ganz ungestört und unbemerkt in aller Ungebundenheit herumzuwandeln. (London und Paris XIII, 1804, 311 f.)
Zunächst ist erkennbar, dass sich die Korrespondentin von ihren männlichen Kollegen abhebt.47 Sie verweist explizit darauf, der intendierte Adressatinnenund Adressatenkreis würde danach verlangen, dass er einmal von einer „fashionablen Dame“ durch die Londoner Straßen geführt werde. Mit der Selbstpositionierung verortet sie sich auch sozial. Es handelt sich um eine Vertreterin jener gesellschaftlichen Schicht, die überhaupt die Möglichkeit besitzt, werktags einen ausgedehnten Spaziergang durch die morgendliche Metropole zu unternehmen.48 Ebenso bringt sie einen nationalen Vergleich ins Spiel, durch den es darum gehen soll, vom „Teutschen Maaßstabe“ aus die Moralität der Engländerinnen und Engländer zu bewerten. Auf welche Art und Weise das ihrer Ansicht nach am einschlägigsten möglich ist, führt sie weiter aus. Ein „ungestört[er] und unbemerkt[er]“ Spaziergang durch das frühmorgendliche London erscheint der Korrespondentin die geeignetste Option, die Lebensart der dortigen Bevölkerung zu erkunden. Auffällig ist, wie stark sie ihre autonome Handlungsweise thematisiert.49 Die Haustür öffnet keiner der heimischen Diener, sondern mit „eignen hohen Händen“ geht dies vonstatten. Den Rundgang durch die teils noch schlafende Stadt stellt Engelbrunner entschieden den Lebensgewohnheiten anderer Bewohnerinnen und Bewohner gegenüber. Dies korrespondiert aufs Engste mit den bereits skizzierten kulturgeschichtlichen Bedingungen. Nur früh morgens, wenn sie ungesehen bleibt, ist es der Beobachterin überhaupt möglich, einen Spaziergang zu unternehmen, ohne sozial stigmatisiert zu werden. Der morgendliche Rundgang gerät zu einer Großstadtdarstellung, die auf zeitgenössische Geschlechterverhältnisse abhebt. 47 Auf ein verstärktes Legitimationsbedürfnis von weiblichen Reise- und Großstadtberichten verweist Holländer, „Reisen“, 197 f. Im Sinne von Elke Frederiksen, „Der Blick in die Ferne. Zur Reiseliteratur von Frauen“, in: Hiltrud Gnüg/Renate Möhrmann (Hg.), Frauen, Literatur, Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1985, 104–122, 108, kann die Verschriftlichung der Großstadterfahrung dann als „doppelte[r] Ausbruch“ verstanden werden. 48 Vgl. zu den sozial beschränkten Möglichkeiten der weiblichen Großstadtliteratur um 1800 Frederiksen, „Der Blick in die Ferne“, 105. 49 Ausprägungen weiblicher Emanzipationsbestrebungen in der deutschen Londonliteratur ab 1800 weist auch Müller-Schwefe, Deutsche erfahren England, 75, nach.
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Eng verbunden ist die morgendliche Tätigkeit mit einer gewissen Vergnüglichkeit, spricht die Korrespondentin doch von einem „Spaß“, den sie sich mehrfach erlaubt hat. Die Handlung ist von einer spezifischen Raumzeitlichkeit abhängig, die durch einen „schönen Maimorgen“ gekennzeichnet ist und der überdies eine verhältnismäßig genaue Angabe der zurückgelegten Wegstrecke inhärent ist. Obwohl der Stadtspaziergang durch den Besuch der „2 Engl. Meilen weit wohnende[n] Freundin“ äußerlich zweckgebunden wirkt, betont die Berichterstatterin unmittelbar dessen liberale Komponente. Eigens verweist sie auf die „Freiheit“, die sich in einem morgendlichen Spaziergang besonders vervollkommne, und auf die „Ungebundenheit“, die einzig durch den alleine unternommenen Ausflug möglich scheint. Diese ist letztlich sowohl geschlechtlich konnotiert als auch für die urbane Wahrnehmung bedeutend. Zugleich macht sie implizit auf eine veränderte raumzeitliche Qualität des Londoner Morgens im Vergleich zum restlichen Tag aufmerksam. So führt die Korrespondentin weiter aus, wenn sie auf das morgens Beobachtete genauer zu sprechen kommt: Um 6 bis 7 Uhr sieht man fast kaum Arbeitsleute, ja selbst die Pferde vor den Karren, die die Straßen reinigen und wässern, […] sahen aus, als hätten sie die gehörigen Schlafstunden der Londoner überwacht; gegen 7 Uhr treten, als erste Abzeichen des innern Lebens die Hausmägde mit ihren langen Stielbesen und ihren grünen Wassereimern aus den Häusern, um die Schwellen zu waschen; Wolken von Staub fliegen von den zahlreichen Balkons, denn fast jedes neue Haus hat einen solchen durch die ganze Breite, welches der Bauart einen hohen Zuschnitt von Eleganz giebt, wozu der Reichthum und der Geschmack in den Eisenarbeiten viel beiträgt. […] Um 8 Uhr bevölkern sich die Straßen mit dem schönsten T heile aller Menschenklassen, – das ist die Zeit, wo die Kinder meistens ausgeführt werden. Es ist glücklich für sie, daß die Londoner Lebensart so gewaltig von der natürlichen Lebensweise der Bedürfnisse abweicht; dadurch sind die Kinder ganz von dem schädlichen Einflusse abgesondert, und in manchem Betrachte scheint ihre physische Erziehung im allgemeinen besser als in Teutschland besorgt zu werden. Hierzu rechne ich die bestimmte Gewohnheit, die Kinder zweimal des Tages eine Stunde in die Luft zu führen, wo sie entweder mit ihren Wärterinnen in die Squaren gehen […], oder die Kinder gehen, was man sagt in the fields, große grüne Wiesenplätze die um die Stadt liegen. (London und Paris XIII, 1804, 312 f.)
Grundlegend hebt die Korrespondentin die Differenz zum sonstigen Londoner Alltags- und Straßenleben hervor. Wo zu anderen Zeiten das vielbeschworene bunte Treiben und das großstädtische Verkehrschaos regieren, ergibt sich eine morgendliche Stille, die nur allmählich frühe Personengruppen unterbrechen. Die unterschiedlichen Erwachensstufen sind zeitlich verhältnismäßig genau festgelegt, so verweist die Berichterstatterin vermehrt auf konkrete Uhrzeiten, an welche die Handlungen gebunden sind. Die nach und nach aufgebaute Szenerie verbindet sich mit simultanen, aber heterogenen Tätigkeiten, die diverse Personengruppen ausführen. Jede und jeder geht nahezu mechanisch-eigenlogisch
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den jeweils zugeordneten Praktiken nach. D’Aubigny von Engelbrunner ist hier anderen (männlichen) Berichterstattern aus dem Journal sehr gut vergleichbar (Kap. 3).50 Wie diese schildert sie das nach und nach erwachende morgendliche London in einer theatralen Manier, in der Auftritt auf Auftritt, Szene auf Szene folgt. Obwohl sie anfangs eigens betont, einmal eine weibliche Perspektive auf die Großstadt entfalten zu wollen, sind ihre Wahrnehmungsmuster gegenüber anderen betrachteten Textstellen vergleichsweise konstant. Markant ist außerdem die in der Zeitschrift strukturell zu beobachtende Tendenz, das Wahrgenommene zu ästhetisieren. Die Hausarbeit der Dienstmägde wirkt wie die Vorbereitung für die großen urbanen Inszenierungen des restlichen Tages und auch die hervorgehobene kindliche Unschuld lässt sich darunter verorten. Tragend ist überdies der nationalstereotype Bezug, der deutsche und Londoner Kindererziehung in einer eindeutigen Hierarchie verortet. Das als vorbildlich geltende englische Leben bestätigt sich für die Korrespondentin auf verschiedenen Ebenen und ist im weiteren Verlauf ein leitendes Motiv. Bei all dem Lob für die englische Lebensweise schränkt sie gleichzeitig implizit ein. Die Schilderung der „Hausmägde“ und der „Wärterinnen“ der Kinder ist unweigerlich an die sozialökonomische Potenz geknüpft. Das bisweilen idyllisch anmutende Leben bleibt nur für jene möglich, die über das nötige Kapital verfügen. Nachdem die Korrespondentin eingangs sich selbst im selben gesellschaftlichen Milieu verortet, lässt sich gar von einem Leitmotiv der Szenerie sprechen. Dass sie im selben Moment nicht jede Betätigung des wohlhabenden Lebens bedingungslos gutheißt, zeigt die Schilderung des aristokratischen „Morgens“: Zwischen 2 und 5 Uhr was wir hier des Morgens zu nennen pflegen, sind alle Wagen und Damen, auch der müßige T heil der Herren, in Bewegung. Hätte man gar nichts in der Welt in der Zeit vorzunehmen, so geht man Shopping, d. h. man fährt in die elegantesten Straßen, hält vor dem Laden, wo etwa ein oder das andere unsern Wünschen entspricht, läßt sich den Artikel in den Wagen reichen, ruft die Modehändlerin um eine Bestellung zu machen, sieht manches, kauft weniges, ohne etwa Komplimente für die gegebene Ungelegenheit zu machen. […] Aber diese Zeit kann man auch besser verwenden; umsonst strengen sich alle die Virtuosen nicht an, die uns täglich Wunder versprechen, und sie gerne alle Sieben nach Bondstreet verlegen möchten. (London und Paris XIII, 1804, 317 f.)
Während eingangs erneut die heterogenen sozialen Londoner Zeiten auftreten, geht der Blick danach auf die Lieblingsbeschäftigungen der wohlhabenden Stadtbevölkerung. D’Aubigny von Engelbrunner skizziert einen müßiggehenden Konsum, den die Korrespondentin als entschiedene Zeitverschwendung auffasst. Die Angewohnheit der reichen Londonerinnen und Londoner, bei mangelnder Be50 Dass jene wenigen Textpassagen, in denen sich um 1800 weibliche Flanerien identifizieren lassen, denen ihrer männlichen Pendants meist ähnlich sind, argumentiert auch Baumgartner, „Constructing Paris“, bes. 357.
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schäftigung dem „Shopping“ zu frönen, wertet sie mit Blick auf andere kulturelle Angebote ab. Statt der Konsumkultur stehen für sie verschiedene Gemäldegalerien im Mittelpunkt, deren eingehende Schilderung ihren Beitrag beschließt. Der morgendliche Großstadtbericht von D’Aubigny von Engelbrunner ist insgesamt von Berichten ihrer männlichen Mitstreiter vor allem durch den geschlechterspezifischen Beobachtungsposten unterschieden. Es ist auffällig, wie sehr sie ihre soziale Position als Frau betont und zur Ausgangsbedingung für die eigene Stadtwahrnehmung macht. Als Hindernis ist die kulturgeschichtliche Rahmung dabei nicht im engsten Sinne inszeniert. Vielmehr stilisiert die Berichterstatterin es als Vorteil, dass sie als Frau die Metropole London lediglich morgens alleine inspizieren kann – und genau aufgrund dessen zu besonders eindrücklichen Beobachtungen gelangt. Dies verbindet sich freilich eng mit dem gleich zu Beginn formulierten Freiheitsgedanken, der die eigentlich herrschenden und geschlechterspezifischen Einschränkungen konterkariert. Die Beobachtung des morgendlichen Londons ist für die Berichterstatterin gleich in einem doppelten Sinne von erfüllendem Charakter. Sie betont einerseits, welche Freude es ihr mache, durch die Stadt zu streifen und dabei ungestört das urbane Leben wahrnehmen zu können. Zugleich bindet sie diese Wahrnehmungsmöglichkeit aber unmittelbar an die eigentlich für sie und ihre Zeitgenossinnen herrschenden Beschränkungen. Der Großstadtbericht Nina D’Aubigny von Engelbrunners zeigt folglich einerseits exemplarisch auf, dass ‚weibliche Flanerie‘ in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 prinzipiell denkbar und auffindbar ist. Er steht andererseits genauso sinnbildlich dafür, dass diese literarischen Inszenierungen in besonderem Sinne durch die Spannung zwischen gesellschaftlicher Funktionalisierung und individueller Freiheit geprägt sind. 9. 5. Heterotopien der Zeit: Beobachtungspotenziale jenseits des Alltags Die Korrespondentinnen und Korrespondenten in London und Paris berichten in erster Linie über den Alltag in den Metropolen. Wie die bisherigen Analysen zeigen, verbindet sich dies mit einer genau beobachteten zeitlichen Dimension, innerhalb derer die Berichterstattenden die urbanen Praktiken und Lebensformen inspizieren. Ein systematischer Blick in die dreißig Bände zeigt gleichzeitig, dass gehäuft Berichte auftreten, in denen nicht der (werktägliche) Alltag im Zentrum steht, sondern verschiedene Abweichungen von ihm. Angesprochen sind damit vorrangig Beiträge, in denen sich die Korrespondentinnen und Korrespondenten sonntäglichen Beschreibungen oder der Darstellung verschiedenster Festivitäten und vergleichbarer Vorkommnisse widmen. Diese inhaltlich heterogenen Berichte unter dem Blickwinkel urbaner Mußeformen zu analysieren, geht mit einer gewissen Ambivalenz einher. Wie diverse Beiträge in London und Paris aufzeigen, korrelieren solche staatlich oder religiös verordneten außeralltäglichen Zeiten mit einer umfänglichen, oftmals gesellschaftlichen Funktiona-
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lisierung. Ob es sich dabei um die „gottesdienstlichen Gebräuche[]“ (London und Paris XXIII, 1810, 172) oder um die durchgeplante und inszenierte Verehrung Napoleons handelt, ist zunächst einmal sekundär. Entscheidend ist vielmehr, dass solche zweckrationalen Strukturen dem freiheitlichen Charakter der Muße weitgehend widersprechen. So berichtet beispielsweise ein anonymer Pariser Korrespondent, inwiefern die sonntägliche Metropole einstudierten Routinen folgt: Unterdessen haben die Bewohner des Marais und der Vorstädte sich in ihren Sonntagsputz geworfen, und, wenn das Wetter nur irgend erträglich ist, nach den Quais, Boulevards und öffentlichen Gärten zu in Bewegung gesetzt. Mit dem guten Tone unbekannt, führt der Mann seine Ehehälfte am Arme, ein Kind an der Hand, und die erwachsenen Töchter wandeln fein sittsam vor den lieben Aeltern her. […] Ist gerade große Parade, so geht der Zug nach dem Carousselplatze, um das schon zwanzig Mal Gesehene noch einmal anzustarren. Man ergötzt sich über den Glanz der Generale, den Schmuck des Leibmamelucken, die schöne Haltung der Truppen und zählt, wie oft die Soldaten vive l’empereur rufen. Ist hier nichts mehr zu sehen, so schreitet man nach dem Tuileriengarten, um sich sehen zu lassen und Andere zu begaffen. (London und Paris XXIII, 1810, 192 f.)
Der Anonymus hebt hervor, der wöchentliche Ruhetag gehe für die Pariser Bürgerinnen und Bürger mit einer klaren sozialen „Disziplinierung des Sonntags“51 einher. Man werfe sich in den „Sonntagsputz“, um an den klassischen Pariser Vergnügungsorten aufzutreten und in einem gesellschaftlichen Rollenspiel mitzuwirken, das sich vor allem durch beständig eingeübte Routinen auszeichne. Diese Beschreibungen korrelieren eng mit den für urbane Rückzugsräume und Promenaden diskutierten Ambivalenzen. Sich in der Öffentlichkeit sehen zu lassen und andere zu beobachten, verbindet sich zuvorderst mit einer klar zweck orientierten Ausrichtung, der Selbstdarstellung sozialer Geltung oder dem Versuch, solche zu erlangen. Auf einer anderen Ebene äußern sich solche Funktionalisierungen für die urbane Festkultur um 1800. Zwei Abschnitte aus den Pariser Berichten verdeut lichen dies besonders. Zum einen ein Beitrag Friedrich T heophil Wincklers, der sich mit der Krönungsfeier Napoleons 1804 befasst.52 Er konturiert deutlich, inwiefern solche politischen Veranstaltungen zweckinstrumentalisiert und minutiös durchgeplant sein können53: 51 Aleida Assmann, „Festen und Fasten. Zur Kulturgeschichte und Krise des bürgerlichen Festes“, in: Walter Haug/Rainer Warning (Hg.), Das Fest (Poetik und Hermeneutik 14), München 1989, 227–246, 238. Ähnlich argumentiert Klaus Tenfelde, „‚Tag der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung‘. Der arbeitsfreie Sonntag“, in: Petra Rösgen (Hg.), Am siebten Tag. Geschichte des Sonntags, Bonn 2002, 28–33. 52 Dass Winckler immer wieder das politische Paris in den Blick nimmt, hat Deuling, „Early Forms of Flânerie“, 104, herausgearbeitet. 53 Zur Bedeutung politischer Feste und Feiern in der napoleonischen Ära vgl. Willms, Paris, 137.
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Der Zulauf des Volks war aller Orten stark, doch nicht so daß Gedränge entstanden wäre, weil der Zug einen sehr weiten Weg nahm, wie ein Blick auf die Karte leicht jedem Leser begreiflich machen wird; […] Dieser lange Weg, welcher besonders auf dem Boulevard einer großen Menge Zuschauern Platz verschaffte, machte daß nirgends Gedränge entstand, um so mehr da an allen Orten wo der Zug durchgieng, theils die Fenster vermiethet, theils Gerüste vor oder in den Häusern errichtet wurden. […] Das Vivatrufen war an den verschiedenen Orten wo Ref. den Zug sah, jedesmal sehr sparsam, und es scheint nicht, daß wenigstens am Krönungstag viel officiell bestellte Vivatrufer in den Straßen zerstreut waren. (London und Paris XIII, 1804, 357 f.)
Winckler betont, wie stark politische Feierlichkeiten und Feste durch die staatliche Obrigkeit strikt geplant und inszeniert sein können – einmal unabhängig von der Frage, wie sehr die Bevölkerung sie rezipiert.54 Das festliche „Moratorium des Alltags“55 akzentuiert der Korrespondent folglich als Zurschaustellung staatlicher Macht, die den feierlichen Anlass instrumentalisiert. Die wohlüberlegte Umzugsstrecke gibt darauf ebenso einen maßgeblichen Hinweis wie die Bemerkung, „officiell bestellte Vivatrufer“ seien bei solcherlei Veranstaltungen omnipräsent. In nuce elaboriert Winckler damit, inwieweit gerade im napoleonischen Paris die öffentlich inszenierten politischen Spektakel einem klaren propagandistischen Programm unterworfen sein können.56 Sie sind letztlich durch eine „Differenzqualität zwischen alltäglicher Regel und sorgfältig inszenierter Ausnahme“57 geprägt, die eindeutig funktionalisiert auftritt. Sehr ähnlich verhält es sich mit den Darstellungen des Pariser Karnevals, der in London und Paris immer wieder das Interesse der Korrespondentinnen und Korrespondenten weckt. Auch hier konstatiert Winckler die staatliche Steuerung: Einige Zeit vor dem diesjährigen Carneval ließ der Polizeipräfect eine Verordnung bekannt machen, und sie zu verschiedenenmalen neuerdings anschlagen, wodurch Verkleidung und Maskirung in den Straßen erlaubt, und nur das Tragen von Waffen den Maskirten verboten war. […] Diese Verordnung war gleichsam eine Einladung an die hiesigen Einwohner und man kann sagen, daß sie sehr sorgsam gegen dieselbe waren. (London und Paris IX, 1802, 213)
Liest man Wincklers Berichte über die napoleonischen Inszenierungen und den polizeilich regulierten Karneval parallel zueinander, manifestiert sich, inwiefern vermeintlich Freiräume verschaffende Feste und Feiern tatsächlich durch 54 Vgl. dazu verstärkt mit Blick auf die früheren Revolutionsfeste Peter, „Die Revolution als Fest – das Fest als Revolution“, 108 f. Er verortet sie im „Kontext einer popularisierten Nationalerziehung“. 55 Odo Marquard, „Kleine Philosophie des Festes“, in: Uwe Schultz (Hg.), Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, 413–420, 415. 56 Vgl. dazu, obwohl eher mit Schwerpunkt auf revolutionären Festen, Gilbert Ziebura, „Frankreich 1790 und 1794. Das Fest als revolutionärer Akt“, in: Uwe Schultz (Hg.), Das Fest. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1988, 258–269, 267. 57 Assmann, „Festen und Fasten“, 243.
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Zweckorientierung und staatliche Steuerung geprägt sein können. Seine Berichte sind – ebenso wie die anonyme Darstellung des sonntäglichen Pariser Lebens – Zeugnisse dafür, dass die außeralltäglichen urbanen Ereignisse genauso zweckrationalen und fremdbestimmten Maßgaben folgen können wie die alltäglichen. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als sei die Perspektive urbaner Muße wenig produktiv. Die Bewohnerinnen und Bewohner verweilen den Korrespondentenberichten zufolge nicht frei in der Zeit, sondern unterliegen, mindestens unbewusst, heteronomen Prinzipien.58 Und doch lohnt der Blick auf diese Textstellen unter einem anderen Gesichtspunkt: der Wahrnehmung durch die außenstehenden Beobachterinnen und Beobachter. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten stilisieren sich in den meisten Darstellungen als beobachtend-nichtteilnehmende Beteiligte. Für sie sind die sonntäglichen Metropolen, die politischen und kultischen Festivitäten vorrangig nicht eigener Lebensbestandteil, sondern ein Beobachtungsobjekt. Aus diesem Blickwinkel lässt sich die Frage nach urbaner Muße neu perspektivieren. Im Zentrum steht insofern nicht mehr, ob für die Bewohnerinnen und Bewohner freiheitliche Handlungsräume gegeben sind. Vielmehr interessiert, welche Beobachtungspotenziale die deutschen Korrespondentinnen und Korrespondenten identifizieren. Diese durchaus disparat ausgestalteten Wahrnehmungen lassen sich als ‚Heterotopien der Zeit‘ fassen. Angesprochen ist damit ein spezifisches Phänomen, das die Beobachterinnen und Beobachter durchweg konstatieren. Durch die veränderte zeitliche Struktur, die sich in verschiedenen Formationen äußern kann, kommt es zu einer transformierten urbanen Raumwahrnehmung. Indem andere Verpflichtungen ausbleiben, tatsächlich oftmals durch die sonntägliche Ruhe oder staatlich verordnete Feiertage, eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, durch die beiden Metropolen zu spazieren. Es zeigt sich überdies, dass während dieser räumlichen Erkundungen die unbestimmten und zufällig-kontingenten Wahrnehmungen eine neue Qualität gewinnen und sich das Beobachtungsspektrum systematisch erweitert. Sonntagsmetropolen Besonders deutlich manifestiert sich dieser Zusammenhang in einigen Schilderungen Johann Christian Hüttners über das sonntägliche London. Vor allem in zwei seiner Berichte über den „Blick an einem Sonntagsmorgen auf die Straßen von London“ (London und Paris X, 1802, 22) sowie einer „Ansicht von London an einem Sonntage“ (London und Paris XIV, 1804, 281) rückt die zeitlich modifizierte Wahrnehmung thematisch in den Mittelpunkt. In beiden Darstellungen 58 Auf diese regulierende und funktionalisierte Funktion von Feiern und Festen verweist Assmann, „Festen und Fasten“, bes. 241. Ähnlich argumentiert für städtische Feste Heide Berndt, Die Natur der Stadt, Frankfurt am Main 1978, 14.
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rekurriert er auf die sonntägliche Differenz zu den anderen Wochentagen und bindet sie eng an seine eigenen Erkundungen und Wahrnehmungen: Große Handelsstädte haben an Sonntagen, wo die Geschäfte unterbrochen sind, ihre eigenen Schönheiten. Amsterdam, Hamburg, Frankfurt, Leipzig, vergessen dann das Goldmachen; man lebt, man genießt, man ist sorgenfrei. Eben das gilt von London, in welchem sich die Handelsleute, groß und klein, gegen die andern Stände, wohl wie Zehn zu Eins verhalten mögen. Erst an Sonntagen merkt man recht die Vorzüge der Stadt, in wie fern sie aus Gebäuden und Straßen besteht. Das erschreckliche Getöse der ewigen Lastwagen von hunderterlei Art und alles andern Fuhrwerks ist verschwunden. Da nun auch die Leute länger schlafen, so fängt man schon im Bette an, sich des Sonntags zu freuen. Es ist verhältnismäßig still in dem ungeheuren Königssitze und die schönen Geläute der unzähligen Kirchen erfüllen die langen Straßen mit Wohlklang, der in jeder Brust fromme Jugendgefühle weckt. Beim Ausgehen rufen einem noch hundert andere Erscheinungen den erwünschten Sonntag entgegen. (London und Paris X, 1802, 24)
Hüttner betont, für den Beobachter einer größeren Stadt sei es ein besonderes Vergnügen, sonntags eine umfangreiche Erkundung vorzunehmen. Dann nämlich sei alles negiert, was die urbanen Gebilde ansonsten dominiere. Geschäftigkeit, Betriebsamkeit, das wirtschaftliche Erfolgsprinzip – alle diese hier eher negativ konnotierten Eigenschaften seien dann aus dem Stadtbild verschwunden. Der geneigte Berichterstatter könne sich endlich dem widmen, was die Stadt wahrhaft auszeichne.59 In einer Metropole wie London, die sich gegenüber ihren meisten städtischen Konkurrenten „wohl wie Zehn zu Eins“ gestalte, sei dies unter quantitativer Perspektive umso eindringlicher. Hüttner hebt insbesondere auf die architektonische Qualität ab, die in einer menschenleeren Stadt vollends zur Entfaltung komme. Vergleichbares äußert er in seinem zweiten Bericht, wenn er erneut auf das sonntags stillstehende Handelswesen verweist und für die „Kaufläden“ konstatiert: „Aber diese sind des Sonntags geschlossen und das Fahren und Reuten ist sehr vermindert: man sieht nun London als Stadt, als ein Ganzes, das aus Häusern besteht“ (London und Paris XIV, 1804, 281). Daran lässt sich ablesen, wie stark der Korrespondent die Beschreibungen mit seinen eigenen Wahrnehmungen kurzschließt. Den wesentlichen Vorteil sieht er gar nicht primär darin, nicht in das geschäftige Leben involviert zu sein, sondern in den daraus resultierenden Konsequenzen für eine informierte urbane Beobachtung. Obwohl Hüttner auf die „schönen Geläute der unzähligen Kirchen“ und somit explizit auf die religiös funktionalisierte Dimension abhebt, ist dieser Aspekt nur ein weiterer seiner modifizierten Wahrnehmung. Er selbst empfindet zwar „fromme Jugendgefühle“ angesichts des religiösen Wohlklangs, koppelt sie jedoch unmittelbar an die damit einhergehende, transformierte Beobachterperspektive. Den Wohlklang bezieht er nur nachrangig auf die Londoner Sakralgebäude, sondern vielmehr auf die „langen Straßen“, die dadurch 59
Zum sonntäglichen London vgl. Ackroyd, London, 98; 187.
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scheinbar eine besonders ästhetische Note gewinnen. Die „fromme[n] Jugendgefühle“ erhalten dergestalt eine doppelte Konnotation. Sie rekurrieren auf die religiöse und gesellschaftliche Bedeutung des sonntäglichen Kirchgangs, gliedern sich aber gleichermaßen in eine spezifische urbane Wahrnehmungsform ein. Hüttner negiert einen „trüben und entmutigenden Charakter“60 des Londoner Sonntags und hebt stattdessen gerade die Vorteile für einen außenstehenden Beobachter heraus. In seinem zweiten Bericht unterstreicht der Korrespondent diesen Aspekt, indem er dem sonntäglichen London eine Beobachterperspektive einschreibt, die nur an diesem Tag möglich sei: „In großen Handelsstädten bleiben an Wochentagen manche Gegenstände unbemerkt, die des Sonntags auffallen. Die Woche hindurch ist alles in so unablässiger Bewegung, daß man vom Strome fortgerissen wird und nur das Menschengewühl wahrzunehmen Zeit hat“ (London und Paris XIV, 1804, 281). Obwohl er an dieser Stelle teils seinen eigenen Wahrnehmungsmustern widerspricht – erinnert sei nur an die transgressiv geprägte Darstellung des Strand (Kap. 8. 3) –, ruft Hüttner sein entscheidendes Kriterium auf. Der Sonntag ist für den Korrespondenten nicht vorrangig ein religiös oder gesellschaftlich-funktionalisiert konnotierter Tag. Er ist stattdessen jener wöchentliche Abschnitt, an dem er seine präferierten Wahrnehmungsmodi idealisiert ausüben kann. Wie eng diese beiden Ebenen miteinander korrelieren können, zeigt ein weiterer Ausschnitt, in dem Hüttner jenseits seiner architektonischen Ausführungen mehr auf das sonntägliche Personal abhebt: Man erblickt nun alles in köstlicher Feierkleidung, welche bei beiden Geschlechtern bis auf die ärmsten Menschen herab von einer Feinheit und Güte ist, die man auf dem festen Lande bei den besten Ständen nicht findet. Da hat man denn den englischen Wohlstand recht vor Augen, ohne den reizenden Wuchs und die so allgemein blühende Farbe der Jugend und der Mitteljahre, so wie die nahmhaften Bäuche und ächtpommerische gesunde Fleischbepolsterung der älteren Londner in Anschlag zu bringen. Ein Fremder (wir machten an diesem Sonntage die Erfahrung) denkt wegen des stattlichen Ansehens der Menschen, das seyen Leute vom Stande, Parlamentsmitglieder, Lords […], oder nach teutscher Art, geheime Räthe, Hofräthe, Ober-Hof-, Ober-Kammer-, Ober-Finanzräthe und Räthinnen. Nichts von alle dem. Das ist schlichtweg Mister N. der Schuhmacher; Mister R. der Käsemann; T homas mein Zeitungsträger […]. (London und Paris X, 1802, 25 f.)
Die Textstelle gliedert sich unmittelbar in jenen Problemkomplex ein, der einleitend zur Debatte stand. Es lässt sich aus Hüttners Darstellung ablesen, dass der Sonntag sich für die Londonerinnen und Londoner selbst insbesondere mit einer sozialen Inszenierung verbindet, die unter anderem auf vestimentärer Ebene 60 Ackroyd, London, 98. Vgl. zur deutschen Wahrnehmung des englischen Sonntags Müller-Schwefe, Deutsche erfahren England, 61.
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ersichtlich ist.61 Für die Bewohnerinnen und Bewohner geht es darum, sich in „köstlicher Feierkleidung“ zu präsentieren und die gesellschaftlichen Erfordernisse zu erfüllen.62 In einem zweiten Moment spiegelt diese Passage, inwiefern sich andererseits für den außenstehenden Beobachter eine weitere Perspektive ergibt. Er selbst ist, suggeriert seine Berichterstattung, nicht unmittelbar in das Geschehen involviert, partizipiert folglich passiv am sozialen Schauspiel. Für ihn ist die sonntäglich-inszenierte Darbietung vielmehr Bestandteil einer urbanen T heatralität, der er verschiedenste Beobachtungen abgewinnen kann. Für einen „Fremden“ sei der Londoner Sonntag vor allem eine Möglichkeit, sich anhand disparater Wahrnehmungen des englischen Wohlstandes zu versichern und die soziale Struktur zu reflektieren. Im Übrigen lässt sich dieses Erzählmuster bisweilen auch in den Pariser Berichten identifizieren. In einem Artikel zum „Quai des ferailles zu Paris“ hält Friedrich T heophil Winckler fest, „daß ein Fremder, der am Sonnabend diesen Staaten zum erstenmal betreten hat, und dann den andern Tag darauf wieder dahin gehet, ohnmöglich glauben kann, diesen Weg schon einmal gemacht zu haben“ (London und Paris XVI, 1805, 157 f). Wie Hüttner notiert der französische Korrespondent, der urbane Sonntag sei für den Beobachter selbst ein besonderes Vergnügen. Die Bewohnerinnen und Bewohner, deren Verhalten wie gesehen oftmals eher funktionalistisch auf den wöchentlichen Ruhetag bezogen ist, rücken in die zweite Reihe. Während ihre Handlungen als zweckgebunden und rationalisiert dargestellt werden, üben sich die Berichterstatter in einer sonntäglichen Freiheit, die ihre genießerischen Wahrnehmungsformen zuspitzt. Politische Feste und Feiern: Inszenierung und Beobachtung Bei ihrer Darstellung von Festen und Feiern konzentrieren sich die Korrespondentinnen und Korrespondenten von London und Paris vor allem auf zwei Kategorien: politische Feierlichkeiten sowie den Pariser Karneval. Insofern die Beiträge sich mit der ersten Möglichkeit befassen, steht insbesondere eine Figur im Mittelpunkt: Napoleon. Unabhängig davon, ob die Berichterstatterinnen und Berichterstatter die Zurschaustellung imperialer Macht in Paris selbst erfassen oder sich mit der Wahrnehmung des französischen Herrschers in London beschäftigen – Napoleon ist bei den dargestellten politischen Feierlichkeiten der Dreh- und Angelpunkt. Die zitierte Krönungsfeier hat gezeigt, dass die entsprechenden Veranstaltungen mit einer propagandistischen Facette korrespondieren 61 Vgl. zur sozial-ostentativen Bedeutung von Mode u. a. Brunhilde Wehinger, „Des Müßigen alte und neue Kleider “, in: Joseph Tewes (Hg.), Nichts Besseres zu tun. Über Muße und Müßiggang, Oelde 1989, 197–204. 62 Vgl. zur gesellschaftlichen Funktion des bürgerlichen Sonntags Hermann Bausinger, „Sonntagsstaat und Sonntagsbilder. Bürgerliche Kultur im 19. Jahrhundert“, in: Petra Rösgen (Hg.), Am siebten Tag. Geschichte des Sonntags, Bonn 2002, 24–27.
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und einem streng durchgeplanten Procedere folgen. Für die Korrespondentinnen und Korrespondenten von London und Paris indes steht dieser politisch gesteuerte Prozess eher im Hintergrund – zumindest in dem Sinne, dass sie sich vornehmlich den öffentlichen Erscheinungen widmen, die mit den Feierlichkeiten einhergehen. Paradigmatisch zeitigt dies der Bericht über die napoleonischen Krönungsfeierlichkeiten. Nachdem Winckler sich anfangs den inszenierten Bedingungen des großen Festzugs widmet, kommt er im weiteren Verlauf darauf zu sprechen, welche Wahrnehmungsmöglichkeiten sich für ihn selbst ergeben: Jeder machte nun auch seine Glossen, die bisweilen von viel natürlichem Witz zeugten, und bewiesen daß auch Leute aus den niedern Volksklassen sehr richtig über die Angelegenheiten des Tages urtheilen können. Zwei Bemerkungen hörte Ref. am öftesten wiederholen, nämlich daß dieser Luxus und die vielen hieher gekommenen Fremden viel Geld nach Paris werde strömen machen, und daß dies auf Handel, Gewerbe, Fabriken u. dergl. einen heilsamen Einfluß haben müsse; Jeder individualisirte sich dann natürlicherweise den Vortheil, der ihm persönlich daraus zufließen könne; […] Der Prachtwagen des Kaisers war das große Augenmerk der Zuschauer, und so wie diese in der Ferne etwas davon erblickten, besonders die hoch emporragenden Federbüsche der Pferde, so ertönte das allgemeine Ah, Ah, Ah, da ist er u. dergl., der nun bald ihre Befriedigung hoffenden Neugierde. Dieses Ah-Rufen hat Ref. nicht bloß an einem Orte, sondern Morgens und Abends in all den verschiedenen Straßen ertönen hören, wohin ihn die Begierde, die Pariser zu beobachten, trotz der unangenehmen Witterung getrieben hatte. (London und Paris XIII, 1804, 359 f.)
Auf der beobachteten Ebene verweist der Korrespondent auf funktionalistische Aspekte, die er, gemessen an den wahrgenommenen Aussagen der Pariserinnen und Pariser, um eine ökonomische Dimension erweitert. Für die Frage urbaner Wahrnehmung entscheidender ist jedoch die Selbststilisierung des Korrespondenten. Markant tritt zutage, dass er selbst nicht in die Geschehnisse involviert ist. Er agiert als ein externer Beobachter, für den die inszenierten Feierlichkeiten eine willkommene Möglichkeit bieten, den stereotypen Pariser Charakter zu inspizieren. Bereits zuvor verweist er in seinem Bericht darauf: „Wer sich ein wenig in den Straßen unter die Zuschauer gemischt hat, wird sich leicht haben überzeugen können, daß Neugierde, die große Triebfeder welche die Pariser so oft in Bewegung setzte, auch hier ganz allein die Menge versammelt hatte“ (London und Paris XIII, 1804, 358 f). Für Winckler, lässt sich konstatieren, ist die inszenato rische Funktion nicht das entscheidende Beobachtungskriterium. Die Feierlichkeiten bieten ihm stattdessen die Chance, den Pariser Charakter anlässlich einer öffentlichen Veranstaltung zu beobachten. Einleitend konstatiert er demgemäß, er wolle die „offizielle[n] Beschreibungen dieser verschiedenen Feste“ meiden, sondern „glaubte […] sich bloß auf einige Bemerkungen beschränken müssen, die dem was andere erzählt haben, gleichsam als Supplement dienen könnten“ (London und Paris XIII, 1804, 351). Dies verbindet sich eng mit der Art und Weise, wie er selbst inmitten des volkreichen Trubels agiert.
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Er hebt darauf ab, die dem Lesepublikum vermittelten Verhaltensweisen mit eigenen Augen und Ohren wahrgenommen zu haben. Er unterstreicht – streng dem Programm des Journals folgend –, mittels einer räumlich und zeitlich breit angelegten Wahrnehmung ein umfassend authentisches Bild und damit verbundener Pariser Eigenschaften wiedergeben zu können. Er festigt diesen Anspruch auch insofern, als dass er direkte und indirekte Rede der Beobachteten in seine eigenen Ausführungen integriert. Er verleiht den wahrgenommenen Szenerien einen dramatischen und unmittelbarer wirkenden Anstrich. Auf diese Weise entsteht ein verdichtetes Bild der Verhaltensmuster, die den Korrespondenten deutlich stärker interessieren als die inszenatorischen Abläufe. Bemerkenswert ist indes, inwieweit sich der Beobachter mit den Pariserinnen und Parisern parallelisiert. Der Pariser „Neugierde“ ordnet er eine eigene „Begierde, die Pariser zu beobachten“, zu, sodass er letztlich durch das persönliche Handeln jene Stereotype bestätigt, die er selbst bei der Bevölkerung wahrnimmt. Er ist in diesem Sinne ein Beobachter zweiter Ordnung, der die Wahrnehmungen der Pariserinnen und Pariser zum eigenen Beobachtungsgegenstand macht.63 Er unterstreicht außerdem, dass ihm die politischen Feierlichkeiten nicht zur Analyse entsprechender Sachverhalte dienen, sondern vorrangig der Darstellung urbaner Lebensformen und Verhaltensweisen. Vergleichbares lässt sich für London in den Berichten Johann Christian Hüttners ausmachen. In mehreren Berichten geht er auf die Friedensschlüsse von Lunéville (1801) und von Amiens (1802) ein, welche die Koalitionskriege zwischen Frankreich und Großbritannien zumindest vorübergehend unterbrechen. Dies schlägt sich, so seine Berichterstattung, in London in ausführlichen Friedensfeierlichkeiten nieder, die er unter den Titeln „Londner Illumination bei der Bekanntmachung der ratificirten Friedenspräliminarien“ (London und Paris VIII, 1801, 85) und „Nachträge zu der Beschreibung der Friedensfeierlichkeiten“ (London und Paris VIII, 1801, 111) dem deutschen Lesepublikum zu vermitteln sucht. Die Feierlichkeiten seien „für London ein so unbeschreiblich freudiges Ereigniß, daß ein Beobachter dieser Stadt jetzt von nichts Wichtigerem reden kann“. Die Stadt biete „[e]ine so ungeheure Menge von Menschen von Freude ergriffen“ und „Erscheinungen, die sich sonst nicht sehen lassen“ (London und Paris VIII, 1801, 111). Wie sein Pariser Pendant Winckler hebt Hüttner für die politischen Feierlichkeiten weniger auf das Ereignis an sich ab als vielmehr auf die eigene Wahrnehmung, die sich an einem solchen Tag als besonders fruchtbar erweisen könne. Für beide Schilderungen ist insgesamt zu bemerken, dass die politische Funktionalisierung für die Berichterstatter eher sekundär bleibt und sie ihre persönlichen urbanen Beobachtungen in den Vordergrund heben.
63 Zur Bedeutung von ‚Beobachtern zweiter Ordnung‘ für die Großstadtliteratur vgl. Asholt, „Stadtwahrnehmung und Fiktionalisierung“, 44.
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Der Pariser Karneval Nicht nur für die politischen Feierlichkeiten lässt sich ein verstärktes Interesse der Korrespondentinnen und Korrespondenten in London und Paris feststellen, sondern auch für den Pariser Karneval. Gleich mehrfach widmen sie einzelne Beiträge den winterlichen Feierlichkeiten und nehmen unterschiedliche Gesichtspunkte ins Visier. Unter der Perspektive urbaner Wahrnehmungsformen sticht insbesondere ein anonymer, mit „R.“ signierter Beitrag aus Band 21 heraus. In seinem zweigeteilten Bericht liefert der Korrespondent sowohl eine „Schilderung des Pariser Carnevals überhaupt“ als auch einen „Rückblick auf den letzten Carneval“ (London und Paris XXI, 1808, 71). Nachdem er sich anfangs auf die verschiedenen Masken und politischen Implikationen konzentriert, kommt er auf seine persönlichen Wahrnehmungen zu sprechen. In den Vordergrund rückt er seine eigene Wahrnehmungsposition sowie die Empfindungen, die für ihn mit der Beobachtung einhergehen: Ein ganz reiner, wahrhaft erfreulicher Genuß beim Pariser Carnaval ist der Genuß der Kinder; wer Sinn für Kinderfreuden hat, genießt dabei beinahe eben so viel als die Kinder selbst. Ihre Freude fängt schon mit dem ersten Tage des Carnavals an, und steigt mit jedem Tage bis zum endlichen Fastnachtsfeste selbst. […] Endlich am eigentlichen Sonntage und Dienstage hat ihr Vergnügen keine Gränzen mehr, die glücklicheren unter ihnen muß man alsdann nicht in den schönen Carossen und Cabriolets suchen, […] sondern die ächte Kinderfreude ist, sich unter das bunte Gewühl selbst mischen zu können, die tausenderlei grellen Farben in der Nähe zu betrachten, von der Gefälligkeit gutmüthiger kinderliebender Masken zu profitiren. (London und Paris XXI, 1808, 79 f.)
Wie seine journalistischen Mitstreiter Hüttner und Winckler stilisiert sich der anonyme Korrespondent als externe Beobachtungsinstanz, die zwar inmitten der feiernden Menschenmassen ihren Platz hat, gleichzeitig jedoch eine gewisse Distanz zu ihnen wahrt. Er hebt besonders auf die verkleideten Kinder ab, die seiner Ansicht nach für einen außenstehenden Betrachter die eigentliche karnevaleske Vergnügung ausmachen. Auffällig ist, wie stark er den „Genuß“ zentriert. Den Pariser Karneval zu beobachten, geht für den Korrespondenten – durchaus im Gegensatz zu thematisch verwandten Berichten in London und Paris – nicht primär mit der Analyse sozialer Verhältnisse einher. Für ihn ist nicht die ansonsten oft prägende ‚verkehrte Welt‘ das wesentliche Kriterium. Vielmehr bringt der anonyme Berichterstatter implizit ein Argument ein, dass sich Hüttners ‚Sonntagsmetropolen‘ oder den Beschreibungen politischer Feierlichkeiten vergleichen lässt. Für den Korrespondenten sind es vor allem die zeitlich gesonderten Beobachtungspotenziale, die er in seiner Berichterstattung elaboriert. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, in welcher Beobachterrolle der Anonymus agiert und wie sich dort das Verhältnis von Teilnahme und Beobachtung ausgestaltet. Er gibt an, die „ächte Kinderfreude“ könne man nur erlangen,
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indem man nicht passiv-beobachtend am Straßenrand die „Carossen und Cabriolets“ inspiziere, sondern durch eine aktiv-teilnehmende Position. Erst wer sich „unter das bunte Gewühl selbst mische[]“, könne die „tausenderlei grellen Farben in der Nähe […] betrachten“ und eine genauere Beobachtung vornehmen. Doch obwohl der anonyme Korrespondent dazu aufruft, sich unter die Menschenmassen zu mischen, bleibt eine Distanz bestehen. Seine leibliche Teilnahme verbindet sich letztlich nicht mit einer aktiven Beteiligung am karnevalesken Geschehen. Er bleibt einer außenstehenden Wahrnehmung verhaftet. Nähe und Distanz gehen eine ambivalente Beziehung ein. Räumlich ist der Anonymus dem wahrgenommenen Geschehen zwar nahe, doch seine Intentionen finden auf einer anderen Ebene statt. Wie sehr dieser Wahrnehmungsmodus die Textstelle prägt, lässt ein weiterer Ausschnitt erkennen: Ich habe auf jedem Carnaval seit vielen Jahren beständig eine Menge Masken, besonders junge Leute, bemerkt, die sich einen guten T heil des fastnächtlichen Sonntags oder Dienstags über ganz allein damit beschäftigten, den Kindern Freude zu machen; sie trieben vor ihnen tausenderlei Possen, ließen sich von ihnen jagen und zupfen, und sammelten so ganze Hunderte von einem Quartier ins andere um sich und hinter sich her. Am diesjährigen Sonntage folgte ich selbst lange einem gutmüthigen Manne nach, der als Bauer verkleidet eine Heugabel trug; an der Gabel war eine Schnur befestigt, und so gieng er auf den Boulevards von Pastetenbäcker zu Pastetenbäcker, kaufte da kleine Kuchen, zog dann seine Schnur durch einen dieser Kuchen, und lockte auf diese Art einen zahllosen Schwarm von lustigen Jungen nach sich […]. (London und Paris XXI, 1808, 81)
Nachdem der anonyme Korrespondent sein Beobachtungsprogramm aktualisiert hat und mit dem Verweis auf seine langjährige Erfahrung den authentischen Charakter desselben suggeriert, kommt er gemäß seiner Beitragsüberschrift wieder auf den jüngsten „Carnaval“ zu sprechen. Im Unterschied zu seiner vorherigen Schilderung hebt er heraus, wie sehr das karnevalistische Treiben von zufälligen Eindrücken geprägt sei. Diese könne man erst erfassen, wenn man sich inmitten des feierwütigen Volkes aufhalte und eine autoptische Beobachtung vornehme. Im zweiten Teil hebt er auf eine persönliche Erfahrung ab, die frappierend an Edgar Allan Poes T he Man of the Crowd erinnert. Er beschreibt, wie er jüngst „lange“ einem „gutmüthigen Manne“ gefolgt sei, der den Pariser Karneval besonders bereichert habe.64 Der Korrespondent erweitert sein Beobachtungsspektrum, modifiziert aber seine eigene Wahrnehmungsweise. Er entscheidet nicht mehr selbst, welchen karnevalistischen Eindrücken er sich widmen möchte, sondern lässt sich durch den beobachteten Mann lenken. Er gerät in einem Modus, in dem bestimmte und unbestimmte Umstände ein wechselseitiges Verhältnis eingehen. Das Verhalten eines anderen entscheidet nunmehr über seine Impressionen, insofern offenbleibt, wem oder was sich der Beobachtete demnächst widmet. Gleichzeitig ist diese Wahrnehmungsart weiterhin an 64
Vgl. zu diesem Motiv der Flanerieliteratur Neumeyer, Der Flaneur, 33.
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seine grundlegende Beobachtungsweise gekoppelt. Der anonyme Berichterstatter verbleibt als externer Beobachter, der als – nicht räumlich, sondern partizipativ – Außenstehender registriert. Vergleicht man diese Textstelle mit den anderen Schilderungen urbaner Feierlichkeiten und Festivitäten, ergeben sich zwei Verbindungslinien. Zum einen zeichnen sich alle Passagen dadurch aus, dass sie den zeitlichen Anomalien – über das sonntägliche Stadtbild bis zum politisch inszenierten Festzug – ein herausgehobenes Beobachtungspotenzial zuweisen. Dieses reflektiert bisweilen durchaus die funktionalisierte und inszenierte Dimension der verschiedenen Gegebenheiten, schiebt sie jedoch zugunsten anderer Wahrnehmungsgegenstände beiseite. Gleichzeitig identifizieren sich die Berichterstatter jeweils mit einer tendenziell externen Positionierung. Die Korrespondenten bleiben an dem, was die zeitlichen Abweichungen konstituiert, unbeteiligt. Sie beschreiben selten, wie sie selbst an Sonntagsspaziergängen oder an Maskenzügen teilnehmen würden. Sie konzentrieren sich in graduellen Abstufungen auf eine vermehrt außenstehende Beobachtung. Die urbane Mußeerfahrung formulieren sie nur geringfügig über ausbleibende alltägliche Betriebsamkeit und Geschäftigkeit. Sie konstruieren ihre Wahrnehmungen vielmehr von den Beobachtungsmöglichkeiten aus, die sich durch andere Akteurinnen und Akteure ergeben. Obwohl die Berichterstatter andere Gegenstände als im alltäglichen London oder Paris erfassen, bleiben sie ihren bereits herausgearbeiteten Wahrnehmungsmustern weitgehend treu. Der zufällige Blick, der die zumeist spazierenden Erkundungen prägt, ist an eine passiv-beobachtende Perspektive gebunden, die sich von einer aktiven Teilnahme abgrenzt. Insgesamt sind die untersuchten Textstellen von der Grundstruktur geprägt, die das ganze zweite Kapitel zu London und Paris prägt. In der Zeitschrift berichten die Korrespondentinnen und Korrespondenten umfänglich über urbane Raumzeitlichkeiten aus den beiden Metropolen. Ihre Perspektive ist dabei zuvorderst auf das Verhältnis von gesellschaftlichen Prozessen einerseits und individuellen, meist auf sie selbst bezogenen Verhaltensweisen andererseits ausgerichtet. Sowohl für die urbanen Rückzugsräume, ihre vergnüglichen Pendants als auch schließlich für die städtischen Alltagsmuster und die davon abweichenden zeitlichen Anomalien hat sich eines deutlich herauskristallisiert. Die beschriebenen Praktiken schwanken zwischen einer umfänglichen gesellschaftlichen Funktionalisierung, die vor allem die routinisierten Abläufe der Bewohnerinnen und Bewohner zentriert, und den subjektiven Beobachtungsmustern der deutschen Berichterstatterinnen und Berichterstatter. Während sie für die beobachtete Bevölkerung die Möglichkeiten urbaner Muße klar beschränkt sehen, entfalten sie für sich das Argumentationsmuster einer durch solche sozialen Schauspiele besonders bereicherten Wahrnehmung. Innerhalb dieser Konstellation spielt die Differenz zwischen Teilnahme und Beobachtung eine immense Rolle. Indem die Korrespondentinnen und Korrespondenten nicht verpflich-
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tet sind, an den gesellschaftlichen Rollenspielen teilzunehmen, sondern extern beobachten können, wird ihnen möglich, frei in der Zeit zu verweilen und das großstädtische Treiben in aller Ruhe zu betrachten.
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10. Der ‚andere‘ Arndt in der Metropole: Ein Franzosenhasser liebt Paris 10. 1. Gespiegelte Welt: Arndts Guckkasten In keinem Erdstriche findet der Fremde ein solches Volk für die Gesellschaft und das Leben; in keinem Erdstriche wird er so schonend behandelt und so liebend aufgenommen; nirgends findet er sich so frei und nach seinem Gefallen, als gerade hier. Der Teutsche, der von der Feinheit der Franzosen in der Ferne hört, denkt sich darunter nur einen lustigen Zirkel von Formeln, Komplimenten und Ceremonien, […] er kann es sich nicht anders denken nach den Begriffen, die er von feiner und eleganter Welt hat, weil bei ihm die Steifheit zunimmt, so wie der vornehme Ton steigt, und weil Feinheit und Steifheit der Sitten bei ihm meistens Eins sind. Aber bewahre mich Gott, daß ich jemals so etwas loben sollte. Nein, die französische Eleganz und Urbanität ist lange von der großmütterlichen Regel und von dem Mondkalbe Etikette befreit gewesen, und hat bei aller Künstlichkeit sich wieder zur Leichtigkeit und Ungezwungenheit der Natur durchgearbeitet. Auch ist sie so etwas Feines und Freies, daß sie dem groben Takt manches Teutschen auf immer entflieht, und er endlich von den Franzosen nichts weiter zu sagen weiß, als daß sie hüpfende Gecken und eitle, schmeichlerische Narren und Betrüger sind. (Arndt, Reisen III, 346)
Die Urteile des Beobachters sind für die Zeit um 1800 und ihre politischen Fährnisse durchaus ungewöhnlich. Er skizziert die französische Lebensart durchweg positiv und zeichnet sich dadurch aus, urbane Lebens- und Umgangsformen gegenüber der deutschen Engstirnigkeit und Altbackenheit zu loben. Das französische Lebensgefühl stellt für den Beobachter das europäische Nonplusultra „schonend[er]“ und „liebend[er]“ Behandlung dar. „Eleganz und Urbanität“ sieht er als erstrebenswerte Epitheta, die den Deutschen in ihrer begrenzten Wahrnehmung und Lebensweise verwehrt bleiben. Genau jene nationalen Eigenschaften, die in den zeitgenössischen Argumentationen (Kap. 4) häufig zur Abwertung Frankreichs und seiner Bevölkerung führen, konturiert der Berichterstatter als herausragende Attribute. Er formuliert gar ein ausdrückliches didaktisches Potenzial für deutsche Beobachterinnen und Beobachter, die von den französischen Verhaltensweisen besonders profitieren könnten. Überdies problematisiert er die für deutsche Großstadtberichte um 1800 prägende Differenz von Vorurteil und eigener Erfahrung. Der außenstehende und unkundige „Teutsche“, der nicht unmittelbar mit den französischen Verhältnissen konfrontiert ist, verharrt bei einem stereotypen Urteil. Demgegenüber steht der Berichterstatter, der die französischen Sitten selbst durch eine Reise erfahren hat und aufgrund dessen
10. Der ‚andere‘ Arndt in der Metropole
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zu einem völlig anderen Urteil kommt. Der Beobachter verhandelt kurzerhand Bedingungen und Auswirkungen nationaler Fremd- und Selbstwahrnehmung. Sie münden darin, die französische, gesondert die Pariser Lebenskultur mit einer weitreichenden Vorbildfunktion zu versehen. Arndts Reisen: Ein vergessener Text Das eigentlich Besondere an diesem Textausschnitt ist jedoch etwas anderes. Die Worte stammen von jenem Autor, der wie kaum ein zweiter mit deutschem Franzosenhass und nationalem Befreiungskampf um 1800 verbunden ist: Ernst Moritz Arndt. Den Schriftsteller kennt die Literaturgeschichte vorrangig als Akteur, der insbesondere mit seiner Befreiungskriegslyrik Anfang des 19. Jahrhunderts den deutschen Nationalismus befördert. Seine gegenüber Frankreich scharfen Polemiken beschäftigen die Forschung bis heute; jüngst in der ausführlichen und kontroversen Debatte darüber zu erkennen, ob die Universität Greifswald weiterhin nach ihm benannt sein sollte. Das wirkt auf den ersten Blick paradox. Wie kann der Schriftsteller, der in gravierendster und herablassendster Manier gegen Napoleon und die französische Nation agitiert – man denke wahlweise an seine Befreiungskriegslyrik, den zweiten Teil von Geist der Zeit (1809) oder den Kurzen Katechismus für teutsche Soldaten (1813) –, zu einem solch positiven Urteil über die westlichen Nachbarn kommen? Die Antwort versteckt sich in der Entstehungszeit des Textes. Arndts euphorisches Urteil entstammt einer seiner frühesten Schriften, den Reisen durch einen T heil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799. Das 1803 und 1804 in zwei Ausgaben erschienene Werk1 schildert Arndts Reise durch halb Mitteleuropa und besonders seinen monatelangen Parisaufenthalt während des Sommers 1799.2 Sowohl hinsichtlich der kulturellen Rezeption Arndts als auch gemessen an der Forschungslage ist von einem nahezu vergessenen Text zu sprechen. Interpretierende Überlegungen liegen eher verstreut vor und eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung ist in vielerlei Hinsicht bisher ausgeblieben.3
1 In der ersten Ausgabe 1803 hatte noch der Teil zu Ungarn gefehlt, vgl. Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers“, 245. Außerdem sei erst mit der zweiten Ausgabe die richtige Chronologie der Reise gegeben, wie Eva Ptak-Wiesauer, „Zwischen Reform und Revolution. Eine Reise durch Bayern und die Donaumonarchie“, in: Eva Ptak-Wiesauer (Hg.), Sehnsucht nach der Ferne. Die Reise nach Wien und Venedig 1798 (Alte abenteuerliche Reise berichte), Stuttgart/Wien 1988, 7–24, 19 f., bemerkt. 2 Arndt hielt sich zwischen dem 26. Mai und 9. August 1799 in Paris auf, vgl. PtakWiesauer, „Zwischen Reform und Revolution“, 18. 3 Auf dieses Desiderat verweist Jürgen Voss, „Ernst Moritz Arndt und die Französische Revolution“, in: Voss, Deutsch-französische Beziehungen im Spannungsfeld von Absolutismus, Aufklärung und Revolution (Pariser historische Studien 36), Berlin/Bonn 1992, 346–357, 347.
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IV Berichte aus London und Paris
In den wenigen Beiträgen, die explizit Arndts Reisen untersuchen, finden sich indes Hinweise auf deren Besonderheiten. Aus der älteren Forschung ragt die Arndt-Biografie Ernst Müsebecks heraus, in welcher der Verfasser das frühe Frankreichbild des Reisenden betont. „Die äußeren Sitten und Lebensgewohnheiten, […] ihre Urbanität und äußere Feinheit, ihre natürliche Leichtigkeit und Ungezwungenheit“4 hätten Arndt besonders für die Französinnen und Franzosen eingenommen. Müsebeck geht überdies auf Arndts Erzählstil ein, den er mit einer „persönlichen und relativen Darstellungsweise“ verknüpft sieht, die sich durch „frische, zuweilen von derber, aber immer ungesuchter Natürlichkeit durchwehte Schilderungen seiner Erlebnisse“5 auszeichne. Eine Ausnahme in der neueren Forschung ist zum einen, gerade für das national-vergleichende Element, ein Aufsatz von Hans-Jürgen Lüsebrink. Bezeichnenderweise ist er in einem Sammelband mit dem Titel Frankreichfreunde erschienen.6 Lüsebrink betont, in den Reisen seien „Arndts Beziehungen zu Frankreich […] von einer unverkennbaren Faszination und einem Willen zur Übertragung […] französischer Modelle der Literatur, Erziehung und der Nationalpädagogik bestimmt“.7 Darüber hinaus ist auf einen Beitrag von Walter Erhart zu verweisen, der sich bislang am ausführlichsten und intensivsten an einer literaturhistorischen Einordnung des Reiseberichts versucht.8 Wie Erhart aufzeigt, spiegelt Arndts Reisebericht verschiedene Konzeptionen zeitgenössischer Reiseliteratur, deren Vielfalt sich darin äußert, dass verschiedene Berichtweisen den einzelnen Reisestationen zugeordnet sind. Dabei stechen für den Interpreten die Pariser Teile hervor, in denen Arndt versuche, „die Revolutionshauptstadt […] nicht mittels einer vollständig topographischen Beschreibung, sondern in ihrer Bewegung und in ihrer Geschwindigkeit zu erfassen“.9 Ebenso betont Erhart, im Reisebericht habe man es nicht mit dem späteren Franzosenhasser zu tun, sondern er „verteidigt […] sein Gastgeberland […] fast immer“.10 Ernst Müsebeck, Ernst Moritz Arndt. Ein Lebensbild, Gotha 1914, 59 f. Ernst Moritz Arndt, 49. 6 Hans-Jürgen Lüsebrink, „Ein Nationalist aus französischer Inspiration. Ernst Moritz Arndt (1769–1860)“, in: Michel Espagne/Werner Greiling (Hg.), Frankreichfreunde. Mittler des französisch-deutschen Kulturtransfers (1750–1850) (Deutsch-Französische Kulturbibliothek 7), Leipzig 1996, 221–241. Im selben Band nennen die Herausgeber ebenfalls Arndt als Beispiel, wie rasch und grundlegend sich das Bild vom anderen Land wandeln könne, vgl. Espagne/Greiling, „Einleitung“, 7. 7 Lüsebrink, „Ein Nationalist aus französischer Inspiration“, 235. 8 Walter Erhart, „Reisen durch das alte Europa. Ernst Moritz Arndts ‚Reisen durch einen T heil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs‘ und die Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts“, in: Walter Erhart/Anne Koch (Hg.), Ernst Moritz Arndt (1769–1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 112), Tübingen 2007, 149–184. 9 Erhart, „Reisen durch das alte Europa“, 156. 10 Erhart, „Reisen durch das alte Europa“, 164. 4
5 Müsebeck,
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Ansonsten weist die Forschung lediglich summarisch auf die lebendigen Schilderungen des Pariser Lebens sowie auf die Urteile zur französischen Lebenskultur hin.11 Die wenigen textanalytischen Untersuchungen konzentrieren sich zumeist auf den biografischen Aspekt der Reise. Sie heben die Auflehnung gegen das eigene Elternhaus mit einer modifizierten Grand Tour12 hervor und besprechen die bildende Wirkung, welche die Reise auf Arndt habe. So betont beispielsweise Hans-Georg Werner, für den Reisenden habe sie dem Zweck gedient, „sich aus alten Formen sozialer Aktivitäten und Bindungen freizumachen“, und sei daher „in erster Linie ein Akt praktischer Selbstfindung“13 gewesen. Arndts Reise sowie deren Literarisierung hat die Forschung bislang vorrangig unter autorzentriertem und biografischem Gesichtspunkt betrachtet, während die literarische und ästhetische Dimension eher außen vor geblieben ist. Was der Forschung folglich bisher fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit all dem, was Arndt an urbanen Lebensformen und kulturellen Zeugnissen schildert. Das stellt insofern ein erhebliches Desiderat dar, als dass es sich um das Zentrum seiner Parisdarstellung handelt. Insbesondere die dortigen Darstellungen zeugen von einer umfassenden kulturellen Analyse, die zum einen formal und inhaltlich an das merciersche Tableau anschließt, zum anderen eigene Akzente setzt, die vor allem hinsichtlich der urbanen Lebensformen hervorstechen.14 Mit seinen Schilderungen des öffentlichen Pariser Lebens sowie zuvorderst durch die Erzählweise des literarisierten Spaziergangs ist Arndt eine bedeutende und aufschlussreiche literarische Quelle für Fragen urbaner Muße. Arndt ist von Geschäftigkeiten oder anderen Verpflichtungen in der französischen Hauptstadt entbunden und studiert vorrangig die öffentliche Kultur. Die Beobachtung der Pariser Bevölkerung geht überdies einher mit einer Selbstwahrnehmung, die unter nationalem Gesichtspunkt einschlägige Spuren hinterlässt.15 Rundgänge 11 Die wichtigsten, noch nicht genannten Beiträge, die sich explizit mit Arndts Reise befassen, sind Johannes Paul, Ernst Moritz Arndt. „Das ganze Teutschland soll es sein!“ (Persönlichkeit und Geschichte 63/64), Göttingen 1971; Hans-Georg Werner, „Ernst Moritz Arndts Reise durch einen T heil Teutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs in den Jahren 1798 und 1799“, in: T homas Höhle (Hg.), Reiseliteratur im Umfeld der Französischen Revolution (Kongress- und Tagungsberichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg / Wissenschaftliche Beiträge 38 (F70)), Halle (Saale) 1987, 78–90. Dazu sind einzelne Abschnitte bei Heinz Brüggemann und T homas Grosser in ihren Darstellungen der Reiseund Großstadtliteratur zu nennen: Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London; Grosser, Reiseziel Frankreich. 12 Vgl. zur Verwandtschaft zwischen Grand Tour und Arndts Reisebericht Erhart, „Reisen durch das alte Europa“, 166. 13 Werner, „Ernst Moritz Arndts Reise“, 78. Vgl. Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers“, 243, der vom Motiv der „Flucht“ als Reiseanlass spricht und ein „Zusammenspiel von äußerer Geschichte mit der inneren Biographie in der Zeit nach 1800“ identifiziert. 14 Vgl. Erhart, „Reisen durch das alte Europa“, 157. 15 Auf die Bedeutung der Reise für Arndts nationale Bilder hat Birgit Aschmann, „Arndt und die Ehre. Zur Konstruktion der Nation in Texten von Ernst Moritz Arndt“, in: T homas
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IV Berichte aus London und Paris
durch die Schauplätze des öffentlichen Pariser Lebens sowie daraus resultierende Soziogramme prägen seinen Text maßgeblich. Vergleichbar ist Arndts Bericht formal und darstellerisch den Reisetexten Rebmanns, besonders dessen Zeichnungen. Er setzt jedoch insofern andere inhaltliche Akzente, als dass er gegenüber dem früheren Revolutionsreisenden das Politische eher peripher betrachtet. Vor der genaueren literaturwissenschaftlichen Betrachtung ist eine editorische Notiz vonnöten. Für Arndts Reisebericht besteht nicht nur die missliche Lage, dass bisher keine kritische Textausgabe vorliegt, sondern dass die Forschung teilweise nach einer philologisch unzureichenden Anthologie zitiert hat. Unter dem Titel Pariser Sommer 1799 hat Wolfgang Gerlach 1982 eine Auswahlausgabe der arndtschen Parisschilderungen auf den Markt gebracht.16 Bei genauerer Betrachtung ergeben sich allerdings philologische Probleme. Gerlach weist zwar im Vorwort darauf hin, er habe Kürzungen und Umstellungen vorgenommen, das Ausmaß und die genauen Veränderungen verschweigt er dagegen. Dass dies für das Textverständnis, insbesondere der Pariser Passagen, bisweilen erhebliche Konsequenzen zeitigt, sei beispielhaft an zwei Punkten verdeutlicht. Zum einen hat Gerlach in der Vorrede jenen Passus herausgenommen, in dem Arndt seine wichtigste Bezugsgröße, das Tableau Merciers, ins Feld führt. Für eine reflektierte literaturhistorische Einordung des Reiseberichts ist damit eine entscheidende Information gestrichen. Das zweite Beispiel betrifft jenen Abschnitt, der einleitend zitiert ist. Das euphorische Lob der Pariser Lebensweise und ‑formen steht bei Arndt mitten im Text unter „Verlorne Sachen. Mannigfaltigkeiten“ (Arndt, Reisen III, 321). In Gerlachs Anthologie ist der Ausschnitt extrahiert und unter dem Titel „Lebt wohl, freundliche Menschen!“ ganz ans Ende gestellt. Was als Zusammenfassung von Arndts Parisreise wirkt, ist in den ursprünglichen Drucken mitten im Text integriert. Für eine reflektierte literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Arndts Parisberichten ist die Anthologie ungeeignet. Daher greift die Studie auf den Druck von 1804 (zweite Ausgabe) zurück. Poetologische Grundstrukturen des Reiseberichts Arndt ordnet seine Pariser Berichte, durchaus Georg Friedrich Rebmann vergleichbar, einem weitgehend fragmentarischen Prinzip unter. So konstatiert er zu Beginn unter der allgemeinen Überschrift „Paris“ autopoetologisch: Ich fürchte fast, es mag mir mit dieser Ueberschrift Paris gehen, wie einem, der eine Weltgeschichte ankündigt, und am Ende mit zerstückelten Bruchstücken eines kleinen Atoms der Welt, der Erde, angestiegen kömmt, die vor vielen Jahrtausenden, wie einige große Stamm-Kuhlmann (Hg.), Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag (Historische Mitteilungen 47), Stuttgart 2003, 347–368, 350, hingewiesen. 16 Ernst Moritz Arndt, Pariser Sommer 1799, hg. v. Wolfgang Gerlach, München 1982.
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Köpfe gemeint haben, nebst den andern Planeten durch einen Kometen von der Sonne abgelaufen ward, und sich nun noch immer in dem verwandten Wirbel ihrer Mutter umdrehen läßt. (Arndt, Reisen III, 114)
Für Arndt steht fest, dass er Paris als Ganzes nicht erfassen kann. Selbst wenn er dem Lesepublikum vollmundig eine Großstadtschilderung ankündigt, muss diese seiner Ansicht nach fragmentarisch und atomar bleiben. Arndt ist kein „Typ des Reisenden“, der versucht, „die Metropole in ihrer Ganzheit zu erfahren und diese Ganzheit auch zu erzählen“17, sondern bleibt genuin einem bruchstückhaften Erzählmuster verbunden. Mit der „Weltgeschichte“ deutet Arndt zudem auf die zahlreichen und vielseitigen (zeit‑)geschichtlichen Implikationen, die sich beim Besuch der neben London wichtigsten historischen europäischen Metropole ergeben. Indem er die französische Kapitale mit der Erde und ihrer Beziehung zur Sonne parallelisiert, erhebt er Paris zum Mittelpunkt seiner eigenen Reise. Außerdem deutet Arndt an, dass die Stadt für ihn als Spiegel alles Irdischen gelten kann und mehr als ein gegenwärtiges zeitgeschichtliches Epizentrum darstellt. Obwohl sein Bericht über den Pariser Sommer notgedrungen fragmentarisch bleiben muss, spiegeln sich in ihm die irdischen Naturgesetze und der weltgeschichtliche Verlauf. Warum das für Arndt eine mechanistische Logik besitzt, verdeutlicht er gleich darauf: Man darf nur das Wörtlein Paris nennen, so ist es grade, als wenn man Welt sagt, ja viel mehr. […] Paris! o Paris! da drängen sich tausend Welten in dem Kopf zusammen; tausend lebendige Bilder, tausend Gestalten wandeln vorüber, und eine Menge Geschichten webt die schnelle Phantasie unter einander, die, wahr oder falsch, in dieser kleinen moralischen Welt täglich vorgehen sollen. Da wird es denn am Ende eben so mißlich, von Paris als von der Weltgeschichte etwas zu schreiben, um so mehr, da das erste immer wechselt, die letzte aber bis auf den heutigen Tag von manchen weisen und hochgelehrten Männern für etwas sehr Festes und Stehenbleibendes angesehen wird […]. (Arndt, Reisen III, 114 f.)
Zum einen ist „Paris“ für Arndt ein pars pro toto im engsten Wortsinne. Ein einziges „Wörtlein“ ruft sogleich die Implikationen einer ganzen „Welt“ auf.18 Ausrufend unterstreicht er, durch welche Verschieden- und Verworrenheit Paris für den Beobachter geprägt sei. Er deutet das „Kaleidoskop rasch wechselnder Perspektiven auf engstem städtischem Raum“19 an, das seinen Bericht weitergehend prägt. Arndt verweist auf eine umfassende soziale Stratifizierung, die sich in „tausend Welten“ und „tausend Gestalten“ wiederfinde, sowie auf die unzähligen damit verbundenen Erzählstoffe. Das führt zum zweiten wesentlichen Gesichts17 Wolfgang Asholt, „Einleitung. Die Blicke der Anderen“, in: Wolfgang Asholt/Claude Leroy (Hg.), Die Blicke der Anderen. Paris – Berlin – Moskau (Reisen Texte Metropolen 2), Bielefeld 2006, 11–23, 14 f. 18 Zur Metapher von Paris als „Welt“, die bereits im 16. Jahrhundert kursiert, vgl. Girouard, Die Stadt, 205. 19 Erhart, „Reisen durch das alte Europa“, 156.
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IV Berichte aus London und Paris
punkt. Zentral ist neben einer allgemeinen und topisch gehaltenen Charakterisierung die Frage, wie der Berichterstatter mit seinem beobachteten Gegenstand zu verfahren habe. Durch den Verweis auf die „schnelle Phantasie“ respektive die eigenen inneren Vorgänge antizipiert Arndt, dass lediglich eine subjektive und fragmentarische Beschreibung möglich sei. Dies verstärkt er gegen Ende seiner Vorrede, wenn er ankündigt: Ich „werde […] aus meinem reichen Vorrath, der leicht zu Folianten verdickt werden könnte, nur einige Stücke geben“ (Arndt, Reisen III, 120). Zusätzlich merkt er implizit an, ein Beobachter müsse überdies bewerten, müsse „wahr oder falsch“ im urbanen Getriebe zu scheiden vermögen. Die ständig veränderte „Weltgeschichte“ der Metropole stilisiert er zur erzählerischen Herausforderung, derer Arndt sich umfänglich bewusst ist. Vor diesem Hintergrund erklärt er, was die Leserinnen und Leser von seinem Parisbericht erwarten könnten: Laßt euch nicht schrecken, lieben Leutchen, oder hofft nicht zuviel – ich spreche mit euch, wie es jeder nach seiner verschiedenen Ansicht verlangen könnte – nicht ganz Paris, noch alles, was in und um Paris ist, will ich euch auftischen, da würden dem schreib seligsten Schreiber am Ende die Finger erlahmen. Das fällt auch nicht alles in den Hori zont eines Menschen, der etwa drei Monate nur in der jetzigen Hauptstadt Europens lebte; aber selbst, wenn er euch das gäbe, was in seinen Horizont fiel, und wovon er vielleicht manches besser melden könnte, als andre seiner Vorgänger, so würde er immer noch fürchten, zu lang zu werden. (Arndt, Reisen III, 115)
Das bruchstückhafte Prinzip bekräftigt Arndt bezüglich seiner eigenen Wahrnehmung. Für ihn ist das entscheidende Kriterium die Unmöglichkeit, ganz Paris umfänglich zu schildern. Daher bindet er seine Poetologie zugleich an die Entstehungsbedingungen. Mit dem zentrierten subjektiven „Horizont“ deutet Arndt auf die absolut gesetzte Autopsie voraus, die er im weiteren Verlauf für unabdingbar erklärt. Er ordnet sich in zeitgenössisch topische, reiseliterarische Argumentationsmuster ein, die „auf wahrhaftige Beschreibung auf der einen und […] subjektive Darstellung auf der anderen Seite“20 abzielen. Gleichermaßen muss die Wahrnehmung insofern unabgeschlossen bleiben, als dass sie zeitlich begrenzt ist. Nichtsdestotrotz existiert selbst für die eigenen Beobachtungen eine zweite selektive Ebene. Dass Reiseliteratur „streicht und unterstreicht, […] akzentuiert – je nach Perspektive des Reisenden“21, dafür ist Arndts Parisdarstellung ein äußerst einschlägiges Beispiel. Der Berichterstatter vermerkt, er wolle keineswegs sämtliche innerhalb eines Vierteljahres gemachten Wahrnehmungen verschriftlichen. Inhaltlich konkretisiert Arndt dies jedoch vorerst nicht. Vielmehr widmet er sich nachfolgend der literaturhistorischen Selbstverortung. Die Refe20 Fischer,
Reiseziel England, 234. „Einleitung“, 6.
21 Bleicher,
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renz auf „Vorgänger“ ist als Allgemeinplatz der um 1800 quantitativ herausragenden Parisliteratur zu sehen und polemisiert überdies forciert gegen andere Zeugnisse. Arndt verweist neben einer, wenngleich unkonkret bleibenden, höheren Expertise wenig später auf eine klare Kritik an manch anderem zeitgenössischen (Reise‑)Bericht. Er hält mit Blick auf diejenigen, die in noch kürzerer Aufenthaltszeit umfangreichere Darstellungen hervorbringen, fest: Er schließt also, die Herren verlassen sich auf ihre Freunde und auf andere Erzähler, nehmen treu hin, was diese ihnen geben, und erzählen es treu andern Leuten wieder, nein untreu wollte ich sagen; denn gewöhnlich stellen sie sich, als hätten sie alles, was sie geben, selbst gesehen, gehört und erlebt und das macht die meisten Leser treuherzig. Wer aber die Welt kennt, der weiß auch, was es mit diesem Wissen für einen Zusammenhang hat und haben kann. Ich habe doch auch ein Paar Augen zum Sehen, wie andre ehrliche Leute, mag auch gern was wissen; aber ich gestehe frei, daß ich auf meinen Zügen von dem grade am wenigsten habe aufgreifen und wissen können, womit andre so leicht ganz Bogen füllen können. […] Ich habe schlechterdings nur meinen Augen und Ohren (und wenn es solche unsichtbare drinnen giebt) getraut, und darf kühn sagen, daß ich wenigstens die fremde Autorität immer angeführt habe, wenn auf sie hin etwas erzählt ist. (Arndt, Reisen III, 115 f.)
Wie Rebmann oder London und Paris verortet Arndt sich im literarischen Feld gleichermaßen adaptiv und abgrenzend. Während er einerseits gesteht, vielerorts müsse er die Expertise und Tiefgründigkeit konkurrierender Berichte für sich ausschließen, sieht er sich andererseits in eindeutigem moralischem Vorteil.22 Als Pariser Berichterstatter steht für ihn die subjektive Autopsie zuvorderst und gerät zum beobachtenden sowie darstellerischen Leitmotiv. Er ist einer jener Reisenden, die das zeitgenössische autoptische Postulat aufgreifen und die „ungeteilte Überzeugung“ vertreten, „eben dieser Forderung in vollem Umfange gerecht geworden zu sein“.23 Das verbindet er durchaus mit der Reflexion eigener kultureller Rahmenbedingungen und Wissenslücken. Arndt vermerkt entschieden, die Wahrnehmung sei stets an die eigene Provenienz und das Vorwissen geknüpft. Von Beginn an schreibt er seinen Beobachtungen eine umfängliche subjektive Note zu, die sich beispielsweise von enzyklopädischen oder wissenschaftlichen Beschreibungsversuchen abgrenzt. Starke Kritik erfährt das anderen vorgeworfene Prinzip, gegebenenfalls Auskünfte Dritter heranzuziehen – ein Element, das beispielsweise in London und Paris noch als selbstverständlich erachtet wurde. Demgegenüber verabsolutiert der Beobachter die selbstgemachten Beobachtungen, die maßgeblich polysensorisch („Augen und Ohren“) geprägt sind. Auffallend ist, dass Arndt sowohl auf die äußeren Sinne rekurriert als auch randständig auf innere Wahrnehmungen. Hier deutet sich an, was für seine Pa22 Vgl. Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers“, 245, der Arndts Abgrenzung von seinen Reisevorgängern explizit betont. 23 Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen, 187.
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risdarstellung durchgehend prägend ist. Stets gesellen sich neben das sinnlich Wahrgenommene seine inneren Impressionen. Arndts Beobachtungsgegenstände: Autopsie der Öffentlichkeit Doch was fällt in den „Horizont“ des Parisreisenden Arndt? Auch dazu gibt er in seiner Vorrede Auskunft und bezieht sich auf Merciers Postulat, der Fremde könne „die Schauspiele, die Promenaden, die öffentlichen Sitten mahlen“, während er vom „Innern der Häuser, vom Karakter der Männer in Bestallung, von besonderen und versteckteren Zügen“ (Arndt, Reisen III, 116) wenig zu berichten wisse. Davon ausgehend kündigt Arndt sein eigenes Programm an: Das eigentlich Oeffentliche also gehört nach seinem Urtheile dem Fremden an, und dieses kann ihm unmöglich versteckt werden, wenn man nicht annehmen wollte, daß die Menschen in einer kleinen Welt, wie Paris, wo sie es am wenigsten nöthig haben, in einer immerwährenden Verstellung leben, und das kann man doch wohl bei keiner Nation, am allerwenigsten aber bei den Franzosen. Dieses öffentliche Leben wird der Fremde in kurzer Zeit besser fassen, als der Einheimische vielleicht im ganzen Leben. […] Der Fremde greift das Unterscheidende leicht auf, welches schneidend von den Sitten seiner Nation absticht, und grade das, was sein Urtheil zuerst bestimmt, was ihm zuerst am meisten auffällt, grade das sollte er schreiben, ohne lange darüber zu grübeln. (Arndt, Reisen III, 116 f.)
Für Arndt gibt es keinen Zweifel: Eine fremdnationale Schilderung kann sich ausnahmslos auf die öffentliche Sphäre beziehen. Im Anschluss an Mercier hebt er hervor, im öffentlichen Leben zeigten sich die wesentlichen Eigenschaften sowohl der Stadt als auch ihrer Bewohnerinnen und Bewohner am ehesten. Hier sei es keineswegs möglich, in einer „immerwährenden Verstellung“ zu leben. Arndt sieht den fremden Beobachter ausdrücklich in einer privilegierten Position, ist er doch als Außenstehender fähig, einen vermeintlich klaren Blick auf die beobachteten Menschenmassen und ihre Charakteristika zu entfalten. Im Mittelpunkt steht für ihn das nationale Element. Die aus den Wahrnehmungen gewonnenen Erkenntnisse ordnet er direkt einer nationalen Typologie zu, wobei Arndt von einer unmittelbaren Widerspiegelung ausgeht. Für ihn resultieren die alltäglichen Impressionen und jene der öffentlichen Kultur letztlich aus einer inneren Gesinnung, die der Fremde durch eine autoptische Anschauung entdecken kann. Damit sind die äußeren Maßgaben für den weiteren Bericht abgesteckt, die sich auch in der literarischen Grobstruktur wiederfinden. Arndt liefert einerseits zahlreiche Bemerkungen über die öffentlichen Plätze in der Metropole, andererseits rücken verstärkt national-stereotype Überlegungen hinzu. Letztere verbinden sich eng damit, einzelne soziale Gruppen zu betrachten, die zumeist öffentlich relevante Akteurinnen und Akteure sind. Beispielhaft wären Abschnitte wie „Von der Polizei“, „Vom kleinen Volke“, „Die Freudenmädchen“ oder „Die
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Jakobiner“ zu nennen. Das „Interesse am gegenwärtigen sozialen Leben“24 prägt den Reisebericht als beständiges inhaltliches Element und gerät stellenweise gar zum Strukturprinzip. Wie aus den genannten Überschriften schlagwortartig ersichtlich ist, richtet der Reisende durchaus „seine Aufmerksamkeit […] auf die Randzonen der Gesellschaft, von wo Entwicklungen ausgehen und wo sich Konflikte ankündigen“.25 Im Großen und Ganzen überwiegen indes topografische Darstellungen, innerhalb derer Arndt den Leserinnen und Lesern die bedeutendsten urbanen Orte sowie die dortigen Praktiken präsentiert. Er geht dabei sowohl auf die verschiedenen historischen Sehenswürdigkeiten, die im nächsten Kapitel näher verhandelten geselligen Vergnügungsorte als auch auf alltäglichere Einrichtungen wie „Bierhäuser“ und „Garküchen“ näher ein. Mit seiner erzählerischen Makrostruktur knüpft Arndt, angesichts der expliziten Nennung wenig überraschend, an das merciersche Tableau an, modifiziert jedoch die konkrete Ausgestaltung.26 Wo beim französischen Vorbild die einzelnen thematischen Abschnitte letztlich als knapp gehaltene Destillate einer langjährigen Pariserfahrung gehalten sind, dominiert bei Arndt eine umfangreiche erzählerische Note. Diese narrative Modifikation verbindet sich zudem mit dynamisierten Erzählmustern, ähnlich wie bei Rebmann oder London und Paris. Besonders verknüpft er dies mit narrativierten Spaziergängen, in denen er die urbanen Lebensformen am stärksten in den Blick nimmt und anstrebt, das Pariser Stadtleben umfassend zu betrachten. Die „Weite und Offenheit seines Wahrnehmungsspektrums“27 ist auf der grobgliedernden Ebene und gleichermaßen in den einzelnen literarisierten Ausführungen prägend. Umso notwendiger scheint es deshalb, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit einmal über das biografische Spektrum hinaus dem urbanen Gehalt zu widmen. Doch nicht allein die Wahrnehmungsgegenstände sind für die Konzeption des Parisberichts entscheidend, sondern auch, wie der Reisende seine Beobachtung konturiert. Die schwerpunktmäßig betrachteten Lebensformen und urbanen Geschehnisse knüpft Arndt mehrfach an eine verabsolutierte Autopsie: Ich will die Dinge treu und wahr geben, wie ich sie damals sah, und mein Urtheil nicht weniger, sollte es auch gar keinen Zusammenhang mit dem Bayonettesiege von St. Cloud und der Schicksalsschlacht von Marengo haben, die vor dreitausend Jahren irgend einen Olymp, oder Walhall vielleicht einige neue Götter gegeben hätte. Von allen jenen Dingen 24 Werner,
„Ernst Moritz Arndts Reise“, 80. „Ernst Moritz Arndts Reise“, 83. Ebenso Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers“, 253 f., der vermerkt, Arndt würde „den Niederungen des sozialen Lebens nicht ausweich[en]“ und so „seine Maxime des Lernens durch Erfahrung“ einlösen. 26 Dass Arndts „Struktur und stilistischer Duktus an […] Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris (1782–1788) erinnert“, bemerkt Lüsebrink, „Ein Nationalist aus französischer Inspiration“, 233 f. 27 Grosser, Reiseziel Frankreich, 273. 25 Werner,
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und Begebenheiten, wie sie jenen Sommer von 1799 waren, ist vielleicht kaum ein leichter Schatten, eine kleine Spur noch übrig; aber was thut es? Das Menschliche und das Menschenleben steht fest, und dieses in einigen Zügen, ergriffen und dargestellt zu haben in dem großen Roman, wie ihn das Schicksal schreibt, mag immer ein kleines Verdienst seyn und ein kleines Vergnügen gewähren; und mehr wollen auch diese Blätter nicht. (Arndt, Reisen III, 119)
Wie London und Paris ergänzt Arndts poetologische Skizze autoptische und authentische Argumentationsmuster. Das mit den eigenen Sinnen Wahrgenommene will er „treu und wahr“ schildern, sodass der Reisende hier die literarische und informative Qualität besonders stilisiert. Parallel dazu schränkt er jedoch ein: Arndt ist nach eigenem Anspruch „nicht um eine enzyklopädische Bestandsaufnahme objektiver Fakten bemüht“28 und die Reise „war weder Bestandteil eines überkommenen Bildungs- oder Erziehungsprogramms […] noch diente sie der Realisierung eines bestimmten Forschungsvorhabens“.29 Gleichzeitig deutet er an, dass er eine reine Deskription meiden möchte, und kündigt ferner an, beurteilen zu wollen. Das von Johannes Weber herausgearbeitete Prinzip eines „subjektiven Enzyklopädismus“30 beschreibt Arndts Vorgehen einigermaßen treffend. Die ausgewählten Gegenstände resultieren aus einer subjektiven Selektion, während die genaueren Betrachtungen autoptische Deskription und systematische Ordnungsversuche miteinander verbinden. Die poetische Positio nierung verbindet sich schließlich mit einer captatio benevolentiae, die klassische Topoi der Reiseliteratur (um 1800) aufruft.31 Eine wie auch immer geartete Belehrung des Lesepublikums und ein damit verbundenes „kleines Vergnügen“ stellt Arndt als wesentliche literarische Absichten vor und schließt strukturell unter anderem an London und Paris an. Im selben Kontext ist der Hinweis zu lesen, die eigene Reisebeschreibung wolle nur ein „kleines Verdienst“ sein. Arndt reiht sich mit solchen Formulierungen in die typischen zeitgenössischen reiseliterarischen Muster ein. Obwohl er sich in der Vorrede wiederholt von verschiedenen Vorgängern abgrenzt, bleibt sein Text gerade formal an zeitgenössische Muster gebunden. Sein „Reiseverhalten, Beobachtungs- und Berichterstattungsspektrum wie seine Darstellungsweise entsprachen […] dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack“.32 Explizit gilt dies auch für die verabsolutierte Autopsie, die nicht als arndtsches Unikum zu erachten ist, sondern als „altes Topos“33, mit dem der Schriftsteller 28 Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur, 326. Vgl. überdies Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers“, 246, der angibt, Arndt verweigere sich „dem papiergelehrten, statistischen und enzyklopädischen Tourismus“. 29 Werner, „Ernst Moritz Arndts Reise“, 78. 30 Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers“, 246. 31 Vgl. Fischer, Reiseziel England, 214. 32 Grosser, Reiseziel Frankreich, 273. 33 Werner, „Ernst Moritz Arndts Reise“, 79.
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eine spezifische reiseliterarische Tradition rezipiert. Entsprechend ist Vorsicht geboten: Wie die Skizze zur deutschen Reise- und Großstadtliteratur um 1800 gezeigt hat (Kap. 5), ist Autopsie nicht mit Realität zu verwechseln. Zwischen die eigene Erfahrung und den Reisebericht selbst stellt sich die Verschriftlichung, die mit literarisierenden und ästhetisierenden Vorgängen einhergeht. Für Arndt gilt wie für alle anderen untersuchten Quellen, dass seine Darstellungen unter dieser Prämisse zu lesen sind. Wenn in der Forschung bisweilen zu vernehmen ist, Arndt lasse „vor den Augen der Leser ein lebendiges und unverfälschtes Bild der damaligen Zeit erstehen“34, muss eine solche T hese fragwürdig bleiben. Der Reisende schildert wie Kotzebue, Rebmann oder Bertuchs Korrespondentinnen und Korrespondenten nicht das, sondern sein Paris.35 Indem Arndt Autopsie und Authentizität verbindet, kreiert er ein fragiles Argumentationsmuster, das letztlich nur für die eigene Wahrnehmung gilt. In der weiteren Vorrede verstärkt Arndt den Primat des „Öffentlichen“, den er zuvor anlegt. Für ihn stehen, hat es den Anschein, nicht die großen politischen Ereignisse und kriegerischen Auseinandersetzungen im Vordergrund, sondern die Lebenskultur, das „Menschliche“ in Paris. Dieser Sphäre konstatiert er eine Dauerhaftigkeit, die in einen spannungsreichen Kontrast mit dem temporär begrenzten Reiseaufenthalt tritt. Für Arndt steht fest: Selbst wenn die Beobachtungen aus dem Reisejahr 1799 inzwischen obsolet wären, würde dies seinen Schilderungen keinen Abbruch tun. Für ihn stellen die menschlichen Eigenschaften, die er in den Pariser Geschehnissen gespiegelt sieht, ein feststehendes Repertoire dar. In fast paradoxer Weise verdeutlicht Arndt aber auch, dass seine Schilderungen nicht zwingend allgemeingültig für die Pariser Verhältnisse sein könnten. Er betont eigens, dass seine Wahrnehmungen an einen historischen Kontext gebunden seien. Meine Pariser Geburt fiel in die Mitte des Maimonats des 1799sten Jahres, worüber Streit genug gewesen ist, ob es das letzte, oder vorletzte eines ablaufenden Jahrhunderts war. Die Sterne, die dieser Geburt leuchteten, waren für mich günstig genug; denn nach einer mehr als zweijährigen Stille sammelten sich Donnerwetter über der großen Stadt, die manche herrliche Phänomene zeigten, ohne daß sie durch ihre Schläge die Zuschauer verjagten oder zu zerschmettern drohten. Dieser Sommer, den ich bis in den August hinein hier verlebte, brachte manchen Stoff wieder zur Gährung, der vorher schon als Erdbeben und Orkan mit Städten und Menschengebeinen gespielt hatte; er zeigte manches in einer verjüngten Gestalt wieder, was ehedem die Herzen von Europa zwischen Furcht und Hoffnung hin und her bewegte, was Manche eine Weltverjüngung und Welterneuerung träumen ließ, und wovon jetzt Viele mit ihren Maulwurfsäugigen Gemüthern mei34 Ptak-Wiesauer,
„Zwischen Reform und Revolution“, 20. Vgl. Erharts, „Reisen durch das alte Europa“, 150, Hinweis, „mit dem Schreiben und dem Bericht freilich verändert sich auch die ursprüngliche Erfahrung, und die literarischen Aspekte des Unternehmens treten hervor“. 35
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nen, es werde bloß das Horazische „Es springt ein lächerliches Mäuschen heraus“ werden. (Arndt, Reisen III, 118 f.)
Arndt macht deutlich, dass die zeitgeschichtliche und politische Rahmung seinen Parisaufenthalt durchaus prägt. Er spielt auf die politischen Wirrnisse des Sommers 1799 an – zu nennen sind in erster Linie Napoleons Rückkehr aus Ägypten sowie der mehrfache Machtwechsel im Direktorium – und rückblickend auch auf den nahenden Zweiten Koalitionskrieg (1799–1802).36 Indem er auf die bewegte Zeit der Französischen Revolution verweist, die Arndt im Jahresverlauf 1799 wiederkehren sieht, stellt er die urbanen Wahrnehmungen in ein weiteres Licht. Die in- und ausländischen Implikationen verbinden sich eng mit der vorab geäußerten Absicht, vorrangig die öffentliche Kultur sezieren zu wollen. Arndts zeitgenössische Verortung verweist auf den für ihn entscheidenden engen Zusammenhang zwischen urbanen Lebensformen und politischen sowie historischen Hintergründen. Letztlich vollzieht Arndt damit eine zwiespältige autopoetologische Skizze. So wie er einerseits das „Öffentliche“ und die urbanen Lebensformen für seine Berichterstattung absolut setzt, verweist er im gleichen Atemzug auf die politische und zeitgeschichtliche Rahmung. Die von Johannes Weber aufgestellte T hese, Arndt sei eben kein „verspäteter Revolutionstourist“37, ist zumindest teilweise einzuschränken. Dennoch ordnet sich Arndt relativ zu anderen zeitgenössischen Zeugnissen ein. Während beispielsweise das Politische bei Rebmann multidimensional konstitutiv ist, bleibt es bei Arndt nur ein Aspekt unter vielen anderen – und der Leitkategorie des „Öffentlichen“ untergeordnet. Damit ist deutlicher konturiert, was der Reisende eigentlich unter dem „Öffentlichen“ versteht. Er nimmt sich, ohne die politische Rahmung vollends auszublenden, vor allem der Pariser Kultur an. Er steht in deutlichem Kontrast zu anderen zeitgenössischen Parisberichten, in denen der politisch-revolutionäre Gesichtspunkt durch die historischen Entwicklungen dominiert. Dort, wo er doch auf politische und historische Entwicklungen zu sprechen kommt – dies ist beispielsweise bei den geselligen Vergnügungsorten zu sehen –, sind diese Urteile unmittelbar an öffentliche Wahrnehmungen gebunden. Angesichts Arndts späterer literarischer Laufbahn als nationaler Agitator gegen die französische Fremdherrschaft handelt es sich um einen durchaus erstaunlichen Befund. Obwohl der Reisende die politischen Er36 Vgl. die kontextualisierende Bemerkung Erharts, „Reisen durch das alte Europa“, 150, „Arndt bewegte sich durch ein politisch unruhiges, von Flüchtlingsströmen und Soldaten durchwandertes Europa“. 37 Weber, „Wallfahrten nach Paris“, 184. Vgl. zudem Ptak-Wiesauer, „Zwischen Reform und Revolution“, 8, die Arndts stetige Information über die gegenwärtigen politischen Vorgänge herausgehoben hat. Im Anschluss an Voss, „Arndt und die Französische Revolution“, 348, ist damit in Arndts Reisebericht sehr wohl eine Auseinandersetzung mit dem politischen Paris erkennbar, allerdings „ohne […] eine größere Darstellung der Ereignisse zu schreiben“.
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eignisse phasenweise beleuchtet und sie als Rahmung des eigenen Aufenthalts stilisiert, bleiben politische Stellungnahmen peripher und nachgeordnet. Guckkasten, Tableau, Spiegel: Die Erzählmodi Das zentral gesetzte Öffentliche führt Arndt zu einem poetologischen Fazit, mit dem er seine nachfolgenden Darstellungen einleitet. Hier summiert er sein Vorhaben und präsentiert dem Lesepublikum eine spezifische Ausrichtung: Den großen Tummelplatz, worauf gespielt wird, setze ich als bekannt voraus, sonst müßte ich erst noch eine topographische Beschreibung desselben machen, die ohne einen Grundriß, oder Plan doch immer dem Auge kein ganzes Bild giebt. Es giebt Spiegel, die weil sie alles zugleich zeigen, das Beste nicht bemerken lassen. Man sehe meine einzelnen Splitter wie zerbrochene Stücke eines solchen an, die jeder noch mehr wird verkleinern, oder durch Zusammenfügen vergrößern können, je nachdem er das Schattenspiel mehr im Kleinen, oder Großen wird sehen wollen. Also immer heran an meinen Guckkasten! Ich habe wohl eher um solche wandelnde Buden mehr Weisheit und Menschenleben predigen gehört, als um die festesten Kanzeln und Katheder, welche das närrische Ding, das Erdenleben, gar zu gern zu was Ehrbarem und Ernstem machen mögten und welchen es nie in den Kopf will, daß wir mit Allem, wie die Kinder, spielen müssen, um sein Ernsthaftestes und Größtes zu ergreifen. (Arndt, Reisen III, 120 f.)
Mit dem Verzicht auf eine umfassende topografische Beschreibung von Paris fügt sich Arndt ebenfalls in die Topoi der Reiseliteratur um 1800 aus London und Paris ein. Mag er zwar das Fehlen einer entsprechenden optischen Darbietung vorschieben, so referiert er gleichfalls auf das wissensgesättigte Lesepublikum.38 Noch wichtiger indes ist die erneut zugespitzte Bruchstückhaftigkeit, die zum poetischen Grundprinzip gerät. Arndt versteht seine Darstellung als Mosaik eines großen Spiegels (Paris), dessen einzelne Scherben er den Leserinnen und Lesern präsentieren möchte.39 Mit diesem Ansatz erodiert der Reisende selbst als letzte Wahrnehmungsinstanz und es findet eine Verschiebung hin zu den Rezipientinnen und Rezipienten statt. Letztlich versteht sich Arndt technisch als spiegelnde Instanz der Pariser Öffentlichkeit, die ihre eigentliche Wirkung erst bei den Leserinnen und Lesern entfalten soll. Diese Metaphorik verbindet er eng mit medialen und theatralen Elementen, wie sie auch bei Rebmann und Bertuchs Korrespondentinnen und Korrespondenten zu finden sind. Indem Arndt seine Berichte in einem „Guckkasten“ verortet, erhebt er sich selbst zu einem Anbieter von Pariser Schaubildern und das Lesepublikum ist wahrhaftig als solches zu verstehen. Der „Guckkasten“ verbindet zugleich Beobachten, Beobachtetes und Repräsentation der eigenen Beobachtung. So wie Arndt die Guckkästen in Paris 38
Müsebeck argumentiert, zur Vorbereitung auf seine Reise habe Arndt vor allem Friedrich Schulz’ Ueber Paris und die Pariser konsultiert, vgl. Müsebeck, Ernst Moritz Arndt, 48 f. 39 Vgl. zur während der Revolutionszeit sehr populären Spiegelmetaphorik Kaschuba, „Revolution als Spiegel“.
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besonders interessieren, stellt auch sein eigenes Werk eine solche Apparatur dar, durch welche die Leserinnen und Leser an den Pariser Vorkommnissen partizipieren können. Mit dem „Guckkasten“ grenzt sich Arndt überdies von seinem literarischen Vorgänger Mercier ab, dessen Tableau die ideelle Kontrastfolie bildet. Er hebt mit der gewählten medialen Form auf eine verstärkt tiefenräumliche Wirkung ab, die dem ‚Tafelbild‘ des Tableau diametral gegenübersteht. Zugleich rekurriert er mit dem „Guckkasten“ auf eine unterhaltende Wirkung, während demgegenüber das Tableau, von seiner Begriffsgeschichte her gedacht, wissenschaftlichen Anspruch verfolgt. Indem Arndt „wandelnde Buden“ zum maßgeblichen Erzählkriterium erhebt, verweist er auf die Dynamik, die das Stadtleben prägt und zur narrativen Leitlinie gerinnt. Insgesamt konturiert der Reisende ein poetologisches und imaginatives Programm, das zwar ideell an Merciers Tableau anschließt, es jedoch in gewichtigen Punkten modifiziert. Dies vollzieht der Beobachter insbesondere, indem er zusehends die bewegliche und veränderliche Metropole abzubilden sucht. Dass Arndt das wiederum mit einer Spitze gegen die eigene wissenschaftliche Herkunft – er hatte in Greifswald und Jena unter anderem evangelische T heologie studiert – verbindet, verdeutlicht einmal mehr den subjektiven Primat. Für eine Studie zur urbanen Muße um 1800 ist Arndts Reisebericht nicht allein angesichts durchweg dargestellter Lebensformen bedeutend. Ein genauerer Blick zeigt vielmehr, dass für ihn der urbane Spaziergang ein wesentliches literarisches Erkundungsmittel darstellt. Sein „Guckkasten“ negiert statische und unveränderliche Bilder und präsentiert stattdessen eine dynamische Stadterkundung. Zwar bleibt wie für London und Paris festzuhalten, dass Arndt dieses Erzählmuster nicht durchgängig anwendet. Gleichzeitig ist zu bemerken, dass es insbesondere in jenen Abschnitten auftritt, in denen der Reisende die urbanen Lebensformen und deren raumzeitliche Struktur erfasst. Die Forschung hat partiell auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. T homas Grosser sowie Johannes Weber haben sogar von einer frühen Form der „Flanerie“ gesprochen.40 Eine umfassende Analyse der dazugehörigen Textstellen fehlt jedoch – ein Umstand, der mitunter durch die allgemein spärliche Forschungslage begründet ist. Um die Formen urbaner Muße, und gesondert einschlägiger Stadtspaziergänge, bei Arndt näher zu beschreiben, konzentriert sich die nachfolgende Darstellung auf zwei Aspekte. Ein erster Abschnitt widmet sich einem bereits konstatierten Schwerpunkt: den öffentlichen Versammlungsorten, die Spielarten geselliger Muße abbilden. Arndt berichtet in seinen Reisen umfangreich über Anlagen wie das Palais Royal oder den Tuileriengarten, in denen er das urbane Leben besonders verwirklicht sieht und denen er ein herausragendes Beobach 40 Vgl. Grosser, Reiseziel Frankreich, 279; Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers“, 263.
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tungspotenzial zuschreibt (Kap. 10. 2). Hervorstechend sind in diesen Passagen vor allem zwei T hemenkomplexe. Einerseits tritt Arndts spezifische Wahrnehmungsform zutage, innerhalb derer er vornehmlich als passiver Beobachter agiert. Er kann eine genießende Beobachtung nur vollziehen, insofern er selbst nicht an den urbanen Verhaltensmustern aktiv teilnehmen muss. Besonderes Augenmerk verdient sein Konzept eines „spazierenden Gemähldes“, mit dem er sich in die zeitgenössische Großstadtliteratur einschreibt und zugleich seine Darstellungsweise konturiert. Ebenso bedeutsam sind die nationalen Wahrnehmungs- und Erklärungsmuster, mit denen er in den entsprechenden Abschnitten agiert. Hier wird noch deutlicher, was in der eingangs zitierten Passage aufscheint. Arndt lobt die französische und Pariser Lebensweise, Geselligkeit und Urbanität geradezu überschwänglich und stellt sie zudem einer von ihm diagnostizierten deutschen Rückständigkeit gegenüber. Er formuliert einen ‚teutschen‘ Minderwertigkeitskomplex, der dazu führt, dass er die beobachteten Lebensformen und Verhaltensmuster mitunter stark idealisiert. Während für die urbanen Versammlungsorte vor allem Arndts nationaler Blick gewichtig ist, widmet sich der zweite Abschnitt genauer seinen urbanen Wahrnehmungsformen. So wie sich für seine geselligen Beobachtungen streckenweise ein zufällig-kontingentes Muster identifizieren lässt, tritt dieses umso mehr zutage, sobald er die Boulevards zentriert (Kap. 10. 3).41 Das dritte Unterkapitel betrachtet daher ausgiebig seinen ausführlichen Bericht über die früheren Bollwerke und eruiert Arndts prägende Wahrnehmungsformen. Dabei sticht ein Gesichtspunkt heraus, der auch für die zuvor betrachteten Versammlungsorte tragend ist. Der Reisende agiert am liebsten als passiver Beobachter, der von außen das Geschehen genießen kann. 10. 2. Gesellige Muße und nationale Bilder: Vergnügungsorte und Grünanlagen In Rebmanns Reiseberichten und den Beiträgen aus London und Paris hat sich abgezeichnet, dass für die Fragestellungen urbaner Muße öffentliche Versammlungsorte eine herausragende Stellung einnehmen. Auch in Arndts Reisen spielen die publiken Einrichtungen eine tragende Rolle. Er reiht sich thematisch bei den literarischen Vorgängerinnen und Vorgängern ein, denn für ihn sind es Orte wie das Palais Royal, der Tuileriengarten oder die Champs-Élysées, die er als vergnügliche Epizentren erachtet und in seiner Darstellung zentriert. Allein der Umstand, dass er die Plätze trotz eines wissensgesättigten Lesepublikums noch einmal gründlich in Augenschein nimmt, deutet an, für wie entscheidend 41 Sowohl auf die Bedeutung urbaner Versammlungsorte wie dem Palais Royal als auch auf die Zentralstellung der Boulevards hat Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 90, hingewiesen.
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er sie erachtet, um das gegenwärtige Pariser Sozialwesen abzubilden. So hält er anfangs seiner Ausführungen fest: Ich will nun der Reihe nach eine kleine Schilderung von den hauptsächlichsten Tummelplätzen der Menschen und des Vergnügens geben, weil ich glaube, daß man nur in dieser Schilderung […] das wandelnde Bild des lebendigern und wilderen Pariser Lebens, oder des eigentlichen Pariser Lebens zu einem stehenden sich in Gedanken wird machen können. (Arndt, Reisen IV, 63)
Wenn Arndt sich den „Tummelplätzen der Menschen und des Vergnügens“ widmet, geht es für ihn um mehr als eine Kartografie, die ein zeitgenössisch für Paris prägendes „vielfältige[s] Angebot an Vergnügungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten“42 abbildet. Vielmehr konstituiert dieses für ihn ein pars pro toto eines allgemeineren Pariser Wesens, dem er auf den Grund gehen möchte. Nicht umsonst spricht er vom „eigentlichen Pariser Leben[]“ und deutet an, dass seinen folgenden Schilderungen besondere Aufmerksamkeit zustehe. Arndts Ausführungen sind aber nicht lediglich für eine weitere Auseinandersetzung mit der Pariser Vergnügungskultur herausragend, sondern auch hinsichtlich der zentralen Beobachterfigur. Während der Reisende in anderen Textpassagen spärlich in den Vordergrund tritt, präsentieren seine Darstellungen der „hauptsächlichsten Tummelplätze“ eine verstärkt präsente Erzählinstanz. Viel eher als andernorts rückt Arndt selbst als urbaner Akteur ins Blickfeld und seine Rolle schwankt, den anderen Berichterstatterinnen und Berichterstattern eng vergleichbar, zwischen Teilnahme und Beobachtung. Hinzu kommt verstärkt der nationale Impetus. Insbesondere für den Tuileriengarten skizziert Arndt die französische und Pariser Geselligkeitskultur als pointiertes Vorbild für deutsche Beobachterinnen und Beobachter. Er drückt dies zuvorderst durch einen ‚teutschen‘ Minderwertigkeitskomplex aus, innerhalb dessen er die gesellschaftliche Progression den rückständigen deutschen Zuständen gegenüberstellt. Das führt so weit, dass Arndt in den öffentlichen Anlagen die revolutionären Ideale eingelöst sieht: An diesen Gärten haben die Pariser durch die Revolution außerordentlich gewonnen. Was sonst einige Große ausschließend besaßen, und wozu dem Publikum nur der Zugang offen stand, wenn es ihnen beliebte und bequem war, das alles ist nun gemein und allgemein geworden, und dem Vergnügen derer gewidmet, die solche Vergnügungen genießen und bezahlen können. […] Diese Oeffentlichkeit und Gemeinschaft hat auch eine andere Gemeinschaft zur Folge, die auf die Humanität außerordentlich vortheilhaft wirkt, sie führet zur Menschengemeinschaft und gegenseitigen Ausbildung und rottet alte elende Vorurtheile des Pinselgeistes und Ahnenstolzes aus […]; sie lehret, daß die Bildung das einzige Maaß ist, was das Zusammenleben und den Umgang der Menschen als Menschen bestimmt; da ist der Bauer nicht von seinem Könige, der unterste Schreiber nicht von seinem Direktor unterschieden, sobald sie gleich gebildet sind. […] O welche
42 Diezinger,
„Paris in deutschen Reisebeschreibungen“, 309.
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Freude gewährt es, z. B. in Tivoli, diese Gemeinschaft der Stände in dem bloßen Menschenverhältnisse zu sehen! (Arndt, Reisen IV, 157 f.)
Für den Reisenden sind Orte wie der Tuileriengarten urbane Versammlungsplätze, an denen er das pulsierende städtische Leben besonders eindrücklich beobachten kann. Arndt vermerkt flankierend, in ihnen entstehe bisweilen ein fast utopisch anmutendes, egalitäres Potenzial, das letztlich die revolutionären Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit widerspiegeln könne.43 Er hebt heraus, die Pariser Gärten böten die Möglichkeit, Standesgrenzen zu überwinden und die „Gemeinschaft der Stände in dem bloßen Menschenverhältnisse zu sehen“. Obwohl die genauen Analysen zeigen, dass dieses Bild letzten Endes brüchig bleibt und sehr wohl gesellschaftliche Distinktionen eine Rolle spielen, ragt es als ideelle Folie heraus. Arndt konzipiert seine Berichterstattung über die öffentlichen Anlagen genuin als nationale Wahrnehmung, die für den deutschen Beobachter eine besonders beglückende Erfahrung darstellen kann. Dass dies indes für den Reisenden nur in einem ganz spezifischen Modus, der distanzierten Nichtteilnahme, möglich ist, zeigen die nachfolgenden Analysen auf. Erneut: Das Palais Royal – Die Scherbe einer Scherbe Seine angekündigte Vergnügungsreise startet Arndt an jenem Ort, den Rebmann ebenfalls zum Ausgangspunkt erhebt: dem Palais Royal. Der Reisende ist sich bewusst, dass er keineswegs einen innovativen Plan hegt. Er verteidigt sein erzählerisches Vorhaben jedoch unter einer expliziten Prämisse: A Jove principium esto! singen die alten Dichter, also fange ich auch mit dem Mittelpunkt und dem Herzen dieses Lebens, dem Palais royal an, bei dem ich aber kürzer werde seyn können, weil manche seiner Merkwürdigkeiten schon an mehrern Stellen vorher erwähnt und beschrieben sind, und ich das Wiederholen nicht liebe. […] Was von diesen Dingen also nicht durchaus in das Gemählde gehört, werden wir nicht weiter einmischen. (Arndt, Reisen IV, 63)
Wie Rebmann in seinen Briefen erhebt Arndt das Palais Royal zum Mittelpunkt des Pariser Lebens, von dem aus eine Beschreibung desselben unvergleichlich möglich sei.44 Zugleich steht für ihn fest, dass er nicht das von anderen Gesagte wiederholen möchte, sondern eigene Darstellungsschwerpunkte vorsieht. Auch wenn sie zunächst unkonkret bleiben – lediglich den Hinweis des „lebendigern und wilderen Pariser Lebens“ wirft er ein –, deutet Arndt sein literaturhistorisches Bewusstsein an. Der Reisende bedient sich „einer Rhetorik, die das Einzig43 Zu
Arndt und seiner partiellen Faszination für die Französische Revolution siehe Alfred Opitz, Reiseschreiber. Variationen einer literarischen Figur der Moderne vom 18.–20. Jahrhundert (Grenzüberschreitungen 8), Trier 1997, 158. 44 Vgl. noch einmal Gibhardt, Vorgriffe auf das schöne Leben, 115.
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artige“ verspricht und einer „verbreiteten Konvention“ Genüge leistet.45 Er suggeriert, sehr wohl über die Bedürfnisse des intendierten Lesepublikums informiert zu sein und stellt, vielen seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen vergleichbar, in Aussicht, das Palais Royal besonders innovativ zu schildern. Umso verwunderlicher ist es, dass Arndt eine vergleichsweise umfängliche Historie des Palais anbietet, bevor er auf seine eigenen Erfahrungen zu sprechen kommt: Es ist sonderbar, daß man wie durch einen Instinkt immer dahin gezogen wird, wo der meiste Staub und das größte Gewimmel ist. Ich war in den ersten Tagen meines hiesigen Aufenthalts verschiedene Male ein wenig irre gegangen, wann ich meiner Wohnung schon ganz nahe zu seyn glaubte. Da gerieth ich gewöhnlich, vermuthlich weil ich unwillkührlich dem Strome der Menschen folgte, nach den Höfen des Louvre, dem Sieges platze und Palais Égalité. Wenn man über die Häuser wegschauen könnte, so würde man sehen, wie die Ebbe und Fluth hier ab- und zufließt; aber auch so ist allenthalben, von welcher Seite man auch kommen mag, das Gedränge erstaunlich und bewegt sich doch leicht, artig und französisch unter und durch einander, während man in teutschen Städten bei solchen Gelegenheiten fast immer schimpfen, oft auch sich stoßen und puffen sieht. (Arndt, Reisen IV, 69)
In nuce schildert Arndt die Pariser Massenverhältnisse und die daraus für den Beobachter resultierenden Konsequenzen. Er vermerkt, man werde in einer Metropole wie Paris mechanisch von den menschlichen Agglomerationen angezogen und sei der Bewegung letztlich ausgeliefert. Genuin stellt er seine Beschreibung unter ein erzählerisches Paradigma, das über die jeweilige Handlungsfreiheit definiert ist. Dem selbstbestimmten Suchen der eigenen Wohnung steht das fremdbestimmte Untertauchen in der urbanen Menge gegenüber.46 Im selben Moment zweifelt Arndt die Fremdbestimmung an, denn er kann nicht ausschließen, durch einen unbewussten eigenen Willen „unwillkührlich“ dem Menschenstrom gefolgt zu sein. In diesem Zusammenhang weist er ferner auf die entscheidende Beobachterposition hin. Er imaginiert, durch eine panoramatische Vogelperspektive über die Menschenmengen hinwegsehen zu können. Arndt vergleicht die Bewegungen der Pariserinnen und Pariser mit den Naturgewalten von Ebbe und Flut – eine Metapher, die das mechanisch-physikalische Bild ergänzt.47 Die Vorstellung erodiert indes unmittelbar durch die eigene Position, die sich durch die Teilnahme am Geschehen auszeichnet. Auch hier entwickelt Arndt jedoch eine Außenperspektive, obwohl er selbst involviert ist. Die Beobachtung Reiseziel England, 216. dieses Motiv in der Literaturgeschichte der Flanerie hebt u. a. Köhn, Straßenrausch, bes. 38–41, ab. 47 Auf dieses Bildmotiv bei Arndt hat T homas Kleinspehn, Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit (Kulturen und Ideen 485), Reinbek bei Hamburg 1989, 243, hingewiesen. 45 Fischer, 46 Auf
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der strömenden Menschenmassen veranlasst ihn unmittelbar dazu, ein Pariser Wesen zu diagnostizieren, das mit den Attributen „leicht, artig und französisch“ jene Epitheta bestätigt, die der Reisende in seinem Bericht immer wieder betont. Diese nationalen Stereotype arbeitet er umso stärker heraus, als dass er sie zusätzlich in einem Vergleich situiert. Auch in „teutschen Städten“ gäbe es solcherlei Versammlungsorte, die Verhältnisse würden sich aber grundverschieden darstellen. Für Arndt sind die Pariser Umgangs- und Lebensformen die Positivfolie zu einer als solchen empfundenen, deutschen Rückständigkeit. Während Arndt sich dem Palais Royal nähert, kommt er vor dem eigentlichen Gebäude auf einen Vorhof, den „berühmte[n] Durchgang Ratzivil“ (Arndt, Reisen IV, 70), zu sprechen. Dass der Limbus sogleich das Palais mikrokosmisch abbildet, beschreibt er eindringlich: Sicher wird kein Weg in Paris, ich mögte fast sagen in der ganzen Welt, täglich von mehrern Füßen betreten, als dieser; denn durch ihn geht man von fünf Uhr Morgens bis zwölf Uhr Nachts nie allein. […] Es ist gleichsam ein Palais royal in nuce. Hier sitzt ein hübsches Weib mit Galanteriewaaren, dort steht ein Salben- und Pomadenkrämer aus; hier dampfen die frischen Torten und Kuchen, dort duften die feinen Geister und Likörs; auf der einen Seite ist ein Buchladen, auf der andern ein Journalkrämer, der alle Blätter des Tages feil hat, und in eine Nische ein Paar Stühle eingeklemmt hat, […] unten sitzt in der einen Ecke eine Putzmacherin, in der andern hat ein Kupferstichhändler seine Karten und Kupfer aufgehängt […]. (Arndt, Reisen IV, 70 f.)
Der metonymisch das ganze Palais umfassende Durchgang ist für Arndt erneut durch die ungreifbaren Menschenmassen und eine durchgehende Belebung gekennzeichnet. Darüber hinaus betont er, inwiefern die Wahrnehmung herausgefordert sei, sobald man in die wirbelnde Welt eintrete. Das „Palais royal in nuce“ lässt sich nur durch eine kontingent-deiktische Wahrnehmung erfassen, die einzelnen Stichworten verhaftet bleibt. Auffällig ist insbesondere die räumliche Beschreibung. „Hier“ und „dort“ stellt Arndt einander ebenso gegenüber wie die „eine[]“ und „ander[e]“ Seite, und auch die vertikale Achse führt er über „unten“ mit ein. Die räumliche Struktur ist dem Beobachter zufolge nur multidimensional darstellbar. So wie Arndt in seiner Vorrede über das wirbelnde Paris und die Schwierigkeiten, es angemessen zu registrieren, spricht, bestehen die Probleme nunmehr auf einer viel kleineren Ebene – in einer Scherbe des zerbrochenen Spiegels. Selbst die großstädtische Mikroebene ist für den Beobachter eine besondere Wahrnehmungsherausforderung, der er mithilfe der aufgezeigten Erzählmuster nachkommen möchte. Er konzentriert sich vornehmlich auf einzelne Bestandteile des großen, schwer erfassbaren Spiegels und die dabei zustande kommenden Scherben zerstückelt er weiter. Das fragmentarische Prinzip ist daher auf mehreren Ebenen verortet und durch eine graduelle Intensität bestimmt. Wenn Arndt auf ein „Palais royal in nuce“ abhebt, handelt es sich letztlich um eine doppelte Komprimierung. So wie das Palais Royal bereits eine kon-
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zentrierte Pariser „Welt“ darstellt, übernimmt der „Durchgang Ratzivil“ diese Funktion auf nachgeordneter Ebene. Die folgende räumliche Erkundung setzt weitgehend die primär eingeführte deiktische Erzählform fort. Über mehrere Seiten hinweg beschreibt Arndt, sehr ähnlich wie es Rebmann gestaltet (Kap. 7. 3), die raumzeitlichen Abläufe im Palais Royal. Während diese den Darstellungen seines Vorgängers weitgehend gleichen, hebt Arndt umso stärker seine persönlich präferierte Wahrnehmungsposition heraus. Schließlich verdeutlicht er, wie er sich zunächst bei dem ganzen Spektakel und Treiben positionieren möchte. Er stilisiert sich gegen Ende eindeutig als externer Beobachter, der in einem Kaffeehausstuhl verweilt.48 Doch dabei bleibt es nicht. Nachdem Arndt im Kaffeehaus innegehalten und die Menschenmengen distanziert beobachtet hat, mischt er sich selbst unter die Masse und schildert die daraus resultierenden Erfahrungen: Von dem Leben und Getümmel draußen und dem Herumziehen und Laufen in und außer den Hallen hat man gar keine Vorstellung, und kann auch keine davon machen. Alles bereitet in und an den herrlichen Säulengängen gegen diese Zeit den größten Glanz und Schimmer […] und das gewaltig sprudelnde und glänzende Menschengewimmel, das Brausen und Sausen der Freude, die prächtige und widerschimmernde Erleuchtung machen das Ganze gleichsam zu einem Karneval, oder einer Maskerade. So schwimmt man, geblendet an Augen, betäubt an Ohren, gelockt, gezupft, gerufen von allen Seiten, in dem Wirbel mit um, und der Kälteste und Nüchternste hat sich hier wohl in Acht zu nehmen, daß er nicht als ein Besoffener heraustaumelt, oder fortgeleitet werde. (Arndt, Reisen IV, 79)
Der Kontrast zum kurz zuvor besuchten Kaffeehaus könnte kaum schärfer sein. Der Beobachter befindet sich plötzlich inmitten von „Leben und Getümmel“ und ist polysensorisch in das Geschehen involviert. Die Bewertung dessen bleibt zumindest ansatzweise ambivalent. Einerseits ist unverkennbar, dass für den Beobachter keinerlei Handlungsspielräume mehr bestehen. Er wird „gelockt, gezupft, gerufen von allen Seiten“, sodass selbst der „Kälteste und Nüchternste“ den zahlreichen Verlockungen und Angeboten schwerlich widerstehen könne. Er stilisiert die „Stadt als Strom, Flut“49 und hebt hervor, wie sehr der Beobachter ihren gewaltigen Manifestationen fast hilflos ausgeliefert ist. Er greift damit eine zeitgenössisch übliche Metaphorik auf, die beispielsweise Joachim Heinrich Campe in seinen Briefen aus Paris verwendet. Auch der frühere Revolutionsreisende tituliert die Pariser Massen als „wogenden Menschenstrom“ und „sanftwallende[] Wogen dieses menschlichen Oceans“.50 48 Vgl. Kleinspehn, Der flüchtige Blick, 242. Auf die Bedeutung von Kaffeehäusern für die Flanerieliteratur verweist Müller, „Der Flaneur“, 207. 49 Kleinspehn, Der flüchtige Blick, 243. 50 Joachim Heinrich Campe, Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, Braunschweig 1790, 1; 30. Auf die intertextuelle Beziehung Arndts zu Campe weist Lüsebrink, „Ein Nationalist aus französischer Inspiration“, 233 f., hin. Die Meeresmetaphorik lässt sich
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Andererseits spricht Arndt von einem „Karneval“ oder einer „Maskerade“ und schreibt dem bunten Treiben eine vergnügliche Komponente zu. Für den Reisenden, so hat bereits Heinz Brüggemann aufgezeigt, oszillieren die Beobachtung und leibliche Erfahrung urbaner Massen zwischen „Angst und Grauen“ sowie „einer tiefen und anhaltenden Faszination“.51 Die Grenzen zwischen selbstund fremdbestimmtem Handeln verschwimmen, wenn Heraustaumeln und Fortgeleitet-Werden nur noch ein schmaler Grat trennt. Arndt berichtet hier Ähnliches wie Rebmann, hebt jedoch stärker als sein literarischer Vorgänger auf die Beobachterperspektive ab. Im Zentrum steht die beobachtende Instanz, die dazwischen changiert, extern wahrzunehmen und selbst am turbulenten Geschehen teilzunehmen. Dabei deutet sich ein Umstand an, der für Arndt ebenso in den Rückzugsorten wie auf den Boulevards (Kap. 10. 3) sinnfällig ist. Der Reisende fühlt sich am wohlsten, wenn er als distanzierter und außenstehender Beobachter fungieren kann. Sobald er dagegen in den Wirbel der Pariser Geselligund Betriebsamkeit gerät, erodieren die genießenden Wahrnehmungsformen. Er übernimmt dann weniger die Rolle „des Souveräns in der Masse, eines, der durch voyeuristischen Abstand sie stets zu lesen vermag“52, sondern stellt einen sinnlich wie leiblich überforderten Großstadtbeobachter dar. Dass das unüberblickbare Treiben selbst in einer Metropole wie Paris ein Ende nehmen kann, vermerkt Arndt abschließend: Von nun an aber bis gegen Mitternacht wird es immer dünner und dünner. Man kann jetzt schon seine Arme ausbreiten und ohne Anstoß gehen, wenn man nicht absichtlich angestoßen wird; das Gewimmel verschwindet und das Geschrei und Getümmel verklingt; mehrere Kaffehäuser werden leer, mehrere Lichter gehen aus; einzelne Läden und Buden schließen sich: es wird dunkler und stiller. Paarweise und Gruppenweise strömt es aus allen T hüren und T horen; traurig und verzweifelt wandeln noch einige Weiber einzeln umher, und die lockenden Nymphen werden vor Aerger bleiche Furien; auf den Gassen wagen sie die letzten Proben des Kampfes; wer sich da nicht noch halten und fangen läßt, ist gerettet, und kann, wenn er den folgenden Tag in aller Frühe aus Paris reist, mit Lust des Palais royal gedenken, und diese Beschreibung lesen. (Arndt, Reisen IV, 81)
Arndt beschreibt das graduell schwächer werdende Treiben im Palais, das durch Stichworte wie „verschwinde[n]“ und „verkling[en]“ sein Ende findet. Indem er das mit dem vorherigen Wirbel kontrastiert, betont er erneut, welche Sinnesheauch in Londonberichten identifizieren, wie Wulf Wülfing, „Medien der Moderne. Londons Straßen in den Reiseberichten von Johanna Schopenhauer bis T heodor Fontane“, in: Anne Fuchs/T heo Harden (Hg.), Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne (Neue Bremer Beiträge 8), Heidelberg 1995, 470–492, 472, nachweist. 51 Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 89. Ähnlich Kleinspehn, Der flüchtige Blick, 241: „Er ist von den neuartigen Erfahrungen, die in Deutschland in der Zeit noch ihresgleichen suchen, fasziniert und abgestoßen zugleich“. 52 Hohmann, „Der Flaneur“, 138.
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rausforderung und -belastung das Palais bietet. Auch wenn teils eine fast melancholische Stimmung aufkommt, scheint das Ende des vergnüglichen Abends Arndt gewissermaßen zu entlasten. Explizit charakterisiert er den Rückzug aus dem Palais als Rettung, insbesondere von der vorab umfänglich geschilderten Prostitution. Die Überkonzentration des öffentlichen Lebens und Vergnügens kontrastiert er mit der zurückgezogenen Lektüre seines eigenen Reiseberichts am nächsten Morgen, wenn der imaginierte Reisende oder Leser sich „in aller Frühe“ aus der großen Stadt verabschiedet. Auf seiner Fahrt durch das Pariser Umland ist er geschützt vor dem wilden städtischen Treiben, dass er zuvor streckenweise sehr kritisch und skeptisch beäugt hatte. Er ist wieder jener distanzierte Beobachter, den er im urbanen Menschengedränge am liebsten verkörpert. Nationale Beobachtungen im Tuileriengarten Das Palais Royal ist nicht der einzige gesellige und vergnügliche Ort, den Arndt betrachtet. Ebenso von Interesse ist diesbezüglich der Tuileriengarten, dem er wie dem Palais Royal ein eigenes Kapitel widmet. Hinsichtlich der Beschreibungstechniken sind beide Abschnitte ähnlich konstruiert, insofern jeweils eine tageszeitliche Skizze die Darstellung prägt. Gleich anfangs stellt Arndt gegenüber dem Lesepublikum klar, um welche Aspekte es ihm besonders geht: Von hier [Palais Royal, R.W.] ist der Spaziergang nicht weit zu den T huilerien und ihrem schönen Garten, worauf es mir bei diesen Schilderungen am meisten ankömmt. Von den T huilerien ist hier meine Absicht nicht eine alte Beschreibung aufzutischen. Sie zeigen dem Fremden jetzt wenig Merkwürdiges, weil die meisten Kostbarkeiten und Kunstwerke im Laufe der Revolution zerstört, entwendet und anderswohin gebracht sind. […] Mir ist es hier um den Garten zu thun, von welchem ich weiter mit meinem spazierenden Gemählde fortschreiten werde. Dieser Garten hat beinahe die doppelte Größe des ganzen Palais royal, und läuft mehr lang, als breit, vom Schlosse an der Seine hin, und ist rund umher von herrlichen Terrassen eingefaßt, auf denen man lustwandeln und der lieblichen Aussichten genießen kann. (Arndt, Reisen IV, 81 f.)
Angesichts von Arndts Schwerpunkt, der auf dem öffentlichen Pariser Leben liegt, überrascht es wenig, dass er dem historischen Gebäude der Tuilerien randständige und dem dazugehörigen Garten umfängliche Aufmerksamkeit schenkt. Zwar deutet er implizit an, bei einer interessanteren Ausstattung könne das Schloss von Interesse sein – vorerst bleibt es jedoch bei einer Beschreibung des Gartens. Zwei Punkte betont der Beobachter. Zum einen hebt er auf die ästhetische Dimension ab, die ein „herrliche[s]“ landschaftsgärtnerisches Momentum aufruft und zugleich der Ausgangspunkt ist, angenehm mit kunstvollen Anblicken zu verweilen. Hinzu kommt ein erster Verweis auf die zentrale lokale Praktik: den Spaziergang, die Promenade. Dies korrespondiert mit der Beobachterfigur selbst. Arndt ruft das Stichwort eines „spazierenden Gemählde[s]“ auf, knüpft wiederholt begrifflich an das merciersche Tableau an und modifiziert
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dessen Poetik. Arndt legt es, hier ist er dem „fortlaufenden Gemälde“ Rebmanns und dem „Tableau mouvant“ in London und Paris sehr ähnlich, entschieden darauf an, die städtische Dynamik literarisch abzubilden. Mit seinem „spazierenden Gemählde“ hebt er sich ganz bewusst von vergleichsweise statischen Darstellungen wie dem Tableau ab und konturiert demgegenüber eine bewegte Erzählweise. Dies verbindet sich mit der strukturellen Form und verweist auf die bevorzugten Wahrnehmungsmuster. Die in der Vorrede eingeforderte Autopsie löst Arndt über Spaziergänge durch den öffentlichen Raum ein. Was im Palais Royal bereits ansatzweise prägend ist, gerät nunmehr zum beobachtenden und darstellerischen Grundprinzip. Eng verbindet Arndt die wahrnehmende, die wahrgenommene und die literarisierende Dimension. Im „spazierenden Gemählde“ sind letztlich alle drei präsent. Grundlegend beschreibt Arndt, wie er selbst durch die Gartenanlage spaziert und dabei Menschen beobachtet, die derselben Praktik nachgehen. Über dieses Verhältnis zwischen Beobachten und Beobachtetem hinaus tritt der Spaziergang drittens als narratives Prinzip auf und dient dazu, sich von anderen zeitgenössischen Darstellungsformen – zuvorderst dem mercierschen Tableau – strukturell abzugrenzen. In seinem Bericht über den Tuileriengarten formuliert der Reisende ein poetologisches Programm, das seine einleitend geäußerte Absicht, vor allem das öffentliche Leben skizzieren zu wollen, formal präzisiert. Weitergehend beschreibt Arndt umfänglich die gärtnerische Disposition, die einen typischen französischen Barockgarten mit seinen symmetrischen Formen darstellt. Unübersehbar hegt er eine Begeisterung für den Garten, die zuvorderst mit der ästhetischen Strukturierung und seiner Idyllik korreliert. So fällt schließlich sein Fazit, „die Lage des Gartens ist so anmuthig, so freundlich seine Anlagen, so lieblich seine Teiche, so hoch und schattig seine Riesenbäume, daß er für mich immer ein Lieblingsspazierort seyn würde“ (Arndt, Reisen IV, 82) – kurzum: ein idyllischer locus amoenus. Doch Arndt geht über eine reine Beschreibung des künstlich angelegten Geländes hinaus. Ihm ist es ein Bedürfnis, stärker über die Pariserinnen und Pariser zu berichten, die sich im Garten aufhalten. Von Beginn an ist auffällig, dass er sowohl auf gesellige Aspekte als auch auf die soziale Binnendifferenzierung abhebt: Zur Promenade und zum Durchgang bedient sich seiner freilich jedermann ohne Unterschied, aber sonst muß man doch Unterscheidungen machen. Die rechte Seite der Bäume gehört mehr den Reichen und Vornehmen, die linke den Armen und Geringen; so sondern sich die Stände gewöhnlich von selbst zufällig, aber nothwendig. Diese rechte Seite heißt daher auch die Seite der Sessel. An der andern Seite sitzt man mit allen Leuten gemeinschaftlich auf den steinernen Bänken, die da sind, oder muß stehen, wann viele Menschen da sind, bis ein Platz ledig wird. (Arndt, Reisen IV, 83 f.)
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Die räumliche Struktur des Tuileriengartens spiegelt die sozialen Verhältnisse. Während die Anwesenden den zentralen Spazierweg gemeinschaftlich verwenden, ist er daraufhin dichotom in zwei Abteilungen geschieden. Die symme trische Gartenanlage bildet den äußeren Rahmen und verstärkt den Kontrast für die Beobachterinstanz umso mehr. Auch Arndt hebt die Gegenüberstellung sprachlich durch seine Antithesen hervor und kontrastiert die „Reichen und Vornehmen“ mit den „Armen und Geringen“. Obwohl sich die „Stände“ vermeintlich zufällig scheiden, betont der Reisende doch, dass es sich um eine gesellschaftliche Notwendigkeit handle, die wie von selbst ablaufe. Die Kontrastierung geht bis in kleinere Details hinein, so ergibt sich bereits für die platzierten Sitzmöbel eine gravierende Unterscheidung. Wo die „Reichen und Vornehmen“ sich individuell auf schicken Sesseln niederlassen, bleiben den „Armen und Geringen“ nur Gemeinschaftsbänke, auf denen sie zu einer homogenen Masse verschwimmen. Arndt vermerkt ansatzweise, dass spezifische Zahlenverhältnisse vorliegen. Während auf der reichen Seite Sessel für jedermann bereitstehen, bedarf es andererseits eines Kampfes um den eigenen Sitzplatz. Nachdem Arndt das „Sesselrecht“ (Arndt, Reisen IV, 84) der rechten Seite genauer inspiziert hat, gibt er einen Ausblick auf seine weitere Beschreibung. Seinen eigenen Beschreibungsparadigmen aus den anderen Passagen folgend, vermerkt er, „ich muß jetzt meine Beschreibung nach den Stunden und Personen und Gegenständen zersplittern, um so aus den einzelnen Stücken ein Ganzes hervorgehen zu lassen“ (Arndt, Reisen IV, 84). Wie im Palais Royal elaboriert Arndt seine Beobachtungen über die tageszeitliche Struktur. Zugleich erweckt er, um seine Authentizität zu steigern, den Anschein, er selbst habe einen ganzen Tag an Ort und Stelle zugebracht und eine umfangreiche Analyse unternommen. Nur eine ganzheitliche – literarisch stilisierte und geraffte – Beschreibung stellt für Arndt eine Option dar und lässt schließlich Raum, das „Ganze“ zu verstehen. Strukturell ähnelt die Szenerie daher stark dem Bericht über das Palais Royal – und auch die Inhalte weisen Parallelen auf. So beschreibt Arndt, dass die Frühstunden im Garten „gar nichts“ (Arndt, Reisen IV, 84) zu bieten hätten. Mittags und nachmittags indes offenbare sich dem Beobachter das eigentliche Schauspiel: Von eilf bis drei Uhr Nachmittags, wo die Eßglocke die meisten wieder wegklingelt, beginnt an schönen Tagen der Zufluß, der nach den Umständen kürzer und länger dauert. Dann wird dieses Plätzchen mehr als das Palais royal, als die Bagatelle und Tivoli, der Tummelplatz der eigentlich vornehmen Welt, die meistens ungestört […] und anständig gemischt hier ihr Leben genießen kann. Wahrlich es giebt keine bequemere Zeit und keinen bequemern Platz, um das, was in Paris wirklich reitzend und liebenswürdig ist, wenigstens den feineren Ausschuß desselben, zu sehen. (Arndt, Reisen IV, 85)
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Der Tuileriengarten, so ist aus Arndts tageszeitlicher Analyse ersichtlich, bildet tagsüber das raumzeitliche Pendant zu Versammlungsorten wie dem Palais R oyal. Findet dort spätnachmittags und abends das bunte Treiben statt, scheint es mittags in die Tuilerien verlegt. Arndt skizziert ein topografisch verteiltes Vergnügen, das zweitens zeitlich dimensioniert ist. Gleichzeitig konturiert der Reisende, dass es sich bei den beobachteten Menschenmassen um gesellschaftlich klar eingeschränkte handelt. Lediglich die „eigentlich vornehme[] Welt“ nimmt Arndt in den Blick und widmet sich vorrangig der zuvor dichotom eingeführten rechten Seite des Gartens. In dem Kontext verdeutlicht der Reisende zudem, was für die Pariser Reichen und Schönen den besonderen Genuss konstituiere. Einerseits suggeriert das Stichwort „ungestört“ eine gewisse Abgeschiedenheit von der städtischen Betriebsamkeit und ordnet die Tuilerien den urbanen Rückzugsorten zu. Andererseits scheinen Genuss und Geselligkeit die wesentlichen Bedürfnisse zu sein, welche die Akteurinnen und Akteure in den Garten locken. Diese Aspekte bleiben nicht auf die Beobachteten beschränkt. An der Passage ist paradigmatisch das Zusammenspiel von Beobachterinstanz und Beobachtetem erkennbar. Arndt weist explizit darauf hin, nirgends und nie könne man die Höhepunkte der Pariser Lebenskultur und Sitten so ausführlich und einschlägig als Außenstehender betrachten. Die Parallelisierung von beobachtendem und beobachtetem Genuss bildet den narrativen Kern und bleibt für Arndt die wesentliche Eigenschaft der Tuilerien – zumindest jener Seite, auf der die sozialen Oberschichten agieren. So führt der Reisende noch genauer aus: Alles ist ungezwungen, frei und lebendig, aber nicht laut, grob, oder Aufsehen erregend; so herrlich kann lange Ordnung und Sitte die wilden Leidenschaften einer Menge zügeln. Die einen spazieren die schönen Gänge unter den Bäumen entlang, oft auch im Freien auf die T huilerien zu, die andern stehen und schwatzen und lächeln und machen sich so allmälig zum Sitzen bereit, sobald sie eine Gelegenheit offen sehen, wo sie gerne sitzen mögten, die dritten sitzen, doch so, daß in der Mitte und zu den Seiten eine Gasse für die Spazierenden bleibt, die diese Wege auch regelmäßig und mit der größten Artigkeit machen, ohne daß je ein Stoßen und Drängen entstände, wie es wohl mal bei einer solchen Versammlung möglich wäre; denn oft ist es so wimmelnd voll, daß die meisten bei’m Spazieren bleiben, oder sich auf die Stühle und Schultern von Bekannten lehnen müssen. In diesem Cirkel fühlt man es, welch ein zartes und wirklich liebenswürdiges Ding die feinere Geselligkeit ist. (Arndt, Reisen IV, 86 f.)
Besonders ist der Beobachter von der Ausgeglichenheit beeindruckt, mit der in den Tuilerien alles abläuft. So betont er, jede und jeder könne ihren oder seinen eigenen Wünschen nachkommen, dies gehe aber keinesfalls zu Lasten anderer. Im Garten scheinen äußere Zweckbestimmungen vollends aufgehoben und stattdessen dominiert eine ausgewiesene Liberalität, die bisweilen selbstzweckhaften Charakter gewinnt. Arndts Darstellungen stehen hier deutlich vergleichbaren in London und Paris (Kap. 9. 1) gegenüber, in denen eine gesellschaftliche Funktionalisierung dominiert. Die vermeintlichen Mußepraktiken haben sich dort
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als teils zweckorientierte, ostentative Zurschaustellung entpuppt. Auf solche Gesichtspunkte hebt Arndt keineswegs ab, sondern vermerkt stattdessen, wie „frei und lebendig“ alles zugehe. „Ordnung und Sitte“ sind für ihn die maßgeblichen Parameter, an denen sich der genießende Beobachter erfreuen kann und die trotz anwesender Menschenmassen niemals eine gravierende Störung erfahren. Klar festgelegt ist auch die zentrale Praktik, der man im Garten nachgeht: der Spaziergang. Hier spiegelt sich, was Arndt für die rechte Gartenseite ganzheitlich festhält. Obwohl es sich allem Anschein nach um eine umfangreiche spazierende Menschensammlung handelt, stört doch nie eine Spaziergängerin oder ein Spaziergänger die oder den nächsten und es geht alles in einer wohlgeordneten Struktur vonstatten. „Stoßen und Drängen“ sind eliminiert und stattdessen regiert die „feinere Geselligkeit“. Das genuine Spannungsverhältnis von Menschenmenge und freier Bewegung – das auch in den bertuchschen Korrespondentenberichten entscheidend ist (Kap. 9. 2) – löst sich bei Arndt über die Grundhaltung der Anwesenden auf. Die Pariser „liebenswürdige[n]“ Sitten, die er in seinem Reisebericht wiederholt lobend anführt, gleichen die offensichtliche Übervölkerung aus. Einmal mehr ist deutlich, dass die räumliche Gestaltung für das Beobachtete höchst bedeutend ist; und gleichermaßen, wie die Akteurinnen und Akteure die räumlichen Strukturen beleben. Bemerkenswert ist schließlich, dass Arndt aus seinen Beobachtungen ein didaktisches Potenzial ableitet. Er betont eigens, wie sehr ein außenstehender (deutscher) Beobachter von den wahrgenommenen Praktiken selbst profitieren könne.53 Dies verbindet Arndt mit einer weiteren Ebene, die sich als konstantes Erzählmuster herauskristallisiert: dem nationalen Vergleich. Wie für andere besuchte Orte konstatiert er für den Tuileriengarten: Wir Teutsche rühmen uns immer unsrer Ehrlichkeit und Geradheit; sie ist freilich das Erste im Leben, aber könnte etwas mehr Toleranz und Artigkeit im Umgange, die uns so sehr fehlen, nicht damit bestehen. An welchem Orte meines Vaterlandes wird man mir einen Haufen von Tausenden zeigen können, wo so jeder anständig gekleidete Mensch aus allen Ständen sich einfände, und nicht bald irgend eine Beleidigung und Mishelligkeit, und wenigstens ein Absondern und Winken und Zischeln vorfiele? Hier lacht, flüstert, spricht, winkt, umarmt, liebkost und begegnet man sich; man liest, man erhält und giebt Briefe, steht auf und kömmt wieder, und dies alles so fein, so still und unbemerkt, daß es keinen genirt und keinem auffällt. Einem Teutschen, der es so nicht gewohnt ist und dem es selten so gut wird, oft einer Gesellschaft zu genießen, worin der freie Ton neben dem seinen brüderlich besteht, wird hier oft um seine Brust als wüchsen ihm Adlersflügel, so leicht und entzückt fühlt er sich in diesem menschlichen Kreise, oft aber kann es ihm auch begegnen, daß er zufällig bei’m Sitzen eine Nachbarschaft erhält, die ihn in eine teutsche Verlegenheit setzt, weil er sich in ihrer Urbanität nicht heimisch genug fühlt, um es recht mit ihr aufnehmen zu können. (Arndt, Reisen IV, 87 f.) 53 Vgl. zu Intentionen deutscher Frankreichbilder um 1800 Fink, „Das Frankreichbild in der deutschen Literatur und Publizistik“.
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Die für Arndts Text typische Gegenüberstellung deutscher und französischer Stereotype spitzt sich erheblich zu. Besonders ist die Kritik an den eigenen heimischen Zuständen sinnfällig, die er vor allem auf der geselligen Ebene formuliert, die man in seiner Heimat vermissen müsse. Seine nationalen Imaginationen sind hier nicht mit der sein späteres Werk prägenden „Xenophobie“ versehen, verweisen aber auf die nationale „Orientierungsfunktion“, die „Zugehörigkeiten und Verhaltensregeln“54 präfiguriert. So vermerkt Arndt, man könne zwar quantitativ in Deutschland ähnliche Versammlungsorte finden. In ihrer positiven Qualität jedoch könnten sie keineswegs mit den französischen und Pariser Verhältnissen konkurrieren. Während man in Deutschland als Neuankömmling fürchten müsse, von den anderen Anwesenden gleich verspottet zu werden, sei für Frankreich eine ausgesprochene Liberalität prägend, die sich im gegenseitigen Umgang äußere. Das freundliche und gesellige Miteinander ist zudem den Aktivitäten parallelisiert, die den Ort prägen. Mit Verben wie lachen, flüstern, umarmen, liebkosen oder begegnen ruft Arndt durchweg Handlungen auf, die auf gemeinsame Erfahrungen zielen und somit aus den einzelnen Individuen eine oberflächlich homogene und sozial vereinigte Gruppe machen. Den Tuileriengarten beschreibt der Reisende vorrangig als Kommunikationsort, der einen funktionalen Austausch überschreitet und sich durch ein Laissez-faire auszeichnet.55 Insgesamt schließt Arndt an stereotype Frankreichbilder an, die bereits im 18. Jahrhundert Konjunktur erfahren und in denen „Esprit, Höflichkeit, Schicklichkeit, Vernünftigkeit, Klarheit“56 als wesentliche Zuschreibungen aufleuchten (Kap. 4). Demgegenüber konturiert er die Deutschen, in ebenso tradierten Bildern, als „einfach und naiv, aber auch grob und rauh“.57 Wie an kaum einer zweiten Stelle formuliert Arndt einen deutschen Minderwertigkeitskomplex, innerhalb dessen die französische urbane Lebenskultur zum absoluten Vorbild gerät. Denkt man an Arndts späteres Frankreichbild, so wirken die Reisen letztlich als spiegelbildliches Komplement zu seinen nationalen Agitationen.58 Dort verändert er nicht die vor allem Frankreich zugeschriebenen Attribute, sondern nimmt lediglich eine Umwertung derselben vor. Arndts literarisches Gesamtwerk ist ein schlagendes Beispiel dafür, „daß stereotype Urteile keine Konstanten 54 Aschmann, 55 Zum
„Arndt und die Ehre“, 357; 365. Tuileriengarten als gesellschaftlichem Kommunikationsort vgl. Girouard, Die
Stadt, 186. 56 Gonthier-Louis Fink, „Baron de T hunder-ten-tronckh und Riccaut de la Marlinière. Nationale Vorurteile in der deutschen und französischen Aufklärung“, in: Lothar Jordan/ Bernd Kortländer/Fritz Nies (Hg.), Interferenzen Deutschland und Frankreich. Literatur, Wissenschaft, Sprache (Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts Düsseldorf), Düsseldorf 1983, 24–51, 27. 57 Fink, „Baron de T hunder-ten-tronckh und Riccaut de la Marlinière“, 34. 58 Vgl. zur Kontinuität von Arndts nationalen Bildern über sein literarisches Werk hinweg Aschmann, „Arndt und die Ehre“.
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sind, sondern im historischen Prozess häufig modifizierte, hin- und hergeschobene, bisweilen in ihr Gegenteil verkehrte Variablen“.59 Was Arndt in seinen Reisen als besonders lobens- und bewundernswerte französische Verhaltensmuster herausstellt, dient ihm in seinen nachfolgenden literarischen Werken zur gegenteiligen Position.60 Sein Reisebericht deutet diese Konstellation bereits strukturell-argumentativ an. Es ist höchst auffällig, wie sehr Arndt deutsche und französische Attribute einander gegenüberstellt, um sie vergleichend jeweils noch stärker zu konturieren. Damit geht einher, dass der Reisende ein didaktisches Potenzial formuliert. Gerade der deutsche Beobachter, der aufgrund der heimischen Rückständigkeit mit solchen Verhaltensformen unvertraut sei, könne von der Wahrnehmung besonders profitieren. In Paris, so Arndts Fazit, könne er erlernen, was ihm in der eigenen Heimat verwehrt bleibt – zumindest, wenn er in der Rolle des distanzierten Berichterstatters verharre.61 Beide Aspekte – deutsche Rückständigkeit sowie französische Sittsamkeit und Liberalität – verbinden sich für Arndt zu einem Gesamtbild, das auf den unerprobten deutschen Beobachter sowohl in einer beglückenden als auch einer Defiziterfahrung münden kann. Während er herausstellt, die Beobachtung könne einen solchen Genuss verursachen, dass ihm gleichsam „Adlersflügel“ wüchsen, ist die Konstellation gleichzeitig fragil. Sobald die Distanz zwischen Beobachter und Beobachtetem erodiert und sich eine Pariserin oder ein Pariser zum Deutschen gesellt, entsteht eine scheinbar unüberbrückbare Differenz. Gleich doppelt weist Arndts Beschreibung hier nach, inwiefern „im Durchgang durch die Fremde […] das Vertraute verfremdet werden“62 kann. Zunächst wirft er aus der Pariser Perspektive einen erneuerten Blick auf die heimischen Zustände, bevor diese sich wieder in das eigene Verhalten einschreiben. Rasch rückt dann die „teutsche Verlegenheit“ hinzu, die dank eigener heimatlicher Mangel erfahrungen nicht an die französischen Verhältnisse gewöhnt ist. Die urbane Umgangsform ist ihm aufgrund der deutschen Umstände unbekannt und die Beobachterinstanz kann nicht mehr gleichberechtigt interagieren. Die genussvolle Erfahrung liegt für den Beobachter, wie im Palais Royal, explizit auf einer distanzierten Ebene.
59 Beller,
„Typologia reciproca“, 118. Vgl. Lüsebrink, „Ein Nationalist aus französischer Inspiration“, 240 f. 61 Ähnliches konstatiert Arndt in seinem Reisebericht für die Pariser Restaurants und Gaststätten, vgl. Waßmer, „Deutsche Gourmets in Paris“. 62 Peter J. Brenner, „Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts“, in: Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (Suhrkamp Taschenbuch 2097), Frankfurt am Main 1989, 14–49, 18. 60
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10. 3. Das Zentrum der „Welt“: Ein Tag auf den Boulevards Zeugen die Ausführungen zu den geselligen Versammlungsorten davon, inwieweit Arndt an der öffentlichen Kultur interessiert ist, gipfelt die Betrachtung derselben in einem anderen Abschnitt. Arndts Schilderungen zu den Pariser Boulevards – den ausgangs des 17. Jahrhunderts geschliffenen Befestigungsanlagen – treten als Zentrum seiner Berichterstattung hervor. In keiner anderen Passage kommt es zu einer solchen Verdichtung von urbanen Eindrücken und nirgendwo sonst findet sich eine vergleichbar vielfältige Wahrnehmung. Folgt man Arndts eigenem Bild und versteht Paris als eine „Welt“, bilden die Boulevards deren Mittelpunkt. Nicht umsonst steht das dazugehörige Kapitel in der Gliederung inmitten der „hauptsächlichsten Tummelplätze[] der Menschen und des Vergnügens“. Und mehr noch: Selten tritt Arndt selbst so sehr als beobachtende Instanz in den erzählerischen Vordergrund und vermittelt, was er in der jeweiligen Beobachtungssituation empfindet. Stärker als in den bisher herangezogenen Abschnitten kommt auch der Spaziergang als narratives Element hinzu.63 Denn in seinem recht ausführlichen Bericht über einen typischen Tagesverlauf auf den Boulevards macht Arndt einen literarisch inszenierten Rundgang durch die verschiedenen dort anzutreffenden Einrichtungen. Grundlegende Beobachtungs- und Beschreibungsmuster Dass die Boulevards für Arndt das urbane Zentrum darstellen, lässt sich eingangs des entsprechenden Kapitels erkennen. Nachdem er einen knappen historisch-topografischen Abriss präsentiert hat, kommt er auf die wesentlichen Merkmale zu sprechen. Von Bedeutung ist insbesondere, wie er legitimiert, die Boulevards zum erzählerischen Kern zu erheben: Diese Boulevards sind nun in der Mitte der diesseitigen Stadt. […] Zwei Drittheile derselben sind in der Nähe aller ersten Plätze der Freude und des Vergnügens; ihre stattlichen Häuser, Bäder, Kaffehäuser, Traiteurs, T heater, ihre schattigen Promenaden zur Seite, ihr herrlicher Weg der Mitte, ihre Spiele, Buden, Läden, Gaukelbühnen, ihr Menschengewimmel und Gedränge machen sie mit zu dem Interessantesten, was man in Paris sehen kann. (Arndt, Reisen IV, 123 f.)
Einerseits formuliert Arndt ein stadttopografisches Argument. Die alten Festungsmauern lägen größtenteils nahe jener Orte, an denen „Freude und […] Vergnügen[]“ regieren. Ruft man in Erinnerung, welche Bedeutung diese für Arndts Großstadtbilder und ihre Lebensformen haben, tritt deutlich zutage, dass die Nähe über den lokalen Aspekt hinausgeht und vielmehr auch die dort anzutreffenden Praktiken betrifft. Dies bestätigt sich unmittelbar durch eine Auflis63 Auf die Bedeutung literarischer Spaziergänge bei Arndt verweist Weber, „Aus der Jugendreise eines Franzosenfressers“, 247 f.
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tung der für die Boulevards topischen Einrichtungen, die sowohl auf Genuss und Vergnügung als auch auf die markante „Promenade[]“ abzielen. In diesem Zusammenhang verbinden sich die Bebauung, die Gebäudenutzung und die Menschenmenge als wesentliche erzählerische Grundpfeiler. Arndt stellt heraus, dass der beobachtende Genuss erst zustande komme, wenn die einzelnen Elemente interagieren würden. Explizit ist das genannte „Menschengewimmel und Gedränge“ von Bedeutung, das in Arndts Ausführungen eine durchaus ambivalente Rolle einnimmt. Wie sich bei den verschiedenen Pariser Vergnügungsorten gezeigt hat, bilden die Menschenmassen für ihn sowohl Wahrnehmungspoten ziale als auch leibhaftige Risiken.64 Was sich besonders rund um das Palais Royal als konstitutiv erwiesen hat, aktualisiert Arndt hier. Für den Moment jedoch stellt die Menschenmenge kein Hindernis dar, genießend zu beobachten. Dies hängt mit der Beobachterposition zusammen, die Arndt weiterführend charakterisiert. Sie geht hervor aus einer weiteren allgemeinen Beschreibung der Boulevards, in der die Beobachterfigur stärker als zuvor heraussticht: Man kann die Boulevards als eine stehende Messe von Paris ansehen, wo zugleich alle Spieler und Gaukler und Betrüger, und alle die mit liebenswürdigem und unliebenswürdigem Nichts ausstehen und Geld verdienen, ausgegossen sind. […] Es ist durchaus unmöglich, ein getreu lebendiges Bild von dieser Boulevardsmesse zu geben; da ist so vieles Feine, was auch in der besten Beschreibung verloren gehen muß; da ist so vieles, was zusammen und neben einander hingemahlt werden sollte, und so hinter einander dargestellt, leblos und todt wird, da sind endlich so viele Aufzüge der Bühne und Verwandlungen nach den verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, daß man unmöglich alles erhaschen und darstellen kann, was darstellbar ist, und also dargestellt werden sollte. Ich will indessen thun, was ich kann, um wenigstens eine schwache Darstellung von diesem bleibenden und doch wandelbaren Leben zu geben, wie es meinen Sommer und die Tage meines Hierseyns in seinem größten Glanze und an den weidlichsten und frohsten Tagen war. (Arndt, Reisen IV, 124 f.)
Indem Arndt die Boulevards als eine „Messe“ begreift, die allerhand Schauspiele und Szenen darbietet, formuliert er seine eigene Rolle als distanzierter Zuseher.65 Ebenso wie in den Korrespondentenberichten aus London und Paris ist damit das Verhältnis von teilnehmender und distanzierter Beobachtung aufgerufen.66 Arndt verortet sich auf der Achse zunächst eindeutig am distanziert-beobachtenden Pol. Er sieht sich selbst als jene Instanz, die durch Beobachtung ein Abbild erzeugen will. Markant ist in diesem Zusammenhang die theatrale Motivik. Arndt hebt auf „viele Aufzüge der Bühne und Verwandlungen nach den Vgl. noch einmal Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 89. Vgl. Brüggemann, Aber schickt keinen Poeten nach London, 91. 66 Dies ist insofern von weiterführendem Interesse, als dass Erhart, „Reisen durch das alte Europa“, 157, bezüglich Arndts politischer Positionierung Vergleichbares herausarbeiten konnte. Auch dort changiere der Reisende zwischen „fasziniert beteiligte[m] und […] kritisch distanzierte[m] Zeitgenosse[n]“. 64 65
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verschiedenen Tages- und Jahreszeiten“ ab, sodass die Boulevards wie eine urbane Schaubühne wirken.67 Indem er gleichzeitig auf das wandelbare Geschehen rekurriert, aktualisiert er seine Großstadtpoetik und rechnet sie eindeutig dynamisierten Erzählformen zu. Diese Wahrnehmungsform bleibt schließlich an das Individuum und dessen autoptische Beobachtung gebunden. Der Reisende sieht sich außerstande, eine enzyklopädische und allumfassende Darstellung der Boulevards zu liefern. Er möchte auch kein summarisches Abbild wie Mercier in seinem Tableau offerieren. Er kündigt vielmehr an, der eigenen Autopsie zu folgen und daher lediglich einen zeitlich und räumlich limitierten Ausschnitt anbieten zu können. Dies verbindet er ausdrücklich mit einer temporal wie räumlich variablen Beobachtungsvielfalt. Arndt rekurriert insgesamt auf ein Wahrnehmungsmuster, das zwischen bestimmten und unbestimmten Elementen oszilliert. So wie einerseits klar festgelegt ist, welchen Abschnitt der Boulevards er zu welcher Zeit beobachtet, bleibt andererseits offen, was er dabei genau wahrnehmen kann. Daneben thematisiert er die Möglichkeiten und Grenzen der literarischen Verarbeitung – ein Umstand, der sich aufs Engste mit der weiteren lokalen Charakterisierung verbindet. Es sei für den Schriftsteller durch die lineare Sprache unmöglich, den Wesenskern, das heißt die simultanen Geschehnisse, der Boulevards wiederzugeben. Die Worte des Beobachters seien beschränkt auf eine Anordnung des Nacheinanders, die dem zeitlich und räumlich nebeneinander Wahrgenommenen niemals entsprechen könnte. Arndt betont folglich von Beginn an, wie stark sein Boulevardsbericht stilisierenden Mechanismen unterliegt – ein Argument, das er nachfolgend mehrfach anbringt. Bemerkenswert ist zudem, wie der Reisende unterschiedliche Zeitebenen thematisiert und miteinander verknüpft. Wo der autoptisch beobachtete Augenblick argumentativ dominiert, weist er gleichzeitig darauf hin, je nach Tages- oder Jahreszeit würden sich disparate Impressionen ergeben. Die Wahrnehmungsherausforderung Metropole findet hier ihre Zuspitzung. Selbst wenn man das Argument der ‚Unsagbarkeit‘ teilweise innerhalb gattungstopischer Entschuldigungsformeln verorten muss68, sind Arndts Gegenprogramm und eigene Darstellungskonzeption frappierend. Er formuliert, seine Berichte könnten nie die ‚totale‘ französische Hauptstadt zeigen, sondern stets nur die subjektive Wahrnehmung. Eine entscheidende Einschränkung nimmt der Reisende schließlich vor. Dem Lesepublikum möchte er keinen beliebigen Eindruck von den alten Bollwerken verschaffen, sondern ausdrücklich einen jener Tage, an denen alles „in seinem größten Glanze“ vor die beobachtenden Augen tritt. Bei aller autop-
67 Vgl. Hartung, „Die Utopie des Boulevards“, 21. Er spricht für die Boulevards gar von einem „theatrum mundi“. 68 Vgl. Fischer, Reiseziel England, 214.
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tischen Grundlage scheint der Beobachter also doch an einer gewissen Idealisierung interessiert. Vor diesem Hintergrund sind seine weiteren Ausführungen folglich mit einem topischen Charakter versehen. Wenn Arndt einen paradigmatischen Tag auf den Boulevards schildert, ist das Dargestellte nicht als tatsächlich und einmalig Geschehenes aufzufassen, sondern als Zusammenschau seines ganzen Parisaufenthalts. Es lässt sich beobachten, dass statische und dynamische Erzählmuster in einem komplexeren Zusammenhang stehen als zunächst angenommen. In seiner Darstellung widmet sich der Reisende zwar einem, wie er selbst es nennt, „spazierenden Gemählde“, gleichzeitig unterliegt dies in seiner übergeordneten Anlage zusammenfassenden Mechanismen. Der von Arndt erweckte Eindruck, er schildere einen ganztägigen Spaziergang über die Boulevards, steht unter stilisierenden und ästhetisierenden Vorzeichen. Er verortet seine Ausführungen in einem „breite[n] Spielraum zwischen Authentizität und Fiktionalität“69, indem er seine Boulevardsbeschreibung zwischen eigenen Erfahrungen und idealisierten Vorstellungen oszillieren lässt. Rundgang über die Boulevards Dies verdeutlicht bereits der Auftakt, in dem Arndt seinen morgendlichen Aufenthalt näher charakterisiert: Es schlägt also zehn Uhr. Ich habe im Palais royal mein Frühstück eingenommen, und mancherlei Neuigkeiten, Ankündigungen und Anpreisungen drinnen und draußen an den Säulen gelesen. Von hier schlendre ich durch die Weiber des Krautmarkts, durch die Straße Traversiere zu den T huilerien, wandre unter den noch stillen Bäumen des Gartens hin, gehe durch die lärmende Budengasse des Revolutionsplatzes, und durch die Hecken der haltenden Fiaker, und komme so an den Eingang der Boulevards. (Arndt, Reisen IV, 125)
Prägend ist zum einen die Rolle der Zeit. Während Arndt zunächst einen klaren temporalen Marker anbietet – sein Stadtspaziergang beginnt um Punkt zehn Uhr –, erodiert ihre Dominanz danach durch entschleunigte Gehpraktiken wie Schlendern und Wandern. Stattdessen spielt nunmehr die räumliche Ebene die entscheidende Rolle, auf der die Schauplätze sich andauernd abwechseln und erneuern. Prägend ist ein implizites Verhältnis von Bewegung und Beobachtung, bei dem die zeitliche Achse zurücktritt. Arndt durchquert nicht einfach den Raum mit einem klaren lokalen Ziel, sondern er beobachtet zugleich das durchschrittene Areal näher. Zuerst schlendert er über einen Krautmarkt, dann durch eine Gartenanlage und schließlich durch den Lärm der Budengasse. Zwar 69 Peter J. Brenner, „Einleitung“, in: Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur (Suhrkamp Taschenbuch 2097), Frankfurt am Main 1989, 7–13, 9.
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sticht die kontingente Beobachtung nicht in dem Maße hervor wie später auf den Boulevards selbst. Doch das für das ganze Kapitel bedeutende Verhältnis von Spaziergang und Wahrnehmung deutet sich in nuce an. Bereits der Weg zu den Boulevards ist von jener Bewegungs- und Wahrnehmungsform geprägt, die später die Szenerie dominiert. Denn nachdem Arndt den Eingang der Prachtstraße erreicht hat, ist die Erzählung vor allem durch kontingente Beobachtungen gestaltet, die der Reisende von Zeit zu Zeit durch weiterführende Bemerkungen ergänzt. Vergleichbar mit den Korrespondentenberichten aus London und Paris sind Impression und Information verbunden, wobei Arndt letztere noch stärker auf urbane Lebensformen bezieht. Prägend für Arndts literarische Verarbeitung ist ein distanzierter Beobachter, der dem Lesepublikum vermitteln möchte, inwiefern die Eindrücke durch ein ausgewiesenes Nebeneinander geprägt sind. Dabei kommen sowohl zeitliche als auch räumliche Deiktika zum Einsatz. So beispielsweise gleich einleitend, wenn er erste Eindrücke verarbeitet: Rechter Hand lassen wir ein Paar öffentliche Gärten liegen, die nun noch stumm sind, und nie zu den glänzendsten gehören. Dann duften uns die frischen Torten und Kuchen der Pastetenbecker entgegen, die hier zahlreich sind, und auf die hungrigen ankommenden Gäste gerechnet haben und sich nie verrechnen. Nun kommen schon zu beiden Seiten kleinere Kaffehäuser, und die kleineren Buchhändler, Landkarten- und Bilderhändler […]. Hier stehen auch alte Frauen zwischen ihnen aus, bunt und zierlich angethan […]. Hier, wo noch am wenigsten gedrängt und gelaufen und gestoßen wird, stellen sich auch die Elenden und Gebrechlichen am dichtesten unter die Sicherheit eines Baumes hin […]. (Arndt, Reisen IV, 127 f.)
Stilbildend für Arndts Ausführungen ist das ständige Nebeneinander von räumlichen und zeitlichen Elementen. Während einerseits Temporaladverbien wie „dann“ und „nun“ auf den zeitlichen Ablauf verweisen, markieren andere D eiktika wie „rechter Hand“ oder „hier“ die räumliche Dimension. Gemeinsam sind sie jedoch lediglich als raumzeitliches Konglomerat wirklich erfassbar. Der Spaziergang über die Boulevards entspricht einem andauernden räumlichen und zeitlichen Voranschreiten. Konkret zielt Arndt aber auf eine andere Komponente der raumzeitlichen Fortbewegung ab, die von noch größerer Bedeutung ist: die kontinuierlich variierenden Eindrücke, die er mit sachkundigen Informationen unterfüttert. Entscheidend ist für den Beobachter, dass er sich zusehends über die Boulevards bewegt und dass durch die Fortbewegung polysensorische Impressionen ins Blickfeld geraten. Obschon es sich nach Arndts Auskunft noch um einen vergleichsweise ruhigen Abschnitt der Straße handelt, deutet sich die enorme Eindrucksfülle an und scheint als Wahrnehmungsherausforderung auf. Keineswegs verschweigt Arndt dabei, dass der schweifende Blick des Spaziergängers auf die sozialen Abgründe fallen kann. „Elende[] und Gebrechliche[]“ sind genauso präsent wie das kommerzielle Publikum der Verkäuferinnen und Verkäufer. Das konstituiert beispielsweise einen Unterschied zum Tuileriengar-
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ten, in dem zwar ebenfalls vergleichbare Menschenmassen anzutreffen sind, diese allerdings klar definierten und abgegrenzten gesellschaftlichen Schichten entstammen. Obwohl sich die Differenzen größtenteils über die jeweiligen sozialen Reglements erklären lassen, schärfen sie den Blick für das grundsätzliche Verhältnis. Wenn Arndt in seinen Ausführungen wiederholt auf die „Tummelplätze“ der Pariser Stadtbevölkerung verweist, so impliziert dies stets die Frage, wer sich dort überhaupt tummelt – besser: tummeln darf. Seine literarisierten Boulevards geben dafür ein paradigmatisches Beispiel, insofern hier eine Binnendifferenzierung stattfindet. Während er für den Bezirk der „Volksbäder“ (Arndt, Reisen IV, 129) festhält: „In diesem Bezirke erhöht und verfeinert sich alles, was in denselben hinein geräth“ (Arndt, Reisen IV, 134), regieren völlig unterschiedliche Verhältnisse an anderen Stellen. So beispielhaft in der „Straße Montmartre“, dort „bleibt das Leben noch in demselben Geiste, doch steigt das Aueßere der Wohnungen und die Eleganz der Dinge und Menschen einige Stuffen hinab“ (Arndt, Reisen IV, 135). Ausschnitthaft lässt die Gegenüberstellung erahnen, inwiefern die Boulevards für Arndt bedeutend sind. Hebt er eingangs heraus, sich dem öffentlichen Leben ausführlichst widmen zu wollen, so verheißen die geschliffenen Festungsmauern dessen Erfüllung, gebündelt an nur einem einzigen Ort. Bemerkenswert sind die räumlichen Wechsel indes neben ganz verschiedenen Lebensformen ebenso hinsichtlich des Beobachters selbst und seiner Rolle im urbanen Schauspiel. Bis dato dominiert der distanzierte Blick des informierten Reisenden und es ist ein eindeutiger Abstand zwischen der Beobachterinstanz und dem Wahrgenommenen prägend. In der geschilderten Rue Montmartre jedoch verkehren sich die Verhältnisse grundlegend und verweisen darauf, wie brüchig die Wahrnehmungsform ist: Es ist ein Treiben, Laufen, Schreien, Rücken, Stoßen und Fluchen, ein Zupfen, Rufen, Anrufen, Locken und Vermahnen, daß man kaum seines Bleibens weiß, wenn man auch nichts zu thun hat, als seine Person und seine Beine und Arme in Acht zu nehmen; denn hier ist alles zusammengetrieben und ausgeschüttet, was man sonst nur an besonderen Stellen findet. […] Hier betäubt und erschreckt mich das Zusammengerassel von zwei Wagen, mit dem Springen der Pferde und dem Fluchen der Fuhrleute begleitet, ich springe seitwärts, und falle in die unbarmherzige Musik eine Dudelsackdrehers, oder eines blinden Pfeifers, der noch dazu meine Hände nach der Tasche bemüht. Hier hält mir eine schimmernde Hure mit zwei schönen englisirten Rennern vor der Nase still, dort reitet mir ein Bänkedoktor in die Queere, und beginnt eine Trommel und zwei Pfeifen mit der Lobpreisung seiner Wunderkuren und Ampullen zu überschreien. (Arndt, Reisen IV, 136–138)
Dient zuvor die distanziert-souveräne Beobachtung als Mittel, das Neben- und Durcheinander der Boulevards zu verarbeiten, versagt das Beschreibungsmuster nunmehr. Gleich zwei Gründe dafür leuchten auf. Zum einen verdichten sich die heterogenen Impressionen, was sich sprachlich in einer schnelleren Abfolge
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der einzelnen deiktischen Elemente niederschlägt. Zum anderen ist die Beobachterposition ausdrücklich verändert. Schlendert er zuvor unbeteiligt durch die Straße und widmet sich einzelnen Gegenständen vertiefend, so gerät er in den Trubel des gemeinen Volkes. Eine solche narrative Wende war im Palais Royal ganz ähnlich aufgetreten. Arndt ist nicht mehr einzelnen Impressionen ausgesetzt, die er tiefergehend betrachten könnte, sondern die Menschen- und Eindrucksmasse lässt nur einen flüchtigen Blick zu. Das spiegelt außerdem die Erzählhaltung. Ist zuvor der Beobachter implizit präsent, rückt er sich über die Ich-Perspektive eindeutig in den Mittelpunkt und verweist somit auf die eigene Teilnahme. Diese geht mit einer überforderten Wahrnehmung einher, die sich zudem dadurch verstärkt, dass Arndt bisweilen „betäubt und erschreckt“ zurückbleibt. Eine transgressive Lösung aus den Umständen bleibt ihm verwehrt, sodass die Passage vor allem auf die Fragilität urbaner Wahrnehmungsformen hinweist. Teilnahme und Beobachtung: Ein fragiles Verhältnis Das ist also der zentrale Unterschied, der im erzählerischen Verlauf entsteht. Obwohl die wahrgenommenen Attribute konstant bleiben, zeitliche wie räumliche Simultaneität durchweg tragend sind, variieren sowohl die Erzählhaltung als auch die Empfindungen des Beobachters, sobald er selbst leibhaftig in das Spektakel involviert ist. Für Arndt scheint ein genießendes Beobachten erneut nur möglich, wenn er nicht teilnehmend integriert ist, sondern außenstehend seinen Impressionen nachgeht. Vor diesem Hintergrund kann sein eigener Ausweg aus dem Trubel nicht überraschen, denn er sucht einen topischen Rückzugsort auf: „Ich gehe in ein Kaffeehaus“ (Arndt, Reisen IV, 139). Nachdem Arndt das Kaffeehaus besucht, sich der „stillere[n] Gegend der Boulevards“ (Arndt, Reisen IV, 143) gewidmet und schließlich ein Restaurant zwecks nachmittäglicher Stärkung aufgesucht hat, kommt es zu einem abrupten „Sprunge“ in der Erzählung: Es ist fünf Uhr Nachmittags, und ich versetze mich mit Einem Sprunge – einen Schriftsteller belästigt der Bauch nicht, und er kann also leichte und hohe Sprünge machen – zum Tempelthore; denn was zwischen dem T hore der St. Antonsstraße und diesem liegt, hält mich nicht auf. Wer hier vor vier, fünf Stunden gewesen ist, glaubt jetzt an einem ganz andern Orte zu seyn, so verändert und verwandelt ist alles. Was nicht ein Spiel versteht, und sein Leben und sein Gewerbe nicht spielend treiben kann, mag sich nun in Gottes Namen aufmachen; für ihn ist hier nichts zu thun. […] Vom Tempelthore bis zum T hore St. Denis werden die Boulevards, die vorher die gedrängtesten waren, nun die lustigsten. Allenthalben ist Spiel und Scherz, T heater und Ball und Gaukelspiel; aber in diesem Bezirk ist alles so beisammen, daß er mir in Rücksicht dieser Spiele für alles gelten soll. (Arndt, Reisen IV, 145)
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Zunächst ist auffällig, dass Arndt seine poetischen Grundlagen aktualisiert. Mit dem Hinweis, als Schriftsteller sei er in der literarischen Ausgestaltung nicht auf einen körperlichen Tatsachenbericht angewiesen, sondern zur erzählerischen Verdichtung befähigt, untermauert er seine anfänglichen Postulate. Die literarische Stilisierung fällt besonders ins Auge und lässt den Boulevardsbericht als ein ästhetisiertes Produkt erscheinen. Zugleich legitimiert Arndt seinen „Sprunge“ über weite Straßenteile hinweg damit, dass es zur genannten Uhrzeit an bestimmten Plätzen einschlägige Szenen zu beobachten gebe. Damit einhergehend verweist Arndt wiederholt darauf, inwieweit seine subjektive Wahrnehmung stets an die örtlichen eigenlogischen Gesetze gebunden sei. Wo einige Stunden zuvor Betriebsamkeit, Hektik und Trubel dominierten, regiere nunmehr ein großes spielerisches Spektakel. Die Differenz zwischen Ort und Raum kennzeichnet die Darstellung besonders und verweist auf die enorme Bedeutung der jeweiligen sozialen Belebung. Nicht der materielle Ort konstituiert für Arndt den eigentlichen Beobachtungsreiz, sondern dessen tageszeitlich konnotierte Verschiedenheit. Hervorstechend ist zudem der sehr prominente Spielbegriff. Natürlich ist er erst einmal ganz konkret zu verstehen. Die beobachteten Boulevards sind geprägt durch „Spiel und Scherz, T heater und Ball und Gaukelspiel“, sodass sie die typische Pariser Freizeitkultur repräsentieren. Andererseits scheint das „Spiel“ mit einer grundlegenden Haltung der Akteurinnen und Akteure zu korrelieren. Dezidiert weist Arndt darauf hin, wer seine eigenen Tätigkeiten, sein ganzes „Leben“ nicht als Spiel auffassen könne, der müsse diesen Ort weitläufig umgehen. Beide Aspekte überlappen ferner in Stichworten wie dem „T heater“ oder dem „Gaukelspiel“, in denen das Spiel eine doppeldeutige Funktion erhält, die zwischen Unterhaltung und gesellschaftlicher Simulation oszilliert. In jedem Fall ist offensichtlich, dass der Beobachter besonderen Gefallen an den zu erblickenden Szenen findet. Er vermerkt, die beobachteten Boulevards könnten ihm als metonymisches Objekt für die ganze restliche Straße und ihre spielerische Vergnügungskultur dienen. In der Folge beschreibt der Reisende mehrere der kleinen Szenerien, Buden und Darbietungen. Wie sehr die Passagen von einer kontingenten und zufälligen Wahrnehmung sowie einem sich für den Beobachter ständig wandelnden und überraschenden Geschehen geprägt sind, zeigt paradigmatisch folgende Stelle: Kaum bin ich einige Schritte weiter gegangen, so kömmt ein feiner Mann mit einer holländischen Pfeife im Munde grade auf mich zu, in der Stellung, als müsse einer von uns zu Boden. Ich will schon bescheiden ausweichen, da merke ich, daß er nicht weiter kömmt, sehe ihn noch einmal entschlossen an, und sehe, daß er mich angeführt hat. Hier hat nemlich ein Mann, der einen großen Saal mit Wachspuppen und Figuren hat, seine Lockvögel ausgestellt. Auch war ihre Wirkung auf mich stark genug, hineinzugehen und meine fünfzehn Sols zu zahlen. Ich trete in einen prächtigen Saal, der mit mehreren Nebenzimmern herrlich erleuchtet ist, und worin neben dem seinen Besitzer manche an-
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ständige Bürger und Bürgerinnen herumspazieren. Ich erbaute mich so, daß ich nachher noch einige Male hergegangen bin. (Arndt, Reisen IV, 151 f.)
Markant ist die raumzeitliche Dimension: Der Beobachter legt eine geringstmögliche Zeit- und Wegstrecke zurück, stößt aber unwillkürlich auf eine neue, ihn direkt vereinnahmende Merkwürdigkeit. Arndt ist wieder – die Ich-Per spektive markiert es – am urbanen Geschehen beteiligt, wenngleich auf ganz andere Weise als noch einige Stellen zuvor im Menschengedränge. Dieses wirkt wie ausgeblendet und der Reisende schildert räumlich isoliert das sich ereignende Aufeinandertreffen unter einer „eingeschränkte[n], subjektgebundene[n] Stadtsicht“.70 Der exemplarische kontingente Eindruck – der pars pro toto für Arndts grundlegende Erzählhaltung steht – weist zugleich auf Wahrnehmungsprobleme und ‑herausforderungen hin. Denn wie Arndt ohne Umschweife zugibt, ist er einem Trick auf den Leim gegangen und der zufällig angetroffene „feine[] Mann“ ist tatsächlich eine Wachsfigur. Die plötzlichen Impressionen verhindern, dass Arndt sich der gesamten Szenerie vergewissern kann und nur der zweite Blick verrät das ganze Ausmaß. Was er im ersten Moment als unschöne Überraschung stilisiert, gerät für den Beobachter zu einer explizit bereichernden Erfahrung. Ohne ein entsprechendes Vorhaben auf die Boulevards gekommen zu sein, tritt Arndt in das Wachsfigurenkabinett ein und „erbaut[] [s]ich so, daß [er] noch einige Male hergegangen“ ist. Partikular, aber symptomatisch zeigt sich die potenzielle Reichweite der zufälligen Beobachtungen und Ereignisse. Obwohl Arndt ohne eine dazugehörige Intention auf den Plan tritt, kann er aufgrund des sich kontingent ergebenden Besuchs im Wachsfigurenkabinett eine besonders erbauliche Erfahrung durchleben. Die szenische Eigen dynamik, die vor allem den Werbemechanismen und -strategien der Schausteller entspringt, rückt den Reisenden in ein Spannungsfeld, das zwischen Selbst- und Fremdbestimmung changiert. Zunächst ein Opfer der verwirrenden Werbetaktik, entwickelt sich der Ausflug noch zu einem angenehmen Spaziergang durch die aufgereihten Wachsfiguren. Doch der Beobachter konstatiert, dass er schließlich der vielen Schauspiele und Darbietungen überdrüssig ist – ein Umstand, der sich unmittelbar mit den anwesenden Menschenmassen deckt: Müde endlich aller Schauspiele, Schattenspiele, Gaukelspiele, Taschenspiele, mische ich mich in das unendliche Getümmel im Freien, was jetzt um zehn Uhr in diesen Revieren herrscht. Die Schauspiele sind geendigt, die Buden schließen sich und wandern, und sind theils schon vor einigen Stunden gewandert. Das Leben und Wimmeln wächst nun auf den Promenaden, in den öffentlichen Gärten, auf den Kaffehäusern, in den Kellern […]. Allenthalben werden die Lichter bei den wachsenden Menschenschaaren noch vermehrt, die dunklere Nacht zieht um das Himmelsgewölbe einen schwärzeren Schleier, die Erleuchtung zu erhöhen, und mit einem unbeschreiblichen Gefühle fliegt das Auge 70 Mahler,
„Stadttexte-Textstädte“, 22.
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über den Menschenstrudel hin und sieht ihn in die unendliche Länge hinwallen, das Ohr wird von dem Wagenrasseln, den Trommeln und Flöten der Gärten und Erker, von dem Lachen, Locken, Girren und Rufen fröhlicher und verführerischer Menschen, wie von einem behexenden Sirenengesange hingerissen; selbst an dein Gefühl kommen mit weichen Händen und freundlichen Liebkosungen die Sirenen der Nacht, die in diesem Meere mit fortströmen. Jetzt hüte dich! (Arndt, Reisen IV, 153)
Wieder einmal findet in Arndts Erzählung ein abrupter Bruch statt, der diesmal mit einer tageszeitlichen Veränderung einhergeht, welche die Praktiken der Akteurinnen und Akteure beeinflusst. Nachdem der frühe Abend dem eifrigen T heaterbesuch und anderen Schauspielen gewidmet ist, steht wieder das „Getümmel“ auf dem Programm. Bemerkenswert ist in erster Linie, dass Arndt anders als in früheren Passagen – erinnert sei an den Aufenthalt im Palais Royal – eine modifizierte Stellung einnimmt. Zuvorderst beschreibt er die äußeren Umstände, die mit den geendigten Schauspielen korrelieren. Hatten sich die Pariserinnen und Pariser zuvor in den zahlreichen Vergnügungseinrichtungen befunden und dem Auge des Reisenden weitgehend entzogen, treten jetzt Öffentlichkeit und Beobachtbarkeit zutage. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Rückzug und Menschenmassen ein spannungsreiches Verhältnis eingehen, das als konstitutiv für solche Orte gelten kann. Denn wo Arndt einerseits auf die topischen Rückzugsorte wie die mehrfach erwähnten Gärten verweist, sind sie im selben Augenblick von einer markanten Überfüllung geprägt (Kap. 9. 2). Den Kern der Textstelle bildet jedoch der Beobachter, der ebenfalls ein ambivalentes Verhältnis zu den beobachteten Gegenständen und Menschen einnimmt. Obwohl Arndt ausdrücklich darauf verweist, er „mische […] [s]ich in das unendliche Getümmel im Freien“, liegt gegen Ende wieder eine andere Wahrnehmungsform vor. Hier dominiert der distanziert-genießende Blick des verweilenden Beobachters, dessen Auge erhöht positioniert ist. Der Anblick der „unendliche[n] Länge“ beeindruckt Arndt besonders und führt schließlich sogar zu einem „unbeschreiblichen Gefühle“, das wieder eher mit einer exzentrischen Positionierung einhergeht. Andererseits ist diese Distanzierung fragil, wie der Beobachter unumwunden zugibt. Die sich durchmengenden Geräusche und Töne gleichen für ihn den Klängen eines „behexenden Sirenengesang[s]“. Die Metapher scheint angesichts der Beobachterposition durchaus angebracht. So wie die Sirenen in der griechischen Mythologie die Seefahrer von fern mit ihren Gesängen anlocken und verführen, gefährden sie offensichtlich Arndts Position als distanzierter Beobachter. Letzten Endes steht auch der simulierte Gesang in einer spannungsreichen Konstellation. Während er zuerst recht allgemein für die Handlungen „fröhlicher und verführerischer Menschen“ steht, bezieht er sich kurz darauf explizit auf die zahlreichen Prostituierten. Vergnügen und Laster liegen für den Beobachter – innerhalb weniger Zeilen wechselt er zwischen einem „unbeschreiblichen Gefühle“ und der Warnung, man solle sich hüten – aufs Engste beieinander. Wo Arndt sich für einen kurzen Moment aus der wirbeln-
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den und verführenden Menschenmenge löst und dem genießenden Beobachten hingeben kann, ziehen ihn die Anwesenden wieder in das Geschehen hinein. Nur durch den distanzierten, nicht-teilnehmenden Blick eröffnet sich für Arndt eine genussvolle Erfahrung. Sobald er dagegen in den Strudel der Menschenmassen gerät, zu einer Teilnahme an den durcheinandergewirbelten Kommunikationsformen gezwungen ist, geraten seine eigentlich positiv gestimmten Erfahrungen ins Wanken. Zwar finden sich partielle Ausnahmen – man denke an das Lob der Spielfreude der nachmittäglichen Boulevards –, dennoch ist das distanziert-beobachtende Wahrnehmungsmuster dominant. Dieses Verhältnis hat sich mehrfach gezeigt. Erinnert sei an das arndtsche Lob für die französische Urbanität des Tuileriengartens, das sofort in Überforderung umschwingt, sobald der Beobachter selbst teilnehmen muss. Bei aller Begeisterung, die der Reisende für die französische Lebenskultur, für die Pariser Urbanität entwickelt, bestehen gewichtige Einschränkungen. Zum einen bleibt Arndt distanzierter Beobachter – ein Umstand, der sich in der wiederholten nationalen Gegenüberstellung manifestiert. Und zum anderen entfacht das urbane Treiben nur dann im Beobachter diese Begeisterung, wenn es gesitteten Formen folgt. Besonders deutlich konturiert Arndts Reisebericht damit die Differenz zwischen beobachtenden und beobachteten Ausprägungen urbaner Muße. Während er den Pariserinnen und Parisern zuschreibt, solche Erfahrungen gerade im geselligen Beisammensein, an Versammlungsorten wie dem Tuileriengarten oder auf den Boulevards, zu machen, bleibt dies dem Beobachter selbst verwehrt, sobald er sich in die urbane Masse begeben muss. Er präferiert vielmehr die bereits skizzierte passive Rolle, innerhalb derer er sich zwar kontingent-zufälliger Wahrnehmungsmuster bedient, diese aber höchst fragil bleiben. Sie sind bei Arndt, so haben die beiden Kapitel gezeigt, insbesondere mit zwei Gesichtspunkten verbunden. Zum einen korrelieren sie mit einer durchweg und vor allem konzeptionell den Text prägenden autoptischen Wahrnehmung. Und zum anderen mit nationalen Attribuierungen, die den späteren Franzosenhasser dazu veranlassen, überschwänglich von der französischen und Pariser Lebenskultur zu schwärmen. Ordnet man Arndts euphorische Schilderung in sein Gesamtwerk ein, liegt ein frappierender Befund vor. In seinem Parisbericht formuliert er nationale Epitheta und Stereotype eines deutschen Minderwertigkeitskomplexes, die er in seinen späteren Schriften nicht inhaltlich, sondern in ihrer Bewertung rejustiert. Dieselben Wahrnehmungen, die ihm auf seiner Reise dazu dienen, Frankreich und Paris in den Himmel zu loben, nutzt er wenige Jahre später, um sie abzuwerten.
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11. Das Schauspiel der Metropole: August von Kotzebues Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804 11. 1. Ein deutscher Kleinstädter in der Großstadt: Der Reisebericht August von Kotzebue – wer seinen Namen hört, denkt im ersten Moment kaum an einen Reisebericht aus Paris oder gar an Formen urbaner Muße. Andere Episoden seines literarischen und privaten Lebens sind weitaus bekannter und abenteuerlicher. Man erinnere nur an, wie er es selbst autobiografisch bezeichnet, Das merkwürdigste Jahr meines Lebens (1801), als man ihn auf einer Reise nach Russland für einen Jakobiner hält und er einer längeren Haft in Sibirien dank eines Lobliedes auf den Zaren Paul I. (1754–1801) entgehen kann. Oder an die wohl bekannteste Szene seines Lebens, die zugleich die tragischste und historisch weitreichendste ist: die Ermordung durch den Burschenschaftler Karl Ludwig Sand (1795–1820) im Jahr 1819 samt den darauffolgenden Karlsbader Beschlüssen. Vor allem aber gelangt der Schriftsteller als einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Bühnenautoren zu seinem Ruhm. Unter anderem mit Komödien wie Der Wildfang (1798), Die beiden Klingsberg (1801) oder auch Die deutschen Kleinstädter (1803) prägt er maßgeblich das deutschsprachige Bühnenleben. Gerade letztgenanntes Werk ist im Rahmen der Studie zu nennen, zeichnet Kotzebue hier doch komödiantisch überspitzt ein zeitgenössisches Deutschlandbild. Das Stück über eine beschauliche deutsche Dorfgemeinschaft, die städtische Verhaltens- und Lebensmuster bedienen möchte, steht sinnbildlich für die Differenz zwischen ausländischen Großstädten und den vielerorts prägenden deutschen Zuständen. Kotzebues Leben strotzt vor Geschichten und Abenteuern, die einer Erzählung wert sind. Doch dass der Autor mehrfach nach Paris fährt, ist weniger bekannt. Dabei führt eine der Reisen schließlich gar dazu, dass Kotzebue Napoleon persönlich kennenlernen darf, von dessen Auftreten allerdings nur allzu enttäuscht ist. Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau Christine Gertrud von Krusenstern (1769–1803) reist Kotzebue 1804 nach Paris, vermutlich weil „er den Ersten Konsul Bonaparte, den starken Mann Frankreichs, aus der Nähe erleben möchte“.1 Insbesondere der erstgenannte Grund weist auf eine tragische Parallele zu einer weiteren Parisreise Kotzebues auf, die er bereits 1790 unternimmt. Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Friederike Julie Dorothea von Essen (1763– 1
Peter Kaeding, August von Kotzebue. Auch ein deutsches Dichterleben, Berlin 1985, 231.
11. Das Schauspiel der Metropole
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1790) reist er zwecks Trauerbewältigung ebenfalls nach Paris. Er beginnt eine mehrere Monate dauernde Fahrt, aus der mit Meine Flucht nach Paris im Winter 1790, Für bekannte und unbekannte Freunde geschrieben (1791) auch eine erste Großstadtberichterstattung datiert.2 Seine dritte Reise in das Herz Frankreichs 1804 indes führt überdies zu einem weiteren Reisebericht, der weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung je größere Aufmerksamkeit geschenkt bekam: den Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804. In dem beim Berliner Verleger Heinrich Frölich († 1806) erschienenen, rund 600 Seiten starken Reisebericht vermittelt der als Dramatiker weitaus bekanntere Kotzebue dem deutschen Lesepublikum die Eindrücke seiner dritten Parisreise. Dieses Reisewerk kann übrigens zeitgenössisch durchaus Erfolge verzeichnen. So gibt es bereits 1805 eine dreibändige französische Übersetzung, Souvenirs De Paris En 1804. Grundlegende Strukturen des Reiseberichts Für den Autor selbst muss die Reise eine äußerst bereichernde und fruchtbare Zeit sein. Deutlich zeigt dies eines seiner einführenden Kapitel, das er mit „Flüchtige Reisebemerkungen als Einleitung“ übertitelt: „Man hat das Leben so oft mit einer Reise verglichen; alle Gleichnisse hinken, auch dieses. Welch ein Unterschied zwischen Leben und Reisen! – Welche Vorzüge sind dem letztern eigen!“ Einen Grund für seine euphorische Charakterisierung schiebt Kotzebue hinterher: „Der Reisende weiß doch gewöhnlich, daß und wohin er reisen will; der arme Lebende aber wird nicht gefragt, ob und warum er leben will“ (Kotze bue, Erinnerungen, 1). Für den Reisenden gibt es keinen Zweifel: Die Fahrt in die französische Hauptstadt ist für ihn Ausdruck puren Glücks. Dieses scheint zuvorderst in einer ausdrücklichen Selbstbestimmung begründet, die er dem ansonsten fremdbestimmten und ungewissen menschlichen Leben entgegenstellt. Kotzebue schreibt dem Reisen gar einen psychotherapeutischen Wert zu. So ruft er aus, wohl dem Kummervollen, der reisen darf! Fremde Berge und T häler, ach! und mehr noch fremde Gesichter, die nichts von ihm wissen, nichts von dem ahnen, was in ihm vorgeht, die muß er suchen, wenn er seines Lebens drückende Erinnerungen, eine nach der andern, von sich wälzen will. (Kotzebue, Erinnerungen, 2 f.)
Das Reisen ist für Kotzebue eine Erlösung. Es ist offenkundig, dass er sich hier vorrangig auf die Trauerbewältigung angesichts seiner verstorbenen Ehefrau bezieht, die für ihn die Reise ganz maßgeblich rahmt. Ähnlich wie er rund zehn Jahre davor in seiner Flucht nach Paris im Winter 1790 konstatiert, er habe 2 August von Kotzebue, Meine Flucht nach Paris im Winter 1790, Für bekannte und unbekannte Freunde geschrieben, Leipzig 1791.
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überall nur sein „geliebtes, verlohrnes Weib“3 gesehen, gerät die private Situation auch für seinen zweiten Reisebericht zur prägenden Erfahrung. Indem er das praktische Reisen mit einer Lebensreise assoziiert und die lebensfreudigen Vorteile einer Parisfahrt skizziert, formuliert er dies noch deutlicher. Umso bemerkenswerter ist, dass Kotzebue sich in seinen Erinnerungen in den einzelnen Kapiteln deutlich seltener und weniger ausführlich den tragischen privaten Umständen widmet als noch in seinem ersten Parisbericht. Stellt man den Text neben vergleichbare literarische Zeugnisse – beispielhaft seien Rebmann und Arndt angeführt –, erkennt man rasch, dass der Autor sich weitgehend an zeitgenössischen Vorbildern orientiert. Kotzebues Reisebericht ist tendenziell tableauartig gegliedert und ähnelt in vielen Zügen dem, was sich für seine literarischen Mitstreiter konstatieren lässt. Angesichts einer expliziten Nennung in der Flucht nach Paris im Winter 1790 ist davon auszugehen, dass Kotzebue besonders durch Friedrich Schulz’ Ueber Paris und die Pariser geprägt ist, der wiederum die mercierschen Beschreibungstechniken rezipiert.4 Der Aufbau folgt tradierten Mustern und so gliedert auch Kotzebue seine Ausführungen in einzelne Bilder, die mit Stichworten wie „Denkmäler“, „Pariser Gewohnheiten und Sitten“, „Einige große Mahler und ihre Atteliers“ oder „Sehenswürdigkeiten“ betitelt sind.5 Auf gattungsformaler Ebene ist der Reisebericht wenig innovativ. Die meisten seiner Ausführungen eignen sich kaum, um über die erzählerische Vermittlung von urbanen respektive Pariser Lebensformen zu sprechen. Vieles bleibt in Kotzebues Text schematisch-auflistend und findet selten eine tiefergehende narrative Ausformung. Um nur ein Beispiel anzuführen: Wo der Reisende die Pariser „Restaurateure“ den deutschen Leserinnen und Lesern näherbringt, finden sich über Seiten hinweg Aufzählungen der bestellbaren Gerichte.6 Zwei Ausnahmen gibt es jedoch. Zum einen stechen die Pariser Museen ins Auge, in denen Kotzebue sich strikt gegen eine gelehrte Kunstbetrachtung wendet und den subjektiven Eindruck bevorzugt.7 So schreibt er selbst: Ich will und werde nichts anderes thun, als erzählen, was ich gesehen, und welche Empfindungen das Gesehene in mir erregte. Daher werde ich oft bei Gegenständen verweilen, die manchem untergeordnet scheinen, und bei andern vorüberschlüpfen, über die manche ein großes Geschrei erheben. (Kotzebue, Erinnerungen, 208)
Kotzebue, Meine Flucht nach Paris im Winter 1790, VII. Kotzebue hält dort zu Paris fest: „Auch wäre es überflüssig, viel oder wenig darüber zu sagen, da unser Liebling Schulz diesen Gegenstand erschöpft hat“ (Kotzebue, Meine Flucht nach Paris im Winter 1790, VIII). 5 Vgl. zu Kotzebues Beobachtungsgegenständen und ihrer Entsprechung zeitgenössischer Schemata Kaeding, August von Kotzebue, 243. 6 Vgl. Waßmer, „Deutsche Gourmets in Paris“. 7 Zur Bedeutung von Museen und Kunst in der deutschen Parisliteratur, gesondert in der napoleonischen Zeit, vgl. Grosser, „Der lange Abschied von der Revolution“, 164. 3
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Den eigenen Eindruck, die Autopsie der Kunstwerke sowie die damit verbundenen Impressionen, betont Kotzebue explizit. Hier formuliert er ein narratives Strukturprinzip, das ganz ähnlich für die zweite Ausnahme gilt. Neben der subjektiven Kunstbetrachtung sind es vor allem Kotzebues Darstellungen der „Straßen von Paris in vier Briefen an eine Dame geschildert“ (Kotzebue, Erinnerungen, 67), die für eine literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchung von herausragendem Interesse sind. Wie nachfolgend zu sehen ist, sind die vier Briefe Kotzebues an eine von der Forschung bisher unidentifizierte „Dame“ als theatraler Ausdruck urbaner Muße und Flanerie lesbar. Insbesondere in den ersten beiden Briefen dominieren jene Wahrnehmungseigenschaften, die für eine solche Lesart konstitutiv sind: der spazierende, schlendernde und verlangsamte Gang des Beobachters sowie kontingente, zufällige Eindrücke, welche die Erzählstruktur maßgeblich ausformen. Das entschleunigte Spazieren durch die Metropole prägt die ersten beiden Dokumente und macht sie zu einer für die einleitend aufgeworfenen Fragen herausragenden Fundstelle. Der Schluss, der sich im Vergleich zu anderen Quellen ziehen lässt, ist kein überraschender. Für den berühmten Dramatiker Kotzebue ist Paris eine große Bühne, die dem Beobachter ein Schauspiel nach dem anderen und unendlich viele kleine Szenen des urbanen Lebens gewährt.8 Wie die Analyse der einschlägigen Textstellen zeigt, ist die T heatralität der Großstadt sowohl sprachlich, strukturell als auch inhaltlich prägend. Eng verknüpft ist der Erzählmodus zudem mit der autopoetologischen Setzung und Legitimation, die der Autor in einem „Vorbericht“ (Kotzebue, Erinnerungen, III) formuliert. Sie ist wie angedeutet stark mit seiner subjektiv konnotierten Kunstbetrachtung verbunden. Zugleich schärft sie den Blick für die literarischen Entstehungsbedingungen um 1800: Ich lege meinen flüchtigen Bemerkungen keinen andern Werth bei, als den, daß ich sie selbst gemacht habe. Es sind meine Ansichten, ich habe Niemanden nachgebetet. Wo ich urtheile, kann ich mich irren, aber ich habe immer nach meiner Ueberzeugung geur theilt. Wer mir etwa vorwürfe, ich hätte Manchen zu viel gelobt, dem muß ich antworten: es ist mir in der Censur dies und jenes weggestrichen worden, woraus hervorleuchtete, daß auch die schmeichelhafteste Aufnahme mein Urtheil nicht zu bestechen vermogt hat. Ich habe kein Wort geschrieben, von dessen Wahrheit ich mich nicht überzeugt hielt; ich habe aber manches Wort geschrieben, das der Leser hier nicht findet. (Kotze bue, Erinnerungen, III f.)
8 Vgl. zur Metapher von ‚Paris als Bühne‘ Jüttner, „Großstadtmythen“, 186–188. Dass dieses Begriffsfeld in der Reiseliteratur des Vormärz konstitutiv bleibt, zeigt Wulf Wülfing, „Reiseliteratur und Realitäten im Vormärz. Vorüberlegungen zu Schemata und Wirklichkeitsfindung im frühen 19. Jahrhundert“, in: Wolfgang Griep/Hans-Wolf Jäger (Hg.), Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahrhunderts (Neue Bremer Beiträge 1), Heidelberg 1983, 371–394, 390.
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Mit seinen Formulierungen schließt Kotzebue eng an eine Argumentation an, die auch in anderen Textzeugnissen auffällt. Die subjektive Wahrnehmung, die Autopsie der urbanen Lebensformen und Gegenstände, gerät zum Legitimationsprinzip.9 Der Autor ordnet sich zudem in gattungstopische Formeln ein, wenn er seinen durchaus umfangreichen Text lediglich als „flüchtige Bemerkungen“ einstuft und andererseits betont, er habe sich von keinen anderen Quellen als dem eigenen Blick und Verstand leiten lassen. Markant ist schließlich der harsche Angriff auf die dem gedruckten Bericht vorausgehende Zensur. Explizit verweist Kotzebue darauf, so ganz könne das Dokument seinen Aufenthalt und seine Impressionen nicht ausdrücken, einiges habe er aufgrund zensorischer Bestimmungen anpassen müssen.10 Nichtsdestotrotz ist erkennbar, inwiefern der Reisende gerade seine Darstellungen des öffentlichen urbanen Lebens sowie die dort anzutreffende Erzählweise einführt und vorbereitet. Die verarbeiteten Wahrnehmungen und die daraus resultierenden Urteile ordnet er umfänglich einer systematischen Subjektivität unter. Die Formulierung, es handle sich um „meine Ansichten“, ist letztlich doppeldeutig und als prägend für den Reisebericht zu verstehen. Bei Kotzebue verbinden sich Impression und Interpretation. Die Suche nach (literatur‑)wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Kotzebues Reisebericht ist rasch abgeschlossen. Sein Text hat bisher wenig analysierende und interpretierende Behandlung erfahren. Sowohl Darstellungen zum Autor selbst als auch zur Großstadt- oder Reiseliteratur um 1800 behandeln seinen Bericht höchstens peripher und er dient lediglich als biografisches Element oder als ein Beispiel unter vielen.11 Die Gründe hierfür liegen durchaus auf der Hand. Obwohl eine umfängliche Kotzebue-Forschung vorliegt, haben in der Beschäftigung mit dem Autor andere Aspekte – unter anderem die eingangs erwähnten – dominiert. Seine tragische Ermordung sowie seine glorreiche Zeit als „T heatergenie“12 standen und stehen dabei im Mittelpunkt. Auch bei den jüngsten Publikationen, die im Kotzebue-Jahr 2019, dem 200. Todesjahr, erschienen sind, ist dies weitgehend der Fall. Daneben ist wie erwähnt zu bedenken, dass Kotzebues Reisebericht oberflächlich für eine eingehende Analyse wenig innovative Erkenntnisse verspricht. Erst der genauere und kleinteiligere Blick in die Ausführungen zeigt indes, dass sein Reisebericht für die Fragen deutscher Großstadtwahrnehmung und -darstellung um 1800 eine fruchtbare Quelle ist.
9 Vgl. zum zeitgenössischen Autopsieprimat und der daraus resultierenden Bekräftigung in den Reiseberichten Blanke, Politische Herrschaft und soziale Ungleichheit im Spiegel des Anderen, 187. 10 Vgl. zur damaligen französischen Zensur und ihren Einfluss auf deutsche Reiseberichte und vergleichbare Zeugnisse Birkner, Das Selbstgespräch der Zeit, 92 f. 11 U. a. bei Hauser, Der Blick auf die Stadt. 12 So der Titel bei Armin Gebhardt, August von Kotzebue. T heatergenie zur Goethezeit, Marburg 2003.
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11. 2. Szenen einer Metropole: Kotzebues Straßenbilder T heatrale Elemente ließen sich stellenweise bereits in den anderen untersuchten Texten identifizieren. Bei Kotzebue indes geraten sie zu einem grundlegenden narrativen Prinzip, das seine Wahrnehmungen und letztlich seine ganze Charakterisierung der französischen Hauptstadt prägt. Dass Paris für Kotzebue eine theatrale Bühne darstellt, lassen nicht erst die Briefe erkennen, die er an eine daheimgebliebene Dame schreibt. Vielmehr ruft bereits sein eigener Einzug in die französische Hauptstadt den Motivkreis auf. So skizziert er seine Ankunft in Paris, nachdem er von Potsdam bis ins Zentrum Frankreichs gereist ist: Wenn man von Lyon nach Paris kommt, stellt diese ungeheure Stadt sich prächtig dar, weil man, in einer geringen Entfernung, auf eine Anhöhe gelangt, von der man die ganze im Halbcirkel umherliegende Häusermasse fast mit einem Male übersieht, und weil zugleich im Hintergrund der Montmartre, sammt den übrigen Hügeln, sich amphitheatralisch erheben. (Kotzebue, Erinnerungen, 65 f.)
Für den Reisenden ergibt sich bei der Einfahrt ein panoramatischer Überblick, der die ganze Stadt erfasst.13 Der erhöhte Blick des Beobachters ist vorerst ein bewusst distanzierter, doch sowohl die „ungeheure“ Stadt als auch der „amphitheatralisch[e]“ Charakter deuten auf das Kommende voraus. Zum einen weist Kotzebue topisch auf das unüberblickbare und kaum erzählbare Pariser Stadtgeschehen hin. Die Metropole ist nur in dem Moment vollends in den Blick zu bekommen, in dem sie noch als amorphe Masse wirkt und sich keine Unterscheidungen treffen lassen. Die Kulisse eines Amphitheaters entspricht dem erhöhten Blick des Zuschauers, weist aber auch auf die Pariser Eigenschaften voraus. Für Kotzebue ist die Stadt eine Bühne und zusammen mit dem Beobachter als Publikum en detail sind die nachfolgenden Schilderungen letztlich als T heaterstück zu lesen. Der physiognomische Blick Von Interesse ist neben der theatralen Bildsprache die Anmerkung, „uebrigens fährt man so ungehindert in die Stadt Paris hinein, als ob man in sein eignes Haus führe“ (Kotzebue, Erinnerungen, 66). Zwar ist für den Reisenden die häusliche Erfahrung daran gebunden, dass sich von den Anwesenden niemand für den zunächst anonymen Gast interessiert, doch das ‚Häusliche‘ greift er eingangs seines ersten Briefs wieder auf. Bevor Kotzebue sich der eigentlichen Großstadtbeschreibung respektive den literarisierten Spaziergängen durch sie widmet, liefert er einen metaphorischen Vorspann:
13
Vgl. zu diesem Motivkreis Hauser, Der Blick auf die Stadt, 110.
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IV Berichte aus London und Paris
Ich mögte […] ein anderes Sprichwort vorschlagen, und ihm das Bürgerrecht verschaffen: „sage mir, wie es in deiner Wohnstube aussieht, und ich will Dir sagen, welch ein Mensch Du bist.“ – Auch hier würden Ausnahmen zuweilen die Regel Lügen strafen; aber im Allgemeinen fordere ich jeden Leser auf, unter seinen Bekannten umherzuschauen, ob nicht die Physiognomie des Wohnzimmers gewöhnlich der Physiognomie des Bewohners auf ein Haar gleiche? – Sie fragen, wozu dieser Eingang? – Meine Antwort ist: wir sind jetzt in Paris; die Hauptstadt ist gleichsam das Wohnzimmer einer Nation, und wenn es mir also gelingt, Sie mit dem heutigen Paris ein wenig näher bekannt zu machen, so denke ich Ihnen auch die Nation zum T heil geschildert zu haben. (Kotzebue, Erinnerungen, 69 f.)
Kotzebues neu erfundenes Sprichwort deutet auf seine theatrale Wahrnehmung und Beschreibung voraus. Er macht deutlich, dass es für ihn einen engen Zusammenhang gibt zwischen dem, was für einen Gast (einen Reisenden) im Wohnzimmer des Gastgebers zu sehen ist, und dem, was im Gastgeber selbst vor sich geht und seinen Charakter ausmacht. Kotzebue verwendet eine Motivik, die auch Walter Benjamin in seinem Passagen-Werk aufgreift. Dort vermerkt jener, dass „die flanerie Paris durchaus in ein Interieur zu wandeln vermag, eine Wohnung, deren Gemächer die Quartiers sind und in der sie nicht wieder deutlich durch Schwellen geschieden sind“.14 Während Benjamin einmal mehr auf das mittlere 19. Jahrhundert abhebt – konkret bezieht er sich auf Karl Gutzkows (1811–1878) Briefe aus Paris (1842) – zeigt Kotzebues Reisebericht symptomatisch auf, dass dieses Argumentationsmuster der deutschen Großstadtliteratur bereits um 1800 bekannt ist. Einher geht es mit einem weiteren kulturgeschichtlichen Bezug, der physiognomischen Debatte. Kotzebue fordert das Lesepublikum auf, empirisch eine Probe aufs Exempel zu machen und die aufgestellte T hese an eigenen Bekannten zu prüfen. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die „Physiognomie“ im zeitgenössischen Diskurs eine weitaus größere Bedeutung als nur ein rein äußerliches Betrachten einnimmt. Die physiognomische Auseinandersetzung, die vor allem der Schweizer Johann Caspar Lavater (1741–1801) mit seinen Physiognomischen Fragmenten (1775–1778) prägt, betont die Engführung von äußeren körperlichen Merkmalen und inneren, seelischen Gesinnungen.15 Wenn der reisende Autor die Physiognomie eingehend betrachtet, zielt er nicht allein auf oberflächliche sinnliche Eindrücke ab. Er deutet vielmehr darauf hin, aus diesen Impressionen zweitens Interpretationen über das Seelenleben der Pariser Stadtbevölkerung und der französischen Nation ziehen zu wollen. Mit 14 Benjamin, Das Passagen-Werk, 531. Ähnlich in Benjamin, „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, 539: „Die Straße wird zur Wohnung für den Flaneur, der zwischen Häuserfronten so wie der Bürger in seinen vier Wänden zuhause ist.“ 15 Vgl. zur Bedeutung physiognomischer Beobachtungsmuster, insbesondere für das zeitgenössische Paris, Michael Gamper, „Urbane Körperlichkeiten. Physiognomik als Stadtlektüre“, in: Ulrich Stadler/Karl Pestalozzi (Hg.), Im Lichte Lavaters. Lektüren zum 200. Todestag (Johann Caspar Lavater Studien 1), Zürich 2003, 141–163.
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Kotzebues Spaziergängen durch die französische Hauptstadt verbindet sich die Absicht, „aus der wirren Fülle der Situationen und Eindrücke, dem diffusen Erscheinungsbild urbaner Wirklichkeit, die typische, sozial sinnfällige oder überhaupt in bestimmter Weise bedeutende […] Physiognomie […] zugänglich gemacht zu sehen“.16 Kotzebues einführende Worte sind noch in anderer Hinsicht aufschlussreich und bedeutsam. Seine Wohnzimmermetapher wirkt auf den ersten Blick schlüssig. Die Hauptstadt ist in der Nation jener Raum, in dem sich alle Mitglieder des Hauses sammeln und miteinander agieren. Und zugleich ist es derjenige, in den die Besucherinnen und Besucher geführt werden, um sie zu empfangen. Bezieht man den metaphorischen Raum jedoch auf die in Kotzebues Briefen konkret geschilderten Orte, besteht vermeintlich ein Bruch. Der Reisende betrachtet bei seinem Aufenthalt das Interieur Pariser Häuser und Wohnungen nur randständig. Er beobachtet stattdessen das öffentliche Leben, die Straßen der Hauptstadt. Davon abgeleitet ist das Sinnbild des Wohnzimmers letztlich doppelt zu verstehen. Im öffentlichen Pariser Raum ist das Innere gleichsam nach außen gekehrt. Die für den Reisenden zugänglichen Szenen und Momente der urbanen Lebensformen spiegeln, was hinter den Mauern und Kulissen vor sich geht. Der Spaziergang als narratives Grundprinzip Wie bei allen untersuchten Texten stellt sich für den Reisenden die Frage, wie er sich den urbanen Phänomenen annähern und seine Erkundigungen anstellen möchte. Kotzebue gibt eine unmittelbare Antwort, die er sowohl an die direkte Adressatin seiner Briefe als auch an das sekundär intendierte Lesepublikum richtet: Ich bitte mir Ihren Arm aus! – Wozu? – Um bei dem schönen Herbstwetter einen Spaziergang durch die Straßen von Paris zu machen. Es wird Sie nicht gereuen. Kein Fremder sollte einen solchen Spaziergang versäumen, denn die Quays, Boulevards u. s. w. bieten vom Morgen bis zum Abend das unterhaltendste Schauspiel dar. So oft Zeit und Witterung es mir erlaubten, bin ich zu Fuß herumgeschlendert, bin überall stehen geblieben, wo ein Häuflein sich sammelte, habe gesehen, gehört, auch gegafft, wenn Sie wollen, mich treflich amüsirt, und nebenher auch nicht selten ein Körnlein der Erfahrung in mein Gedächtnis niedergelegt. Folgen Sie mir getrost. (Kotzebue, Erinnerungen, 70)
Kotzebue stellt den Spaziergang, das Schlendern durch die Stadt, genuin als seine Methode vor, mit der er die urbanen Lebensformen subjektiv am besten erfassen kann. Er weist dabei gleich auf mehrere Argumente hin, die den Rundgang für einen Besucher geradezu als unverzichtbar charakterisieren. Zum einen rekurriert er von Anfang an auf die „Schauspiele“, die ein Fremder an einschlägigen Örtlichkeiten erblicken könne und rahmt seine späteren theatralen Schilde16 Brüggemann,
Aber schickt keinen Poeten nach London, 12.
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rungen sprachlich. Den ganzen Tag über sei es in der französischen Hauptstadt möglich, an den betriebsamen urbanen Orten immer wieder Neues zu erblicken. Die theatrale Metaphorik ist auch insofern bemerkenswert, als dass sie in enger Beziehung zu Kotzebues früherem Text Meine Flucht nach Paris im Winter 1790 steht, sich jedoch gleichzeitig ausdrücklich von ihm abhebt. Während sich der erfolgreiche Bühnenautor in seinem ersten Parisbericht maßgeblich damit befasst, die besuchten T heateraufführungen zu beschreiben und nur selten urbane Lebensformen betrachtet, verkehren sich die Verhältnisse nunmehr grundlegend. Kotzebue erhebt den öffentlichen Raum zur Bühne und grenzt sich von seiner eigenen früheren Berichterstattung markant ab. Mit dem Hinweis auf „Quays, Boulevards u. s. w.“ vermerkt Kotzebue gleich anfangs, dass ihm im urbanen Raum wenig an einem Rückzug gelegen ist. Er betont, dass er die beglückendsten Erfahrungen inmitten der städtischen Verdichtung erfahren habe. Dies verbindet Kotzebue mit der Bemerkung, wenn er von anderen Verpflichtungen befreit sei und die Witterung es zulasse, sei der Spaziergang seine liebste Beschäftigung. Auch der Hinweis, gerade für einen Fremden seien Spaziergänge durch Paris höchst interessant und gewinnbringend, fällt ins Auge. Kotzebue macht, im Rückgriff auf seine physiognomischen Anmerkungen, deutlich, inwiefern sein Text sich an ein spezifisches Lesepublikum richtet. Mit dem „Fremden“ sind direkt die Leserinnen und Leser angesprochen, die der ‚doppelten Fremdheit‘ unterliegen. Über die „Quays“ und „Boulevards“ zu spazieren und dort die verschiedenen Schauspiele zu erblicken, entspricht demnach dem Versuch, dieser Alterität Abhilfe zu verschaffen. Kotzebue beschreibt überdies genauer, wie die Rundgänge strukturiert sind. Sie zeichnen sich zum einen durch eine entschleunigte Bewegung aus, die im Signalwort „herumgeschlendert“ gipfelt. Doch die Fortbewegungsart ist keineswegs das einzige Kriterium. Genauso entscheidend ist für ihn die spezifische Wahrnehmungsform. Wo sich ein „Häuflein […] sammelte“ und eine interessante Beobachtung entsteht, unterbricht der Spaziergänger Kotzebue gerne seine Bewegung und widmet sich eingehender dem wahrzunehmenden „Schauspiel“. Vergleichbar mit Börnes Parislektüre schlendert auch er durch die Pariser Straßen und lässt sich, zumindest streckenweise, intensiv auf das ein, was ihm begegnet. Die urbane Beobachtung ist eine zufällige und kontingente, denn was jeweils und in welcher Schlagzahl zu erblicken ist, liegt letztlich außerhalb seiner Kontrolle. Kotzebue betont die enge Beziehung zwischen der leiblichen Bewegung und den gemachten Sinneseindrücken. „Die Straße“ ist für ihn „die Bühne, auf der der Zufall ihm flüchtige Schauspiele des urbanen Lebens zeigt […], bis die nächste Erscheinung sie in eine andere Richtung trägt“.17 17 Moser, „Flanieren mit dem Stadtplan?“, 25. Auf die literarische Relation von Straße und Zufall verweist überdies Bachtin, Chronotopos, 181.
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Und noch eine weitere Ebene von Kotzebues narrativem Grundriss ist auffällig. Er beschreibt neben seinem Vorgehen auch die Resultate seiner Erkundungen. Dabei entwirft er eine doppelte Perspektive, die Vergnügung und intellektuellen Gewinn als die zwei produktiven Seiten seiner Spaziergänge formuliert. So steht einerseits die Freude, er habe sich „treflich amüsirt“. Andererseits ergibt sich für den Reisenden „nicht selten ein Körnlein der Erfahrung“, folglich ein Erkenntnis- und Wissensgewinn über die großstädtischen Vorgänge oder das menschliche Wesen. Das Wohnzimmer Paris ist für Kotzebue eine Bühne, die unterhaltenden Charakter hat und Lustspiele darbietet, genauso aber manches Lehrdrama offenbart. Kotzebue greift insgesamt ein narratives Muster auf, das Deborah Epstein Nord für zeitgenössische englischsprachige Londontexte identifiziert hat. Sie verweist auf das um 1800 typische Muster, die Großstadt als „element of theater or spectacle“ wahrzunehmen und „the spectator’s pleasure or education“18 besonders hervorzuheben. Neben dem Spaziergang und der mit ihm einhergehenden Wahrnehmung sticht in den einleitenden Worten die Kommunikationsform und -situation heraus. Zwar ist erkennbar, dass der Reisende sich direkt an seine Adressatin wendet und dies durch dialogische Elemente mit einem weiteren dramatischen Momentum versieht. Gleichzeitig bleibt die Anrede an „Sie“ doppeldeutig. Sie ist in den originalen Briefen auf die unmittelbar angesprochene „Dame“ bezogen, doch im Kontext des publizierten Reiseberichts steht die Angeredete metonymisch für die gesamte Leserschaft. Besonders deutlich scheint dies auf, wenn Kotzebue explizit auf den gewinnbringenden Spaziergang für jeden Fremden abzielt. An dieser Stelle verschwimmen die angesprochenen Adressatenkreise vollends und die direkt angesprochene „Dame“ nimmt letztlich eine Stellvertreterfunktion für das deutsche Lesepublikum ein. Dies erinnert vor allem an Passagen aus London und Paris, wo der Korrespondent Hüttner gleichartige Erzählmuster verwendet, um verschiedene Formen und Souveränitätsgrade von Großstadtwahrnehmung darzustellen (Kap. 8. 3). Die Hierarchie gestaltet sich bei Kotzebue ähnlich. Er übernimmt als kundiger Kenner die Führung und die Leserschaft hat seinen Ausführungen in einem doppelten Wortsinn zu „folgen“. Das verbindet sich mit den angesprochenen „Körnlein der Erfahrung“, von denen der Reisende scheinbar die Leserinnen und Leser profitieren lassen möchte. Entscheidend ist schließlich etwas Weiteres. Kotzebue versucht zwar durchweg, möglichst einen spontanen und unmittelbaren Eindruck seiner literarisierten Spaziergänge zu vermitteln, doch es handelt sich um imaginierte Rundgänge, die zudem ex post narrativiert sind. Dies zeigt an, dass die theatrale Note seiner Ausführungen auch produktionsästhetisch den inszenatorischen Prämissen folgt. 18 Deborah Epstein Nord, „T he City as T heater. From Georgian to Early Victorian London“, in: Victorian Studies 31,2 (1988), 159–188, 163 f.
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IV Berichte aus London und Paris
Die Rollenverteilung zwischen Reisendem sowie Adressatinnen und Adressaten verdeutlicht symptomatisch die erste Station, die Kotzebue besucht: Sieh da, ein Glücksrad von Glas. Wundern Sie sich nicht. Die Extreme berühren sich. Die aufgeklärteste Nation von Europa ist zugleich die abergläubigste. An allen Ecken und Enden der Stadt finden Sie listige Menschen, die unter allerlei Formen, auf allerlei Manier, die Vorübergehenden herbei locken, um ihnen untrüglich zu verkündigen, welche Nummern bei der nächsten Ziehung aus den zahlreichen französischen Lotto’s hervorgehen werden, und immer ist ein solcher Prophet von einem dichten Kreise umgeben. (Kotzebue, Erinnerungen, 70 f.)
Bevor der Blick auf das eigentlich Beobachtete geht, ist die erzählerische Position der Passage bedeutend. Kotzebue inszeniert keinen fließenden Übergang zwischen seiner Spazierpoetik und dem tatsächlichen literarischen Beginn desselben, sondern die Aufforderung „Sieh da“ schließt unmittelbar an das vorherige Zitat an. In medias res – das ist das anfängliche Motto und es führt so weit, dass Kotzebue eine Angabe darüber vermeidet, wo man sich eigentlich genau in der Stadt befinde. Hierin besteht ein weitreichender und gewichtiger Unterschied zu den anderen Texten, in denen die topografische Verortung maßgebend ist. Das erste geschilderte „Schauspiel“ gewinnt – ebenso wie die weiteren Abschnitte, bis schließlich eine konkrete Ortsangabe fällt – einen paradigmatischen Charakter, der von präzisierten räumlichen und zeitlichen Rahmungen weitgehend losgelöst ist. Das erblickte Glücksrad, dessen Eigenschaften metonymisch für die zufällige Beobachtung stehen, ist als pars pro toto für jedwedes Schauspiel zu sehen, das dem Spaziergänger in die Augen kommen könnte. Dies verstärkt sich, wenn der Reisende darauf verweist, „[a]n allen Ecken und Enden der Stadt“ könne er solcherlei erblicken und erfahren. Die Beschreibung selbst zeichnet sich durch jene Elemente aus, die Kotzebue in der allgemeinen Charakterisierung stark macht. Zum einen verweist das imperativ-deiktische „Sieh da“ auf kontingente und plötzliche Beobachtungen, die dem Wahrnehmenden beliebig ins Auge fallen. Daran schließt die belehrende Position des versierten Beobachters an, der einer möglichen Verwunderung seiner (imaginierten) Begleitung Abhilfe leisten möchte. An das zufällig Erblickte fügt er umgehend eine tiefergehende Erklärung an, die das Postulat aktualisiert, am Äußeren und Öffentlichen könne man die nationalen Eigenschaften am besten ablesen. Die einzelnen an dieser Szene zu bemerkenden Elemente sind für Kotzebues weitere Ausführungen prägend und bilden das literarisch-stilistische Korsett seiner vier Briefe. Markant ist überdies, dass die einzelnen Schauspiele weitgehend unwillkürlich aufeinander folgen. Es gibt selten narrative Übergänge zwischen den verschiedenen Szenen und zumeist sind die entsprechenden Abschnitte lediglich durch einen Gedankenstrich voneinander abgetrennt.
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Die daraus folgende parataktische und nebeneinanderstehende Struktur unterstreicht die kontingenten und plötzlichen Impressionen des Beobachters, die unvermittelt in Beziehung zueinander treten. Sie wirken wie eine „Bilderkette“19, in der die einzelnen Glieder beliebig austauschbar sind. Dass dabei eine gewisse erzählerische Variation auftritt, ist andererseits erwähnenswert. Im Groben lassen sich vor allem zwei Wahrnehmungs- und Beschreibungsmodi ausdifferenzieren. Einerseits stehen Passagen wie die eben zitierte, in denen Kotzebue eine kurze Einleitung anbietet und das Schauspiel oberflächlich analysiert. Demgegenüber gruppieren sich Sequenzen, in denen er eine nähere Betrachtung unternimmt und dergestalt die szenische und theatrale Note stärker hervortritt. Häufig verbindet sich dies mit eingebauten Dialogpassagen, die wahlweise in direkter oder indirekter Rede eingeflochten sind. Um nur ein Beispiel zu geben: Nachdem Kotzebue und seine Begleitung bereits das ein oder andere Schauspiel wahrgenommen haben, kommen sie zu einem weiteren Spektakel: Da steht ein Kerl, der auf seinem Zeigefinger ein Puppenröckchen dreht, dann und wann ein Teufelchen herausgucken läßt, und in dem er die Hand plötzlich gen Himmel schleudert, ruft: dort fliegt es! Diesen matten Spaß würzt er ganz allerliebst durch eine fließende Erzählung alles dessen, was das Teufelchen auf seinem Fluge über Paris zu sehen bekommen wird, bald die Kanonierböte auf der Seine, von welchen er sogleich eine pompöse Beschreibung hinzufügt, bald eine Jungfer, die eben aus dem Bette steigt, und die er so reizend als möglich schildert. […] Plötzlich ruft er einen Knaben aus dem Haufen hervor; der Junge ist etwa zehn Jahr alt. Er legt ihm die Hand auf den Kopf: „bist du verheirathet?“ fragt er ihn ganz feierlich. Der Junge gafft ihn mit großen Augen an, und sagt: nein! „Schwöre,“ fährt der Spasmacher mit hohler Stimme fort: „schwöre daß du nicht verheirathet bist!“ (Kotzebue, Erinnerungen, 75 f.)
Die zitierte Passage steht sowohl sprachlich als auch stilistisch symptomatisch für Kotzebues Beschreibungen. Auffällig ist die szenische Erzählweise, die sich vor allem durch eine präsentische Darstellung ebenso wie durch verschiedene dramatische Elemente auszeichnet, so zum Beispiel einen körperlichen Schwerpunkt und dialogische Sequenzen. Gerade die Schlusspassage, die noch einige Zeit das Gespräch zwischen „Spasmacher“ und Jungen fortsetzt, ist ein Musterbeispiel hierfür. Erneut sind für die szenische Erzählmethode räumliche und zeitliche Verweise bedeutsam. So kommt zum einen eine deiktische Note vor, welche die räumliche Erzähltiefe konstituiert. Von noch gewichtigerer Bedeutung sind die zeitlichen Marker. Mit Temporaladverbien wie „dann und wann“, „bald“ oder „plötzlich“ führt Kotzebue narrativ einen zeitlichen Verlauf ein, der die szenische und theatrale Gestaltung unterstreicht. Daran lässt sich ablesen, dass bei den genannten Spaziergängen zwei Ebenen zu differenzieren sind. Im ersten Moment stehen die unterschiedlichen Sze19 Hauser,
Der Blick auf die Stadt, 119.
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nen der Großstadt, und noch genauer der Vergnügungsmeilen, die der Beobachter nach und nach aufsucht, nebeneinander. In der Skizze der einzelnen Szenen kommt eine T heatralität hinzu, die das ‚T heatergenie‘ Kotzebue vor allem durch wiederholte Verweise auf die räumliche und zeitliche Achse erzeugt. Dabei ist im Anschluss an seine Einleitung zu betonen, dass der Reisende über eine bloße Beschreibung des Gesehenen und Gehörten hinausgeht. Exemplarisch demonstriert die näher betrachtete Szene, dass für Kotzebue die „Schauspiele“ einen postulierten französischen Nationalcharakter abbilden: „Alles das sind nur Possen für das Volk […], und sind doch in der T hat nicht ohne Witz. Gestehen Sie, daß die Nation, unter welcher das gemeine Volk solchen Witz herzlich belacht, in der T hat in seiner Bildung einen Schritt vor vielen Nationen voraus hat“ (Kotzebue, Erinnerungen, 77). Unverhohlen schließt Kotzebue an stereotype Muster des vermeintlichen französischen Nationalcharakters um 1800 an (Kap. 4). Das Leichtlebige, das Witzvolle und bisweilen Frivole des Nachbarvolkes spiegelt sich für ihn in einzelnen Szenen des öffentlichen und unterhaltenden Straßenlebens wider. Auch für diesen Reisenden lässt sich konstatieren, dass die Beobachtung der öffentlichen Kultur und nationalstereotype Muster eng miteinander korrelieren. Die Konstellation von Vorurteil und eigener Erfahrung ist dabei eher opak. Denn entgegen anderer Quellen bleibt Kotzebue vergleichsweise stumm, was seine eigenen Erwartungen an die Reise und seine vorab gewonnenen Vorstellungen über Frankreich und Paris betrifft. Der erste Brief Kotzebues setzt sich bis zu seinem Ende dergestalt fort und die herausgearbeitete Erzählweise ließe sich noch an manchem Beispiel aufzeigen. Doch der Reisende weist schließlich darauf hin, man habe die körperlichen Grenzen erreicht und müsse den imaginierten Spaziergang ein andermal fortführen, um ihn weiter in der bisherigen Form genießen zu können: „[I]ch sehe Ihnen an, daß Sie von dem Spaziergange ermüdet sind. Wenn das Wetter so schön bleibt, so setzen wir ihn wohl morgen ein Stündchen fort, denn ich ver sichere Sie, wir haben noch viele artige und närrische Dinge zu besehen“ (Kotze bue, Erinnerungen, 84). Der Schluss des ersten Briefs aktualisiert die eingangs aufgerufene Erzählsituation und gibt zugleich den Ausblick, es müsse sich beim fingierten Rundgang keineswegs um eine einmalige Erfahrung gehandelt haben. T heatrale Variationen So greift der Reisende das Finale des ersten Briefs anfangs des zweiten auf: „Heute, liebe Freundin, verfolgen wir unsern Spaziergang bei trocknem Wetter“ (Kotzebue, Erinnerungen, 85). Ob es sich tatsächlich um das vorab angekündigte „morgen“ handelt, ist sekundär. Denn wie bereits der erste Spaziergang bleibt der zweite Brief räumlich und zeitlich unbestimmt. Zwar finden sich sporadische Hinweise, wo man grob hinwolle, doch im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Texten bleibt die konkrete Verortung massiv zurückgedrängt. Kotze
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bues Spaziergänge erweisen sich als ein „rituelles oder iteratives Erzählen“20, in dem die einzelnen Promenaden einen Rahmen für die darin auftretenden, unbestimmt bleibenden Eindrücke liefern. Dass dennoch Modifikationen im Vergleich zum ersten Brief vorhanden sind, zeigt der Auftakt. So weist Kotzebue ausdrücklich darauf hin, im Vergleich zum ersten Mal würden „[n]icht immer […] die Gegenstände so lustig seyn, und ich stehe Ihnen nicht dafür, daß nicht eine T hräne dann und wann sich in Ihr Auge stehlen wird“ (Kotzebue, Erinnerungen, 83). Zieht man zu Rate, dass der imaginierte Spaziergang zunächst zu einer Blindenkolonie führt, dann zeigt sich, dass Kotzebues Darstellungen über das vergnügliche und unterhaltende Paris hinausragen. Andererseits ist erkennbar, dass die kontingenten Eindrücke sich an dieser Stelle deutlich verdichten und eine eingehendere Beobachtung ausbleibt: Da stößt uns gleich ein armer Blinder auf […]. Nicht weit von ihm sitzt abermals ein Blinder, der vermuthlich nicht singen kann […]. Wir gehen nicht weit, so finden wir einen dritten Unglücklichen, dem der köstlichste Sinn fehlt. […] Kaum haben wir diesen verlassen, so begegnet uns wieder ein Blinder, der die Herzen durch die Töne einer verstimmten Geige zu rühren sucht. […] Doch hinweg von den Blinden, deren Anblick die Sehenden nur betrübt, obgleich, von der Gewohnheit gestählt, die Pariser größtentheils gleichgültig vorüber gehen. […] Wenden wir uns lieber zu jenem musikalischen Tausendkünstler, dessen erworbene Fertigkeit in der T hat Bewunderung verdient. (Kotze bue, Erinnerungen, 85–87)
Obwohl das Grundmuster kontingenter, rasch aufeinander folgender und zufälliger Impressionen stabil bleibt, differieren die Erzählweisen erheblich. Während Kotzebue bei den Straßenkünstlerinnen und -künstlern gerne verweilt und sie einer näheren Beschreibung unterzieht, lässt er es bei den sozialen Abgründen mit einer oberflächlichen Skizze bewenden. Deutlich konstituiert Kotze bue einen zeitgenössisch üblichen Zuschauercharakter, wie ihn Epstein Nord beschreibt: „T hey remained outside of the class relations they saw enacted on the city streets, unengaged in the particular social struggle that they watched as observers“.21 Diese Eigenart schreibt Kotzebue nicht nur den Pariserinnen und Parisern zu, sondern nimmt selbst an ihr teil. Die szenischen und theatralen Erzählmuster, wie sie in allen vier Briefen präsent sind, sind sowohl an die spezifische Wahrnehmung gebunden als auch an eine kategoriale Einordnung des Reisenden. Nur was ihn unterhält und anzieht, nimmt er in die Riege szenischer Darstellung auf. Alles andere beobachtet er tendenziell mit Argwohn und lässt einen flüchtigen Blick darüber schweifen. Im Weiteren folgt der zweite Brief weitgehend jenen Mustern, die für den ersten abzulesen waren und die im Übrigen auch für die Briefe drei und vier, wenngleich abgeschwächt, gelten. Nichtsdestotrotz ist der zweite Brief noch unDer Spaziergang als Erzählmodell, 15. Epstein Nord, „T he City as T heater“, 169.
20 Albes, 21
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ter anderer Perspektive einen Blick wert. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen hatte Kotzebue die imaginierte Begleitfigur, die stellvertretend für das deutsche Lesepublikum steht, in den Vordergrund gerückt. Während sie im Textverlauf zugunsten der Einlassungen des Erzählers perspektivisch zurücktritt, kommt ihre Person nun wieder verstärkt zum Tragen. Die Hierarchie zwischen beiden Instanzen verändert dies nicht – beispielhaft in folgender Szene, die zugleich Herausforderungen der Großstadtwahrnehmung formuliert: Ich werde gewahr, daß die schöne Gold- und Silberbude Ihr Auge an sich zieht. Sie haben Recht, herrlichere Arbeit finden Sie weder in Augsburg noch in Wien. […] Es ist schwer hier weiter zu gehen, ohne etwas zu kaufen; es ist leicht hier in Verführung zu gerathen, die Reichen zu beneiden. […] Ich bitte einen Schritt weiter zu thun, denn in der T hat, der Mann der da die große mannigfaltige Menge von ausgestopften T hieren ausgestellt hat; er hat wirklich den Gipfel seiner Kunst erreicht. (Kotzebue, Erinnerungen, 94 f.)
Wie im ersten Brief ist die Rollenverteilung zwischen den beiden Figuren eindeutig formuliert. Dem kundigen Reiseführer Kotzebue, der mehrfach die zu erblickenden Schauspiele beobachtet hat, steht die unwissende Begleitfigur ge genüber, die sich allzu leicht von den verführerischen Angeboten der Großstadt verlocken lässt. Der Reisende stellt klar, dass nur ein geschulter Beobachter in der Lage sei, souverän die Pariser Straßen zu durchwandern und sich nicht von allerlei Ablenkungen zerstreuen zu lassen. Das Wechselspiel von Selbst- und Fremdbestimmung gerät zu einem Leitmotiv des zweiten Briefs. So verweigert Kotzebue seiner Begleitung beispielsweise den Eintritt in ein „prächtige[s] Möbelmagazin“ oder ein „bunte[s] und von Gold schimmernde[s] Porcellainmagazin“ (Kotzebue, Erinnerungen, 98) mit dem Hinweis, dort sei für Fremde wenig zu gewinnen. Deutlich verändert sich vorübergehend die Beobachtungsgeschwindigkeit. Das Verweilen an einzelnen Schauplätzen tritt zurück und der Spaziergang gewinnt an Fahrt. Paradigmatisch erkennbar ist dies bei einem Rundgang über den Quay de l’École: Alle Caffeehäuser und Restaurateurs lassen wir linker Hand liegen, so apetitlich die Inschriften auch lauten, die mit großen Buchstaben auf die Glasthüren und Fenster gemahlt sind […]. Der nächste Nachbar ladet uns zu einer Partie à la poule, und wiederum der nächste zu einer Partie Billard; zwischen beiden verspricht uns ein dritter köstliches Märzbier. Alles vergebens, wir wandeln fürbaß. Auch auf der Straße selbst reizen uns weder die eben gebratenen heißen Kastanien, noch die aufgeschichteten Aepfel und Weintrauben […]. (Kotzebue, Erinnerungen, 99 f.)
Die Erzählweise ist im Vergleich zu den bisher betrachteten Passagen markant verändert. Zwar lässt sich davon sprechen, dass plötzliche Eindrücke und Auffälligkeiten weiterhin zur Beobachtung gehören, aber sie laden nicht mehr zu weiterführenden Digressionen ein. Es hat den Anschein, als verliere der Spaziergang seine entschleunigte Komponente und werde zu einer Schussfahrt durch
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die Straße. Die Wahrnehmungsmuster des Spaziergängers Kotzebue sind keineswegs in dem Maße stabil, wie es der erste und zweite Brief vermuten lassen. Vielmehr scheint die kontingente Beobachtung verschiedene Modi und Tempi annehmen zu können, die wiederum in unterschiedlichen Darstellungsweisen münden. Im Gegensatz aber beispielsweise zu Arndt, der im Trubel vergnüglicher Versammlungsorte die ausgeglichene und gelassene Beobachtung unfreiwillig aufgeben muss, wirkt der Wechsel bei Kotzebue deutlich selbstbestimmter. Der erfahrene Parisreisende – es sei daran erinnert, dass es sich bereits um seine dritte Reise dorthin handelt – hat verschiedene Beobachtungsmuster eingeübt, die er nun auch der imaginierten Begleitung sowie damit einhergehend dem Lesepublikum zu vermitteln sucht. Kotzebue markiert einen distanzierten Beobachter, für den umso mehr gilt: „T he spectator can always retreat or escape, his experience of the life of the streets always temporary and fleeting“.22 Dass dabei Formen des Verweilens und des raschen Passierens changieren, zeigt das Ende des zweiten Briefs. Nachdem die beiden imaginierten Figuren die Stadt in erhöhtem Tempo durcheilt haben, kommt es zu einem Bruch: Lassen Sie uns einen Augenblick diese neue Brücke besteigen, durch welche die Regierung den Parisern zur Bequemlichkeit und zum Vergnügen ein herrliches Geschenk gemacht hat. Sie ist so glatt gedielt […] und da zu beiden Seiten einige Stufen hinaufführen, folglich kein Reuter und kein Wagen den Fußgänger beunruhigen kann, so wird diese Brücke im Frühling und im Herbst der feinen Welt zu einem der angenehmsten Spaziergänge dienen. Noch ein Vortheil ist es, daß man die Erlaubnis darüber zu gehen mit einem Sous bezahlen muß, denn so ist man sicher auf der Brücke selbst, wo man, so lange man will, verweilen darf, nicht von Bettlern belästigt zu werden. Und welch’ eine liebliche Aussicht zu beiden Seiten! Auch kann man, besonders jetzt, fast jeden Morgen das bedeutende Schauspiel mit ansehn, wie die platten zur Landung in England bestimmten Böte auf der Seine manövriren. (Kotzebue, Erinnerungen, 102)
Der Abschnitt ist eigentlich untypisch für Kotzebue. Die zwei betrachteten Briefe hindurch hat das Verweilen nicht an abgesonderten und sozial ausgrenzenden Orten stattgefunden, sondern inmitten des urbanen Schauspiels und der dazugehörigen Spektakel. Jetzt dominiert Gegenteiliges: Die Brücke geht örtlich mit dem Rückzug aus dem Trubel der Pariser Straßen einher, der hier ganz wörtlich als Verkehrschaos zu lesen ist. Und er verbindet sich mit einer gesellschaftlichen Ebene, indem die Unterschichten strukturell ausgegrenzt bleiben und damit eine als solche wahrgenommene Belästigung durch selbige ausgeschlossen ist.23 Bei aller Veränderung, die sich gegenüber Kotzebues sonstigen verweilenden Passagen identifizieren lässt, sticht dennoch eine Gemeinsamkeit hervor. Auch bei der jüngst errichteten Brücke ist es das „Schauspiel“, das den Reisenden besonders 22
Epstein Nord, „T he City as T heater“, 188. Dass solche sozial-exkludierenden Beobachtungsmuster in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 wiederholt auftreten, zeigt u. a. Sadowsky, „Gehen Sta(d)t Fahren“, 86. 23
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IV Berichte aus London und Paris
freudig und vergnüglich stimmt. Die Beobachtungsposition sowie die Bühnenarchitektur sind jedoch grundlegend verändert. Nun dominiert der erhöhte und erhabene Blick über die weite Seine, der zunächst panoramatische Züge trägt, in einem zweiten Schritt aber wieder kontingente und zufällige Wahrnehmungsmuster aufnimmt: Ueberall ist dieser Fluß durch T hätigkeit und Fleiß belebt. Hier treibt er Mühlen um den Einwohnern Nahrung zu bereiten, oben führt er Kohlenschiffe herbei um sie zu wärmen; weiter unten wird das Wasser aus seiner Mitte an das Ufer geleitet, und dort durch Leinewand in Fässer gepumpt, um den Durstigen ein reines Getränk zu liefern. Auch diese gehäufte Kornsäcke haben seine Wellen hergetragen, auch jene Weinfässer liefert er ungewässert in die Keller der Wiedertäufer. Hier sehen Sie ein buntes Gemisch von Käufern und Verkäufern. (Kotzebue, Erinnerungen, 102 f.)
Der für die vielfältigen und kontingenten Eindrücke markante deiktische Stil setzt sich bei Kotzebue auch fort, wenn er sich als Beobachter in eine zu den bisherigen Passagen grundverschiedene Position begibt. Das stabile Merkmal sämtlicher Abschnitte, die szenische Züge annehmen und das wiederholt ins Spiel gebrachte urbane „Schauspiel“ verkörpern, ist folglich genau diese Wahrnehmungsform. Die diversen Eindrücke und Szenen, die der Beobachter literarisch nebeneinander anordnet, müssen nicht immer zwingend zum Verweilen einladen. Dort aber, wo sie es tun, dominiert bei dem renommierten Bühnenautor eine Erzählweise, die verschiedene theatrale Muster aufgreift. Seien es dialogische Elemente wie beim Rundgang über die Vergnügungsmärkte oder sei es eine panoramatische Bühnenschau wie auf der Seinebrücke. Wenn Kotzebue an einem Ort verweilt, widmet er sich eingehend den beobachteten Gegenständen und entwirft für die imaginierte Begleitfigur sowie das intendierte Lesepublikum kleine und größere Szenen, in denen er die Lebendigkeit und den Trubel der Metropole bündelt. Das Innehalten bei einzelnen Szenen ist für den Reisenden seine eigene Art, Hektik und Betriebsamkeit hinter sich zu lassen und zu einer gelassenen und gleichzeitig konzentrierten Darstellung zu kommen.
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V Zusammenfassung: Muße in der Metropole – Fünf Perspektiven Vier Ziele standen am Beginn dieser Studie. Erstens sollte grundsätzlich aufgezeigt werden, dass die deutsche Großstadtliteratur um 1800 ein bislang unbeachtetes Kapitel der Flanerie bietet. Zweitens sollte dies damit einhergehen, die jüngst verstärkt beleuchtete Kulturgeschichte der urbanen Muße näher zu eruieren. Drittens war angestrebt, das Forschungsbild der deutschen Großstadtliteratur um 1800 weiter zu erhellen und die Spannung zwischen überforderter und souveräner Wahrnehmung zu untersuchen. Viertens schließlich sollte dies ganz konkret daraus resultieren, Texte in den Blick zu nehmen, die bislang in der literaturwissenschaftlichen Analyse eher randständig behandelt wurden. Die nachfolgende Zusammenfassung will einerseits die Ergebnisse bündeln, sie sich im Lauf der Studie für die einzelnen Fragestellungen ergeben haben. Zugleich ist ihre Absicht, die Resultate unter gemeinsamen Gesichtspunkten zu betrachten. Die fünf zu besprechenden Unterpunkte – Vielfalt der literarischen Flanerieformen, Verhältnis von Stadt und Natur, Spannung von gesellschaft licher Funktionalisierung und individuellen Freiräumen, divergierende Großstadtbilder sowie die Beziehung von Teilnahme und Beobachtung – sind mit dem Anspruch ausgewählt, weitere Forschungen zur deutschen Großstadtliteratur (um 1800), zur Kulturgeschichte urbaner Muße sowie im Speziellen zur literarischen Flanerie anzuregen. Literarische Flanerien um 1800: Vielfalt der Formen Sämtliche Textanalysen haben gezeigt, dass die deutsche Großstadtliteratur um 1800 ein bisher übersehenes Kapitel der literarischen Flanerie beinhaltet. Sowohl in den Reiseberichten Arndts, Kotzebues und Rebmanns als auch im Journal London und Paris lassen sich Passagen identifizieren, in denen die Beobachterfiguren die Metropolen mit einer gelassenen und für alle möglichen Eindrücke offenen Wahrnehmung beschreiben. Als leitend hat sich dabei die Konzeption von Flanerie als urbaner Muße erwiesen. Vielfach sind die einschlägigen Textpassagen davon geprägt, dass die Beobachterinnen und Beobachter ein ausdrückliches Zusammenspiel von negativer und positiver Freiheit inszenieren. Sie stilisieren sich selbst als befreit von den urbanen Zwecklogiken und demge-
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V Zusammenfassung
genüber als privilegiert, die Stadt auf ihre eigene und selbstgewählte Weise zeitlich unbeschränkt wahrzunehmen. Bestimmend für diese Inszenierungen sind die paradoxalen Wendungen von ‚bestimmter Unbestimmtheit‘, ‚produktiver Unproduktivität‘ und ‚tätiger Untätigkeit‘ (Kap. 2). Beständig betonen die Reisenden, die Korrespondentinnen und Korrespondenten, sie seien von äußeren Verpflichtungen befreit und dadurch ergebe sich für sie das Potenzial, die Metro polen intensiv wahrzunehmen. Dies verorten sie wiederholt im Spannungsfeld von Bestimmtheit und Unbestimmtheit. Sie geben einerseits konkrete Räume und Zeiten an, innerhalb derer sie sich bewegen. Was sie allerdings währenddessen beobachten können, was sie in ihrer Großstadtwahrnehmung besonders intensiv rezipieren, bleibt prinzipiell offen und variabel. Eng verbunden mit den literarischen Flanerien ist daher der Aspekt urbaner Raumzeitlichkeit. Vor der ideellen Folie der Raumkonzepte Michail Bachtins, Jurij Lotmans und Martina Löws (Kap. 3) konnte aufgezeigt werden, inwiefern die individuelle Konstruktion von Räumen – die selbstverständlich kulturell vorgeprägt ist – eine wesentliche Eigenschaft der einzelnen Texte konstituiert. Als weitere Gemeinsamkeit der untersuchten Texte hat sich erwiesen, dass die kultur- und literaturgeschichtlichen Rahmungen kaum überschätzt werden können. Dies betrifft zum einen grundlegend die Wahrnehmungsdisposition, mit der die Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten in London und Paris konfrontiert sind. Ihre Darstellungen stehen im Zeichen einer deutschen ‚doppelten Fremdheit‘, indem sie ein fremdes Land ebenso besuchen wie zwei Metropolen, die ihnen aus der eigenen Heimat in dieser Dimension unbekannt sind (Kap. 4). Als bedeutsam hat sich dies auf der rahmenden und der konkret literarischen Ebene herauskristallisiert. Es ist deutlich erkennbar, dass die Beobachterinnen und Beobachter die ‚doppelte Fremdheit‘ zum narrativen Leitkriterium ihrer Flanerien erheben. Sie inszenieren eine Großstadt erfahrung, welche die Position des Lesepublikums einnimmt und von seinen (Un‑)Kenntnissen ausgehend die Städte textuell inszeniert. Besonders stark ist dies in London und Paris zu erkennen, wo die subjektive Reiseerfahrung stärker hinter den informativ-publizistischen Charakter zurücktritt. Eng verbunden ist die ‚doppelte Fremdheit‘ mit imagologischen Perspektiven, welche die Großstadtwahrnehmungen ebenfalls entscheidend mitbestimmen. Nationale und urbane Stereotype haben sich als beständiges Argumentationsmuster der untersuchten Texte erwiesen. Die dazugehörigen Ausführungen konnten zwar aufzeigen, dass das einseitige Bild von der Wirtschafts- und Freiheitsmetropole London gegenüber der Revolutions- und Vergnügungskapitale Paris insgesamt zu kurz greift (Kap. 4). Nichtsdestotrotz ist zu erkennen, dass sich die Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten bei ihrer Stadtbeobachtung intensiv mit solchen Stereotypen auseinandersetzen – und sie wahlweise bestätigt oder widerlegt sehen.
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Zu den kulturgeschichtlichen und imagologischen Rahmungen kommen die literarischen hinzu, die ebenfalls eine Gemeinsamkeit aller untersuchten Texte bilden (Kap. 5/6). Zum einen hat sich gezeigt, dass die reiseliterarische Debatte des 18. Jahrhunderts rund um ein ‚richtiges Wahrnehmen‘ einen zentralen Bezugspunkt der Großstadtberichte um 1800 bildet. Besonders die apodemischen Vorgaben, etwa eines Franz Posselt und seiner Apodemik, sowie der zusehende Primat einer als autoptisch inszenierten Darstellung sind als wesentliche Stichpunkte anzuführen. Dass unter anderem Posselt in seiner Apodemik fordert, Reisende sollten auf ihren Fahrten möglichst vieles wahrnehmen und sich offen auf alles einlassen, was ihnen begegnet, ist für die untersuchten Darstellungen ebenso prägend wie die Vorstellung, in großen Städten sei es geraten, sich zuvorderst mit den topografischen Gegebenheiten auseinanderzusetzen. Gleichwohl konnte der Rückgriff auf frühneuzeitliche Quellen wie Der Verkleidete Götter-Both / Mercurius oder Der Fliehende Passagier durch Europa skizzieren, dass diese Art der Großstadtwahrnehmung keine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts ist, sondern frühere Vorläufer besitzt. Während die Großstadtberichte um 1700 sich allerdings vornehmlich auf politische Händel konzentrieren, stehen um 1800 verstärkt das urbane Alltagsleben und dessen divergierende Lebensformen im Mittelpunkt der Berichterstattung. Neben dem reiseliterarischen Schwerpunkt hat sich zudem Merciers Tableau de Paris als prägender intertextueller Bezug aller untersuchten Quellen herausgestellt. Die Reisenden Arndt, Kotzebue und Rebmann, die Korrespondentinnen und Korrespondenten in London und Paris greifen seine Konzeption der Großstadtwahrnehmung und -beschreibung ebenso auf wie sie andererseits versuchen, ihr ein weiterentwickeltes Kontrastprogramm gegenüberzustellen. Zu betonen sind unter adaptivem Gesichtspunkt die autoptische Wahrnehmung sowie die grundsätzliche Haltung, sich als urbane Beobachterinnen oder Beobachter mitten in das städtische Leben hinein zu begeben. Deutliche Unterschiede sind dagegen auf der kommunikativen und literarischen Seite zu erkennen. Während Mercier einer moralisierenden und statischen Darstellung verhaftet bleibt, sind die untersuchten deutschen Berichte stärker von dynamisierten Erzählformen geprägt. Vom Tableau Merciers abgeleitete Ausdrücke wie „spazierende[s] Gemählde“ (Arndt), „fortlaufendes Gemälde“ (Rebmann) oder „Tableau mouvant“ (London und Paris) zeugen einschlägig hiervon. Zugleich ist anzumerken, dass jenseits dieser Gemeinsamkeiten auch dezidierte Unterschiede zwischen den einzelnen Quellen bestehen. Um im aufgerufenen Bild zu bleiben, ist festzuhalten, dass das literaturgeschichtliche Kapitel der Flanerie um 1800 in verschiedene Unterkapitel einzuteilen ist. Mit Georg Friedrich Rebmann und seinen Briefen sowie Zeichnungen aus Paris stand zunächst ein Schriftsteller im Mittelpunkt, dem es wesentlich auf die Verbindung von urbanen und politischen Eindrücken ankommt (Kap. 7). Wenn der postrevolutionäre Beobachter durch die Straßen von Paris schweift, gibt er vor, er wolle das
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Politische meiden, das sein sonstiges literarisches Wirken bestimmt. Die Lektüre seiner Pariser Spaziergänge konnte jedoch aufzeigen, dass bei Rebmann Urbanität und Politik respektive zeitgeschichtliche Analysen ein letztlich unauflösliches Verhältnis eingehen. Selbst dort, wo der Reisende betont, er wolle sich anderen Beobachtungsgegenständen zuwenden, bleibt dies meist ein kurzlebiges Vorhaben. Seine kontingenten Wahrnehmungen während seiner Rundgänge durch Paris veranlassen Rebmann vielmehr dazu, besonders intensiv darüber zu sinnieren, wie die städtischen Lebensformen mit den politischen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit zusammenhängen. In der zweiten untersuchten Quelle, dem Journal London und Paris, ist demgegenüber ein anderer Schwerpunkt zu erkennen (Kap. 8/9). Angesichts der publizistischen Qualität sind die Flanerien in der Zeitschrift vor allem von der imaginierten Kommunikation mit dem Lesepublikum geprägt. Im Zeichen der ‚doppelten Fremdheit‘ gerät das Zusammenspiel von Impression und Information zum Leitkriterium der Korrespondentenberichte. In den Artikeln eines Johann Christian Hüttner aus London, eines Friedrich T heophil Winckler aus Paris sowie von vielen weiteren Beteiligten bildet diese Janusköpfigkeit die zentrale narrative Eigenschaft. Die Korrespondentinnen und Korrespondenten inszenieren sich selbst als Kennerinnen und Kenner der Metropolen und stellen sich dem unkundigen und zu belehrenden Lesepublikum gegenüber. Besonders die Integration imaginierter Begleitfiguren, die stellvertretend für die Zuhausegebliebenen stehen, fällt auf. In London und Paris ist die durch Zufälligkeit und Offenheit geprägte Großstadtwahrnehmung daher ergänzt um den gelehrten Anspruch, möglichst wissensgesättigt über die Hauptstädte zu berichten. Impressionen und Informationen sind als ineinander integrierte Pole zu lesen. Die Zeitschrift London und Paris steht mit ihren literarischen Flanerien sinnbildlich dafür, inwieweit sich in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 verschiedene Wahrnehmungs- und Beschreibungsmuster überlagern können. Die dritte untersuchte Quelle, Ernst Moritz Arndts Reisen, zeichnet sich durch einen Schwerpunkt auf nationalen Beobachtungen aus (Kap. 10). Arndt inspiziert bei seinen Rundgängen durch Paris insbesondere den französischen Nationalcharakter. Ausflüge in das Palais Royal, den Tuileriengarten oder auf die Boulevards sind von dem Bestreben geleitet, die urbane Lebenskunst der Pari serinnen und Pariser einer genauen Lektüre zu unterziehen. Dabei frappieren die Attribute, die Arndt den Französinnen und Franzosen zuschreibt. Der vielleicht prominenteste deutsche Franzosenhasser des 19. Jahrhunderts äußert sich euphorisch und jubilierend über die Fortschrittlichkeit der Pariser Lebensweise, die er der deutschen Rückständigkeit diametral gegenüberstellt. Auf den von ihm betrachteten öffentlichen Plätzen diagnostiziert er Geselligkeit, Lebensfreude und Leichtlebigkeit als erstrebenswerte Epitheta, die der deutschen Heimat völlig abhanden gehen würden. Obwohl er selbst am liebsten als passiver Beobachter verweilt und die urbanen Lebensformen zumeist aus der Distanz re-
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gistriert, ist kaum zu übersehen, dass er von ihnen profitieren möchte und sie als Idealtypus des menschlichen Zusammenlebens erachtet. Denkt man an Arndts späteres literarisches Wirken, insbesondere an seine Befreiungskriegslyrik, lässt sich von einem deutschen Minderwertigkeitskomplex sprechen, der sich in seinen Reisen abbildet. Bemerkenswerterweise sind es nämlich genau jene Eigenschaften, die Arndt im Sommer 1799 als besonders löblich erachtet, welche er wenige Jahre später als demagogisches Arsenal gegen Frankreich nutzt. Der letzte untersuchte Großstadtbericht, August von Kotzebues Erinnerungen aus Paris im Jahre 1804, komplettiert das Tableau um theatral ausgeformte Flanerien (Kap. 11). Einer der erfolgreichsten deutschen Dramatiker um 1800 schlendert in vier „Briefen an eine Dame“ durch Paris und ästhetisiert die Metropole als eine große Bühne. Zusammen mit einer imaginierten Begleitfigur nimmt er die unterschiedlichsten Begebenheiten auf den Pariser Straßen wahr und widmet sich dem intensiv, was ihn wahlweise unterhalten oder belehren kann. Dies äußert sich gerade bei Kotzebue inhaltlich und sprachlich. Sein assoziativer Reihenstil weist ebenso auf die theatrale Note hin wie umfangreiche dialogische Passagen und ein physiognomischer Blickwinkel auf das urbane Geschehen. Nimmt man die vier Textanalysen zusammen, ist letztlich ein ambivalenter Befund für die Flanerie in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 zu tätigen. Einerseits sind die einschlägigen literarischen Zeugnisse durch gemeinsame Bezugspunkte verbunden, die vor allem die allgemeinen Paradigmen deutscher Reise- und Großstadtliteratur um 1800 spiegeln. Zugleich kommt es aber auf der Ebene der einzelnen Zeugnisse zu einer funktionalen Ausdifferenzierung der zufällig-kontingenten Stadtwahrnehmung. Politische Räsonnements (Rebmann), Impression und Information (London und Paris), nationale Beobachtungen (Arndt) sowie theatrale Formationen (Kotzebue) stehen gleichberechtigt nebeneinander. Daraus resultiert eine Erkenntnis, die Hand in Hand mit den neueren Ansätzen der Flanerieforschung geht. Ihre konkrete literarische Ausformung ist nicht als uniformes Erzählmuster erfassbar, sondern lediglich in der sie bestimmenden Vielfalt der Formen. In der deutschen Großstadtliteratur um 1800 gibt es nicht die Flanerie. Stattdessen ist von einer gemeinsamen Wahrnehmungshaltung zu sprechen, die sich dann in einem zweiten Schritt in den individuellen Darstellungen verzweigt. Stadt und Natur: Dichotomien, Kontrastierungen und Interdependenzen Die Studie war von einer kulturgeschichtlichen Tradition ausgegangen, die auch Lichtenbergs Brief aus London vom 10. Januar 1775 prägt (Kap. 1). Seit der Antike werden Formen der Muße vorrangig mit dem Landleben gleichgesetzt, während demgegenüber das Stadtleben als Ort des negotium, der Betriebsamkeit und der Hektik – kurz: der ‚Nicht-Muße‘ – beschrieben wird. Von diesem Gesichts-
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punkt ausgehend stellte sich die Frage, welche Räume überhaupt in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 mit Ausprägungen urbaner Muße verbunden sind. Der Blick in die einzelnen Texte konnte aufzeigen, dass diese Frage lediglich in ihren verschiedenen Abstufungen zu beantworten ist. Einerseits sind deutliche Referenzen auf die herkömmliche Dichotomie ländlicher Idylle und städtischer Geschäftigkeit erkennbar. Vor allem in London und Paris berichten verschiedene Korrespondentinnen und Korrespondenten davon, dass sie der Großstadt am liebsten durch die Flucht in die rurale Umgebung entkommen und zeichnen das topische ‚Schreckbild Stadt‘. Bereits dieses Gegensatzpaar zeugt allerdings von einem gegenseitigen Bezug ländlicher und städtischer Imaginationen, die nur im reziproken Wechselspiel verständlich sind. Die ländliche Idylle erweist sich als städtische Projektion – als imaginierter Fluchtraum –, während die Stadt besonders von den deutschen Beobachterinnen und Beobachtern um 1800 vielfach aus der Perspektive ihnen besser bekannter Ländlichkeit inszeniert wird. Ganz im Sinne neuerer kulturgeschichtlicher Ansätze kann festgehalten werden, dass es sich um wechselseitige Projektionen handelt. Die Wahrnehmung des Ländlichen inkorporiert städtische Erfahrungen ebenso wie dies andersherum der Fall ist. Bezogen auf die urbanen Wahrnehmungen im engeren Sinne, die Streifzüge durch London und Paris, hat sich ergeben, dass stärker von Kontrastierungen und Interdependenzen als von Dichotomien zu sprechen ist. Besonders ins Blickfeld geraten städtische Rückzugsräume, die von ambivalenten Spannungen durchzogen sind. Zunächst suggerieren sie eine Möglichkeit, der städtischen Betriebsamkeit zu entkommen. Bereits ihre lokale Anordnung im urbanen Raum selbst deutet jedoch an, dass diese simple Dichotomie erodiert. Orte wie der Pariser Tuileriengarten oder das Londoner Vauxhall weisen zahlreiche Spannungsmomente auf, welche die Beziehung von Stadt und Natur beleuchten. Die konkreten Wahrnehmungen der Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten unterstreichen diesen Befund. Ihre Ausflüge in die genannten und andere Rückzugsanlagen stilisieren sie oftmals in einem Zweischritt. Oberflächlich versuchen sie, dem hektischen und betriebsamen Stadtleben zu entkommen, und weisen Orte wie den Tuileriengarten oder Vauxhall als Möglichkeit aus, den störenden Faktoren des urbanen Lebens zu entfliehen. Kaum sind die Beobachterinnen und Beobachter jedoch in die Anlagen eingetreten, sehen sie sich mit heterogenen Praktiken konfrontiert. Die vermeintlichen Rückzugsanlagen inkorporieren die städtischen Lebensformen und Verhaltensmuster letztlich doch. Sie dienen, ihre Rückzugsfunktion konterkarierend, als Versammlungsorte, an denen das soziale Zusammenleben – aber genauso das gesellschaftliche Rollenspiel – besonders stark ausgelebt wird. Die zahlreichen Menschenmassen ‚reurbanisieren‘ die Garten- und Parkanlagen nahezu. Hinzu kommen kontrastreiche Beobachtungen, wenn beispielsweise ein London und Paris-Korrespondent das Pariser Tivoli als ‚Arkadien‘ und ‚Boulevard‘ gleichermaßen charakterisiert. Für die Beobachterinnen und Beobachter selbst konstituiert dies keineswegs einen
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zwingend kritikwürdigen Aspekt. Vielmehr resultiert aus der ‚Reurbanisierung‘ für sie oftmals ein besonderes Beobachtungsvergnügen. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ernst Moritz Arndt inszeniert seinen Aufenthalt im Tuileriengarten als Höhepunkt des urbanen Genusses. Stadt und Natur, ist daher zusammenzufassen, bilden in den untersuchten Texten ein graduelles Verhältnis zueinander. Sie erweisen sich einerseits als gegenseitige Projektionen, insofern es um ihre Gegenüberstellung geht. Dort, wo sie im urbanen Raum in Form von Rückzugsorten unmittelbar zusammentreffen, verkompliziert sich die Spannung andererseits. Die einzelnen Beobachtungen aus den Textanalysen geben die Anregung, das Verhältnis von Stadt und Natur respektive von Stadt und Land auf neue Weise zu historisieren. Es scheint plausibel, dass sich in der deutschen Großstadtliteratur um 1800 eine Spannung abbildet, die auch darüber hinaus für die Analyse literarischer Texte von Gewinn sein dürfte. Vor allem die Frage nach den wechselseitigen Imaginationen von Stadt und Natur scheint anschlussfähig für weitere Forschungen. Urbane Muße zwischen gesellschaftlicher Funktionalisierung und individuellen Freiräumen Die Studie hatte sich zum Ziel gesetzt, sowohl beobachtende als auch beobachtete Formen urbaner Muße erfassen zu wollen (Kap. 3). Dabei hat sich gezeigt, dass insbesondere entlang dieser Trennlinie eine Spannung zwischen gesellschaftlicher Funktionalisierung und individuellen Freiräumen existiert. So sehr die deutschen Beobachterinnen und Beobachter persönliche Mußeerfahrungen schildern, ihre Freiheit von äußeren Zwängen stilisieren, genauso stark schreiben sie den beobachteten Menschenmassen gegenteilige Erfahrungen zu. In Rückzugsanlagen, etwa in Gärten und Parks wie dem Tuileriengarten oder Vauxhall, identifizieren die Berichterstatterinnen und Berichterstatter ambivalente Verhältnisse. Sie stehen parallel zu der ebenfalls konstatieren Ambivalenz zwischen urbanem Leben und Rückzug aus demselben. Während die Orte suggerieren, ein freies Verweilen in der Zeit sei möglich, konstatieren die deutschen Beobachterinnen und Beobachter, dass gerade dies für die Londoner und Pariser Bevölkerung nicht zwingend der Fall sei. Vielmehr heben sie heraus, die Bewohnerinnen und Bewohner würden an jenen Orten, die eigentlich einen Rückzug aus zweckrationalen urbanen Lebensformen verheißen, äußeren Zwängen unterliegen. Besonders die städtischen Rückzugsanlagen werden immer wieder als Orte dargestellt, in denen es letztlich darum gehe, gesellschaftliche Schauspiele aufzuführen und sich selbst zu inszenieren. Demgegenüber stilisieren sich die Beobachterinnen und Beobachter als frei von den äußeren Zwängen. Sie kontrastieren sich literarisch mit dem beobachteten Publikum und betonen, sie könnten einer freien und gelassenen Stadtwahrnehmung nachgehen. Dies lässt sich für die bereits angesprochenen Rückzugs-
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anlagen ebenso nachweisen wie für die urbane Fest- und Feierkultur. Der Blick auf politische Feierlichkeiten konnte wie jener auf den Pariser Karneval – um nur zwei Beispiele anzuführen – zeigen, dass sich die Beobachterinnen und Beobachter mit ihrem Genuss an der urbanen Wahrnehmung den in zweckrationale Pflichten eingebundenen Großstädterinnen und -städtern gegenüberstellen. Der Exkurs zur Großstadt Wien zeigte allerdings ergänzend, dass die Differenz von gesellschaftlicher Funktionalisierung und individuellen Freiräumen kein allgemeingültiger ist. In den Wiener Korrespondentenberichten ließ sich stattdessen eine literarische Inszenierung erkennen, die darauf abzielt, das freiheitliche Potenzial urbaner Rückzugsanlagen für die Städterinnen und Städter und gleichberechtigt für die Beobachterfiguren zu elaborieren. Selbstverständlich gilt es zu betonen, dass es sich um literarische Stilisierungen, um ästhetisierte Inszenierungen handelt und nicht um sozialhistorische Analysen. Dies zeigt aber umso stärker, inwiefern bei der Analyse urbaner Mußeformen, insbesondere unter literaturwissenschaftlichem Gesichtspunkt, die Differenzierung von beobachtender und beobachteter Ebene unbedingt vonnöten ist. Die Großstadt zwischen Schrecken und Faszination: (K)ein eindeutiges Bild Die ersten beiden analysierten Texte, Lichtenbergs Brief aus London und Börnes Schilderungen aus Paris, hatten eine die Großstadtliteratur bestimmende Differenz aufgerufen, die nachfolgend in den weiteren Textanalysen ebenso untersucht wurde: die Großstadt zwischen Schrecken und Faszination (Kap. 1/2). Auch unter diesem Gesichtspunkt konnte die Studie nachweisen, dass herkömmliche Dicho tomien wie jene von ‚Tristesse und Sensation‘ der Metropolen zu kurz greifen. Die Beispiele Lichtenberg und Börne hatten in nuce vorweggenommen, was sich in den Textanalysen zu Arndt, Kotzebue und Rebmann sowie London und Paris als tragend erwies. Die Differenz zwischen dem skeptischen und dem euphorischen Blick auf die Großstädte London und Paris ist vor allem ein Aushandlungsprozess innerhalb der literarischen Inszenierungen. Keine der vier Quellen zeichnet sich dadurch aus, dass sie – obschon es Schwerpunkte gibt – die urbanen Lebensformen einseitig verdammt oder glorifiziert. Vielmehr ist prägend, dass beide Diskursstränge Eingang finden. Das Journal London und Paris steht mit seiner Vielzahl von Korrespondentinnen und Korrespondenten sowie literarischen Formen symptomatisch dafür. In derselben Zeitschrift, in der etwa die Korrespondentin Helmina von Chézy ein urbanes Schreckbild von Paris zeichnet, finden sich unter anderem beim Londonkorrespondenten Johann Christian Hüttner Jubelstürme über die prosperierende britische Hauptstadt. Noch frappierender mag dieser Befund für die Reiseberichte Arndts, Kotze bues und Rebmanns sein. Hätte sich aufgrund ihrer monografischen Darstellung vielleicht ein eindeutigeres Urteil über die Großstädte erwarten lassen, haben
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sich durchgängig Schattierungen gezeigt. Ernst Moritz Arndt etwa lobt in Paris die urbane Geselligkeit, beäugt gleichzeitig die Menschenmassen auf den Boulevards höchst skeptisch und begibt sich am liebsten in eine zurückgezogene Beobachtungsposition. Dieses Schwanken zwischen verschiedenen Wahrnehmungs optionen ist auch für die Fragen nach Formen der Flanerie entscheidend. Während sie sich wie gesehen in allen untersuchten Großstadtberichten ausmachen ließen, stehen sie in denselben Texten gegenteiligen Beschreibungen gegenüber. Unter dem Gesichtspunkt urbaner Muße hat sich zudem der Leitbegriff der Transgressivität als bedeutend erwiesen. Die beiden skizzierten Haltungen zur Großstadt, Skepsis und Begeisterung, sind in den Quellen immer wieder in Form spontaner Umschlagspunkte inszeniert. August von Kotzebue zum Beispiel beobachtet jene städtischen Schauspiele, die ihn belehren oder unterhalten, mit besonderer Intensität, während er von einem benachbarten Elendsbild den Blick rasch abwendet. Die aufgerufene Spannung zwischen positivem und negativem Stadtbild ist folglich ein durchgängiges Leitmotiv der literarischen Darstellungen. Dies zeigt, dass die teleologische Annahme, besonders um 1800 würde sich der eher überforderte und skeptische Blick auf die Großstadt (z. B. Lichtenberg) in einen souveränen und begeisterten (z. B. Börne) verwandeln, nicht haltbar ist. Deutlich plausibler ist es, von einem grundsätzlicheren Spannungsverhältnis auszugehen, das in den Texten individuell ausdifferenziert wird. Teilnahme, Beobachtung, teilnehmende Beobachtung: Das gemeinsame Motiv Als Leitthema der Textanalysen hat sich die Spannung von Teilnahme und Beobachtung herauskristallisiert. In enger Verbindung zur Ambivalenz von skeptischem und begeistertem Großstadtblick ließ sich nachweisen, dass die Beobachtungsstandpunkte der Berichterstatterinnen und Berichterstatter sehr verschiedene sein können. Sie inszenieren sich bisweilen, insbesondere im Fall der Zeitschrift London und Paris, als aktive Teilnehmerinnen und Teilnehmer am urbanen Geschehen. Genauso nehmen sie an anderen Stellen die Position passiver Zuschauerinnen und Zuschauer ein. Dieses Wechselspiel gilt für die länger in London und Paris lebenden Korrespondentinnen und Korrespondenten ebenso wie für die vorübergehend in den Städten weilenden Reisenden Arndt, Kotzebue und Rebmann. Als dritte Option kommt die ‚teilnehmende Beobachtung‘ hinzu. Gerade bei städtischen Ereignissen, etwa urbanen Feierlichkeiten oder anderen Veranstaltungen, stilisieren sich die Beobachterinnen und Beobachter einerseits als aktive Beteiligte, während sie im selben Moment einer außenstehenden Beobachtung nachgehen. Besonders stark war dies für urbane Rückzugsanlagen zu erkennen, wenn der Londonkorrespondent Johann Christian Hüttner oder sein Pariser Pendant Friedrich T heophil Winckler in Vauxhall und Tivoli am abendlichen Geschehen teilnehmen und es gleichzeitig beobach-
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ten. Außerdem gilt es zu betonen, dass auch ‚Teilnahme‘ und ‚Beobachtung‘ zuweilen von starken Schwankungen geprägt sind. Ernst Moritz Arndt ist dafür das vielleicht einschlägigste Beispiel. Im Tuileriengarten betont er, wie sehr man als deutscher Beobachter von den geselligen urbanen Lebensformen profitieren könne. Zugleich hebt er heraus, als rückständiger Deutscher, dem Vergleichbares aus der Heimat ungewohnt sei, könne er nicht selbst partizipieren und präferiere daher die passive Beobachterrolle. Ein entscheidendes Kriterium für diese Perspektiven ist die ‚doppelte Fremdheit‘, der die Großstadtberichte kultur- und literaturgeschichtlich unterliegen. Immer wieder ist im Spannungsfeld von Teilnahme und Beobachtung zu erkennen, dass die Berichterstatterinnen und Berichterstatter sich in einer ambivalenten Position befinden. Sie sind aufgrund ihres Aufenthalts vor Ort zwar unmittelbar mit den städtischen Geschehnissen konfrontiert, zugleich aber mit ihnen aus eigener Erfahrung unbekannt. Diese Disposition scheint zusätzlich durch die kommunikative Funktion der literarisierten Großstadterfahrung bedingt. Die Texte richten sich an ein Publikum, das der ‚doppelten Fremdheit‘ in aller Regel noch stärker unterliegt als die Reisenden, Korrespondentinnen und Korrespondenten selbst. Die gehäufte direkte Anrede des Lesepublikums und einvernehmliche Erzählstrukturen sind dafür markante sprachliche Anzeichen. Die Beobachterinnen und Beobachter greifen in ihren Darstellungen nicht nur ihre eigene Perspektive auf die Großstadt auf, sondern setzen diese in einen direkten Bezug zum adressierten Lesepublikum. Entlang dieser Linie kristallisiert sich die Spannung von Teilnahme und Beobachtung in besonderem Maße heraus. Die Disposition der ‚doppelten Fremdheit‘ gilt es daher abschließend explizit zu betonen. In literaturgeschichtlicher Perspektive lässt sich mitunter von einem Spezifikum der deutschen Großstadtliteratur um 1800 sprechen. Die konkreten Wahrnehmungsformen der Berichterstatterinnen und Berichterstatter sind maßgeblich davon geprägt, die Erfahrungsdifferenz zwischen der eigenen Heimat und den bereisten Metropolen London und Paris zu thematisieren. Dabei ist die persönliche Erfahrung genauso entscheidend wie die imaginierte Perspektive des intendierten Lesepublikums. Das bedeutet aber in paradoxal anmutender Weise auch, dass die ‚doppelte Fremdheit‘ zu einer wesentlichen Bedingung literarischer Flanerie gerät. Die konzeptionelle Folie, sich einer unbekannten und fremden Erfahrung stellen zu müssen respektive sie literarisch zu ästhetisieren, bildet den Ausgangspunkt für die Formen literarischer Flanerie. Eine gelassene, entschleunigte und von äußeren Zwängen befreite Wahrnehmung erscheint den Beobachterinnen und Beobachtern eine – wenngleich, wie gesehen, nicht die eine – Möglichkeit, dieser ‚doppelten Fremdheit‘ Abhilfe zu leisten. Für jene Passagen, in denen die Berichterstatterinnen und Berichterstatter sich als Flaneure in der Großstadt stilisieren, gilt daher: Indem sie Fremde sind, werden sie zu Flaneuren.
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Haussmann, Georges-Eugène 9, 79 Heine, Heinrich 12, 82 Hessel, Franz 11 f. Hoffmann, E. T. A. 12 Horstig, Karl Gottlieb 70 f., 85 f., 159, 235 Hüttner, Johann Christian 51 f., 62, 76 f., 80, 82–84, 159, 169–171, 177–190, 193– 201, 205–210, 216–221, 242–248, 301, 312, 316 f. Kierkegaard, Sören 12 Kotzebue, August von 8, 17, 21, 89, 97, 103–106, 110, 113 f., 168, 188, 263, 292–311, 313, 316 f. Krusenstern, Christine Gertrud von 292 Küttner, Carl Gottlob 76 f. La Roche, Sophie von 235 Lavater, Johann Caspar 298 Lichtenberg, Georg Christoph 12, 17 f., 25–36, 40, 44–46, 67, 83, 176, 313, 316 f. Ludwig XVI. 148, 150 Mercier, Louis-Sébastien 12, 19, 57, 85, 93, 101–118, 125–128, 131, 133, 135– 137, 147, 163–168, 172, 177, 194, 196, 198, 228, 255 f., 260 f., 266, 274 f., 283, 294, 311 Meyer, Friedrich Johann Lorenz 2, 208 Millin, Louis-Aubin 170 Montesquieu 175 Nash, John 84 Paul I. 292 Poe, Edgar Allan 12, 249 Posselt, Franz 90, 94–99, 311
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Personenregister
Rebmann, Georg Friedrich 8, 17, 19 f., 69, 80, 97, 103–106, 110, 113, 117, 121–156, 163, 165, 168, 171, 173, 177–179, 187, 194, 208, 256, 259, 261, 263–265, 267, 269, 272 f., 275, 294, 309, 311–313, 316 f. Reichardt, Johann Friedrich 158 Restif de la Bretonne 14, 85, 113, 181, 193 Robespierre, Maximilien de 121, 130 Sand, Karl Ludwig 292 Schäffer, Jacob Christian Gottlieb von 3 Schlegel, Friedrich 3 Schopenhauer, Johanna 159, 235
Schulz, Friedrich 69, 125, 138 f., 151 f., 159, 165, 265, 294 Simmel, Georg 31, 231 Sinold genannt von Schütz, Philipp Balthasar 92 f. Sterne, Laurence 88 Villaume, Peter 135 Walch, Bernhard Georg 102 Wieland, Christoph Martin 68 Winckler, Friedrich Theophil 55, 103, 159, 169–171, 208–210, 216, 221 f., 225 f., 240 f., 245–248, 312, 317
Otium Studien zur Theorie und Kulturgeschichte der Muße Herausgegeben von Elisabeth Cheauré, Gregor Dobler, Monika Fludernik, Hans W. Hubert und Peter Philipp Riedl Beirat Barbara Beßlich, Christine Engel, Udo Friedrich, Ina Habermann, Richard Hunter, Irmela von der Lühe, Ulrich Pfisterer, Gérard Raulet, Gerd Spittler, Sabine Volk-Birke In der Schriftenreihe Otium des Freiburger Sonderforschungsbereichs 1015 „Muße“ erscheinen Monografien und Sammelbände, die sich mit der Bedeutung, der kulturellen Form und der gesellschaftlichen Rolle von Muße befassen. Muße wird dabei als ein freies und aus der Produktionslogik herausgenommenes Verweilen verstanden, das aber vielfach Voraussetzung von Arbeit und Produktivität bleibt. Die Schriften der Reihe untersuchen Muße konzeptuell und anhand unterschiedlicher historischer wie gesellschaftlicher Kontexte. Die Beiträge verstehen Muße nicht als idyllischen Rückzugsraum, sondern als ein Feld, in dem wesentliche Fragen dieser Disziplinen der Untersuchung zugänglich werden – von der phänomenologischen Bestimmung unseres Verhältnisses zur Welt über die Analyse von Autorschaft und Kreativität bis zur stets neu verhandelten Spannung zwischen individueller Freiheit einerseits, gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen und Erwartungen andererseits. Ziel der Reihe ist es damit auch, durch die Untersuchung des Phänomens „Muße“ einen Beitrag zur Analyse der heutigen Arbeitsgesellschaft und ihrer Aporien zu leisten. Alle Bände dieser Reihe werden durch einen Beirat begutachtet. Die Reihe steht auch Autorinnen und Autoren außerhalb des Sonderforschungsbereichs offen. ISSN: 2367-2072 Zitiervorschlag: Otium Alle lieferbaren Bände finden Sie unter www.mohrsiebeck.com/otium
Mohr Siebeck
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