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German Pages 84 [89] Year 2015
Cordula Kropik
Moralsatirische Selbstbespiegelung eines (pseudo-)anonymen Alkoholikers Helius Eobanus Hessus’ De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda
Mittelalter Franz Steiner Verlag
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jenaer mediävistische vorträge
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Cordula Kropik Moralsatirische Selbstbespiegelung eines (pseudo-)anonymen Alkoholikers
jenaer mediävistische vorträge Herausgegeben von Achim Thomas Hack Band 5
Cordula Kropik
Moralsatirische Selbstbespiegelung eines (pseudo-)anonymen Alkoholikers Helius Eobanus Hessus’ De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda
Franz Steiner Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11204-8 (Print) ISBN 978-3-515-11208-6 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .................................................................................... 7 1. Warum Eoban? Eine Vorbemerkung in eigener Sache ..... 9 2. Helius Eobanus Hessus .................................................... 16 3. ‚De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‘ ............... 27 3.1. Text und These ....................................................... 27 3.2. Literarische Tradition: Die akademische Scherzrede .............................................................. 31 3.3. Zeitgeschichtlicher Kontext: Der Erfurter Humanismus und die ‚Epistolae obscurorum virorum‘ .... 37 3.4. Katz und Maus: Autorschaft als Versteckspiel ...... 43 3.5. Spiegel im Spiegel: Der auto(r)reflexive Titelholzschnitt ...................................................... 54 4. Cui bono? Ein selbstreflexives Fazit ............................... 58 Exkurs: Eobans ‚Studentenabenteuer‘ und die humanistische Poetik des Wiedererzählens ..................... 61 Abbildungen ........................................................................... 81
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Vorwort Die Konvention, so begründet und sinnvoll sie auch sein mag, sollte niemals zum Gesetz erstarren. Anders als dieses lebt sie nämlich davon, dass sie immer wieder geprüft, bisweilen herausgefordert und ab und zu neu ausgehandelt wird. So gesehen setzt sie die Möglichkeit ihrer Transgression geradezu voraus: Weil sie nur so den Charakter der freiwilligen Übereinkunft bewahrt; weil das, was zu sagen und zu tun ist, mitunter innerhalb ihrer Grenzen nicht gesagt und getan werden kann – oder auch deshalb, weil uns sonst schlicht irgendwann langweilig würde. Das vorliegende Bändchen nutzt die Lizenz der Konvention zur Unkonventionalität gleich in mehrfacher Hinsicht. Es geht zurück auf eine Vorlesung, die ich am 1. Juli 2014 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena gehalten habe und bei der ich mir die Freiheit nahm, meine Ausführungen kritisch reflektierend nicht nur auf ihren Anlass im Rahmen des Habilitationsverfahrens, sondern auch auf ihre Implikationen im institutionellen Gefüge des universitären Betriebs zurückzubeziehen. Meine folgenden Darstellungen sind darum vieles von dem, was man von einer wissenschaftlichen Arbeit gemeinhin erwartet, dezidiert nicht: Sie sind nicht gänzlich objektiv auf ihren Gegenstand gerichtet, nicht voraussetzungs- und wertfrei allein auf historischen Erkenntnisgewinn bedacht und nicht ohne tagespolitisches Interesse. Gleichwohl – oder besser gesagt: gerade deshalb – erheben sie den Anspruch, dem Leser neue Einsichten sowohl in den titelgebenden Text als auch in den aktuellen universitären All–7–
tag zu verschaffen. Indem sie beide ineinanderspiegeln, sollen sie den einen in genau dem Maße verständlicher werden lassen, in dem sie den anderen in seiner historischen Bedingtheit aufzeigen. Dass ich mit meinen Ansichten über die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit eines unkonventionellen Herangehens nicht allein stehe, haben die Reaktionen auf meine Vorlesung gezeigt: Ohne den Zuspruch und die Unterstützung einer Vielzahl von Kollegen wäre sie kaum in der vorliegenden Form publiziert worden. Vor allen anderen gilt mein Dank Achim Thomas Hack, der meinem Manuskript mit ausdrücklicher Ermutigung seiner unkonventionellen Anlage den Weg in die Reihe der Jenaer mediävistischen Vorträge geebnet hat. Für erhellende Gespräche und sachdienliche Hinweise zu den wissenschaftsgeschichtlichen Aspekten meiner Überlegungen bin ich Jens Haustein zu Dank verpflichtet. In der Formulierung des ergänzenden Exkurses zum ‚Studentenabenteuer‘ A hat mich Markus Greulich beraten. Bei der Redaktion und der Herstellung der Druckvorlage waren mir Julius Herr sowie, vonseiten des Steiner-Verlags, Harald Schmitt und Susanne Henkel eine große Hilfe. Jena, im Juli 2015 Cordula Kropik
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1. Warum Eoban? Eine Vorbemerkung in eigener Sache Von all den merkwürdigen Gebräuchen des deutschen akademischen Betriebs ist der der öffentlichen Vorlesung zum Abschluss des Habilitationsverfahrens vielleicht der merkwürdigste.1 Denn obwohl diese Veranstaltung augenscheinlich in einer
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Diese Merkwürdigkeit ist das Ergebnis der historischen Entwicklung, in deren Verlauf sich zuerst das Promotions- und dann das Habilitationsverfahren herausbildete. Dabei stand das, was die öffentliche Vorlesung im Rahmen des Habilitationsverfahrens ausmacht, interessanterweise ganz am Anfang. Bei der Inception, die im Paris des 12. Jahrhunderts die Aufnahme in den Lehrkörper der Universität vollzog, hatte der Anwärter nach der Übergabe der Insignien seiner neuen Tätigkeit (Birett, Ring und offenem Buch) das Katheder zu besteigen und eine Vorlesung oder Disputation zu halten. Die Institution der öffentlichen Disputation wurde danach ins Promotions- und, als dieses nicht mehr zur Lehrbefähigung führte, in das eigens zu diesem Zweck eingerichtete Habilitationsverfahren übernommen. In beiden stellte zunächst sie allein die Leistung dar, die der Kandidat zu erbringen hatte; die Ausarbeitung in einer schriftlichen Abhandlung kam erst später hinzu. Nachdem sich das Qualifikationskriterium auf diese verschoben hatte, blieb die Disputation in beiden Verfahren als ein Relikt bestehen, das von den Universitäten in unterschiedlicher Weise umfunktioniert und umgestaltet wurde. Dass es dabei insbesondere im Habilitationsverfahren zu charakteristischen Unstimmigkeiten kam (zum Beispiel Jena: vgl. Anm. 5, 7 und 8), ist vor allem mit dem Ringen um eine zeitgerechte Bestimmung der Habilitation selbst und deren Bedeutung für die Universität zu erklären: Hier steht die Auffassung, dass die Habilitation die Aufnahme in den Lehrkörper der habilitierenden Fa–9–
gewissen Analogie sowohl zur Verteidigung der Doktoratsdissertation als auch zur Antrittsvorlesung eines Professors steht, erfüllt sie doch weder die Funktion der einen noch der anderen. Sie dient also nicht dem Erweis einer wissenschaftlichen Befähigung – diese wurde mitsamt der Lehrbefähigung bereits im voraufgehenden Verfahren festgestellt –,2 und sie
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kultät begründet (Lehrbefugnis), gegen ihre Definition als förmlich geführter Nachweis der Eignung des Bewerbers zu selbständiger Forschung und Lehre (berufliche Qualifikation), und damit das traditionelle Recht der Universität als einer korporativ verfassten Organisation gegen die Erfordernisse der Nachwuchssicherung in einer leistungsorientierten staatlichen Einrichtung. Grundlegend zum deutschen Habilitationswesen in seinen historischen, politischen und sozialen Kontexten: ALEXANDER KLUGE, Die Universitäts-Selbstverwaltung. Ihre Geschichte und gegenwärtige Rechtsform, Frankfurt a. M. 1958, hier bes. S. 6 und S. 169–190, PETER J. BRENNER, Habilitation als Sozialisation, in: Ders. (Hrsg.), Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft, Berlin 1993, S. 318–356. Von der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes nur z. T. berührt und daher für das Verständnis der rechtlichen Gegebenheiten nach wie vor instruktiv: HANS-ULRICH EVERS, Art. Lehrbefähigung und Lehrbefugnis, in: Handbuch des Wissenschaftsrechts I, Berlin/New York 1982, S. 453–476. Vgl. auch die neuere Skizze von MICHAEL HARTMER, Das Recht des wissenschaftlichen Nachwuchses, in: Hochschulrecht. Ein Handbuch für die Praxis, 2. Aufl., Heidelberg u. a. 2011, S. 199–244. Aufschlussreich zur Rolle der Universität Jena für die Entwicklung des Habilitationswesens und zur Bedeutung der öffentlichen Vorlesung in diesem Zusammenhang: JENS HAUSTEIN, Ludwig Ettmüllers Jenaer Habilitation vom Jahre 1831, in: WILLIAM J. JONES/ WILLIAM A. KELLY/FRANK SHAW (Hrsg.), Vir ingenio mirandus. Studies presented to John L. Flood II, GAG DCCX, Göppingen 2003, S. 1025– 1037. Umfassend zur Disputation: MARION GINDHART/URSULA KUNDERT (Hrsg.), Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur, Trends in Medieval Philology XX, Berlin/New York 2010; darin bes.: HANSPETER MARTI, Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert, S. 63–85. Nach den Bestimmungen der Jenaer Habilitationsordnung für die Philosophische Fakultät (in der Fassung vom 7. Januar 1997) geschah das sogar doppelt: Durch die Begutachtung der Habilitationsschrift und der absol– 10 –
dient schon gar nicht der Inauguration in Amt und Würden.3 Mit beiden hat sie lediglich gemein, dass sie etwas öffentlich bekundet; dass sie mithin einen demonstrativen Gestus oder, wie man auch sagen könnte, einen Akt der symbolischen Kommunikation darstellt.4 Worauf aber zielt dieser Akt, worin besteht das ‚Etwas‘, das zu verkünden ja nichts weniger als seinen eigentlichen Sinn ausmacht? Auf diese Frage eine Antwort zu finden, ist offenbar nicht leicht, und genau darin liegt die Merkwürdigkeit der öffentlichen Habilitationsvorlesung.5
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vierten Lehrveranstaltungen (§ 6 Abs. 3 und §10) sowie durch einen wissenschaftlichen Vortrag mit Kolloquium vor der Habilitationskommission (§ 21). Die Jenaer Ordnungen finden sich unter http://www.uni-jena.de/ Zentrale_Ordnungen_p_163605-path-210,163604.html. In diesem Punkt unterscheidet sie sich grundlegend von der professoralen Antrittsvorlesung, und zwar auch dann, wenn sie die Aufnahme in die Hochschullehrerschaft ohne Einschränkung vollzieht (vgl. dazu jedoch Anm. 5). Denn der Professor ist staatlich berufen, der Privatdozent hingegen von der Fakultät benannt. Die landläufige Bezeichnung der öffentlichen Vorlesung des Habilitanden als ‚Antrittsvorlesung‘ beruht mithin auf einer falschen Analogie. Ich verwende den Begriff in der Definition Gert Althoffs als das Vorliegen „kommunikative[r] Aktivitäten, bei denen Zeichen mit bestimmten Bedeutungsfunktionen benutzt“ werden. Dabei setze ich voraus, dass Phänomene der symbolischen Kommunikation zwar im Mittelalter besonders präsent waren, aber auch in der Moderne eine wichtige Rolle spielen – und zwar nicht nur da, wo wie hier ein quasi-‚mittelalterliches‘ Traditionsbewusstsein zum Ausdruck gebracht wird. Hinzugefügt sei, dass die Bezeichnung als ‚symbolisch‘ den kommunikativen Akt ausdrücklich nicht als ‚nur symbolisch‘ klassifiziert, im Gegenteil: Die symbolische Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass sie dem durch sie Bedeuteten Geltung verleiht. Fraglich ist im Fall der öffentlichen Vorlesung eben nur, was sie bedeutet und was sie als geltend hervorhebt. Zu Begriff und Konzept: GERT ALTHOFF, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien XXI 1997, S. 370–389, hier S. 373. In der Jenaer Habilitationsordnung spiegelt sich dieser Umstand darin, dass für das Verfahren B (Philosophische Fakultät) zwar angegeben wird, dass, nicht aber, warum der Habilitand eine öffentliche Vorlesung halten – 11 –
Was also besagt der Gestus, an dem wir alle gerade teilhaben? Er richtet sich, wie mir scheint, zuerst und vor allem auf die institutionell gestützte Erzeugung einer Prätention – und zwar einer höchst prekären. Schaut her, so will er signalisieren, hier steht einerseits die Vorlesende am professoralen Rednerpult, da sitzen andererseits die Professoren der Fakultät, in aller Öffentlichkeit, wissbegierig und andächtig lauschend. Das bedeutet: Die Vorlesende erhebt den Anspruch, das Katheder von nun an selbständig betreten zu dürfen, und die Anwesenden verschaffen diesem Anspruch durch ihre Präsenz Geltung. Indem sie also den Habitus billigend zur Kenntnis nehmen, habilitieren sie die Vorlesende, erkennen sie sie als Gleiche unter Gleichen, als Professorin unter Professoren an – oder doch zumindest als zur Gleichheit in der professoralen Lehre befähigt.6 Genau in dieser Einschränkung, in der subtilen Differenz, die zwischen der Anerkennung des Status und der Anerkennung der Tätigkeit besteht, liegt nun freilich das Prekäre
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muss (wie Anm. 2, § 24 Abs. 1). Das Schweigen in diesem Punkt ist bezeichnend. Es steht für die Aporie, die zwangsläufig folgt, wenn der öffentlichen Vorlesung der einzige Zweck, den sie ursprünglich erfüllte, entzogen wird, sprich, wenn sie keine Aufnahme in den Lehrkörper der Fakultät mehr vollzieht (vgl. Anm. 1). Genau das ist aber in Jena der Fall, wo man qua venia legendi nicht zum Mitglied der Fakultät wird (laut § 20 Abs. 1 der Grundordnung der Friedrich Schiller Universität Jena vom 18. Juli 2007). Die folgenden Überlegungen gehen von dieser Situation aus und versuchen die Frage zu beantworten, welche symbolische Botschaft von einem Verfahren ausgeht, das eine de facto nicht stattfindende Aufnahme lediglich simuliert. Das mittellateinische Verb habilitare (‚geschickt machen‘, ‚befähigen‘) geht über habilis (‚leicht zu handhaben‘, ‚fähig‘, ‚tauglich’) auf habere (‚haben‘, ‚beherrschen‘, ‚an sich tragen‘) zurück und damit auf dieselbe Wurzel wie der Habitus, vgl. FRIEDRICH KLUGE, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl. bearb. v. ELMAR SEEBOLD, Berlin/New York 1989, S. 284. Die Tauglichkeit zeigt sich also im Verhalten; darin, dass die Vorlesende ihr Metier für alle sichtbar beherrscht: Dafür wird sie mit Verleihung der Habilitationsurkunde ‚befähigt‘. – 12 –
des Gestus. Denn sie sorgt dafür, dass der feierliche Akt des öffentlichen Vorlesens letzten Endes genau das nicht ist, was er zu sein vorgibt. Anders als er es zu signalisieren scheint – und auch anders als er ursprünglich einmal gemeint war –, vollzieht er nämlich keine Inkorporation: Die Vorlesende wird nicht in den Kreis der Professoren aufgenommen, auch nicht in den der Hochschullehrer, ja sie wird, zumindest in Jena, noch nicht einmal Mitglied der Fakultät.7 Gleichsam als Trostpreis darf sie in Gestalt der venia legendi lediglich einige Lehr- und Prüfungsrechte der Fakultät mit hinaus ins tägliche Leben nehmen8 – 7
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Vgl. dazu Anm. 1 und 5. Die Jenaer Regelung ist hier besonders rigide: So ist etwa in Bayern mit der Habilitation zumindest die Stellung eines Mitglieds der Hochschule verbunden. – Hier geht die Anerkennung der Tätigkeit also noch mit einem Statusgewinn einher, wird die symbolisch kommunizierte Gleichheit tatsächlich in irgendeiner Weise hergestellt. Freilich ist auch sie bestenfalls eine bedingte, denn sie bezieht sich ausschließlich auf die freie Körperschaft der qualifiziert Lehrenden und nicht auf die Gemeinschaft der staatlich verpflichteten Hochschullehrer. Aus dieser aber ist der Privatdozent von vornherein ausgeschlossen: § 36 Abs. 1 des Hochschulrahmengesetzes besagt, dass Mitglieder der Universität, die „nicht nur vorübergehend oder gastweise hauptberuflich Tätigen und die eingeschriebenen Studierenden“ sind, von den Dozenten also nur diejenigen, die für eine Tätigkeit, die den überwiegenden Teil ihrer Arbeitskraft beansprucht, von der Institution bezahlt werden (http://www. gesetze-im-internet.de/hrg/). Dass die Mitgliedschaft anderer Gruppen von der Hochschule eigenständig geregelt werden kann, fällt unter dieser Prämisse kaum ins Gewicht, denn der Privatdozent kann nun nur noch Mitglied mit besonderem Status sein: Um seine Gleichheit ist es damit getan. Dass dergestalt „die dienstrechtliche Funktion des habilitierten Beamten oder Angestellten Vorrang vor seiner wissenschaftlichen Qualifikation hat,“ wird übrigens „im Schrifttum als verfassungswidrig beanstandet“, H. EVERS, Lehrbefähigung (wie Anm. 1), S. 467. In der Satzung firmiert das Lehrrecht freilich nur als Pflicht (wie Anm. 2, § 28 Abs. 3). Ähnlich problematisch stellt sich das mit der venia legendi verbundene Promotionsrecht dar. Die Promotionsordnung der Philosophischen Fakultät der FSU Jena gesteht dieses dem Privatdozenten nämlich nur dann uneingeschränkt zu, wenn er Mitglied der Fakultät, also hauptberuflich in ihr tätig ist; andernfalls bedarf er der besonderen Er– 13 –
verbunden mit dem Privileg natürlich, den eigenen Namen fortan mit einem Titel schmücken zu dürfen, der nicht mehr und nicht weniger als das Abzeichen der ihn begründenden prekären Prätention ist. Dass mit dem ‚PD‘ – anders als mit dem ‚Dr.‘ – wenig Staat zu machen ist, hat nämlich seinen guten Grund. Ihn zu führen bringt nicht nur deshalb relativ wenig, weil er bei weitem nicht so verbreitet und darum viel weniger bekannt ist, sondern auch deshalb, weil es sich bei ihm nicht um einen akademischen Grad, sondern bloß um eine Funktionsbezeichnung handelt9 – um eine Funktionsbezeichnung, die überdies ganz offenkundig vornehmlich als Platzhalterin dient: Sie tritt für die vier Buchstaben ein, die da eigentlich stehen sollten und deren Erwerb der Habilitandin durch den Akt der öffentlichen Habilitationsvorlesung in besonderer Weise zur Aufgabe gemacht wird.10 laubnis des Fakultätsrats (§ 5 Abs. 2 und 4 der Fassung vom 6. November 2009, http://www.gw.uni-jena.de/promotionhabilitation.html). Auch hier also der als „verfassungswidrig beanstandete“ Vorrang des Dienstverhältnisses vor der wissenschaftlichen Qualifikation (vgl. Anm. 7). 9 Mit der schon bekannten Begründung: Die Verleihung der Lehrbefugnis ist keine Abschlussprüfung, sondern Eingliederung in den Lehrkörper der Fakultät. Inwiefern mit dem Verzicht auf diese Eingliederung auch der Titel – und mit ihm die Verleihung der venia legendi – in Frage steht, bleibt dabei offen. Wenn man den faktischen Ist-Zustand konsequent berücksichtigte, müsste man wohl beides abschaffen. Was dann bliebe, wäre das (in Thüringen) mit der Lehrbefähigung erhaltene Recht, den Titel des Dr. habil. zu führen. Ob dieses den Aufwand der jahrelangen Qualifikation noch lohnte, mag freilich bezweifelt werden: Historisch gesehen bezeichnet der Dr. habil. nur den Doktor, der sich durch seine Lehrberechtigung von den anderen Doktoren abhebt – also eine institutionelle (und didaktische) Funktion, keine wissenschaftliche Leistung. Vgl. dazu ULRICH KARPEN, Art. Akademische Grade, Titel, Würden, in: Handbuch des Wissenschaftsrechts I (wie Anm. 1), S. 854–875, bes. S. 861. 10 Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil die Habilitandin erst mit der Berufung zur Professorin tatsächlich in die Hochschullehrerschaft aufgenommen werden wird. Auch hier tritt also das Moment der Simulation in den Vordergrund, dessen unverkennbar beschwörender Gestus jetzt fast schon in – 14 –
Was genau den Gestus der Vorlesung so schwer greifbar und darum so merkwürdig werden lässt, liegt damit klar zutage: Indem er prätendierend simuliert, was künftig sein soll, gibt er seiner Protagonistin einen symbolischen Kredit – einen Kredit, der ihr durch sein prekäres Abzeichen freilich zugleich zur ganz realen Hypothek wird. Oder, wie man vielleicht auch sagen könnte, er zelebriert eine Investitur mit des Kaisers neuen Kleidern, wobei er den imaginären Talar, den er der Vorlesenden verleiht, deutlich als solchen markiert und mit der Aufforderung versieht, dass sie das reale Schneidergeschäft doch bitteschön selbst erledigen möge. Dass diese Einsicht die Erfüllung der mir obliegenden Pflicht nicht unbedingt einfacher macht, ist unschwer zu sehen. Denn wie den Lufttalar mit Haltung tragen, wenn man noch nicht einmal erwarten darf, dass das Publikum ihn für echt halten wird? Wie die Vorlesung mit einem Inhalt füllen, der den ihr eigenen Gestus ins rechte Licht rückt, ohne dabei weder ihren prätendierenden noch ihren prekären Anteil zu sehr in den Vordergrund zu rücken? Ich versuche das Problem in der Weise zu lösen, die meinem Fachgebiet11 die wohl naheliegendste ist – dadurch nämlich, dass ich den Blick in die Vergangenheit richte und versuche, von den Alten, oder besser, den Mittelalten zu lernen, was in einer solchen Situation am besten zu tun ist.
den Bereich des mythischen Denkens verweist: Es scheint, als solle das Unverfügbar-Zukünftige durch Imitation herbeigerufen werden. Man könnte in diesem Sinne vielleicht sagen, dass die öffentliche Vorlesung in dem Maße, in dem sie ihres ursprünglich statuskonstituierenden Zwecks beraubt wird, unweigerlich das Ansehen einer magischen Praxis gewinnt. 11 Das mit der Vorlesung abgeschlossene Habilitationsverfahren galt dem Erwerb von Lehrbefähigung und Lehrbefugnis im Fachgebiet der germanistischen Mediävistik. – 15 –
2. Helius Eobanus Hessus Auf der Suche nach einem würdigen Lehrmeister musste ich mich nicht weit umsehen. Fündig wurde ich ganz in der Nähe; im Erfurt der Frühen Neuzeit. Dort ließ sich vor ziemlich genau 500 Jahren – im August 1514 – ein junger Akademiker nieder, dessen Lebenslage nicht allein der eines angehenden Privatdozenten von heute auffallend glich, sondern der es aus dieser Situation heraus auch schaffte, einen merkwürdigen Gebrauch des akademischen Betriebs seiner Zeit für die Vermittlung seines Statusanspruchs einzuspannen.12 Da die Epoche der Frühen Neuzeit und insbesondere die der neulateinischen Dichtung des deutschen Humanismus dem Geisteswissenschaftler des frühen 21. Jahrhunderts nicht mehr so ohne weiteres geläufig zu sein pflegt, seien die wichtigsten Daten aus dem Leben des jungen Erfurter Akademikers zuerst umrisshaft skizziert.13 12 Dass es sich bei diesem Gebrauch gleichfalls um eine Form der Disputation handelt, spiegelt die Bedeutung, die diesem „Leitmedium universitärer Wissenskultur“, vgl. M. GINDHART/U. KUNDERT (Hrsg.), Disputatio (wie Anm. 1), in der Geschichte der europäischen Universität zukommt und die auch dadurch nicht gemindert wird, dass seine Pflege offenbar schon vor 500 Jahren merkwürdig wirkte: Hier zeigt sich die Kraft einer Tradition, die über alle Umbrüche hinweg als bewahrenswert angesehen und darum immer wieder in neue Funktionszusammenhänge eingebettet wurde. Die ironische Distanzierung ordnet sich hier ohne weiteres ein: Sie hält die Tradition lebendig, indem sie sich an ihr abarbeitet. 13 Meine Darstellung basiert auf der materialreichen und noch immer maßgeblichen Monographie von CARL KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Cultur- und Gelehrtengeschichte des 16. Jahrhunderts, 2 Bde., Gotha 1879. Einen fundierten Überblick mit aktueller Forschung bieten GERLINDE HUBER-REBENICH/SABINE LÜTKEMEYER, Art. Hessus (Koch, Coci), Helius Eobanus, in: Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon I, Sp. 1066–1122. Überaus instruktiv sind auch die biographischen Notizen in VREDEVELDS Gesamtausgabe (wie Anm. 16 und 40). Eher populärwissenschaftlich angelegt: INGEBORG – 16 –
Die literaturhistorische Kurzdarstellung liest sich wie eine ungetrübte Erfolgsgeschichte. Helius Eobanus Hessus wird wohl im Januar des Jahres 1488 unter dem Namen Eoban Koch in einem nicht näher bekannten hessischen Dorf geboren.14 Als Kind armer Eltern muss er seine Begabung früh zu erkennen gegeben haben, denn er wird von seinen Lehrern ohne Umschweife für die Laufbahn des Gelehrten bestimmt. Von der elementaren Unterweisung an der Klosterschule des Dörfchens Haina führt sein Weg über weiterbildende Schulen in Gemünden und Frankenberg an die damals blühende Universität Erfurt. Dort immatrikuliert er sich im Herbst 1504, im Alter von 16 Jahren, um sein Leben von nun an dem Studium der bonae artes zu widmen.15 GRÄßER-EBERBACH, Helius Eobanus Hessus. Der Poet des Erfurter Humanistenkreises, Erfurt 1993, KARL-HEINZ HARTMANN, Helius Eobanus Hessus: Dichterkönig; Haupt des Erfurter Humanistenkreises und Sohn des Frankenberger Landes, Frankenberger Hefte XII, Frankenberg 2013. 14 Vgl. dazu die Spekulation der Biographen: C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm.13), S. 3–14, K. HARTMANN, Helius Eobanus Hessus. Dichterkönig (wie Anm. 13), S. 14–18. Die Unsicherheit dieser Angaben ist im Zusammenhang meiner Überlegungen interessant, weil sie aus einer Selbstdarstellung resultiert, die ganz wesentlich von der im Folgenden herauszuarbeitenden Neigung zum Selbstlob geprägt ist. So verschweigt Eoban da, wo er über sich selbst spricht (‚Eobanus Posteritati‘, vgl. Anm. 16), den Namen seines bäuerlichen Vaters, verschleiert, indem er sich zu einem Sohn der Stadt Frankenberg macht, die Herkunft aus einem kleinen Weiler (Bockendorf oder Halgenhausen) und macht sich mit der Angabe von Geburtstag (6. Januar) sowie -stunde (im Zeichen der aufgehenden Leier) nicht nur zum Sonntagskind, sondern auch zum geborenen Poeten. Ausführlich dazu KARL A. E. ENENKEL, Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius, Berlin/New York 2008, S. 429–449. 15 Seine Fakultät ist also die der Poeten und Humanisten: Es ist die den artes liberales geweihte Philosophische Fakultät – und wird es auch bleiben: Anders als viele andere Humanisten wird Eoban Zeit seines Lebens nur halbherzige Versuche unternehmen, sich zum Zweck des Broterwerbs in einer anderen Fakultät zu qualifizieren (vgl. unten, Anm. 25). – 17 –
Dass er in Erfurt schon bald Aufsehen erregt, ist anzunehmen: Er erwirbt nicht nur innerhalb kürzester Zeit den Titel des Bakkalaureus (1506) und den des Magisters (1509), sondern tritt auch bereits 1506, also gerade 18jährig, mit der Publikation von Dichtungen hervor, denen die Kenner ihre Bewunderung nicht versagen. Namentlich veranlassen sie keinen Geringeren als das Oberhaupt des ansässigen Humanistenkreises, den Gothaer Kanoniker Conradus Mutianus Rufus, zu einem Ausspruch, den Eoban wenig später mit Stolz zitieren wird. „Hesse puer“, so Mutian, „sacri gloria fontis eris“16 – zu Deutsch: „Hessischer Knabe, der Ruhm wirst du sein des heiligen Quells“.17 Und der dergestalt Emporgehobene zögert nicht, die Prophezeiung wahr werden zu lassen. Noch im Jahr seines Magisterexamens (1509) betritt er mit der Publikation des ‚Bucolicon‘ „zum ersten Male die Laufbahn eines Poeten vom Fach und zwar mit einer Gattung [nämlich der der vergilischen Eklogen, CK], die er sich rühmen durfte, in den deutschen Parnass eingeführt zu haben.“18 Eine weitere Pionierleistung begründet fünf 16 C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 40f. zitiert den Vers (mitsamt der ihn rahmenden, preisenden Elegie) aus einem Brief, den Mutian „augenscheinlich im Herbst 1506“ an Eoban sendet. Eoban gibt die Äußerung im autobiographischen Widmungsbrief seines ersten Hauptwerks, den ‚Heroidum Christianarum Epistolae‘ wörtlich wieder: Eobanus Posteritati, in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus. Edited, Translated, and Annotaded by HARRY VREDEVELD II: Journeyman Years, 1509–1514, Medieval and Renaissance Texts and Studies CCCXXXIII, Tempe 2008, S. 422–431, hier v. 104. 17 Gemeint ist natürlich Hippokrene, die zum Dichten begeisternde, Apollo und den Musen heilige Quelle, die dem Zeugnis Hesiods zufolge unterhalb des Helikon entspringt. 18 C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 79. Eoban lässt es sich nicht nehmen, seine Leser schon auf dem Titelblatt auf seine Leistung hinzuweisen: „Primus Teutonico paui pecus orbe Latinum, Siue ea fama aliquid, siue ea fama nihil.“ Diese an sich schon wenig bescheidene Aussage ist indes nichts gegen den Anspruch, den er im ‚Bucolicon‘ selbst vermittelt. Denn dort verbindet er die Idee der – 18 –
Jahre später seinen bleibenden Dichterruhm: Die ‚Heroidum Christianarum Epistolae‘ (1514), in denen Eoban biblische und legendarische Frauengestalten in die antike Gattung der Heroiden einführt, rufen bei seinen Zeitgenossen einen wahren Sturm der Begeisterung hervor und gelten bis heute als Werk von literarhistorischem Rang.19 Dasselbe kann man zwar nicht von allen Schriften sagen, die in den nächsten 26 Jahren folgen, doch bringt Eoban neben den für seine Zeit typischen Lob- und Gelegenheitsgedichten20 immer wieder Bleibendes und Erinnerungswürdiges hervor. So fasst er etwa den biblischen Psalter in lateinische Verse und liefert als erster neuzeitlicher Dichter eine lateinische Versübertragung der gesamten homerischen ‚Ilias‘.21 Translatio lateinischer Bukolik nach Deutschland mit dem doppelt kühnen Anliegen, nicht nur seinen italienischen Vorläufer auf diesem Gebiet, Baptista Mantuanus, sondern sogar Vergil selbst zu überbieten. Vgl. dazu die erhellende Analyse von GERNOT MICHAEL MÜLLER, Poetische Standortsuche und Überbietungsanspruch – Strategien der Gattungskonstitution im ‚Bucolicon‘ des Helius Eobanus Hessus zwischen intertextueller Anspielung und autobiographischer Inszenierung, in: REINHOLD F. GLEI/ ROBERT SEIDEL (Hrsg.), ‚Parodia‘ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit, Frühe Neuzeit CXX, Tübingen 2006, S. 111–170, Eobans Titelepigramm ebd. S. 113. 19 Dies weniger, weil sie noch immer gelesen würden, als vielmehr, weil sie die Gattung des Heroidenbriefs als eine spezifisch christliche wiederbzw. neubegründeten. Zur Einordnung in die europäische Tradition: HEINRICH DÖRRIE, Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968, bes. S. 363– 427. Zuletzt zum Thema: JOST EICKMEYER, Der jesuitische Heroidenbrief. Zur Christianisierung und Kontextualisierung einer antiken Gattung in der Frühen Neuzeit, Frühe Neuzeit CLXII, Berlin/New York 2012. 20 Besondere Erwähnung verdienen hier vielleicht das 1532 publizierte Lob der Stadt Nürnberg (‚Noriberga illustrata‘) sowie die Epicedien auf verschiedene Größen der Zeit (1531). Vgl. zu ersterem CARLA MEYER, Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500, MittelalterForschungen XXVI, Ostfildern 2009, S. 313–319. 21 Erste Psalmenparaphrasen ab 1527; die vollständige Psalterübertragung (‚Psalterium universum‘) erschien 1537. Die Übertragung der ‚Ilias‘ ist – 19 –
Als er 1540 im Alter von 52 Jahren stirbt, ist er der unangefochtene rex poetarum,22 der König unter den Dichtern seiner Zeit.23 Freilich bedeutet der König der Dichter zu sein, nicht unbedingt, auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Und weil Eoban für diese Weisheit geradezu ein Exempel statuiert, kann man seine Geschichte auch ganz anders erzählen: als die Geschichte eines Mannes, dem es Zeit seines Lebens nicht gelang, sein literarisches Schaffen materiell abzusichern; als die Geschichte eines ständigen Kampfes ums Überleben sowie der permanenten Suche nach neuen Gönnern und auskömmlichen Stellen. In dieser Geschichte ist Eobans Rückkehr nach Erfurt der Beginn einer mühsam voranschreitenden und in ihren Anstrengungen immer wieder scheiternden akademischen Karriere, die erste Station einer langen Wanderschaft von einer Universität, von einer Schule zur anderen. Der gefeierte Dichter und Humanist ist zwar bei seinen Studenten sehr beliebt und überall Eobans letztes Werk, sie erschien postum 1540. Zur Datierung der genannten Werke: G. HUBER-REBENICH/S. LÜTKEMEYER, Art. Hessus (wie Anm. 13); zur literarhistorischen Bedeutung ebd. Sp. 1116–1118. 22 Der Königstitel geht auf Reuchlin zurück, der den Namen Hessus in einem Brief an Eoban (vom 26. Oktober 1514) nach dem griechischen έσσήν (‚König‘) umdeutete, dazu C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 144f., G. HUBER-REBENICH/ S. LÜTKEMEYER, Art. Hessus (wie Anm. 13), Sp. 1116. Da die Schmeichelei gewiss unter dem Eindruck der jüngst erschienenen Heroiden entsteht, darf man vielleicht einen Zusammenhang mit dem Dreikönigstag vermuten, den Eoban dort als seinen Geburtstag angibt, vgl. Eobanus Posteritati, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 16), v. 62. 23 Seine Bedeutung lässt sich an den Reaktionen auf seinen Tod ermessen. Die Marburger Freunde und Kollegen publizierten noch 1540 eine umfangreiche Sammlung von Nachrufen. Weitere Nachrufe verfassten Jacobus Micyllus (1542) und Joachim Camerarius, dessen Gedenkschrift auf Eoban (1553) zugleich eine der wichtigsten biographischen Quellen ist (vgl. unten Anm. 37). Dazu G. HUBER-REBENICH/S. LÜTKEMEYER, Art. Hessus (wie Anm. 13), Sp. 1117f. – 20 –
gern gesehen; zugleich aber hat er es mit einer Institution zu tun, die dem Sprachstudium insgesamt wenig aufgeschlossen und kaum daran interessiert ist, ihn für seine Lehrtätigkeit angemessen zu bezahlen.24 Die Unsicherheit der Zeitläufte – die immer wieder grassierende Pest spielt hier ebenso eine Rolle wie der Strukturwandel der deutschen Hochschullandschaft im Zuge der Reformation – tut ihr Übriges. So kommt es, dass sich Eobans kümmerliche Lebensgrundlage in Erfurt, kaum dass er sie geschaffen hat, schon wieder zerschlägt.25 1526 geht er deshalb als Gymnasiallehrer nach Nürnberg, von wo er jedoch 1533 enttäuscht wieder nach Erfurt zurückkehrt – nur um dort dieselben desolaten Zustände vorzufinden, derentwegen er die Stadt verlassen hatte. Erst drei Jahre später wendet sich das Blatt für ihn zum Besseren: 1536 folgt endlich der ersehnte Ruf auf einen gut dotierten Lehrstuhl in Marburg. Dort erfüllt sich auch der lang gehegte Wunsch nach einem eigenen Haus mit 24 Krauses Darstellung zufolge ist dafür nicht nur die Reserve der scholastischen Kollegen gegen den Humanismus verantwortlich, sondern auch die Geringschätzung der höheren Fakultäten gegenüber den ‚trivialen‘ Studien der Artes-Fakultät. Dazu passt, dass es im Erfurt des frühen 16. Jahrhunderts „gar keinen festbesoldeten Lehrstuhl für die Humaniora [also für lateinische Grammatik und Rhetorik, CK] gab“, vgl. C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm.13), S. 155. 25 Eoban hatte hier seit 1517 oder 1518 eine besoldete Stelle inne, die man heute wohl als die einer Lehrkraft für besondere Aufgaben oder eines außerplanmäßigen Professors bezeichnen würde: Ohne ein ordentliches Mitglied der Universität zu sein, empfing er „seinen Gehalt […] teils von der Facultät, die ihren eigenen vom Decan verwalteten Fond besaß, teils vom städtischen Magistrate, nach vorgängigem Uebereinkommen für diese oder jene gewünschte Vorlesung“, ebd. S. 221f. Als zu Beginn der 20er Jahre die Studentenzahlen zurückgingen und der städtische Friede in Folge der Reformation mehr und mehr gestört wurde, blieben Eobans Einkünfte weitgehend aus. Sein Plan, sich durch ein Medizinstudium den Broterwerb zu sichern, scheiterte: Einziger Ertrag war ein (medizinisches) Gedicht (‚Bonae valetudinis conservandae praecepta‘, 1524). C. KRAUSE, ebd. S. 389 vermerkt lakonisch: Eoban „blieb eben der Poet“. – 21 –
Garten – freilich so, dass der schwerkranke Dichter nichts mehr davon hat. Die Schenkung des Landgrafen von Hessen datiert auf den 30. September 1540, vier Tage vor Eobans Tod.26 All das liegt für den 26-jährigen, als er im August 1514 in Erfurt eintrifft, natürlich noch im Schatten ferner Zukunft. Dennoch darf man Eobans Rückkehr in die Stadt seines Studiums wohl als den Punkt bezeichnen, an dem er seinen Lebensweg bewusst und in Kenntnis der damit verbundenen Risiken in die Richtung des eben Geschilderten lenkt. Denn als er Erfurt fünf Jahre zuvor als frisch graduierter Magister verließ, hatten ihm noch alle Möglichkeiten offen gestanden – Möglichkeiten, die sich für ihn am Hof des Bischofs Hiob von Dobeneck in glänzender Weise entfalten sollten. Begeistert von seinem eloquenten Kanzlisten wollte der vom preußischen Riesenburg aus viel und weit umherreisende Bischof27 ihn nämlich zum hohen Diplomaten machen und schickte ihn darum im Frühjahr 1513 zum weiteren Studium der Rechte nach Frankfurt an der Oder. Allein, der sich zum Dichter berufen Fühlende war nicht gesonnen,28 26 Vgl. C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke II (wie Anm.13), S. 255–259. 27 Hiob residierte von 1501 bis 1521 in Riesenburg bei Danzig, sein Bistum Pomesanien war seit 1285 dem Deutschen Orden inkorporiert. Hiob wurde vom Ordensmeister mehrfach mit wichtigen Gesandtschaften beauftragt; eine davon führte ihn nach Sachsen, wo er wohl Eoban kennenlernte. Bei einer weiteren u. a. nach Krakau (1512) nahm er ihn mit, vgl. C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 92–109. Dass die preußische Zeit (nicht zuletzt wegen der Begegnung mit den Trinkgewohnheiten des deutschen Nordens) für Eoban prägend war, weiß schon sein erster Biograph anschaulich zu schildern (s. u., S. 25f. mit Anm. 37 und 38). 28 Wann Eoban sich entschloss, den bischöflichen Dienst zu quittieren, ist nicht ganz klar. Unzufriedenheit über das Hofleben äußerte er schon vor seiner Abreise nach Frankfurt, gleichwohl trat er noch lange im roten Talar des Höflings auf. Wahrscheinlich ist, dass er sich die Rückkehr nach Riesenburg als Option offenhielt, während er an einer der heimatlichen Universitäten Fuß zu fassen suchte, vgl. dazu H. VREDEVELDs Kommen– 22 –
verkaufte die juristischen Lehrbücher, suchte ein Auskommen als akademischer Lehrer der Artistenfakultät und kam im Zuge dessen über Leipzig29 wieder nach Erfurt, wo er, wie sein Biograph Carl Krause vermerkt, nach der Publikation seiner Heroiden „[hoffen] durfte […], die Anerkennung zu finden, die ihm früher versagt worden war.“30 Doch damit nicht genug: Der auf eine Professur spekulierende Dichter entlief nicht nur seinem klerikalen Gönner, er setzt in Erfurt auch etwas ins Werk, das, wie seine Freunde mit Entsetzen vermerken, seine ohnehin bedrängte wirtschaftliche Lage endgültig ins Katastrophale wendet: Noch zum Ende des Jahres führt er die weder schöne noch gebildete, vor allem aber weitgehend mittellose Erfurterin Catharina Spater vor den Traualtar.31 Da haben wir sie also, die Situation des angehenden Privatdozenten von heute: Bekränzt mit dem Lorbeer weithin gerühmter Leistung, ohne echte Alternative zur angestrebten Karriere und in völliger Ungewissheit seines weiteren finanziellen Auskommens sitzt der junge Ehemann in Erwartung der künftigen
tar in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus II (wie Anm. 16), S. 103f. Dass er die akademische Laufbahn wählte, obwohl ihm das nicht gelang, lässt seine Entscheidung umso schwerwiegender erscheinen. 29 Allem Anschein nach hatte er Frankfurt wegen einer Rechtsstreitigkeit verlassen müssen und suchte darum in Leipzig sein Glück, wo er auf den Widerstand der antihumanistischen Universitätslehrerschaft stieß. Erst als abzusehen war, dass seine Bemühungen dort fruchtlos bleiben würden, gab er die Heroiden in den Druck, in der Hoffnung, damit in Erfurt voranzukommen. So H. VREDEVELD, in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus II (wie Anm. 16), S. 48f. und 105f. 30 C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 135. 31 Vor allem Mutian hatte von dieser Verbindung abgeraten und die Möglichkeit einer lukrativeren Ehe ins Auge gefasst. Eoban dagegen hatte seine Wahl längst getroffen: Offenbar folgte er auch in diesem Punkt allein seiner Neigung. C. KRAUSE fasst die erhaltenen Briefe ebd. S. 139– 142 einschlägig zitierend zusammen. – 23 –
Kinderschar32 im Hause seines unleidlichen Schwiegervaters33 und muss zum Schaden für den Spott seiner Humanistenfreunde nicht sorgen. An den „Schwiegersohn des alten Krachers in der Engelsburg“, so lautet etwa die Adresse eines der Briefe, die ihn in dieser Zeit erreichen, oder: An „Eoban, der glücklich wäre, wenn er kein Weib hätte.“34 ‚Und‘, so werden Sie sich jetzt gewiss fragen, ‚wie kommt Eoban damit zurecht?‘ Die Antwort lautet: Erstaunlicherweise ziemlich gut; und dass dem so ist, liegt nicht zuletzt daran, dass er sein von Natur aus heiteres Gemüt durch zwei ebenso stimmungshebende wie selbstversichernde Hilfsmittel aufzuhellen weiß: das Selbstlob und den Alkohol. Ich versage es mir, hier ausführlicher auf Passagen seines Werks einzugehen, in denen er den Leser höchst unverblümt auf die eigenen dichterischen Fähigkeiten, den eigenen Ruhm und nicht zuletzt die eigenen körperlichen Vorzüge hinweist.35 Ich versage es mir ferner, die 32 Zwischen 1520 und 1532 ist die Geburt von sieben Kindern belegt. Dass Eoban ihnen außer den klangvollen Namen Hieronymus, Julius, Heliodorus, Kallimachos, Anastasius und Norica nicht viel mit auf den Weg geben konnte, braucht kaum gesagt zu werden. Was über sie bekannt ist, sammelt K. HARTMANN, Helius Eobanus Hessus. Dichterkönig (wie Anm. 13), S. 111f. 33 Dieses Haus ist die ‚Engelsburg‘, die Eobans Freund und Gönner Georg Sturz der verarmten Familie Spater abkaufte und die bald darauf zum wichtigsten Versammlungsort der Erfurter Humanisten avancierte. 34 „Angelici silicernii genero Eobano amico optatissimo.“ „Eobano fortunato, si uxorem non haberet.“ C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 142 bezeichnet die Adressen als Rache Mutians, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass dieser von Crotus Rubeanus noch überboten worden sei. 35 Am eindrücklichsten ist diese Tendenz in dem bereits mehrfach angeführten Brief Eobans an die Nachwelt. Hier seien zur Illustration wenigstens einige Verse zitiert: „Sponte sua influxit brevibus mihi Musa diebus, Et mihi iam puero non leve nomen erat“: Eobanus Posteritati, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 16), v. 101f. „Corpus erat membrisque decens patiensque laborum, Robore firma suo brachia, crura, latus. Forma virum – 24 –
Vielzahl der Berichte über Eobans Vorliebe für die feuchtfröhliche Geselligkeit im Allgemeinen sowie den Alkohol im Besonderen umfassender zu umreißen. Und nicht zuletzt verzichte ich darauf, die phantasievolle Anmaßung näher zu schildern, in der sich Eoban die poetische Königswürde zu eigen macht; seine Frau zur Königin, die darbenden Kinder zu Prinzen und Prinzessinnen sowie die Freunde zum Gefolge ernennt und mit allen zusammen fröhlich zechend Hof hält.36 Stellvertretend sei hier nur eine Anekdote mitgeteilt, die noch vor Eobans Ankunft in Erfurt, in seine preußischen Wanderjahre, datiert und die sein Freund und Biograph Joachim Camerarius postum erzählt.37 In seiner Zeit am Hof des Bischofs Hiob, so dessen Bericht, war Eobanus […] zufällig bei einem Gastmahl. Dorthin kam auch [ein] andere[r Trinker.] Und er ließ ein großes Holzgefäß hereinbringen, mit dem man Wasser vom Brunnen zu holen pflegt (wir können es, denke ich, einen Eimer nennen), von der Größe, die mindestens sechseinhalb Liter fasst. Dies stellte er, mit Danziger Bier gefüllt, in die Mitte. Und nachdem er einiges vorausgeschickt hatte, was er über Eobanusʼ große Trinkfestigkeit gehört zu haben behauptete, forderte er ihn auf, das Gefäß leerzutrinken und ihm dabei zuzutrinken. Wenn er das vollbringe, werde er ihm decuisse potest, sine labe decensque; Frons diversa, animi spiritus altus erat“, ebd. v. 155–158. K. A. E. ENENKEL, Erfindung des Menschen (wie Anm.14), bes. S. 447–449, belegt, dass diese Selbstdarstellung in einem Bezug zum Vorbild Ovids steht, der sie rechtfertigt, zugleich aber ihren autolaudativen Gestus noch zusätzlich hervorhebt. Auf die ähnlich gerichtete Strategie des ‚Bucolicon‘ habe ich oben verwiesen (Anm. 18). 36 Dazu etwa C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), bes. S. 144f. und S. 259–282. 37 Wie in meiner (auf ein breiteres Publikum zielenden) Vorlesung zitiere ich Camerariusʼ Lebensbeschreibung hier in der Übersetzung Burkards: Joachim Camerarius, Narratio de Helio Eobano Hesso. Comprehendens mentionem de compluribus illius aetatis doctis et eruditis viris (1593). = Das Leben des Dichters Helius Eobanus Hessus mit Erwähnung mehrerer seiner gelehrten und gebildeten Zeitgenossen. Lateinisch und deutsch mit der Übers. von GEORG BURKARD, hrsg. und erl. von GEORG BURKARD und WILHELM KÜHLMANN, Bibliotheca neolatina X, Heidelberg 2003. – 25 –
als Siegespreis einen Ring mit einem wertvollen Edelstein zuerkennen. Und er zog diesen Ring vom Finger und warf ihn in das Gefäß. Eobanus zögerte nicht, hielt auch keine lange Vorrede, das war bei ihm nicht Sitte, ergriff das Gefäß und leerte es in kurzer Zeit. Als er es, wie bei den Trinkgelagen üblich, umdrehte und der Ring auf den Tisch fiel, spendeten ihm alle Beifall, besonders sein Herausforderer, der gab ihm den Ring und sagte, er habe eben etwas Unglaubliches erlebt. Darauf schaute ihn Eobanus mit ziemlich finsterer Miene an, wie er zu tun pflegte, wenn er erregt war, und rief: ‚Wie kommst du dazu zu glauben, daß ich um Lohn trinke?‘ Dann warf er den Ring wieder hin mit den Worten: ‚Behalte deinen Ring und trinke wie ich das Gefäß leer, wie du es versprochen hast!‘ Da fing jener Prahlhans an [zu trinken], konnte aber den Versuch nicht durchhalten und wurde daher von allen ausgelacht. Man ließ ihn im Saal vom Schlaf überwältigt liegen.38
In dieser Anekdote zeigt sich eine Tendenz, die für das Folgende von höchster Relevanz ist. Eoban pflegt das Selbstlob und den Alkohol nämlich offenbar nicht – oder zumindest nicht nur – als alternative Mittel zur Bewältigung akademischer Prekarität. Vielmehr weiß er sie, indem er sie in Wort und Tat pointiert engführt, zu einer prägnanten Einheit zu verbinden. 38 Ebd. S. 56–59: „Aderat forte Eobanus in conviuio. Eodem venit ille quoque. Et iussit intro ferri vas grande ligneum, quo apportari de puteis aqua solet, (nos situlam aut vrnam possumus, vt opinor, nominare) cuius generis minimum capit ad congios duos. Id posuit in medio repletum Gedanensi cereuisia. Ac praefatus quaedam, quae comperisse se diceret de strenua potatione Eobani, petiit vt ebiberet illud vas, sibique propinaret. Hoc si fecisset, praemium se iam ei tribuere annulum cum gemma pretiosa, quem detractum de digito in vas illud abiecit. Eobanus nihil cunctatus, neque multa locutus, non enim solebat, arripit vas, & non longo tempore assumto euacuat bibendo, & quum euerteret, sicut fert mos compotantium decideretque annulus in mensam, applaudere illi omnes, & inprimis prouocator, & annulum donare, ac incredibile se factum cognouisse dicere. Tum Eobanus toruiore vultu, vt consueuerat in commotione, eum intuitus, Quid tu, inquid, me mercede potare censes? ac reiecto ad illum annulo: tuum, inquit, annulum tibi habeto, & idem quod ego feci in vase isto euacuando, vt promisisti, facito. Tum ille ostentator inchoatam rem quum perficere non posset, ab omnibus derisus, & in conuiuio obrutus somno relictus fuit.“ – 26 –
‚Denn seht‘, so die Botschaft von Camerariusʼ Erzählung, ‚was für ein lässiger Kerl dieser Eoban doch ist! Trinkt den Angeber locker unter den Tisch, wirft ihm seine Juwelen vor die Füße, lässt ihn betrunken liegen und geht einfach weg.‘ Ob Eoban sich in der geschilderten Situation tatsächlich so souverän zu präsentieren wusste oder ob er die Geschichte erst später so erzählt hat, ist an dieser Stelle gleichgültig.39 Denn so oder so macht sie den Alkoholkonsum ihres Protagonisten zum Medium des Selbstlobs: Die demonstrativ ausgestellte Alkoholtoleranz des Gewohnheitstrinkers wird zum Erweis seiner geistigen, körperlichen und moralischen Qualität und somit zum Medium eines raffiniert vermittelten Anspruchs auf die Anerkennung umfassender Überlegenheit.
3. ‚De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‘ 3.1. Text und These Wenn ich den Blick nun von diesem Punkt meines biographischen Abrisses aus auf den Text lenke, der im Titel meines Vortrags steht, so hat das seinen guten Sinn. Ich möchte nämlich behaupten, dass die Abhandlung ‚Über die Arten der Betrunkenen und die Vermeidung der Trunkenheit‘40 dieselbe Tendenz auf39 Die Quelle der Anekdote ist nicht auszumachen; sie in Eoban selbst zu suchen scheint aber jedenfalls naheliegend. Camerarius lernte den Dichter 1513 in Leipzig kennen (vgl. ebd. S. 50ff.), zu der Zeit also, als dieser just aus Preußen zurückgekehrt war. Vielleicht geht Camerariusʼ Bericht auf eine Geschichte zurück, die Eoban bei Gelagen seinen Freunden zum Besten gab. Dass er viel und gern von seinen preußischen Erlebnissen erzählte, belegt nicht zuletzt seine Rede über die Trunkenheit. 40 Ich zitiere den Text nach: De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda, in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus. Edited, Translated and Annotated by HARRY VREDEVELD III: King of Poets, 1514–1517, The Renaissance Society of America texts and studies series I, Leiden/Boston – 27 –
weist wie Camerariusʼ Episode – oder, um es in Anlehnung an einen Begriff von André Jolles zu sagen, dass sie ein und derselben Geistesbeschäftigung entspringt.41 Meine These lautet mithin, dass auch diese Abhandlung letztlich auf den rühmenden Erweis von Eobans Trinkfestigkeit zielt, wobei sie dem ephemeren Gestus der Anekdote dadurch den Anspruch besonderer Geltung zu verleihen weiß, dass sie diesen ins Medium des im engeren Sinne Literarischen überträgt. Wenn Eoban für sein Selbstlob eine Gattung von spezifisch akademischem Zuschnitt wählt,42 so bedeutet das zudem nicht mehr und nicht weniger, als dass er damit einen dezidiert akademischen Anspruch anmeldet. – Seine ebrietas-Abhandlung wiese demnach nicht allein den prätendierenden Gestus der modernen Habilitationsvorlesung auf, sondern sie unternähme es darüber hinaus, eine nicht gerade werbewirksame Angewohnheit ihres Autors ins Licht der Exzellenz zu stellen und sie damit sozusagen zu neutralisieren. Das heißt: Der eben nach Erfurt zurückgekehrte Dichter nutzt die Abhandlung als etwas, das man heute als PR2012, S. 175–213 (Einführung) und S. 214–321 (Edition). Vredevelds Ausgabe ersetzt den Abdruck bei FRIEDRICH ZARNCKE, Die deutschen Universitäten im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte und Charakteristik derselben, 1. Beitrag, Leipzig 1857, S. 116–154. 41 Die Geistesbeschäftigung bezeichnet die Art, den Gestus, oder, wie man auch sagen könnte, die Weltauffassung, mit der ein Text seinen Gegenstand zu einem Ganzen mit einer bestimmten Aussagerichtung gestaltet. Anders als Jolles sehe ich diesen Vorgang allerdings weder an ‚Einfache Formen‘ noch überhaupt an Gattungen gebunden: Der Gestus, der einen (narrativ oder erörternd) dargebotenen Gegenstand zum Selbstlob formt, kann sich vielmehr – genauso wie der, der ihn zum Exempel oder zum Streitfall gestaltet – in verschiedenen Gattungen finden. Vgl. ANDRÉ JOLLES, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (1930), Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft XV, 7. Aufl. Tübingen 1999, bes. S. 34–47. 42 Nämlich jene Art der Gegenstandsverhandlung, die im Kontext der zeitgenössischen Quodlibet-Disputation als ‚quaestio minus principalis‘ oder ‚quaestio accesoria‘ bezeichnet wird. Mehr dazu im nächsten Abschnitt. – 28 –
Aktion bezeichnen würde. Er macht darauf aufmerksam, dass er sich, und zwar genau so, wie er ist, ausgezeichnet als Professor der Philosophischen Fakultät eignen würde. Die These, die ich damit aufstelle, ist zugegebenermaßen kühn. Denn abgesehen von Ort und Zeit der Publikation – die Abhandlung wurde 1515 in Erfurt gedruckt43 – scheint auf den ersten Blick nur wenig für und einiges gegen sie zu sprechen. Als Gegenargumente vorzubringen sind vor allem zwei Punkte. Erstens: Die Abhandlung zielt schon im Titel gegen die Trunkenheit. ‚De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‘ steht da. – Wie also, so wird man sogleich zweifelnd fragen, kann eine solche Abhandlung das Selbstlob ihres alkoholaffinen Verfassers verkünden? Und wie kann sie das zweitens tun, wenn sie anonym erscheint, den Namen dieses Verfassers mithin nicht einmal nennt? Es stellt sich damit nicht nur die Frage nach der Zielrichtung des Textes, sondern sogar danach, warum Eoban überhaupt als sein Autor gelten darf.44 43 Und zwar ohne dies und den Namen des Druckers anzugeben: Matthes Maler, bei dem Eoban im Juli desselben Jahres schon sein Gedicht ‚De vera nobilitate‘ publiziert hatte. Die Abhandlung wurde ein Jahr später zweimal nachgedruckt: in Mainz bei Johann Schöffer und in Nürnberg bei Hieronymus Höltzel. Zur Druckgeschichte H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 207–209, zur bemerkenswerten Rezeption des Textes: ebd. S. 210–212. 44 Diese Frage ist es auch, die die Forschung vornehmlich beschäftigt hat und die bis heute nicht endgültig gelöst ist. Für Eobans Autorschaft wurde von der älteren Forschung v. a. die weitgehende Übereinstimmung mit der 1516 unter seinem Namen erscheinenden Elegie ‚De vitanda ebrietateʼ angeführt: So C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 212–214, vgl. ERICH KLEINSCHMIDT, Scherzrede und Narrenthematik im Heidelberger Humanistenkreis um 1500. Mit der Edition zweier Scherzreden des Jodocus Gallus und dem Narrenbrief des Johannes Renatus, in: Euphorion LXXI 1977, S. 47–81, hier S. 52, Anm. 30. Dagegen stellte man das Argument, dass der Redner sich als guter Freund Eobans bezeichnet: so F. ZARNCKE, Universitäten (wie Anm. 40), S. 254 sowie C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie – 29 –
Es ist an dieser Stelle abzusehen, dass es zum Erweis meiner These einer ganzen Reihe weiterführender Überlegungen bedarf. Ich stelle diese Überlegungen hier an, indem ich den Text genauer ins Auge fasse und ihn in seine literarischen Traditionen und zeitgeschichtlichen Kontexte einordne. Dabei möchte ich seinen Charakter als literarisches Vexierbild dadurch erweisen, dass ich ihn gleichsam in Schichten zerlege, ihn also in einem ersten Schritt so darstelle, wie er sich nach außen hin gibt (Abschnitt 3.2.) und dann in zwei weiteren Schritten die Signale aufzeige, mit denen er den äußeren Schein subvertiert (Abschnitt 3.3. und 3.4.). In diesem Unterfangen wird mir die Frage nach dem Autor insofern zum Leitthema, als dieser selbst und seine Aussageabsicht mit jedem Schritt sichtbarer werden. – Ich nehme dem anonymen Sprecher sozusagen nacheinander zwei Masken ab, um zu zeigen, dass sich dahinter genau der Eoban verbirgt, den ich eben vorgestellt habe.45 Anm. 13), S. 214f., und dass dieser zudem als Autor zweier Geleitsprüche auftritt, was seine Autorschaft ausschließe (ebd.). Krause plädiert deshalb für die Hauptautorschaft von Eobans Freund Peter Eberbach (ebd. S. 215), wobei er indes übersieht, dass dieser nicht vor November des Jahres nach Erfurt zurückkehrt und darum als Autor ausscheidet. So auch H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 195. Vredeveld plädiert darum mit neuen Argumenten für Eoban: ebd. S. 191–202. Ihm folgen G. HUBER-REBENICH/S. LÜTKEMEYER, Art. Hessus (wie Anm. 13), Sp. 1083f.; die Gegenposition vertritt JOHANNES KLAUS KIPF, Ludus philosophicus. Zum medialen Status der akademischen Scherzreden des 15. und 16. Jahrhunderts, in: M. GINDHART/U. KUNDERT, Disputatio (wie Anm. 1), S. 203–230, hier S. 221–225. Zu deren Argumentation s. u., wobei ich an einige Bemerkungen meinerseits anknüpfe: CORDULA KROPIK, Helius Eobanus Hessus, ‚De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‘, in: CHRISTOPH FASBENDER (Hrsg.), Conradus Mutianus Rufus und der Humanismus in Erfurt. Katalog zur Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha auf Schloss Friedenstein 21. August bis 1. November 2009, Gotha 2009, S. 101–103. 45 Grundlegend zu den im Folgenden angestellten Beobachtungen zur Funktion und Konzeption von Anonymität und Autorschaft: GERARD GENETTE, – 30 –
3.2. Literarische Tradition: Die akademische Scherzrede Ich beginne mit der Präsentation des Textes selbst. Dieser gibt sich, wie schon gesagt, als Abhandlung ‚Über die Arten der Betrunkenen und die Vermeidung der Trunkenheit‘ und stellt sich damit in eine spezifisch akademische Tradition, genauer: in die Tradition der quodlibetaren Scherzrede.46 Auf dem Titelblatt des Erfurter Drucks von 1515 (Abb. 1) findet sich dazu die detaillierte Auskunft: „Quaestio facetiarum et urbanitatis plena non minus quam pulcherrimis optimorum scriptorum flosculis referta, in conclusione Quodlibeti Erphurdiensis anno Christi M.D.XV circa autumnale equinoctium scholastico more explicata.“ Der Text behauptet also, auf eine Frage zurückzugehen, die im Erfurt des Jahres 1515 um die Zeit der Herbstsonnenwende zum Abschluss des dort abgehaltenen Quodlibets in scholastischer Weise erörtert worden sei. Sein offizieller Ort ist damit die disputatio de quodlibet: eine akademische Schauveranstaltung, die an einer ganzen Reihe von Universitäten alljährlich zu einem festen Termin öffentlich abgehalten wurde.47 Ihr Regelwerk sah Der Name des Autors, in: Ders., Paratexte, mit einem Vorwort von HAWEINRICH aus dem Franz. von DIETER HORNIG, Frankfurt a. M. 1989, S. 41–57. STEPHAN PAPST, Anonymität und Autorschaft. Ein Problemaufriss, in: Ders. (Hrsg.), Anonymität und Autorschaft. Zur Literaturund Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur CXXVI, Berlin/New York 2011, S. 1–34. 46 Grundlegend dazu: E. KLEINSCHMIDT, Scherzrede (wie Anm. 44), J. K. KIPF, Ludus philosophicus (wie Anm. 44). Die Form der akademischen oder quodlibetaren Scherzrede ist von der des Apophtegmatas zu unterscheiden, die FRANK WITTCHOW darlegt: Art. Scherzrede, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft III, Berlin/New York 2003, S. 374f. 47 Oder besser: abgehalten werden sollte, denn de facto kamen diese aufwändigen und unbeliebten Veranstaltungen nicht immer zustande. In den Statuten geregelt werden sie in Prag, Wien, Leipzig, Erfurt, Heidelberg, Köln, Tübingen, Basel; die jüngeren Universitäten Rostock, Greifswald, Ingolstadt, Freiburg, Mainz, Wittenberg und Frankfurt a. d. Oder kennen RALD
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es vor, dass reihum jeder Magister der Philosophischen Fakultät nach allen Regeln der scholastischen Disputationskunst ein Thema zu verhandeln hatte, das ihm zuvor vom Leiter der Veranstaltung, dem Quodlibetar, verordnet worden war.48 Da sich dieser repräsentative Akt je nach Anzahl der vorhandenen Magister über ermüdende Tage, ja Wochen hinziehen konnte, war es an einigen Universitäten üblich geworden, die Teilnehmer mit der Aussicht auf einen oder zwei unterhaltsame Beiträge zum Bleiben zu bewegen.49 Und genau so ein Beitrag will der vorliegende Text sein: eine „quaestio facetiarum et urbanitatis plena“, eine Abhandlung voller Possen und Witz.50 sie dagegen nicht. Vgl. dazu GERHARD KAUFMANN, Geschichte der deutschen Universitäten II, Stuttgart 1896, S. 381–395, Korrekturen und Ergänzungen bei E. KLEINSCHMIDT, Scherzrede (wie Anm. 44), S. 47, mit Anm. 1 und 2. Zum Erfurter Verfahren ERICH KLEINEIDAM, Universitas studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt I: Spätmittelalter 1392–1460, Leipzig 1985, S. 250–255. Über andere Disputationsformen und ihr Verhältnis zur disputatio de quodlibet informiert ebenfalls G. KAUFMANN, S. 369–381, vgl. auch FIDEL RÄDLE, Art. Disputatio, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft I, Berlin/ New York 1997, S. 376–379, OLGA WEIJERS, La ‚disputatio‘ dans les Facultés des arts du Moyen Age, Studia artistarum X, Turnhout 2002. 48 Zum Ablauf G. KAUFMANN, Universitäten (wie Anm. 47), S. 682–687. 49 Dementsprechend standen diese am Ende der Veranstaltung. In den Statuten erwähnt finden sie sich in Wien und Köln, es gab sie aber auch an anderen Universitäten, so besonders in Heidelberg. Vgl. E. KLEINSCHMIDT, Scherzreden (wie Anm. 44), S. 48–52. Ob das in diesem Kontext gewöhnlich ebenfalls genannte Erfurt tatsächlich in diese Reihe zu stellen ist, darf angesichts der Quellenlage bezweifelt werden: Beide hierher verorteten Scherzreden (außer Eobans ebrietas-Abhandlung gehört auch die angeblich 1494 von Johannes Schram gehaltene Rede über das ‚Monopolium der Schweinezunft‘ nach Erfurt) sind schriftlich konzipierte Fiktionen. Vgl. dazu J. K. KIPF, Ludus philosophicus (wie Anm. 44) sowie bes. H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 182–202. 50 Diese Bezeichnung findet sich so nur hier; häufiger ist die (der Institution der Quodlibet-Disputation wohl näherstehende) Benennung der quaestio – 32 –
Dieser Inszenierung entsprechend präsentiert er sich als die bloße Verschriftung eines mündlichen Vortrags, der passgenau auf das eben beschriebene Verfahren zugeschnitten ist. Sein namenloser Sprecher wendet sich zuerst an den Quodlibetarius („humanissime Domine Quodlibetarie“), um diesem zu versichern, dass seine Fähigkeiten für die Beantwortung der ebenso schwierigen wie umfassenden Frage kaum hinreichten.51 Danach fasst er sein Publikum ins Auge, das, wie er betont, nachdem es in den letzten Tagen intensiv mit ernsthaften philosophischen Fragen befasst gewesen sei, gewiss etwas Zerstreuung gebrauchen könne.52 Erst dann widmet er sich dem ihm aufgetragenen Thema, das er im Folgenden in wahrhaft scholastischer Manier abhandelt. Wie es sich für einen geschulten Dialektiker53 gehört, gliedert er seine Rede in drei Hauptkapitel; diesen stellt er je eine These (conclusio) voran, die er dann in je drei bzw. zwei Unterkapiteln (corollaria) in ihrem Für und Wider erörtert. Im Zuge dessen beweist er seine exzellente Beherrschung des gesamten Instrumentariums der scholastischen minus principalis oder accessoria, daneben findet sich die (Fiktivität andeutende) quaestio fabulosa. Vgl. dazu den Überblick von J. K. KIPF, Ludus philosophicus (wie Anm. 44), S. 207f. 51 „Quantum enim mei iuvenilis ingenii capacitate possum consequi, tantae difficultatis et copiae est iamdudum ad me data quaestio, ut non solum meae si quid eruditionis […] tenuitate non possit explicari […].“ Beide Zitate: De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 40), cap. 1.1f. 52 Dabei belegt er den Vorgang bemerkenswerterweise mit der Metapher des philosophischen Turniers: „Consuevit enim huiusmodi ludus philosophicus cum quibusdam iucundissimarum rerum amoenitatibus et dulcibus fabulis interspergi […], quo animi, dies iam aliquot severioribus philosophiae studiis occupati et quasi defessi, reficiantur et in semetipsis revirescant.“ Ebd. cap. 1.7. 53 Die Dialektik wurde mit der im 12. Jahrhundert neu einsetzenden Aristoteles-Rezeption zur maßgeblichen Methode der Scholastik; diese formalisierte sich in der ars disputandi. Grundlegend dazu: MARTIN GRABMANN, Die Geschichte der scholastischen Methode II, Freiburg i. Br. 1911, bes. S. 9–27. – 33 –
Argumentationskunst:54 Er definiert seinen Gegenstand55 und unterzieht ihn, wenn er die Trinker in verschiedene Arten – unanständige Esel, hinterhältige Hunde, dumme Schafe etc. – unterteilt, einer erläuternden distinctio.56 Er untermauert seine Aussagen mit dem Verweis auf antike bzw. christliche Autoritäten und Gesetzestexte,57 belegt sie durch Gleichnisse oder exemplarische Casus58 und zieht zur Beglaubigung die Aussage ehrbarer Augenzeugen heran.59 Dergestalt begründet er erstens, dass die Trunkenheit ein viehisches Vergnügen sei („bestialem esse voluptatem ebrietatis“), zweitens, dass die Italiener den Deutschen ihre Trunksucht zu Recht vorwerfen („Germanis ebrietas ab Italis obiicitur“) und drittens, dass die Trunkenheit ein schändliches Laster und von allen Ständen zu fliehen sei („ebrietatem omnibus statibus esse fugiendam“).60 Die Ankündigung, Scherz mit Ernst und Wahrheit mit Fiktion zu mischen, löst er dadurch ein, dass er die Argumentation konsequent mit den Mitteln von Parodie und Satire entwickelt. So ist schon die Definition der ebrietas zu Beginn als eine Parodie auf Vergils Fama markiert; die Darstellung der viehischen Säufer in der distinctio präsentiert sich als satirische Warnung 54 Da sich die Dialektik als argumentative Auseinandersetzung versteht, fallen ihre Instrumente weitgehend mit denen der rhetorischen Topik zusammen. Ihrer logisch-sprachanalytischen Stoßrichtung gemäß sind (darüber hinaus) Definition und distinctio besonders relevant, vgl. ebd. 55 De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 40), cap. 1.11. 56 Diese ist zugleich der Beleg für die tierische bzw. entmenschlichende Natur der Trunkenheit: ebd. cap. 2–8. 57 Ebd. cap. 2.2, 2.4, 2.7, 2.9, 4.2 u.ö. 58 Ein Gleichnis ist zweifellos das vom ‚verlorenen Säufer‘, ebd. cap. 9.11– 18. Exempel finden sich sowohl historische als auch literarische. Zu ersteren gehören die Verweise auf das Verhalten der Erfurter Studenten, ebd. cap. 9.29, sowie die Berichte über die Trinksitten im deutschen Norden, ebd. cap. 16–18, zu zweiteren die beiden (Schwank-)Erzählungen, ebd. cap. 13f., auf die ich unten im Exkurs noch näher eingehe. 59 Ebd. cap. 16.13. 60 So die Überschriften der drei conclusiones: cap. 2, 12 und 19. – 34 –
vor den Folgen der Trunksucht; die Autoritäten werden entweder unpassend zusammengestellt oder komisch verdreht; und die Exempel sind nicht nur fast durchweg moralisch anstößig, sondern sprengen, wenn sie in Exkurse über verschiedene lokale Trinkgebräuche und einen Katalog von Biersorten ausufern, auch den Rahmen des Themas.61 Hinzu kommen all die anderen Stilmittel, über die die deutsch-lateinische Narrenzunft der frühen Neuzeit verfügt:62 Der Sprecher mischt seine lateinische Rede mit deutschen Passagen, wobei er sich besonders in letzteren mit Genuss in Derbheiten und Obszönitäten ergeht. In dem Zusammenhang zitiert er unter anderem einige Trinklieder und verweist auf volkstümliche Erzählungen wie die vom Schlaraffenland und von Till Eulenspiegel.63 Bei all dem lässt er freilich immer wieder deutlich werden, dass der heitere Tonfall dem Ernst seines Anliegens keinerlei Eintrag tut. So warnt er mehrfach ebenso ausdrücklich wie eindringlich vor den üblen Folgen der Trunksucht. Er bezeichnet sie als aller Laster Anfang, als eine Unsitte, die Männer ihrer kriegerischen Fähigkeiten, Frauen ihrer Tugend, Intellektuelle 61 Vgl. die eben bereits genannten Stellen. Hierzu und zum Folgenden ergänzend die Zusammenstellung H. VREDEVELDs, in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 176f. 62 Umfassend dazu: GÜNTER HESS, Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Dichtung des 16. Jahrhunderts, MTU XLI, München 1971. 63 De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 40), cap. 2.14, 8.15 u.ö. Zur Illustration für Sprachmischung und parodistisches Zitieren wieder nur ein ausgewähltes Beispiel aus dem Kapitel über die Schweine: „Postea vero ipsi […], ad pocula redeunt, cum interim sus aut canis aliquis, quasi ad culinam suorum affinium accedens, ut habetur in Arbore consanguinitatis pecudum et ebriorum rusticorum, linea equinoctiali, in ultimo gradu zodiaci, non procul a centro terrae, iii meyl hynder dem pfingst montag, do die nacktenn frawen lauffen, und haben new peltz an und seyn mit schweynß spissen gegorth, yn der mit, bey dem fawl loch, 1. Narraverunt, ¶ Maximas portiones […]. Authores sunt Ulenspigel, Klyngßoer, Pfarrer vom Kalenberg, etc.“, ebd. cap. 8.14f. – 35 –
ihrer geistigen Kraft und Priester ihrer Würde beraube.64 Am Ende formuliert er den eindeutig paränetischen Appell an sein studentisches Publikum: Es solle sich von der Gesellschaft der Saufbrüder und Tavernengänger fernhalten und statt dessen den Anschluss an anständige und weise Menschen suchen.65 Alles in allem erscheint die anonyme Abhandlung über die Trunkenheit damit auf der ersten Ebene als der unmittelbare schriftliche Niederschlag einer lebendigen akademischen Gepflogenheit. Scherzreden dieser Art in den Druck zu geben, war zwar nicht unbedingt üblich, jedoch hatte es in den vorangehenden Jahrzehnten prominente Vorbilder gegeben. Zu verweisen ist insbesondere auf einige 1489 bzw. 1501 gedruckte Heidelberger Reden, die in ganz ähnlicher Weise im Zeichen der Performanz stehen und die sich gleichfalls dem Anliegen widmen, ein studentisches Publikum in unterhaltsamer Weise von den Lastern des akademischen Lebens fernzuhalten.66 Von dieser Warte aus betrachtet läge es mithin durchaus nahe, den Erfurter Druck als das Zeugnis einer Tendenz anzusehen, die Institution der scholastischen Disputation mit der bei den Humanisten so beliebten Moralsatire zu verbinden.67 64 Vgl. ebd cap. 9.1–10, 12.13, 21.1–11 u.ö. 65 Ebd. cap. 26.4–9. 66 Beide Drucke wurden vom Heidelberger Humanisten Jakob Wimpfeling veranlasst. Auffällig ist, dass er alle Reden unter den Namen ihrer Verfasser publiziert: Bartholomaeus Gribus, ‚Monopolium philosophorum vulgo der Schweinezunfft‘ und Jodocus Gallus, ‚Monopolium et societas vulgo des Lichtschiffs‘ erscheinen 1489 in Straßburg. 1501 folgt der Basler Druck von Jakob Hartlieb, ‚De fide meretricum in suos amatores‘ und Paulus Olearius, ‚De fide concubinarum in sacerdotes‘. Alle Reden sind wohl für den Druck überarbeitet, wurden aber, anders als ‚De generibus ebriosorum‘ nachweislich im Rahmen von Heidelberger Quodlibet-Disputationen gehalten (1478/79, 1489, 1499). Dazu E. KLEINSCHMIDT, Scherzreden und J. K. KIPF, Ludus philosophicus (beide wie Anm. 44), Abdruck bei F. ZARNCKE, Universitäten (wie Anm. 40), S. 51–102. 67 Dazu bes. E. KLEINSCHMIDT, Scherzreden (wie Anm. 44), bes. S. 63–66, der das humanistische Interesse an den Scherzreden begründet und deren – 36 –
3.3. Zeitgeschichtlicher Kontext: Der Erfurter Humanismus und die ‚Epistolae obscurorum virorum‘ Dass es mit dieser Deutung nicht getan ist, bleibt indessen schon dem ersten genaueren Hinsehen nicht verborgen. Der Zweifel des Lesers richtet sich vor allem auf die Anonymität der Rede. Wenn diese nämlich, so der naheliegende Einwand, tatsächlich in der eben beschriebenen Form und Absicht gehalten worden ist, warum verschweigt dann der Druck den Namen ihres Autors? Das erscheint ja insofern gleich zweifach unsinnig, als der Verfasser eines derart löblichen Unternehmens durchaus keine Ursache gehabt hätte, sich zu verstecken – und eben dies nach seinem universitätsöffentlichen Vortrag auch gar nicht mehr möglich gewesen wäre.68 Das Faktum der Anonymität weist demnach darauf hin, dass die Herkunft der Abhandlung aus dem Erfurter Quodlibet fingiert und die Absicht des Mahnens und Besserns zumindest partiell nur vorgeschoben ist. Auf die Frage, was sich dahinter verbergen könnte, wird jeder noch so flüchtige Kenner der literarischen Landschaft des frühen 16. Jahrhunderts schnell eine Antwort vermuten: sobald er nämlich den Blick vom Titelblatt hin zu den nachfolgenden Geleitversen schweifen lässt (Abb. 2 und 3). Denn diese stammen durchweg von Erfurter Humanisten;69 und das ist nicht nur geistigen Zusammenhang mit Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘ herausstellt. Ähnlich G. HESS, Narrenzunft (wie Anm. 62), bes. S. 177–206. 68 Das zweite Argument führt schon C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 214–216 an, allerdings ohne den Vortrag (seiner Ansicht nach durch Peter Eberbach) beim Quodlibet darum gänzlich auszuschließen. Dies tun mit Verweis auf die Anonymität der Rede erst H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 191f. und G. HUBER-REBENICH/S. LÜTKEMEYER, Art. Hessus (wie Anm. 13), Sp. 1083. 69 Genauer: von Erfurter Akademikern, die dem humanistischen Kreis um Mutianus Rufus und Eobanus Hessus nahestehen. Zu diesem Kreis im – 37 –
insofern bemerkenswert, als sich damit ein sichtbarer Kontrast zwischen dem altmodisch-scholastischen Gestus der Abhandlung und ihrer modern-humanistischen Paratextualisierung auftut.70 Bemerkenswert ist es vielmehr auch deshalb, weil die Abhandlung so in die Nähe eines Werks rückt, das den seinerzeit wohl schärfsten und spitzzüngigsten Angriff auf den scholastischen Universitätsbetrieb darstellt: Ebenfalls anonym erschien zu genau derselben Zeit – also im Herbst 1515 – der erste Band der ‚Dunkelmännerbriefe‘ (‚Epistolae obscororum virorum‘), der im Umfeld des Humanistenkreises um Mutian entstand und an dem Eoban vielleicht sogar in irgendeiner Weise mitwirkte.71 engeren Sinne gehört von den Autoren der Geleitverse neben Eoban selbst nur Euricius Cordus; die weiterhin Zeichnenden Johannes Femel, Bartholomäus Götz aus Treisa, Christoph Mancinus und Bertram von Damm sind eher dem Umfeld der mehr oder weniger humanistisch gesinnten Freunde und Schüler Eobans zuzurechnen. Für die letzten drei, der aktuellen Forschung weitgehend unbekannten Autoren sammelt H. VREDEVELD die wichtigsten Daten, in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 218–221. Zum Kreis der Erfurter (bzw. Gothaer) Humanisten C. FASBENDER, Conradus Mutianus Rufus (wie Anm. 44), sowie zuletzt ECKHARD BERNSTEIN, Mutianus Rufus und sein humanistischer Freundeskreis in Gotha, Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation II, Köln 2014. 70 Dieser Kontrast relativiert sich freilich mit Blick auf die Heidelberger Reden, deren Druck gleichfalls einem humanistischen Impetus folgt (vgl. Anm. 66 und 67). Diesem liegt letztlich die Idee zugrunde, dass sich humanistische Redekunst auch hier beweisen könne: so E. KLEINSCHMIDT, Scherzrede (wie Anm. 44), S. 63. 71 Der erste Band der ‚Epistolae obscurorum virorum‘ erschien im Herbst 1515 in Hagenau, der zweite 1516 in Speyer. Als Hauptautoren gelten Crotus Rubeanus und Ulrich von Hutten, beides namhafte Mitglieder des Erfurter Humanistenkreises. Obwohl Crotus den ersten Band wohl in Fulda verfasste, ist die Verbindung nach Erfurt aufgrund einer ganzen Reihe von Anspielungen auf die örtlichen Gegebenheiten offensichtlich, zudem darf es als ausgemacht gelten, dass Mutian, wiewohl er nicht selbst mitwirkte, der Briefsatire den Anstoß gegeben hat. Grundlegend dazu mit weiterführender Forschung: GERLINDE HUBER-REBENICH, Art. – 38 –
Diese Koinzidenz, sowie der Umstand, dass beide Texte ähnliche Stilmittel pflegen,72 sind denn auch der wichtigste Grund dafür, dass die Forschung in jüngerer Zeit wieder verstärkt dazu neigt, die anonyme ebrietas-Abhandlung sowohl hinsichtlich ihres Anliegens als auch hinsichtlich ihrer Autorschaft als so etwas wie die kleine Schwester der berühmten Briefsatire anzusprechen, genauer: als ein Nebenprodukt, das auch aus der Feder Eobans geflossen sein dürfte – aber eben nicht aus seiner Feder allein. ‚De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‘, so schreibt in diesem Sinne zuletzt Johannes Klaus Kipf, „[ist] ein literarisches Gemeinschaftsprodukt des Erfurter Humanistenkreises um Eobanus Hessus“ und als solches stärker als die oben genannten Heidelberger Scherzreden „auch als Parodie des spätmittelalterlichen Universitätsbetriebs aufzufassen.“73 Ihre Anonymität erfährt in diesem Zusammenhang,
Epistolae obscurorum virorum (EOV, Dunkelmännerbriefe), in: Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon I, Berlin/New York 2008, Sp. 646–658, zur Rolle Mutians zuletzt E. BERNSTEIN, Mutianus Rufus und sein humanistischer Freundeskreis (wie Anm. 69), S. 269–298. Während C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 183–190 in Eoban noch einen Mitautor der ‚Epistolae‘ erblickte, wird seine Verfasserschaft in der jüngeren Forschung nicht mehr diskutiert. Dass er das Projekt kannte und mit ihm sympathisierte, darf man aber wohl voraussetzen. So auch H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 176f., J. K. KIPF, Ludus philosophicus (wie Anm. 44), S. 224f. 72 Als typisch für die ‚Epistolae obscurorum virorum‘ benennt G. HUBERREBENICH, Art. Epistolae obscurorum virorum (wie Anm. 71), Sp. 653f. bes. Barbarismen, Germanismen, stilistische und metrische Fehlgriffe, absurde Argumentationen, die außer durch Fehlschlüsse v. a. durch die banalisierende Verwendung biblischer Autoritäten auffallen, weiterhin den Hang zum Schwankhaft-Burlesken und zum Fäkalwitz. 73 J. K. KIPF, Ludus philosophicus (wie Anm. 44), S. 224f. Er modifiziert damit eine These C. KRAUSES, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 215f., der Peter Eberbach als den Haupt- und Eoban als den Nebenautor der Abhandlung bezeichnete. – 39 –
ganz ähnlich wie die ‚Epistolae obscurorum virorum‘ selbst, die Begründung, dass es hier eben nicht den einen Autor gäbe, der allein für das Werk verantwortlich ist.74 Außerdem sei die Autorschaft aufzudecken natürlich schon allein deshalb nicht angegangen, weil die Rede in den Mund eines scholastischen Barbaren zu legen den ganzen Witz der Sache ausgemacht habe.75 Hinzuzufügen wäre, dass sich zur Autorschaft zu bekennen für alle Beteiligten notwendig ein unwägbares Risiko darstellen musste – ein Argument, das für Eoban, der ja in Erfurt noch Karriere zu machen gedachte, selbstredend in besonderem Maße zu gelten hätte.76 Spätestens dieser letzte Punkt lässt freilich danach fragen, ob die Forschung die Parallelen zu den ‚Epistolae obscurorum virorum‘ nicht doch etwas zu sehr hervorhebt. Selbst wenn sich nämlich nicht bloß Eoban selbst, sondern eine humanistische Autorengemeinschaft hinter der Maske des anonymen Sprechers verbürge, so schaut jedenfalls Eoban in Gestalt des ersten Bei74 C. KRAUSE, ebd. S. 216 argumentiert mit einer anachronistischen Erwägung über geistiges Eigentum: Eberbach habe die Abhandlung wohl nicht unter seinem Namen drucken wollen, weil Eoban sie mit verfasst habe, während umgekehrt die Elegie ‚De ebrietate vitanda‘ später nur deshalb unter Eobans Namen erscheinen konnte, weil dieser schon an der Abhandlung beteiligt war. J. K. KIPF, Ludus philosophicus (wie Anm. 44), S. 223 denkt eher in die entgegengesetzte Richtung, wenn er davon ausgeht, dass die in den Geleitversen versammelte sodalitas Erphurdiana in die leere Autorposition aufrücke, weil sie „zwar nicht für die Rede selbst, aber für ihren Druck verantwortlich zeichnet“. 75 Vgl. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 202. Das Argument wirft freilich die Frage auf, ob nicht bereits die humanistische Rahmung die Illusion einer scholastischen Selbstentblößung verdorben hätte. 76 Das setzt freilich voraus, dass die Abhandlung tatsächlich als eine Verunglimpfung der scholastischen Methode aufgefasst wurde: so E. KLEINEIDAM, Universitas studii Erffordensis II (wie Anm. 47), S. 205 und H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 192f. – 40 –
redners zuallererst hinter dieser Maske hervor. Sollte er aber wirklich so unvorsichtig gewesen sein, sich am Ort seiner Ambitionen so weit zu exponieren?77 Die Beobachtung führt weiter zu der Frage, wie gefährlich seine Exposition tatsächlich ist. Denn bei allen Gemeinsamkeiten mit dem Arrangement der ‚Dunkelmännerbriefe‘ muss doch gesagt werden, dass die Schärfe des Angriffs mit diesen überhaupt nicht verglichen werden kann. De facto ist die Abhandlung über die Vermeidung der Trunkenheit weit davon entfernt, den universitären Betrieb und seine Protagonisten auch nur annähernd so sehr zu desavouieren, wie das in der berühmten Briefsatire geschieht. Ja eigentlich spitzt sie im Wesentlichen nur das ein wenig zu, was unter den Teilnehmern eines durchschnittlichen Quodlibets schlicht Konsens gewesen sein dürfte: Dass die Veranstaltung nämlich ebenso lang wie langweilig ist und gegen Ende hin unweigerlich zu einer Ermüdung führt, die alle Beteiligten nach Erfrischung verlangen lässt.78 Die Verortung in diesem Kontext lässt die Abhandlung dementsprechend relativ harmlos erscheinen, wobei sie just die Stilmittel ins Licht legitimer satirischer Würze stellt, die in den ‚Dunkelmännerbriefen‘ so boshaft wirken: Ein unpassendes Thema aufzunehmen, die bekannten Topoi der scholastischen Disputationskunst ein wenig zu verdrehen und die akademische Hochsprache mit einigen volkssprachigen Wendungen zu mischen – das alles scheint in diesem Zusammenhang völlig be77 Das tut er so oder so; wenn nicht als Autor, dann als Oberhaupt der sodalitas Erphurdiana. Auch als solches hätte der Unmut der scholastischen Seite zwangsläufig ihn zuerst getroffen. 78 Zu diesem Grundproblem des Quodlibets etwa G. KAUFMANN, Universitäten (wie Anm. 47), S. 381f., 394f., E. KLEINEIDAM, Universitas studii Erffordensis (wie Anm. 47), S. 254. Man sollte in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen, dass genau aus diesem Grund die Scherzrede im Quodlibet institutionalisiert worden war. Eine gewisse Toleranz gegenüber der satirisch-parodistischen Verkehrung der scholastischen Methode sollte also auch bei deren Parteigängern vorausgesetzt werden. – 41 –
rechtigt, zumal wenn das Ziel ein so ehrbares ist wie das der Vermeidung von Trunkenheit.79 Man wird also, diese zweite Verständnisebene zusammenfassend, mit einiger Sicherheit sagen können, dass die Stilmittel der ebrietas-Abhandlung sich zwar partiell mit denen der ‚Epistolae obscurorum virorum‘ decken, dass sie hier jedoch durch die quodlibetare Inszenierung und die betont moralsatirische Stoßrichtung in einem Maße gedeckt werden, das dem Ganzen die Spitze gegen den scholastisch-universitären Betrieb fast vollständig nimmt. Der Bezug zu den ‚Dunkelmännerbriefen‘ ist somit zwar in der Tat gegeben; er dürfte zu Eobans Zeit aber wohl nur von einem kleinen Kreis von Eingeweihten als solcher wahrgenommen worden sein.80 Dass die eben angeführten Gründe für die Anonymität der Publikation sich damit fast vollständig in Luft auflösen, ist unschwer zu sehen. Wenn nämlich die Abhandlung ihren Sprecher nicht als einen scholastischen Holzkopf, sondern als einen ehrbaren Moralsatiriker darstellt, dann hat die Anonymität offensichtlich weder eine Schutzfunktion, noch ist sie nötig, um die satirische Fiktion zu decken.81 Dass die Rede nicht wie ihre
79 Genau darum finden sich die Verfahren der ebrietas-Abhandlung auch in den voraufgehenden Heidelberger Scherzreden, deren Autoren weder anonym bleiben noch im Verdacht der anti-scholastischen Revolte stehen. Vgl. dazu J. K. KIPF, Ludus philosophicus (wie Anm. 44), bes. S. 208– 214, 215–221. 80 Das gilt umso mehr, als sich sowohl aufgrund des Stils als auch des Anliegens Bezüge zu einer ganzen Reihe weiterer Gattungen (wie z.B. zu Schwänken und Fazetien, zur Kleriker- und Narrensatire) ergeben. Der zeitgenössische Leser hatte deshalb keinen Anlass, von allen möglichen Verbindungen ausgerechnet die zu den ‚Dunkelmännerbriefen‘ zu ziehen: Für ihn dominierte die Einordnung in die literarische Reihe der akademischen Scherzrede. 81 Was heißt: sie hätte gefahrlos unter seinem Namen erscheinen können. Es gab mithin keinen Grund für Eoban, seine Autorschaft schweren Herzens zu verbergen, vgl. H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eoba– 42 –
Heidelberger Vorläufer unter dem Namen ihres Verfassers erschien, kann daher jetzt bestenfalls noch als Anspielung auf die ‚Epistolae obscurorum virorum‘ verstanden werden – als eine Anspielung freilich, die nur für den besagten Kreis von Eingeweihten wahrnehmbar war. Das heißt mit anderen Worten, dass der humanistische Dunkelmann sich zwar durchaus hinter der Maske des namenlosen Sprechers verbirgt, dass er sich aber dem Großteil der zeitgenössischen Leser nicht als solcher zu erkennen gibt. Für sie, so darf man daraus schließen, muss seine Anonymität, wenn sie nicht sinnlos erscheinen soll, einen anderen Grund haben, muss unter der Maske ein Anderer sichtbar werden.
3.4. Katz und Maus: Autorschaft als Versteckspiel Damit sind wir bei der dritten Ebene des Textverständnisses angelangt, welche zugleich diejenige ist, die endlich zu Eoban und seinem Anliegen des Selbstlobs zurückführt. An dieser Stelle löst sich auch die letzte Annahme derer auf, die die Rede in erster Linie für ein Nebenprodukt der ‚Epistolae obscurorum virorum‘ halten. Wer hier nämlich hinter dem anonymen Sprecher hervortritt, das ist keineswegs die von der Forschung in Erwägung gezogene humanistische Autorengruppe. Es ist vielmehr eindeutig Eoban selbst und Eoban allein – ein Eoban überdies, der keinerlei Anstalten unternimmt, sich tatsächlich hinter seinem quodlibetaren Alter Ego zu verstecken.82 Die Annus Hessus III (wie Anm. 40), S. 202. Ver- und Entbergung sind entsprechend nicht unbedingt gegenläufige Tendenzen. 82 Auch hierzu sammelt bereits C. KRAUSE, Helius Eobanus Hessus. Leben und Werke I (wie Anm. 13), S. 212–216 die wichtigsten Indizien, wobei er sich freilich, wenn er die augenzwinkernde Fiktion, dass der Sprecher Eobans ‚Freund‘ sei, für bare Münze nimmt, von diesem hinters Licht führen lässt. – 43 –
nahme von der Anonymität als Instrument eines ernstgemeinten satirischen Angriffs auf die scholastische Universität dürfte sich damit endgültig erledigt haben. Welche Absicht Eoban stattdessen mit ihr verfolgt, hat der momentan wohl profundeste Kenner und Herausgeber seines Gesamtwerks, Harry Vredeveld, pointiert herausgestellt – allerdings ohne seine Beobachtung dabei so konsequent auf eine den Text übergreifende Strategie der Rezeptionslenkung hin zu deuten, wie ich es im Folgenden versuchen möchte. Die Anonymität der Abhandlung, so expliziert Vredeveld, sei im vorliegenden Fall nicht mehr und nicht weniger als ein Katz- und-Maus-Spiel mit dem Leser; eine Anonymität von der Art, die dem Rezipienten die Suche nach dem Autor zur Aufgabe macht.83 Interessant ist, dass die von Vredeveld für diese These angebrachten Belege wieder auf zwei verschiedene Lesergruppen zu zielen scheinen. Nur für den intimen Kenner von Eobans Werk wahrnehmbar ist, dass die Abhandlung Dutzende von Similien zu anderen Texten des Dichters aufweist. Ihm muss darum nach einem Moment der Unsicherheit (mit Vredeveld) zweifelsfrei vor Augen stehen: Ein Sprecher, der beständig Eobans Wort im Munde führt, kann kein anderer sein als Eoban selbst.84 83 Vgl. H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 193–196, bes. S. 193. Er schränkt die Aussage dadurch ein, dass er die vorliegende Form von Anonymität als Ergebnis eines Widerstreits zwischen der Wirkungsabsicht des Textes und der Ruhmsucht seines Autors darstellt. „With a mindset like this it must have cost him no little anguish to know that many readers, especially those outside of Erfurt, might not recognize him as the author. Consciously and unconsciously, therefore, he threw in copious hints to his identity”, ebd. S. 202. Die Durchsichtigkeit der Sprechermaske erscheint so als Resultat einer Ansammlung von Freudschen Versprechern und erfüllt damit gerade nicht die von S. PAPST, Anonymität und Autorschaft (wie Anm. 45), S. 13 beschriebene Funktion der „strategische[n] Rezeptionssteuerung“. 84 Dazu die beeindruckende Similiensammlung bei H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 196–202. – 44 –
Wer diese letzte Sicherheit in Ermangelung ausreichender Lektüreerfahrung nicht gewinnen kann, bleibt auf jene Fingerzeige angewiesen, mit denen der Sprecher explizit auf die Person des Autors hindeutet. Wenn man die Abhandlung mit einem wachen Blick für ihre hintergründige Inszenierung liest und zudem über Eobans Biographie wenigstens annähernd im Bilde ist, dann sind freilich auch diese Fingerzeige eindeutig. Der bereits erwähnte Umstand, dass Eobans Name als erster unter den Geleitrednern steht – und sich dem nach einem Autor suchenden Auge dergestalt zugleich anbietet und entzieht85 –, ist hier nur das erste in einer ganzen Reihe von Indizien. Dass Eoban als einziger zeitgenössischer Dichter vom Redner mehrfach an prominenter Stelle zitiert wird, dass er namentlich für die Definition der ebrietas ganz am Anfang der Abhandlung verantwortlich zeichnet86 und später noch einmal als Autor eines (die Trunkenheit bei Priestern verurteilenden) Epigramms firmiert,87 schließt sich als zweites, zu weiterführenden Fragen 85 Wie gut diese eigentlich recht simple Verwirrungstaktik funktioniert, ist exemplarisch an der Diskussion um die Autorfrage zu beobachten: Die Forschung fasst durchweg den ersten greifbaren Namen zunächst als den des Autors auf, zieht diese Auffassung dann wegen der Inszenierung der Rede in Zweifel, sucht deshalb nach einer anderen Zuschreibungsmöglichkeit, verwickelt sich dabei in neue Widersprüche – und kommt deshalb letztlich auf Eoban zurück (vgl. dazu im Einzelnen Anm. 44 und 73). Dem zeitgenössischen Leser könnte es durchaus ähnlich ergangen sein. 86 Diese lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers nicht nur wegen ihrer herausgehobenen Stellung auf Eoban, sondern auch deshalb, weil der Sprecher sie explizit als Auftragsarbeit bezeichnet: „quam Eobanus Hessus noster nuper rogatu quorundam amicorum ex Famae Virgilianae descriptione“, De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 40), cap. 1.10. Seine Verbindung zu Eoban wird so gleich zu Beginn betont und stellt den Dichter von vornherein in ein anderes Licht als etwa den ebenfalls mehrfach zitierten (jedoch bereits 1508 verstorbenen) Konrad Celtis, vgl. ebd. cap. 12.12, 15.11, 16.24, 18.4, 21.10. Jeweils einmal erwähnt werden Euricius Cordus, cap. 21.7 und Heinrich Bebel, cap. 24.15. 87 Ebd. cap. 21.6. – 45 –
anregendes Indiz an: In welcher Beziehung steht Eoban zum anonymen Sprecher? Die Frage scheint sich zu erledigen, als dieser den Dichter zuerst zum Gewährsmann für die Trinksitten im Ostseeraum ernennt – er habe ihm, so seine Aussage, gleich im Anschluss an seine Reise persönlich von ihnen berichtet88 – und wenig später von einem „amicus […] valde familiaris“ spricht, der sich ebenda aufgehalten habe:89 Eoban, so meint man hier folgern zu dürfen, ist ein enger Freund und häufiger Dialogpartner des Sprechers. Die scheinbare Gewissheit hält indessen nicht lange vor, denn schon wenige Sätze danach, am Ende einer immer begeisterter klingenden Lobrede auf Danzig und die exzellente Qualität des dort gebrauten Biers, platzt aus ihm heraus, dass alles bereits Gesagte in Wirklichkeit auf eigener Erfahrung beruht „Sed quid hec referam? Dolor est meminisse bonorum!“90 Wenn er sich wenig später mit Eobans liebster Berufsbezeichnung einen Poeten nennt, bestehen beim Leser kaum noch Zweifel, und spätestens, als er am Ende des Textes äußert, wenn er vielleicht nicht so witzig gewesen sei wie gewünscht, dann habe das daran gelegen, dass man ihm keinen Wein gegeben hat,91 ist klar: Hier spricht kein anderer als der weit über Erfurt hinaus wohlbekanntermaßen größte aller Experten zum Thema der Trunksucht: der alkoholaffine Poet und Kenner aller nordischen Biersorten, Eoban höchstpersönlich! Auf dieser dritten Ebene scheint nun auch endlich auf, was den Witz der Abhandlung eigentlich ausmacht. Dieser entwickelt sich nämlich weniger durch die Verballhornung der scholastischen Methode, als vielmehr durch den Kontrast, der 88 „retulit mihi nuper Hessus noster, qui aliquamdiu vixit in ista septentrionali barbaria“, ebd. cap. 12.13. 89 Ebd. cap. 16.13. 90 Ebd. cap. 16.23. 91 Ebd. cap. 24.8, 27.3. Zu den Indizien auch H. VREDEVELD in der Einleitung zum Text: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 193–196. – 46 –
entsteht, wenn ein stadt-, ja landesweit bekannter Alkoholiker sich anschickt, allen Ernstes gegen den Alkoholkonsum zu predigen. Freilich wird man das Ansinnen kaum ganz richtig verstehen, wenn man es nur als halb ironische Abbitte in dem Sinne deutet, dass hier einer den Weg der Abstinenz wenigstens als den richtigen propagieren will, wenn er ihn einzuschlagen schon nicht fertigbringt.92 Die Taktik ist, wie mir scheint, eine subtilere – was besonders dann ins Auge fällt, wenn man Camerariusʼ anekdotisches Zeugnis von Eobans Trinkfestigkeit im Hinterkopf behält.93 Ähnlich wie dort lautet die Pointe nämlich auch in der Abhandlung über die Vermeidung der Trunkenheit nicht: ‚Alkohol ist schädlich‘, sondern: ‚Alkohol ist schädlich für den, der ihn nicht verträgt.‘ Und weil diese Pointe in ihrer satirischen Indienstnahme der scholastischen Methode als ein Meisterstück humanistischer Redekunst erscheint, gerät sie unversehens zur augenzwinkernden Selbstermächtigung ihres halbversteckten Autors. Dass dies von der Forschung bisher nicht erkannt worden ist, überrascht vielleicht. Es erklärt sich jedoch relativ einfach daraus, dass die von mir apostrophierte Pointe weder beim makkaronischen Sprachgebrauch ihren Ausgang nimmt noch bei den komischen Verdrehungen von Autoritäten oder anderen Verballhornungen der scholastischen Methode. Anstatt da anzusetzen, wo man einen humanistischen Angriff auf die Scholastik verorten möchte, sucht sie ihre Grundlage bei der argumentativen Anordnung der Invektive gegen die Trunkenheit und damit genau an der Stelle, wo sich das moralsatirische Anliegen entfalten sollte. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass das Ganze aus einem Verfahren resultiert, das man vielleicht am besten als das eines komischen Zurückruderns charakterisieren kann: In allen drei der Kapitel, in denen der 92 So ebd. S. 203. Ich korrigiere in diesem Punkt auch meine eigene Auffassung: C. KROPIK, De generibus ebriosorum (wie Anm. 44), S. 103. 93 Vgl. oben S. 25f. mit Anm. 37 und 38. – 47 –
Redner sein Thema ausbreitet, fällt auf, dass er mit einer These beginnt, die das Trinken aufs Schärfste verurteilt; dass er danach aber immer mehr Gründe findet, die das Gesagte einschränken und relativieren, bis er am Ende zu dem Schluss kommt, dass das, was er anfangs beanstandet hat, doch eigentlich gar nicht so schlimm ist.94 Am eindrücklichsten wird das im ersten Kapitel erkennbar. Der Sprecher setzt hier wie gesagt mit der These ein, dass die Trunkenheit ein viehisches Vergnügen sei, was er mit der exemplarischen Unterscheidung der diversen Tiere, in die der Alkohol die Menschen verwandelt, anschaulich belegt. Schon im nächsten Unterkapitel beeilt er sich allerdings nachzutragen, dass der Wein keineswegs nur negative Wirkungen zeitige, dass er vielmehr auch den Geist stimulieren und dabei vor allem dem Dichter [!] nützlich sein könne.95 Im Übrigen sei das gemeinsame Trinken mit Freunden – er beruft sich hier explizit auf die 94 Auch dieses Vorgehen kann insofern als ein komischer Rekurs auf die scholastische Disputationskunst angesehen werden, als es darin aufgeht, Einwände zu machen und zu lösen, vgl. M. GRABMANN, Geschichte der scholastischen Methode II (wie Anm. 53), bes. S. 13–21. Der Sprecher arrangiert These (dass der Alkoholkonsum zu verurteilen sei), Einwand (dass er auch positive Eigenschaften habe) und Schlussfolgerung so, dass letztere die erstere in wesentlichen Teilen aufnimmt, dabei aber gewisse Konzessionen an die zweitere aufweist (der Alkoholkonsum ist dort zu verurteilen, wo seine negativen Folgen überwiegen). Der Witz richtet sich hier freilich nicht gegen die scholastische Methode, im Gegenteil: Der Sprecher bedient sich dieser Methode, um das moralsatirische Anliegen (wenigstens partiell) zu unterhöhlen – und dabei auch noch als brillanter Dialektiker zu glänzen. Hier scheint abermals auf, dass die Kritik an der Scholastik nicht das oberste Anliegen der Abhandlung sein kann. 95 De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 40), cap. 9.32– 42. Der Sprecher beruft sich hier auf Horaz und behauptet nebenbei, dass der Wein dabei helfe, gute von schlechten Dichtern zu unterscheiden. Während nämlich diese unter seinem Einfluss nichts als Unsinn produzierten, würden jene durch ihn inspiriert: dass er damit nicht zuletzt sich selbst meint, darf der Leser voraussetzen. – 48 –
Tradition des griechischen Symposions – eine äußerst lobenswerte Sitte; zumindest solange es mit Maß geschehe. Was genau er unter diesem Maßhalten versteht, expliziert er ganz am Ende: Ein kleiner Rausch zweimal im Monat ist nicht nur harmlos, sondern sogar gesund.96 Der ungesagte Schluss seiner Erörterung lautet damit kurz: Man sollte es vermeiden, sich ständig viehisch zu besaufen, und sich stattdessen besser gelegentlich kultiviert betrinken. Der Inhalt des zweiten Kapitels lässt sich analog beschreiben. Die These, dass die Italiener den Deutschen ihre Trunksucht zu Recht vorwerfen, wird zunächst durch den Verweis auf einige italienische Gewährsmänner belegt und mit Tacitus als eine alte Unsitte der Germanen herausgestellt.97 Nach einigen Bemerkungen über die üblen Folgen der Trunkenheit für die weibliche Tugend (die der Männer steht offenbar weniger in Gefahr) ist der Redner dann allerdings sehr schnell dabei, die Italiener als verweichlichte Sodomiten darzustellen, die schon nüchtern viel Schlimmeres täten als die Deutschen in betrunkenem Zustand.98 Das Kapitel geht in eine nichts weniger als enthusiastische Beschreibung des lustigen Lebens im deutschen Norden und den bereits erwähnten Katalog von Biersorten aus. Im dritten Kapitel Ähnliches, nur mit anderem Personal: Besonders Priester, Personen des öffentlichen Lebens und Studenten sollten sich der Trunkenheit enthalten – allerdings, so der Sprecher gleich darauf, sei zumindest bei den ersten zwei Gruppen ja eigentlich doch der Geiz das viel schlimmere Las-
96 Ebd. cap. 10f. 97 Ebd. cap. 12. 98 „[…] qui etiam sobrii non verentur facere quae Germani ne ebrii quidam ulla necessitate admittimus“, ebd. cap. 15.15. Er verweist in diesem Kontext auf die antiken Autoritäten, um die besondere Kriegstüchtigkeit der Deutschen hervorzuheben – und um ihnen in einem Punkt zu widersprechen: Die Deutschen seien heute nicht mehr das ungebildete Volk von damals, ja den Italienern an Bildung gar überlegen, vgl. ebd. cap. 15.9f.! – 49 –
ter.99 Konsequenterweise richtet er seinen Schlussappell nur an die zuletzt genannten Studenten – wobei seine Aufforderung, sich von notorischen Saufbrüdern fernzuhalten und stattdessen die Gesellschaft ehrenwerter Menschen zu suchen, in Hinblick auf das vorangehende Lob des geselligen Gelages in gewisser Weise auch schon wieder doppelbödig anmutet.100 Der Ausgang der Rede ist insofern symptomatisch, als man am Ende kaum noch weiß, was der Sprecher seinem Publikum hinsichtlich des Umgangs mit dem Alkohol eigentlich sagen will. Denn obwohl er seine Ablehnung der ebrietas genauso permanent subvertiert wie er sie immerzu wiederholt, zielt er insgesamt offenbar nicht darauf, sie gänzlich aufzuheben. Trotz aller Einschränkungen und Relativierungen stellt er nicht in Zweifel, dass der übermäßige Alkoholkonsum ein Laster ist – und zwar unabhängig davon, dass andere Laster vielleicht noch schlimmer sind. Der Sprecher will also keineswegs andeuten, dass exzessiver Alkoholgenuss grundsätzlich kein Problem darstellt. Und es ist auch nicht so, dass er seinen ‚Freund‘ Eoban etwa von den Vorhaltungen ausnähme, im Gegenteil: Der Nachdruck, mit dem er immer wieder auf die Übel des Alkohols verweist, lässt bisweilen fast so etwas wie echte Zerknirschung spüren.101 Die Pointe, von der ich eben gesprochen habe, ist denn auch nicht einfach mit dem beschriebenen Verfahren des Zurückruderns identisch. Genauer gesagt: Sie ist nicht direkt auf der Aussageebene zu fassen, sondern ergibt sich durch das 99 Ebd. cap. 24f. 100 Ebd. cap. 26.5–9. Das gilt umso mehr, als dem Leser bis zu dieser Stelle einigermaßen deutlich geworden sein sollte, dass der Sprecher selbst im Fach der ebrietas kein Anfänger ist. Falls er sich selbst zu den „bonos duces“ zählt, zu den „preceptoribus“, denen die Studenten nacheifern sollen: ebd. cap. 26.8f., so stimmt das für die Aussichten seines Anliegens, deren Alkoholkonsum zu mäßigen, wenig optimistisch. 101 Die Abhandlung hat also tatsächlich einen apologetischen Anteil. Aber, und darauf kommt es hier an: Anders als man bisweilen gemeint hat (vgl. Anm. 92), geht sie nicht darin auf. – 50 –
geschickte Agieren eines Sprechers, dem es immer wieder gelingt, der Konsequenz seiner Rede zu entgehen – und natürlich daraus, dass dem Leser währenddessen immer stärker bewusst wird, dass dieser Sprecher kein anderer als Eoban selbst ist.102 Man kann sich den Effekt, den die Anonymität der Rede auf dieser Ebene herstellt, im Anschluss hieran vielleicht am besten mit Hilfe eines hypothetischen Gedankenspiels verdeutlichen: Angenommen, der Sprecher wäre nicht anonym und Eoban selbst würde in der beschriebenen Weise gegen (oder für) die Trunksucht sprechen, so wäre das ein etwas peinliches Bekenntnis zum eigenen Laster und damit ebenso verbindlich wie platt.103 Bliebe der Sprecher hingegen tatsächlich namenlos und zitierte einen nicht mit ihm identischen Eoban als Autorität in Sachen Trunkenheit, dann wäre das lediglich ein boshafter Seitenhieb gegen den saufenden Dichterkönig. Wenn jedoch ein Sprecher gegen die Trunkenheit argumentiert, der nicht nur durchblicken lässt, dass er selbst Eoban ist, sondern der es darüber hinaus versteht, den Alkoholgenuss in Eobans Sinne quasi durch die Hintertür doch wieder ins Haus der legitimen gesellschaftlichen Gepflogenheiten hineinzukomplimentieren, dann ist das nicht nur hintergründig witzig, sondern zugleich eine Zurückweisung 102 Das bedeutet zugleich, dass die zwischen scholastischem Verfahren und humanistischem Anliegen bestehende Kluft hier kaum noch eine Rolle spielt. Eoban bedient sich beider zum Zweck der ironischen Selbstbespiegelung, wobei er in gewisser Weise beide parodiert: den Rigorismus der humanistischen Moralsatire nicht weniger als die Winkelzüge der scholastischen Quodlibet-Disputation. Der Unterschied zu den ‚Epistolae obscurorum virorum‘ könnte kaum größer sein. 103 Oder, wenn man so weit nicht gehen will: Es würde die Abhandlung jedenfalls eines Großteils ihres Witzes und ihrer Wirkung berauben. Deshalb kann auch die Elegie ‚De vitanda ebrietate‘ ein Jahr später unter dem Namen ihres Autors erscheinen. Dass diese bei weitem nicht den Erfolg der Scherzrede hatte (sie wurde nur dieses eine Mal gedruckt), spricht freilich für sich. Dazu Edition und Kommentar in H. VREDEVELD, The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 325–343. – 51 –
der an den Dichter gerichteten Vorwürfe. Denn, so die implizite Botschaft dieser Konstruktion: Zwar mag es sein, dass Eoban dem Alkohol ergeben ist. Wer allerdings sein Laster mit selbstironischem Witz so überlegen beherrscht, der lässt sich nicht von ihm beherrschen und braucht es daher auch nicht aufzugeben. Da steht er also wieder vor uns, der souveräne Trinker aus Camerariusʼ Anekdote – und setzt seiner Meisterschaft über den Dämon des Alkohols noch einen obendrauf. Denn hier geht es eben nicht mehr nur um die Apologie des eigenen Alkoholkonsums oder den Erweis allgemeiner Kaltblütigkeit, sondern zuerst und vor allem um die Demonstration intellektueller Fähigkeiten und literarischen Könnens. In diesem Zusammenhang wird auch das von Vredeveld beobachtete Katz-und-MausSpiel mit dem Leser in vollem Umfang verständlich. Die spezifisch durchschaubare Form der Anonymität, mit der Eoban sich umgibt, funktioniert nämlich wie ein transparenter Schleier, der dem Betrachteten nicht weniger schmeichelt als dem Betrachter: Indem sie den Autor halb verhüllt, regt sie den Leser dazu an, den Text aufmerksam zu verfolgen und dabei nicht nur das Rätsel der Autorschaft Schritt für Schritt zu lüften, sondern mit jedem dieser Schritte auch die Doppelbödigkeit des Gelesenen und damit die Gewitztheit des Autors ein Stück weiter zu begreifen.104 Wenn der Leser den Autor am Ende erhascht hat, dann hält er deshalb nicht einfach nur den Dichter Helius Eoba104 Die Strategie funktioniert damit etwas anders als bei den von S. PAPST, Anonymität und Autorschaft (wie Anm. 45), S. 13 gegebenen Beispielen einer rezeptionssteuernden Anonymität, die allesamt darauf zielen, den Verdacht des Lesers auf einen anderen (berühmteren) Verfasser zu lenken, um das Buch so aufzuwerten. Der Unterschied besteht nicht zuletzt darin, dass die Anonymität im einen Fall nur von außen gelüftet werden kann (durch die nachträgliche Zuschreibung an den echten Autor), während sie im anderen vom Text selbst aufgehoben wird. Anders gesagt: Während dort eine echte Anonymität gegeben ist, die Pseudonymität suggeriert, liegt hier von vornherein eine unechte, eine Pseudo-Anonymität vor. – 52 –
nus Hessus in seinen Händen, sondern Eoban, seines Zeichens rex poetarum, dessen Ruhm zu Recht im ganzen deutschen Sprachraum erschallt.105 Und damit nicht genug: Mit dem Autor hält der Leser zugleich den Beweis seiner eigenen Scharfsinnigkeit in Händen – denn wenn er über diese nicht verfügte, hätte er den gewitzten Dichterkönig ja unmöglich fangen können. Die Abhandlung ‚Über die Arten der Betrunkenen und die Vermeidung der Trunkenheit‘ erweist sich damit als PR-Aktion im besten Sinne des Wortes: Indem sie literarisches und biographisches Wissen aktiviert, lässt sie nicht allein den Ruhm des Namens, den sie vorgeblich verhüllt, nur umso heller erstrahlen; sie vermittelt dem Leser diese Botschaft überdies so, als sei sie seine eigene Erkenntnis. Dabei könnte auch dieses Versteckspiel eine weitere Dimension haben, könnte es in seiner Hintergründigkeit noch einmal gedoppelt sein. Das wäre der Fall, wenn der Teil von Eobans Publikum, der das Geheimnis der ‚Epistolae obscurorum virorum‘ kannte, nicht nur das Taktieren des Dichters durchschaute, sondern durch sein besonderes Wissen auch über den normalen Leser erhoben wurde. Das Gefühl, das diese humanistische Rezipientengruppe bei der Lektüre beschlichen haben könnte, wäre in etwa so zu paraphrasieren: ‚Alle anderen lachen über die Scherze des (pseudo-)anonymen Alkoholikers und bewundern seinen Witz. Wenn sie nur wüssten, dass wir noch in einer ganz anderen Tonart auf den Instrumenten der scholastischen Disputationskunst gespielt haben…‘ Ob man in der Deutung so weit gehen darf,106 und inwiefern dabei zwischen der Intention des 105 Zur Erinnerung: Reuchlin hatte Eoban den poetischen Königstitel gerade erst verliehen (vgl. Anm. 22). 106 Dafür spräche, dass es sich bei der besagten Rezipientengruppe im Wesentlichen um dieselbe handelt, die auch die Formulierungsparallelen erkannt haben könnte (vgl. dazu oben, S. 44 mit Anm. 84) und die daher über Eobans Autorschaft noch weniger im Unklaren war als alle anderen Leser. Es wäre in diesem Sinne davon auszugehen, dass Eoban seinem – 53 –
Autors und der rezeptionsästhetischen Perspektive unterschieden werden muss, sei dahingestellt. Wichtig ist, dass es die Selbstbespiegelung ist, die jetzt ins Zentrum des Verständnisses von Eobans Abhandlung rückt. Es ist der Gestus, in aller Bescheidenheit die eigene Großartigkeit ins rechte Licht zu stellen.
3.5. Spiegel im Spiegel: Der auto(r)reflexive Titelholzschnitt Diesen Gestus des Selbstlobs auch an anderen Stellen nachzuweisen und meine Überlegungen in diesem Zusammenhang noch weitere Kreise ziehen zu lassen, wäre mir ein Leichtes. So böte es sich etwa an, einen genaueren Blick auf die Mikroebene der Abhandlung zu werfen und dort zu zeigen, dass unter der Feder des sich selbst bespiegelnden Dichters auch jene Textbausteine zum Spiegel seiner selbst werden, die er von anderswoher entlehnt. Insbesondere denke ich hierbei an die Version des ‚Studentenabenteuers‘, die Eoban unter seine Beispielgeschichten aufnimmt und deren Darstellungsstrategie im Einzelnen nachzuvollziehen nicht nur unter dem Aspekt der auktorialen Selbstbespiegelung interessant wäre. Da eine solche Ergänzung den voranstehenden Ausführungen jedoch in Hinblick auf ihre These nur wenig hinzuzufügen hätte, verschiebe ich sie auf später.107 Auf keinen Fall versäumen möchte ich es hingegen, den Blick abschließend noch auf einen Teil der Abhandlung zu richten, der das eben Gesagte, indem er es ein weiteres Mal spiegelt, eindrücklich bündelt – und der im Zuge dessen auch das Bild des Erfurter Dichters ganz wie von selbst auf die sich in ihm spiegelnde Interpretin zurückwirft. humanistischen Freundeskreis stärker (oder verschwörerischer) zuzwinkert und so diesem sowie sich selbst noch etwas mehr schmeichelt. 107 Nämlich auf den anschließenden Exkurs, der die beiden exemplarischen Erzählungen von Eobans Abhandlung unter dem Aspekt einer humanistischen Poetik des Wiedererzählens betrachten soll. – 54 –
Bei dem Spiegel im Spiegel, den ich damit meine, handelt es sich um den Holzschnitt, der das Titelblatt der Abhandlung schmückt (Abb. 1 und 4).108 Seine illustrierende Funktion ist offensichtlich. Die zechenden Tiere, die er zeigt, bezeichnen die titelgebenden genera ebriosorum und setzen darüber hinaus die These vom bestialischen Charakter der Trunkenheit ins Bild. Dabei wird die erläuternde distinctio des Sprechers akkurat übertragen: Der Alkohol verwandelt die Menschen in unanständige Esel, hinterhältige Hunde, weichdumme Schafe, alberne Kälber und Affen oder widerliche Schweine – sie alle sind hier zu sehen. Und mehr noch: Einige von ihnen sind anhand von Kleidung und Attributen ohne weiteres mit den Berufsgruppen in Verbindung zu bringen, von denen im Text vornehmlich die Rede ist. So ist vor allem der Esel mit Barett und Talar unschwer als Universitätsangehöriger zu erkennen, während das Schwein in der Mönchskutte wohl zum Stand der Geistlichen zu rechnen ist und das Kalb – so man denn den Gegenstand zwischen seinen Hörnern als Lorbeerkranz identifizieren will – einen Dichter repräsentiert.109 Der Illustrator hat mithin einige Mühe darauf verwendet, den Inhalt der Rede und das von ihr angesprochene Publikum gestalterisch ineinanderzublenden. 108 Ich beziehe mich im Folgenden ausschließlich auf das Titelblatt des Erstdrucks von 1515 (Abb. 1). Auf ihm bleiben die Spruchbänder zwar unbeschriftet, dafür sind aber einige Details in der Tracht der Tiere nur hier zu erkennen. Die beiden Folgedrucke (vgl. etwa den Nürnberger Druck von 1516, Abb. 4) geben das Bild spiegelbildlich verkehrt und um die Namen der Tiere ergänzt wieder. 109 So im Wesentlichen auch H. VREDEVELD in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 207, der jedoch den Kopfschmuck des Kalbs als Heu anspricht. Dagegen ist zum einen der Augenschein anzuführen (der Kranz lässt deutlich Blätter erkennen), vor allem aber passt der Bezug auf den poeta laureatus besser ins Konzept sowohl der Rede, deren Sprecher ja ausführlich über die Auswirkungen des Alkohols auf die Dichter handelt (ebd. cap. 9.32–42), als auch des Illustrators, der hier noch weitere Akademiker porträtiert. – 55 –
Wenn man von dieser Feststellung ausgehend genauer hinschaut und den Holzschnitt noch etwas stärker auf den Inhalt des Textes bezieht, dann erscheint indessen eines seltsam. Denn er zeigt zwar die genannten Tiere als saufende Akademiker,110 nicht aber die verderblichen Sitten, die diese laut Aussage des Sprechers in betrunkenem Zustand pflegen. Stattdessen sitzen die meisten Tiere brav bei Tisch und unterhalten sich angeregt miteinander.111 Dieser Umstand gibt dem Betrachter zu denken; – denn welcher Art ist die Beschäftigung der Tiere genau? Ein viehisches Besäufnis ist das, was man hier sieht, ja augenscheinlich gerade nicht. Handelt es sich also vielleicht um eine Veranstaltung in der Art des griechischen Symposions, das der Sprecher später noch bemüht? Oder gar um die Erfurter disputatio de quodlibet des Jahres 1515, die ja immerhin auch im Titel steht? Will der Verfasser der Rede also wirklich nur über die Vermeidung der Trunkenheit handeln –– oder nicht vielleicht doch das kultivierte Gelage loben oder sich über die merkwürdigen Rituale seiner scholastischen Kollegen mokieren? Das Titelblatt spiegelt also nicht nur den Inhalt, sondern auch die Verständnisebenen des Textes vexierbildhaft wider.112
110 Und nicht nur sie: Auch der Bär links unten im Bild ist durch Brille und Buch als Gelehrter markiert (zu ihm gleich mehr), und der Wolf neben ihm könnte wegen seiner Umhängetasche als fahrender Scholar angesehen werden – er würde dann in das Milieu gehören, in dem die Geschichte vom ‚Studentenabenteuer‘ spielt (vgl. dazu den folgenden Exkurs). 111 Das gilt vor allem für die vier Tiere hinter dem Tisch, deren paarige Gruppierung und lebhafte Gestikulation zudem unweigerlich an die Konstellation des Streitgesprächs denken lässt. Der Eindruck einer gepflegten Diskussion wird allein von dem über den Tisch springenden Affen gestört. 112 Die vorgeschlagenen Deutungen sind sicher nicht alle gleich wahrscheinlich, aber doch immerhin alle möglich, zumindest in dem Sinne, dass sie – je nach Blickpunkt des Betrachters – mitverstanden werden können. So wird man wohl beim ersten Hinsehen dazu neigen, den quodlibetaren Redeanlass auf das Titelbild zu beziehen; der Nexus zur These der Rede ergibt sich dann erst bei der Lektüre. – 56 –
Der Eindruck der Vielschichtigkeit wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass unverkennbar auch der Autor selbst im Bild ist, und zwar als derjenige, der über die Veranstaltung wacht. Dabei ist seine genaue Beschäftigung ebenso mehrdeutig wie der Rest der Darstellung: Was ist die Aufgabe des bebrillten Bären, der den Betrachter vom unteren Rand her anschaut?113 Wacht er als Meister Quodlibetarius über die Disputation der Tiere?114 Verteilt er den Wein aus dem neben ihn stehenden Fass, oder trinkt er es allein leer? Nimmt man hinzu, dass ausgerechnet der Bär später im Katalog der viehischen Säufer nicht vorkommt,115 und dass überdies er der einzige in der Runde ist, der den Alkoholgenuss wie nebenbei mit der Buchgelehrsamkeit verbindet,116 wird man kaum noch daran zweifeln, auch hier Eoban selbst ins Gesicht zu blicken.
113 Der ‚Blick aus dem Bild‘ ist der in der Malerei der frühen Neuzeit übliche Gestus des Künstlerselbstbildnisses. Zusammenfassend dazu: MILA HORKÝ, Der Künstler ist im Bild. Selbstdarstellungen in der italienischen Malerei des 14. und 15. Jahrhunderts, Berlin 2003, S. 93–97. 114 Diese Deutung gründet darin, dass er den disputierenden Tieren gegenübersitzt – und darin natürlich, dass ihm durch Buch und Brille besondere Autorität attribuiert wird. 115 Neben Gans und Wolf, deren Funktion für den Text weniger deutlich ist. Klar ist nur, dass die drei durch ihr gemeinsames Auftreten im Vordergrund sowohl von den anderen Tieren getrennt als auch einander zugeordnet sind. Die genaue Konstellation lässt m. E. zwei Deutungsoptionen zu, in denen die Gans (wohlgemerkt die einzig weiblich konnotierte Figur) die Schlüsselrolle spielt. Diese erscheint durch ihre Relation zu dem sie jagenden Wolf zum einen als Spiegelung der durch den Alkohol bedrohten weiblichen Tugend, von der im Text die Rede ist. Zum anderen ist sie dem Bären zugeordnet, dem sie, indem sie ihm die Fackel hält, die inspirierten Studien erst ermöglicht. In diesem Sinne mag man Eobans geliebte Thryne, seine Ehefrau Catharina, in ihr sehen – oder in einem weiteren Ebenensprung die Interpretin, die versucht, Licht ins Spiegelkabinett des Textes zu werfen. 116 Auch hier also wieder der aus Camerariusʼ Anekdote bekannte Gestus des vom Alkohol unangefochtenen und intellektuell überlegenen Trinkers! – 57 –
An diesem Punkt kommt die Reflexion aber noch längst nicht zum Stillstand. Warum nämlich schaut der bärengestaltige Eoban uns eigentlich so bedeutsam an? Will er uns etwa sagen, dass auch wir zu seiner Tischrunde gehören?117 Dass diese sich in den gegenwärtigen Hörsaal hinein fortsetzt oder wir, indem wir das Bild betrachten, gar selbst in einen Spiegel schauen?118 Dass wir hier also ein ebenso merkwürdig-rätselhaftes Ritual pflegen wie seine tierischen Gesellen?119
4. Cui bono? Ein selbstreflexives Fazit Höchste Zeit, ins Hier und Jetzt zurückzukehren und danach zu fragen, was die Beschäftigung mit Eobans Abhandlung über die Trunkenheit gebracht hat. ‚Nun‘, so werden Sie jetzt sicher sagen, ‚vor allem hat sie der Vorlesenden einen Gegenstand beschert, der das Licht, das sie auf ihn warf, so vorteilhaft auf sie zurückfallen ließ, dass wir sie nun guten Gewissens in den edlen Stand der Luftprofessoren erheben können.‘ So weit, so gut, aber was noch? Immerhin hatte ich in Eoban ja einen Lehrmeister gesucht, und von einem Lehrmeister sollte man wohl erwarten 117 „Der Blick als deiktische Geste ist eines der bekanntesten Mittel zur Betrachteransprache in der frühneuzeitlichen Malerei. Ist der Blick einer Erzählfigur im Bild auf einen nicht genauer zu definierenden Punkt vor dem Bild gerichtet, weitet die Geste den Handlungsraum der Narration in die Realität des Betrachters aus.“ M. HORKÝ, Der Künstler ist im Bild (wie Anm.113), hier S. 93. 118 Genau das suggerieren in Bezug auf die moralsatirische Botschaft auch zwei der nachfolgenden Geleitsprüche. So formuliert Bartholomäus Götz von Treisa: „Quam noceat tenerae ebrietas viciosa iuventae, Hic agitur vivis, lector, imaginibus.“ Noch deutlicher Euricius Cordus: „Tuos hic aspicis, heluo, fratres, Qui, quoties potas, talis es ipse pecus […]“, De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 40), cap. A4 und A5. 119 Denn wenn die Spiegelung in Bezug auf das Trinken funktioniert, warum dann nicht auch in Bezug auf das Disputieren? – 58 –
dürfen, dass er das Vorbild, dem man zu folgen gedenkt, nicht nur aufstellt, sondern auch erfolgreich lebt. Als Vorbild in diesem Sinne taugt der Erfurter Akademiker des 16. Jahrhunderts der angehenden Privatdozentin von heute auch in der Tat: freilich in anderer Weise, als es der von ihm vermittelte Anspruch erwarten lassen könnte. Denn für Eoban blieb der Erfolg seiner Abhandlung zwar nicht aus. Sie wurde zu einer Art Bestseller der humanistischen Trinkliteratur und erfuhr bis ins Jahr 1757 hinein eine Fülle von Neuauflagen.120 Darüber hinaus jedoch war sie ihrem Verfasser wenig hilfreich. Auf die erhoffte Stelle in Erfurt musste Eoban noch jahrelang warten,121 und an Tantiemen war im Zeitalter vor dem Urheberrecht ohnehin nicht zu denken. Die Vorbildhaftigkeit des Dichters zeigt sich entsprechend weniger in der Realisierung seiner Prätention, als in der Haltung, die in ihr zum Ausdruck kommt und die man in aller Kürze wohl am besten so formulieren kann: ‚Mach Dir nichts draus, hebʼ lieber einen.‘ Vorbildhaft ist Eoban damit vor allem, weil er unbekümmert um die Anfechtungen Fortunas weiterlebt, -dichtet und -bechert, weil er sich von der äußeren Notlage weder in seinem Weg noch in seinem Selbstbewusstsein beirren lässt – und nicht zuletzt deshalb, weil er all dem witzig und selbstironisch Ausdruck verleiht. Da dem aus heutiger Sicht kaum etwas hinzuzufügen ist, sei das letzte Wort dem ebenso gelehrten wie feingeistig formulierenden Sprecher der Abhandlung über die Trunkenheit überlassen:
120 Die Abhandlung wurde nach dem dritten Druck 1516 zunächst vergessen und erst in der Mitte des Jahrhunderts von Kaspar Scheidt erneut publiziert (1556) – auf dieser Ausgabe basieren 12 weitere (bis 1757). Die Druckgeschichte führte den Text dabei sowohl mit den Heidelberger Scherzreden Jakob Hartliebs und Paul Oleariusʼ (vgl. vorn, Anm. 66) als auch mit den ‚Epistolae obsurorum virorum‘ zusammen. Dazu H. VREDEVELD in der Einleitung zu: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 40), S. 210–212. 121 Vgl. vorn, Anm. 25. – 59 –
Cum te mortalem noris, presentibus exple Deliciis animum. Post mortem nulla voluptas. Eya sane pulcherrima [..] sententia! Eya, wie ein gute meynung ist es, wo man stetes guter ding ist! Secundum Senceam, „Vivite laeti, dum fata sinunt,“ lat uns schlemmen die weil wirs mogen und haben; „cras forte non licebit.“ […] Szo gehen myr, secundum Psalmographum, „de virtute in virtutem,“ von eyner zech in die andern, ut scribitur in Taberna culis rusticorum, Im land zu Sachßen, ca., Ubique, in antiquo pariete, cum albis carbonibus: Sauff dich vol und leg dich nyeder. Stehe fru auff und vol dich wieder. Szo vertreybt eyn füld die ander, Das schreybt der güte frumme priester Allexander. „Ecce quam bonum et quam iocundum habitare fratres in unum,“ wan die bruder zu sammen thun und werffen den abt zum fenster auß, quia „tunc repletum est gaudio os nostrum,“ ßo wollen mir unßern schnabel in weyn waschenn, „et lingua nostra in exultatione,“ unnd wollen mit freuden syngen: Keyn besser freud auff erden ist, Dan gutes leben han. Mir wirt nit mehr zu dyßer frist Dan schlemmen umb und an, Dar zu ein guter mut. Ich reyß nit ser noch guth, Als mancher reicher burger Noch großem wucher thut.122
122 De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 40), cap. 2.7–13. – 60 –
Exkurs
Eobans ‚Studentenabenteuer‘ und die humanistische Poetik des Wiedererzählens Zur Erhärtung der These, dass die Italiener den Deutschen ihre Trunksucht zu Recht vorwerfen und um die schädlichen Auswirkungen des Alkohols speziell auf die weibliche Tugend zu belegen, erzählt der Sprecher der Abhandlung ‚Über die Arten der Betrunkenen und die Vermeidung der Trunkenheit‘ zwei exemplarische Geschichten: „De adulterio duorum ebriorum“ und „De duobus studentibus qui hospitem cum uxore et filia inebriarunt“.1 Dass es sich bei der zweiten dieser Geschichten um eine Version der im europäischen Raum weit verbreiteten Erzählung vom ‚Studentenabenteuer‘ handelt, hat die Forschung zwar schon früh erkannt, es war ihr jedoch kaum mehr als ein paar Fußnoten wert.2 Der Grund für das fehlende Interesse scheint dabei 1
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De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda, in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus. Edited, Translated and Annotated by HARRY VREDEVELD III: King of Poets, 1514–1517, The Renaissance Society of America texts and studies series I, Leiden/Boston 2012, S. 175–213 (Einführung) und S. 214–321 (Edition), hier cap. 13f. Die gängigen Überblicksdarstellungen beschränken sich darauf, die Existenz des Textes zu erwähnen: ROLF MAX KULLY, Art. Studentenabenteuer A, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon IX, 2. Auflage, Berlin 1995, Sp. 461–464, hier Sp. 462, FRAUKE-FROSCHFREIBURG, Schwankmären und Fabliaux. Ein Stoff- und Motivvergleich, GAG IL, Göppingen 1971, S. 119–128, hier S. 120. Sie berufen sich auf eine ältere Forschung, die über eine knappe stoffgeschichtliche Einordnung des Textes nicht hinauskommt: So bes. HERMANN VARNHAGEN, Die Erzählung von der Wiege, in: Englische Studien IX 1886, S. 240– 266, hier S. 259 und 266. WILHELM STEHMANN, Die mittelhochdeutsche – 61 –
zuallererst in der Realisierung des Stoffes zu liegen. Ein vergleichender Blick auf die in französischer, niederländischer, deutscher, italienischer und englischer Sprache überlieferten Versionen3 genügt, um das neulateinische ‚Studentenabenteuer‘ als
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Novelle vom Studentenabenteuer, Palaestra LXVII, Berlin 1909, S. 111, Anm. 1. In der letzten größeren vergleichenden Untersuchung werden die älteren Arbeiten zwar sämtlich belegt; sie selbst argumentiert jedoch ohne genauere Kenntnis des lateinischen Textes (vgl. Anm. 8): HANS-JOACHIM ZIEGELER, Boccaccio, Chaucer, Mären, Novellen: ‚The Tale of the Cradle‘, in: KLAUS GRUBMÜLLER/L. PETER JOHNSON/HANS-HUGO STEINHOFF (Hrsg.), Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Kolloquium 1987, Paderborn/München/Wien/Zürich 1988, S. 9–31, hier bes. S. 18. Der naheliegende Bezug zur lateinischen Fazetiendichtung wird von keiner der genannten Arbeiten hergestellt; dazu erst jüngst der erhellende Seitenblick von JOHANNES KLAUS KIPF, Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum, Literaturen und Künste der Vormoderne II, Stuttgart 2010, S. 514f. Ich versuche im Folgenden, den Versionenvergleich mit einem Fokus auf die jeweils gattungsspezifische Poetik zu verbinden. H.-J. ZIEGELER, Boccaccio (wie Anm. 2), S. 18 nennt insgesamt zwölf Texte; darunter neun mittelalterliche: Zwei französische (ein Fabliau von Jean Bodel, Ende 12. Jh. und ein anonymes Fabliau, 13. Jh.), zwei deutsche (das ‚Studentenabenteuer‘ A, Mitte 13. Jh., sowie Rüdegers von Munre ‚Irregang und Girregar‘, um 1300), einen niederländischen (‚Een bispel van ij clerken, ene goede boerde‘, Ende 14./Anfang 15. Jh.), einen italienischen (Giovanni Boccaccio, Decameron IX, 6, 1349/51), zwei englische (‚The Reeve’s Tale‘ aus Goeffrey Chaucers ‚Canterbury Tales‘, Ende 14. Jh. sowie den anonymen ‚Milner of Abington‘, frühes 16. Jh.) und einen lateinischen (Helius Eobanus Hessus, ‚De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda‘, 1515). Dazu stellt Ziegeler drei deutsche Bearbeitungen aus dem 16. Jahrhundert (vgl. Anm 6). Der Vollständigkeit halber wäre auch auf die Vielzahl weiterer neuzeitlicher Bearbeitungen im gesamten europäischen Raum zu verweisen: vgl. HANS-JÖRG UTHER, The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography, based on the System of ANTTI AARNE and STITH THOMPSON, Part II, FFC CCLXXXV, Helsinki 2004, S. 168f. Ziegelers bibliographische Angaben zu den mittelalterlichen Texten sind zu ergänzen um die Edition des englischen ‚Milner of Abington‘ durch JOSEPH RAITH, in: Aus Schrifttum und Sprache der Angelsachsen IV 1936, S. 125–160. Zudem – 62 –
wenig reizvoll abzutun. Zu zurückgenommen in der narrativen Ausgestaltung scheint es, zu deutlich auf das minimale Handlungsgerüst reduziert, zu ausschließlich seiner exemplarischen Aussage verpflichtet, zu sparsam motiviert sowie nicht zuletzt viel zu wenig daran interessiert, den verschlungen Handlungsknoten in einer für den Leser befriedigenden Weise wieder aufzulösen.4 All das gilt in besonderem Maße, wenn man es von der Bearbeitung her ins Auge fasst, die seiner Materie dem Urteil der Forschung zufolge erstmals die Komplexität und die normative Ambivalenz der neuzeitlichen Novelle verleiht:5 „Daß im deutschen Sprachgebiet“, so die einschlägige Formulierung Hans-Joachim Ziegelers, „nicht einmal in der Rezeption Boccaccios dessen literarische Bewußtheit und das heißt seine Erzählkonzeption gewahrt bleiben, ließe sich am lateinischen Exempel gegen die Trunkenheit […] zeigen.“6
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sei auf die mit einer neuniederländischen Übersetzung versehene Neuausgabe der mittelniederländischen Boerde hingewiesen: Een bispel van II clerken, ene goede boerde, in: Van de man die graag dronk en andere middelnederlandse komische verhalen, edd. KAREL EYKMANN/FRED LODDER, Amsterdam 2002, S. 106–119. Ich formuliere hier einen Eindruck, der gleich weiter ausgefaltet und in seinen Voraussetzungen und Bewertungskriterien hinterfragt werden soll. Dies sind der bahnbrechenden und überaus einflussreichen Studie Neuschäfers zufolge (neben der Freiheit des Handelns und der Offenheit des weltanschaulichen Erfahrungshorizonts) zwei der Merkmale, die Boccaccios Novellen gegen die ältere Erzähltradition abgrenzen und so ihren Schritt aus dem mittelalterlich-exemplarischen Erzählen heraus in die Novellistik der Neuzeit begründen. HANS-JÖRG NEUSCHÄFER, Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit, München 1969; zur Erzählung von der verstellten Wiege bes. S. 27, Anm. 16. H.-J. ZIEGELER, Boccaccio (wie Anm. 2), S. 31. Er verweist an dieser Stelle außerdem auf die drei anderen deutschen Bearbeitungen des Stoffes im 16. Jahrhundert: Auf HANS SACHSʼ Meisterlied ‚Die zwey gesellen mit dem wirt. In dem langen tone Mügelings‘ (1554), in: Ders., Sämtliche Fabeln und Schwänke, edd. EDMUND GOETZE/KARL DRESCHER VI, Halle a. S. 1913, S. 101–103, sowie die Erzählungen MICHAEL LINDENERs – 63 –
Ist Eobans Version der Erzählung vom ‚Studentenabenteuer‘ also als literaturhistorisch rückschrittlich zu bewerten, als Regression aus der von Boccaccio bereits in die Neuzeit gehobenen Kunst des novellistischen Erzählens in platte mittelalterliche Exemplarik?7 Wie wenig angemessen ein solches Urteil ist, erhellt schon die Tatsache, dass Eoban die stoffgleiche ‚Decameron‘Novelle – es ist die 6. des 9. Tages – mit einiger Sicherheit gar nicht kannte und demnach hier mitnichten, wie Ziegeler bemerkenswerterweise ganz selbstverständlich annimmt, ins Umfeld der Rezeption Boccaccios zu stellen ist.8 Dass der lateinische
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(1558), in: Ders. Rastbüchlein und Katzipori, ed. FRANZ LICHTENSTEIN, BLVS CLXIII, Tübingen 1883, S. 37–41 (‚Rastbüchlein‘ Nr. 24) und MARTIN MONTANUSʼ (1560), in: Ders., Schwankbücher, ed. JOHANNES BOLTE, BLVS CCXVII, Tübingen 1899, S. 347–350 (‚Gartengesellschaft‘ Nr. 86). Anders als der lateinische Text gehen diese tatsächlich auf Boccaccio zurück; als vermittelnde Instanz muss hier freilich unbedingt auf Arigos Decameron-Übersetzung verwiesen werden: HEINRICH STEINHÖWEL, Decameron, ed. ADALBERT VON KELLER, BLVS LI, Stuttgart 1860, S. 569–573. Dies ist nicht ausdrücklich die Position H.-J. ZIEGELERs, Boccaccio (wie Anm. 2), der es sich, ebd. bes. S. 30, zum Ziel macht, die von NEUSCHÄFER beschriebene Entwicklung in ihrer Teleologie zu relativieren. Wenn er die deutschen Bearbeitungen des Stoffes im 16. Jahrhundert unter der Perspektive eines Beharrens in mittelalterlichen Erzählmustern beschreibt, bestätigt er gleichwohl die Epochenschwelle, die er eigentlich auflösen wollte. Dasselbe gilt für die Darstellung KLAUS GRUBMÜLLERs, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, S. 313–333, hier S. 319, wo die deutsche Boccaccio-Rezeption im 16. Jahrhundert unter der Aussage subsumiert wird, dass „Boccaccios Novellen in Mären zurücktransformiert werden.“ Auch hier wird mithin der „Kunstcharakter des ‚Decameron‘“ (ebd. S. 333) als einziger Maßstab der Bewertung genommen, etwaige andere literarische Ästhetiken finden dagegen keine Beachtung. Ziegelers Präsupposition zeugt nicht nur von unzureichender Kenntnis des lateinischen Textes, sondern auch von einer Perspektive, die alles Spätere wie automatisch auf Boccaccio bezieht. Dass dieses Vorgehen an der historischen Realität vorbeigeht, belegt schon ein flüchtiger Blick auf – 64 –
Text „dessen literarische Bewußtheit und das heißt seine Erzählkonzeption“ nicht bewahrt, ja gar nicht bewahren kann,9 ist deshalb zwar keineswegs von der Hand zu weisen. Es sollte jedoch auch nicht als Argument im Streit um das Für und Wider eines grundstürzenden Umbruchs im novellistischen Erzählen an der Schwelle zur Neuzeit ins Feld geführt werden. Meine Betrachtung geht darum, wenn sie die Frage nach der epochalen Faktur des lateinischen ‚Studentenabenteuers‘ vollständig durch den
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die Forschung zur deutschen Boccaccio-Rezeption, die nachdrücklich herausstellt, wie wenig man selbst nach dem Erscheinen von Arigos Gesamtübersetzung (1476/77) in Deutschland von der Kenntnis des ‚Decameron‘ ausgehen kann. Das gilt auch für die humanistischen Kreise, wo man mit Boccaccios ‚Decameron‘ bis weit in die ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts hinein nicht das italienische Original und auch nicht Arigos Übersetzung, sondern zumeist lateinische Übertragungen einzelner ‚Decameron‘-Novellen meint. In diesem Zusammenhang ist unbedingt auch auf Eobans ebrietas-Abhandlung zu verweisen, wo sich im expliziten Verweis auf „Cimonem Boccaccii“ eine genauere Kenntnis des ‚Decameron‘ anzudeuten scheint: De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 20.25. De facto bezieht sich Eoban jedoch vermutlich auf die lateinische Versbearbeitung der ‚Decameron‘-Novelle V, 1 durch Filippo Beroaldo. Da diese um 1500 im Umfeld der Leipziger Artistenfakultät – gemeinsam mit Beroaldos Bearbeitungen von Boccaccio IV, 1 und X, 8 – ediert wurde, darf man wohl annehmen, dass Eoban sie während seines Aufenthalts in Leipzig kennengelernt hat. Dazu CHRISTA BERTELSMEIER-KIERST, Zur Rezeption des lateinischen und volkssprachlichen Boccaccio im deutschen Frühhumanismus, in: ACHIM AURNHAMMER/RAINER STILLERS (Hrsg.), Giovanni Boccaccio in Europa. Studien zu seiner Rezeption in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung XXXI, Wiesbaden 2014, S. 131– 153, hier S. 137. Vgl. auch MICHAEL DALLAPIAZZA, Stadt – Hof – Kloster: Wer rezipiert Boccaccio?, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft VII 1992/93, S. 103–114, LUISA RUBINI MESSERLI, Boccaccio deutsch. Die Dekameron-Rezeption in der deutschen Literatur (15.– 17. Jahrhundert), Chloe XLV, 2 Bde. Amsterdam/ New York 2012. Unter dieser Prämisse ist freilich kaum von einem Bewahren zu sprechen. Besser sollte man sagen, dass Eoban Boccaccio in seiner Erzählkonzeption, da er sie nicht kennt, unmöglich folgen kann. – 65 –
Blick auf seine konkreten literatur- und gattungsgeschichtlichen Zusammenhänge ersetzt, von vornherein anders vor. Mein Ansatz, Eobans Exempel gegen die Trunkenheit im Zusammenhang einer humanistischen Poetik des Wiedererzählens zu deuten,10 verfolgt im Wesentlichen zwei Ziele: Er soll illustrieren, wie Eoban eine mehr oder weniger ‚volksläufige‘ Geschichte ins Vexierbild seiner von lateinischem Autorstolz durchdrungenen Selbstapologie einpasst. Und er soll zeigen, dass die spezifische literarische Bewusstheit seines Textes gerade da am stärksten zum Ausdruck kommt, wo dieser der Forschung bisher als unterkomplex und restaurativ erschien. – Die Abkehr von der Bewertung alles Späteren am Maß von Boccaccios Novellistik erweist sich damit geradezu als die Voraussetzung dafür, den Reiz von Eobans ‚Studentenabenteuer‘ überhaupt wahrnehmen zu können.11 10 Zum Konzept des Wiedererzählens: FRANZ JOSEF WORSTBROCK, Wiedererzählen und Übersetzen, in: WALTER HAUG (Hrsg.), Mittelalter und Frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze, Fortuna Vitrea XVI, Tübingen 1999, S. 128–142. Zum Wiedererzählen unterhaltender Kurzformen im humanistischen Kontext bes.: JOHANNES KLAUS KIPF, Zwischen Wiedererzählen und Übersetzung. Übertragungen frühneuhochdeutscher Schwänke in neulateinische Fazetien und umgekehrt im Vergleich, in: BRITTA BUßMANN/ALBRECHT HAUSMANN/ANNELIE KREFT/ CORNELIA LOGEMANN (Hrsg.), Übertragungen. Formen und Konzepte von Reproduktion in Mittelalter und Früher Neuzeit, Trends in Medieval Philology V, Berlin/New York 2005, S. 219–251. 11 Es geht mir dabei wohlgemerkt weder darum, die epochale Neuerungsleistung Boccaccios zu relativieren noch darum, die auf deutschsprachigem Gebiet entstehenden Kurzerzählungen der Frühen Neuzeit als mehr oder weniger ‚mittelalterlich‘ zu klassifizieren. Ich möchte vielmehr in einer perspektivischen Wendung den Blick für einen literaturgeschichtlichen Nexus öffnen, der von der diesbezüglich fast ausschließlich auf Boccaccio konzentrierten Forschung weitgehend übersehen worden ist. Exemplarisch für diese etwa JOACHIM HEINZLE, Boccaccio und die Tradition der Novelle. Zur Strukturanalyse und Gattungsbestimmung kleinepischer Formen zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: WERNER SCHRÖDER (Hrsg.), Wolfram-Studien V, Berlin 1979, S. 41–62, JAN-DIRK – 66 –
Ich beginne meine Überlegungen mit einem Vergleich, der neben den stoffgeschichtlichen Zusammenhängen von Eobans Erzählung zugleich ihre Bearbeitungstendenz veranschaulichen soll. Der Übersichtlichkeit halber beschränke ich mich dabei – mit einigen Seitenblicken auf Boccaccio IX, 6 – auf die zu diesem Zweck einschlägigste Version: das ins 13. Jahrhundert zu datierende mittelhochdeutsche ‚Studentenabenteuer‘ A.12 Dass dieses dem lateinischen Text sehr viel näher steht als Boccaccios Novelle, ist schon auf ersten Blick nicht zu übersehen. Nur hier werden die beiden Protagonisten als Studenten dargestellt, und nur hier spielt auch der Wein eine größere Rolle.13 Die Übereinstimmung gerade in diesen beiden für Eoban MÜLLER, Noch einmal: Märe und Novelle. Zu den Versionen des Märe von den ‚Drei listigen Frauen‘, in: ALFRED EBENBAUER (Hrsg.), Philologische Untersuchungen. Gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag, Philologica Germanica VII, Wien 1984, S. 289–311, INGRID KASTEN, Erzählen an einer Epochenschwelle. Boccaccio und die deutsche Novellistik im 15. Jahrhundert, in: WALTHER HAUG (Hrsg.), Mittelalter und Frühe Neuzeit (wie Anm. 10), S. 164–186. Wie sehr Boccaccio noch immer als einziger Bezugspunkt der gesamten europäischen Novellistik des 15. und 16. Jahrhunderts betrachtet wird, zeigt auch die Überblicksdarstellung K. GRUBMÜLLERs, Die Ordnung, der Witz und das Chaos (wie Anm. 7), S. 291–333. 12 Ich zitiere den Text nach der Ausgabe von W. STEHMANN, in: Ders., Die mittelhochdeutsche Novelle vom Studentenabenteuer (wie Anm. 2), S. 198– 216. Für Boccaccios ‚Decameron‘-Novelle IX, 6 sei neben der Ausgabe von Vittore Branca II, Einaudi tascabili; Classici IC, Turin 1992, S. 1073–1079 auf die deutsche Übersetzung von Karl Witte verwiesen: Giovanni Boccaccio, Das Dekameron, Frankfurt a. M. 2008, S. 759–764. 13 Ich formuliere hier ausschließlich in Bezug auf die drei genannten Versionen. In weiterer Perspektive wäre zu ergänzen, dass nur Boccaccio und die von ihm abhängigen Bearbeitungen die Protagonisten nicht als Studenten zeichnen. Dass Eoban nicht in der Nachfolge Boccaccios steht, sondern sich an einer anderen Traditionslinie orientiert, wird schon an diesen Details deutlich. Das Motiv des Alkohols findet sich außer im deutschen ‚Studentenabenteuer‘ A auch in einigen anderen Versionen, so besonders bei Rüdeger von Munre und Chaucer. Da es sich anbietet, die – 67 –
zentralen Punkten dürfte kaum zufällig sein: Man kann wohl annehmen, dass genau sie ihn dazu veranlassten, die bekannte Geschichte von der verstellten Wiege und dem durch sie zustande gebrachten Bettentausch in seiner Abhandlung zu verarbeiten. Als seine Quelle wäre demzufolge eine Erzählung zu vermuten, die zumindest in ihren Grundzügen weitgehend dem ‚Studentenabenteuer‘ A entsprach.14 Unter dieser Voraussetzung lässt ein Vergleich die Eingriffe, die Eoban in seinem Sinne vorgenommen haben dürfte, eindrücklich hervortreten. So beschreibt zwar auch er seine Protagonisten als reisende Studenten; jedoch zeichnet er die beiden jungen Männer, die ihr begehrliches Auge auf die Frau und die Tochter eines ihrer Gastgeber richten, nicht wie der mittelhochdeutsche Text als reiche Bürgersöhne und reine ‚Freizeitstudenten‘,15 sondern als ‚echte‘, mit dem akademischen Leben wohlvertraute Erfurter Kommilitonen. Zu deren offenbar lockerem Lebenswandel – sie haben sich ihrem Aristoteles fleißig, wenngleich in etwas unorthodoxer Weise gewidmet: „compleverunt namque undecim libros Aethicorum Erphurdiae apud Sanctum Gothardum auff dem Schiltgen, et Posteriorum apud Scotos, Phisicorum auff dem Sperlingßberge“16 – passt es auch, wenn nächtliche Verwirrung mit dem Alkoholgenuss beim vorangehenden Abendessen zu motivieren, ist Polygenese hier zumindest wahrscheinlich. 14 Ich verweise damit nur allgemein auf den Traditions- und Motivzusammenhang, ohne eine Aussage über direkte Abhängigkeitsverhältnisse zu treffen: Diese dürften aufgrund der vermutlich mündlichen Überlieferung (vgl. dazu unten, S. 74 mit Anm. 32) ohnehin unzugänglich bleiben. 15 Sie begeben sich ausdrücklich nur um des Vergnügens willen nach Paris: Studentenabenteuer A, ed. W. STEHMANN (wie Anm. 12), v. 70–75. 16 De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 14.4. Sie haben also 11 der 10 Bücher der Nikomachischen Ethik durchgenommen, sich augenscheinlich (auch) mit anderen posteriores befasst als mit denen der Analytica posteriora und – auf Basis der Aristotelischen Naturphilosophie? – physische Studien betrieben; all dies wohlgemerkt nicht in der Universität, sondern in den Gassen und auf den Plätzen des – 68 –
sie kurzerhand beschließen, die Erfüllung ihrer Wünsche voranzutreiben, indem sie die Gastgeberfamilie mit Wein abfüllen. Bei ihren mittelhochdeutschen Vorgängern hatte die Bewirtung noch ausschließlich dazu gedient, sich dem Hausherrn und seiner Tochter gewogen zu machen:17 Es deutet also alles darauf hin, dass Eoban die Geschichte sowohl auf das Thema als auch das imaginierte Zielpublikum seiner Rede hin zuspitzt. Die Haupthandlung findet demgegenüber ohne derlei offensichtliche Anpassungen statt. Auffällig ist hier nur eine Zielstrebigkeit im Agieren der Studenten, die in Anbetracht ihrer eigenen Trunkenheit („et ipsi duo studentes madidi“) zumindest bemerkenswert ist.18 Wie in den anderen Versionen nächtigen alle fünf Figuren in einer Kammer, in der es nur drei Betten gibt: in einem schläft die Tochter, im zweiten liegen die Studenten, im dritten die Eheleute; daneben steht die Wiege eines weiteren Kindes. Ein Student schleicht sich zum Bett der Tochter, wo er anders als in den anderen Versionen zwar nicht erwartet, aber trotzdem mit offenen Armen empfangen wird.19 Als die Ehefrau, aufgestört durch ein Geräusch, den Raum verlässt, nutzt der zweite Student die Chance und zieht die Wiege an sein eigenes Bett (nur bei Boccaccio verschiebt er sie versehentlich). Die Frau, die sich im Dunkeln an der Wiege orientiert, glaubt, die Schlafstelle sei ihre eigene und legt sich zum mittelalterlichen Erfurt. Vgl. H. VREDEVELDS Kommentar zur Stelle, ebd. S. 274f. 17 Das ‚Studentenabenteuer‘ A, ed. W. STEHMANN (wie Anm. 12), v. 157– 183 betont den höfischen Charakter der Geste: Die jungen Männer zeigen sich für die Herberge erkenntlich, indem sie selbst für das Abendessen sorgen und der Tochter des Hauses Geschenke machen. 18 De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 14.4. 19 Die Begründung ist wohl dem Streben nach Kürze zum Opfer gefallen. Was davon noch übrig ist („accedens eamque consolari volens“, ebd.), verweist indes ebenfalls auf das ‚Studentenabenteuer‘ A, wo die zuvor erregte Liebeskrankheit der Tochter nach Beschwichtigung verlangt: ed. W. STEHMANN (wie Anm. 12), v. 235–263. – 69 –
Studenten, der sich ihrer sofort eifrig annimmt. Wiewohl sie ob der ungewohnten Manneskraft ihres vermeintlichen Gatten höchst erstaunt ist – im ‚Studentenabenteuer‘ A macht sie den abendlichen Weingenuss dafür verantwortlich20 –, schöpft sie vorerst keinen Verdacht. Erst als der erste Student bei Tagesanbruch zu seinem Gefährten zurückkehren will und dabei, sich gleichfalls an die verstellte Wiege haltend, ins Bett des Ehemanns gerät, fliegt der Bettentausch auf – was nun freilich in den drei Versionen ganz verschiedene Folgen zeitigt. Eobans Erzählung fällt hier vor allem durch ihre Kürze auf: Von der Rede des sich seines Abenteuers brüstenden Studenten plötzlich ernüchtert, ruft der doppelt düpierte Gastgeber nach seiner Frau. Diese sieht ihren Irrtum ein, bekennt den eigenen Fehltritt, vergibt der Tochter und besänftigt ihren Mann mit dem Hinweis darauf, dass alles seine Schuld sei. Denn (wie er wohl hätte wissen müssen) man tue eben betrunken so einiges, woran man nüchtern nicht einmal denken würde.21 Dieser Schluss fügt sich zwar nahtlos in die exemplarische Aussage der Abhandlung; er wirkt aber im Vergleich zu den anderen Versionen dennoch insofern merkwürdig, als ihm eine vergleichbare Pointe gänzlich abgeht. Bei Boccaccio schlüpft die Frau, als sie den Gast im Bett ihres Gatten bemerkt, flugs in das der Tochter und behauptet gelassen, dort schon die ganze Nacht gelegen zu haben.22 Im ‚Studentenabenteuer‘ A geschieht Ähnliches unter der Regie des zweiten Studenten: Er schickt die Frau nach einer Kerze und zieht den Liebhaber der Tochter
20 Ebd. v. 362–373. Die Wendung hätte zweifellos auch zu Eobans Erzählung gepasst, aber wohl gleichfalls die pointierte Kürze beeinträchtigt. 21 “[…] quae itidem se apud adulterum esse cognoscens errorem confessa filiam de stupro non increpavit maritoque persuasit ne domesticam maculam propalaret; euis enim id omne culpa accidisse clamitabat. Ita fit nonnunquam, ut, quod sobrii cogitamus quidem, ebrii facile admittamus.” De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 14.10f. 22 Ed. V. BRANCA (wie Anm. 12), S. 1078. – 70 –
zurück in sein Bett. Als die Frau mit der Kerze zurückkommt und ihren Mann (während die Studenten anscheinend friedlich schlafen) in einem (vom vorangehenden Gerangel mit dem Gast herrührenden) derangierten Zustand vorfindet, ahnt sie zwar die Zusammenhänge, rettet sich jedoch dankbar in die von ihrem Mann vorgeschlagene Erklärung, dass man wohl Opfer einer teuflischen Blendung geworden sei.23 Der Witz besteht mithin in beiden Versionen darin, dass die drohende Aufdeckung der ersten Finte durch einen erneuten Betrug verhindert wird, dass also nach einem typischen Verlaufsschema des Schwanks auf einen ‚Schlag‘ ein ‚Nachschlag‘ folgt.24 Wenn Eoban diese Doppelung nicht vornimmt, so verweigert er sich damit nicht allein dem, was in allen anderen Versionen den komischen Effekt der Geschichte ausmacht; er verletzt auch das Gesetz der Gattung, der er seine Erzählung entlehnt. Das erstaunt insofern, als zumindest beim ersten Hinsehen kein plausibler Grund für sein Vorgehen absehbar ist – für die Herausarbeitung der exemplarischen Aussage wäre die Verkürzung jedenfalls durchaus nicht notwendig gewesen: Die Einsicht in die üblen Folgen der Trunkenheit hätte ebenso gut 23 Ed. W. STEHMANN (wie Anm. 12), v. 409–455. 24 In der Typologie Bausingers liegt damit der „Steigerungstp“ vor: HERMANN BAUSINGER, Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen. in: Fabula IX 1967, S. 118-136, bes. S. 127. Zur Benennung des Handlungsmodels KLAUS GRUBMÜLLER, Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik, in: WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER (Hrsg.), Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, Fortuna Vitrea VIII, Tübingen 1993, S. 37–54, hier S. 41. Das Schema von ‚Schlag‘ und ‚Nachschlag‘ wird hier freilich in beiden Fällen dadurch relativiert, dass der Schaden des Vaters und Ehemanns durch den zweiten Betrug eher begrenzt als vermehrt wird: Im ‚Studentenabenteuer‘ A wird er zwar verprügelt, aber vor dem Offenbarwerden des Ehrverlusts bewahrt; bei Boccaccio fehlt sogar die Schlägerei, weshalb er gänzlich schadlos davonkommt – zumindest soweit er das Geschehen überblickt. Die durch das Schwankschema begründete Überlegenheit der Gäste ist damit hier wesentlich eine des Wissens. – 71 –
nach einer geglückten Verschleierung des erotischen Abenteuers formuliert werden können.25 An dieser Stelle ist zumindest zu erahnen, was die Reserve der Forschung gegenüber dem lateinischen ‚Studentenabenteuer‘ begründet haben dürfte.26 Weil Eoban, so vermutlich ihr Schluss, bei der Auswahl seiner Erzählung allein die exemplarische Aussage im Blick gehabt habe, verkenne er – sei es aus Unverständnis, sei es aus Sorglosigkeit – ihren schwankhaften Charakter und verpatze deshalb die Pointe. Seine Version der Geschichte erscheint darum wenig gelungen, bestenfalls stoffgeschichtlich interessant und für den Vergleich mit den literarisch anspruchsvollen Bearbeitungen Boccaccios und Chaucers ungeeignet. Wie sehr dieses Urteil allein aus der Perspektive des volkssprachlichen Novellierens formuliert ist und wie wenig es dem Anliegen von Eobans lateinischer Bearbeitung gerecht wird, ist von hier aus leicht einsichtig zu machen. Denn das literarische Modell, das Eoban beim Wiedererzählen des Stoffes im Auge gehabt haben dürfte, ist mit ziemlicher Sicherheit nicht das des Schwanks. Er folgt vielmehr dem Vorbild der Fazetie: einer Gattung also, deren Ziel nicht die detaillierte Ausmalung einer zweiteiligen Handlungskomplikation, sondern die Pointierung eines möglichst kondensiert wiedergegebenen Geschehens auf einen witzigen Ausspruch – oder, im selteneren Fall: eine witzige Handlung – ist.27 Deutlich in diese Richtung verweist auch
25 Wenn diese wie im ‚Studentenabenteuer‘ A der Geistesgegenwart eines der Studenten zu verdanken gewesen wäre, hätte sich deren intellektuelle Überlegenheit sogar noch deutlicher erschlossen. 26 Ich formuliere dies auf Basis der Kriterien, anhand derer H.-J. ZIEGELER und K. GRUBMÜLLER (dazu die Belege in Anm. 7) ihre Vorstellung einer (an Boccaccio orientierten) novellistischen Erzählkunst entwickeln. 27 Dazu grundlegend: WILFRIED BARNER, Art. Fazetie, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft I, Berlin 1997, S. 572–575, sowie Ders., Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetie, in: WALTER HAUG/ BURGHART WACHINGER (Hrsg.), Kleinere Erzählformen (wie Anm. 24), – 72 –
der Umstand, dass sich der Sprecher der Abhandlung über die Trunkenheit einige Seiten später explizit auf Heinrich Bebel beruft:28 den Autor, „der die literarische Form der Fazetie im deutschen Humanismus erstmals mit nachhaltigem Erfolg handhabt“.29 Dass Eoban an der besagten Stelle de facto keineswegs Bebels ‚Facetiae‘, sondern Johann Adelphus Mulings ‚Margarita facietarum‘ zitiert, ist übrigens nur umso bezeichnender: Es belegt, dass er die aktuellen Erscheinungen im Gebiet der lateinischen Kurzerzählung in breitem Umfang zur Kenntnis nimmt.30 Die Idee, es den populären Referenzgrößen zumindest gleichzutun und so die eigenen Fähigkeiten in der Kunst des fazeten Pointenschleifens unter Beweis zu stellen, darf bei ihm gewiss vorausgesetzt werden.31
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S. 287–310. Umfassend zur Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum zuletzt J. K. Kipf, Cluoge geschichten (wie Anm. 2). Er apostrophiert ihn als „doctissimus vir Bebelius“: De generibus ebriosorum, ed H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 24.15. Es folgen einige antiklerikale lateinische Distichen. So J. K. KIPF, Cluoge geschichten (wie Anm. 2), S. 224. Vom unmittelbaren Erfolg von Bebels ‚Facetiae‘ zeugen die frühen Nachfolger und Imitationen ebenso wie die überaus reiche Druckgeschichte: Dazu die folgende Anm. sowie umfassend J. K. KIPF, ebd. S. 284–294, DIETER MERTENS, Art. Bebel, Heinrich, in: Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon I, Berlin 2008, Sp. 142–163. Die ersten zwei Bücher von Bebels ‚Facetiae‘ erschienen 1508, ein drittes folgte 1512. Mulings Sammlung ‚Margarita facietarum‘ wurde durch die Publikation Bebels angeregt und schloss unmittelbar an (1508/09). Da beide Werke in Straßburg (bei Grüninger) publiziert und häufig zusammengebunden wurden, liegt es nahe, eine Verwechslung Eobans anzunehmen. So H. VREDEVELD in seiner Anm. zur Stelle in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 1), S. 606. Den literaturgeschichtlichen Kontext der Fazetien Bebels und Mulings und ihren Zusammenhang mit den universitären Scherzreden untersucht umfassend J. K. KIPF, Cluoge geschichten (wie Anm. 2), S. 224–284, 294–338, 505–521. Bebels Erfolgsmodell stellte das Muster und dürfte dem ebenso ruhmsüchtigen wie ehrgeizigen Dichter damit als literarische Herausforderung erschienen sein. – 73 –
Unter dieser Prämisse lassen sich alle Eigenheiten des lateinischen ‚Studentenabenteuers‘ ohne weiteres als Anpassung an die narrativen Konventionen der Zielgattung erklären. Im Zuge dessen auf weitergehende Parallelen zu den literarischen Verfahrensweisen Bebels und Mulings zu verweisen, liegt zumindest nahe. So greift auch Eoban auf eine deutsche Erzählung zurück, die ihm, wie Vredeveld vermutet, tatsächlich einfach irgendwo zu Ohren gekommen sein mag;32 und er bündelt sie bei gleichzeitiger inhaltlicher Konzentration zu einer Handlung, die gerade in ihrer regestenhaften Kürze nur umso deutlicher auf das – hier in indirekter Rede gegebene – Schlusswort zugespitzt ist.33 Dabei setzt er deutschsprachige Einschübe gezielt zur Steigerung der witzigen Wirkung ein34 und erzeugt durch die konkrete Anbindung an das Milieu der Erfurter Studentenschaft den Eindruck historischer Authentizität.35 Die Ersetzung des schwankhaften ‚Nachschlags‘ durch die Rede der Frau passt da ausgezeichnet ins Bild – wenngleich deren schlicht mahnender Hinweis die Erwartungen an ein facete dictum zugegebenermaßen nur bedingt erfüllt. Der sich zunächst nicht recht erschließende Witz wird aber vielleicht flagranter, wenn man ihn vor dem Hintergrund des abgewiesenen Schwank32 So H. VREDEVELD in seiner Anmerkung, in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus III (wie Anm. 1), S. 592. Das Konzept, volkssprachige Witze und Schwänke ins Lateinische zu übertragen, formuliert Bebel programmatisch in den Vorreden zu seinen ‚Facetien‘, dazu J. K. KIPF, Cluoge geschichten (wie Anm. 2), S. 226–245, 266–270. 33 Diese Beschreibung der Fazetie etwa ebd. S. 29–32, speziell zu Bebel S. 271–274. 34 Dieses Stilmittel der Fazetie apostrophiert W. BARNER, Funktionsgeschichte (wie Anm. 27), S. 305f., J. K. KIPF beschreibt es als typisch für die Fazetien Mulings: Cluoge geschichten (wie Anm. 2), S. 328. 35 Auch dies ist für die Fazetie seit Poggio typisch und kennzeichnet sie sowohl bei Bebel als auch bei Muling: W. BARNER, Funktionsgeschichte (wie Anm. 27), S. 301–304, J. K. KIPF, Cluoge geschichten (wie Anm. 2), S. 266f. und S. 332–335. – 74 –
modells als eine Form der Erwartungstäuschung beschreibt: Statt dem ersten Betrug noch einen zweiten obendrauf zu setzen oder ihm etwas entgegenzuhalten, tun die Figuren – nichts. Dafür schiebt die betrogen-betrügerische Ehefrau die gesamte Schuld lakonisch ihrem (während des Geschehens wohlgemerkt vollkommen untätigen) Ehemann zu, was dieser ohne Einwände hinnimmt und offenbar nichts Besseres weiß, als resigniert über den Ehrverlust von Frau und Tochter hinwegzusehen. Ob aus dem literarisch vermeintlich anspruchslosen Exempel gegen die Trunkenheit allein durch seine Verortung in einem anderen Gattungskontext schon eine Perle humanistischer Erzählliteratur wird, sei dahingestellt. Festgehalten werden sollte aber auf jeden Fall, dass von einer mangelnden „literarischen Bewusstheit“36 hier keine Rede sein kann. Eoban nimmt die literarischen Besonderheiten der Fazetie vielmehr sehr genau wahr und konzipiert sein Erzählen punktgenau auf diese hin. Dass er seine narrative Vorlage dabei keineswegs willkürlich beschneidet, sondern im Gegenteil deren Struktur und Poetik durchschaut und darüber hinaus durchaus darum bemüht ist, ihre Wirkung für seine Zwecke nutzbar zu machen, lehrt ein Blick auf die erste seiner beiden Beispielgeschichten.37 Denn bei dieser handelt es sich, wie bei näherem Hinsehen rasch ersichtlich wird, um nichts anderes als eine Variation des im lateinischen ‚Studentenabenteuer‘ gekappten Schlussteils.38 Die konkrete motivische Ausgestaltung verweist auch hier auf eine der deutschen A-Version ähnliche Vorlage. Dort endet die Geschichte, wie schon erwähnt, damit, dass der zweite Student und die Wiege an ihre ursprüngliche Stelle zurückexpediert werden, während die Frau eine Kerze herbeischafft, in deren Licht sie die Folgen des ganzen Tohuwabohu für ein Werk des 36 H.-J. ZIEGELER, Boccaccio (wie Anm. 2), S. 31. 37 De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (Anm. 1), cap. 13. 38 Das vermerkt auch J. K. KIPF, Cluoge geschichten (wie Anm. 2), S. 514f., ohne jedoch näher darauf einzugehen. – 75 –
Teufels erklärt. Im ersten Exempel der ebrietas-Abhandlung finden nun neben dem Motiv des Bettentauschs und dem studentischen Protagonisten auch die Wiege, die Kerze sowie nicht zuletzt der Verweis auf die Machenschaften des Teufels (ein weiteres Mal) Verwendung. Dort wird berichtet, wie die Frau eines Schmieds und ein Student ein nächtliches Trinkgelage in einvernehmlich ehebrecherischer Absicht vorzeitig verlassen, nach vollzogenem Akt aber aufgrund ihrer Trunkenheit unversehens einschlafen und so vom ebenfalls betrunkenen Schmied im Ehebett – daneben steht die hier für die Handlung funktionslose Wiege39 – angetroffen werden. Als der Mann die Szenerie im Licht der besagten Kerze erblickt, „magna voce exclamavit: ‚Welcher teufel hat dir das bevolhen? was hastu hie zu schaffen?‘“. Der Student greift das Wort flink auf, indem er vorgibt, bis dahin geglaubt zu haben, in seinem eigenen Bett zu liegen, der Schlafgefährtin erst jetzt gewahr zu werden und sie überdies für eben den zu halten, der eben vom Schmied beschworen wurde: „ich hab warlich nit anders gewust dan ich wer do heym bey meynen gesellen gelegen; sed ecce quid video? Welcher teuffel hat sich nw zu mir gelegt? […] Wolauff zum teufel, was ist das?“ Die Finte hat Erfolg: Der Schmied lacht, glaubt, es sei nichts vorgefallen und schickt den Studenten ungeschoren heim – nicht ohne ihn zum Stillschweigen über seine ‚Vision‘ zu ermahnen: „Sed ‚nemini dixeris visionem hanc‘, sagt nit dz ir seyt hie gewesen.“40 39 Um ein blindes Motiv handelt es sich gleichwohl nicht. Die Wiege dient als ‚Aufhänger‘ für die parodistische Erwähnung der Predigtsammlung ‚Dormi secure‘ sowie des um 1500 populären Weihnachtslieds ‚Puer natus in Betlehem‘: „in eo lecto […] edormiscerent, iuxta Sermones dormi secure, schweyg styll unnd leg dich, erwegk das kynd nicht. Erat enim iuxta lectum puer natus in Bettelßheym.“ De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 13.1f. Dazu die Kommentare zur Stelle sowie J. K. KIPF, Cluoge geschichten (wie Anm. 2), S. 514f. 40 De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 13.3– 13.6. – 76 –
Auch hier also der Bettentausch und auch hier die Auffindung durch den betrogenen Gatten. Anders als im zweiten Exempel wird der manifeste Ehebruch in diesem Fall aber kaschiert, wobei die dort fehlende Pointe nicht nur realisiert, sondern überdies in wörtlicher Rede facetienhaft zugespitzt wird. Damit kommt sie in gewisser Weise erst richtig zur Geltung: Während der Verweis auf die Machenschaften des Teufels im ‚Studentenabenteuer‘ A nur das letzte (und nicht einmal wichtigste) Glied in einer ganzen Kette von Listhandlungen war, wird er hier als geistesgegenwärtige Täuschung inszeniert, so ins Zentrum des Geschehens gestellt und durch die dialogische Darbietung in der Volkssprache in seinem Wortwitz noch zusätzlich hervorgehoben. Wenn man Eobans Exempel vor dem Hintergrund einer Poetik des fazeten (Wieder-)Erzählens betrachtet, dann kann folglich nichts unangebrachter sein als die Ansicht, dass er die Konzeption seiner Vorlage nicht verstanden und ihren komischen Effekt verdorben habe. Man muss vielmehr im Gegenteil sagen, dass er das Potential seines Stoffes scharf beobachtet und es durch dessen Aufteilung in zwei straff erzählte und präzise pointierte Geschichten konsequent entfaltet hat. In diesem Sinne durfte Eoban sich gewiss mit einigem Recht zugutehalten, dem vulgär-ungeschliffenen Schwankstoff die Dignität humanistischer Latinität verliehen und damit ein weiteres Mal die eigene Qualität als Dichter bewiesen zu haben. Doch damit noch nicht genug: Weitet man den Blick von hier aus noch einmal auf die Abhandlung als Ganze, so kann kein Zweifel daran bestehen, dass die beiden Exempel deren Darstellungsstrategie nicht allein unterstützen, sondern geradezu im Kleinen wiederholen. Auch sie verbinden eine an der Textoberfläche ausgestellte – und zweifellos ernst gemeinte – Warnung vor den Folgen der Trunkenheit mit einer zwar subtilen, für den aufmerksamen Leser aber unschwer zu erkennen-
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den Einschränkung.41 Fragt man nämlich danach, welchen der handelnden Figuren der übermäßige Alkoholgenuss am meisten, oder besser: wem er überhaupt schadet, so lautet die Antwort ganz eindeutig: Schaden nehmen zum einen die Frauen, die durch den Alkohol die Selbstkontrolle verlieren, sich ihren studentischen Verführern in die Arme werfen und das – zumindest wenn es herauskommt – im Nachhinein vielleicht sogar ehrlich bereuen.42 Und Schaden nehmen zum andern die in ihrer Wachsamkeit nachlassenden Ehemänner und Väter, die am Ende als die wissentlich oder unwissentlich Betrogenen dastehen. Wer hingegen offenbar keinen Schaden davonträgt, das sind die Studenten. Weil der Alkohol ihnen nichts auszumachen scheint, können sie im Gegenteil von der Trunkenheit der anderen Figuren sogar profitieren. Im zweiten Exempel scheinen sie das insofern ins Kalkül einzubeziehen, als sie den Wein gezielt zum Mittel ihres Zwecks machen: Die Studenten sind sich offenbar dessen bewusst, dass sie ihre Pläne auch unter massiver Alkoholeinwirkung noch in die Tat umsetzen können. In gewisser Weise bauen Sie dabei auf der Erfahrung des ersten Exempels auf, das ja zeigt, wie der Student auch im Vollrausch noch schlagfertig genug ist, um seinen Kopf mit einem wohl gesetzten Witzwort aus der Schlinge zu ziehen. Während alle anderen also gut daran tun, ihren Alkoholkonsum zu mäßigen, besteht dazu für die Studenten kein Grund: Sie dürfen sich dem Alkohol ungehemmt hingeben, weil sie ihren Mitmenschen kraft Trinkfestigkeit und Intelligenz haushoch überlegen sind. Hinter der exemplarischen Zurschaustellung der negativen Auswirkungen des Alkohols scheint damit ein weiteres Mal die Einsicht auf, dass es verschiedene genera ebriosorum gibt – 41 Zu dieser argumentativen Strategie der Abhandlung meine Ausführungen vorn, bes. S. 47–51. 42 Darf man dies aus der lakonischen Bemerkung „[…] quae itidem se apud adulterum esse cognoscens errorem confessa […]“ schließen? De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 14.10. – 78 –
darunter offenbar auch solche, von der in der Abhandlung nirgends explizit die Rede ist. Denn die Studenten handeln zwar zweifellos in irgendeiner Weise unmoralisch, jedoch keinesfalls so ‚bestialisch‘, wie vom Sprecher der Abhandlung beschrieben. Sie gehören demzufolge nicht zu den Trinkern, die durch Alkohol den Verstand verlieren und – quam Circes incantamina – in ebenso hemmungs- wie besinnungslos agierende Esel, Hunde, Schafe, Kälber, Affen oder Schweine verwandelt werden.43 Wenn sie in ihrem klugen Planen und blitzschnellen Reagieren überhaupt irgendwelchen Tieren gleichzusetzen sind,44 dann bestenfalls jenem Wolf, der auf dem Titelholzschnitt der Abhandlung – bezeichnenderweise – gerade seine Pfoten nach der Gans ausstreckt.45 Wer sich dazu bereit sieht, Wolf und Gans dergestalt auf die Akteure der Exempelgeschichten zu beziehen, der ist freilich auch gleich wieder bei dem Bären, dem die Gans die Fackel hält und dessen Geist vom Alkoholgenuss offenbar noch weniger vernebelt wird als der der Studenten.46 Er ist, so darf man vielleicht ein weiteres Mal schließen, ihr aller Meister: Derjeni43 So der erste Teil der ersten conclusio, der besagt: „Vicium ebrietatis et asotiae, quod multos homines peius etiam quam Circes incantamina in bestias vertere consuevit.“ De generibus ebriosorum, ed. H. VREDEVELD (wie Anm. 1), cap. 2.1. 44 Das würde freilich bedeuten, dass die verwandelnde Wirkung des Alkohols doch nicht, wie ebd. betont wird, erst mit dem Verlust der continentia begänne; dass der Alkohol mithin auch ‚vernünftige Tiere‘ hervorbringt. 45 Dass diese beiden Tiere – neben dem Bären – im Katalog der tierischen Säufer nicht auftauchen, hatte ich vorn, S. 57f. mit Anm. 115 bereits vermerkt. Die Idee, dass sie metaphorisch auf andere in der Abhandlung auftretende, nur dort nicht tierisch ‚eingekleidete‘ Figuren verweisen, würde ihre Abbildung auf dem Titelbild zumindest plausibilisieren. 46 Zur doppelten Zuordnung der Gans und ihrer speziellen Beziehung zum Bären ebd. Vielleicht wäre die Konstellation hier so zu deuten, dass der Bär als das einzige der dargestellten Tiere die Grenzen des Anstands nicht nur wahrt, sondern beschützt: So lange die Gans seinen gelehrten Studien helfend zur Seite steht, hat sie jedenfalls nichts zu befürchten. – 79 –
ge, der über das Weinfass wacht, ihm selbst zuallererst zuspricht und seine Lektüre währenddessen gelassen fortsetzt. Der Wein, so scheint es, hat nicht die Kraft, ihn von seinen gelehrten Studien abzuhalten. Im Gegenteil: Er ist das Elixier, das seiner akademischen Tätigkeit jene feuchtfröhliche Note verleiht, die er dem Betrachter augenzwinkernd zu verstehen gibt.
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Abb. 1: De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda. Titelblatt des Erstdrucks (Erfurt: Matthes Maler 1515) Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, Ink A 18/19
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Abb. 2 und 3: De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda. Geleitsprüche (Erfurt, Matthes Maler 1515) Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle, Ink A 18/19
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Abb. 4: De generibus ebriosorum et ebrietate vitanda. Titelblatt des Nachdrucks (Nürnberg, Hieronymus Höltzel 1516) Bayerische Staatsbibliothek München, 4 L.eleg.m 87 n
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Achim Thomas Hack
Karolingische Kaiser als Sportler Ein Beitrag zur frühmittelalterlichen Körpergeschichte Jenaer mediävistische Vorträge – Band 4
Die große Bedeutung des Sports in der neueren und neuesten Zeit ist – selbst dann, wenn gerade keine Olympiade oder Weltmeisterschaft stattfindet – völlig unbestritten. Auch in der Antike gehörten sportliche Aktivitäten unterschiedlicher Art ganz selbstverständlich zum Alltag; sie sind schon seit langem Gegenstand der althistorischen Forschung. Wie verhielt es sich aber in den Jahrhunderten dazwischen? Gab es auch im Mittelalter Sport? Und wenn ja, welche Bedeutung hatte er?
Achim Thomas Hack Karolingische Kaiser als Sportler 2015. 89 Seiten. Kartoniert. & 978-3-515-11147-8 @ 978-3-515-11148-5
In diesem Band geht Achim Thomas Hack der Frage am Beispiel der karolingischen Könige und Kaiser nach. Wie sich herausstellt, finden sich bereits in den Quellen des 8. und 9. Jahrhunderts zahlreiche Elemente, die wir heute mit großer Selbstverständlichkeit dem Bereich des Sports zuweisen: Einzelsportarten und Mannschaftsdisziplinen, regelmäßiges Training, Wettbewerb und Sieg. Den Rahmen für diese Untersuchung bildet die in der Mediävistik noch wenig etablierte Körpergeschichte, die sich mit der Beschreibung und Bewertung des Körpers sowie seiner unterschiedlichen Funktionen und Tätigkeiten etc. beschäftigt.
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Achim Thomas Hack
Von Christus zu Odin Ein Karolinger bekehrt sich Jenaer mediävistische Vorträge – Band 3
Das Jahr 864 war ein besonderes Jahr in der europäischen Religionsgeschichte. Ein König aus der Dynastie der Karolinger verließ seinen christlichen Glauben und trat der Religion Odins bei. Was veranlasste ihn zu diesem Schritt? War sein Verhalten tatsächlich derart ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick vielleicht scheinen mag? Ausgehend von diesem höchst interessanten Fall beleuchtet Achim Thomas Hack die Frage des Religionswechsels in gegenläufiger Richtung, das heißt: weg vom Christentum. Der kirchliche Ausdruck für den schwer verpönten Vorgang lautet „Apostasie“, wobei allerdings mehrere Arten von Apostasie zu unterscheiden sind. Der Autor nimmt sowohl die – Ekel erregenden – biblischen Bilder als auch die politischen Rahmenbedingungen für den „Glaubensabfall“ und vieles mehr in den Blick. Achim Thomas Hack Von Christus zu Odin 2014. 76 Seiten. Kartoniert. & 978-3-515-10661-0 @ 978-3-515-10705-1
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Aus dem Inhalt Vorwort p Ein besonderes Jahr in der Religionsgeschichte Europas | Das Schicksal eines karolingischen Königs | Zur Tradition der „Apostasie“ | „Ad priorem vomitum reverti“ | Abgefallene Könige in Northumbrien | Eine Konversion im 9. Jahrhundert | Der Königssohn als neuer Julian | Bekehrung und politisches Bündnis | Das Ende des Apostaten | Christianisierung als Globalisierung p Exkurse: Das Erbrochene des Hundes. Zur Tradition eines Sprichwortes | Karolingische Haftanstalten p Namensregister p Quellenregister
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Alexander Markus Schilling
Mögliches, Unwahrscheinliches, Fabelhaftes Die „Historia trium regum“ des Johannes von Hildesheim und ihre orientalischen Quellen Jenaer mediävistische Vorträge – Band 2
Alexander Markus Schilling Mögliches, Unwahrscheinliches, Fabelhaftes 2014. 93 Seiten mit 5 Abbildungen. Kartoniert. & 978-3-515-10662-7 @ 978-3-515-10707-5
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde durch keinen Geringeren als Johann Wolfgang von Goethe eine „Geschichte der drei Könige“ (Historia trium regum) wieder entdeckt, die seither dem Karmelitermönch Johannes von Hildesheim (†1375) zugeschrieben wird und eine – früh in zahllose Volkssprachen übersetzte – literarische Summe mittelalterlicher Legenden um die Heiligen Drei Könige darstellt. Eine Analyse der orientalischen Traditionen zu den Magiern der Geburtsgeschichte Jesu nach Matthäus, anhand altfranzösischer, lateinischer, griechischer, armenischer, syrischer, äthiopischer, arabischer, persischer und uigurischer Texte, ermöglicht die Identifikation einer der orientalischen Vorlagen zur lateinischen „Geschichte der drei Könige“ – das so genannte „Rollenbuch“. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts den Kreuzfahrern vor Damiette bekannt geworden, war es wohl eine bislang noch nicht identifizierte Übersetzung dieses „Rollenbuches“ in eine europäische Sprache, die den Ausschlag dafür gegeben hat, dass die französischen Grafen von BauxLuxembourg sich seit dem 15. Jahrhundert als Nachfahren „Balthasars“, eines der Heiligen Drei Könige, inszenieren konnten.
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Wer ist der Verfasser der Abhandlung ‚Über die Arten der Betrunkenen und die Vermeidung der Trunkenheit‘? Was veranlasste ihn dazu, sein Werk anonym zu publizieren, und wie gelingt es ihm, die eigene Person gerade dadurch ins Licht dichterisch-akademischer Exzellenz zu rücken? Ausgehend von diesen Fragen unternimmt Cordula Kropik eine umfassende Deutung des 1515 in Erfurt gedruckten neulateinischen Textes. Die Recherche in der literarischen Landschaft der Frühen Neuzeit verhilft ihr dabei zur Begegnung mit einem Autor, dessen ingeniöse Selbstbespiegelung als aufstrebender Hochschuldozent in vielerlei Hinsicht bis in die jüngste Gegenwart hinein Geltung beanspruchen darf.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11204-8