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German Pages [313] Year 2013
Lars Leeten (Hg.)
Moralische Verständigung Formen einer ethischen Praxis
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495998502
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Lars Leeten (Hg.) Moralische Verständigung
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Die philosophische Ethik sieht die alltägliche Verständigung über moralische Fragen vornehmlich als Vorform der rationalen Argumentation. Dabei ist unterstellt, dass Verständigung nur insofern etwas für die ethische Orientierung und Konfliktbewältigung austragen kann, als sie die Form eines Begründungsverfahrens aufweist. Die konkrete Praxis der moralischen Verständigung ist aber offensichtlich ein vieldimensionales Geschehen, in dem ganz unterschiedliche Aspekte – logische und rhetorische, begriffliche und sinnliche, sprachliche und nichtsprachliche – auf komplexe Weise zusammenwirken. Vor diesem Hintergrund erscheint moralische Verständigung nicht nur als Streit um das moralisch Richtige, sondern auch als Prozess der konkreten ethischen Orientierung, als Arbeit an der Wahrnehmung, als ästhetische Selbstverständigung, als Praxis der Artikulation und Erzählung oder als leibliches Sinngeschehen.
Der Herausgeber: Dr. Lars Leeten, geb. 1971, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim.
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Lars Leeten (Hg.)
Moralische Verständigung Formen einer ethischen Praxis
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495998502 .
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung des Herder-Kollegs Hildesheim und des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48588-0
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Inhalt
Einleitung Lars Leeten
Moralische Verständigung als ethische Praxis . . . . . . . . .
I
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Zugänge
Maria-Sibylla Lotter
Moralische Divergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
Anne Mazuga
Die Arbeit der Aufmerksamkeit. Iris Murdoch über die Wahrnehmung der Wirklichkeit »im Licht des Guten« . . . .
56
Joachim Boldt
Erkennen und Emotion in der existenzphilosophischen Ethik .
83
Eberhard Ortland
Woran scheitern Versuche, moralische Verständigung zu erreichen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Julia Dietrich
Was ist eine »gute« ethische Argumentation?
. . . . . . . . 126
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»Placing oneself in the world«. Moralische Verständigung als performative Lebenspraxis bei Stanley Cavell . . . . . . . . . 145
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Inhalt
II
Vollzugsformen
Theda Rehbock
Wie kann ich wissen, was du willst? Zur Bedeutung sprachlicher und leiblicher Kommunikation in ethischer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Katrin Wille
Wunsch und Wille. Arbeit an einer Unterscheidung . . . . . 209 Falk Bornmüller
Moralphilosophische Argumentation und moralische Verständigung. Zu einer Kritik der Verwendung von Beispielen in philosophischer Begründung und Theoriebildung . . . . . 239 Peter Remmers
Moralische (Selbst-)Verständigung durch Film
. . . . . . . . 262
Jörg Bernardy
Narrative Verfahren und genealogischer Blick. Formen genealogischer Kritik und Verständigung bei Nietzsche und Foucault . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . 309
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Einleitung
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Moralische Verständigung als ethische Praxis
I
Der philosophische Zugang zur Moralverständigung
Dass die Frage der Moral nicht von den Fragen des guten Lebens zu trennen ist, gilt in der Ethik inzwischen wieder als selbstverständlich. Menschliches Handeln lässt sich durch unterschiedlichste Gesichtspunkte gleichzeitig leiten. Zu den vielen Quellen der praktischen Orientierung gehören neben normativen Einstellungen auch soziale Üblichkeiten, besondere Wertsetzungen, Überzeugungen über die Welt, eigene Absichten und Willensregungen, die Ansprüche von konkreten Anderen, Situationswahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle. So kann sich die philosophische Ethik bei der Entfaltung des alltäglichen praktischen Denkens nicht exklusiv auf den Gesichtspunkt der Moral beziehen. Ein moralisches Sollen wird leer, sobald es der komplexen Wirklichkeit menschlichen Tuns abstrakt gegenübersteht. Nicht zuletzt deswegen hat man sich in jüngerer Zeit wieder verstärkt auf den Zusammenhang von Moral und Leben besonnen. Es kann, so die wiedergewonnene Einsicht, keine »reine« Moralphilosophie geben. Jede Ethik muss auf das gelebte Ethos und die konkreten Orientierungen zum Guten rückbezogen bleiben. Hätte man das Thema der moralischen Verständigung, um das sich die Beiträge dieses Bandes drehen, in dieser Diskussion zu verorten, würde man dennoch vermutlich nicht zuerst an das ethisch Gute, sondern eher an die Frage des moralisch Richtigen denken. Man kennt die philosophische Untersuchung der Sprach- und Kommunikationsformen, die in moralischen Auseinandersetzungen Gebrauch finden, vor allem als eine logische Rekonstruktion, die sich mit normativen Behauptungen und ihren Elementen befasst. Ist es die Aufgabe der Ethik, Möglichkeiten der Begründung von ethischen Urteilen zu erschließen, dann kommt es dafür – einer weit verbreiteten Meinung zufolge – darauf an, aus der gegebenen Verständigungspraxis Bausteine rationaler Argumentation herauszufiltern. Im Grenzfall ist die PraA
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xis der Moralverständigung dann nur noch insofern von Interesse, als die Beteiligten moralische Aussagen mit Anspruch auf Wahrheit machen bzw. Normen als gültig behaupten. Der ethische Logos wird, einer alteingesessenen Denkgewohnheit gemäß, auf sein kognitives Moment reduziert und als reine ratio interpretiert. Gleichzeitig entsteht eine Perspektive, in der der alltägliche Streit um die Moral als verworrene Vorform einer Methode der Problemlösung erscheint, deren Regeln es zu explizieren und elaborieren gilt. Diese Lesart ist so wirksam, dass häufig schon der Ausdruck »Verständigung« allein genügen soll, um ein rationales Verfahren der Herstellung von Übereinstimmung aufzurufen. 1 Wenn im Untertitel dieses Bandes von der Moralverständigung als einer »Praxis« die Rede ist, die sich in unterschiedliche »Formen« auseinanderlegen lässt, so soll damit ein Gegenakzent gesetzt sein. Es gibt viele gute Gründe, daran zu zweifeln, dass Kommunikation nur insofern etwas für die ethische Orientierung und Konfliktbewältigung austrägt, als sie die Form eines Argumentationsverfahrens aufweist. Die alltägliche Verständigung über ethische und moralische Fragen ist offensichtlich ein facettenreiches Geschehen, in dem ganz unterschiedliche Aspekte – logische und rhetorische, begriffliche und sinnliche, sprachliche und nichtsprachliche – auf komplexe Weise zusammenspielen. Moralische Verständigung vollzieht sich keineswegs primär als Normbegründung, sondern ebenso als Erzählung, dichte Beschreibung, expressive Rede, Artikulation, Ausdrucks- und Antwortverhalten, Zeigen und Aufweisen. Dabei richtet sie sich nicht nur auf die Frage des moralisch Richtigen, sondern auch auf die Klärung eigener Haltungen, die Deutung von Situationen oder den Nachvollzug fremder Perspektiven. Die hier versammelten Beiträge geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie sich dieses komplexe Sinngeschehen philosophisch entfalten lässt, ohne es auf eine seiner Dimensionen zu reduzieren. Bevor sie kurz vorgestellt werden, seien vorläufig einige Motive und Probleme markiert, die diese Frage hervortreten lässt.
1 Vgl. Jürgen Habermas, »Was heißt Universalpragmatik?«, in: ders., Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1984, S. 353– 440, S. 355: »Verständigung ist der Prozeß der Herbeiführung eines Einverständnisses auf der vorausgesetzten Basis gemeinsam anerkannter Geltungsansprüche.«
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Einleitung
II
Moralische Verständigung und Selbstverständigung in der Vielfalt ihrer Formen
Die Frage nach der Praxis moralischer Verständigung lässt – erstens – in den Vordergrund treten, dass der Begriff der Praxis selbst unterschiedlich ausgelegt werden kann: Die logische Rekonstruktion von praktischen Diskursen baut nicht selten darauf, dass die moralische Kommunikation bestimmten Regeln folgt, die sich explizieren und zu einer »Methode« praktischen Denkens umwidmen lassen. Aber nicht nur ist die lebensweltliche Moralverständigung weit davon entfernt, einem festen Procedere zu folgen: Man kann auch grundsätzliche Zweifel daran anmelden, dass sich eine Praxis überhaupt in Regeln abbilden lässt. In markanter Weise hat Wittgenstein auf die Schwierigkeiten hingewiesen, in die man gerät, wenn man menschliche Praktiken als sekundäre Befolgung außerpraktisch gegebener Vorschriften begreifen will; im Anschluss daran haben Autoren wie Iris Murdoch, Cora Diamond oder Stanley Cavell geltend gemacht, dass das moralische Denken nicht aus den Lebensvollzügen, in die es eingebettet ist, herausgelöst werden kann. 2 Überlegungen dieser Art legen es nahe, moralische Verständigung als ein Tun zu begreifen, das Urteilskraft verlangt und immer wieder neu vollzogen werden will. Dazu gehört auch, dass die Verständigung selbst jeweils eine performative Qualität hat, die dem moralischen Klärungsprozess keineswegs äußerlich ist: Die Auseinandersetzung kann als beiläufige Bemerkung geführt werden oder als offene Aussprache, als geduldiges Gespräch oder scharfe Kontroverse; sie kann Entschuldigung oder Vorwurf sein, Heilung oder Verletzung; sie kann zu Ergebnissen kommen oder abbrechen, glücken oder scheitern. Wer in einen Streit um die Moral verwickelt wird, tritt in ein nicht vorwegnehmbares Sinngeschehen ein, das seine eigenen Gelingensbedingungen hat und also geübt werden will. Nimmt man die Performativität allen sprachlichen Geschehens ernst, so kann moralische Verständigung nicht mehr einfach als »Verständigung über« ethische Probleme begriffen werden. Sie 2 Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, §§ 185–242; Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, London, New York 2001; Cora Diamond, The Realistic Spirit. Wittgenstein, Philosophy, and the Mind, Cambridge, Mass., London 1991; Stanley Cavell, The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy, New York, Oxford 1999.
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muss offenbar selbst als ethische Praxis begriffen und verantwortet werden. Sofern die moralische Verständigung eine ethische Praxis ist, geht sie – zweitens – einher mit Prozessen der Selbstverständigung. Sie ist immer auch »Arbeit am Ethos«. Das betrifft zunächst die jeweilige Situation der Moralreflexion selbst: Anders als gelegentlich suggeriert wird, verfügt ein Subjekt über keinen Katalog von fertigen moralischen Überzeugungen, die ihm unmittelbar transparent wären. Vielmehr ist es ein wesentlicher Teil des Reflexionsprozesses, sich über praktische Haltungen oder die eigene Position zu einer besonderen Problemlage klar zu werden. Charles Taylor – um nur ein prominentes Beispiel zu nennen – hat in diesem Zusammenhang die sprachliche Funktion der Artikulation in Erinnerung gerufen, durch die Einstellungen allererst eine Form gewinnen: Die Moralverständigung ist aus dieser Sicht ein Prozess, bei dem gegebene Standpunkte durch produktive Selbstinterpretationen verändert und in differenziertere Standpunkte überführt werden. 3 Die Frage, wie man sich die Verschränkung von moralischer Verständigung und Selbstverständigung genau zu denken hat, ist damit freilich noch lange nicht abgearbeitet. Dies gilt insbesondere für die Rolle, die die Selbstverständigung im Sinne eines umfassenderen Prozesses der ethischen Bildung für die Frage der Moral spielt: Obwohl Praktiken der Selbstgestaltung, Selbstformung und Selbsttransformation vielfach Gegenstand der Diskussion sind – Foucaults Arbeiten zur Selbstsorge liefern ein bekanntes Beispiel dafür –, ist kaum ausgelotet, welche Rolle diese ethischen Praktiken für die Bewältigung von moralischen Konflikten spielen. Hier wäre daran zu erinnern, dass es gerade die moralischen Forderungen von Anderen sind, die ethische Klarwerdungen und Erneuerungen herausfordern. Der moralische Streit ist, sofern er Momente der Selbstverständigung aufweist, Bestandteil eines situationsübergreifenden Entwicklungsgeschehens und als solcher zu betrachten. Die Reflexion über die ethische Praxis der Moralverständigung sieht sich – drittens – in besonderer Weise auf die konkreten Ausdrucks- und Artikulationsformen verwiesen, die für diese Praxis kon3 Vgl. Charles Taylor, »What is human agency?«, in: ders., Human Agency and Language. Philosophical Papers Bd. I, Cambridge, Mass. 1985, S. 15–44; zum korrespondierenden Bild von Moralverständigung ders., »Explanation and Practical Reason«, in: ders., Philosophical Arguments, Cambridge, Mass. 1997, S. 34–60.
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Einleitung
stitutiv sind. Wer lebensweltliche moralische Auseinandersetzungen als vieldimensionale Lebenspraxis ernstnehmen will, hat unterschiedlichste Formen des Sinns zu berücksichtigen, deren ethische Relevanz nicht typologisch festgeschrieben, sondern nur von ihrem jeweiligen Gebrauch her beurteilt werden kann. Das Feld der Verständigungsformen ist damit potentiell so weit wie das der gesamten lebensweltlichen Kommunikationspraxis. In der Tat kursieren heute ganz unterschiedliche Vorstellungen von den konkreten Formen moralischer Verständigung. Das zeigt sich schon an den im engeren Sinne sprachlichen Formen: In der Debatte um »Sprache und Ethik« galt die Frage nach der »Sprache der Moral« lange als Vorfrage der Ethik. Den formalsemantischen Klärungen der analytischen Metaethik, die sich mit besonderen »Wertwörtern« befasste, sollte in einem zweiten Schritt eine systematische normative Ethik folgen. 4 Diese Herangehensweise verliert ihre Grundlage, wenn man davon ausgeht, dass sich die ethisch-moralische Signifikanz von Sprache nur vom Vollzug her erschließt: Sofern soziale Verhältnisse sprachlich konstituiert sind, greift jeder Sprechakt in diese Verhältnisse ein. 5 Es gibt dann keine ethisch neutrale Rede. Entsprechend ist in der Diskussion um die »dichten ethischen Begriffe« dafür argumentiert worden, dass Beschreibung und Bewertung irreduzibel miteinander verschränkt sind. Schon in der Art und Weise, wie eine praktische Situation aufgefasst oder wahrgenommen wird, manifestiert sich eine ethische Haltung. Ähnlich haben erstpersonale oder expressive Äußerungen keineswegs nur die Funktion, eine »subjektive Innenwelt« abzubilden, sondern sind Teil von Selbstverständigungsprozessen, in denen sich ethische Perspektiven ausformen. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist die Erzählung: Handlungen werden nicht als isolierte Vorgänge, sondern nur im Kontext von Handlungszusammenhängen als solche begreiflich, welche in narrativer Form erschlossen werden. Erzählungen sind aber unweigerlich produktive Leistungen; die DurchDieses zweistufige Programm, das sichtbar dem Modell von Methode und Anwendung folgt, beginnt bei George E. Moore, Principia Ethica, Cambridge 1903. Weitergeführt wird es z. B. von Richard M. Hare, The Language of Morals, Oxford 1952. In gemäßigter Form wird es auch noch im Rahmen von pragmatisch gewendeten Semantiken verfolgt, so bei Ernst Tugendhat, »Der semantische Zugang zur Moral«, in: ders., Probleme der Ethik, Stuttgart 1984, S. 59–86. 5 Vgl. Andrea Esser, Einleitung zum »Schwerpunkt ›Sprache und Ethik‹«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/2010, S. 51–54 sowie die dort versammelten Beiträge. 4
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dringung der sozialen Realität ist dann auch ein Prozess der narrativen Gestaltung. In all diesen Fällen sind die jeweiligen Sprachverwendungen nicht nur konstitutiv für moralische Einsichten. Sie sind selbst ethische Praktiken sui generis. Jede von ihnen prägt ethische Auseinandersetzungen auf eine charakteristische Weise; aber keine von ihnen liefert das Modell der Moralverständigung. Sprachliche Formen nicht als Gedankenformen, sondern als Vollzugsformen zu betrachten, bedeutet, sie inmitten eines Kontinuums von sprachlichen und nichtsprachlichen Ausdrucks- und Verhaltensformen zu lokalisieren. Daher muss die Praxis der Moralverständigung ferner Vollzüge umfassen, die nicht im engen Sinn sprachlich sind. Besondere Bedeutung kommt dabei dem leiblichen Ausdrucksverhalten zu. Am sichtbarsten ist die direkte individuelle Begegnung von dieser Dimension geprägt: Insbesondere wo Andere als Fremde begegnen und erst Eingang in den Dialog gefunden werden muss, tritt dies hervor. Grundlegend freilich scheint das Ausdrucksverhalten für jede Form von Kommunikation zu sein: Auch sprachliche Handlungen haben, wie man sagen darf, ihre »gestische« Bedeutung. 6 Welche Rolle diese Sinndimension, in der die Ethik der Alterität gar die primäre Quelle von ethischer Verpflichtung ausmacht, 7 indes für die moralische Verständigung und Selbstverständigung spielt, ist in vielerlei Hinsicht klärungsbedürftig. Zu den nichtsprachlichen Reflexionsweisen wird man zudem ästhetische Formen zählen wollen. Die Frage, wie sich Moralverständigung konkret vollzieht, ist auch eine Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik. Dabei gilt die Arbeit an und die Auseinandersetzung mit den Gestaltungen der Kunst als Möglichkeit, die Fähigkeit der Situationswahrnehmung und Aufmerksamkeit zu schulen, die für das moralische Urteilen konditional sind. Ethische Bildung kann demzufolge als ästhetische Praxis stattfinden. Als Medien dieser Praxis stehen gegenwärtig etwa Literatur und Film im Blickpunkt. Welche Rolle diese und andere ästhetische Formen bei der Austragung von moralischen Konflikten spielen, gilt es noch weiter zu erkunden. Feststehen dürfte, dass sie ihren Ort nicht in einer gleichsam technischen Anwendung Zur Deutung der Sprache als Geste vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, insbes. S. 210–220. 7 Vgl. Emmanuel Lévinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg, München 1987, insbes. Kap. III. 6
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einer Methode auf einzelne Fälle, sondern in einem länger angelegten, offenen Prozess haben, der nicht ohne ethische Transformationen auskommt. Diese kleine Skizze sollte sichtbar gemacht haben, dass die Frage, wie sich moralische Verständigung als ethische Praxis denken lässt, auf ein Feld führt, das in vielerlei Hinsicht noch ungeordnet ist. Dies darf man umso erstaunlicher finden, als das moralische Denken der Gegenwart offensichtlich mit einer sprachlichen, kulturellen und medialen Vielfalt konfrontiert ist, der jedes einheitliche Begründungsverfahren blass gegenübersteht. Es ist zwar gängig geworden, die Moralphilosophie in den weiteren Kontext einer Ethik des guten Lebens einzubetten. Man hat aber kaum die Konsequenzen gezogen, die diese Neuinterpretation – welche maßgeblich von der antiken Ethik inspiriert ist – für die Praxis der Moralverständigung hat. Dabei spricht vieles dafür, dass eine Lehre des ethisch Guten ohne die Kultivierung von Sprach- und Verständigungspraktiken unvollständig sein muss. Seinen antiken Ort hatte dieser Gedanke in der Rhetorik, für die das Zusammenspiel von Logos und Ethos grundlegend war. Mit der Einsicht, dass Argumente in Kontexten gebraucht werden müssen, stößt auch die moderne Argumentationstheorie an dieses Thema; denn jede Argumentation erfordert dann eine Urteilskraft, die geübt werden will. 8 Für den Fall der moralischen Verständigung gilt dies offensichtlich in besonderem Maße: Sie lässt sich nicht auf eine Methode reduzieren, die den Wechselfällen des ethisch-moralischen Lebens indifferent gegenüber steht. Sie ist selbst ein Teil genau jener Praxis, um die es in diesen Auseinandersetzungen geht.
III
Zu diesem Band
Die einzelnen Beiträge betreffen ganz unterschiedliche Aspekte der Praxis moralischer Verständigung und Selbstverständigung, die gleichwohl vielfach aufeinander verweisen. Um ein wenig Orientierung zu schaffen, wurden zwei Rubriken eingerichtet: Im ersten Teil sind unter
Vgl. Stephen E. Toulmin, The Uses of Argument, Cambridge, Mass. 1958 und dazu Rüdiger Bubner, »Klugheit im Gebrauch von Argumenten«, in: Wolfgang Kersting (Hrsg.) Klugheit, Weilerswist 2005, S. 201–214.
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dem Titel »Zugänge« Arbeiten versammelt, die die Frage der Moralverständigung aus einem allgemeineren Blickwinkel behandeln. Im zweiten Teil – »Vollzugsformen« – werden einige der konkreten Gestalten, die die Praxis der moralischen Verständigung annehmen kann, genauer unter die Lupe genommen. Den ersten Teil eröffnet Maria-Sibylla Lotter mit ihren Überlegungen zum Thema »Moralische Divergenz«: Auch von Kritikern der rationalistischen Ethik wie Alasdair MacIntyre wird die Auffassung vertreten, dass die Ausrichtung auf normative Übereinstimmung eine Bedingung für die Rationalität von Moraldiskursen ist. Lotter zeigt, dass diese Auffassung zu kurz greift und wesentliche Aspekte moralischer Diskurse unsichtbar macht: Das Ziel von moralischer Verständigung erfüllt sich nicht erst dort, wo ein Konsens über moralische Prinzipien erreicht wird, sondern liegt charakteristischerweise in der Bewältigung von situationsspezifischen Problemlagen. Der alltägliche Streit um die Moral zielt dann aber oft gerade auf einen Umgang mit normativen Differenzen. Im Anschluss an Stanley Cavell und im Rückgriff auf Beispiele aus Philosophie, Alltag und Film wird gezeigt, wie sich solche Verständigungsprozesse im Einzelnen denken lassen. Ins Zentrum rückt dabei eine Form der moralischen Selbstverständigung: Die Auseinandersetzung vollzieht sich als Klärung, welche »Positionen« im jeweiligen Fall genau eingenommen werden sollen. Sie hat ihre Rationalität darin, dass bestimmt wird, wofür die Beteiligten wirklich Verantwortung übernehmen und inwieweit sie ihre Anliegen und Verpflichtungen gegenseitig zu berücksichtigen bereit sind. Im Ausgang von Iris Murdochs Perfektionismus befasst sich Anne Mazuga in ihrem Beitrag mit der Frage der moralischen Wahrnehmung. Nach Murdoch lässt sich die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Wirklichkeit in einem ethischen Sinn vervollkommnen. Diese Perfektibilität kommt dadurch ins Spiel, dass sich die Perspektive auf die Wirklichkeit stets noch differenzieren lässt, dass wir lernen können, geduldiger oder gerechter zu sehen, oder auch, wie Murdoch formuliert, »selbstlos« und in diesem Sinn objektiv zu sehen. Diese »Arbeit der Aufmerksamkeit«, wie sie für die Auseinandersetzung mit Werken der Kunst charakteristisch ist, vollzieht sich wesentlich im Medium von dichten Wertbegriffen und kann platonisch als eine Erkundung aufgefasst werden, die sich von der »Liebe zum Guten« leiten lässt. Wo Welt in dieser Weise in den Blick gebracht wird, werden sich Handlungsspielräume weniger durch offene Möglichkeiten oder Optionen 16
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konstituieren, sondern von vornherein durch moralische Notwendigkeiten eingeschränkt sein. Nicht nur im Alltag, sondern auch in der philosophischen Ethik ist es üblich, Fühlen und Erkennen in einen Kontrast zueinander zu setzen. Im Ausgang von existenzphilosophischen Positionen zeigt Joachim Boldt in seinem Beitrag, wie sich die ethisch-moralische Reflexion dennoch gerade jenseits dieser Dichotomisierung sinnvoll aufschlüsseln lässt: Während deontologische und utilitaristische Positionen den Emotionen keinen rechtmäßigen Ort zu geben vermögen, betonen tugendethische Positionen das Emotionale auf Kosten der Erkenntnisorientierung. Die Perspektive der Existenzphilosophie insbesondere Kierkegaards und Jaspers’ bietet demgegenüber Möglichkeiten, das ethische Denken so zu begreifen, dass Emotion und Erkennen gar nicht erst getrennt sind: Verstanden als eine »Anfrage an das Gute«, die mit einer Öffnung und Zuwendung gegenüber dem Anderen und »Mit-Fragenden« einhergeht, ist die ethische Orientierung ein Geschehen, für das die Hoffnung auf Erkenntnis ebenso konstitutiv ist wie die Sorge des Scheiterns. Emotionen werden so als Moment eines – freilich unabschließbaren – Versuchs des Verstehens erkennbar: Das ethische Denken kann moralische Gewissheit nie erreichen, aber der Notwendigkeit, nach moralischer Erkenntnis zu streben, auch nicht ausweichen. Dem performativen Charakter moralischer Verständigung geht der Beitrag von Eberhardt Ortland nach. Verpflichtet ist er dabei Austin und seinem Gedanken, dass man sprachliches Handeln besser versteht, wenn man versteht, auf welche Weisen es misslingen kann. Indem im Anschluss an Austins Lehre der »Unglücksfälle« (infelicities) ein Spektrum von scheiternden Versuchen der Moralverständigung skizziert wird, wird sichtbar, was die insbesondere durch Searle geprägte Deutung von Sprechpraktiken als »Institutionen« zu verschleiern tendiert: Der Verlauf von moralischen Auseinandersetzungen ist nicht durch Regeln festgelegt, die dem Widerstreit der ethisch-moralischen Einstellungen der Beteiligten übergeordnet wären. In der moralischen Verständigung setzt sich dieser Widerstreit vielmehr fort; sie kann daher immer auch tiefer in den Streit hineinführen. Die Schwierigkeit, moralische Verständigung zu erreichen, ist nicht technischer Art, sondern wesentliches Moment der Moral selbst, welche sich so als »polemogen« erweist. Dass Argumentation ein Handeln ist, das einer ethischen Bewertung unterzogen werden kann, ist auch ein Ausgangspunkt von Julia A
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Dietrichs Beitrag. Dabei wird die Frage, was eine »gute« Argumentation in diesem Sinne ausmacht, mit Blick auf die Transparenz der Voraussetzungen von Argumentation behandelt. Auf Basis eines syllogistischen Modells praktischen Urteilens und der Argumentationstheorie Toulmins wird deutlich, dass die ethische Kritik der Argumentation mit einer Vielzahl von Aspekten zu tun hat: Explizieren lassen sich u. a. Entscheidungen über Begrifflichkeit und Sprache, implizite Prämissen, die bereits Platzierungen in einem Feld von möglichen Voraussetzungen bedeuten, Inszenierungsweisen oder Annahmen über das Gewicht von Normen. Nach und nach tritt so eine äußerst komplexe Struktur vor Augen, mit der ihrerseits praktisch umzugehen ist: Der erweiterte Syllogismus bildet nicht etwa einen Schlussfolgerungsprozess nach, der mechanisch von statten gehen könnte, sondern markiert Momente, die im ethischen Urteilen berücksichtigt werden wollen. Lars Leeten geht in seinem Beitrag von der Annahme aus, dass eine philosophische Entfaltung des moralischen Denkens nur erreicht werden kann, indem man sich auf die fein nuancierten alltäglichen Verständigungspraktiken einlässt, die fest in die konkrete Lebenspraxis eingelassen sind. Der Frage, wie ein solcher Zugang möglich ist, wird in Auseinandersetzung mit Stanley Cavells The Claim of Reason nachgegangen. Cavells Interpretation der Moralverständigung wird dabei als Rekonstruktion eines ethischen Könnens gelesen: Als soziale und sprachliche Lebewesen haben Personen prinzipiell die Fähigkeit, ihre ethische Position gegenüber anderen Personen durch die Artikulation von Situationswahrnehmungen zu bestimmen; und diese Fähigkeit lässt sich kultivieren. Nahegelegt ist damit eine Ethik, die auch die Klärung moralischer Fragen als Teil einer Praxis des guten Lebens begreift, welche nicht rein normativ, sondern letztlich nur performativ ausgestaltet werden kann. Die ersten beiden Beiträge des zweiten Teils thematisieren leibliche Aspekte der Moralverständigung. Theda Rehbocks »Wie kann ich wissen, was du willst?« befasst sich mit jenen Formen des Sinns, in denen der Wille einer Person zum Ausdruck kommt. Ihr Bezugspunkt ist ein Fall, in dem sprachliche Kommunikation nicht mehr ohne weiteres möglich ist und allein der unmittelbare leibliche Willensausdruck bleibt: die Verständigung mit psychisch kranken, insbesondere demenzkranken Menschen. Wo die Entscheidungsfähigkeit einer Person allein vom Vermögen der sprachlichen Kommunikation abhängig gemacht wird, kommt das leibliche Verhalten nicht als Quelle »gültiger 18
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Willensäußerungen« in Betracht. Solche kognitivistischen Engführungen stehen jedoch in der Gefahr, die Tiefenverankerung von Kommunikationsverhältnissen in leiblichen Verhältnissen außer acht zu lassen. Wie Rehbock im Rekurs u. a. auf Aristoteles und phänomenologische Positionen zeigt, hat der Wille einer Person – anders als ihre »Wünsche« oder »Präferenzen« – im leiblichen Ausdrucksverhalten seine wesentliche und erste Manifestation. Der individuelle Wille, der sich sprachlich artikuliert, vermag sich nur im Rahmen intersubjektiv zugänglicher Sinnstrukturen zu konstituieren, welche leiblich vorerschlossen sind. Eine vertiefende Betrachtung der Unterscheidung von »Wunsch« und »Wille« stellt Katrin Wille an. Dabei zeigt sich exemplarisch, wie tiefgreifend die Konsequenzen sind, die eine begriffliche Differenzierung für die Reflexion menschlicher Praxis haben kann. Folgt man den »Unterscheidungsspuren«, die der alltägliche und auch der philosophische Sprachgebrauch im Zusammenhang mit Wünschen und Wollen gelegt hat, so stößt man auf vielfältige Zusammenhänge, in denen diese Unterscheidung mit anderen – etwa »Seele« und »Leib« oder »innerlich« und »äußerlich« – verbunden ist. Der Umgang mit der Wunsch-Wille-Unterscheidung betrifft keineswegs nur eine Klassifikationsfrage: Die begrifflichen Praktiken, die wir beanspruchen, um uns als soziale Wesen zu interpretieren, sind für die Formen der phänomenologischen Erschließung und praktischen Selbstverständigung vielmehr konstitutiv. Falk Bornmüller geht der Frage nach, welche Rolle Beispiele in der moralischen Verständigung spielen. Sein Ausgangspunkt ist, dass Beispiele und Gedankenexperimente offensichtlich ihre eigene Überzeugungskraft haben und also Teil von Argumentationen sind. Sie fließen in ihrer konkreten narrativen Form in abstraktes Denken ein, scheinen aber nicht auf eine Funktion in der regelgeleiteten Argumentation reduzierbar zu sein. So stellt sich die Frage, wie genau eigentlich das Einzelne ins Allgemeine hineinspielt und welchen Kriterien der Gebrauch von Beispielen unterliegt. In diesem Sinn unternimmt Bornmüller anhand von Judith Jarvis Thomsons »Eine Verteidigung der Abtreibung« eine – ihrerseits exemplarische – »Kritik des Beispiels«. Indem detailliert gezeigt wird, wie Plausibilisierungen durch die Beschreibung von fiktiven Situationen erzeugt werden können, erweist sich: Ohne eine kritische Rekonstruktion, die sich des Ortes von Beispielen in der jeweiligen Argumentation, ihrer Geltung und ReichweiA
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te vergewissert, würde der Anschluss der Argumentation an die Praxis des abgewogenen Urteilens abreißen. In seinem Beitrag »Moralische (Selbst-)Verständigung durch Film« befasst sich Peter Remmers mit einem Medium der ethischen Reflexion, das nicht zuletzt durch Cavell in der gegenwärtigen Diskussion präsent ist. Dabei rückt wiederum der Status des Exemplarischen ins Zentrum: Der Sinn filmischer Darstellungen ist konstitutiv an konkrete Darstellungsformen gebunden und erschöpft sich nicht darin, den Fall einer Regel zu illustrieren. Legt man die Annahme zugrunde, dass Verständigungsprozesse stets durch Differenzen angestoßen werden, so hat der Film – auch der fiktionale Film – sein Potential für die Moralverständigung insbesondere darin, unvertraute moralische Standpunkte vergegenwärtigen zu können. Remmers fasst diesen Punkt so, dass Filme ein dichtes Verstehen erlauben, auf das das abstrahierende oder »dünne« Verstehen erst aufbaut. Sie vermögen damit, Zugänge zu anderen und fremden Verstehenskontexten zu eröffnen, deren Verstehensvoraussetzungen allererst angeeignet werden. In diesem Licht kann der Spielraum der Reflexion, den Filme offenlassen, als ein Raum begriffen werden, in dem die Kompetenz des dichten Verstehens moralischer Phänomene weiterentwickelt und geübt werden kann. Jörg Bernardy schließlich stellt in seinem Beitrag die Frage nach der genealogischen Form der Moralverständigung. Das moralkritische Verfahren, das die Genealogie verkörpert, lässt sich auch unter stilistischen Gesichtspunkten betrachten. Am Exempel von Nietzsche und Foucault wird gefragt, was das konkret bedeuten kann und welcher Artikulationsformen sich genealogische Kritik bedient. Es erweist sich, dass diese Variante ethischer Selbstverständigung bis in ihre Feinstruktur hinein durch literarische Gestaltungsformen, insbesondere durch narrative Figuren konstituiert ist. Dabei ist der »genealogische Erzählstil« – der z. B. mit dem Blick aus der Ferne, mit Personalisierung oder mit Montage operiert – kein äußerer Gestus, sondern wesentlicher Bestandteil einer philosophischen Vorgehensweise: Ohne Bezug auf ihre rhetorische Form bleibt die Funktion der Genealogie für die moralische Verständigung und Selbstverständigung schlecht verstanden.
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Einleitung
IV Danksagung Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung zum Thema Dimensionen moralischer Verständigung, die das Institut für Philosophie der Universität Hildesheim im März 2012 veranstaltete. In dem Umstand, dass die Beiträge immer wieder aufeinander Bezug nehmen und sich in ihren Motiven vielfach durchdringen, wirkt der ungewöhnlich intensive und konstruktive Charakter der Diskussionen noch nach. Die Veranstaltung hätte nicht stattfinden können, wenn sie nicht von Anfang an zahlreiche Unterstützer gehabt hätte. Allen voran sind Beate Büscher, Marius Hofmann, Parwez Ghafoori und Julia Tietjens zu nennen, die maßgeblich zum organisatorischen Gelingen beigetragen haben. Tilman Borsche hat dem Unternehmen vielfach Beistand geleistet, ebenso wie Nicole Thiemer und Eberhard Ortland. Ihnen allen sei an dieser Stelle ganz herzlich für ihr Engagement gedankt. Ein Dank besonderer Art gebührt Rolf Elberfeld vom Hildesheimer Herder-Kolleg: Ohne seine spontane Unterstützung hätte das Vorhaben kaum realisiert werden können. Für seine großzügige Förderung der Veranstaltung sowie der vorliegenden Publikation ist der Herausgeber schließlich dem niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) zu ganz herzlichem Dank verpflichtet.
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Teil I Zugänge
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Moralische Divergenz: Ein Symptom des Moralzerfalls?
Moral – ein Ausdruck für unsere mehr oder weniger täppischen Bemühungen um das Gute und Richtige – gehört unvermeidlich zum menschlichen Leben, ob wir nun an ihr gedeihen oder verzweifeln. Trotzdem ist sie nicht immer eine gute Sache, wie wir aus Erfahrung wissen. Man kann vernünftig und unvernünftig, besonnen, aber auch fanatisch und verbohrt mit moralischen Fragen und mit seinen eigenen Vorstellungen vom Guten und Richtigen umgehen. Wer aus moralischem Ehrgeiz oder auch nur phantasielosem Pflichtgefühl etwas an und für sich Richtiges auf die falsche Weise beim falschen Anlass und ohne Rücksicht auf die betroffenen Personen durchsetzen möchte, kann mehr Unheil anrichten als ein amoralischer Egoist. Die Unterscheidung zwischen einem vernünftigen und einem unvernünftigen Umgang mit Moral betrifft daher den Kern der Moral selbst. Die folgenden Überlegungen zu den Voraussetzungen und Kriterien eines vernünftigen Umgangs mit Moral setzen nicht am Erkenntnisakt des einsamen Subjekts an, sondern konzentrieren sich speziell auf den intersubjektiven Austausch, also eine Form der moralischen Erkenntnis, an der mindestens zwei beteiligt sind. Unter diesem Gesichtspunkt lauten die Fragen: Was unterscheidet eine vernünftige moralische Auseinandersetzung von einer unvernünftigen? Was sind ihre sozialen und kulturellen Voraussetzungen? Und welche individuellen Einstellungen und Fähigkeiten sind hier unter »vernünftig« zu verstehen? Eine deutliche Antwort auf die ersten beiden Fragen, durch die sich die dritte Frage quasi erübrigt, hat der schottische Philosoph Alasdair MacIntyre in seiner vieldiskutierten Studie von 1981 Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart gegeben. MacIntyre diagnostiziert dort für seine Gegenwart eine strukturelle »VerwahrA
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losung des moralischen Denkens und Handelns«, 1 die sich an der Art zeige, wie heute moralische Auseinandersetzungen geführt werden. Die Verwahrlosung kommt nach MacIntyre nämlich darin zum Ausdruck, dass moralische Auseinandersetzungen oft den Zweck verfolgen, Meinungsunterschiede zu verdeutlichen, und dass es keine vernünftige Methode gibt, zu einer Übereinstimmung zu gelangen: Das Erstaunlichste an moralischen Äußerungen heute ist, daß sie oft dazu benutzt werden, Meinungsunterschiede auszudrücken; und das Erstaunlichste an den Debatten […] ist, daß sie […] offenbar zu keinem Endergebnis kommen können. In unserer Kultur scheint es keinen vernünftigen Weg zu geben, eine moralische Übereinstimmung zu erzielen. 2
Aus der bloßen Tatsache moralischer Uneinigkeit folgt aber noch nichts mit Blick auf ihre Relevanz für den Begriff der Moral, das Verständnis von Vernunft oder den Zustand unserer gegenwärtigen moralischen Verfassung. In all diesen Hinsichten bin ich anderer Auffassung als MacIntyre. Trotzdem möchte ich zunächst seiner Diagnose ein Stück weit folgen. Denn einerseits hat sie ohne Frage einen wahren Kern: sie berührt ein wirkliches Risiko, eine reale Gefahr des Scheiterns vernünftiger moralischer Auseinandersetzungen, mit der wir immer rechnen müssen – ich werde später darauf zurückkommen. Andererseits – und damit möchte ich mich zunächst befassen – interpretiert (und verzerrt) MacIntyre dieses Risiko auf der Grundlage von Annahmen, die er mit nicht wenigen Philosophen und Nichtphilosophen teilt: einer Vorstellung von Moral als eines Übereinstimmung stiftenden Systems von Regeln und Normen und einer Auffassung von moralischer Vernunft als einer Argumentation, die (anstatt das zu ermitteln, was für die Gesprächspartner wirklich moralisch zählt und sie daher auch unterscheidet), das für alle Verbindliche quasi aus allgemein geteilten Prämissen deduziert. Setzt man dieses durchaus verbreitete Moralund Vernunftverständnis voraus, dann liegt der Gedanke nicht fern, das so alltägliche und gewöhnliche Phänomen moralischer Divergenz und die stete Möglichkeit des Scheiterns vernünftiger moralischer Auseinandersetzungen stelle eine Bedrohung der moralischen Gemeinschaft und der Moral schlechthin dar. Eine genauere Betrachtung dieser Voraussetzungen scheint mir daher angebracht. 1 Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1997, S. 15. 2 Ebd., S. 19.
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MacIntyre geht bei seiner Kritik von zwei für ihn offenbar selbstverständlichen Voraussetzungen aus: Erstens, dass der Sinn und Zweck moralischer Auseinandersetzungen darin liegt, zu einer Übereinstimmung zu kommen. Zweitens, dass ein vernünftiger Weg, moralische Übereinstimmung zu erzielen, darin besteht, moralische Urteile auf unstrittige, von allen geteilte normative Annahmen zurückzuführen. Das ist eine nicht nur unter Fachphilosophen weit verbreitete Vorstellung von vernünftiger moralischer Argumentation: Man stellt sich die Moral einer Person analog zu einer wissenschaftlichen Theorie als ein konsistentes und kohärentes System von mehr oder weniger allgemeinen Annahmen vor. Möchte Person A Person B auf vernünftige Weise davon überzeugen, eine Handlung zu unterlassen (oder zu tun), kann sie sich darauf berufen, dass diese Handlung unvereinbar mit einer der geteilten allgemeinen normativen Prämissen ist. Mit Blick auf die normativen Annahmen, die in heutigen öffentlichen moralischen Auseinandersetzungen ins Spiel kommen, scheint ein solches Vorgehen aber kaum möglich, wie MacIntyre an verschiedenen Beispielen von Konfliktthemen illustriert: Wer etwa die Frage, ob Kriege gerechtfertigt werden können, als eine Frage der Gerechtigkeit versteht und sie grundsätzlich verneint, weil stets auch Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen werden, geht von anderen normativen Grundannahmen aus als ein Anhänger der Abschreckungstheorie, der sie vor allem als eine Frage des Überlebens betrachtet, oder ein Anhänger Che Guevaras, dem es um die Befreiung der Unterdrückten geht. Dasselbe gilt für das Klischee der Feministin, die von dem Grundrecht einer jeden Frau ausgeht, über ihren Körper zu verfügen und ihr Leben zu planen, im Kontrast zu dem Klischee eines Katholiken, für den ungeborenes Leben unbedingt schützenswert ist. Man könnte die Liste mit einem überzeugten Vegetarier im Unterschied zu einem Fleischkonsumenten fortsetzen, der Tiere als Wesen betrachtet, die für den Menschen da sind, oder mit einem Marxisten, für den der Kommunismus überhaupt erst ein wahrhaft menschliches Leben ermöglicht, im Kontrast zu einem Wirtschaftsliberalen. Sobald wir potentielle Gesprächspartner einer Auseinandersetzung nur als Träger solcher moralischer Grundannahmen berücksichtigen, gilt: »[…] die unterschiedlichen Prämissen sind so beschaffen, daß wir keine vernünftige Möglichkeit besitzen, die Behauptungen der einen gegen die der anderen abzuwägen.« 3 MacIntyre 3
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führt diese Inkompatibilitäten auf die inkohärente Vielfalt unserer heutigen Menschenbilder und Normen zurück, die auf verschiedene Strömungen und Denkrichtungen der christlichen Kirchen, der antiken Traditionen und der Stoa, der Philosophie der Aufklärung und des Utilitarismus zurückgehen. Was MacIntyre an diesem Phänomen als dekadent empfindet, ist nicht nur die damit fraglos verbundene Gefahr des Aneinandervorbeiredens in moralischen Auseinandersetzungen, die bei eher unflexiblen und zum Dogmatischen neigenden Gesprächspartnern in der Tat sehr frustrierend sein kann. Was MacIntyre als Verwahrlosung der Moral diagnostiziert, ist die in seinen Augen tiefere Bedeutung dieses Phänomens, nämlich der Verlust des Unterschieds zwischen einem vernünftigen Umgang mit Moral, der auf geteilten Grundlagen aufbaut, und einer bloß persönlichen Meinung, die sich nur noch anmaßt, mehr zu sein als Ausdruck und Instrument subjektiver Gefühle und Interessen. 4 MacIntyre hatte dabei auch eine zeitgenössische moralphilosophische Position im Blick, nämlich den Emotivismus, der schon die Möglichkeit, mit moralischen Differenzen vernünftig umzugehen, zu bestreiten scheint. 5 Aus Sicht des Emotivismus, wie er von Charles An diesem Punkt überschneidet sich MacIntyres Diagnose nicht zufällig mit der Ideologiekritik der Moral im neunzehnten Jahrhundert. Während die Philosophie der Aufklärung den Gedanken, dass die Moral nicht (mehr) ist, was sie angeblich einmal war – Ausdruck geteilter Auffassungen von Werten und objektiv gültigen Regeln, die wirklich das Handeln leiten –, durchaus positiv als Fortschritt zu einer neuen Autonomie des moralischen Subjekts begriffen hatte, wurde er bei Marx und Nietzsche ins Negative umgekehrt: Die Ideologiekritik des neunzehnten Jahrhunderts unterstellte der Moral vor allem private Zwecke wie die Verschleierung der wahren Handlungsmotive, die Aufrechterhaltung der Klassengesellschaft oder die Befriedigung von Ressentiments. Im Gegensatz zu Marx und Nietzsche geht MacIntyre jedoch davon aus, dass Moral für ein menschenwürdiges Leben unverzichtbar und eine vernünftige moralische Kommunikation – vorausgesetzt, man verabschiedet sich von gewissen liberalen Ideen – auch prinzipiell möglich ist. Seine Kritik, die einerseits die Bedeutung der Moral (im Sinne seines Moralverständnisses) hervorhebt, andererseits ihr reales Verschwinden beklagt, richtet sich vor allem gegen die philosophischen Moraltheorien der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die teils keinen Unterschied mehr zwischen manipulativer Überredung und moralischer Überzeugung sehen wie der Emotivismus, teils nach ihrer sprachanalytischen Neuorientierung den Blick von der moralischen Realität ab- und der Untersuchung der moralischen Begriffe und der Logik moralischer Begründungen zugewandt haben. 5 Dass der Emotivismus seinen Einfluss in der sprachanalytischen philosophischen Ethik schon zu MacIntyres Zeit eingebüßt hatte, weil er diesem Sprach- und Selbstverständnis, an dem sich die analytische Philosophie orientiert, nicht Rechnung tragen 4
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Stevenson vertreten wurde, sind es nicht objektive Gründe, sondern persönliche Neigungen, die unsere moralischen Einstellungen bedingen. In moralischen Urteilen kommen Emotionen zum Ausdruck, gleichzeitig dienen die Sprachhandlungen als Aufforderungen an andere, sich entsprechend (im Sinne des Sprechers) zu verhalten. Was MacIntyre als kulturellen Verlust diagnostiziert, kann es daher aus der Perspektive des Emotivismus gar nicht geben: eine in der gemeinsamen Praxis angelegte Unterscheidung zwischen Überredung/Manipulation und vernünftiger Begründung von moralischen Einschätzungen. Das erscheint mir nicht anders als MacIntyre eine Verkennung der Moral und damit auch eine Verkennung der Grundlagen von Gemeinschaft zu sein: Die Unterscheidung zwischen einem vernünftigen und einem unvernünftigen Umgang mit den eigenen Vorstellungen vom Guten und Richtigen ist grundlegend für die Weise, wie wir moralische Begriffe verwenden und uns untereinander auseinandersetzen. Wir verwenden Redewendungen wie »Dazu bist du schließlich verpflichtet« oder »Du würdest es Dir nie verzeihen, wenn Du xy jetzt nicht unterstützen würdest«, nicht als Synonyme für »Das finde ich gut, kann, zeigt nach MacIntyre keinesfalls an, dass die emotivistische Interpretation unserer (wirklichen) Moral falsch wäre. Der Emotivismus ist nach MacIntyre seinen an unseren Sprachgepflogenheiten orientierten Kritikern insofern durchaus überlegen, als unsere Moral unseren moralischen Sprachgepflogenheiten und unserem Selbstverständnis nicht mehr entspricht: nach MacIntyre drücken wir mit unseren moralischen Äußerungen heute in der Tat nicht mehr aus als persönliche Neigungen und Bedürfnisse, andere zu beeinflussen, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind. Die mit unserem Sprach- und Selbstverständnis verbundenen Ansprüche auf Allgemeingültigkeit, so MacIntyre, beziehen sich hingegen auf einen Typ von Moral, den es einmal gegeben hat, aber heute nur noch in Bruchstücken gibt. Wir täuschen uns über diesen Verlust, indem wir weiter eine moralisierende Sprache verwenden. Mit anderen Worten: Wir sind heute in der misslichen Lage, entweder – wie der Mainstream der sprachanalytischen Moralphilosophie – die Augen vor der Wahrheit unserer moralischen Verfassung zu verschließen, indem wir so tun, als verfügten wir noch über eine Moral, die unseren sprachlichen Gepflogenheiten entspricht, oder – wie die Emotivisten und diverse Richtungen des Neu-Nietzscheanismus – sogar die Möglichkeit einer wirklichen Moral zu verleugnen, indem wir die Unterscheidbarkeit zwischen moralischer Überzeugung und Überredung bestreiten. In diesem Sinne plädiert beispielsweise Richard Rorty in einem bekannten Vortrag über den Vorrang der Demokratie vor der Philosophie dafür, die Verteidigung der moralischen Maßstäbe, die man für gute Aspekte der westlichen kulturellen Tradition hält, nicht als Versuch einer vernünftigen Verständigung mißzuverstehen, sondern sie als einen unverzichtbaren Ethnozentrismus zu bejahen. Vgl. Richard Rorty, »Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie«, in: ders., Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, S. 82–125. A
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mach es doch auch«. Im ersten Fall unterstellt der Sprecher, dass der Hörer einen Grund hat, sich entsprechend zu verhalten, unabhängig davon, wer dies sagt: einen objektiven moralischen Grund, der sich aus seiner moralischen Identität ergibt. Im letzten Fall ergibt sich der Grund, der Aufforderung Folge zu leisten, aus der Beziehung zum Sprecher, etwa einer Abhängigkeit oder Verliebtheit. 6 Diese Unterscheidung ist jedoch auch dann grundlegend, wenn man sie nicht nur als Unterscheidung zwischen rationaler Überzeugung und Überredung versteht, d. h. wenn man unter einer rationalen Argumentation nicht nur eine Methode versteht, zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Die unbestreitbare Wichtigkeit der von MacIntyre verteidigten Unterscheidung zwischen vernünftigen und nichtvernünftigen Formen moralischer Argumentation besagt noch nichts über die Richtigkeit seiner Interpretation ihrer rationalen Grundlagen. MacIntyre unterstellt, dass ein vernünftiger moralischer Diskurs sich auf geteilte normative Prämissen einer gemeinsamen Praxis stützt und daher auch auf Übereinstimmung zwischen den Gesprächsteilnehmern hinauslaufen sollte. Eine hinreichende Dignität und Autorität haben moralische Gründe nach MacIntyre nämlich nur im Kontext von Traditionen, die eine gemeinsame Lebenspraxis stiften. Eine Praxis wie das Schachspielen setzt neben Regeln interne Ideale und Normen des guten oder exzellenten Spielens voraus, die nicht ad hoc von denen festgelegt werden, die an ihr teilnehmen, sondern sozusagen von der Praxis selbst. Nach MacIntyre hat man die Moral nach diesem Modell von Spielen zu verstehen: um regelgerecht und gut zu handeln, muss man keine individuellen Meinungen ausbilden oder gar Entscheidungen darüber treffen, was als gut und was als schlecht zu werten ist. Man muss lediglich die Regeln, Tugenden und Ideale verstehen und anwenden können, die der Praxis eigen sind, an der man teilhat. 7 Wer hingegen Ansprüche Vgl. MacIntyre, Der Verlust der Tugend, S. 23. MacIntyre folgt hier möglicherweise einer Lesart Wittgensteins als eines traditionsorientierten Konservativen, die im englischen thomistischen Katholizismus zur Zeit seines Studiums verbreitet war. Gegen diese Lesart wäre einzuwenden, dass es Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen nicht darum ging, Praktiken aus der Tradition zu begründen (im Unterschied zu anderen Definitionen und Begründungen), sondern die Grenzen ihrer Definierbarkeit aufzuzeigen. Zu den unterschiedlichen Lesarten Wittgensteins vgl. Sandra Laugier, »Wittgenstein and Cavell: Anthropology, Scepticism, and Politics«, in: Andrew Norris (Hrsg.), The Claim to Community. Essays on Stanley Cavell and Political Philosophy, Stanford 2006, S. 19–37, insbes. S. 29.
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auf Allgemeingültigkeit erhebt, aber sich als unfähig erweist, zu einer Übereinstimmung zu kommen, zeigt damit, dass er etwas prätendiert, was er gar nicht einlösen kann. Sein Anspruch auf Allgemeingültigkeit ist dann nur noch eine leere moralische Redeweise, mit der er sich über das Fehlen einer echten Moral hinwegtäuscht. Das wirft grundlegende Fragen auf: In welchen Hinsichten müssen wir übereinstimmen, um eine (nicht verwahrloste) moralische Gemeinschaft zu bilden? Und: welchen Anteil hat das Individuum an den Normen, Regeln, Werten und Tugenden, an denen wir uns moralisch orientieren? 8 Im Folgenden möchte ich am Leitfaden der Kritik von MacIntyres Grundannahmen der Frage nach den vernünftigen (epistemischen und ethischen) Funktionen moralischer Auseinandersetzungen im Alltagsleben nachgehen. Unter moralischen Auseinandersetzungen im Alltagsleben verstehe ich Auseinandersetzungen um konkrete Fragen wie, ob es in dieser Situation und mit diesen absehbaren Folgen für eine Person wie A richtig oder gut ist, x zu tun (im Unterschied zu allgemeinen normativen Fragen wie, ob x als allgemeiner Handlungstyp richtig ist, oder zu metaethischen Fragen wie, nach welchem Prin-
Die üblichen Antworten auf diese Fragen bewegen sich in den Denkgleisen des modernen Gegensatzes zwischen liberalen und kommunitaristischen (wie man es neuerdings nennt) Denkweisen, der sich seit dem siebzehnten Jahrhundert entwickelt hat. Aus liberaler Perspektive ist das eigenständige, selbstverantwortliche Individuum die Quelle der Normen. Aus kommunitaristischer Perspektive hingegen befinde ich mich immer schon in einer normativen Übereinkunft, die allem, was ich selbst entscheiden kann, vorgegeben ist, und das ist auch gut so. Denn eine Gemeinschaft im eigentlichen Sinne, so dachte man von der Romantik bis zu Durkheim und MacIntyre, muss über eine vom einzelnen unverfügbare sinnstiftende Grundlage verfügen, einen traditionsgebundenen Kontext gemeinsamer Praktiken, in deren normativen Kontext sich sinnvolle Lebensziele und moralische Herausforderungen für den Einzelnen stellen. Wenn sich solche Traditionen auflösen und der Einzelne selbst wählen muss, nach welchen Regeln er leben will, wird er aus dieser kommunitaristischen Sicht nicht autonom, sondern anomisch, wie es Durkheim genannt hat. Da nur noch instrumentelle Beziehungen zu den Mitmenschen möglich sind, verliert er seine moralische Orientierung und seinen psychischen Halt. Wenn ich im Folgenden Kritik an MacIntyres Diagnose üben und dabei eine alternative Auffassung von moralischer Vernunft skizzieren werde, die auch das Phänomen moralischer Divergenz in einem anderen Licht erscheinen lässt, geht es mir nicht darum, einen liberalen Standpunkt gegen einen kommunitaristischen zu vertreten. Ich möchte vielmehr pragmatisch an die Sache herangehen und versuchen, mich dem Wechselspiel zwischen Individuum und Gemeinschaft in der moralischen Grammatik des Alltagslebens anzunähern.
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zip x beurteilt werden sollte). Mit Blick auf solche Auseinandersetzungen, wie sie im Alltag stattfinden könnten, werde ich MacIntyres Annahme in Zweifel ziehen, dass ihr rationaler Zweck darin liegt, Übereinstimmung zu erzeugen. Im Rückgriff auf Platon, David Ross, Habermas und vor allem Stanley Cavell werde ich eine alternative Interpretation moralischer Auseinandersetzungen vorstellen, aus der sich auch eine andere Bewertung moralischer Divergenz ergibt. Dabei gehe ich von der Überlegung aus, dass moralische Auseinandersetzungen verschiedene rationale Funktionen haben, zu denen ganz zentral die Selbstverständigung gehört. Daran schließt sich die Überlegung an, dass moralische Divergenz insofern sogar eine wichtige konstruktive Bedeutung für die Moral haben kann, als sie einerseits der Selbstverständigung dienlich ist, uns andererseits aber auch die Komplexität unserer moralischen Welt und andere individuelle moralische Perspektiven erschließt.
II
Ist die Moral nicht mehr das, was sie einmal war? Oder war die Moral nie, was sie angeblich ist?
MacIntyre geht von vier Voraussetzungen aus, die ich allesamt in Zweifel ziehen möchte: erstens einem Verständnis vernünftiger moralischer Argumentation, das nicht nur Übereinstimmung mit Blick auf gewisse intersubjektive Rücksichten und auf das, was als Entschuldigung oder zur Rechtfertigung von Handlungen vorgebracht werden kann, verlangt, sondern fordert, auf der Grundlage gemeinsamer normativer Prämissen und unstrittiger Fallbeschreibungen zu einer übereinstimmenden Folgerung gelangen zu können. Zweitens unterstellt er, dass eine funktionierende Moral analog zu Spielen ein normativ kohärentes und konsistentes System darstellt, in dessen Rahmen es irrational wäre (oder jedenfalls ein Verlassen der gemeinsamen moralischen Welt), die Prämissen (die Prinzipien, Regeln und Normen) selbst in Frage zu stellen. Dieses Vernunft- und Moralverständnis ergänzt MacIntyre drittens durch die kulturhistorische Hypothese, dass dieser Vernunft- und Moralbegriff zu anderen Zeiten – MacIntyre nennt die Moral der Antike und des Mittelalters – der gelebten Moral entsprach. Viertens scheint MacIntyre es für selbstverständlich zu nehmen, dass eine Moral, die moralische Übereinstimmung garantiert, wenn die Betroffenen bereit sind, den Regeln vernünftiger Argumen32
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tation zu folgen, nicht nur menschenmöglich (zumindest unter anderen kulturellen Voraussetzungen), sondern auch wünschenswert ist. Ich möchte diesen gedanklichen Komplex zunächst an dem philosophisch weniger zentralen dritten Punkt annagen, indem ich die letztlich nur von der Kulturwissenschaft beantwortbare Frage nach der historischen Anwendbarkeit von MacIntyres Begriff vernünftiger moralischer Argumentation aufwerfe. Folgendes wird wohl unstrittig sein: Sich vernünftig über moralische Fragen verständigen zu können, ist nur möglich, wo man über eine gemeinsame moralische Sprache verfügt und ihr Vokabular mit Inhalt füllen kann – also Vorstellungen darüber hat, was Begriffe wie Feigheit, Bestechlichkeit, Lüge bedeuten, auf welche Handlungen sie angewendet werden. Darüber hinaus sind eine ganze Reihe von weiteren Kenntnissen und Fähigkeiten erfordert, über die durchaus nicht jeder Mündige stets im vollen Maß verfügt, weshalb eine Verständigung auch immer scheitern kann: man muss nicht nur bereit sein, sachhaltig zu argumentieren, sondern auch über die Kenntnis verfügen, welche Arten von Gründen bei welcher Art von Handlungen überhaupt als Entschuldigung oder Rechtfertigung angeführt werden können und welche nicht. Man muss daran interessiert sein, die eigene Position, aber auch die der anderen Person zu verstehen, falsche eigene Vorstellungen zu berichtigen, aber auch falsche Vorstellungen von der normativen Perspektive der Gesprächsteilnehmer. Ist es jedoch darüber hinaus erforderlich, dass jeder unter den moralischen Begriffen dasselbe versteht und ihnen dasselbe Gewicht zuschreibt, so dass man in moralischen Auseinandersetzungen zu übereinstimmenden Einschätzungen gelangen müsste, was zu tun richtig ist? MacIntyre scheint dies für die nichtmoderne Welt anzunehmen, aber weder die von Homer beschriebenen Konflikte zwischen seinen Helden und zwischen den Göttern (die er weder leugnet, noch ausblendet), noch die (ebenfalls von ihm berücksichtigten) griechischen Tragödien, noch die Dialoge Platons stützen ohne Weiteres diese Annahme. Es mag sein, dass die moralische Begrifflichkeit in der griechischen Antike kohärenter war als heute. Aber auch im Kontext einer homogeneren moralischen Begrifflichkeit als der des modernen Europa ist nicht garantiert, dass die Teilnehmer an einem Gespräch etwa unter Tugenden wie »Mut«, »Frömmigkeit« oder »Gerechtigkeit«, unter »Freundschaft« oder »Ehre« genau dasselbe verstehen. Ebenso wenig ist garantiert, dass sie die mit den jeweiligen Begriffen verbundenen Werte und Pflichten im konkreten Falle gleich gewichten A
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und mit Blick auf die Frage, was man tun soll, zu denselben Ergebnissen kommen. Die kulturwissenschaftliche Forschung des zwanzigsten Jahrhunderts stützt auch nicht ohne Weiteres die Annahme, traditionelle Gesellschaften seien moralisch homogener als moderne. Auch die Mitglieder sehr traditioneller Gesellschaften, die beiden Geschlechtern unterschiedliche Aufgaben und entsprechend unterschiedliche Regeln, Werte und Tugenden zuordnen, können jederzeit in Prioritätskonflikte geraten, wenn beispielsweise eine kriegerische Handlung (der Männer), die aus Gründen der Ehre nicht verschoben werden kann, zu einer Zeit ansteht, wo die Frauen Fruchtbarkeitsrituale durchführen wollen, die für sie absolute normative Priorität haben. Die Vorstellung, man könnte aufgrund geteilter normativer Prämissen in solchen Fällen die für alle richtige Entscheidung ermitteln, ist nicht realistisch. Beide Geschlechter wiederum müssen in vielen kulturellen Kontexten zwischen den normativen Anforderungen ihrer Religion und den normativen Erwartungen lebender oder verstorbener Familienangehöriger je nach Anlass Prioritäten setzen. 9 Ob in solchen Fällen eine Verwahrlosung der Moral zu diagnostizieren ist, hängt ganz davon ab, was man unter Moral versteht. Je heterogener die moralischen Kontexte sind, desto mehr hat der Einzelne die Möglichkeit, sich je nach Situation und Eigeninteresse auf unterschiedliche Normen zu berufen, aber er muss auch mehr Kreativität und Selbstverantwortung beim Umgang mit moralischen Fragen an den Tag legen.
So heißt es von den sehr traditionell lebenden Boróro, »daß sie ihr soziales Leben sowohl nach den Geboten von Geistern, wie auch nach denen von in irgendeiner Weise als weiterlebend vorgestellten Ahnen einrichten müssen. Dabei kann es ohne weiteres zu Konflikten zwischen der Geister- und der Ahnenordnung kommen.« (Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung. Bd. 1: Frühe und religiöse Rechte, Tübingen 1975, S. 156) Auch Lebensformen, in denen der Einzelne inkompatiblen politischen Normensystemen verpflichtet ist, finden sich in traditionellen Gesellschaften. Ein bekanntes Beispiel sind die Kachin im Hochland von Burma, ein (zur Zeit der Forschung von Edmund Leach) kaum modernisiertes Gebiet, wo jedes Individuum mehreren sozialen Systemen angehört, nämlich einerseits der feudalen ShanOrdnung, andererseits der anarchistischen und egalitären Gambuo-Ordnung. »To the individual itself such systems present themselves as alternatives or inconsistencies in the scheme of values by which he orders his life« (Edmund R. Leach, Political Systems of Highland Burma. A Study of Kachin Social Structure, London 1954, S. 8).
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III
Platon: Die Vernunft moralischer Dialoge
Ich möchte nun eine Frage des amerikanischen Philosophen Stanley Cavell aufgreifen: Kann man es überhaupt als primären (vernünftigen) Zweck moralischer Auseinandersetzungen verstehen, zu einer Übereinstimmung in der moralischen Einschätzung zu gelangen? 10 Man kann diese Frage auch so stellen: Betrachten wir moralische Auseinandersetzungen, wie MacIntyre unterstellt, als gescheitert, wenn man nicht zu einer solchen Übereinstimmung gelangt? Gäbe es dann keinen Unterschied zwischen einer vernünftigen Auseinandersetzung und, sagen wir, einer emotionalen Erpressung und Manipulation? Wenn wir darunter ein Gespräch verstehen müssten, das die Teilnehmer auf der Grundlage geteilter normativer Prämissen und unstrittiger Fallbeschreibungen zu einem übereinstimmenden Urteil hinführt, dann findet im menschlichen Leben vermutlich nicht viel an vernünftigen moralischen Auseinandersetzungen statt. Dass unsere normativen Voraussetzungen weder klar noch deutlich sind, dass die Normen nicht für sich selbst sprechen und dem Individuum die Arbeit abnehmen, seine Gedanken zu klären, hat wohl kaum jemand deutlicher gemacht als Platon, der in seinen frühen Dialogen immer wieder die Unhaltbarkeit des Glaubens herausstellt, der des Denkens und einer moralischen Sprache kundige Mensch wisse ohne Weiteres, wozu er moralisch verpflichtet ist und was daraus für das konkrete Handeln folgt. Das fraglose Überzeugtsein von der Sachhaltigkeit und Deutlichkeit einer bestimmten Überzeugung erweist sich in diesen Dialogen stets von ebenso kurzer Dauer wie die zwischendurch hergestellte Übereinstimmung mit Blick auf den Inhalt gängiger moralischer Begriffe; beides stellt sich schnell als Illusion heraus, sobald die Gesprächspartner unter Druck geraten, sich genauer zu artikulieren. Ein gutes Beispiel hierfür bietet der Dialog Euthyphron. Sokrates tritt dort ins Gespräch mit Euthyphron, einem jungen Mann von beträchtlichem moralischen Ehrgeiz, der sich einer religiös begründeten universalen Moral verpflichtet wähnt und zu wissen glaubt, was die Pflichten der Frömmigkeit von ihm verlangen. So verklagt er ohne Skrupel seinen eigenen Vater wegen Totschlags vor Gericht, nachdem dieser einen sei-
10 Vgl. Stanley Cavell, Der Anspruch der Vernunft. Wittgenstein, Skeptizismus, Moral und Tragödie, Frankfurt a. M. 2006, S. 417.
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ner Sklaven, der betrunken einen anderen im Streit getötet hatte, in eine Grube hatte werfen lassen, wo er aufgrund mangelnder Versorgung starb, bevor der zum Gericht gesandte Bote zurückgekehrt war. Die Verwandten sind empört, dass Euthyphron unter solchen Umständen seinen eigenen Vater verklagt. Er jedoch hat keinen Zweifel, was jeder Mensch in einem solchen Fall tun sollte. So begründet er seinen Schritt damit, dass die Götter von ihm verlangen, jeden gleich zu behandeln, und dass es keinen Unterschied machen dürfe, ob es sich bei den Beteiligten um Sklaven oder Freie handelt. Sokrates fragt nun mit Blick auf die Götter: Welche Art von Uneinigkeit aber, mein Freund, ruft Haß und Zorn hervor? Laß uns die Sache so betrachten. Wenn du und ich uns uneinig darüber sind, welche Anzahl größer als eine andere ist, würden wir darüber zornig oder zu Feinden? Würden wir einen solchen Streit nicht sofort dadurch beilegen, daß wir zählen? Euthyphron: Gewiß doch. Sokrates: Und wenn wir uns hinsichtlich der relativen Größe zweier Dinge uneinig sind, würden wir sie nicht messen und so unsere Meinungsverschiedenheit sogleich beenden? Euthyphron: Ja. Sokrates: Und würden wir eine Frage bezüglich des relativen Gewichts zweier Dinge nicht dadurch klären, daß wir die Dinge wiegen? Euthyphron: Selbstverständlich. Sokrates: Was ist dann die Frage, die uns zornig und zu Feinden machen würde, wenn wir in ihr nicht übereinstimmen und nicht zu einer Einigung kommen können? Vielleicht hast Du keine Antwort parat, aber höre die meine an. Ist es nicht die Frage des Gerechten und Ungerechten, des Ehrenhaften und Unehrenhaften, des Guten und des Schlechten? Sind es nicht Fragen über derlei Dinge, die dich und mich und jedermann streiten lassen, wenn wir streiten, wenn wir darüber anderer Meinung sind und zu keiner zufriedenstellenden Einigung kommen können? 11
Sokrates fragt also, wie wir bei verschiedenen Typen von Uneinigkeiten zu einer Lösung kommen können und welche Art von Uneinigkeit (unter uns wie auch unter den Göttern) Hass und Zorn hervorruft. Er wird sich schnell mit Euthyphron einig, dass man bei quantitativen Fragen über objektive Maßstäbe verfügt, die von den verschiedenen Platon, Euthyphron 6b-d; wiedergegeben nach der von Christiana Goldmann überarbeiteten Schleiermacher-Übersetzung aus: Cavell, Der Anspruch der Vernunft, S. 415 f.
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Ansichten unabhängig sind. Bestreitet jemand das von einem anderen behauptete Gewicht eines Dinges, dann kann man zur Übereinstimmung kommen, indem man es wiegt. Wer sich in einem solchen Fall weigerte, eine (geeichte, funktionierende) Waage zu benutzen, und auf seiner eigenen Ansicht bestünde, würde als irrational bzw. inkompetent betrachtet werden. Bei Fragen des Gerechten und Ungerechten, des Ehrenhaften und Unehrenhaften, des Guten und Schlechten verhält es sich jedoch anders. Hier geht es nicht um die Frage, ob das Gerechte gerecht oder das Gute gut ist, sondern ob eine bestimmte Handlung einer bestimmten Person unter diesen Umständen gerecht oder ungerecht, ehrenhaft oder unehrenhaft, gut oder schlecht ist. Und da uns hier kein gleichermaßen funktionierender, im Kontext der jeweiligen Wissenschaft und Technik von allen anerkannter Maßstab zur Verfügung steht, lassen sich moralische Einwände nicht ohne Weiteres als irrational abtun. Der Dialog endet daher aporetisch – er gelangt nicht zu einer Übereinstimmung hinsichtlich der Frage, ob es in diesem besonderen Fall wirklich Euthyphrons Pflicht ist, den eigenen Vater zu verklagen. Die Divergenz in den Einschätzungen zwischen Euthyphron und seinen Verwandten wird im Rahmen des Dialogs nicht aufgehoben. Platons Frühdialoge demonstrieren nicht nur, dass moralische Divergenz im griechischen Kontext ein bekanntes und durchaus reflektiertes Phänomen ist, sondern lassen auch ein anderes Verständnis von der Vernunft moralischer Auseinandersetzungen durchblicken als das von MacIntyre unterstellte. Erstens sind die moralischen Prämissen (was die Götter von uns erwarten) alles andere als unstrittig. Zweitens verwenden die Gesprächspartner zwar dieselben moralischen Begriffe (Frömmigkeit), sie ändern aber mehrfach ihre Ansicht, was darunter zu verstehen ist. Eben darum geht es: Indem die moralischen Auseinandersetzungen in Platons Frühdialogen immer wieder die Oberflächlichkeit des eigenen moralischen Vorverständnisses zutage fördern, die sich in der vagen und widersprüchlichen Verwendung der moralischen Begriffe kundtut, leiten sie einen Prozess der Verständigung und Selbstverständigung ein, der das Selbstverständnis nachhaltig verändern könnte – wenn die Beteiligten dazu bereit wären. Diese kreative Leistung ist in Platons Dialogen jedoch nicht garantiert – das macht ihre besondere Lebensnähe aus. Sie hängt davon ab, mit welchen Gesprächspartnern es Sokrates zu tun hat, ob sie eitel oder wissbegierig, neugierig oder unheilbar von sich selbst überzeugt sind, wie stark sie A
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bereit sind, sich auf den anderen einzulassen und sich selbst zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund liegt die Vermutung nahe, dass MacIntyres Vorstellung, moralische Vernunft manifestiere sich in moralischen Auseinandersetzungen darin, dass die Beteiligten im Ergebnis übereinstimmen, wohl eher eine speziell moderne als eine antike ist, genauer: eine romantische Vorstellung vom Gemeinschaftsleben, in die vermutlich aber auch einige Ansprüche der modernen szientistisch orientierten Moralphilosophie von Kant bis Habermas eingeflossen sind. Dieser dominante Zweig der modernen Moralphilosophie hat es weitgehend als seine Aufgabe betrachtet, vernünftige Verfahrungsweisen und Prinzipien der moralischen Bewertung freizulegen, auf die sich jeder stützt: ob dies nun der kategorische Imperativ, das Prinzip des Nutzens oder das Prinzip der herrschaftsfreien Übereinstimmung ist. Dies hat bei vielen die unrealistische Erwartung geweckt, dass die menschliche Vernunft doch eigentlich ein Messinstrument sein müsste, mit dem wir, wenn wir es nur verstünden sie richtig zu handhaben, zu übereinstimmenden moralischen Einschätzungen gelangen können. Und wenn unter moralischen Auseinandersetzungen so etwas wie Techniken zur Problemlösung (eben spezieller moralischer Probleme) zu verstehen wären, dann wäre ein solches Verfahren, da es die Sache vereinfacht, auch durchaus wünschenswert. Nur: Darum geht es in moralischen Auseinandersetzungen nicht.
IV Die konstruktive Funktion moralischer Divergenz Vor dem Hintergrund der Frühdialoge Platons, so hatte sich im letzten Abschnitt gezeigt, erscheint MacIntyres Interpretation moralischer Divergenz als eines Verfallsphänomens zumindest zweifelhaft. Freilich: Wir müssen mit Blick auf gewisse kommunikative Erwartungen und Regeln der Argumentation übereinstimmen oder sie zumindest nicht gleichzeitig in Frage stellen, um uns vernünftig über moralische Inhalte verständigen zu können. »Niemand kann ernsthaft in eine Argumentation eintreten«, so Habermas, »wenn er nicht eine Gesprächssituation voraussetzt, die im Prinzip Öffentlichkeit des Zugangs, gleichberechtigte Teilnahme, Wahrhaftigkeit der Teilnehmer, Zwanglosigkeit der Stellungnahme usw. garantiert. Die Beteiligten können einander nur überzeugen wollen, wenn sie pragmatisch unterstellen, 38
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daß sie ihr ›Ja‹ und ›Nein‹ einzig durch den Zwang des besseren Arguments bestimmen lassen.« 12 Auch wenn Habermas’ Formulierung nicht wenig über die pragmatischen Unterstellungen hinausschießt, auf die wir uns im Alltagsleben stützen, scheint mir dieser Ansatz doch insoweit hilfreich, als er die Grundlagen der vernünftigen Auseinandersetzung nicht in den normativen Inhalten, sondern in gewissen ethischen Einstellungen und Fähigkeiten der Gesprächspartner sieht, die unabhängig von ihren normativen Überzeugungen beschreibbar sind. Zwar müssen und dürfen wir nicht unterstellen, dass unsere Gesprächspartner sich einzig und allein vom Zwang des besseren Arguments bestimmen lassen – das ist eine Fiktion, die uns m. E. eher daran hindert, die Berechtigung von Einschätzungen zu verstehen, die wir aus persönlichen Gründen nicht teilen. Wir müssen jedoch ein Interesse an sachlicher Aufklärung unterstellen, die Bereitschaft, den anderen als ernstzunehmenden und gleichberechtigten Gesprächspartner wahrzunehmen, dessen Argumente nicht weniger zu berücksichtigen sind als die eigenen. Ist es darüber hinaus erforderlich, wie MacIntyre unterstellt, von gemeinsamen moralischen Prämissen auszugehen? Betrachten wir folgendes Beispiel des Gesprächs eines Paars am Frühstückstisch, das sich moralisch nicht ganz einig ist: Klaus: Warum hast Du meiner Tante gesagt, wir wären am Sonntag nicht da und könnten leider nicht kommen? Hast Du Pläne zum Wegfahren? Katja: Nein, aber wir haben einiges zu besprechen. Und ich dachte, wir könnten uns den interessanten Film anschauen, den ich ausgeliehen habe. Oder etwas anderes Schönes. Ich sehe nicht ein, warum wir schon wieder den Sonntag mit Ilse in ihrer stickigen Bude verbringen und die Zeit totschlagen müssen. Klaus: Aber Du kannst sie doch nicht einfach anlügen! Katja: Das ist doch keine Lüge. Es war doch nicht auszuschließen, dass wir doch noch wegfahren. Vielleicht hattest Du ja Pläne zum Wegfahren. Klaus: Wenn Du das nicht vorhast, aber behauptest, wegfahren zu wollen, dann ist das eine Lüge! Und wenn Du das bestreitest, belügst Du Dich selbst! Katja: Dann nenne es meinetwegen eine Lüge. Für mich bedeutet Lüge etwas Schlimmeres, womit man jemand ein Unrecht tut. Oder findest Du es wirklich schlimm, bei Ilse eine Ausrede zu verwenden? Wolltest Du denn 12 Jürgen Habermas, »Erläuterungen zur Diskursethik«, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, S. 119–226, hier S. 132.
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hingehen? Oder findest Du, sie hat ein Recht darauf, dass wir jedes Wochenende kommen? Klaus: Nein, so häufig müssen wir sie nicht besuchen, da sind wir uns einig. Aber ich finde, wir sollten das dann auch offen sagen. Ilse verdient etwas Respekt. Katja: Du hattest eigentlich genug Gelegenheit, ihr Deinen Respekt durch ungebetene Wahrheiten zu bezeugen. Aber das überlässt Du ja lieber mir – immer heißt es: ›Wir kommen gerne, aber besprich das doch im Detail mit Katja.‹ Klaus: Ich finde einfach, Frauen können so etwas besser, ich meine, sich hier etwas diplomatischer ausdrücken. Jedenfalls bin ich in sowas nicht gut. Ich will sie ja nicht vor den Kopf stoßen. Katja: Das will ich auch nicht. Aber sie lässt mir nicht genug Spielraum für meine sehr begrenzten diplomatischen Fähigkeiten. Wenn ich ihr sagen würde, wir wissen noch nicht, was wir vorhaben, würde sie anfangen zu drängeln und sich da hineinsteigern, Du kennst sie ja. Da sage ich doch lieber, wir fahren weg. Wir haben unsere Ruhe, und sie hat keinen Anlass, sich gekränkt zu fühlen. Kommt mir optimal vor. Klaus: Mir nicht, aber mir fällt auch nichts Besseres ein. Ich war da eben wohl etwas zu heftig, tut mir leid. Das war vielleicht gar nicht wegen Ilse, sondern weil mir durch den Kopf ging, ob Du mich wohl ebenso leicht belügen würdest, ohne mit der Wimper zu zucken … Katja: Das ist aber doch etwas ganz anderes. Dich geht es schließlich etwas an, was ich vorhabe, und mit Dir kann ich auch Klartext reden, ohne dass Du gleich einschnappst. Ich würde ja gerne offen mit ihr sprechen, aber Du weißt doch, wie sie bei Sachen nachbohrt, die sie nichts angehen, und das schlägt mir aufs Gemüt. Und wenn man sie abwimmelt, ist sie gekränkt.
Brechen wir das Gespräch, das sich sicher noch Stunden hinziehen könnte, an dieser Stelle ab. Wie gesagt, werden in moralischen Auseinandersetzungen im Alltagsleben keine Urteile über die abstrakte Richtigkeit oder Falschheit von Handlungstypen gefällt, auf die moralische Begriffe wie Lüge anwendbar sind. Es geht vielmehr um konkrete Einschätzungen wie, ob es für x richtig ist, sich in dieser Situation gegenüber dieser Person auf diese Weise zu verhalten. Damit kommen allgemeine moralische Begriffe wie Lüge ins Spiel, und man bezieht sich auf allgemeine moralische Regeln und Prinzipien. Ich möchte nun die Frage stellen, ob eine solche Auseinandersetzung auch dann »vernünftig« sein kann, wenn die Beteiligten die Situation moralisch unterschiedlich einschätzen, nicht dieselben Prinzipien anwenden, und wenn auch gar nicht ersichtlich ist, wo ein »besseres Argument« zu finden wäre, das herrschaftsfreien Zwang ausüben könnte. 40
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Mit MacIntyre könnte man das Gespräch als eine Meinungsverschiedenheit beschreiben, in der erstens unterschiedliche Maßstäbe des Richtigen und Guten zum Ausdruck kommen: Während Katja teilweise handlungsutilitaristisch argumentiert (unter den Umständen ist diejenige Sprachhandlung optimal, die den Betroffenen, hier Ilse, Klaus und Katja, insgesamt am wenigsten schadet und am meisten nützt), scheint Klaus eher kantisch-deontologisch zu denken (eine Lüge ist eine Pflichtverletzung, unabhängig vom Anlass und den Folgen). Zweitens zeigt sich, dass beide den Begriff Lüge anders verwenden, was eine Inkohärenz im heutigen moralischen Vokabular anzeigt, die sich auf verschiedene Traditionen der europäischen Geistesgeschichte zurückführen lässt. So ließe sich die Weise, wie Klaus den Begriff der Lüge gebraucht, in einem weiten Sinne der Tradition von Augustin bis Kant zuordnen: Eine Lüge besteht in dem Widerspruch zwischen dem, was man sagt und dem, was man glaubt, und sie ist unabhängig von den Folgen ein Unrecht.13 Katjas Argumentation hingegen könnte man eher der naturrechtlichen Tradition von Grotius und Pufendorf zuordnen, die nicht jede Falschaussage als Lüge betrachtet, sondern nur solche, mit denen ein Recht der angesprochenen Person verletzt wird; 14 darüber hinaus könnte sie sich auf Schopenhauer berufen, der so etwas wie ein Notwehrrecht auf Lüge in Fällen zugesteht, in denen ein unbefugtes Eindringen in die Privatsphäre nicht auf andere Weise abgewehrt werden kann. 15 Diese Traditionen geben grundverschiedene Antworten auf die Frage, was unter den Begriff Lüge fällt, wie er verstanden wird und worin genau das Unrecht der Lüge besteht. Kurz, in den Meinungsverschiedenheiten von Katja und Klaus kommt die von MacIntyre beklagte Inhomogenität unserer modernen moralischen Prinzipien und Begriffe zum Ausdruck, die in der Tat dazu führen kann – und so ist unser Beispiel konstruiert –, dass beide zunächst aneinander vorbeireden. Wer Katja und Klaus als passive Träger Vgl. Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge, übers. v. Paul Keseling, Würzburg 1953, S. 3. 14 Vgl. Hugo Grotius, Drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens, in welchem das Natur- und Völkerrecht und das Wichtigste aus dem öffentlichen Recht erklärt werden, Leipzig 1869, Buch III, Kap. 1, S. 204–216; Samuel Pufendorf, De officio, Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1997, S. 159–161: »Von der schuldigen Gebuehr derer Menschen in Reden«. 15 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Werke in fünf Bänden, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Bd. 1, Zürich 1988, §§ 60–62. 13
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der von ihnen in das Gespräch eingespeisten moralischen Begriffe und Dogmen ansieht und sich unter einem Gespräch zwischen ihnen nur ein wechselseitiges Vorhalten solcher Begriffe und Dogmen vorstellt, würde nun nicht nur mit MacIntyre ausschließen, dass es zwischen ihnen zu einer echten normativen Übereinstimmung bezüglich des richtigen Verhaltens gegenüber der schwierigen Tante kommen könnte. Unter diesen Voraussetzungen müsste ihr Gespräch auch sinnlos sein. Das scheint mir jedoch offenkundig nicht der Fall zu sein: Für Leute wie Klaus und Katja haben Gespräche dieser Art wichtige konstruktive Funktionen für die moralische Verständigung und Selbstverständigung, die nicht davon abhängen, dass sie sich am Schluss einig werden. Sie verständigen sich über Katjas Gründe, der Tante einen Reiseplan vorzuspiegeln, den es gar nicht gab, über Klaus’ persönliche Motive und Sachgründe, dies Verhalten als eine Lüge zu beschreiben (und ihr somit vorzuwerfen), sie loten die speziellen Voraussetzungen dieses Falles aus, und Klaus wird sich durch Katjas Vorhaltungen bewusst, dass seine eigene Haltung weniger klar ist, als er dachte, da er noch gar nicht bereit ist, für seine verbale Einschätzung auch konsequent Verantwortung zu übernehmen, die sich in entsprechendem Handeln ausdrücken würde. Wenn hingegen moralische Auseinandersetzung im Alltagsleben scheitert – und das kommt natürlich vor – dann nicht deswegen, weil man sich am Schluss nicht einig ist, sondern weil sich durch die Auseinandersetzung gar nichts geändert hat und die Beteiligten weder ihr Selbstverständnis, noch ihr gegenseitiges Verständnis erweitert und präzisiert haben. Und was sich, auch wenn man über eine Sache verschieden denkt, durch eine moralische Auseinandersetzung ändern kann, lässt sich mit dem Vernunftverständnis, das in Platons Frühdialogen zum Ausdruck kommt, sehr viel besser beschreiben als mit einem idealisierten Modell moralischer Homogenität. Wirkliche Menschen wie Katja und Klaus sind nicht nur Träger von moralischen Theorien und Begriffen. Wie Platon in seinen Frühdialogen vorführt, sind sie auch keine geistig transparenten Wesen, die genau bestimmte moralische Überzeugungen zu allen anfallenden Fragen haben. In dem Maße, in dem sie fähig sind, in eine vernünftige moralische Auseinandersetzung einzutreten, haben sie jedoch die Möglichkeit herauszufinden, inwieweit sie wirklich meinen, was sie anfangs zu meinen glaubten. Wir erwarten im Alltagsleben von einem solchen Gespräch nicht, 42
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dass durch ein vernünftiges Verfahren die eine richtige und gute Handlung gefunden wird – was Katja unter den Umständen optimal erscheint, bereitet Klaus vielleicht nach wie vor Unbehagen, aber er begreift, dass für sie die Ausbalancierung einer gewissen Fürsorge für die Tante einerseits und dem Schutz ihrer beider Privatsphäre und ihrer Gestaltungsfreiräume Vorrang vor der Vermeidung von Täuschungen hat. Es ist auch nicht undenkbar, dass er sich mit Blick auf sein Verständnis und seine Bewertung der Falschaussage ihrer eher konsequentialistischen Sicht annähern könnte, und umgekehrt könnte es durchaus sein, dass ihr in Wirklichkeit nicht ganz so wohl dabei ist, die Tante anzulügen, wie sie vorgibt, weil sie sich vor den emotional belastenden Konsequenzen einer offenen Klarstellung fürchtet. Aus dem bloßen Faktum, dass beide mit unterschiedlichen normativen Voraussetzungen in das Gespräch einsteigen, folgt bei lernfähigen Wesen nicht, dass das Erreichen einer echten normativen Übereinstimmung gar nicht möglich wäre. Moralische Übereinstimmung mit Blick auf das richtige Verhalten gegenüber der Tante ist jedoch weder eine hinreichende, noch eine notwendige Bedingung dafür, dass ein solches Gespräch den vernünftigen Zweck der moralischen Selbstverständigung und Verständigung untereinander erfüllen kann. Damit soll nicht bestritten werden, dass es aus psychologischen Gründen oft ein wichtiger Abschluss von Auseinandersetzungen sein kann, eine Formel zu finden, der jeder zustimmen kann. Das Streben nach Harmonie ist ein menschliches Grundbedürfnis, und Meinungsverschiedenheiten irritieren schon allein deswegen, weil es Meinungsverschiedenheiten sind. Gerade wegen dieses Harmoniestrebens und der dadurch ausgelösten Irritationen können Meinungsverschiedenheiten und Inhomogenitäten des moralischen Vokabulars konstruktive und kreative Prozesse einleiten. Ohne Meinungsverschiedenheiten käme man schwerlich in ein solches Gespräch, das die Gelegenheit bietet, seine eigenen Interessen und Befürchtungen, seine Meinung und ihre Konsequenzen in der Konfrontation mit Einwänden genauer zu verstehen und evtl. zu modifizieren.
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Moralische Mündigkeit und Konformismus
Wie Habermas hervorgehoben hat, hängt die Vernünftigkeit moralischer Auseinandersetzungen wesentlich von den KommunikationsA
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formen ab. Diese Funktion der Verständigung und Selbstverständigung kann ein Gespräch nur erfüllen, wenn die Gesprächspartner gewisse kommunikative Bereitschaften und Fähigkeiten mitbringen, die es ihnen bei aller Divergenz ermöglichen, sich zu verständigen. Im letzten Abschnitt habe ich jedoch bestritten, dass wir in der moralischen Kommunikation voneinander erwarten (sollten), uns allein dem »Zwang des herrschaftsfreien Arguments« zu beugen. Um die Gründe zu verdeutlichen, die gegen ein solches quasi wissenschaftliches Verständnis moralischer Argumentationen sprechen, werde ich mich im Folgenden vor allem auf Stanley Cavell stützen, der ebenfalls von den Kommunikationsformen ausgeht; seine Inspirationsquelle ist jedoch vor allem John Austins Analyse der Sprechsituation als Quelle sprachlicher Bedeutungen. 16 Zwar geht auch Cavell davon aus, dass moralische Auseinandersetzungen im Prinzip in genau demselben Sinne rational sind wie wissenschaftliche, und dass ihre Rationalität darauf beruht, dass sich die Beteiligten gewissen Argumentationsformen verpflichtet fühlen. Es handelt sich jedoch nicht um dieselben Argumentationsformen, und es gibt einen weiteren wichtigen Unterschied: Während es in der Natur wissenschaftlicher Argumentationsformen liegt, zu einer Einigung zu gelangen, weil die Weigerung, ein anerkanntes Experiment oder Medium der Beobachtung oder ein korrektes Argument auf der Grundlage unstrittiger Prämissen zu akzeptieren, den Weigerer als irrational oder inkompetent disqualifizieren würde, gilt dies nicht im selben Maße für moralische Auseinandersetzungen. 17 Wer sich nicht dem zwanglosen Zwang eines guten Arguments beugt, wird deswegen nicht automatisch als irrational oder inkompetent betrachtet. Wenn meine Behauptung, der Vogel drüben sei ein Rotkehlchen, weil er eine auffällige rote Brust hat, mit dem Argument angefochten wird, dass dieses Kriterium noch nicht ausreicht, um zu wissen, dass es Dabei knüpft Cavell vor allem an Austins Auffassung an, dass sprachliches Verhalten schiefgehen kann und dass man dieses Versagen verstehen muss, wenn man verstehen will, was Sprachhandlungen sind. Er distanziert sich jedoch von Austins unterschwelliger Annahme, dass es möglich sei, Dinge richtig zu tun und »korrekt« zu verstehen. Vgl. hierzu Hent de Vries, »Müssen wir (nicht) meinen, was wir sagen? Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit bei J. L. Austin und Stanley Cavell«, in: Kathrin Thiele/Karin Trüstedt (Hrsg.), Happy Days. Lebenswissen nach Cavell, München 2009, S. 293–233, insbes. S. 294. 17 Vgl. Cavell, Der Anspruch der Vernunft, S. 429. 16
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sich wirklich um ein Rotkehlchen handelt, zumal Dompfaffen eine auffälligere rote Brust haben als Rotkehlchen, dann ist mein Anspruch noch nicht hinreichend untermauert – ich müsste jetzt weitere Kriterien vorbringen. Ich kann nicht einfach sagen, »für mich reicht es aber aus«. 18 Wer sich so verhielte, würde sich in solchen Kontexten als unfähig zu einem vernünftigen Gespräch erweisen. In moralischen Fällen ist dies anders, wie Cavell hervorhebt. Wenn jemand sich weigert, gewisse moralische Gründe als für sich verbindlich zu akzeptieren, wie es Antigone angesichts von Kreons Vorhaltungen tut, ohne zu zeigen oder auch nur zu behaupten, sie seien falsch, verstehen wir dies eben nicht automatisch als ein Zeichen von Irrationalität, unabhängig davon, wie wir es bewerten – ob wir es etwa als Ausdruck großer persönlicher Freiheit oder extremer Sturheit und mangelnder Weisheit deuten. Und das liegt daran, dass in moralischen Zusammenhängen nicht nur die Handlungen oder konkreten Einschätzungen, sondern stets auch die Normen bzw. ihre Relevanz in Frage gestellt werden können. Oder mit anderen Worten: Was als Begründung ausreicht und was nicht, kann in moralischen Kontexten selbst zum potentiellen Inhalt des Arguments werden. 19 Moral ist nicht mit Regelkonformismus zu verwechseln. 20 Wenn jederzeit die Geltung verbindlicher Regeln bestritten werden kann – was unterscheidet dann aber noch moralische Ansprüche von bloß subjektiven Geschmacksäußerungen wie: »Spinat schmeckt doch gut« – »Mir nicht«? Ganz ähnlich klingt der Kurzdialog: »Es ist nicht gut, dass Du ihn anlügst« – »Für mich schon«. Was beide Dialoge unterscheidet, sind die pragmatischen Vernunftkriterien, die im zweiten Fall mit unseren Erwartungen an die Fortsetzbarkeit (oder auch mögliche Sinnlosigkeit) der Argumentation verbunden sind. Im ersten Fall ist der Dialog beendet, jedenfalls für »vernünftige« Gesprächspartner. Auch wenn wir vielleicht Menschen kennen, die auch in einem Hier folge ich Cavells Argumentation in ebd., S. 437. Vgl. ebd., S. 438. 20 Eine solche Verwechslung sieht Cavell (in seinen späteren Arbeiten zum moralischen Perfektionismus) besonders in Ibsens Nora reflektiert, nämlich in der Gestalt von Thorwald, Noras Ehemann. Torwalds Einschätzung gründet nicht darauf, dass er für sich selbst urteilt und dafür Verantwortung übernimmt, sondern auf der Vorstellung von Regeln, die sozusagen sein eigenes Urteil ersetzen. Vgl. hierzu Stanley Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome. The Constitution of Emersonian Perfectionism, Chicago 1988, S. 114. 18 19
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solchen Fall noch nachbohren würden: »Warum schmeckt er Dir nicht?«, macht eine solche Frage keinen rechten Sinn, denn während wir wissen, welche Gemüsesorten uns schmecken oder nicht, können wir deswegen noch nicht angeben, warum das so ist. Im zweiten Fall ist eine Nachfrage durchaus sinnvoll, ob nun empört: »Wie kannst Du so etwas sagen?«, oder verständnisvoll: »Oh, ist es tatsächlich so schlimm? Meinst Du, er ist wieder depressionsgefährdet?«, oder eine normenskeptische Haltung vermutend: »Hast Du zuviel Nietzsche gelesen? Mal ehrlich: Fändest Du es wirklich in Ordnung, in einem solchen Fall selbst angelogen zu werden?« Wenn sich dieser Dialog nicht mehr rational fortsetzen lässt, dann liegt das nicht an der Weigerung, gewisse moralische Gründe als für sich verbindlich zu betrachten. Erst die Weigerung, die von dem anderen vorgebrachten Einwände überhaupt als moralisch relevant anzuerkennen, würde die Person in einem solchen Fall für ein moralisches Gespräch disqualifizieren (etwa, wenn sie die Nachfragen mit der spöttischen Bemerkung abtun würde: »Mir macht es nun einmal Spaß«).
VI Ist die Akzeptanz moralischer Divergenz mit dem Geltungsanspruch moralischer Urteile vereinbar? Gegen die an Platon und Cavell anschließende Überlegung, dass moralische Auseinandersetzungen weniger der Erzielung von Übereinstimmung als der Selbstverständigung und Verständigung dienen, wobei moralische Divergenz eine konstruktive Funktion hat, erhebt sich im Ausgang von einem eher Habermas’schen Moralverständnis der Einwand: Wie lässt sich unter dieser Voraussetzung noch der mit moralischen Behauptungen verbundene Geltungsanspruch aufrechterhalten? Ohne den Glauben an die Realisierbarkeit moralischer Übereinstimmung durch den Zwang des besseren Arguments scheint die Bemühung um eine sachliche Argumentation sinnlos zu werden, denn wir müssen dabei unterstellen können, dass der Gesprächspartner sie prinzipiell nachvollziehen und ihr zustimmen kann. Moralische Behauptungen, wie sie Klaus aufstellt, wenn er Katjas Äußerung als »Lüge« kritisiert, aber auch Katja, wenn sie sich mit der Begründung verteidigt, unter den Umständen sei dies gleichwohl »optimal«, sind im Unterschied zu Geschmacksäußerungen in der Tat mit einem Anspruch auf intersubjektive Gültigkeit verbunden. Dieser An46
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spruch wird in der analytischen Philosophie der Gegenwart auch als Universalisierungsprinzip bezeichnet: Wenn eine Handlung für eine Person moralisch richtig (falsch) ist, dann ist sie auch für jede andere relevant ähnliche Person in relevant ähnlichen Umständen moralisch richtig (falsch). Die analytische Wahrheit des Universalisierungsprinzips soll hier gar nicht in Zweifel gezogen werden. 21 Aus ihr folgt jedoch nicht, dass es in einer moralische Argumentation darum ginge, den jeweiligen Gesprächspartnern die universale Geltung der eigenen Position nachzuweisen. Wie Jörg Schroth argumentiert hat, kann man das Universalisierungsprinzip genauso gut zum Anlass nehmen, Differenzen zu begründen. Beurteilt man zwei offensichtlich ähnliche Handlungen unterschiedlich, so verlangt das Universalisierungsprinzip, einen Unterschied zwischen den Handlungen zu benennen und zu begründen, warum dieser Unterschied moralisch relevant ist. 22 Dasselbe gilt für verschiedene Personen oder soziale und politische Gruppen: Beurteilen zwei Personen denselben oder einen ähnlichen Vorgang anders, dann verlangen die Ansprüche der Vernunft von ihnen eine Begründung, warum dieser Vorgang für sie nicht dieselbe moralische Bedeutung und Relevanz hat, oder mit anderen Worten: warum für sie unterschiedliche Aspekte des Vorgangs moralisch bedeutsam und wichtig werden. Es besteht also kein logischer Zusammenhang zwischen dem Universalisierungsanspruch und den Kriterien der Vernunft moralischer Auseinandersetzungen. Wer (für sich) eine Entscheidung als moralisch richtig beurteilt und fähig ist, zwischen moralischen Gründen und eigenen Wünschen und Interessen zu unterscheiden, impliziert damit, dass er sie auch für jede (in den relevanten Aspekten) ähnliche Person, die sich in (in den relevanten Aspekten) ähnlichen Umständen befindet, für richtig hält. Das ist jedoch noch kein Grund, in Auseinandersetzungen über diese Frage von den Gesprächspartnern uneingeschränkte Zustimmung zu verlangen (bzw. sie als irrational oder Wenn ich Stanley Cavell richtig verstehe, geht er allerdings nicht davon aus, dass moralische Ansprüche – im Unterschied zu ästhetischen – ein Universalisierungsprinzip implizieren. Ich möchte hier jedoch nur an seine Analyse der Funktion moralischer Auseinandersetzungen und nicht an seine gesamte Theorie moralischer Argumentationen anknüpfen. 22 Hier folge ich Jörg Schroth, Die Universalisierbarkeit moralischer Urteile, Paderborn 2001, S. 26. 21
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inkompetent zu betrachten, wenn sie dies nicht tun). Die Vernunft moralischer Auseinandersetzungen lässt sich nicht allein aus den logischen Implikationen moralischer Urteile erschließen, sondern kann nur mit Blick auf die epistemischen und pragmatischen Aspekte der kommunikativen Situation und die jeweils involvierten moralischen Anliegen verständlich werden. Was die epistemische Dimension angeht, so kann man sich oft gar nicht sicher sein, ob die eigene Einschätzung, die auf einer bestimmten Wahrnehmung der moralisch relevanten Faktoren der Situation sowie einer Einschätzung ihrer relativen Wichtigkeit beruht, wirklich die richtige ist. Man weiß ja aus Erfahrung, dass sich in der Auseinandersetzung oft erst zeigt, wie weit die eigene Einschätzung wirklich trägt und welche Position man letztlich vertreten kann. Darüber hinaus kann sich herausstellen, dass die Entscheidung des anderen, auch wenn man sie nach ausführlicher Diskussion immer noch für falsch hält, von ihm offenbar nach bestem Wissen und Gewissen getroffen wurde und dass ich ihm keinen zwingenden Grund angeben kann, davon abzurücken, weil er andere moralische Prioritäten hat als ich. Die Fähigkeit, den eigenen Anspruch in solchen Hinsichten zurückzustellen und die Perspektive der anderen Person einzunehmen, ist Teil dessen, was eine vernünftige Auseinandersetzung ausmacht. Darüber hinaus sprechen prinzipientheoretische Überlegungen dagegen, den mit moralischen Urteilen verbundenen Universalisierungsanspruch mit der Annahme zu verwechseln, es gäbe für jedes moralische Problem genau eine moralisch korrekte Lösung. Warum sollte es nicht unlösbare Probleme oder Probleme mit vielen möglichen Lösungen geben? Schon David Ross hat bekanntlich gezeigt, dass man die Geltung moralischer Prinzipien nicht absolutistisch verstehen muss, sondern prima facie. Nach der absolutistischen Auffassung sind alle moralischen Gebote oder Verbote auf ein moralisches Prinzip (wie den kategorischen Imperativ oder das Prinzip des Nutzens) rückführbar. Ross hingegen nimmt an, dass wir uns intuitiv der Gültigkeit vieler moralischer Pflichten bewusst sind, diese jedoch nicht auf ein und dasselbe Prinzip zurückführen können. Noch gibt es einen Hauptwert wie Lust oder Nutzen, der als Grundeinheit dienen kann, um den Wert aller anderen Werte festzulegen. Daher können die unseren Überlegungen zugrunde liegenden Prinzipien miteinander in Konflikte geraten, die nicht immer durch Prioritätsregeln, d. h. durch Rückführung auf all48
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gemeinste Prinzipien gelöst werden können. Wenn ein basales moralisches Prinzip wie das Verbot, andere zu schädigen, auf eine Handlung anwendbar ist, dann hat man mit Blick auf die spezifischen Eigenschaften der Handlung, auf die sich das Prinzip bezieht, einen moralischen Grund, sie zu begehen oder es zu lassen. Daraus folgt jedoch nicht, dass dieser Grund nicht durch andere Gründe, die sich auf andere Eigenschaften des Falles beziehen, sozusagen überstimmt werden könnte. Wenn eine Sprachhandlung wie Katjas Äußerung gegenüber der Tante also erstens die Eigenschaft aufweist, eine Falschaussage in Täuschungsabsicht zu sein, und zweitens die Eigenschaft aufweist, das einzige zur Verfügung stehende Mittel zum Schutz des Privatlebens (vor dem Opfer) und gewisser Fürsorgebeziehungen (zum Opfer) zu sein, dann hat man zwar unter dem ersten Gesichtspunkt einen Grund, sie zu lassen, unter dem zweiten aber einen, sie zu begehen. Je nachdem, welcher Grund überwiegt, ist sie falsch bzw. richtig. Diese Auffassung von Prinzipien hat gegenüber der absolutistischen den Vorteil, dass man damit erklären kann, warum man guten Grund haben kann, Handlungen, die dieselben nichtmoralischen Eigenschaften (eine Falschaussage in Täuschungsabsicht zu sein) aufweisen, in verschiedenen Situationen unterschiedlich moralisch zu bewerten – aber auch warum verschiedene Menschen zu verschiedenen moralischen Einschätzungen kommen können, ohne sich dabei notwendig moralisch zu irren. Mit Blick auf unsere Frage, wie moralische Divergenz zwischen Personen zu verstehen und einzuschätzen ist, ist Ross’ Ansatz jedoch nur begrenzt hilfreich, denn er betrachtet die moralische Erkenntnis nur aus der Perspektive der einzelnen Person, die versucht, einen vorliegenden Fall möglichst objektiv zu beurteilen. Aus dieser Perspektive betrachtet, liegt die Herausforderung darin, die Situation so genau zu studieren wie möglich, um zu ermitteln, welche prima facie-Pflichten hier relevant sind und welcher Anspruch höher zu werten ist. 23 Im Alltagsleben besteht die moralische Herausforderung aber vor allem auch darin, unseren persönlichen Verpflichtungen und Anliegen im Verhältnis zu den jeweils betroffenen anderen Personen gerecht zu werden und sich mit ihnen wechselseitig zu verständigen. Wie Stanley Cavell argumentiert, verlangen vernünftige moralische Auseinandersetzungen von den Gesprächspartnern die Bereit23
Vgl. David Ross, The Right and the Good, Oxford 2002, S. 19. A
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schaft und Fähigkeit, die persönlichen Verpflichtungen, Bindungen und Herzensanliegen des anderen pragmatisch zu berücksichtigen. 24 Wer lediglich die eigenen Verpflichtungen oder moralischen Herausforderungen im Blick hat, ohne die möglicherweise anderen moralischen Prioritäten der Gesprächspartner zu berücksichtigen, kann sein Anliegen ihnen gegenüber auch nicht rational begründen, auch wenn die Argumente stimmen und kein Zweifel an der Berechtigung und Dringlichkeit der eingeforderten moralischen Verpflichtung besteht. Zu den kommunikativen Voraussetzungen vernünftiger Auseinandersetzungen gehört daher auch die Bereitschaft, die Gesprächspartner nicht nur als Vernunftwesen, sondern als andere Menschen mit anderen moralischen Prioritäten anzuerkennen. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert Charlie Chaplin in »Der große Diktator«, ein Film, der zwei unterschiedliche Formen des irrationalen Umgangs mit Andersheit vorführt: einerseits die Entmenschlichung der anderen, d. i. der Juden, die sich im Wunsch des Diktators Hynkel nach ihrer Vernichtung äußert, und andererseits die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, sie überhaupt als anders wahrzunehmen. Diese Unfähigkeit führt Chaplin auf subtile Weise in der Szene vor, in der Kommandeur Schultz, der sich mit dem Diktator Hynkel überworfen und im jüdischen Ghetto Zuflucht gesucht hat, eine Gruppe von jüdischen Männern versammelt und ihnen verkündet: »Wir sind zusammengekommen, um unser Vaterland von einem Tyrannen zu befreien.« Er beruft sich auf die Ehre und die altgermanische Sitte, nach der einer ausgewählt wird, um sich für sein Vaterland zu opfern, und verleiht seiner Überzeugung Ausdruck, dass selbstverständlich jeder der Anwesenden den Wunsch hat, dieses Opfer zu bringen. Die Anwesenden sind aufgrund ihres Assimilationshintergrunds durchaus für diese Helden- und Opfergeschichten ansprechbar, nur einer versucht einen Einwand, wird jedoch von einem anderen daran gehindert. Erst als Schultz Kuchen verteilen lässt, in denen er eine Münze versteckt hat, um den Tyrannenmörder auszulosen, stellt sich (in einem wunderbaren Slapstick, in dem eine Menge Münzen verschluckt und Mein Verständnis von Cavells Konzeption moralischer Vernunft verdanke ich – neben den chronisch schwierigen Texten Cavells – insbesondere Stephen Mulhall, Stanley Cavell. Philosophy’s Recounting of the Ordinary, Oxford 1994; vgl. ebd., S. 38. Im Unterschied zu anderen Interpreten arbeitet Mulhall auch den Unterschied zwischen ästhetischer und moralischer Vernunft bei Cavell heraus.
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untereinander weitergeschoben werden) heraus, dass sie ganz andere persönliche und moralische Prioritäten haben: Wie es die hinzukommende Küchenhilfe Hannah, die ihre Stimme nicht verloren hat, aufgebracht formuliert, haben sie eigentlich ganz andere Sorgen, als Menschen zu töten und Paläste in die Luft zu sprengen. Der Film gibt keine eindeutige Antwort auf die naheliegende Frage, ob Schultz die Anwesenden gezielt instrumentalisieren wollte, um seine persönlichen Rache- und Machtpläne zu verfolgen, oder ob ihm schlicht die moralische Phantasie fehlte, um wahrzunehmen, dass sie andere persönliche und moralische Prioritäten haben. Beides wird suggeriert, und beides macht eine vernünftige moralische Auseinandersetzung über das, was zu tun ist, und was man persönlich zu opfern bereit wäre, unmöglich. Das irrationale Moment dieses Gesprächs liegt nicht in der Unterschiedlichkeit der moralischen Werte und Prioritäten als solcher, wie es MacIntyre wohl vermuten würde. Mit einer solchen Unterschiedlichkeit ist man, wie gesagt, in allen Gesellschaften mehr oder weniger konfrontiert, und sie mag eine vernünftige Auseinandersetzung erschweren, schließt sie jedoch nicht aus, solange die Beteiligten bereit sind, die jeweiligen Sorgen, Anliegen und Verpflichtungen der anderen Seite als moralisch relevant zu berücksichtigen. Und das wäre im Prinzip auch in diesem Fall möglich gewesen: Hätte Schultz sich nicht von vornherein angemaßt, mit seiner Stimme auch für sie zu sprechen, sondern erst einmal ihre Sicht der Dinge erfragt, dann hätte er sie vielleicht mit dem Argument überzeugen können, dass gerade das, woran ihnen an meisten liegt, nämlich das Überleben ihrer Familien, nur durch die Tötung Hynkels erreicht werden kann. Da Schultz’ moralische Phantasie jedoch ganz in seiner eigenen militärischen Welt von Heroismus und Opfer befangen ist, ist er außerstande, auch nur die Idee zu fassen, dass für seine Gesprächspartner Vaterland und Ehre gegenüber der Sorge um die Familie zweitrangig sein könnten. Daher kann er ihnen auch keine vernünftige moralische Begründung liefern. Dass die Berücksichtigung der moralischen Prioritäten der Gesprächspartner notwendig für eine vernünftige moralische Auseinandersetzung ist, bedeutet nicht, dass die Gesprächspartner alles, was der andere faktisch für moralisch relevant (oder nicht) hält, auch als moralisch relevant (bzw. nicht relevant) anerkennen müssten – es geht ja oft gerade um das (Menschen, Werte, Verantwortlichkeiten), wovon man glaubt, dass es einer Person am Herzen liegen sollte, ihr aber nicht hinreichend deutlich ist. A ist der Auffassung, B sei sich seiner persönA
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lichen Verpflichtung nicht hinreichend bewusst oder habe eine falsche Vorstellung von dem, was für ihn moralisch vorrangig sein sollte. Wer etwa glaubt, dass für Antigone vor dem Hintergrund der politischen Rolle, die ihre Familie gespielt hat, das Wohl der Stadt Vorrang haben sollte vor den Verwandtschaftsbeziehungen als solchen, wird sie mit gutem Grund für ihr Verhalten gegenüber Kreon kritisieren. Dass Antigone faktisch anderer Ansicht ist, spricht nicht gegen die Vernünftigkeit dieser Kritik. Wenn er jedoch gar nicht sehen und anerkennen könnte, dass es für sie von höchster moralischer Bedeutung ist, sich um die verstorbenen Verwandten zu kümmern, wäre er ebenso wie Schultz unfähig zu einem (vernünftigen) moralischen Gespräch. Versteht man unter der Vernunft moralischer Argumentationen die Kriterien, die in der Praxis moralischer Auseinandersetzungen sinnvolle Behauptungen und Einwände von solchen unterscheiden, die zu nichts führen können – d. h. weder den ethischen Zwecken der Selbstverständigung, noch dem Verständnis des anderen, der Rechtfertigung, Entschuldigung etc. dienlich sein können –, dann verschiebt sich der Schwerpunkt von der Frage nach der schlechthinnigen moralischen Richtigkeit oder Falschheit eines Handlungstyps hin zu der Frage, welche Position der andere ernsthaft vertritt. Hier trifft sich der an der Alltagssprache orientierte ethische Ansatz Cavells mit der CareEthik von Carol Gilligan: Das Wesen der moralischen Entscheidung liegt nach Gilligan im Bewusstsein, selbst zu entscheiden, das sich an der Bereitschaft zeigt, Verantwortung für die Konsequenzen zu übernehmen. 25 Mit Blick auf die moralische Auseinandersetzung ist darum genauer zu bestimmen, für welche Haltung die Gesprächspartner wirklich Verantwortung zu übernehmen bereit sind. Und dann stellt sich die Frage, ob man die Haltung der anderen moralisch respektieren kann, auch wenn sie nicht die eigene Position ist. In Cavells Worten: Den Anspruch auf das moralisch Richtige in Frage zu stellen (sei es in bezug auf eine Handlung oder ein Urteil) geschieht in der Form ›Warum tust du das?‹, ›Wie kannst du das nur tun?‹, ›Was tust du denn da?‹, ›Bist du dir wirklich darüber im klaren, was du sagst?‹, ›Weißt du, was das heißt?‹ […]. Der Witz der Bewertung ist nicht der, zu bestimmen, ob sie angemessen ist, wobei das, was angemessen ist, durch die Form der Bewertung selbst gegeben ist; der Witz ist vielmehr zu bestimmen, welche Position du einnimmst, d. h. Vgl. Carol Gilligan, In a different voice. Psychological Theory and Women’s Development, Cambridge, Mass. 1982, S. 67.
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für welche Position du die Verantwortung übernimmst – und ob ich diese achten kann. 26
Eine gute Illustration für Cavells These, in moralischen Auseinandersetzungen ginge es nicht um Übereinstimmung, sondern vor allem darum, herauszufinden, für welche Position man Verantwortung übernimmt und inwieweit man die anderen Positionen achten kann, findet man in dem von Cavell (später) entdeckten Hollywood-Genre der Wiederverheiratungskomödien, ein Genre, in dem ein Paar erst die Illusion überwinden muss, in allen wichtigen Fragen übereinzustimmen, um wieder zusammenkommen zu können. 27 Dazu müssen sie ein mehr oder weniger konventionelles Moralverständnis überwinden. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Film Adams Rip (dt. Ehekrieg) unter der Regie von George Cukor (ein Film, auf den Cavell selbst in seinen späteren Arbeiten zum moralischen Perfektionismus eingeht). 28 Er handelt von einem Juristenpaar, das die gegnerischen Parteien vor Gericht vertritt und dabei selbst in einen persönlichen und moralischen Konflikt gerät. Ihr Glaube, in allen wichtigen moralischen Fragen übereinzustimmen, entpuppt sich dabei als eine oberflächliche Illusion, die auf dem falschen Glauben beruht, der andere müsse die selbe Sicht der Dinge haben wie man selbst. Die Rechtsanwältin Amanda, konfrontiert mit dem Fall einer Frau, die auf ihren untreuen Mann geschossen hatte, fühlt sich moralisch und juristisch dazu berufen, etwas gegen die Benachteiligung von Frauen zu unternehmen und die übliche rechtliche Wahrnehmung eines solchen Falles umzukehren. Rein juristisch betrachtet, scheint die Frau zwar klar im Unrecht zu sein – man kann den Vorgang durchaus als einen Mordversuch betrachten, und so sieht es auch Amandas Mann, der hier als Staatsanwalt auftritt. Amanda betrachtet es jedoch als ihre Aufgabe, etwas zur Reformierung der sozialen und politischen Verhältnisse zu tun, unter denen Frauen, die der häuslichen Tyrannei ihrer Ehemänner ausgesetzt sind, solche Verzweiflungstaten begehen. Anders als für ihren Ehemann wirft der Fall für sie nicht primär die Frage auf, wie sie für eine rechtmäßige und gerechte Bestrafung einer kriminellen Tat sorgen kann, sondern vielmehr die Frage, wie sie den Cavell, Der Anspruch der Vernunft, S. 438 f. Zum Genre der Wiederverheiratungskomödien vgl. Stanley Cavell, Cities of Words. Pedagogical Letters on a Register of the Moral Life, Cambridge, Mass. 2004, S. 10 ff. 28 Ebd., S. 70–81. 26 27
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Anlass am besten nutzen kann, um aktiv auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Normen einzuwirken, mit dem Ziel, mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu erreichen. Als sie die Strafverteidigung der angeklagten Frau übernimmt mit dem Ziel, daraus einen Fall für die Gleichberechtigung zu machen, gerät sie auch moralisch in Konflikt mit ihrem Ehemann, der ihre Haltung anfangs für frivol hält – kann sie wirklich ernsthaft der Meinung sein, ein Ehebruch mit vorangehender Tyrannei rechtfertige es, auf einen Menschen zu schießen? Zwar respektiert er seine Frau, aber er kann vor seinem anderen Erfahrungshintergrund ihre Haltung schwer nachvollziehen. Sie wiederum ist verärgert über sein mangelndes Bewusstsein der Benachteiligung von Frauen vor Gericht, eine Haltung, die sie wiederum als typisch männliche Frivolität empfindet. Was hier moralisch in Frage steht, kann nicht durch die übereinstimmende Einsicht beantwortet werden, dass eine der beiden Haltungen die moralisch »falsche« ist. Das würde verlangen, das moralische Problem von den persönlichen Erfahrungen, Verpflichtungen und Idealen Adams und Amandas abzulösen – aber gerade das ist hier nicht möglich, denn die Auseinandersetzung dreht sich offenkundig nicht nur und nicht primär um die Frage, welches moralische Anliegen allgemein Vorrang hat: die rechtmäßige Bestrafung eines Rechtsvergehens oder die Herstellung gerechter Lebensverhältnisse. In Frage steht nicht, ob Amandas Haltung allgemein moralisch begründbar ist – also etwa dem kategorischen Imperativ entspricht – und ihr (als Jurist und Staatsanwalt empörter) Mann daher mit ihr übereinstimmen muss. Beiden stellt sich vielmehr die Frage, wie sie sich zu der Haltung, die der andere einnimmt, verhalten sollen: Kann er ihre Haltung als ihre Haltung respektieren? Kann sie seine Kritik akzeptieren, sofern sie von ihm als Vertreter des Rechts geäußert wird? Diese Fragen können nur dialogisch, d. h. dadurch beantwortet werden, dass beide Personen ihre Haltung in den Beziehungen, in denen sie stehen, gegenüber ihren Partnern und anderen Personen vertreten und dabei lernen, die Perspektive des anderen von der eigenen zu unterscheiden. Die andere Auffassung moralisch anzuerkennen, bedeutet keine bloße Zurkenntnisnahme faktischer Andersheit, sondern ein Ernstnehmen der anderen Meinung als eines anderen Anspruchs auf moralische Gültigkeit. Und obwohl in diesem Fall beiden das Verhalten des anderen im Ausgang von den eigenen moralischen Prioritäten als unmoralisch, irrational und undurchdacht erscheinen muss, ist es ihnen anscheinend 54
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nach einem konflikt- und schmerzreichen Lernprozess nach und nach möglich einzusehen, dass der Partner nicht von denselben Prioritäten ausgeht und sein Verhalten mit Blick auf seine anderen moralischen Prioritäten teils als durchaus begründet und respektabel anerkannt, teils zumindest toleriert werden kann. Dass moralische Auseinandersetzungen, auch und gerade wenn sie rational geführt werden, oft solche unaufhebbaren Meinungsverschiedenheiten zum Ausdruck bringen, zeigt aus Cavells Perspektive daher keinen moralischen Mangel an, sondern ein charakteristisches Merkmal der Moral. Das unterscheidet das moralische Interesse vom bloß konventionellen.
VII Zusammenfassung Moral ist nicht ohne die Anerkennung von Vernunftstandards möglich, die eine vernünftige moralische Argumentation von Formen der bloßen Beeinflussung unterscheiden – davon ging ich ebenso aus wie MacIntyre. Diese Standards sind jedoch nicht – wie gegen MacIntyre im Rückgriff auf Platon, Schroth, Ross und vor allem Cavell argumentiert wurde – als eine Methode der Erzeugung von Übereinstimmung zu verstehen, noch sind sie selbst der Kritik entzogen. Moralische Vernunft setzt voraus, dass die Beteiligten eine gemeinsame moralische Sprache beherrschen und fähig sind, für sich selbst (mit Blick auf ihre Verpflichtungen und Anliegen), aber auch für ihre jeweiligen Gesprächspartner (bzw. mit Blick auf deren moralische Anliegen und Verpflichtungen) zu sprechen. Dabei kommen gewisse epistemische, sprachliche, logische und kommunikative Fähigkeiten zum Einsatz wie die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene Haltung deutlich zu explizieren und sachhaltige Gründe dafür anzugeben, aber auch den Gesprächspartnern zuzuhören und sich auf ihre möglicherweise anderen moralischen Prioritäten zu beziehen. Der Sinn der Auseinandersetzung liegt vor allem darin, das moralische Selbstverständnis der Beteiligten zu klären, herauszufinden, für welche Position sie wirklich Verantwortung zu übernehmen bereit wären und inwieweit sie die Haltung des anderen respektieren können.
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Die Arbeit der Aufmerksamkeit Iris Murdoch über die Wahrnehmung der Wirklichkeit »im Licht des Guten«
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»Im Licht des Guten«
Wie sehr das Interesse an Iris Murdochs philosophischem Werk in den letzten Jahren gestiegen ist, lässt sich an der Fülle der neu erschienenen Forschungsliteratur ungefähr ermessen. 1 Diese Entwicklung ist sicherlich auch eine Folge der Konjunktur der Tugendethik in den letzten drei Jahrzehnten, obwohl sich Iris Murdoch nicht ohne Weiteres in die aristotelisch orientierte moderne Tugendethik einfügt. Für Murdoch ist Platon der wichtigere Bezugspunkt und der Begriff der Tugend steht, wenn nicht am Rand, so doch weniger zentral als der Begriff des Guten. ›Aufmerksamkeit‹ nennt Murdoch die Art und Weise, in der sich jemand der Welt zuwendet, der sie ›im Licht des Guten‹ sieht. Ist schon die Rede vom Guten, zumal wenn es nicht um gutes Handeln oder das gute Leben, sondern um das Gute selbst geht, in der gegenwärtigen Moralphilosophie eher ungewöhnlich, so wecken Formulierungen wie ›die Liebe zum Guten‹ oder ›die Welt im Licht des Guten‹ womöglich den Verdacht, hier würden begriffliche Ungereimtheiten in sentimentale Metaphern verpackt. Im Folgenden möchte ich erläutern, was es nach Iris Murdochs – sehr nüchternem – Verständnis heißen könnte, das Gute zu lieben. Ich konzentriere mich auf die drei 1 Die drei frühen Aufsätze in The Sovereignty of Good (1970) finden in tugendethischen Kontexten mehr Aufmerksamkeit als Murdochs Hauptwerk Metaphysics as a Guide to Morals (1992) und die in Existentialists and Mystics (1997) von Peter Conradi herausgegebenen Aufsätze. Von der jüngeren Forschungsliteratur nenne ich als Beispiele nur Marije Altorf, Iris Murdoch and the Art of Imagining, London 2008; Justin Broackes, Iris Murdoch, Philosopher, Oxford 2012; Megan Laverty, Iris Murdoch’s Ethics. A Consideration of her Romantic Vision, London 2007; Sabina Lovibond, Iris Murdoch, Gender and Philosophy, Oxon, New York 2011; Simone M. F. Roberts/Alison ScottBaumann (Hrsg.), Iris Murdoch and the Moral Imagination. Essays, Jefferson 2010; Anne Rowe (Hrsg.), Iris Murdoch. A Reassessment, Basingstoke 2007; Anne Rowe/ Avril Horner (Hrsg.), Iris Murdoch and Morality, London 2010.
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Die Arbeit der Aufmerksamkeit
Aufsätze, die 1970 gemeinsam unter dem Titel The Sovereignty of Good erschienen sind. Sie liegen thematisch nah beieinander und enthalten den Kern von Murdochs ethischen Überlegungen, das heißt ihrer Überlegungen zu drei Fragen, die sie für zentrale Fragen der Philosophie hält: »What is a good man like? How can we make ourselves morally better? Can we make ourselves morally better?« 2 Diese Fragen deuten auf einen charakteristischen Zug von Murdochs (wie wohl jeder von Platon ausgehenden) Ethik: Sie ist in dem Sinn perfektionistisch, dass sich Individuelles in moralischer Hinsicht an einem Maßstab des vollkommen Guten messen muss. Einzelne Handlungen, Personen, Lebenswege können in moralischer Hinsicht mehr oder weniger gut ausfallen, so dass es, wie G. E. Moore es ausdrückte, eine offene Frage ist, ob sie wirklich gut sind: Ist das wirklich eine gute Idee? Sind wir wirklich gute Freunde? Ist dies wirklich ein guter Ort? Habe ich dir wirklich gut zugehört? Die Rede von Vollkommenheit im Rahmen der Ethik ist leicht dem Missverständnis ausgesetzt, es gehe um eine Art der moralischen Karriere, bei der gute Menschen von besseren und diese von perfekten übertrumpft werden, und die Aufgabe der Ethik bestehe darin, die Bedingungen der Perfektion zu bestimmen. Aber die Vollkommenheit, für die sich Iris Murdoch interessiert, stellt keine Leistung dar, in der wir uns miteinander messen. Moralische Vollkommenheit ist überhaupt keine Eigenschaft, die Menschen besitzen oder sich aneignen könnten, sondern ›das Licht, in dem wir die Wirklichkeit sehen‹, falls wir das Gute lieben. Das Anliegen der folgenden Abschnitte ist, die Bedeutung dieser platonischen Metapher für Iris Murdochs ethisches Denken zu erläutern.
II
Sehen, was wirklich ist
Iris Murdochs Ethik beruht auf einer anthropologischen und einer metaphysischen Voraussetzung. Beide sind umstritten, aber die Nachvollziehbarkeit der folgenden Darstellung hängt nicht davon ab, dass man beiden Voraussetzungen uneingeschränkt zustimmt. Die anthropologische Voraussetzung besteht darin, dass Menschen von Natur aus Iris Murdoch, The Sovereignty of Good, Oxon, New York 2010, S. 51. Alle deutschen Übersetzungen hieraus stammen von mir, A. M.
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selbstsüchtige Wesen sind. Etwas schonender formuliert: Menschen haben einen natürlichen Hang zum Selbstschutz, so dass es ihnen schwer fällt, die Wirklichkeit auch dann anzuerkennen, wenn sie ihre Wünsche durchkreuzt, wenn sie Angst oder Ungewissheit verursacht: [The psyche] is reluctant to face unpleasant realities. Its consciousness is not normally a transparent glass through which it views the world, but a cloud of more or less fantastic reverie designed to protect the psyche from pain. 3
Um uns verunsichernde, verstörende oder verletzende Einsichten zu ersparen, setzen wir Fiktionen an die Stelle der Wirklichkeit. Wir leben mit einem Bild von der Welt, das uns tröstet und in dem wir uns selbst gefallen. 4 Eine der wichtigsten Tatsachen, die wir auf diese Weise verkennen, ist dass unser Leben mit dem Tod enden wird und dass ihm kein Sinn von außen zukommt, erst recht nicht über den Tod hinaus: »Our destiny can be examined but it cannot be justified or totally explained. We are simply here.« 5 So wenig vorteilhaft Murdoch auf der einen Seite unsere Ausgangsposition zeichnet, so klar bejaht sie auf der anderen Seite die Frage, ob wir uns moralisch verbessern können. Unter bestimmten Bedingungen, so Murdoch, müssen wir es sogar. Wie ›müssen‹ in dieser Aussage zu verstehen sein könnte, lege ich im dritten Teil dar. Die Ausblendung so entscheidender Tatsachen wie unserer Neigung zu Selbstgerechtigkeit, Bequemlichkeit im Denken und Vermeidung von Ungewissheit ist nach Murdochs Diagnose ein Problem der Wahrnehmung – wir sehen schlecht: »By opening our eyes we do not necessarily see what confronts us. We are anxiety-ridden animals. Our minds are continually active, fabricating an anxious, usually self-preoccupied, often falsifying veil which partially conceals the world.« 6 Die Arbeit der Aufmerksamkeit besteht zum großen Teil darin, uns von dem Schleier zu befreien, der unsere Wahrnehmung trübt, und die Phantasien und falschen Bildern loszuwerden, die wir aus Angst um uns selbst an die Stelle der ernsthaften, wahrhaftigen, klaren Wahrnehmung der Wirklichkeit gesetzt haben. In allen drei Aufsätzen zur Souveränität von ›Gut‹ sind Metaphern des Sehens für Murdoch unverzichtbar, weil sie glaubt, dass die 3 4 5 6
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Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 76 f. und 84 f. Ebd., S. 77. Ebd., S. 82.
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Die Arbeit der Aufmerksamkeit
wichtigste Aufgabe für uns als moralische Wesen nicht darin besteht, moralisch gebotene Handlungen auszuführen oder moralisch richtige Entscheidungen zu treffen. Die wichtigste und schwierigste Aufgabe besteht nach Murdoch darin, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, das heißt, wie sie ist, wenn man sich nicht gegenüber bestimmten Einsichten vorsorglich abschirmt. Um die Welt zu sehen, wie sie wirklich ist, müssen wir zunächst unsere eigene Tendenz zur beschränkten oder verzerrten Wahrnehmung erkennen. Aber Selbsterkenntnis allein ist in Murdochs Augen kein Vorzug. Sie warnt ausdrücklich vor der ausgiebigen Analyse eigener moralischer Unzulänglichkeiten, weil sie hierin nur eine weitere Weise sieht, um sich selbst als einen besonders interessanten Gegenstand zu kreisen und Selbsterkenntnis allein schon für eine moralische Errungenschaft zu halten. Die eigentliche Aufgabe moralischer Akteure besteht laut Murdoch aber darin, die Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst wahrzunehmen. Aufmerksamkeit nennt sie eine Weise der Zuwendung zur Wirklichkeit, die vor allem darauf abzielt, all das klar zu sehen, was anders ist als man selbst und oft auch anders, als man es gewünscht oder erwartet hatte. Wegen unserer Neigung, uns allzu leicht von der Sorge um uns selbst bestimmen zu lassen, fällt solche Aufmerksamkeit gegenüber anderen Menschen besonders schwer. Besonders bei anderen Menschen erliegen wir der Versuchung, nach Bestätigung unserer Vorurteile oder der Erfüllung unserer Wünsche zu suchen und verkennen daher, wie der andere wirklich ist. Allerdings lässt Murdoch auch keinen Zweifel daran, dass es enorm schwierig sein kann, dieser Versuchung zu entgehen. Nimmt man diese Aufgabe ernst, ist man ein ganzes Leben mit ihr beschäftigt. 7 Was sich hinter der Forderung nach Aufmerksamkeit vor allem bei der Wahrnehmung anderer Personen verbirgt, illustriert Murdoch anhand des oft zitierten Beispiels einer Schwiegermutter (M), die in ihrer Schwiegertochter (D) zunächst eine schroffe, unhöfliche und etwas überdrehte Person sieht. Allerdings befürchtet M, dass ihre eigene Eifersucht und Engstirnigkeit dieses Bild beeinflusst haben, so dass sie beschließt, noch einmal hinzusehen, um herauszufinden, wie D wirklich ist. 8 Beim zweiten Blick gelangt M zu einem anderen Bild: D ist weniger unhöflich als vielmehr offenherzig, weniger schroff als vielmehr unprätentiös, weniger überdreht als vielmehr lebenslustig. 7 8
Vgl. ebd., S. 30 und 89. Vgl. ebd., S. 17–19. A
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Ms zweites Bild von D ist ein Resultat aufmerksamer, von Vorurteilen und Selbstgefälligkeiten befreiter Wahrnehmung, aber es ist nicht in dem Sinn objektiv, dass es von beliebigen Beobachtern oder von einem neutralen Standpunkt aus auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft werden könnte. Ms Blick auf ihre Schwiegertochter ist nach wie vor nicht neutral im Sinne von ›unbeteiligt‹ und ›interesselos‹, als ob sie in keiner persönlichen Beziehung zu D stünde und von Ds Tun und Lassen in keiner Weise betroffen wäre. Objektivität bei der Wahrnehmung der moralischen Wirklichkeit, zum Beispiel in Gestalt einer Schwiegertochter, erfordert nach Murdochs Darstellung nicht, einen fingierten neutralen Standpunkt einzunehmen, sondern die Blickrichtung zu ändern: M muss von dem, was ihren Blick bisher angezogen hat, absehen – von sich selbst. 9 Aus Murdochs Beispielszenario von M und D geht hervor, wie eng Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Wahrnehmung der moralischen Wirklichkeit verknüpft sind. Wahrhaftigkeit könnte für M darin bestehen, dass sie in den Erzählungen über ihre Schwiegertochter ihre eigene Eifersucht und ihre engstirnigen Erwartungen mit in Betracht zieht. Und dies nicht, um ihrer Schilderung durch selbstkritische Töne Glaubwürdigkeit zu verleihen, etwa in der Form ›Ich bin natürlich eifersüchtig auf D, aber auch wenn sie nicht meine Schwiegertochter wäre, müsste ich sagen, dass sie ungehobelt und nervtötend ist‹. Allein ein strenges Urteil über sich selbst macht Ms Darstellung der Familienverhältnisse noch nicht wahrhaftig, dazu müsste sie – wie es in Murdochs Szenario ja geschieht – auch einsehen, dass Eifersucht und Engstirnigkeit ihren Blick auf D bestimmen und dadurch verhindern, dass sie D so wahrnimmt, wie sie wirklich ist. Erst dann wäre klar, dass sich M nicht einfach über lästige Eigenheiten ihrer Schwiegertochter beklagt, sondern dass sie in ihrer Art und Weise, D wahrzunehmen, ein Vgl. ebd., S. 24 f., 36, 39–41. Murdoch verwendet den Begriff der Objektivität vor allem, um das eingeschränkte Verständnis zu kritisieren, wonach Objektivität eine Leistung eines unbeteiligten Beobachters darstellt und zu Urteilen führt, deren faktischer Gehalt unabhängig davon überprüfbar ist, wie und von wem dieser Gehalt sprachlich repräsentiert wird. Für Murdochs Idee passender und weniger missverständlich erscheint mir der Ausdruck ›detachment‹, den sie ebenfalls verwendet. ›Detachment‹ erfasst innere Distanz und Unvoreingenommenheit, legt aber nicht unbedingt nahe, dass ein Gegenstand von einem ›neutralen‹, unpersönlichen Standpunkt aus betrachtet wird und zu Beschreibungen führt, deren faktischer Gehalt sich von der konkreten sprachlichen Fassung trennen und auf seinen Wahrheitswert überprüfen lässt.
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Problem erkennt und sich dafür verantwortlich fühlt. Das Problem an Ms beschränktem, verzerrtem Blick ist weniger, dass er zu ›objektiv falschen‹ Urteilen über D führt, sondern dass sie ihrer Schwiegertochter Unrecht tut. Die Begriffe ›Welt‹ und ›Wirklichkeit‹ können in philosophischen Zusammenhängen sehr verschiedene Bedeutungen annehmen und es ist selbst innerhalb eines konkreten Kontextes nicht leicht, sie eindeutig zu bestimmen. Murdoch ist jedoch überzeugt, dass wir die Rede von der ›moralischen Wirklichkeit‹ verstehen, sofern wir beispielsweise verstehen, worauf jemand hinauswill, der der Schwiegermutter entgegenhält: ›Ihr hattet einfach keinen guten Start. Mit der Zeit wirst du D besser kennenlernen‹ oder ›Bist du nicht zu streng mit D? Gib ihr eine Chance!‹ Man versteht, dass hier nicht die Korrektur eines sachlich falschen Urteils angemahnt, sondern ein moralischer Anspruch erhoben wird. M soll versuchen, D anders wahrzunehmen, sie soll geduldig sein und mehr von ihr sehen, und sie soll die Möglichkeit erwägen, dass sich Ds Verhalten noch anders sehen, anders verstehen lässt. Dieser Anspruch lässt sich nach Murdochs Begriff von ›Wirklichkeit‹ als Aufforderung an M verstehen, ihre Schwiegertochter so zu sehen, wie sie wirklich ist: But I would suggest that at the level of serious common sense and of an ordinary non-philosophical reflection about the nature of morals it is perfectly obvious that goodness is connected with knowledge [sc. knowledge of reality – A. M.]: not with impersonal quasi-scientific knowledge of the ordinary world, whatever that may be, but with a refined and honest perception of what is really the case, a patient and just discernment and exploration of what confronts one, which is the result not simply of opening one’s eyes but of a certainly perfectly familiar kind of moral discipline. 10
Folgt man Iris Murdoch und gesteht zu, dass die Wahrnehmung der moralischen Wirklichkeit eine Aktivität ist, die besser oder schlechter gelingen kann und die allemal Anstrengung und Geduld erfordert, dann stellt sich die Frage, wie die im Zitat erwähnte moralische Disziplin mit der Liebe zum Guten zusammenhängt. Kaum jemand würde wohl bestreiten, dass es besser ist, Menschen unvoreingenommen, furchtlos und unbeirrt wahrzunehmen, als ihnen mit Vorurteilen oder Wunschträumen zu begegnen. Doch warum meint Murdoch, dass man
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Ebd., S. 37. A
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von der Liebe zum Guten sprechen muss, um diese Forderung nach Aufmerksamkeit zu begründen? Weil, so lässt sich ihre Auffassung vorwegnehmen, geduldige, selbstlose, aufmerksame Wahrnehmung anderer der manifeste Ausdruck der Liebe zum Guten ist. Wer das Gute liebt, muss das Unrecht ernst nehmen, das er anderen nicht erst durch falsche Urteile oder Handlungen, sondern bereits durch falsche Wahrnehmung tut. Und es ernst zu nehmen heißt, es nicht dabei belassen zu können: Man muss noch einmal hinsehen.
III
Nicht anders können
Trotz unserer ungünstigen Ausgangsposition ist Murdoch überzeugt, dass wir moralisch besser werden können. Formulierungen wie ›moralische Disziplin‹ und ›moralische Anstrengung‹ lassen allerdings ahnen, dass diese Selbstverbesserung nicht mühelos verläuft. Warum sollte sich jemand dieser Mühe unterziehen? Was könnte jemanden zur wahrhaftigen Wahrnehmung einer rauen moralischen Wirklichkeit bewegen, der in seinen tröstlichen Tagträumen ganz zufrieden ist? Hinter diesen Fragen liegt die Annahme, es müsse Gründe dafür geben, die Arbeit der Aufmerksamkeit auf sich zu nehmen, ein philosophisches Argument, das die Notwendigkeit genau dieser Form der moralischen Orientierung schlüssig erweist. Doch diese Annahme beruht auf einer bestimmten Vorstellung davon, wie wir überhaupt zu moralischen Einstellungen gelangen und welche Rolle dabei Argumente spielen. Iris Murdoch würde diese Annahme bzw. die Vorstellung von moralischer Orientierung, die in ihr zum Ausdruck kommt, zurückweisen. Wie die Schwiegermutter in ihrem Beispielszenario können wir uns zwar von Situation zu Situation immer aufs Neue dazu anhalten, unsere Wahrnehmung zu überprüfen und unsere moralischen Reaktionen kritisch zu hinterfragen. Aber wir können uns nicht durch eine Abwägung von Gründen dazu bringen, den Fehler ernst zu nehmen, den wir begehen, wenn wir an einem Bild von einer Person festhalten, das von unserer eigenen Eifersucht, Ungeduld oder Eigenliebe bestimmt ist. Wir können uns nicht (niemand könnte es) durch Argumente zu der Einsicht bewegen, dass wir anderen Personen damit Unrecht tun, selbst wenn unser Verhalten ihnen gegenüber stets höflich und korrekt sein sollte. Das Gefühl, unseren Blick auf eine Person verändern zu müssen, selbst wenn unser Handeln stets tadellos war, 62
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kann nicht das Resultat einer Argumentation oder Deliberation sein. Doch was sonst gibt manchen Menschen die Gewissheit, einem moralischen Anspruch unterstellt zu sein, über den sie nicht selbst verfügen und den sie daher nicht selbst außer Kraft setzen können? Iris Murdochs Antwort lautet: die Liebe zum Guten. Denn wenn wir begonnen haben, das Gute zu lieben, dann wird es für uns unmöglich, Dinge hinzunehmen, von denen wir sehen, dass sie nicht gut sind. Die Liebe zum Guten besteht, so könnte man sagen, in der Erkenntnis bestimmter moralischer Grenzen oder, wie Raimond Gaita es nennt, moralischer Modalitäten. Gaita erläutert das Phänomen der moralischen Notwendigkeit bzw. Unmöglichkeit am Beispiel Martin Luthers, der erklärt: ›Hier stehe ich, Gott helfe mir, ich kann nicht anders!‹. Ungeachtet der Frage, ob Luther dies tatsächlich geäußert hat, illustriert die Äußerung, worin sich moralische Notwendigkeit von physischer, psychischer und logischer Notwendigkeit unterscheidet. Denn Luthers Ausruf ist keine Auskunft über die physische Unmöglichkeit, sich vom Platz zu rühren, und auch keine Auskunft über eine psychische Unmöglichkeit, denn Luther erliegt nicht wider besseres Wissen dem unüberwindlichen Drang, an Ort und Stelle zu verharren. Es ist vielmehr so, dass Luther moralisch nicht anders kann. Er stößt an eine Grenze, deren Überschreitung bedeuten würde, etwas zu tun, von dem er sicher ist, dass es nicht gut ist. Genau deshalb steht Luther nicht vor einer Entscheidung zwischen den zwei Optionen, entweder seine Glaubensüberzeugungen zu widerrufen und der Reichsacht zu entgehen oder an seinen Überzeugungen festzuhalten und geächtet zu werden. Nach seiner Wahrnehmung der Situation würde er im ersten Fall etwas Böses tun und das ist ihm moralisch unmöglich – es ist keine Option. Käme jemand auf die Idee, Luther zu ermahnen, er solle sich nur recht anstrengen, dann könne er durchaus anders, so würde er die moralische Notwendigkeit des ›Ich kann nicht anders‹ ebenso verkennen wie jemand, der Luther eine psychologische Strategie vorschlägt, mit der er seinen starken inneren Widerstand überwinden könnte. 11 Auch Iris Murdoch glaubt, dass wir durch bestimmte Erfahrungen beginnen können, das Gute zu lieben und durch diese Liebe moralische Grenzen wahrzunehmen, die wir nicht überschreiten können. Diese Erfahrungen können sehr alltäglich sein, sie erfordern weder besonders Vgl. Raimond Gaita, Good and Evil. An Absolute Conception, Basingstoke 1991, Kap. 7, insbes. S. 110f.
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erhabene Gegenstände noch besondere intellektuelle Fähigkeiten. So beschreibt Murdoch beispielsweise, wie sie mit einer ärgerlichen Begebenheit beschäftigt war und sich über den Schaden sorgte, der daraus für ihr Ansehen entstanden sein mag, als sie aus dem Fenster schaute und am Himmel einen Turmfalken entdeckte. Sie beobachtet ihn und vergisst für diese Zeit ihren Groll und die verletzte Eitelkeit. Es gibt nur den Falken. Als ihr das ärgerliche Erlebnis später wieder einfällt, ist es nicht mehr so bedeutsam. Die Zuwendung zur Wirklichkeit außerhalb der eigenen Person, hier in Gestalt eines Turmfalken – »the sheer alien pointless independent existence of animals, birds, stones, and trees« 12 – ist eine Erfahrung des Guten und darum eine Erfahrung der Art, durch die wir beginnen können, das Gute zu lieben. In Murdochs Beschreibung der Begebenheit taucht der Ausdruck ›das Gute‹ gar nicht auf und das trifft für die meisten Erfahrungen des Guten zu: Sie lassen sich präziser in Ausdrücken beschreiben, die Murdoch sekundäre Wertausdrücke nennt, etwa ›schön‹, ›nobel‹, ›freundlich‹, ›gelassen‹, ›mutig‹, ›nachsichtig‹ oder auch ›herzlich‹ und ›lebenslustig‹. 13 Erfahrungen des Guten sind sie durch ihre Wirkung, die zugleich Distanzierung und Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit umfasst. Anders als Platon, der die Natur kaum für einen geeigneten Ort hielt, um philosophische Einsichten zu finden, und dem die Kunst eher suspekt war, glaubt Murdoch, dass besonders die Kunst Erfahrungen des Guten erlaubt. Zwar werde Kunst oft in geltungsbedürftiger oder scheintröstlicher Absicht benutzt, allerdings könnten Erfahrungen guter Kunst noch tiefer gehen als Erfahrungen der Natur. Denn Kunstwerke sind von Menschen geschaffen und geben deshalb etwas über Menschen zu verstehen: »It is the role of tragedy, and also of comedy, and of painting to show us suffering without a thrill and death without consolation.« 14 Wenn Kunstwerke dies leisten, dann drücken sie nach Murdochs Auffassung eine moralische Haltung des Künstlers gegenüber seinem Werk aus, die man als tugendhaft beschreiben kann. Solche Kunstwerke zeigten den Mut, die Wahrhaftigkeit, die Geduld und die Demut ihrer Schöpfer gegenüber ihrem Gegenstand und ihrem Werk. 15 Umgekehrt ist die Rezeption von Kunstwerken insofern mora12 13 14 15
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Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 82. Vgl. ebd., S. 31. Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 83–85.
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lisch bedeutsam, als sie mit Anerkennung von Unverfügbarkeit einhergeht und mit der Erkenntnis, dass Zwecklosigkeit nicht immer auch Verzichtbarkeit bedeutet. Die Unverfügbarkeit von Dingen und eine Art von Notwendigkeit anzuerkennen, die nicht auf Mittel-Zweck-Relationen gründet, ist nach Murdoch nicht nur eine kunsttheoretische Erkenntnis: It is obvious here what is the role, for the artist or spectator, of exactness and good vision: unsentimental, detached, unselfish, objective attention. It is also clear that in moral situations a similar exactness is called for. 16
Sowohl Natur als auch Kunst sind insofern für unseren Willen unverfügbar, als wir von beidem weder Besitz ergreifen noch ihm eine bestimmte Botschaft abzwingen können. (Natürlich ist beides in einem gewissen Sinn käuflich, benutzbar und zerstörbar, aber auch wer einen Apfelbaum besitzt, muss abwarten, bis die Früchte reif sind, ehe er sie verwerten kann, und wer ein großartiges Gedicht in einer Propagandarede zitiert, der missbraucht es, und er kann sich von diesem Vorwurf nicht befreien, indem er die Bedeutung von ›Missbrauch‹ eigenmächtig neu festsetzt.) Wie die Natur erfordert die Kunst eine Haltung der Demut, der Geduld und der Bereitschaft zu sehen, was da ist. So wie ein unruhiger Geist durch die einstweilige Aufmerksamkeit für einen Turmfalken seinen Sinn für moralische Proportion wiederzufinden vermag, so können Kunstwerke zu Klarheit und Gelassenheit und damit zu angemessener Distanz verhelfen, ohne zur Wirklichkeitsverleugnung zu verführen. Vielleicht ist Musik von Johann Sebastian Bach ein Beispiel für dieses Verständnis von guter Kunst, oder die Romane von José Saramago – Kunstwerke, an denen man meines Erachtens erkennen kann, in welcher Weise Kunst zu zeigen vermag, dass ihre Schöpfer das Gute lieben. Bachs Musik und Saramagos Romane zeugen von der Sorgfalt, mit der sich jemand an ein Werk macht, der seine Kunst, auch in ihrem handwerklichen Aspekt, liebt und der sich deshalb dem Anspruch unterstellt fühlt, dieser Kunst in seinem eigenen Werk gerecht zu werden. Die Demut, die man gegenüber einer Kunstform braucht, um Werke zu schaffen, die keine flachen Selbstbespiegelungen oder tröstliche Phantasien sind, ist nach Murdochs Auffassung dieselbe Haltung, die wir gegenüber anderen Menschen brauchen, wenn wir sehen wollen, wie 16
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sie wirklich sind. In beiden Fällen entspringt Demut als Form der Disziplin aus der Liebe zum Guten und drückt sich in den Modalitäten des Müssens bzw. des Nicht-anders-Könnens aus. 17 Im Symposion lässt Platon Sokrates eindringlich schildern, welche Anziehung das Gute auf Menschen ausübt, wenn sie einmal begonnen haben, es zu lieben. Das Verlangen nach dem Guten treibt sie an, es versetzt sie in Bewegung und verleiht ihnen Widerstandskraft, Einfallsreichtum, Ausdauer und Mut. Sokrates’ Schilderung zufolge ist dieses Verlangen nach dem Guten das Wesen des Eros: Er ist immer auf der Jagd nach etwas, das ihm dringend fehlt, sein Kennzeichen ist der pure Mangel, er ist der arme, heruntergekommene »Gefährte der Bedürftigkeit«, stets »ungepflegt, barfuß und ohne Wohnung«.18 Mit anderen Worten: Eros ist das Verlangen selbst, und zwar das Verlangen nach dem Guten. Obwohl Murdoch meint, die Liebe zum Guten erweise sich in ebensolchem Verlangen, fällt es nicht leicht, sich eine so drängende, beinahe gewaltsame Anziehung als Ergebnis von Erfahrungen der Natur oder der Kunst vorzustellen. Sokrates’ Darstellung des Eros ist für manche Form der Verliebtheit sicherlich zutreffend, aber Verliebtheit ist ein heikler Fall der Liebe zum Guten, denn sie ist oft weder selbstlos noch distanziert und selten geduldig. 19 Murdochs Vorstellung von Aufmerksamkeit deutet darauf hin, dass die Liebe zum Guten auch besonnene, disziplinierte Formen des
So wie es vielleicht nur wenige Kunstwerke gibt, die von der Liebe zum Guten zeugen, die ihre Schöpfer antrieb, so gibt es nicht sehr viele Menschen, deren Haltung gegenüber anderen Personen unzweifelhaft ein Ausdruck ihrer selbstlosen, unsentimentalen Liebe zum Guten ist. Mutter Teresa ist ein Beispiel. 18 Vgl. Platon, Symposion, übers. von Thomas Paulsen und Rudolf Rehn, Stuttgart 2009, 203a-e. 19 Murdoch betont die Ambivalenz der Liebe zwischen Menschen eindringlicher als Sokrates im Symposion. Gerade die Liebe, so Murdoch, führt häufig dazu, dass wir die Realität einer anderen Person verkennen und uns selbst allzu wichtig nehmen. Unser Verhältnis zum Guten müsse aber trotz aller Gefahren eine Form der Liebe sein, sonst würden uns Erfahrungen des Guten nicht zu jener moralischen Disziplin bewegen, die eben auch für die geduldige, selbstlose und distanzierte Wahrnehmung anderer Menschen unerlässlich ist: »Love is the general name of the quality of attachment and it is capable of infinite degradation and is the source of our greatest error; but when it is even partially refined it is the energy and passion of the soul in its search for Good, the force that joins us to Good and joins us to the world through Good. Its existence is the unmistakable sign that we are spiritual creatures, attracted by excellence and made for the Good.« (The Sovereignty of Good, S. 100). 17
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Verlangens auslösen kann. Murdochs Beispiel von den zwei Frauen M und D ist eine Illustration dafür und sie zeigt zugleich, in welch alltäglichen Situationen sich die Liebe zum Guten bemerkbar machen kann. Ms Demut gegenüber der Wirklichkeit in Gestalt ihrer Schwiegertochter erweist sich in ihrem schlichten Entschluss: ›Ich will noch einmal hinsehen!‹ Selbst wenn sich an Ms Verhalten gegenüber D nichts mehr ändern könnte, weil ausgeschlossen ist, dass die beiden einander je wiedersehen (so zeichnet Murdoch das Szenario), kann M nicht bei einem falschen Bild von D bleiben. Sie muss noch einmal hinsehen, muss D noch einmal ›im Licht des Guten‹ sehen. Es ist ihr ernst mit der Liebe zum Guten. In seinem Buch Good and Evil zitiert Raimond Gaita eine Passage aus den Lebenserinnerungen von Pablo Casals, die sehr klar zeigt, was es heißen kann, sich zur Erfüllung eines Anspruchs, einer Verpflichtung aufgerufen zu sehen, die durch keine praktische Erfordernis und durch keine philosophische Argumentation begründbar ist: Die letzten achtzig Jahre habe ich jeden Morgen auf dieselbe Weise begonnen, nicht etwa mechanisch, aus bloßer Routine, sondern weil es wesentlich ist für meinen Alltag: Ich gehe ans Klavier und spiele zwei Präludien und zwei Fugen von Bach. Anders kann ich es mir gar nicht vorstellen. Es ist so etwas wie ein Haussegen, aber es bedeutet mir noch mehr: die immer neue Wiederentdeckung einer Welt, der anzugehören ich mich freue. Durchdrungen von dem Bewußtsein, hier dem Wunder des Lebens selbst zu begegnen, erlebe ich staunend das schier Unglaubliche: ein Mensch zu sein. 20
Dies ist ein Beispiel für die Liebe zum Guten, die den Liebenden fordert, sich der Wirklichkeit – in diesem Fall Bachs Musik – immer aufs Neue geduldig und aufmerksam zuzuwenden. Dass Casals einer heftigen, aber oberflächlichen Begeisterung erliegt, scheint bei einer über achtzig Jahre anhaltenden Anziehungskraft ausgeschlossen. Es ist ebenso klar, dass Casals keine schlichte Alltagsroutine beschreibt, an die ihn außer der Tatsache, dass er sie seit Jahr und Tag wiederholt, nichts bindet. Seine Bindung an das morgendliche Klavierspiel, das Gefühl, jeden Morgen spielen zu müssen, entsteht nicht durch die jahr-
Ich zitiere aus der deutschen Übersetzung: Pablo Casals, Licht und Schatten auf einem langen Weg, hrsg. von Albert Kahn, Frankfurt a. M. 1971, S. 10. Für Raimond Gaitas erhellende philosophische Interpretation dieser Passage vgl. Gaita, Good and Evil, S. 214 f.
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zehntelange Gewohnheit, sondern durch »die immer neue Wiederentdeckung einer Welt, der anzugehören ich mich freue«. Das Klavierspiel stellt Casals’ Antwort auf diese Wiederentdeckung dar, es ist Ausdruck seiner erstaunten Freude darüber, »ein Mensch zu sein«. Hier beschreibt jemand, wie er die Welt im Licht des Guten sieht, und nicht einfach, wie er den Tag verbringt. Gaita nennt Casals’ Haltung in der zitierten Passage nicht Demut, sondern Dankbarkeit. Seine weiteren Ausführungen dazu kommen der Charakterisierung von Demut bei Murdoch jedoch sehr nahe. Beide halten sowohl das Gefühl, einer Verpflichtung zu unterliegen, als auch die Anerkennung bestimmter moralischer Notwendigkeiten für wesentliche Elemente. Der Unterschied zwischen Dankbarkeit und Demut scheint mir ein Unterschied der Betonung zu sein. Murdoch legt den Akzent stärker auf die unüberhörbare Forderung, auf den moralischen Anspruch, dem sich der Liebende unterstellt fühlt. Wer das Gute liebt, fühlt sich aufgerufen, dieser Liebe gerecht zu werden, indem er die Wirklichkeit ›im Licht des Guten‹ sieht. Mit dem Begriff der Dankbarkeit rückt bei Gaita stärker in den Vordergrund, dass dieser Anspruch nicht zwangsläufig schwer und bitter empfunden wird. In undramatischen Fällen fühlt man sich vielleicht einfach zur tagtäglichen Wiederholung eines Rituals verpflichtet, wie es Casals beschreibt. Jeden Morgen spielt er mit Freuden zwei Präludien und zwei Fugen, nicht aus Spaß, sondern aus Dankbarkeit. Das Klavierspiel ist eine Weise, seine Dankbarkeit für die Zugehörigkeit zu dieser Welt zum Ausdruck zu bringen. Deshalb ist es für ihn keine offene Frage, ob er sich auch morgen wieder, wie heute, gestern und vorgestern, ans Klavier setzen wird. Es ist seine Aufgabe. Er muss. Dies scheint jener Demut zu entsprechen, von der Murdoch feststellt, dass sie in den Werken großer Künstler wiederzufinden ist. Zudem schließen sowohl Demut als auch Dankbarkeit ein, dass man die Grenzen der eigenen Fähigkeiten anerkennt und sich, wo nötig, von erfahreneren Menschen raten, helfen oder belehren lässt. Weshalb Murdoch diesen Aspekt für besonders wichtig hält, wird deutlich, wenn sie den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung der Wirklichkeit ›im Licht des Guten‹ und der Notwendigkeit eines reichhaltigen, differenzierten Repertoires an sekundären Wertbegriffen erläutert.
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IV Etwas zu sagen haben Oben habe ich das Beispiel von Martin Luther aufgegriffen, um zu illustrieren, wie eine Person durch ihre Wahrnehmung einer Situation an die Grenze stoßen kann, deren Überschreitung für sie bedeuten würde, in etwas Böses verstrickt zu werden. Aber die Ausdrücke ›gut‹ und ›böse‹ verwenden wir eher selten, um alltägliche Wahrnehmungen auf den Begriff zu bringen; in vielen Fällen wäre es eine dramatisierende Übertreibung, wenn wir Geschehnisse oder Personen rundheraus böse nennen würden, bei denen wir mäßige moralische Bedenken haben. Wir können mit Hilfe der von Murdoch als sekundäre Wertbegriffe bezeichneten Ausdrücke viele Unterscheidungen und Abstufungen vornehmen, um zu beschreiben, in welcher Weise etwas oder jemand nicht gut ist. 21 Jemand ist gemein, hinterhältig oder arrogant; ein Aufschneider, ein Möchtegern, ein selbstverliebter Gockel … Murdoch hält solche Wertausdrücke und die vielen metaphorischen Wendungen, in denen sich moralische Wahrnehmung fassen lässt, für äußerst wichtig. Sie dienen nicht nur der sprachlichen Wiedergabe einer ohnedies klaren, differenzierten Wahrnehmung, sondern verhelfen erst zu Klarheit und Differenziertheit in der Wahrnehmung und sind damit Bedingungen für das Gelingen der Arbeit der Aufmerksamkeit. Man muss die Varianten des Guten wie des Bösen begrifflich unterscheiden können, um sie in der Wirklichkeit zu erkennen: [W]e need to surround our ›great words‹ (concepts) with narrower more specialised ones with smaller clearer meanings. We must protect the precision of these secondary moral words, exercise them and keep them fit. […] Living is making distinctions and indicating order and pattern, and in morality and politics a large and subtle vocabulary is a sign of health. There are large orientations and small local signs. 22
Die klare Sicht auf die Wirklichkeit ist demnach eine Funktion begrifflicher Unterscheidungen. Um die moralische Bedeutung verschiedener Situationen genau zu verstehen – um beispielsweise zu verstehen, worin der moralische Unterschied liegt, wenn man auf jemandes Frage mit einer Lüge antwortet oder einfach nicht erzählt, wonach niemand fragt –, braucht man verschiedene Wertausdrücke: lügen, täuschen, Vgl. Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 31 sowie Iris Murdoch, Metaphysics as a Guide to Morals, London, New York 1993, S. 327f. 22 Ebd., S. 327. 21
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hintergehen, verraten, Vertrauen missbrauchen, Falsches nahelegen, im falschen Glauben lassen, jemanden verschonen, jemandem etwas ersparen, jemandem etwas nicht zutrauen … Diese verschiedenen Ausdrücke sind nötig, um moralische Unterschiede nicht nur zu erfassen, sondern um sie zu erkennen. Differenzierte moralische Begriffe sind gleichsam die Werkzeuge, mit denen aufmerksame Wahrnehmung die Wirklichkeit durchdringt. Grobe wie feine moralische Unterschiede zu erkennen ist wesentlich für jemanden, der die Wirklichkeit im Licht des Guten sehen will, weil dies natürlich nicht heißt, nur das Gute zu sehen – jedenfalls nicht im flachen Sinn dieser Formulierung, der eher die Verweigerung beinhaltet, Dinge anzuerkennen, die einem nicht gefallen. Die Wirklichkeit im Licht des Guten zu sehen heißt nicht, das Böse zu leugnen, sondern es nur da zu sehen, wo es wirklich vorhanden ist, und nur in dem Ausmaß und in der Form, die es wirklich hat. Die Schwiegermutter in Murdochs Beispiel sieht Schroffheit und Rücksichtslosigkeit in ihrer Schwiegertochter, solange sie D nicht im Licht des Guten sieht, sondern im Licht ihrer Eifersucht und Selbstgerechtigkeit. Es ist nicht so, dass sich M zunächst über bestimmte Fakten irrt oder etwas an D übersieht. Es ist auch nicht so, dass sich Ds Benehmen im Laufe der Zeit verändert. Das einzige, was sich verändert, ist die Bedeutung von Ds Tun und Lassen für M. M erkennt, dass ihre Schwiegertochter eigentlich (in Wirklichkeit) unverkrampft, lebenslustig und jugendlich ist. Diese Ausdrücke beschreiben keine veränderte Fakten- oder Informationslage, sondern die veränderte Bedeutung, die Ds Verhalten für M jetzt gewonnen hat. Es mag widersinnig erscheinen, dass sich die Liebe zum Guten ausgerechnet darin erweisen soll, dass man die vielfältigen, mehr oder weniger alltäglichen moralischen Unzulänglichkeiten und Verfehlungen fein unterscheidet. Vielleicht hilft noch einmal der Vergleich mit der Kunst, um zu zeigen, dass hieran nichts Paradoxes ist: Wenn jemand ein guter Maler, Komponist oder Dichter werden will, genügt es nicht, dass er intuitiv zwischen hervorragenden und weniger gelungenen Werken großer Meister unterscheidet. Es genügt zum Beispiel nicht, wenn eine junge Komponistin feststellt, dass ihr Bachs JohannesPassion irgendwie schwächer vorkommt als die Matthäus-Passion. Solch oberflächliche Wahrnehmung ist zum einen problematisch, weil die Komponistin verhindert, von ihrem Vorbild etwas zu lernen, vielleicht besonders aus seinen schwächeren Werken. Zum anderen macht 70
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Oberflächlichkeit in der Wahrnehmung in einem bestimmten Sinne unglaubwürdig. Ganz ungeachtet der Frage, ob die Komponistin mit ihrem Urteil Recht hat und sich tatsächlich Gründe für ihre Einschätzung finden ließen, ist fraglich, ob man ihr Urteil als Kritik ernst nehmen kann. Wenn ›irgendwie schwächer‹ alles ist, was sie zu Bachs Passionen zu sagen hat, dann genügt es nicht, um ihr zuzugestehen, dass sie ›etwas zu sagen‹ hat in dem Sinn, der die Anerkennung von Autorität impliziert. Denn dafür müsste zu erkennen sein, dass ihrem Urteil ein Standard für gutes Komponieren zu Grunde liegt, der insofern nicht willkürlich ist, als seine Erfüllung ein Ausdruck der Liebe zum Komponieren ist. Auch die präzise, sorgfältige, aufmerksame Kritik eines Kunstwerks ist eine Weise, diesen Standard anzuerkennen und Liebe zur Kunst auszudrücken. Dazu ist es nicht erforderlich, über ein Werk nur Gutes zu sagen und die zahlreichen Möglichkeiten des Misslingens schweigend zu übergehen. Entscheidend ist vielmehr der Beweggrund der Kritik: Sie soll aus der Liebe zur Kunst entspringen und nicht aus der Eifersucht, der Eitelkeit, dem Ehrgeiz … Es gibt noch eine weitere Parallele zwischen Kunst und Moral, die mir für eine Erläuterung der Wahrnehmung ›im Licht des Guten‹ sehr wichtig erscheint, von Murdoch aber nicht näher ausgeführt wird. Eine wichtige Fähigkeit von Kunstkritikern besteht darin, eine angemessene innere Distanz zu den Werken einzunehmen, mit denen sie sich befassen. Kunst kann starke Gefühle auslösen, kann berühren, begeistern oder aufwühlen, und sie kann dazu führen, dass wir Sinn in Dingen sehen, die uns bislang befremdlich erschienen oder gleichgültig waren. Aber Kunst kann all dies auf verschiedene Weisen tun und manche davon sind nicht gut. So können starke Gefühle durch Überwältigung, Berieselung, Beschwörung oder Beschwichtigung ausgelöst werden und auch diese Strategien können dazu führen, dass man Dinge anders sieht oder neu bewertet. Auf solche Veränderungen ist jedoch wenig Verlass: Beim zweiten Anhören, Anschauen oder Lesen haben die Musik, der Film, die Gedichte keinen Reiz mehr, sie sagen nichts mehr, erscheinen flach und austauschbar. Zwar haben sie einen zunächst überwältigt oder eingenommen, aber eben darum hat man die Werke nicht gesehen, wie sie wirklich sind. Man hat sie nicht im Licht des Guten wahrgenommen, sondern im Licht der Faszination, der Bequemlichkeit oder der Selbstgenügsamkeit. Kunstkritiker sollen es verstehen, die richtige Distanz zu wahren: Sie sollen erkennen, ob auf die Gefühle und Ansichten, die ein Kunstwerk durchaus auch bei ihnen A
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auslöst, Verlass ist. Ob man durch sie tatsächlich beginnt, etwas zu verstehen, das man vorher noch nicht verstanden hatte oder das einem gleichgültig war, und das wert ist, verstanden zu werden. 23 Auch in der Wirklichkeit außerhalb der Kunst erfordert »unsentimentale, distanzierte, selbstlose, objektive Aufmerksamkeit« 24 nicht, sich vor den Gefühlen abzuschirmen, die Situationen und Menschen in uns auslösen können. Wir sollen dabei aber klar bleiben und uns nicht vom Mitleid überwältigen lassen, nicht aus Selbstgefälligkeit gönnerhaft sein, nicht vom Ehrgeiz korrumpiert … Dieses kritische Vokabular – ›vom Mitleid überwältigt‹, ›aus Selbstgefälligkeit gönnerhaft‹, ›vom Ehrgeiz korrumpiert‹ – dient nicht nur dazu, die Wirklichkeit zu erfassen, sondern auch die vielen Möglichkeiten der Wahrnehmungsverzerrung, denen wir erliegen können. Diese Möglichkeiten der Wahrnehmungsverzerrung sind selbst etwas, das wirklich vorkommt und das unseren Bemühungen der aufmerksamen Wahrnehmung in den Weg geraten kann. Der aufmerksame Blick auf andere geht nach Murdochs Darstellung stets mit der Bereitschaft zur selbstkritischen Betrachtung der eigenen Sichtweise einher. Das differenzierte moralische Vokabular, in dem wir artikulieren, was in der Wirklichkeit jenseits unserer eigenen Person geschieht, dient deshalb zugleich dazu, unsere eigene Aktivität des Sehens kritisch einzuschätzen: »How we see our situation is itself already a moral activity, and one which is, for better as well as worse, ›made‹ by linguistic process.« 25 Wenn wir jemanden dazu bringen wollen, die moralische Bedeutung bestimmter Situationen oder Handlungen einzusehen, wenn wir beispielsweise jemandem (auch uns selbst) klar zu machen versuchen, warum wir bestimmte Dinge nicht tun können, obwohl uns physisch nichts hindert, dann müssen wir etwas über uns sagen, darüber, wie sich die Wirklichkeit von dem Punkt aus darstellt, an dem wir selbst gerade stehen. Wenn beispielsweise eine Frau ihrem verständnislosen Bruder begreiflich zu machen versucht, weshalb es für sie unmöglich ist, ihren sterbenskranken Vater noch länger durch eine Maschine am Leben zu erhalten, dann wird der Bruder ihre Sicht der Dinge nicht
Vgl. Gaita, Good and Evil, Kap. 15, insbes. S. 272–275. Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 64. 25 Iris Murdoch, »Ethics and Imagination«, in: Irish Theological Quarterly 52/1986, S. 81–95, hier S. 86. 23 24
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allein dadurch verstehen, dass sie erklärt, medizinische Lebensverlängerungen seien lediglich ein Zeichen der Unfähigkeit, den Tod zu akzeptieren. Das Problem mit dieser Ansicht ist weniger, dass sie objektiv falsch ist, sondern eher dass nichts den Bruder zwingt, sie zu teilen. Er könnte entgegnen, dass sich die höchste Wertschätzung für ein Menschenleben seiner Ansicht nach darin zeigt, dass man es so lange wie möglich zu erhalten versucht. Wollen sich die Geschwister nun ernsthaft darüber unterhalten, was es für sie bedeutet, wenn ihr Vater stirbt, dann muss die Schwester erklären, was sie meint, wenn sie davon spricht, ›den Tod zu akzeptieren‹. Sie wird vielleicht in einer Weise über ihren Vater sprechen, die dem Bruder vor Augen führt, dass er für sie unersetzlich ist und dass sie dennoch nicht sieht, was gut daran sein soll, ihn mit einer Maschine am Leben zu erhalten. Um sich verständlich zu machen und um zu zeigen, worin die Unersetzlichkeit des Vaters für sie besteht, kann sich die Schwester nicht (nicht nur) auf moralische Prinzipien berufen oder Argumente anführen, aus denen schlüssig folgt, dass man bei jeder beliebigen Person unter relevant gleichen Umständen die Beatmungsmaschine abschalten sollte. Die ganze Unterhaltung von Bruder und Schwester dient gar nicht in erster Linie dazu, zu einem praktischen Schluss zu gelangen und eine Handlungsoption zu wählen. Zunächst einmal müssen sie einander begreiflich machen, welche Bedeutung die Situation für jeden von ihnen hat. Beide müssen ihre Wahrnehmung der Situation so artikulieren, dass ihnen der andere nicht nur folgen kann, sondern sie für glaubwürdig erachtet. Beide müssen die Gewissheit gewinnen, dass der andere ›hinter seinen Worten steht‹ und dass es ihm ernsthaft darauf ankommt, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind. Damit beide einander mit der Einstellung zuhören, dass ihnen der andere etwas zu sagen hat, müssen sie mit dem anderen sprechen: Aus der Art und Weise, ihre Sicht der Dinge darzulegen, aus ihren Worten, ihrem Tonfall, ihrer Gesprächshaltung, ihrem Zuhören muss für den anderen zu erkennen sein, dass seine Ansicht ernst genommen wird und dass der andere bereit ist, etwas von ihm zu lernen und seine eigenen Ansichten womöglich zu verändern. Ich zitiere noch einmal länger Raimond Gaita, weil mir seine Ausführungen zum moralischen Verstehen sehr hilfreich erscheinen. Sie machen deutlich, dass die reiche moralische Sprache, die Murdoch für so wichtig hält, letztlich eine Bedingung der moralischen Autorität ist:
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We say of some people that they ›have something to say‹ on moral or spiritual matters, but we do not mean that they have information to impart or a theory to propound. We mean that they speak with an individual voice, but not because they know something that few people know: they are not to be likened to scientists with new discoveries or to travellers from strange places. Indeed, what they say may often be familiar. Novelty is not an important concept under which to understand them although it need not be excluded. The manner of their presence, their demeanour, we might even say their ›style‹, are important, provided that we do not think of these as separable from what they say. 26
Der letzte Satz dieses Zitats erscheint möglicherweise etwas obskur, aber er lässt sich erhellen, wenn man bedenkt, auf wie viele verschiedene Weisen jemand der Schwiegermutter in Murdochs Szenario entgegenhalten könnte: ›Du kennst D noch gar nicht so lange, gib ihr eine Chance!‹ Diese Äußerung enthält keinerlei neue Informationen für M und ist obendrein so allgemein, dass sie für eine ganze Bandbreite von zwischenmenschlichen Spannungen passen würde, nicht nur für Ms konkretes Problem. Ob M dennoch überzeugt ist, dass ihr Gesprächspartner ihr Problem ernst nimmt, oder ob sie den Eindruck gewinnt, er halte ihren Ärger für übertrieben oder lächerlich, wird sehr stark davon abhängen, in welchem Ton er die Äußerung vorbringt. Klingt es beschwichtigend, gönnerhaft, gelangweilt oder herausfordernd? Wie verhält er sich, schaut er M ins Gesicht? Vergewissert er sich, dass M mit ihrer Erzählung am Ende ist, oder antwortet er schnell und forsch? Ob dieser Gesprächspartner zu Ms Problem etwas zu sagen hat, hängt weniger von seiner sachlichen Expertise ab als vielmehr von seiner Aufmerksamkeit gegenüber M in der konkreten Situation, von seiner Präsenz in ihrem Gespräch, wie Gaita sagt. Seine Aufmerksamkeit oder Präsenz werden sich besonders dadurch erweisen, dass der Gesprächspartner erklären kann, warum er glaubt, dass M ihre Schwiegertochter besser kennenlernen sollte. Welche Veränderungen könnten denn dabei eintreten? Wie genau könnte es denn aussehen, wenn M ihr ›eine Chance gibt‹ ? Darauf so zu antworten, dass M sich verstanden weiß, ist entscheidend dafür, ob sie dem Gesprächspartner die moralische Autorität zugesteht, ihr zu raten und sie zu kritisieren. Iris Murdoch macht auf den wichtigen Umstand aufmerksam, dass es Zeit braucht, bis man zumindest in manchen moralischen Fragen 26
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Gaita, Good and Evil, S. 273.
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etwas zu sagen hat. Das ist nicht überraschend, es entspricht der gängigen Auffassung, dass der Mangel an Lebenserfahrung moralische Autorität in einem gewissen Maß einschränkt: ›Du weißt nicht, wovon du redest‹ ist eine herablassende Weise, jemanden darauf hinzuweisen, ›Das habe ich früher genauso gesehen‹ eine etwas freundlichere. Allerdings kann man nicht von allen alten Menschen behaupten, dass sie auch weise sind. Entscheidend ist nach Murdochs Beobachtung, wie gut es jemandem gelingt, die Begriffe, in denen er seine Wahrnehmung der moralischen Wirklichkeit erfasst, im Laufe seines Lebens mit eigener Erfahrung zu füllen und so ein eigenes Verständnis dieser Begriffe zu gewinnen: A deepening process, at any rate an altering and completing process, takes place. There are two senses of ›knowing what a word means‹, one connected with ordinary language and the other very much less so. […] We do not simply, through being rational and knowing ordinary language, ›know‹ the meaning of all necessary moral words. 27
In welchen Sinn wissen wir denn nicht, was ›Schroffheit‹ oder ›Eifersucht‹ bedeuten oder was es heißt, ›jemandem eine Chance zu geben‹ oder ›jemandes Tod zu akzeptieren‹, obwohl wir die sprachlichen Ausdrücke doch kennen? Die Antwort auf diese Frage ist zugleich ein Teil der Erklärung dafür, dass Murdoch meint, die Arbeit der Aufmerksamkeit sei unabschließbar. Gemeint ist, dass wir nie an einen Punkt gelangen können, an dem wir feststellen, dass wir nun alles gesehen haben, die ganze Wirklichkeit kennen und uns daher nichts und niemand mehr überraschen oder unerwartet treffen kann. Im Bereich der moralischen Wahrnehmung, also wenn es um Menschen, ihre Handlungen und ihre Beziehungen zueinander geht, gibt es keinen solchen Punkt der vollständigen Erkenntnis. Das liegt zum einen daran, dass sich die Bedeutung eines Ereignisses, einer Handlung oder einer Person auch noch im Rückblick verändern kann. Was uns jetzt so oder so erscheint, kann später anders aussehen – nicht, weil wir zusätzliche Informationen gewinnen, sondern weil wir erst im Nachhinein erkennen, wer wir durch Ereignisse und Begegnungen in der Vergangenheit geworden sind. Ereignisse oder Begegnungen können im Laufe der Zeit eine Bedeutung gewinnen, die zunächst weder abzusehen noch unbedingt zu erwarten war. Ich zitiere noch einmal aus Pablo Casals’ Erinnerungen, 27
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weil er eine solche rückblickende Erkenntnis beschreibt. Casals erzählt, wie er als Zwölfjähriger sein Elternhaus verlassen hat, um in eine Musikschule in Barcelona einzutreten. Er wird von Joseph García unterrichtet, den er schon damals sehr bewunderte: Er hielt sehr auf Disziplin, und obwohl er im Grunde ein milder und freundlicher Mann war, versetzte er manchmal seine Schüler in Angst. Während der Unterrichtsstunden gab er so gut wie nie ein Zeichen der Zustimmung. Aber manchmal wenn ich spielte, wandte er mir den Rücken zu und verharrte in dieser Stellung. Wenn er sich mir dann wieder zuwandte, hatte sein Gesicht einen seltsamen Ausdruck. Damals verstand ich das alles nicht, aber später wurde es mir klar: Er war bewegt. 28
Die Beschreibung legt nahe, dass dem zwölfjährigen Jungen das Verhalten des Lehrers auch dann nicht verständlicher gewesen wäre, wenn ihm jemand erklärt hätte: ›So ist García immer, wenn er bewegt ist.‹ Casals Mangel an Verständnis beruhte nicht auf einem Mangel an Informationen, sondern auf einem Mangel an Erfahrung. Was Bewegtheit (durch Musik) ist, war dem Jungen nicht in derselben Weise klar wie später dem Achtzigjährigen, obwohl auch der Junge in einem Sinn sehr wohl verstehen konnte, was ›bewegt sein‹ bedeutet. Casals kommentiert seine spätere Einsicht nicht weiter, aber mir scheint es einleuchtend, dass er erst im Laufe seines Musikerlebens den Zusammenhang sehen konnte zwischen der Strenge seines Lehrers auf der einen Seite und seinem seltsamen Verhalten während der Cellostunde auf der anderen. Beides war ein Ausdruck seiner Liebe zur Musik, sowohl das strenge Beharren auf dem hohen musikalischen Standard wie auch die emotionale Bewegung durch das Cellospiel seines Schülers. Gerade diese Verbindung von Diszipliniertheit und Berührbarkeit unterscheidet die Empfindung des Lehrers von Sentimentalität und Schwelgerei. 29 Der moralphilosophische Kern dieser Überlegungen tritt hervor, wenn man bedenkt, dass Casals durch seine rückblickende Erkenntnis nicht nur etwas über Musik verstanden hat, sondern auch darüber, was es heißt, ein guter Lehrer zu sein. Casals hatte García schon als Kind für einen guten Lehrer gehalten und es gibt keinen Grund, diese Ansicht als naiv oder altklug abzutun. Gleichwohl hat dieselbe Ansicht eine tiefere, persönlichere, weil durch eigene Erfahrung gefüllte Be28 29
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Casals, Licht und Schatten, S. 29. Zum Problem der Sentimentalität vgl. Gaita, Good and Evil, Kap. 15.
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deutung, wenn der achtzigjährige Casals sie äußert. Denn der alte Casals kann sehen, wer er selbst durch die Begegnung mit diesem Lehrer geworden ist, und er kann deshalb die Frage, was bewegende Musik oder was einen guten Lehrer ausmacht, anders – tiefer, persönlicher – beantworten als der zwölfjährige Junge. Murdoch meint, dass wir solche Begriffe durch die aufmerksame Zuwendung zur Wirklichkeit und durch das sorgfältige Sprechen über diese Wirklichkeit für uns eine eigene, über Wörterbuchdefinitionen hinausgehende Bedeutung gewinnen. Indem wir genau, klar und wahrhaftig sprechen, eignen wir uns die allgemeinen Ausdrücke einer Sprache an, nicht nur die im engeren Sinne moralischen Ausdrücke wie ›gut‹ und ›schlecht‹, sondern auch die vielen anderen Ausdrücke, durch die sich in einem umfassenderen Sinne die Bedeutung von Dingen, Geschehnissen, Personen für uns fassen lässt. Von einem Lehrer zu sagen, er sei ein guter Lehrer, ist, sofern wahrhaftiger Ausdruck der eigenen, unverzerrten Wahrnehmung, keine objektiv überprüfbare Aussage über die Fähigkeiten eines Pädagogen, sondern eine Aussage über seine Bedeutung dafür, dass man selbst zu einem bestimmten Menschen geworden ist und eine bestimmte Sicht auf die Wirklichkeit gewonnen hat, etwa die Wirklichkeit der Musik, und es ist ein Ausdruck der Dankbarkeit für diese Begegnung. Daraus folgt, dass es nicht gleichgültig ist, wer eine solche Aussage vorbringt und unter welchen Umständen. Anderenfalls wird man die persönliche Bedeutung der Aussage nicht verstehen oder sie für einen Gemeinplatz, eine oberflächliche Auskunft halten. Dass beispielsweise Casals tatsächlich ›weiß, was er sagt‹, wird erst unzweifelhaft, wenn man seine sonstige Schilderung des fordernden Unterrichts, der strikten Lehrmethoden und seiner späteren Musikerlaufbahn mithört. An Casals’ Erzählung wird besonders deutlich, dass die Bedeutung von Ausdrücken, in denen wir unsere eigene Wahrnehmung artikulieren, von den konkreten Äußerungskontexten abhängig ist sowie auch von uns selbst, von unserem eigenen Erfahrungshintergrund. Diese Abhängigkeit zwischen eigener Begriffsbedeutung und konkreter Begriffsverwendung wird auch von Murdoch hervorgehoben: Uses of such words are both instruments and symptoms of learning. Learning takes place when such words are used, either aloud or privately, in the context of particular acts of attention. This is a point to be emphasized. That words are not timeless, that word-utterances are historical occasions, has been noted by some philosophers for some purposes. […] But the full implications of this fact, with its consequences for the would-be timeless image of reason, have A
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not, in our modern philosophy, been fully drawn. As Plato observes at the end of the Phaedrus, words themselves do not contain wisdom. Words said to particular individuals at particular times may occasion wisdom. 30
Deshalb hätte man den Prozess der Bedeutungsvertiefung, den die Ausdrücke ›Bewegtheit (durch Musik)‹ oder ›guter Lehrer‹ für Casals durchlaufen haben, in keiner Weise abkürzen können. Er musste durch ein eigenes Leben gehen, um über gute Lehrer oder bewegende Musik etwas zu sagen zu haben. Die Zeit der Begriffsaneignung durch eigene Erfahrung und eigene Artikulation dieser Erfahrung ist eine Bedingung der Autorität, mit der Casals im Alter von achtzig Jahren über gute Lehrer oder bewegende Musik spricht. Die Feststellung, dass wir über eine eigene Sprache verfügen müssen, um mit Autorität über die moralische Wirklichkeit zu sprechen, steht für Murdoch in keinerlei Widerspruch zu der Tatsache, dass wir beim moralischen Lernen auf andere Menschen angewiesen sind. Die eigene moralische Sprache ist ein Resultat ernsthafter Gespräche mit anderen, so wie auch Kunstkritiker das Vokabular, in dem sie ihre Ansichten über Kunstwerke artikulieren, nicht selbst erfinden, sondern von anderen Kritikern übernehmen, denen sie Autorität zugestehen. Sie müssen dieses Vokabular dann für sich mit Bedeutung füllen, um eigene Positionen zu beziehen und eigene Auffassungen zu artikulieren, aber sie müssen nicht unbedingt neue Wörter erfinden. Um sich das kritische Vokabular für eine bestimmte Kunstform anzueignen, ist es wichtig, sich gemeinsam mit erfahreneren Betrachtern Kunstwerke anzuschauen: We learn through attending to contexts, vocabulary develops through close attention to objects, and we can only understand others if we can to some extent share their contexts. Uses of words by persons grouped round a common object is a central and vital human activity. 31
Nur anhand konkreter Werke lässt sich ja zeigen, was bestimmte Ausdrücke bedeuten, was zum Beispiel ›funktionale Farbgebung‹ oder ›signifikante Form‹ sein sollen. 32 Der Witz an einem reichhaltigen, fein differenzierten kritischen Vokabular besteht nicht nur darin, Kunstwerke exakt und detailliert zu beschreiben. Es hilft auch herauszufin30 31 32
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Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 31. Ebd. Vgl. ebd., S. 32.
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den, ob wir ein bestimmtes Werk zu Recht wertschätzen, ob wir zu Recht von ihm bewegt sind, ob die Künstler wirklich etwas zu sagen haben. Wieder zeigt sich die enge Verknüpfung von nach außen gerichteter Aufmerksamkeit und selbstkritischer Überprüfung der eigenen Wahrnehmung. Aufmerksamkeit ist gerade deshalb oft anstrengend, weil sie einen ständigen Balanceakt zwischen Selbstlosigkeit und Selbstkritik erfordert. Man kann sich dem anderen – sei es ein Kunstwerk oder eine Person – nur in dem von Murdoch intendierten Sinne aufmerksam zuwenden, wenn man von eigenen Wünschen und Erwartungen vollends absieht. Doch ob diese Selbstlosigkeit gelingt oder ob sie sich nicht in eine andere Form der Selbstgefälligkeit verkehrt, etwa in Selbstgeringschätzung oder Selbstaufopferung, lässt sich nicht überprüfen, ohne kritisch auf sich selbst, auf die eigene Weise der Wahrnehmung zu achten. 33 Zudem schränkt Murdoch auch hier wieder ein, dass es nicht genügt, gemeinsam mit einem versierten Kritiker auf ein Kunstwerk zu schauen. Um die Bedeutung seines kritischen Vokabulars zu verstehen, müssen wir auch etwas über den Kritiker selbst wissen: The art critic can help us if we are in the presence of the same object and if we know something about his scheme of concepts. Both contexts are relevant to our ability to move towards ›seeing more‹; towards ›seeing what he sees‹. 34
Murdoch spricht in ihren Ausführungen stets von einem Kritiker, aber es erscheint mir wichtig, dass wir von verschiedenen Kritikern lernen können und sollten, gerade weil die Bedeutung, in der sie ihr kritisches Vokabular verwenden, nicht vollständig übereinstimmen wird. Zum einen nehmen verschiedene Kritiker und Kritikerinnen, in der Kunst wie in der Moral, verschiedene Standpunkte ein. Die Diversität und gelegentliche Dissonanz ihrer Ansichten kann uns davor bewahren, einen autoritären Standpunkt zu übernehmen, statt uns lediglich die begrifflichen Mittel anzueignen, um eigene Standpunkte zu finden und zu artikulieren. Zum anderen lehrt der aufmerksame, distanzierte, nicht selbstgefällige Dissens zwischen verschiedenen Kritikern und Kritikerinnen, dass die Autorität jedes und jeder einzelnen nicht so sehr davon abhängt, dass all ihre Urteile unanfechtbar sind. Ihre AutoSehr kritisch werden Murdochs Auszeichnung der Selbstlosigkeit als ethisches Ideal sowie ihre Darstellung moralischer Autorität von Sabina Lovibond in Iris Murdoch, Gender and Philosophy bewertet. 34 Murdoch, The Sovereignty of Good, S. 31. 33
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rität hängt vielmehr davon ab, wie sie auf Anfechtungen reagieren. Es ist nicht so entscheidend, ob jemand alle Einwände gegen seine Auffassungen widerlegen kann, sondern ob er mit den offensichtlich gewordenen Grenzen seiner Fähigkeiten in einer Weise umgeht, durch die er nichtsdestotrotz glaubwürdig bleibt. Damit wir Menschen zugestehen, dass sie uns in einer Sache etwas zu sagen haben, erwarten wir nicht, dass sie unfehlbar sind, sondern dass, was immer sie uns zu sagen haben, von einer eigenen Position aus gesagt wird. Es wäre naiv auszuschließen, dass sich diese Position je als verfehlt, einseitig, kurzsichtig erweisen könnte. Falls sie sich aber als verfehlt erweist, dann werden die befragten Personen ihre Glaubwürdigkeit und damit unter Umständen ihre Autorität nicht zuletzt dadurch erhalten können, dass sie dies als ihren eigenen Fehler annehmen. Die Bereitschaft hierzu, das heißt zur Selbstkritik und zur Anerkennung der eigenen Grenzen, muss sich bei Menschen, denen wir Autorität zugestehen, umso deutlicher zeigen, weil sie eine Bedingung dieses Zugeständnisses ist – diesen wichtigen Punkt stellt Murdoch meines Erachtens nicht genügend heraus, wenn sie auf die Wichtigkeit von Lehrern und Lehrerinnen für die moralische ›Tiefenbildung‹ verweist. Ernsthafte, nicht nur rhetorische Anerkennung der Grenzen der eigenen Fähigkeiten kann sich zum Beispiel darin zeigen, dass jemand bei noch so umfangreicher eigener Erfahrung selbstverständlich davon ausgeht, dass er von anderen etwas lernen könnte und dass er ihnen deshalb ohne Herablassung zuhört und sie ohne Selbstgefälligkeit kritisiert. Im Bereich der Moral wenden wir uns meistens nicht an ausgewiesene Experten, aber auch hier können wir manchmal Dinge gründlicher oder klarer wahrnehmen, wenn wir sie gemeinsam mit anderen betrachten. Indem die Schwiegermutter M mit einem Freund über ihre unmanierliche Schwiegertochter spricht, schaut sie mit ihm gemeinsam auf die Schwiegertochter und auf ihr Verhältnis zu ihr. Ich habe oben dargelegt, dass die Annehmbarkeit dessen, was der Freund gegenüber M äußert, nicht unerheblich davon abhängt, dass er erklären kann, was es denn heißen soll, D ›eine Chance zu geben‹. Auch hier wird die Erklärung nicht in einer Begriffsdefinition bestehen, sondern möglicherweise darin, dass der Freund erzählt, wie anstrengend er die Zusammenarbeit mit seiner Bürokollegin lange Zeit fand und wie sehr ihm ihre dauernde Nörgelei auf die Nerven ging. Aber, so könnte die Erzählung weitergehen, nach einer Weile hat sich herausgestellt, dass 80
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die Kollegin genau diese Züge an sich selbst durchaus kennt und dass sie seinen gelegentlichen Unmut sehr gut versteht. Mit dieser Erzählung weist sich Ms Freund als jemand aus, der verstanden hat, von welcher Art ihr Problem ist. Seine Aufmunterung ›Gib D eine Chance‹ war keine bequeme Floskel, sondern ein guter, weil aus eigener Erfahrung erteilter Rat.
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Wissen, was zu tun ist
Es ist inzwischen offensichtlich, dass Iris Murdoch den Schwerpunkt ihrer ethischen Überlegungen nicht auf gute oder richtige Handlungen und nicht einmal auf gute oder richtige Handlungsentscheidungen legt. Der Schwerpunkt liegt auf unserer Fähigkeit, die Wirklichkeit und uns selbst als Teil dieser Wirklichkeit realistisch zu sehen, wobei realistisch nicht unbetroffen-neutral heißt, sondern selbstlos, geduldig, lernbereit und der Liebe zum Guten verpflichtet. Weil klare, ungetrübte Wahrnehmung jedoch insofern handlungsrelevant ist, als wir Handlungsentscheidungen auf unsere Wahrnehmung von Situationen und Personen gründen, möchte ich zum Schluss zumindest kurz auf die Konsequenzen eingehen, die Murdochs Verständnis von Wahrnehmung ›im Licht des Guten‹ für das moralische Handeln hat. Das Ideal, nach dem Murdoch zufolge Menschen streben, die das Gute lieben, ist die Eliminierung all jener Handlungsoptionen, deren Verwirklichung kein Ausdruck der Liebe zum Guten sein kann. Mit anderen Worten: Wer das Gute liebt und wer dieser Liebe in seinem eigenen Leben gerecht werden will, für den sind bestimmte Handlungsoptionen gar nicht sichtbar, sie sind keine Optionen: I can only choose within a world I can see, in the moral sense of ›see‹ which implies that clear vision is a result of moral imagination and moral effort. There is also, of course, ›distorted vision‹, and the word ›reality‹ here inevitably appears as a normative word. 35
So lange unsere Liebe zum Guten unvollkommen ist und wir noch zu sehr um uns selbst besorgt sind, um klar und geduldig zu sehen, was wirklich vor sich geht und wie andere wirklich sind, so lange glauben wir, dass uns eine Fülle an Handlungsoptionen offensteht, zwischen 35
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denen wir frei wählen können. Wir meinen, wir könnten die Wirklichkeit in allen möglichen Hinsichten verändern und nach unseren Wünschen gestalten. Doch die Art der Wahrnehmung, die Iris Murdoch als ethisches Ideal betrachtet, vermehrt Handlungsoptionen nicht, sondern lässt sie verschwinden und erübrigt damit manche Handlungsentscheidung. Statt einer Fülle von Optionen, deren Konsequenzen sich nach unterschiedlichen Gesichtspunkten gegeneinander abwägen lassen, sehen sich Akteure einer klaren Forderung ausgesetzt, das Gute zu tun. Statt ihren Wünschen folgen sie moralischer Notwendigkeit. Luthers ›Hier stehe ich, ich kann nicht anders‹ ist eine treffende Artikulation der idealen Handlungssituation, wie Murdoch sie schildert: But if we consider what the work of attention is like, how continuously it goes on, and how imperceptibly it builds up structures of value round about us, we shall not be surprised that at crucial moments of choice most of the business of choosing is already over. 36
Murdoch geht nicht ausführlich darauf ein, wie die Bildung von Wertstrukturen durch aufmerksame Wahrnehmung vor sich geht, aber ein wichtiger Teil dieses Prozesses ist sicherlich, dass wir Wertbegriffe mit eigener Erfahrung füllen und ihnen so eine eigene Bedeutung geben. Damit sich auf Grund von eigener Erfahrung tatsächlich Wertstrukturen herausbilden, scheint es zudem notwendig, dass wir genau, geduldig und aus angemessener Distanz erfassen, was wir erleben, was diese Erlebnisse bedeuten und wer wir durch sie geworden sind. Genauigkeit, Geduld und Distanz helfen, echte von unechten Formen bestimmter Gefühle zu unterscheiden, etwa Bewegtheit von Sentimentalität, Liebe von Faszination, Trauer von Selbstmitleid, Anteilnahme von Gönnerhaftigkeit, Mut von Heldentum usw. Wer die echten Formen dieser Gefühle von ihren Verfälschungen unterscheiden kann, für den mögen sich in der Tat bestimmte Handlungsoptionen nicht mehr stellen. Denn Handlungen, die ein Ausdruck der Sentimentalität, aber nicht der echten Bewegtheit sind, ein Ausdruck gekränkter Eitelkeit, aber nicht der Trauer, ein Ausdruck der Herablassung, aber nicht des Mitgefühls, stehen nicht zur Wahl für jemanden, dem daran liegt, dass sein eigenes Leben ein Ausdruck seiner Liebe zum wirklich Guten ist. 37 Ebd. Ich danke herzlich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Workshops in Hildesheim sowie Martina Herrmann (Dortmund) für ihre hilfreichen Kommentare und Nachfragen zu einer früheren Version dieses Textes.
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Erkennen und Emotion in der existenzphilosophischen Ethik
Spätestens seit der Analyse, die David Hume vom Zusammenspiel von Ratio und Emotion gegeben hat, der zufolge der Verstand darauf beschränkt ist, Informationen über eine Situation zu sammeln und diese den Emotionen als den eigentlichen Triebfedern des Handelns zuzuliefern, ist das Thema der Trennung beziehungsweise der Zusammengehörigkeit von Erkennen und Emotion eines der klassischen Themenfelder der Philosophie. In der Ethik, in der der Anspruch des Erkennens – als Erkennens des Guten – unmittelbar mit dem Handeln zum Guten und den zu diesem Handeln gehörenden Emotionen und Motivationen in Verbindung steht, wird dieses Problem besonders augenfällig. Während Positionen wie die von Deontologie und Utilitarismus Emotionen nur dann einen Wert zuerkennen, wenn sie mit dem unabhängig von Emotionen gewonnenen ethischen Urteil übereinstimmen, versucht die Tugendethik, die Verwurzelung des ethischen Urteilens in Emotionen stärker in den Vordergrund zu rücken. Damit geht allerdings die Gefahr einher, dass die Orientierung des Ethischen auf Wahrheit verloren geht und die tugendethische Position in einen ethischen Relativismus mündet. Die in den geläufigen Überblicksdarstellungen zur Ethik häufig weniger beachteten existenzphilosophischen Ansätze zur Ethik, wie man sie bei Søren Kierkegaard oder Karl Jaspers findet, können als eine Antwort auf dieses ethiktheoretische Dilemma gelesen werden. Wie die existenzphilosophische Rekonstruktion des Zusammenhangs von Erkennen und Emotion vor dem Hintergrund dieser Problemstellung genauer zu verstehen ist, soll im Folgenden erläutert werden.
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Die Rolle der Emotion in Deontologie und Utilitarismus
In heutigen Einführungen in die Ethik hat es sich bewährt, zunächst Deontologie, Utilitarismus und Tugendethik als relevante HauptströA
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mungen dieser philosophischen Disziplin zu unterscheiden. Deontologie und Utilitarismus werden dabei oft als Widersacher präsentiert, von denen der eine auf Prinzipientreue und Pflichterfüllung bestehe, während der andere sich allein an die Frage halte, welche Handlungskonsequenzen einer konkreten Handlung voraussichtlich insgesamt die größte Nutzensumme mit sich bringen, im Sinne zum Beispiel der Erfüllung möglichst vitaler Interessen von möglichst vielen Betroffenen. Man kann diese Gegenüberstellung in Zweifel ziehen, indem man zum Beispiel darauf verweist, dass auch der Utilitarismus deontologische Elemente enthält, wenn er nämlich das Kriterium des »Nutzens« als allein rationale Grundkategorie des ethischen Sollens einführt. Umgekehrt finden sich in der Deontologie Kants zum Beispiel immer wieder auch Überlegungen zu den hypothetischen Folgen einer Handlung, wenn der kategorische Imperativ angewendet und eine Maxime auf ihre Widerspruchsfreiheit geprüft wird. Darüber hinaus aber haben Deontologie und Utilitarismus eine weitere Gemeinsamkeit, auf die es im Folgenden besonders ankommen soll: Deontologie und Utilitarismus nehmen an, dass ethische Urteile aus der Position eines am Geschehen unbeteiligten Beobachters gefällt werden sollen. Um ein ethisch zuverlässiges Urteil fällen zu können, müssen, beiden Theorien zufolge, Abhängigkeiten und soziale Beziehungen und damit auch alle Affekte und Emotionen, die den Urteilenden in einer Situation binden, suspendiert werden. Erst diese Suspension ermöglicht dann die unverfälschte Anwendung der rational geprüften Kriterien des Guten auf die vorliegende Situation. An einem Beispiel sei diese Perspektive des a-emotionalen Beobachtens verdeutlicht. Ein Kind bittet Sie weinend um drei Euro für einen Busfahrschein, weil es sich verlaufen hat und nach Hause will. Wenn Sie helfen, müssten sie Geld abheben, würden ihren Zug verpassen und damit einen Kunden verlieren, der für das Wohl der Firma und ihre Dutzend Mitarbeiter von entscheidender Bedeutung ist. Wie finden Sie die ethisch richtige Entscheidung? Utilitaristisch ist in dieser Situation zu beurteilen, bei welcher der zur Auswahl stehenden Handlungsoptionen, das heißt hier der Hilfe für das Kind oder der pünktlichen Zugfahrt, der Gesamtnutzen der Handlungsfolgen am größten ist. Aus Sicht eines Standard-Utilitarismus heißt das zu fragen, ob insgesamt mehr und gravierendere Inte84
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Erkennen und Emotion in der existenzphilosophischen Ethik
ressen erfüllt werden, wenn man dem Kind hilft, oder dann, wenn man pünktlich in den Zug steigt. Im Rahmen einer Deontologie, wie sie von Kant vertreten worden ist, muss zunächst die Maxime der fraglichen Verhaltensweise formuliert werden, also beispielsweise: »Ich helfe anderen in Not nicht, wenn ich wichtige Termine habe.« Dann muss geprüft werden, ob diese Maxime verallgemeinert werden kann. Wenn dies der Fall ist, dann gilt die Handlung als ethisch erlaubt, und als gefordert dann, wenn ihr Gegenteil nicht verallgemeinerungsfähig ist. Bei beiden Ansätzen ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten, wenn man versucht, die sich im Rahmen der Kriterienanwendung ergebenden Fragen zu beantworten. Der Utilitarismus zum Beispiel setzt voraus, dass die Konsequenzen einer Handlung einigermaßen gut vorausgesehen werden können. Mit Bezug auf das Beispiel muss man unter anderem angeben können, wie sicher es ist, dass die Firma den wichtigen Kunden verliert, wenn man den Zug verpasst, um zu einer ethischen Einschätzung der Situation kommen zu können. In der kantischen Deontologie muss auf ähnliche Weise sichergestellt sein, dass es möglichst wenig Spielraum bei der Angabe der die Handlung leitenden Handlungsmaxime gibt und dass angegeben werden kann, was genau es heißt, dass eine Maxime bei Verallgemeinerung widersprüchlich wird. Darüber hinaus aber, und das ist der in diesem Zusammenhang zentrale Punkt, fällt auf, dass weder der utilitaristische noch der deontologische Ansatz dem unmittelbaren Impuls, einem unglücklichen, hilfsbedürftigen Kind zu helfen, per se einen ethischen Wert zusprechen kann. Für den Utilitarismus kann zwar dieser Impuls als »Interesse am Helfen« mit in die Nutzenkalkulation einfließen, ethischen Wert hat dieser Impuls aber nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Handlungsimpuls. Erst die Reflexion auf den Impuls und seine Folgen nach Maßgabe emotional ungefärbter Kriterien kann bestimmen, ob es ethisch akzeptabel ist, die Handlung auszuführen, und ob somit dem Handlungsimpuls in diesem Fall ethischer Wert zukommt. Ebenso verlangt die deontologische Perspektive, dass der emotionale Handlungsimpuls auf den Prüfstand eines rationalen, nicht von Emotionen beeinflussten Verfahrens gestellt wird. Der ethische Wert einer Handlung wird unabhängig von allen handlungsbeeinflussenden Bindungen und Emotionen bestimmt. Handlungsimpulse, die diesem Urteil widersprechen, müssen dann zurückgehalten werden. Wenn sie A
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dem Urteil dagegen entsprechen, darf man ihnen ihren Lauf lassen. So kann man den Emotionen aus dieser Perspektive zwar insofern eine ethisch sinnvolle Funktion zusprechen, dass sie dazu dienen können, ethische Urteile habituell werden zu lassen. Als solche aber kann keine Emotion einen ethischen Wert haben. 1 Man sieht: Beide Ethikansätze verstehen ethisches Urteilen und Handeln als das Ausführen einer von Emotionalität entkoppelten Rationalität. Beiden Theorien zufolge ist ethisches Handeln angeleitet von einem Akt des Erkennens, der aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters erfolgt und dessen Resultat im Handeln unabhängig von vorher bestehenden Emotionen auszuführen ist. Dem engen Zusammenhang von Emotionalität und Verstehen im ethischen Handeln, wie wir ihn im alltäglichen Handeln oft voraussetzen, kann diese Annahme kaum gerecht werden.
II
Die Antwort der Tugendethik
Die modernen Varianten der Tugendethik, als dritte Hauptströmung der aktuellen philosophischen Ethik, sind angetreten, den engen Zusammenhang von Ethik und Emotion gegen Deontologie und Utilitarismus zu rehabilitieren. Im Begriff der Tugend sollen Handlungsdisposition und damit Emotion einerseits und andererseits das Urteil, dass eine bestimmte Handlung, Intention oder Verhaltensdisposition als gut gelten soll, zusammenfallen. Gut ist, was tugendhaft ist, und das Tugendhafte ist eine charakterliche Handlungsdisposition, die einen emotionalen Gehalt besitzen und die entsprechend durch Erziehung und kulturelle und soziale Prägungen ausgebildet werden kann und soll. Der Begriff der Emotion soll hier und im Folgenden als Oberbegriff für Leidenschaften, Stimmungen, Empfindungen, Wünsche etc. fungieren und deshalb weiter sein, als die Bestimmung von »Emotion« bei Sabine Döring, die diejenigen Gefühle, die augenscheinlich nicht intentional auf Objekte bezogen sind, nicht zu den Emotionen zählt. Grund dafür ist, dass es für die Zwecke der Exposition hier zunächst nicht entscheidend ist, ob Emotionen evaluativ-repräsentierenden Charakter haben, sondern vor allem, dass sie eine handlungsmotivierende Kraft oder Tendenz besitzen. Die Verwendungsweise des Begriffs »Emotion« hier entspricht in dieser Hinsicht daher eher der Funktion, der Döring und auch Hastedt dem Terminus »Gefühl« zuordnen (vgl. Sabine Döring, »Philosophie der Gefühle heute«, in: dies. [Hrsg.], Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 2009, S. 12–65; Heiner Hastedt, Gefühle. Philosophische Bemerkungen, Stuttgart 2005, S. 11–25).
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Erkennen und Emotion in der existenzphilosophischen Ethik
So lässt sich tugendethisch bestimmten Handlungsimpulsen ein ethischer Wert zuerkennen, und zwar auch dann, wenn die letztlich als richtig beurteilte Handlung nicht diesem ersten Impuls folgt. Der Impuls, dem Kind zu helfen, ist ein Ausdruck der Tugend der Hilfsbereitschaft, der erstens als solcher inklusive seiner emotionalen Gefärbtheit ethischen Wert besitzt und der zweitens diesen Wert auch dann behält, wenn nach Abwägung verschiedener, möglicherweise einander in diesem Fall widerstreitender Tugenden, doch eine andere Handlung als die des Helfens zur Ausführung kommen sollte. Bei dieser Konzeption entsteht nun aber das ebenfalls bekannte und oft diskutierte Problem, wie die Dispositionen als ethische Dispositionen ausgezeichnet werden können, wenn dazu nicht mehr gesagt werden kann, als dass Tugenden diejenigen Dispositionen sind, die zu ethischem Handeln führen. Es droht ein Zirkelschluss, womit die Tugendethik letztlich in den Verdacht gerät, entweder willkürlich Verhaltensweisen als »ethisch« zu dekretieren oder in einen ethischen Relativismus zu münden. Seit Hume ist in der Ethikdebatte aus dieser Problematik immer wieder genau dieser Schluss gezogen worden, dass es objektive (»externe«) Gründe – und damit ethisches Erkennen – im Handeln nicht gebe. Handlungsmotivationen seien immer nur für den Handelnden selbst auch Handlungsgründe, weil sie ihm »intern« vorgeben, was für ihn wichtig und wertvoll ist, mit der Konsequenz, dass keine intersubjektiven Standards für das, was als gut gelten soll, mehr angegeben werden können. 2 Mit anderen Worten: Die Verortung des Ethischen in Dispositionen und Emotionen führt dazu, dass Ethik nicht mehr als eine Bewegung des Erkennens verstanden werden kann. Damit scheint der Handelnde nicht mehr das ethisch Richtige tun zu können, sondern lediglich dasjenige, was individuell oder gesellschaftlich akzeptiert wird und wozu der Handelnde von Kultur oder Natur disponiert ist. Mit dieser Diagnose ist der Kern der Diskussion um das Verhältnis von Ethik und Emotion erreicht. Der utilitaristische und der deontologische Rationalismus schließen die konstitutive Beteiligung von Emotion am ethischen Urteilen deshalb aus, weil sie auf dem Vorrang des Begriffs der als richtig zu erweisenden und zu erkennenden ethischen Norm bestehen. Umgekehrt benötigt die Tugendethik einen Er2
Vgl. Döring, »Philosophie der Gefühle heute«, S. 43–49. A
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kenntnisbegriff, der Erkennen an Emotion bindet, wenn die emotionale Färbung des tugendethischen Handelns nicht zu einem ethischen Relativismus führen soll.
III
Der Dualismus von Emotion und Erkennen
Die Auseinandersetzung zwischen Deontologie und Utilitarismus auf der einen und Tugendethik auf der anderen Seite beruht auf der Annahme, dass Emotion und erkennende Rationalität zu miteinander nicht vermittelbaren Bereichen der Wirklichkeit gehören. Wenn Emotionen Zustände sind, die jemanden zu einem bestimmten Handeln motivieren oder ihn zu einem Handeln disponieren, dann gehören sie zu denjenigen Größen, die generell gesprochen Dinge in der Wirklichkeit in Bewegung versetzen können. Sie gehören also zu der Kategorie der Ursachen. Wenn nun Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge im Prinzip immer vollständig erkennbar und in Form deterministischer Gesetzmäßigkeiten zu erklären sind, wie es zum Beispiel Kant angenommen hat, dann können Emotionen keine vorläufigen, revidierbaren und möglicherweise fehlerhaften Urteile sein, sondern sie müssen als Bestandteile des gesetzmäßig ablaufenden Weltganzen in sich vollständig bestimmt und festgelegt sein. Für das ethische Erkennen resultiert daraus die Herausforderung, nach Kriterien zu urteilen, die ihre Quelle nicht in den kontingenten, das Handeln de facto bestimmenden Ursachen (sprich: Emotionen) haben, sondern in übergeordneten Kriterien, die als unerlässliche Bedingungen für Erkennen und Handeln verstanden werden können. In der Deontologie Kants ist dies der Begriff der Gesetzmäßigkeit selbst, im Utilitarismus füllt diese Stelle die Vorstellung des verallgemeinerten Strebens nach Interessenbefriedigung aus. In beiden Fällen ist damit gesetzt, dass das ethische Erkennen unabhängig von Emotionen sein können muss. Und wenn nun in der Tugendethik diese Aufteilung übernommen oder zumindest nicht explizit in Frage gestellt wird und keine Alternativen entwickelt werden, dann geht mit der Emotionalisierung der Ethik zwangsläufig auch die Relativierung ethischer Wahrheitsansprüche beziehungsweise, schwächer formuliert, der Orientierung ethischer Urteile an der Wahrheit einher. 3 3
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Im Rahmen der Diskussion um die Tugendethik wird versucht, auf dieses Desiderat
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Erkennen und Emotion in der existenzphilosophischen Ethik
IV Dynamisierung des Erkennens in der Existenzphilosophie Dies ist die Ausgangslage, vor deren Hintergrund die existenzphilosophische Ethikkonzeption rekonstruiert werden soll. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den Positionen von Søren Kierkegaard und Karl Jaspers. Gemeinsames Ziel dieser beiden Ansätze ist es, einen Erkenntnis- und Wahrheitsbegriff zu etablieren, der einerseits an der Idee festhält, dass es eine Instanz gibt, die Urteile unabhängig von emotionalen Dispositionen wahr machen kann, so dass die entsprechenden Handlungen ethisch gefordert genannt werden können. Andererseits soll dieser Erkenntnisbegriff auch der Vorstellung Rechnung tragen, dass ethisches Handeln in Emotionen gründet, die selbst ethischen Wert haben können. Mit der Neubestimmung des Erkenntnisbegriffs geht also letztlich eine Neubestimmung des Verhältnisses von Emotion als handlungsmotivierender und Erkenntnis als handlungskonstatierender und -evaluierender Größe einher, mit dem Ziel, die Einheit des Handelnden als eines die Welt erkennenden Wesens, das zugleich Teil der natürlichen Welt und ihrer handlungsleitenden Kräfte ist, verstehen zu können. Wesentlicher Grundzug beider Ansätze ist es dabei, Erkennen nicht als statische Relation zwischen Erkenntnis und Erkanntem zu verstehen, sondern als dynamisches Geschehen. Alles Erkennen ist Streben nach Erkenntnis. Der Handelnde und Erkennende ist also bezogen und angewiesen auf eine Quelle der zu erkennenden Wahrheit, die letztlich nicht zugänglich ist, aber deren Existenz dennoch angenommen werden muss, wenn man die selbstwidersprüchliche Konsequenz vermeiden will, der zufolge als wahr zu gelten habe, dass es keine Erkenntnis gibt. In Bezug auf klassische Korrespondenztheorien der Wahrheit könnte man sagen, dass Kierkegaard und Jaspers den innerhalb dieser Theorien immer möglich bleibenden Zweifel, ob die angenommene Korrespondenz wirklich besteht, als unumgänglich akzeptieren, daraus aber keine relativistische oder fatalistische Konsequenz ziehen, sondern die Annahme, dass von Erkenntnis nur im Hinblick auf das Ideal einer Korrespondenz gesprochen werden dürfe, aufgeben und stattdessen schon dem Streben nach dieser Korrespondenz das Attribut »wahr« mit der Analyse von »Tugenden der Erkenntnis« zu reagieren, beispielsweise in: Heather Battaly (Hrsg.), Virtue and Vice, Moral and Epistemic, Chichester 2010. A
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zuschreiben. Im skeptischen Vorbehalt gegenüber der Möglichkeit, Wahrheit zu gewinnen, liegt Wahrheit, so die Wendung und Doppelung des Wahrheitsbegriffs bei Kierkegaard, die er selbst als »paradox« bezeichnet, weil in ihr jede Festsetzung eines Zustandes als wahr unmöglich wird. Erkennen wird zu einem endlosen Prozess des Strebens nach Erkenntnis, von dem man sich erkennend nicht noch einmal distanzieren kann. 4
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Die transzendente Quelle der Wahrheit
Bei Kierkegaard ist die einerseits nicht zu erreichende, andererseits aber zum Erreichen auffordernde Quelle der Wahrheit der personale Gott des Christentums. In der strukturell weitgehend parallel zu Kierkegaard angelegten philosophischen Konzeption von Karl Jaspers nimmt diese Stelle hingegen der Begriff einer apersonal gedachten »Transzendenz« ein. Entscheidend ist aus systematischer Sicht, dass diese Quelle einerseits als entzogen gelten muss, damit das Verhältnis zu ihr nicht zu einem statischen Korrespondenzverhältnis werden kann. Oder anders gesagt: Die von Gott gegebenen, den Einzelnen im Leben leiten sollenden Wahrheiten dürfen ebenso wenig wie die im Transzendenzbezug aufscheinenden Gebote als den Einzelnen vorherbestimmende schicksalhafte Voraussagen wahrgenommen werden können. 5 Andererseits muss der Kontakt zu den Quellen der Wahrheit als erfahrbar gedacht werden. Es muss »Spuren« dieser Quelle geben, um einen Terminus von Lévinas aufzunehmen. 6 Die wesentliche Spur, mit Kierkegaard gedacht, ist die Tatsache unseres fortgesetzten und fortbestehenden Erkenntnisstrebens, auch in Anbetracht aller Zweifel und aller skeptizistischen Vorbehalte. Auch wenn wir, in Handlungskontexten und Fragen nach dem Guten ebenso wenig wie in Wissenschaft und Technik bei Fragen nach dem faktisch Wahren, mit letzter Vgl. Søren Kierkegaard, Philosophische Brocken, Gesammelte Werke und Tagebücher, Bd. 6, Abt. 10, hrsg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Simmerath 2003, S. 46 f. 5 Vgl. Joachim Boldt, »Tentatio und Amor fati. Zum Umgang mit Leid in den existenzphilosophischen Ansätzen von Kierkegaard und Jaspers«, in: Giovanni Maio (Hrsg.), Abschaffung des Schicksals?, Freiburg 2011, S. 224–244. 6 Z. B. in Emmanuel Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg 1998, S. 329. 4
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Erkennen und Emotion in der existenzphilosophischen Ethik
Gewissheit sagen können, was wahr ist, bleiben wir der Forderung, uns dem Wahren zu nähern, ausgesetzt. Die Wahrnehmung dieser Forderung an einen selbst ist das basale Faktum, auf dem das dynamische Erkenntniskonzept Kierkegaards ruht.
VI Wechsel vom faktisch Zutreffenden zum ethisch Guten (und ein erstes Charakteristikum des Ethischen) Dies hat zur Konsequenz, dass der Wahrheitsbegriff Kierkegaards und Jaspers’ von Grund auf nicht theoretisch, sondern praktisch ist. Dabei wird der Handlungscharakter, den das Erkennen als Fragen hat, nicht als ein dem eigentlichen Handeln äquivalentes, aber auf das Handeln letztlich nicht zurückwirkendes Geschehen verstanden, sondern das Fragen des Erkennens kann die »Spitze« des eigentlichen Handelns sein und das Handeln anleiten. Erkennen ist diesem Verständnis zufolge immer das Streben nach Einsicht und insofern ein Handeln, für das der Leitbegriff nicht das faktisch Zutreffende ist, sondern das geforderte Gute. Wahrheit kommt damit nicht, dies ist ein Korrelat dieser Konsequenz, am deutlichsten im Medium der Aussage und des Urteils zum Ausdruck, sondern in Form des um die Wahrheit bemühten Fragens und Hörens. 7 Auf dieser Grundlage ergibt sich nun ein erstes Charakteristikum des Ethischen innerhalb dieser Konzeption: Eine Handlung hat dann ethischen Wert, wenn sie als Anfrage danach, was gut ist, verstanden werden kann.
VII Der Andere als Mit-Fragender (und ein zweites Charakteristikum des Ethischen) Um diesen Gedanke weiterverfolgen und genauer bestimmen zu können, was dies inhaltlich heißen kann, ist es zunächst notwendig zu bestimmen, welche Rolle andere für den Handelnden in dieser Konzeption spielen. Auch hier gilt: Niemand und nichts, was einem in der So ist umgekehrt die Beziehung der Transzendenz (als Instanz der Wahrheit) zum Einzelnen bei Jaspers als ein zum Fragen forderndes Ansprechen des Einzelnen gedacht. Vgl. Karl Jaspers, Existenzerhellung, Berlin 1973, S. 49.
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Welt begegnet, kann als etwas gelten, dass Wahrheit endgültig besitzen und von mir vollständig erkannt werden kann. So wie ich selbst als Erkennender unfertig und im Werden begriffen bin, muss daher auch alles andere in der Welt von mir als werdend verstanden werden. 8 Der Andere ist damit jemand, der wie ich nach dem Guten fragen soll und der sich dieser Forderung ausgesetzt sieht. Der Andere ist MitFragender und Mit-Suchender. Unabhängig von allen faktischen Unterschieden zwischen Menschen in Bezug auf ihre natürlichen Talente und Fähigkeiten und ihren erworbenen Status liegt in dieser Eigenschaft die Idee der Gleichheit aller Menschen als Gleichheit in der Angewiesenheit begründet, wie Kierkegaard explizit vermerkt. 9 An dieser ontologischen Konzeption des Anderen wird deutlich, wie im existenzphilosophischen Ansatz Suche nach Erkennen und Ethik zusammengehen. Die Suche nach dem, was der Andere ist, ist, unter den genannten ontologischen Voraussetzungen, eine Suche danach, was der Andere für richtig hält und wie er demnach zu handeln motiviert ist. Wenn er also zu erkennen gibt, was er ist, dann gibt er auch zu erkennen, was ich selbst für gut halten und wie ich sein könnte. Wenn ich diese Dimension meines Fragens nach dem Sein des Anderen nicht willkürlich ausblende, dann ist auch meine fragende Annäherung an den Anderen nicht nur die Annäherung eines Faktensammlers, sondern die eines respektvoll Neugierigen, der in Kommunikation treten will. Auf dieser Basis wird deutlich, dass das Fragen nach dem Guten keine Tätigkeit ist, die jeder einzeln und für sich verfolgt. Die Frage nach dem Guten zu stellen heißt dagegen, sich an und mit anderen in dieser Aufgabe zu orientieren. Diese Hinwendung zum Anderen, eine Hinwendung wie zu sich selbst, ist, die Formulierung legt die Vermutung schon nah, für Kierkegaard identisch mit dem Gebot der Im Grunde liegt es deshalb nah, den existenzphilosophischen Ansatz in der Epistemologie und dessen ontologischen Implikationen nicht auf den Bereich des Menschen zu beschränken, sondern sie in einer Philosophie der Biologie oder sogar der Physik auszubuchstabieren. Hans Jonas’ Philosophie der Biologie kann als eine solche Position gedeutet werden, ebenso die Prozessmetaphysik Whiteheads. Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a. M. 1994; Alfred N. Whitehead, Prozess und Realität. Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt a. M. 1987. 9 Vgl. Søren Kierkegaard, Der Liebe Tun, Gesammelte Werke und Tagebücher, Bd. 14, Abt. 19, hrsg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Simmerath 2003, S. 68 f. 8
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christlichen Nächstenliebe. In der säkular gewendeten Form dieser Philosophie bei Karl Jaspers werden hier die Begriffe der existentiellen Kommunikation, der Freundschaft und auch der Treue eingeführt. 10 Die ethische Aufgabe, vor der man nach Kierkegaard und Jaspers steht, ist so gekennzeichnet durch die Ausrichtung jedes Einzelnen auf das transzendent Gute, das sich aber jeweils nur verdeckt so zu erkennen gibt, dass ein Prozess des Fragens initiiert wird, der den Fragenden selbst und dessen eigenen, für wahr gehaltenen Überzeugungen ebenso betreffen kann wie die Überzeugungen anderer. Die Tätigkeit des ethischen Fragens wird so, und dies explizit und in entfalteter Form vor allem bei Jaspers, zu einer Tätigkeit des Auslegens und Interpretierens, in dem es darum geht, so weit wie möglich den Gemeinsamkeiten von zunächst möglicherweise divergent erscheinenden Annahmen auf die Spur zu kommen. Damit ist nun ein zweites Kriterium des Ethischen benannt: Ethisch ist eine Handlung, wenn sie in Auseinandersetzung mit anderen oder anderem als Bemühen um ein gemeinsames Gutes verstanden werden kann.
VIII Ethische Emotionen (und ein drittes Charakteristikum des Ethischen) In Bezug auf das Thema des Verhältnisses von Emotion und Erkennen bedeutet dies zunächst, dass Erkennen, weil es Bemühen und Fragen ist, mit Anstrengung und in diesem Sinn mit Fühlen und Emotion zu tun hat. Kierkegaard spricht von der »Leidenschaft« des Erkennens, und damit ist nicht nur die Intensität und Begeisterung dieses emotional gefärbten Handlungscharakteristikums gemeint, sondern durchaus auch das Leid, dass die in ihrer Erfüllung ungewisse Leidenschaft auch mit sich bringt. 11 Neben der Hoffnung auf Gelingen sind Leid und Angst konstitutive Bestandteile des ethischen Erkennens, weil dieses Erkennen immer von der Möglichkeit des Fehlgehens begleitet ist und zu beständiger Vertiefung und Erneuerung anhält. Zwei emotionale Dimensionen beherrschen so aus dieser Perspektive das Erkennen. Zum einen sind dies die Angst und die Sorge, dass 10 11
Vgl. Kierkegaard, Der Liebe Tun, S. 51–101; Jaspers, Existenzerhellung, S. 60–73. Vgl. Kierkegaard, Philosophische Brocken, S. 36 f. und 46–51. A
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man bei dem Wagnis des Hörens wiederum nicht versteht und in dem, was man sich zu eigen macht, noch nicht genügend erfasst hat, worum es eigentlich geht. Dieser besonders bei Kierkegaard im Vordergrund stehenden, negativ gefärbten emotionalen Seite des ethischen Erkennens korrespondiert eine zweite Seite, die die positiven Möglichkeiten dieses Erkennens in den Blick nimmt. Dies ist bei Kierkegaard die mit der Bereitschaft, sich zu öffnen, zu hören und etwas zu erwägen und zu bedenken einhergehende und geforderte Zuwendung zum Anderen, die er christlich konnotiert als geforderte Nächstenliebe fasst. 12 Bei Jaspers stößt man an dieser Stelle ebenfalls auf den Begriff der »glaubenden Liebe«, der Hoffnung und Vertrauen in sich einschließen soll. 13 Aus existenzphilosophischer Sicht sind diese beiden Momente im Gleichgewicht zu halten, wenn es um gelingendes Erkennen geht. Wenn das Moment der Angst überhandnimmt, es zu Lähmung und Verschlossenheit kommt und man sich mit dem begnügt, was man bereits erkannt zu haben oder mitgeteilt bekommen zu haben glaubt, kann ebenso wenig der ethischen Forderung genüge getan werden wie dann, wenn Hoffnungen für erfüllt angesehen werden und man glücklich der Überzeugung ist, verstanden zu haben, welche Forderung genau an einen ergeht. Beides sind nach Kierkegaard Formen der Verzweiflung, nämlich erstens die Verzweiflung, nicht man selbst, das suchende und fragende Selbst, sein zu wollen und zweitens die Verzweiflung, man selbst sein zu wollen, in diesem Fall im Sinne eines in seiner Identität festgesetzten, nicht mehr fragenden Selbst. 14
Dies ist das leitende Thema in Kierkegaard, Der Liebe Tun. Jaspers, Existenzerhellung, S. 276–284. Hoffnung und Angst lassen sich, weil sie in dieser hier erörterten Konzeption nicht an bestimmte Situationen oder Objekte gebunden sind, sondern jedes Erkenntnisstreben begleiten können sollen, auch im Rückgriff auf Heidegger als »existenzielle Gefühle« (Ratcliffe) oder »existenzielle Grunderfahrungen (Wolf)« bezeichnen. Sowohl Ratcliffe als auch Wolf entwickeln Positionen, die sich kritisch zu derjenigen von Heidegger und auch zu der hier skizzierten verhalten. Vgl. Matthew Ratcliffe, »Existenzielle Gefühle«, in: Jan Slaby/Achim Stephan/Henrik Walter/Sven Walter (Hrsg.), Affektive Intentionalität. Beiträge zur welterschließenden Funktion der menschlichen Gefühle, Paderborn 2011, S. 144–169; Ursula Wolf, »Gefühle im Leben und in der Philosophie«, in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hrsg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 1993, S. 112–135. 14 Vgl. Søren Kierkegaard, Krankheit zum Tode, Gesammelte Werke und Tagebücher, Bd. 17, Abt. 24, hrsg. von Emanuel Hirsch, Hayo Gerdes und Hans Martin Junghans, Simmerath 2004, S. 47–74. 12 13
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Aus dieser Beschreibung lässt sich nun als dritte Annäherung an die Charakteristika des ethischen Handelns in emotionaler Hinsicht gewinnen: Ethisches Handeln ist getragen von einer Balance der Emotionen der Hoffnung auf Einsicht und der Öffnung und des Zutrauens zu Anderen und des Vertrauens in Andere einerseits und andererseits der die Hoffnung begleitenden Sorge vor dem Fehlgehen.
IX Vulnerabilität (und ein viertes Charakteristikum des Ethischen) »Vulnerabilität« ist ein Begriff, der genau diese Doppelung von hoffendem Zutrauen einerseits und der beunruhigenden, auch Angst einflößenden Möglichkeit des Fehlgehens andererseits zum Ausdruck bringen kann. Im ethischen Erkennen, so kann man kurz gefasst sagen, liegt eine epistemische Vulnerabilität, die gleichzeitig eine emotionale Vulnerabilität ist. Dass dieser Begriff dennoch weder bei Kierkegaard noch bei Jaspers eine zentrale Rolle spielt, mag an beider vorwiegendem Interesse an geistigen Phänomenen liegen. Vulnerabilität und Verletzlichkeit dagegen sind Begriffe, die die körperliche Wunde assoziieren lassen. Diesen Bereich des Organischen aufgreifend akzentuieren aber zum Beispiel Hans Jonas und auch Emanuel Lévinas das Kontinuum der körperlichen, emotionalen und geistigen Vulnerabilität. Bei Lévinas ist die Verwundbarkeit mit der Sensibilität identisch, die wiederum als »Ausgesetztheit gegenüber dem Anderen« beschrieben wird. 15 Das Bild, das Lévinas damit von der Beziehung des Erkennenden zum Anderen zeichnet, betont nun zwar sicherlich die Rolle des Anderen und die mit dieser Rolle einhergehenden Ansprüche an den Erkennenden stärker als es die Entwürfe von Kierkegaard und Jaspers tun. Ihnen allen gemein ist aber die Annahme, dass es eine vorgeordnete Forderung der Zuwendung zum Anderen und zur Kommunikation mit dem Anderen gibt. Diese Zuwendung beginnt bei Lévinas im Physischen und der physischen Verwundbarkeit, wie er in seiner Ausdeutung der »Sensibilität« deutlich macht. Auch Jonas spürt dem Phänomen der Ambivalenz von Selbstbehauptung und Angewiesenheit bis in den Bereich des Organischen 15
Lévinas, Jenseits des Seins, S. 170. A
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nach, wenn er zum Beispiel schon die einfachsten Formen des Stoffwechsels als Ausdruck dieses Wechselspiels auffasst. Dieses angenommene Kontinuum von der körperlichen zur geistigen Verletzlichkeit ermöglicht es ihm außerdem, nicht im von Verzweiflung bedrohten Erwachsenen, der die Suche nach Einsicht aus den Augen verlieren kann, das paradigmatische Beispiel für den Menschen zu sehen, dem es zu helfen gilt, sondern im Neugeborenen, das in seiner körperlichen Ausgesetztheit und Angewiesenheit zum primären Beispiel für die Forderung des Ethischen wird. 16 Vulnerabilität ist also Hilfsbedürftigkeit, und zwar zunächst im epistemischen Sinn der Nicht-Beantwortbarkeit der Frage nach dem, was eine zweifellos dem Guten folgende Handlung ist. Dem Begriff des ethischen Erkennens folgend ist jeder Erkennende in dieser Hinsicht hilfsbedürftig. Die Kommunikation mit dem Anderen ist die Antwort auf diese Hilfsbedürftigkeit im Erkennenden selbst und im Anderen. Diese epistemische Vulnerabilität ist aber auch eine emotionale Verletzlichkeit, weil Erkennen als ethisches Erkennen besorgtes Bemühen und hoffnungsvolles Sich-Öffnen bedeutet. Diese auf Erkennen gerichteten Emotionen können enttäuscht und missbraucht werden, weil sie auf Entgegenkommen und auf den Austausch angelegt sind. Sie zu zeigen heißt, sich emotional verletzbar zu machen. Umgekehrt bedeutet die Verbindung von emotionaler Vulnerabilität und ethischem Erkennen aber auch, in der Verletzbarkeit anderer diesen Kern des ethischen Weltbezugs wahrnehmen zu können. Wer emotional verletzbar oder verletzt ist, der konstituiert ein Sollen, das Hilfe in Form einer reziproken emotionalen Antwort fordert, das heißt, er benötigt und fordert den Austausch von Frage und Antwort mit der damit einhergehenden Zuwendung und Anerkennung, um in seiner emotionalen Verletzbarkeit auf das Fragen nach dem Ethischen bezogen sein und bezogen bleiben zu können. Und schließlich ist, mit Jonas gesprochen, auch die körperliche Ausgesetztheit eine Form der in der epistemischen Verletzbarkeit kulminierenden Vulnerabilität des Menschen. Auch sie kann in einem ersten Schritt als Anfrage an die Umwelt verstanden werden, wie eine Entwicklung zum gemeinsam für gut Befundenen möglich sein kann, das sich im Bereich des Physischen als Anfrage nach Hilfe bei der Er16
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Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt a. M. 2003, S. 240–242.
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möglichung der körperlichen Existenz zeigt. In einem zweiten Schritt lässt sich außerdem sagen, dass diese Anfrage auch als Anfrage zur Herstellung der Bedingungen von emotionalem und epistemischem Austausch verstanden werden kann, so dass sich die Frage nach dem Guten der körperlichen Existenz nur als Frage nach dem »Wie« dieser Existenz und nicht nach dem »Ob« stellen kann. Ethisch zu handeln heißt damit viertens, die eigene und die Vulnerabilität anderer in epistemischer, emotionaler und physischer Hinsicht wahrzunehmen und als ein Sollen zu begreifen, das Hilfe, Zuwendung und Kommunikation fordert.
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Die Möglichkeit der Selbsttäuschung und der Primat des Verdachts
Mit den so gewonnenen Bestimmungen des Ethischen ist eine Orientierung erreicht für die Frage, woran sich ethisches Handeln im Modell des ethischen Erkennens ausrichten soll und wodurch es sich auszeichnet. Ethisches Handeln ist ein Handeln, das als Anfragen nach dem Guten verstanden werden kann, das sich darin an sich selbst wie an Andere richtet und nach dem Guten auch der Anderen fragt. Es ist dabei von einer Balance aus Hoffnung und Angst getragen und nimmt diese Vulnerabilität bei sich und anderen als ein Sollen wahr, das Hilfe und Zuwendung fordert. Es würde allerdings dem Impetus und dem Grundanliegen von Kierkegaard ebenso wie von Jaspers widersprechen, wenn man diese Bestimmungen als im erscheinenden Handeln eindeutig zu identifizierende Eigenschaften verstehen würde, weil damit durch die Hintertür wiederum Ethik zu einem Geschäft des Aussagens und Urteilens würde. Wenn Ethik Anfragen bleiben soll, können die Bestimmungen des Ethischen nur als allgemeine, orientierende Begriffe genommen werden, bei denen die Frage, ob sie in einem konkreten Fall zutreffen, lediglich Vermutung, nicht aber Gewissheit sein kann. Es gibt also einen immer nur vorläufig und interpretatorisch zu füllenden Raum zwischen den allgemeinen Bestimmungen des Ethischen und dem konkreten Handeln, und die Ethik der Angewiesenheit und Vulnerabilität ist zugleich eine hermeneutische Ethik. Ins Alltägliche gewendet lässt sich so sagen, dass sich beispielsweise hinter jeder vermeintlich selbstlosen Handlung doch SelbstbezoA
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genheit verbergen kann und zwar sowohl bei den eigenen wie auch bei den Handlungen anderer. Die existenzphilosophische Ethik Kierkegaards und Jaspers’ ist in dieser Hinsicht eine »Hermeneutik des Verdachts«, die das Nachfragen fordert und den Konflikt von Meinungen ernst nimmt, ohne aber damit den Bezug auf allgemein formulierte Normen des Ethischen aufzugeben. 17
XI Das Beispiel Mit diesem Caveat im Hinterkopf lässt sich nun auch konkreter, in allmählicher Annäherung an die anfangs eingeführte Situationsbeschreibung, die Frage nach dem Zusammenhang von Emotion und Ethik angesichts von Hilfsbedürftigkeit und Vulnerabilität stellen. Wer ethisch reagiert und handelt, wird die Wahrnehmung von Hilfsbedürftigkeit als ein Sollen wahrnehmen, dass unangenehm sein kann, weil es bedeuten kann, aus den eigenen Plänen und dem eigenen Trott heraustreten zu müssen. Wenn die Situation dilemmatisch ist, weil gleichzeitig mehrere Forderungen zum Helfen an mich gerichtet sind, die einander entgegenstehen, dann wird ein Augenblick des Abwägens nötig, in dem aber nicht der prinzipielle Wert des Helfens in Frage steht, sondern lediglich, bei welcher Handlungsvariante die Dringlichkeit des Helfens größer zu sein scheint. Diesen Weg wird man mit guter Hoffnung beschreiten können. In Bezug auf den oben eingeführten Fall kann dies die Hilfe für das Kind sein, dessen unmittelbare vulnerable Präsenz mir für mich unabweisbar erscheint, während die Folgen für die Firma dagegen sehr viel ungewisser sind und weniger direkt und weniger exklusiv von meinen eigenen Handlungen abhängen. Es kann aber auch der Versuch sein, den Zug zu erreichen, wenn ich diese Folgen doch für andernfalls unabwendbar halte und dem Kind vielleicht genügend Selbstvertrauen zutraue, auch noch einen zweiten Passanten anzusprechen. Immer wird die Handlungsoption aber begleitet sein von der Möglichkeit und dem Verdacht, sich getäuscht zu haben. So kann man sich im geschilderten Fall wie gesehen fragen, ob ich mir vielleicht nur Den Begriff der »Hermeneutik des Verdachts« hat Paul Ricœur für die Ansätze von Marx, Freud und Nietzsche geprägt. Vgl. ders., Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1969, S. 49.
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vortäusche, dass eine spätere Zugfahrt zwingend die Insolvenz zur Folge hat, um meine übliche Morgenroutine nicht unterbrechen zu müssen. Ebenso mag auch die Art der Hilfe, die das Kind benötigt, nicht so eindeutig und alternativlos sein, wie es scheint. Auch wenn deshalb die Frage, in welcher Form das Kind vulnerabel ist und Hilfe benötigt, schnell und deutlich zu beantworten zu sein scheint, gibt es auch in Fällen wie diesen einen Spalt des Hermeneutischen, der eine Rückversicherung über die Richtigkeit des eigenen Handlungsimpulses verlangt. Diese unabwendbare Befürchtung, der Forderung des Ethischen nicht Genüge tun zu können, ist existenzphilosophisch gesehen nicht ethischen Dilemma-Situationen vorbehalten, sondern findet sich in jedem Versuch, eine Situation ethisch angemessen zu beschreiben und ihr gerecht zu werden. Der hermeneutische Spielraum, der zwischen abstrakter Norm und konkretem Geschehen vermittelt, ist ein Raum der Unsicherheit und damit auch der potentiellen Schuld.
XII Schluss Es lässt sich festhalten, dass es in der existenzphilosophischen Rekonstruktion der conditio humana ethisch geforderte Gefühle gibt: Das geforderte Wagnis der Offenheit und Zuwendung geht mit der emotionalen Mischung aus Hoffnung und Sorge einher. In dieser Hinsicht gibt es eine Parallele zwischen Tugendethik und existenzphilosophischer Ethik. Das Begründungsproblem, vor dem die Tugendethik steht, versucht die Existenzphilosophie zu lösen, indem die geforderte Emotionalität nicht als vom Erkennen unabhängige Struktur verstanden wird, sondern als die emotionale Seite des Erkenntniswagnisses. In den Bedeutungsspektren von Begriffen wie Wagnis, Offenheit oder Bezogenheit zeigt sich diese Doppelung von Erkenntnisinteresse und Emotion. Im Rahmen dieser Metaphysik können Emotionen zum Handeln motivieren, allerdings nicht im Sinn einer nach dem Modell der causa efficiens verstandenen Ursache, sondern als körperlich-emotionale Seite des Angesprochen- und Gefordertseins. Emotionen ersetzen, existenzphilosophisch verstanden, nicht das Verstehen und Urteilen, sondern sie sind Teil des unabschließbaren Versuchs des Verstehens und Urteilens. Das zum Handeln motivierende Gefühl ist in diesem Sinn A
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selbst ein »An-fühlen«, ein Herantasten an etwas anderes, um das es im Gefühl und im Verstehen geht. 18 So lässt sich dem unmittelbaren Impuls, dem bittenden Kind zu helfen, ein ethischer Wert zusprechen, weil in ihm die erste Form des Verstehens gesehen werden kann. Der Impuls ist die Antwort auf die im Kind wahrgenommene ethische Forderung zu helfen. Dieser Impuls und diese erste Annahme kann in Frage gestellt und geändert werden, auch jede Infragestellung aber ist von der in diesem Fragen zum Ausdruck kommenden Zuwendung und Offenheit emotional gefärbt. Man kann diese Beschreibung des Emotionalen im ethischen Erkennen auch als tugendethischen Ansatz lesen, wenn man die zwischen den Polen von Hoffnung und Sorge aufgespannte Zuwendung als ethisch positive, zu befördernde Tugend auffasst. Zwei Modifikationen an einer solchen Parallelisierung sind jedoch nötig. Erstens ist die »Tugend« der offenen Zuwendung existenzphilosophisch gesehen doppelbödig. Das, was mir als offene Zuwendung erscheinen mag, kann immer auch der Deckmantel ganz anderer Haltungen sein. Es kann deshalb keinen festen Kriterienkatalog des Tugendhaften geben, dessen Erfüllung die Tugendhaftigkeit sicherstellt. Und zweitens ist die Tugend der Zuwendung keine Emotion, die als solche mittels Erziehung (oder gar direkter medizinischer Intervention, wie es von einigen Bioethikern im Rahmen der Debatte um das sogenannte »Enhancement« gefordert wird 19 ) erzeugt werden kann. Weil die ethische Emotionalität Teil des ethischen Erkenntnisstrebens ist, ist sie notwendigerweise gegenüber jedem Akt der festlegenden Herstellung zum Widerspruch befähigt und berechtigt. Die existenzphilosophisch gedachte ethische Emotionalität ist in diesem Sinn nicht so sehr eine bestimmte Tugend, sondern vor allem anderen der vom Bewusstsein der Möglichkeit des Fehlgehens begleitete Versuch, Vulnerabilität und Hilfsbedürftigkeit wahrzunehmen und ihnen gerecht zu werden.
So formuliert es Carola Meier-Seethaler, Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft, München 1998, S. 249. 19 Vgl. Ingmar Persson/Julian Savulescu, Unfit for the Future. The Need for Moral Enhancement, Oxford 2012. 18
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Vorbemerkung
Der Begriff der moralischen Verständigung kann in zwei Weisen verstanden werden: Einerseits als moralische Selbstverständigung aus der Perspektive der ersten Person Singular, einer Person, die für sich ein Verständnis dessen zu erreichen sucht, was sie selbst als moralisch für sich geltend anzuerkennen bereit sein sollte und ggf. auch anderen gegenüber geltend machen könnte. Freilich bedeutet die grammatische Singularität der ersten Person nicht, dass man sich eine solche Person als solipsistisch auf sich allein gestellt vorstellen dürfte; in der Regel sehen wir uns, wenn wir uns in der Perspektive der ersten Person Singular über das, was wir als moralisch verbindlich anzuerkennen haben, zu verständigen suchen, auf moralische Orientierungsangebote und Identifikationseinladungen angewiesen, die im Namen einer ersten Person Plural, eines Wir, einer moralischen Gemeinschaft an uns herangetragen werden. 1 Zum anderen kann moralische Verständigung von vornherein aus der Perspektive der zweiten Person (Singular oder Plural) verstanden werden und dementsprechend auch problematisch werden – aus der Position des Adressaten der Rede eines Anderen oder mehrerer Anderer, aus einem Antwortverhältnis in der Begegnung mit einem Du oder einem Ihr: Zwei oder mehrere, die sich zueinander jeweils als zu zweiten Personen verhalten, deren Anspruch sie nicht ausweichen können, suchen sich miteinander zu verständigen. Sie müssen versuchen, sich miteinander zu verständigen, weil oder sofern sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie sich in entscheidenden Fragen offenbar nicht längst einig sind, und in dieser Uneinigkeit ein Problem sehen, weil sie fürchten müssen, dass ihnen selbst oder Dritten Unrecht Ein Beispiel für ein derartiges inklusives »Wir« findet sich etwa in Harry G. Frankfurt, »What we are morally responsible for«, in: ders., The importance of what we care about, Cambridge 1988, S. 95–103.
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getan wird, indem Handlungen ihnen aufgezwungen oder abverlangt werden, die sie für moralisch falsch halten. Beide Formen moralischer Verständigung haben ihre Notwendigkeit und Berechtigung. Es wäre verfehlt, eine gegen die andere ausspielen zu wollen. Doch die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden Typen von Verhältnissen, in denen moralische Verständigung gesucht wird, dem Selbstverhältnis und dem Verhältnis zu anderen, erweist sich als komplex. Während moralische Normen traditionell meist als etwas angesehen wurden, was den Adressaten der Norm, denen bestimmte Handlungen oder Unterlassungen abverlangt werden, von anderen zugemutet wird – in der Regel im Namen einer höheren, unbezweifelbaren Autorität – und über dessen Inhalt und Geltungsgründe man nur im Gespräch mit anderen, die in der Gemeinschaft, der man angehört, als moralische Autorität anerkannt werden, Aufschluss erlangen kann, 2 ist die Moralphilosophie der Moderne, insbesondere die deutschsprachige Moralphilosophie seit Kant, geprägt durch die Einsicht in die Irreduzibilität der subjektiven Perspektive der ersten Person3 und dementsprechend durch ein besonderes Augenmerk für die Notwendigkeit und die Schwierigkeiten moralischer Selbstverständigungsprozesse. Unter der Perspektive, die die im Folgenden diskutierte Frage nach dem Scheitern moralischer Verständigungsversuche eröffnet, erscheint es nicht ohne Ironie, wie stark die Privilegierung der Selbstverständigung bei den Moralphilosophen der Moderne von der Erfahrung des Scheiterns intersubjektiver Verständigungsversuche ausgeht. Vielleicht am extremsten kommt dies bei Kierkegaard heraus: »[J]eder soll sich mit ›den anderen‹ nur vorsichtig einlassen und wesentlich nur mit Gott oder mit sich selbst sprechen«. 4 Moralische Verständigung mit »den anderen« zu suchen, erscheint, so gesehen, bereits als AkkomodaVgl. Richard Raatzsch, Autorität und Autonomie, Paderborn 2007. Vgl. Dieter Henrich, »Ethik der Autonomie«, in: ders., Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, S. 6–56, insbes. S. 50 f. (zur Bedeutung Fichtes für die Sittlichkeitskonzeptionen des deutschen Idealismus). Für eine umfassendere Darstellung der komplexen Genealogie der kantischen, die Autonomie des Subjekts ins Zentrum rückenden, Moralphilosophie vgl. Jerome B. Schneewind, The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998. 4 Søren Kierkegaard, »Zur Widmung an ›jenen Einzelnen‹«, in: ders., »Der Einzelne«. Zwei »Anmerkungen« bezüglich meiner schriftstellerischen Tätigkeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 14. 2 3
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tion, als Verrat an der Wahrheit, am Eigentlichen, am Göttlichen. Dabei ist die Sorge um den Nächsten – »jeden einzelnen« 5 – für Kierkegaard durchaus entscheidend. So ist er sich auch sicher, seinen Mitmenschen etwas für sie Wesentliches zu sagen zu haben; nur nicht in dem Sinn, dass er es für sonderlich aussichtsreich oder auch nur wünschenswert gehalten hätte, eine moralische Verständigung mit seinen Mitbürgern und Mit-›Christen‹ zu suchen. Unter diesen Voraussetzungen kann ein Verständigungsversuch nur scheitern. Für Kierkegaard endet er zwangsläufig in der »Unwahrheit«. Adorno – auch ein Leser Kierkegaards – konkretisiert das Problem in seinen Minima Moralia: Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, damit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, dass sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück Verrat; kein Gedanke ist immun gegen seine Kommunikation, und es genügt bereits, ihn an falscher Stelle und in falschem Einverständnis zu sagen, um seine Wahrheit zu unterhöhlen. 6
Selbst Hannah Arendt – die ein emphatischeres Verständnis vom menschlichen Miteinander hegte und für die das Faktum der Pluralität so grundlegend war, dass sie sich gar nicht mehr als Philosophin verstehen wollte, sondern nur noch als politische Theoretikerin 7 – geht in ihrer Vorlesung Über das Böse davon aus, dass das »moralische Verhalten […] vor allem vom Umgang des Menschen mit sich selbst« abhängt: »Er darf sich selbst nicht widersprechen, indem er zu seinen Gunsten eine Ausnahme macht; er darf sich nicht selbst in eine Lage bringen, in der er sich verachten müßte.« 8 Der Ansatz beim Selbstverhältnis des Individuums ist bei Arendt nicht allein aus der Erfahrung des Problematischen etwaiger Versuche zur Verständigung mit ihren Zeitgenossen in moralischen Fragen motiviert, sondern positiv bestimmt durch die Annahme eines privilegierten Zugangs des Subjekts Ebd., S. 20. Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 1986, S. 21. 7 Vgl. ihre Selbstcharakterisierung in dem berühmten Fernsehgespräch »zur Person« mit Günter Gaus (NDR, 28. 10. 1964): http://www.youtube.com/watch?v=Ts4IQ2g Q4TQ (Stand: 6. 10. 2012); Druckfassung in: Hannah Arendt, Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, 3. Aufl., München 1998, S. 44 f. 8 Hannah Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik, 2. Aufl., München 2007, S. 34 f. 5 6
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zu sich selbst: Anderen kann ich leicht etwas vormachen, und es mag auch oft Gründe geben, warum ich anderen gegenüber anders – besser, respektabler – erscheinen will, als ich in Wahrheit bin; mir selbst aber kann ich über mich nichts vormachen. 9 Deshalb ist nicht die faktische Anerkennung durch die anderen – die mir zu Unrecht zuteil werden mag oder auch zu Unrecht mir nicht in dem mir gebührenden Maß zuteil werden mag – entscheidend, sondern allein die letztlich nur in der Intimität der ersten Person Singular ehrlich zu beantwortende Frage, ob ich irgendeinen Grund habe, mich selbst zu verachten, oder prospektiv: ob ich, wenn ich mich so oder so verhalten würde, dadurch in eine Lage käme, in der ich mich selbst verachten müsste. Arendt unterstreicht, wie sehr »gerade die wenigen moralischen Sätze, die angeblich alle besonderen Vorschriften und Gebote zusammenfassen, wie etwa ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ oder ›Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem Andern zu‹« und schließlich auch Kants kategorischer Imperativ »das Selbst und damit das Zwiegespräch des Menschen mit sich selbst zum Maßstab« machen. 10 Das erscheint nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, »weil von der Moral«, wie Arendt mit Recht bemerkt, eigentlich »angenommen wird, dass sie das Verhalten des Menschen gegenüber Anderen regelt«. 11 In der Tat gehen wir in der Regel davon aus, dass es in der Moral im Wesentlichen um das Verhalten der Menschen gegenüber anderen Menschen geht. 12 Es mag darüber hinaus noch andere Dimensionen Vgl. ebd. – Kant war bekanntlich, was die Möglichkeit der Selbsttäuschung angeht, skeptischer; vgl. seine Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, B 26: »[E]s ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was außer dem moralischen Grunde der Pflicht mächtig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspiegelung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem fälschlich angemaßten edlern Bewegungsgrunde schmeicheln, in der Tat aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hinter die geheimen Triebfedern niemals völlig kommen können, weil, wenn vom moralischen Werte die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene innere Prinzipien derselben, die man nicht sieht.« (Kant’s Gesammelte Schriften, AA/V, S. 407). 10 Arendt, Über das Böse, S. 48. 11 Ebd., S. 48 f. 12 Vgl. bereits die Bestimmung der Gerechtigkeit bei Platon als »allótrion agathón« (Politeia 367c). In der aktuellen Diskussion werden die intersubjektiv erhobenen und 9
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unseres Verhaltens geben, die unter Umständen zum Gegenstand einer moralischen Überlegung und eines moralischen Regelungsversuchs werden können, etwa die kontrovers diskutierten »Pflichten gegen sich selbst«, 13 religiös begründete Pflichten, die das Verhältnis des Einzelnen zu Gott oder zu den Göttern betreffen, 14 oder auch Pflichten gegenüber nicht-menschlichen Anderen wie etwa Tieren. 15 Doch wer Wert darauf legt, dass es solche Pflichten gebe, die nicht auf unsere Ansprüche gegenüber anderen Menschen oder anderer Menschen uns gegenüber reduziert werden könnten, müsste zumindest erklären können, wie wir überhaupt von solchen Pflichten wissen und inwiefern wir sie als Pflichten verstehen können: Wie soll der Unterschied zwischen einem pflichtgemäßen und einem pflichtwidrigen Verhalten sich gegebenenfalls für diejenigen, die da zu etwas verpflichtet sein sollen oder sich subjektiv verpflichtet fühlen, bemerkbar machen, wenn nicht durch eine Form von intersubjektiver Moralkommunikation? Gegenüber dem methodischen Solipsismus der modernen Vernunftmoral wie der vernunftskeptischen Gefühlsmoral von Hume bis Schopenhauer wurde in der neueren moralphilosophischen Diskussion verschiedentlich – und im Übrigen von sehr unterschiedlichen Ansätzen ausgehend – eingewandt, was wir unter Moral verstehen (oder verstehen sollten), könne überhaupt nur aus den Antwortverhältnissen oder Auseinandersetzungen mit einem personalen Gegenüber in der Perspektive der zweiten Person verstanden werden. 16 Die Selbstveranzuerkennenden Forderungen und Verbindlichkeiten ins Zentrum des Moralverständnisses gestellt, u. a. bei Thomas M. Scanlon, What We Owe to Each Other, Cambridge, Mass. 1998 oder Norbert Hoerster, Was ist Moral? Eine philosophische Einführung, Stuttgart 2008. 13 Vgl. Achim Lohmar, »Gibt es Pflichten gegen sich selbst?«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 30/2005, S. 47–66; Paul Tiedemann, »Gibt es Pflichten gegen sich selbst? Ja! Replik auf Achim Lohmar«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 32/ 2007, S. 179–192; Achim Lohmar, »Warum es keine Pflichten gegen sich selbst gibt. Antwort auf Paul Tiedemann«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 32/2007, S. 291–297. 14 Vgl. z. B. Hermann Deuser, Die Zehn Gebote. Kleine Einführung in die theologische Ethik, Stuttgart 2002, insbes. S. 41–49. 15 Vgl. Ursula Wolf, Das Tier in der Moral, Frankfurt a. M. 1990; Norbert Hoerster, Haben Tiere eine Würde? Grundfragen der Tierethik, München 2004. 16 Vgl. – ungeachtet aller Differenzen im Einzelnen – u. a. Peter F. Strawson, Freedom and Resentment, London 1974, insbes. S. 22 f.; Jürgen Habermas, »Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm«, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983, S. 53–125, insbes. S. 58, 67–72, 103; Albrecht WellA
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ständigung und Gewissenserforschung des mit sich selbst allein zu Rate gehenden Moralsubjekts sei allenfalls als abgeleitetes Moment in einem übergreifenden Zusammenhang zu verstehen, der letztlich nur von der Dimension der Intersubjektivität, genauer: vom Anspruch des Anderen im gesellschaftlichen oder existenziellen Miteinander her zu verstehen sei. Die Möglichkeit, dass jemand sich selbst mit der Frage konfrontiert: Was soll ich tun?, und dass er oder sie sich mit dieser Frage nicht an einen anderen wendet, sondern sich auf eigene Faust darüber klar zu werden versucht, was das Gute und das Richtige sein mag, bleibt abgeleitet aus der Erfahrung des moralischen Konflikts, aus der Erfahrung der Alterität der Anderen und der Möglichkeit mehr oder weniger gravierender Differenzen in unseren jeweiligen Ansichten darüber, was wir gut oder richtig finden mögen. 17 Moralpsychologisch steht es übrigens außer Frage, dass wir in die Moral hineinsozialisiert werden durch die Erfahrung, dass es anderen – zunächst unseren Eltern oder Erziehern, aber auch anderen Kindern oder Erwachsenen, mit denen wir es zu tun bekommen – offenbar nicht gleichgültig ist, wie wir uns verhalten, dass sie für uns fühlbare Unterschiede machen zwischen verschiedenen unserer Verhaltensweisen, von denen manche als »gut« ausgezeichnet, andere als »schlecht« verpönt werden. Was da an uns herangetragen wird, ist nicht nur eine Konditionierung zu erwartungskonformem Verhalten. Die Entwicklung eines Moralverständnisses impliziert in der Regel die Ausbildung eigener moralischer Überzeugungen und die Einnahme eines normativ wertenden Standpunkts auch gegenüber dem Verhalten der anderen. 18 Zur Entwicklung eines eigenen Moralverständnisses gehört die Erfahmer, Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 45–49, 134; Ernst Tugendhat, »Wie sollen wir Moral verstehen?«, in: ders., Aufsätze. 1992–2000, Frankfurt a. M. 2001, S. 163–184, insbes. S. 164, 167, 171; Thomas Rentsch, Die Konstitution der Moralität. Transzendentale Anthropologie und praktische Philosophie, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, insbes. S. 83, 94, 155–165, 179–181, 229, 265; Bernhard Waldenfels, Schattenrisse der Moral, Frankfurt a. M. 2006, S. 14, 35, 39–45, 74. 17 Vgl. Stuart Hampshire, Morality and Conflict, Oxford 1983; David O. Brink, »Moral Conflict and Its Structure«, in: Homer E. Mason (Hrsg.), Moral Dilemmas and Moral Theory, Oxford 1996, S. 102–126; Christopher W. Gowans, Moral Disagreement, London 2000; Stephan Sellmaier, Ethik der Konflikte. Über den angemessenen Umgang mit ethischem Dissens und moralischen Dilemmata, 2. Aufl., Stuttgart 2011. 18 Vgl. Jean Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt a. M. 1976.
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rung der Uneinigkeit in moralischen Wertungsfragen selbst mit solchen, die uns in vielem nahe stehen mögen, und zumindest eine gewisse Erfahrung mit Weisen, wie man mit solchen moralischen Differenzen umgehen kann. 19 Die Überlegungen, die im Folgenden entwickelt werden sollen, gehen von der Annahme aus, dass das, was wir unter Moral verstehen, nicht unabhängig von den Antwortverhältnissen und Auseinandersetzungen in der Perspektive der zweiten Person zu begreifen ist, auch wenn der zuweilen erhobene Fundierungsanspruch der moralischen Intersubjektivität für jede Möglichkeit einer subjektiven moralischen Selbstverständigung überzogen erscheinen mag. Die Frage, um die es hier zunächst nur gehen soll, lautet: Was hat es für unser Verständnis dessen, was uns als Moral gilt, zu bedeuten, dass Versuche, eine Verständigung mit anderen in moralischen Fragen zu erreichen, in vielfältiger Hinsicht dem Misslingen ausgesetzt sind?
II
Schwierigkeiten, moralische Verständigung zu erreichen
Das Scheitern moralischer Verständigungsversuche ist eine alltägliche Erfahrung, Grund unzähliger Rechtsstreitigkeiten und zentrales Thema der Literatur, des Theaters und des Kinos – und es ist letztlich der Grund dafür, dass es überhaupt so etwas wie normative Ethik gibt. Denn was ist normative Ethik, wenn nicht jeweils ein Versuch, bestimmte moralische Ansprüche kontrafaktisch als geltend auszuweisen, obwohl die primären Adressaten der betreffenden Ansprüche sich von den dafür vorgetragenen Gründen, so gut sie immer sein mögen, nur zu oft nicht beeindrucken lassen? Die Notwendigkeit, die Geltung bestimmter normativer Forderungen zu begründen und damit das, was als »die Moral« gelten soll, in gewissem Sinn erst herzustellen – oder wiederherzustellen –, ergibt sich jeweils erst, wo bestimmte Selbstverständlichkeitsannahmen, von denen wir ausgegangen waren, Schiffbruch erleiden. Die Beispiele sind bekannt und ließen sich beliebig vermehren: (1) Ein Kind versucht im Sandkasten, einem anderen Kind gegenüber geltend zu machen, dass es doch seine Schaufel sei, die das andere Vgl. David B. Wong, »Coping with Moral Conflict and Ambiguity«, in: Ethics 102/ 1992, S. 763–784.
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Kind ihm gerade weggenommen hat, und bekommt dafür die Schaufel über den Kopf gezogen – zur Demonstration, wer hier der Stärkere ist. (2) Zwei, die einander in Liebe zugetan sind oder es zumindest einmal waren, haben einander versprochen, dass Entscheidungen, die beide betreffen, auch gemeinsam getroffen werden sollen. Das lässt sich im Alltag nicht durchhalten. Sie macht ihm Vorhaltungen. Er findet das ungerecht. Sie klagt, er verstehe sie nicht. (3) Eine Frau wird schwanger. Das passt nun gerade gar nicht. Ihr Job ist befristet und mit Kind würde sie kaum einen Anschlussvertrag bekommen. Auf den Mann ist nicht zu bauen. Alles, worauf sie in den letzten Jahren hingearbeitet hat, droht zunichte zu werden. Sie entschließt sich zur Abtreibung. Das Gesetz verlangt, dass sie eine Bescheinigung von einer anerkannten Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle vorlegen muss. 20 Die Beraterin versucht, ihr zu verdeutlichen, »daß das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und daß deshalb nach der Rechtsordnung ein Schwangerschaftsabbruch nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, daß sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt«. 21 Aber was ist die zumutbare Opfergrenze? Auch wenn die Beraterin und die Schwangere in dieser moralisch wichtigen Frage nicht zu einer übereinstimmenden Einschätzung gelangen, muss sie der zur Abtreibung Entschlossenen die geforderte Bescheinigung ausstellen. (4) Eine andere Frau wird schwanger und ist soweit zufrieden, wird jedoch bei ihrer Frauenärztin darauf hingewiesen, dass die Nackentransparenz im Ultraschall bedenklich groß aussah; eine Behinderung könne nicht ausgeschlossen werden. 90 % der betroffenen Paare entscheiden sich, wenn sie mit so einem Befund konfrontiert sind, für eine Abtreibung. Die gesellschaftliche Akzeptanz für Abtreibungen bei Verdacht auf genetische Anomalien ist erheblich größer als ohne einen solchen Befund. Ja, die Schwangeren sehen sich zunehmend einem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt, der ihnen die Abtreibung voraussichtlich behinderter Kinder nahelegt, und dies, obwohl keinesStGB § 218a, Abs. 1, Nr. 1, in Verbindung mit StGB § 219 (in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. 11. 1998, zuletzt geändert am 25. 6. 2012). 21 StGB § 219; vgl. auch SchKG § 5 (Schwangerschaftskonfliktgesetz vom 27. 7. 1992, zuletzt geändert am 22. 12. 2011). 20
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wegs eine Mehrheit derjenigen, die Abtreibung grundsätzlich für moralisch verwerflich halten, meint, Menschen mit Trisomie 21 oder anderen genetischen Anomalien dürfe man straflos umbringen. Warum scheint es so viel schwieriger, für das Lebensrecht eines voraussichtlich behinderten Menschen zu argumentieren, als für das Lebensrecht eines voraussichtlich ›normalen‹ Kindes? Und warum klingen die moralischen Stellungnahmen derjenigen, die von der Frage nach der Möglichkeit, dass das Leben mit dem behinderten Kind demnächst und fortan ihr eigenes Leben sein könnte, nicht unmittelbar betroffen sind, häufig signifikant anders als die Entscheidungen derjenigen, die selbst von der Frage betroffen sind? (5) Der dänische Zeichner Kurt Westergaard, der sich stets als »demokratischen, toleranten und freundlichen Menschen« verstanden hat, 22 kann beim besten Willen nicht verstehen, warum 2006 große Teile der muslimischen Welt mit einer derartigen Empörung auf seine Karikatur des Propheten Mohammed mit einem als Bombe zu erkennenden Turban 23 reagierten und er seither unter ständigem Polizeischutz leben muss. Nachdem 2008 ein Mordanschlag muslimischer Eiferer auf den Zeichner vereitelt worden war, erklärte Westergaard, er sei »zornig, dass eine gewöhnliche, alltägliche Handlung wie seine Zeichnung zu einem derartigen Wahnsinn führe«. 24 Nachdem er 2010 einen weiteren Mordanschlag knapp überlebt hatte, wurde ihm der Potsdamer M100-Medienpreis »als Anerkennung für sein unbeugsames Eintreten für die Meinungs- und Pressefreiheit« sowie der Leipziger Preis für die Freiheit und Zukunft der Medien verliehen. Der in Leipzig mit Westergaard ausgezeichnete afghanische Journalist Sayed Yaqub Ibrahimi kritisierte dessen umstrittene Karikatur als »extremistisch«. Auch die iranische Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi und ihr Landsmann, der Journalist und Regimekritiker Akbar Ganji, der den Preis 2007 bekommen hatte, protestierten gegen die Auszeichnung Zitiert nach Kai Müller/Christian Helten, »Kurt Westergaard. Zeichnen der Zeit«, in: Der Tagesspiegel, 8. 9. 2010; http://www.tagesspiegel.de/politik/portraet-kurt-wester gaard-zeichnen-der-zeit/1929138.html (Stand: 5. 2. 2013). 23 Abbildung unter: http://www.welt.de/politik/article1667728/Mohammed-als-Karika tur.html (Stand: 5. 2. 2013). 24 Zitiert nach Spiegel online vom 12. 2. 2008: »Dänemark: Mordplan gegen Mohammed-Karikaturisten aufgedeckt«; http://www.spiegel.de/politik/ausland/daenemarkmordplan-gegen-mohammed-karikaturisten-aufgedeckt-a-534660.html (Stand: 5. 2. 2013). 22
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für Westergaard. Ebadi sah sich durch die Karikaturen in ihren religiösen Gefühlen verletzt. Ganji befürchtete, mit seiner Teilnahme seine Oppositionsbemühungen im Iran zu gefährden. 25 (6) Eine Regierung tritt die Menschenrechte der von ihr beherrschten Bevölkerung mit Füßen. Dagegen regt sich Protest, der brutal niedergeschlagen wird. Andere sehen sich aufgefordert, den Misshandelten und Entrechteten zu Hilfe zu kommen, wenn es sein muss, mit militärischer Gewalt. Der Fall wird im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen diskutiert. Die Vertreter Russlands und Chinas verweigern ihre Zustimmung zu einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staats, zumal man sich der Reinheit der humanitären Motive auf Seiten der Befürworter einer Intervention alles andere als sicher sein könne. So fadenscheinig diese Einwände sein mögen, so unklar erscheint auf der anderen Seite, inwiefern eine militärische Intervention fremder Staaten dem Schrecken ein Ende machen oder ihm im Gegenteil eine neue Dimension hinzufügen würde. Die Regierung eines Landes, die sich in solcher Lage dagegen entscheidet, eine militärische Intervention zu befürworten – sei es aus Sorge um die Zivilbevölkerung des betroffenen Landes, sei es aus Rücksicht auf die Familien ihrer eigenen Soldaten, sei es aus Rücksicht auf die kriegsmüde öffentliche Meinung in ihrem Land und auf die eigenen Aussichten, wiedergewählt zu werden, sei es aufgrund rechtlicher Beschränkungen, unter denen sie über Streitkräfte ausschließlich für Verteidigungszwecke verfügt, sei es aus Sorge um Entwicklungschancen in den Beziehungen ihres Landes zu Drittstaaten, die dem Einsatz kritisch gegenüberstehen –, und sich der Stimme enthält, sieht sich moralischer Kritik ausgesetzt: Sie lasse es an der Solidarität mit den Opfern eines mörderischen Regimes fehlen und sei kein verlässlicher Partner, sie habe aus Rücksicht auf zwielichtige Interessen die Sache der Freiheit verraten, usw. Wir haben es hier nicht bloß mit der leidigen Erfahrung der faktischen Beschränktheit der idealiter zunächst als unbegrenzt unterstellten Reichweite unserer moralischen Ansprüche zu tun, die etwa daraus resultiert, dass die Anderen, deren Interessen oder Überzeugungen dem von uns jeweils für richtig Gehaltenen im Weg stehen, noch Vgl. dpa, »Leipziger Medienpreis für Kurt Westergaard«, http://www.focus.de/ kultur/diverses/medien-leipziger-medienpreis-fuer-kurt-westergaard_aid_560294.html (Stand: 5. 2. 2013).
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nicht soweit sein mögen, das unserer Überzeugung nach Richtige endlich auch richtig zu erkennen. So gesehen wären die Schwierigkeiten, moralische Verständigung zu erreichen, lediglich ein Problem einer Übergangszeit, in der die Moral noch nicht so umfassend erkannt und allgemein durchgesetzt ist, wie es von ihrer Idee her eigentlich gefordert wäre. Man müsste die Moral den anderen nur geduldig und hartnäckig genug erklären, dann würden sie es irgendwann auch einsehen. Manche Moralphilosophen haben sich in der Tat so geäußert. Aber das scheint mir falsch. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass die Schwierigkeiten, moralische Verständigung zu erreichen, das zentrale Problem und der eigentliche Ausgangspunkt aller Diskussionen über Moral sind. 26 Gäbe es nicht die vielfach schmerzliche Erfahrung des Scheiterns der Versuche, Zustimmung der oder des Anderen zu dem, was man selbst jeweils für richtig hält, zu erreichen, gäbe es überhaupt keinen Grund, sich über Fragen der Moral und der Moralbegründung den Kopf zu zerbrechen. Eine Moral, die widerspruchslos akzeptiert würde und fraglos gälte, wäre nicht bloß eine erfolgreichere als jede uns bekannte Moral; sie wäre etwas ganz anderes als das, worüber wir sprechen, wenn wir über Fragen der Moral und über Probleme der moralischen Verständigung diskutieren. Freilich: Wenn man dieses Argument akzeptiert, ist noch alles andere als klar, wie die diversen Arten von Widerständen, mit denen moralische Verständigungsversuche sich konfrontiert sehen, sich jeweils zu den Forderungen verhalten, denen sie sich entgegensetzen. Im Folgenden möchte ich einen Ansatz zur Klärung dieser Frage versuchen.
III
Fehlschüsse und Missbräuche
Schon Aristoteles hatte bemerkt: »Es ist leicht, das Ziel zu verfehlen, aber schwer, es zu treffen.« »Richtig handeln kann man nur auf eine Art«, während man »sich auf vielfache Weise verfehlen kann«. 27 Ob Versuche, moralische Verständigung mit anderen zu erreichen, nur auf Vgl. auch Habermas, »Diskursethik«, S. 77: »Moralische Argumentationen dienen […] der konsensuellen Beilegung von Handlungskonflikten.« 27 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106b. 26
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genau eine Weise gelingen können – und welche das gegebenenfalls sein sollte –, ist strittig. Zweifellos aber können sie auf vielfache Weise scheitern. In der Praxis ist das immer wieder verwirrend, mitunter erschreckend, manchmal fatal. In philosophischer Hinsicht dagegen mag es lohnend erscheinen, die Klippen, an denen moralische Verständigungsversuche scheitern können, näher zu analysieren und zumindest versuchsweise auseinanderzusortieren. Methodisch kann man sich dabei zumindest ein Stück weit an dem Vorgehen von John L. Austin orientieren, der in How to Do Things with Words eingehend die Missgeschicke und Hinderungsgründe untersucht, an denen das ordentliche Zustandekommen bestimmter performativer Sprechakte scheitern kann. 28 Moralische Verständigungsversuche sind – was immer sie darüber hinaus noch sein mögen – auf alle Fälle Sprechakte. Sie können auf alle Weisen schiefgehen, wie Sprechakte schiefgehen können. Freilich können sie auch noch auf bestimmte Weisen scheitern, die für andere Sprechakte nicht in Betracht kommen oder die in anderen Arten von Sprechakten nicht diese entscheidende Rolle spielen. So wird es von besonderem Interesse sein, nach diesen moralspezifischen Möglichkeiten des Scheiterns zu fragen.
28 Vgl. John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), hrsg. von James O. Urmson, dt. Bearbeitung von Eike von Savigny, 2. Aufl., Stuttgart 1979, S. 36–45; vgl. auch ders., »Performative Utterances«, in: ders., Philosophical Papers, Oxford 1961, S. 220–239, insbes. S. 224–226, sowie »Performative und konstatierende Äußerung«, in: Rüdiger Bubner (Hrsg.), Sprache und Analysis, Göttingen 1968, S. 140–153. – Die im Folgenden skizzierte Anknüpfung an Austins Lehre von den »Unglücksfällen« (infelicities), denen Sprechakte in unterschiedlicher Hinsicht ausgesetzt sein können, geht davon aus, dass Austin, wenn er meint, Zeuge und Teilnehmer einer »philosophischen Revolution« zu sein (vgl. Zur Theorie der Sprechakte, S. 27), nämlich der durch Wittgenstein eingeleiteten Wende der Philosophie zur Analyse und Reflexion der »normalen Sprache«, es in einem sehr elementaren und zugleich umfassenden Sinn auf die Klärung des »gesamten Sprechakts in der gesamten Redesituation« (wie immer diese jeweils sein mag) abgesehen hat (vgl. ebd., S. 166). Die Beispiele, in denen Austin häufig auf mehr oder weniger institutionalisierte und ritualisierte Interaktionszusammenhänge wie das Heiraten oder die Taufe eines Schiffs rekurriert, sind demnach keineswegs so zu verstehen, als hielte er derartige institutionelle Rahmenbedingungen für konstitutiv für die Möglichkeit, dass mit und durch Sprechhandlungen etwas getan oder erreicht wird; sie erscheinen lediglich zu heuristischen Zwecken besonders naheliegend, weil bei hochgradig institutionalisierten Redesituationen die Erwartungen, was ggf. die Relevanz und die möglichen Folgen einer so oder so vollzogenen Sprechhandlung sein mögen, stärker festgelegt und dementsprechend einfacher überschaubar erscheinen als bei institutionell ungebundenen Sprechhandlungen.
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Bevor man sich an die Arbeit macht, die Möglichkeiten des Scheiterns moralischer Verständigungsversuche zu untersuchen, sollte man sich daran erinnern, dass Austin wiederholt unterstreicht, dass seine »Lehre von den Unglücksfällen« alles andere als erschöpfend entwickelt ist. 29 Vollständigkeit sei für eine Übersicht über die Weisen, wie Sprechakte scheitern können, ohnehin kaum ein sinnvoll anzustrebendes Ziel. Austin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Juristen, die sich professionell ständig mit fehlerhaften Sprechakten auseinanderzusetzen haben, recht erfinderisch sind in der Einführung aller möglichen Klassifikationen für mögliche Fehler und virtuos damit hantieren. 30 Philosophen können an den Unterscheidungen, die in Rechtsstreitigkeiten als relevant geltend gemacht werden, zweifellos in vielen Fällen etwas lernen. Doch Austins Ehrgeiz in der Untersuchung der verschiedenen Weisen, wie Sprechakte scheitern können, beschränkt sich vorerst auf die Einführung von Unterscheidungen, die als begrifflich notwendig sollten eingesehen werden können. Austin unterscheidet zunächst zwischen »Fehlschüssen« (misfires) und »Mißbräuchen« (abuses) und nimmt dann unter den »Fehlschüssen« noch weitere Unterscheidungen vor, von denen einige zur Klärung der Gründe für typische Fälle des Scheiterns moralischer Verständigungsversuche hilfreich sein könnten. 31 Bei der Unterscheidung zwischen »Fehlschüssen« und »Mißbräuchen« handelt es sich offenkundig schon um eine moralische Unterscheidung, insofern der Begriff des Missbrauchs einen moralischen Vorwurf enthält. Klarheit und vielleicht sogar Einigkeit über die Bedingungen der korrekten Anwendung dieser Unterscheidung zu gewinnen, erfordert einen moralischen Verständigungsprozess, der – wie wir wissen – scheitern kann, aber zumindest gelegentlich doch auch zu Ergebnissen führt, durch die wir uns in der Regel für berechtigt halten, mit derartigen Unterscheidungen umzugehen – bis wir gegebenenfalls darauf hingewiesen werden, dass unsere Weise, einen bestimmten moralischen Begriff zu handhaben, dem anderen alles andere als selbstverständlich erscheint.
Vgl. ebd., S. 37; Austin, »Performative Utterances«, S. 226. Vgl. ebd., S. 227; vgl. auch John L. Austin, »A Plea for Excuses«, in: ders., Philosophical Papers, Oxford 1961, S. 123–152, insbes. S. 134–136. 31 Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 38 f. 29 30
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Aber was immer wir im Einzelnen für einen Missbrauch moralischer Begriffe halten mögen – der Begriff des Missbrauchs und die damit vorgesehene Möglichkeit, etwas als Missbrauch moralisch zu problematisieren, scheint in einem gewissen Sinn unverzichtbar zu sein. Wer würde nicht ein gravierendes Problem für Versuche moralischer Verständigung darin sehen, wenn etwas, was wie ein Versuch zu einer moralischen Verständigung aussieht und auch ausdrücklich zumindest von Seiten eines Beteiligten als ein solcher Versuch ausgegeben wird, irgendwie unredlich betrieben wurde: etwa wenn der eine dem anderen nur zum Schein in einer Weise gegenübergetreten ist, als sei er an einer Vertiefung des eigenen Verständnisses dessen, was moralisch von ihm gefordert ist, im Lichte der berechtigten Ansprüche des Anderen interessiert, während er in der Tat nur daran interessiert war, das Vertrauen des Anderen zu erschleichen und ihn zu etwas zu bewegen, wozu der sich niemals hätte bewegen lassen, wenn er dem Anderen gegenüber auf der Hut gewesen wäre? Austins prominentestes Beispiel ist der performative Akt des Heiratens durch Vollzug einer bestimmten, institutionell geregelten und von den dazu qualifizierten Leuten in der richtigen Weise ausgeführten Sequenz von Sprechakten. Man tut nicht viel, man sagt einfach im richtigen Moment »Ja«, schon ist es passiert – und wenn man es sich später anders überlegt, wird die Scheidung teuer. Das rechtswirksame Zustandekommen eines performativen Akts dieser Art kann an einer Reihe von Unzulänglichkeiten auf Seiten der Brautleute, des Standesbeamten oder der Trauzeugen scheitern, die Austin im Einzelnen durchgeht.32 Es kann aber auch daran scheitern, dass die ganze Sache von dem einen der beiden Partner, die da zur Trauung geschritten waren, von vornherein unredlich angegangen wurde, etwa, weil der Mann die Frau und den Standesbeamten darüber getäuscht hat, dass er längst mit einer anderen verheiratet war. Im Fall der Eheschließung führt ein solcher Missbrauch nicht nur zur Aufhebung der Ehe, 33 sondern zieht auch strafrechtliche Sanktionen nach sich. 34 Wie ist es bei einem Missbrauch der kommunikativen Formen, auf die wir zu Zwecken einer moralischen Verständigung mit anderen Vgl. ebd., S. 28, 30, 35, 38 f., 56, 62, 85. BGB § 1314. 34 StGB § 172 (Doppelehe), § 169 (Personenstandsfälschung), §§ 267, 271 (Urkundenfälschung). 32 33
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zurückgreifen? Auch da wird es, obwohl wir uns in einem nicht rechtlich institutionalisierten Rahmen bewegen, Sanktionen geben – vom Abbruch der Beziehung, wo das in dem gegebenen sozialen Rahmen überhaupt machbar ist, bis zum Ausschluss aus weiteren sozialen Kooperationszusammenhängen oder anderen mehr oder weniger empfindlich den Adressaten treffenden Maßnahmen, je nachdem, um was für eine Frage es gegangen sein mag und welche gesellschaftliche Stellung die Beteiligten einnehmen. 35 An der moralischen Verfehlung der Unredlichkeit zeigt sich, dass ein Scheitern eines moralischen Verständigungsversuchs die Beteiligten keineswegs in einen Raum jenseits aller moralischen Verbindlichkeiten fallen lässt, wie etwa die Hobbesianer sich das Scheitern des staatlichen Gewaltmonopols vorstellen als Rückfall in einen »Naturzustand« des ungezügelten Krieges aller gegen alle. Aus dieser Einsicht lassen sich Folgerungen ableiten: Die Moral ›entsteht‹ nicht in Akten der moralischen Verständigung, wie etwa kontraktualistische Moraltheorien es zu erklären versuchten,36 und Sellmaier, Ethik der Konflikte, beschränkt seine Überlegungen aus Gründen der methodischen Beherrschbarkeit von vornherein auf »Konflikte zwischen Gleichgestellten« (vgl. ebd., S. 8, 15). Tatsächlich sind jedoch Machtverhältnisse etwas, wovon wir in keiner Beziehung absehen können. Also sind sie auch nicht etwas, wovon wir meinen könnten, dass es irgendwie verzerrend oder verfälschend die moralischen Verständigungsversuche überlagere und dass man im Interesse eines richtigen Verständnisses dessen, worauf es in der Moral eigentlich ankomme, von ihnen zu abstrahieren versuchen sollte. Es gilt vielmehr, moralische Verständigungsversuche – auch – als eine Weise des Umgangs mit Machtunterschieden zu verstehen. Fingerzeige in diese Richtung gab zuerst Friedrich Nietzsche, vgl. z. B. Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, München, Berlin 1980, S. 259–264, S. 314–316. Aufgegriffen hat diesen Ansatz u. a. Michel Foucault, z. B. in seiner Vorlesung vom 14. Januar 1976, in: ders., Dits et écrits II. 1976–1988, Paris 2012, S. 175–189, dt. »Recht der Souveränität / Mechanismus der Disziplin«, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 75–95; vgl. auch ders., »Usage des plaisirs et techniques de soi«, in: ders., Dits et écrits II, S. 1358–1380, insbes. S. 1374–1378, sowie das wichtige Gespräch mit Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow: »Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit«, in: ders., Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 191–219, insbes. S. 192–194, 200–208. 36 Vgl. etwa David Gauthier, »Warum Kontraktualismus?«, in: Kurt Bayertz (Hrsg.), Warum moralisch sein?, 2. Aufl., Paderborn 2006, S. 189–211. – In der neueren englischsprachigen Diskussion werden als »kontraktualistische« Auffassung der Moralbegründung freilich nicht nur derartige Versuche einer Zurückführung dessen, was als moralisch verbindlich gelten soll, auf die explizite oder implizite Übereinkunft aller 35
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sie hört nicht auf, zu existieren und für uns relevant zu sein, bloß weil immer wieder Versuche, eine moralische Verständigung zu erreichen, scheitern. Eher könnte man sagen: Die Moral zeigt sich in einer gelingenden moralischen Verständigung, jedenfalls ein Stück weit, denen, denen diese Verständigung da gerade gelingt. Und sie zeigt sich interessanterweise selbst noch im Scheitern mancher moralischer Verständigungsversuche, gewissermaßen gegen die Erwartungen und Intentionen derjenigen, die ihre eigenen moralischen Verständigungsversuche erstmal als gescheitert erleben, weil sie nicht so verlaufen, wie erwartet. Freilich muss man dazu erstmal fähig sein, das zu bemerken, dass selbst im Scheitern der direkten Verständigungsintention in gewissem Sinn doch noch so etwas wie eine Chance zur Vertiefung meines oder sogar unseres Moralverständnisses liegen kann. Folgen wir noch ein Stück weiter der austinschen Analyse der »Fehlschüsse«. Austin unterscheidet zwischen »Fehlberufungen« (misinvocations) und »Fehlausführungen« (misexecutions). 37 Wenn man davon ausgeht, dass es »ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten konventionalen Ergebnis geben« müsste, wozu gehört, »daß bestimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Wörter äußern«, 38 dann ist klar, wie das auf Austins Beispiel, die Eheschließung, passt, aber nicht ohne weiteres, wie es auf so etwas wie moralische Verständigungsversuche passen soll. Ist es nicht gerade typisch für moralische Konflikte, dass eine Übereinkunft über ein Verfahren, wie der Konflikt ›ordentlich‹ abzuarbeiten und einem konventionalen Ergebnis zuzuführen wäre, zwischen den Kontrahenten weder besteht noch ohne weiteres erreichbar scheint? Wenn im Rahmen des diskursethischen Projekts einer universal verbindlichen Moralbegründung sehr genaue Vorstellungen davon formuliert wurden, wie ein »praktischer Diskurs« abzulaufen hätte, und die Diskursethiker auch schon im Vorhinein wussten, zu welchem Ergebnis so ein Diskurs am Ende führen sollte, jedenfalls wenn er unter »idealen Kommunikationsbedingungen« würde stattfinden können, 39 Beteiligten verstanden, sondern auch transzendental- oder universalpragmatische Begründungsstrategien, die in der deutschsprachigen Diskussion in der Regel unter dem Label »Diskursethik« firmieren; vgl. dazu Scanlon, What We Owe to Each Other, S. 189–191 und 393 f., Anm. 5. 37 Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 39. 38 Ebd., S. 37. 39 Vgl. etwa Karl-Otto Apel, »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die
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begingen sie eine misinvocation im austinschen Sinn: den Versuch, sich auf ein angebliches Verfahren zu berufen, das es so gar nicht gibt und nie gab. 40 Denn es ist ja nicht nur so, dass moralische Verständigung in den real existierenden Kommunikationsgemeinschaften, in denen wir leben und miteinander streiten und unter Umständen so etwas wie moralische Verständigung versuchen, kaum je nach den im transzendentalen Argument als »immer schon akzeptiert« unterstellten Regeln abläuft 41 (worüber auch Karl-Otto Apel sich im Übrigen keine Illusionen macht 42 ). Das Ideal eines Standes der universalen Versöhnung in einer »alle sprach- und handlungsfähigen Subjekte einbeziehende[n] Kommunikationsgemeinschaft« 43 ist den Möglichkeiten sterblicher Menschen, die jeweils von partikulären sozialen und kulturellen Voraussetzungen, sprachlichen Prägungen sowie tiefgreifend unterschiedlichen Lebenslagen und Problemen ausgehen, schlechterdings unangemessen – zumal wenn daran festgehalten werden soll, dass »die Begründung von Normen und Geboten die Durchführung eines realen Diskurses verlangt und letztlich nicht monologisch, in der Form einer im Geiste hypothetisch durchgespielten Argumentation möglich ist«. 44 Ein Versuch, sich über Fragen der Moral zu verständiGrundlagen der Ethik«, in: ders., Transformation der Philosophie. Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, S. 358–435, insbes. S. 424–426, 429, 434 f.; Robert Alexy, »Entwurf einer Theorie des allgemeinen rationalen praktischen Diskurses«, in: ders., Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2006, S. 219–257, insbes. S. 234–255; Habermas, »Diskursethik«, S. 75 f., 97–99, 103 f. 40 Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 39. 41 Nicht, solange als »Grundregel« für jeden »rationalen praktischen Diskurs« verlangt wird: »(1.1) Kein Sprecher darf sich widersprechen. (1.2) Jeder Sprecher darf nur das behaupten, was er selbst glaubt. […] (1.4) Verschiedene Sprecher dürfen den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen.« (Alexy, »Entwurf einer Theorie des allgemeinen rationalen praktischen Diskurses«, S. 234 f.; vgl. auch Habermas, »Diskursethik«, S. 97–99). 42 Vgl. Apel, »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik«, S. 376 und 426–429. 43 Jürgen Habermas, »Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?«, in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, S. 9–30, hier S. 18. 44 Habermas, »Diskursethik«, S. 78. – Zur Kritik an diesem Ideal vgl. auch Wellmer, Ethik und Dialog, insbes. S. 54 f., 65, 78, 82 f., sowie Gerhard Schönrich, Bei Gelegenheit Diskurs. Von den Grenzen der Diskursethik und dem Preis der Letztbegründung, Frankfurt a. M. 1994, insbes. S. 141 und 161 f. A
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gen, kann auch daran scheitern, dass er von Anfang an unter einer verfehlten Vorstellung davon angegangen wird, was für eine Art von Gespräch dafür erforderlich und was für eine Art von Gespräch bestenfalls möglich sei. Austin kennt noch eine weitere Art von Fehlberufungen, »wo das Verfahren wohl existiert, aber nicht wie versucht angewandt werden kann«, etwa weil die betroffenen Personen und Umstände im gegebenen Fall nicht recht passen für die Berufung auf das Verfahren, auf das man sich beruft. Für Austin war noch evident, dass etwa eine Eheschließung zwischen zwei Männern, die zum Standesamt kommen und erklären, sie wollten einander heiraten, nicht zustande kommen kann, eben weil die Personen und die Umstände nicht recht passen. Er nennt diesen Typ von Fehlberufungen »Fehlanwendungen« (misapplications). 45 Zweifellos gibt es Umstände, unter denen eine moralische Verständigung nicht zustande kommen kann, so dass es eine Fehlanwendung des Begriffs »moralische Verständigung« für die Art von Interaktion wäre, die den Beteiligten in solchen Situationen allenfalls möglich ist. Dazu gehören etwa Versuche, ein Gespräch mit jemandem zu führen, der nicht zuhören kann oder alles sofort wieder vergisst oder aus anderen Gründen nicht bei der Sache ist, oder mit jemandem, der die Sprache nicht verstehen kann, in der er angesprochen wird, dessen Verhalten bei Gelegenheit dieses einseitigen Gesprächs am Ende jedoch als Zustimmung zu einer irgendwie folgenschweren normativen Behauptung interpretiert wird. Ein anderes Beispiel könnten die Gespräche darstellen, die ein Vertreter eines Inquisitionstribunals mit einer Angeklagten wie Jeanne d’Arc führt, eindrucksvoll dargestellt in dem Film La passion de Jeanne d’Arc von Carl Theodor Dreyer (1927): Selbst wenn das Verfahren sich irgendwie als geregelt darstellte und vorgeblich der Ermittlung der religiösen, moralischen oder politischen Wahrheit in der Frage dienen sollte, ob die junge Frau gute Gründe hatte, sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten hat (Hosen tragen, in den Krieg ziehen …), war doch von vornherein klar, dass es sich um ein einseitiges Gewaltverhältnis und ein abgekartetes Spiel handelte. In der chinesischen Kulturrevolution wurden vor vierzig Jahren solche pervertierten Verfahren der öf-
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fentlichen Selbstkritik inszeniert, 46 die natürlich niemand mit dem, was wir »moralische Verständigung« zu nennen bereit wären, verwechseln würde. Immerhin erscheint es bemerkenswert, dass die Gewalthaber sich nicht damit begnügten, ihren Opfern mit dem Stiefel ins Gesicht zu treten, sondern sie dazu nötigten, öffentlich »Besserung« zu geloben. Das fällt nun zweifellos unter die bereits angesprochene Kategorie des unredlichen Missbrauchs. Neben den Fällen, wo es schon im Ansatz verfehlt ist, wenn die Beteiligten oder zumindest eine Seite sich auf ein bestimmtes Verfahren der moralischen Verständigung berufen, während es doch nach Lage der Dinge überhaupt nicht in Betracht kommen kann, gibt es andere Fälle, wo durchaus so etwas wie eine moralische Verständigung stattfindet oder jedenfalls versucht wird, die aber in der Ausführung scheitert an irgendwelchen Fehlern (misexecutions). »Die unternommene Handlung wird dadurch verdorben, daß die Zeremonie durch einen Fehler getrübt wird oder eine Lücke bleibt.« 47 Hier tut sich ein reiches Anwendungsfeld u. a. für Analysen der Argumentationen auf, die in solchen moralischen Verständigungsversuchen von den Beteiligten entwickelt werden, wobei das Instrumentarium, das Julia Dietrich vorgestellt hat, 48 sehr hilfreich sein kann, um Lücken im Argument aufzuspüren, die dazu beitragen mögen, dass ein Versuch, die andere Seite von einer bestimmten moralischen Sicht zu überzeugen, weit weniger überzeugend wirkt, als erhofft. Insbesondere ist bei der Analyse der diversen Formen des Scheiterns an Fehlern der einen oder anderen Seite in der Ausführung eines moralischen Verständigungsversuchs die Unterscheidung zwischen Argumentation und Konfliktlösung zu beachten. Eine gute Argumentation mag unter Umständen zu einer Konfliktlösung beitragen. Aber inwiefern das gelingen mag, hängt allemal von vielerlei Umständen ab, die nicht durch Verbesserungen im Aufbau der Argumentation beeinflusst werden können. Auch wenn man die Vorstellungen der Diskursethiker von den Normen, auf deren Beachtung jeder Teilnehmer eines »praktischen Vgl. Rolf Haubl, »Roter Terror. Gewalterfahrungen während der ›Kulturrevolution‹«, in: Tomas Plänkers (Hrsg.), Chinesische Seelenlandschaften. Die Gegenwart der Kulturrevolution (1966–1976), Göttingen 2010, S. 88–117. 47 Austin, Zur Theorie der Sprechakte, S. 39. 48 Vgl. Julia Dietrich, »Was ist eine ›gute‹ ethische Argumentation?«, in diesem Band. 46
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Diskurses« immer schon verpflichtet sein soll, insgesamt eher als eine Fehlberufung ansieht – weil nicht davon auszugehen ist, dass es ein analog zu juridischen Prozeduren institutionalisiertes ›Standardverfahren‹ der moralischen Verständigung gebe oder auch nur geben könnte –, erweisen sich die von den Anhängern einer allgemeinen Theorie des rationalen praktischen Diskurses entwickelten Regelkataloge 49 im Zusammenhang der Analyse des weiten Spektrums von Fehlausführungen, denen Versuche einer moralischen Verständigung zum Opfer fallen können, immerhin ein Stück weit als heuristisch brauchbar, insofern sie auf verschiedene Aspekte von moralischen Verständigungsversuchen aufmerksam machen, die als normierungsbedürftig angesehen werden, weil man die Erfahrung gemacht hat, dass es für den Fortgang der versuchten Verständigung alles andere als gleichgültig ist, wie die Interaktionsteilnehmer sich in den betreffenden Fragen verhalten mögen. Auch Jürgen Habermas hatte sich schon in seiner Theorie des kommunikativen Handelns auf die Sprechakttheorie bezogen 50 und ihr u. a. die Einsicht entnommen, dass in sprachlichen Interaktionen neben der »semantische[n] Ebene des Sinnverstehens« bezogen auf den »lokutionären Akt« auch eine »pragmatische Ebene des koordinationswirksamen Einverständnisses« bezogen auf den »illokutionären Akt« im Spiel ist und darüber hinaus häufig auch eine »empirische Ebene einer kontextabhängigen Weiterverarbeitung der interaktionsfolgenrelevanten Einigung«, woraus sich ggf. »perlokutionäre Effekte« ergeben mögen: »der Hörer versteht die Äußerung, d. h. er erfaßt die Bedeutung des Gesagten; der Hörer nimmt zu einem mit dem Sprechakt verbundenen Anspruch mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ Stellung, d. h. er akzeptiert das Sprechaktangebot oder lehnt es ab; und in der Konsequenz eines erzielten Einverständnisses richtet der Hörer sein Handeln nach den konventionell festgelegten Handlungsverpflichtungen«. 51 Vgl. Alexy, »Entwurf einer Theorie des allgemeinen rationalen praktischen Diskurses«, S. 234–255. 50 Freilich eher in der searleschen Version einer formalen Systematisierung von Sprechaktklassen als in der eher explorativen austinschen Version, vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1988, S. 389. 51 Ebd., S. 399. Zur Unterscheidung von »lokutionären«, »illokutionären« und »perlokutionären Akten« vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte, 8. bis 10. Vorlesung; dazu auch Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 388–396 (mit gewissen Verzeichnungen insbesondere im Verständnis der Perlokutionen). 49
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Auf jeder dieser Ebenen ist die moralische Verständigung vielfältig vom Scheitern bedroht: Das Verstehen dessen, was der Andere mir sagt, versteht sich keineswegs von selbst; es ist eine Leistung, die jeweils vom Interpreten erbracht werden muss und stets nur so gelingen kann, wie der Interpret dazu jeweils in der Lage sein mag. 52 Dass schon die semantische Ebene des Sinnverstehens für Versuche einer moralischen Verständigung alles andere als triviale Probleme aufwirft, zeigt sich spätestens dann, wenn man sich klar macht, dass die Notwendigkeit, eine Verständigung in moralischen Fragen zu suchen, sich insbesondere in solchen Fällen ergibt, wo diejenigen, die merken, dass sie eine Verständigung suchen sollten, weil sie in einer zumindest für die eine Seite moralisch offenbar nicht gleichgültigen Weise miteinander in einen Konflikt geraten sind, entdecken, dass zu den Voraussetzungen ihres Konflikts gehört, dass ihnen jeweils schon das Vokabular, in dem die andere Seite die für sie moralisch relevanten Aspekte der Situation beschreibt, mehr oder weniger tiefgreifend fremd ist. 53 Auf der »pragmatischen Ebene des koordinationswirksamen Einverständnisses« geht es darum, wie der Hörer zu einem bestimmten, mit dem an ihn adressierten Sprechakt verbundenen Anspruch des Sprechers Stellung nimmt. Das erwartete, erhoffte, erbetene oder geforderte Einverständnis, das ggf. bestimmte Konsequenzen nach sich ziehen würde, kann erteilt oder verweigert, unter Umständen auch eine direkte Stellungnahme etwa durch einen Themenwechsel vermie»Quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur«, wusste schon Thomas von Aquin (Summa Theologiae, I, 75, 5, zitiert nach Hans Robert Jauß, »Rezeption, Rezeptionsästhetik«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer [Hrsg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel 1992, Sp. 997). 53 Zur Schwierigkeit des Verstehens vgl. bereits Friedrich Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977, insbes. S. 88 f.: »In dem Maße, als das menschliche Leben ein und dasselbe ist, unterliegt jede Rede als Lebensakt des Einzelnen den allgemeinen hermeneutischen Regeln. In dem Maße aber, als das menschliche Leben sich individualisiert, ist auch jeder Lebensakt und somit auch jeder Sprechakt, worin jener sich darstellt, bei Andern anderswie beschaffen und anderswie mit seinen übrigen Lebensmomenten zusammenhängend«; dementsprechend sei davon auszugehen, »daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden« (ebd., S. 92). Vgl. auch Donald Davidson, »Radikale Interpretation«, in: ders., Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M. 1990, S. 182–203, sowie ders., »Kommunikation und Konvention«, ebd., S. 372–393. Zu den besonderen Schwierigkeiten und Herausforderungen interkultureller Kommunikation vgl. jetzt auch Edith Broszinsky-Schwabe, Interkulturelle Kommunikation. Missverständnisse – Verständigung, Wiesbaden 2011. 52
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den werden. Ein illokutionärer Akt kann nur insofern erfolgreich vollzogen werden, als er die Bedingungen erfüllt, die unter den gegebenen Umständen notwendig sind, damit der Adressat zu dem vom Sprecher erhobenen Anspruch mit ›Ja‹ Stellung nehmen kann. Diese Bedingungen können nicht einseitig, weder sprecher- noch hörerrelativ erfüllt sein; es sind vielmehr Bedingungen für die intersubjektive Anerkennung eines sprachlichen Anspruchs, der […] ein inhaltlich spezifiziertes Einverständnis über interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten begründet. 54
Wenn Habermas schließlich davon ausgeht, dass der Adressat eines solchen Sprechakts in der Konsequenz eines erzielten Einverständnisses auf dieser pragmatischen Ebene anschließend auch auf der »empirischen Ebene einer kontextabhängigen Weiterverarbeitung der interaktionsfolgenrelevanten Einigung« »sein Handeln nach den konventionell festgelegten Handlungsverpflichtungen« richten wird, 55 dann macht uns das zugleich darauf aufmerksam, dass auch diese Erwartung enttäuscht werden kann. Der Begriff der »moralischen Verständigung«, dem ich auf der Spur bin, indem ich dem impliziten Wissen, das wir alle längst haben von den Weisen, wie moralische Verständigungsversuche schiefgehen können, zur Artikulation zu verhelfen suche, greift sicher weiter aus als der Begriff der »moralischen Argumentation«. Er hat mehr mit den Schwierigkeiten der Konfliktlösung zu tun. Das scheint mir unvermeidlich. Denn was suchen wir, wenn wir eine Verständigung in moralischen Fragen mit anderen suchen, mit denen wir uns nicht immer schon einig wissen können? – Eine Verständigung, die gesucht wird, gerade weil ein Dissens aufgebrochen ist und bestimmte Beziehungen oder Interaktionsmöglichkeiten, an denen uns gelegen ist, belastet oder in Frage gestellt sind. Gesucht wird ein neues Verständnis unserer selbst und der Anderen und unseres Verhältnisses zu diesen Anderen oder unseres Konflikts mit den anderen. Das neue Verständnis kann unter Umständen auch ein besseres Verständnis des Altbekannten sein, das wir nur jetzt im Licht der aktuellen Erfahrung und der aktuellen Herausforderung in dem Konflikt, in dem wir uns in Frage gestellt sehen, anders und ergiebiger auf unser Selbstverständnis zu beziehen lernen. 54 55
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Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, S. 401. Vgl. Anm. 51.
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Woran scheitern Versuche, moralische Verständigung zu erreichen?
Was wir bei der Diskussion über scheiternde Versuche moralischer Verständigung immer im Auge behalten sollten und was die rhetorische Tradition, der Austin viel verdankt, eigentlich auch schon immer mit im Auge gehabt hat, ist die nonverbale Dimension, die jedenfalls in der Face-to-face-Kommunikation eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Und wenn wir unter moralischer Verständigung einen kommunikativen Prozess verstehen, an dem diejenigen, die sich darum bemühen und sich darauf einlassen, deshalb interessiert sind, weil sie für sich herauszufinden versuchen, wie sie sich nun (vielleicht besser) verhalten sollten, an dem sie sich also in ernsthafter, mehr oder weniger weit reichender, praktischer Absicht beteiligen, dann ist auch klar, dass sie sich zu dem, worum es da für sie geht, nicht bloß kognitiv sondern stets auch emotional-affektiv verhalten. Versuche, eine Verständigung mit einem oder mehreren anderen in einer moralisch kontrovers eingeschätzten Frage zu erreichen, scheitern häufig an mangelnder Aufmerksamkeit in dem von Iris Murdoch angesprochenen Sinn. 56 Doch wenn der Verdacht mangelnder oder getrübter Aufmerksamkeit – für die Sache, über die kontrovers geurteilt wird, wie für die Situation des Streits und nicht zuletzt für die Befindlichkeit des Gegenüber – auch oft berechtigt erscheint, ist es doch gar nicht leicht, Klarheit oder gar Einigkeit darüber zu gewinnen, wo genau der Fehler eigentlich liegt. Es ist eine Sache, dem Gegenüber in einem solchen Konflikt mangelnde Aufmerksamkeit zu unterstellen – oder, schlimmer noch, vorzuwerfen –, weil er oder sie nicht zu sehen scheint, was einem selbst doch evident erscheint, und eine ganz andere, der eigenen Aufmerksamkeit gegenüber ein Misstrauen zu entwickeln, ob sie wirklich hinreichend und dem Gegenstand, um den es gehen sollte, angemessen sein mag, wenn etwas, das für den anderen ganz klar zu sein scheint, einem selbst nicht recht einleuchten mag. Wir können versuchen, an der eigenen moralischen Aufmerksamkeit zu arbeiten, sie weiterzuentwickeln, indem wir versuchen, in unserem Umgang mit den Fragen, über die wir uns mit dem anderen nicht einigen können, zu lernen anhand dessen, was der andere darüber sagt. Vielleicht schaffen wir es schließlich, unter bestimmten Umständen »zu sehen, was er sieht«. Aber die Bereitschaft und die Fähigkeit dazu kann ich nur aufbringen, wenn ich irgendwie annehme, dass die AufVgl. Anne Mazuga, »Die Arbeit der Aufmerksamkeit. Iris Murdoch über die Wahrnehmung der Wirklichkeit ›im Licht des Guten‹«, in diesem Band.
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merksamkeit des anderen sich gegenüber dem, was ich selbst wahrzunehmen imstande war, als überlegen erweisen könnte. Die Chance, die Borniertheit der eigenen mangelnden Aufmerksamkeit anhand dessen, was der andere mir vielleicht zeigen könnte, zu übersteigen, hängt somit davon ab, dass ich nicht völlig in meiner eigenen mangelnden Aufmerksamkeit befangen bin. So bleibt es dabei: Versuche, eine Verständigung mit einem oder mehreren anderen in einer moralisch kontrovers eingeschätzten Frage zu erreichen, scheitern häufig an mangelnder Aufmerksamkeit.
IV Scheitern an moralischen Überzeugungen Die voranstehende Skizze einiger Formen, wie moralische Verständigungsversuche typischerweise scheitern, ist nicht viel mehr als ein erster Entwurf, der nicht nur in keiner Weise als vollständig gelten kann, sondern auch dem Kriterium, auf das Austin zur Beurteilung des Werts seiner sprechakttheoretischen Unterscheidungen rekurrierte, klarerweise nicht genügen kann. Ich breche die Untersuchung gleichwohl an dieser Stelle ab, weil hinreichend deutlich geworden sein dürfte, dass und wie sie aufschlussreich fortgeführt werden könnte. Abschließen möchte ich den Entwurf, um den es mir an dieser Stelle nur gehen konnte, mit einem Gesichtspunkt, der sich im Zusammenhang der vorstehenden Überlegungen abzeichnet, obwohl – oder weil – er keinen Platz findet im Raster der Unterscheidungen, die wir Austins Analyse der Sprechakte entnehmen können: Die Moral ist nicht nur etwas, was durch die Schwierigkeiten, in ernsthaften Konflikten eine als moralisch zu qualifizierende Verständigung zu erreichen, immer wieder Rückschläge durch Konfrontation mit starken ihr entgegenstehenden Kräften erleidet. Oft sind die Vorstellungen derjenigen, die in solchen Konflikten aneinandergeraten, von dem, was eine moralisch wünschenswerte oder zumindest akzeptable Lösung sein könnte, in ihrer faktischen Unvereinbarkeit selbst das, woran die Verständigung scheitert. Man kann dann von tragischen Konflikten sprechen. 57 So erweist sich die Moral selbst als polemogen. Sie ist aus dem Streit entstanden. Aber sie wird nicht nur im Streit Vgl. Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt a. M. 1996, insbes. S. 268–299 und 316.
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Woran scheitern Versuche, moralische Verständigung zu erreichen?
verzweifelt gesucht als das, wodurch der Streit überwunden werden soll, sondern sie ist nicht selten selbst auf beiden Seiten des Streits ein wesentliches Moment dessen, was uns tiefer in den Streit hineinführt, weil unsere jeweiligen moralischen Überzeugungen es uns nicht zu gestatten scheinen, den Streit einfach auf sich beruhen zu lassen und klein beizugeben. Dabei muss es im Übrigen auch gar nicht unbedingt als Scheitern eines moralischen Verständigungsversuchs erfahren werden, wenn im Verlauf der Auseinandersetzung beide Seiten die Erfahrung machen, dass der andere seine guten Gründe haben mag, in einer strittigen Frage zu einer moralischen Wertung zu kommen, die ich mir nicht werde zu eigen machen können, die ich ihm aber auch nicht als irrig werde nachweisen können oder als irgendwie verfehlt ausreden. Schon mit dieser Einsicht in das Bestehen eines grundlegenden ethischen Dissenses kann unter Umständen zumindest eine Vertiefung des Moralverständnisses der Beteiligten gewonnen sein. 58 Aus der alltäglichen Erfahrung des Scheiterns unserer Versuche, moralische Verständigung zu erreichen – so schmerzhaft diese Erfahrung im Einzelnen auch sein mag –, folgt nicht, dass man den Versuch deshalb aufgeben sollte oder es auch nur könnte. Mit Beckett muss man wohl sagen: »Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.« 59
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Vgl. Maria-Sibylla Lotter, »Moralische Divergenz«, in diesem Band. Samuel Beckett, Worstward Ho, London 1983, S. 7. A
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Was ist eine »gute« ethische Argumentation?
Der Beitrag geht der Frage nach, worin eine »gute« ethische Argumentation bestehen kann. Er setzt dabei an dem aktuellen Bemühen an, den interdisziplinären Austausch zwischen der Theorie ethischer Urteilsbildung und der Rhetorik wieder zu stärken, 1 und orientiert sich daher in seiner Systematik sowohl an philosophisch-ethischen als auch an rhetorischen Zugängen zur »Argumentation«. Aus dem Spektrum verschiedener Möglichkeiten, inwiefern eine Argumentation »gut« sein kann (I), greift er den Aspekt der »Explizierbarkeit« heraus und untersucht, welche Voraussetzungen einer ethischen Argumentation als solche unterschieden werden können (II). Ein kurzes selbstkritisches Fazit schließt den Beitrag ab (III). 2
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Inwiefern kann eine Argumentation »gut« sein?
Das Historische Wörterbuch der Rhetorik definiert eine »Argumentation« wie folgt: Die A[rgumentation] ist eine komplexe sprachliche Handlung, die durch begründende Rede überzeugen, d. h. beim Hörer oder Publikum freiwillige Einstellungsveränderungen bewirken will. 3
Vgl. Johannes Rohbeck, »Rhetorik und Philosophiedidaktik«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2/2005, S. 98–106. 2 Der Beitrag basiert in weiten Teilen auf Julia Dietrich, »Ungewissheit in der ethischen Urteilsbildung. Ein Überblick«, in: Andreas Benk/Philipp Thomas (Hrsg.), Negativität und Orientierung, Würzburg 2008, S. 65–77 und dies., »Ethische Urteilskraft. Methodologische Erwägungen aus argumentationstheoretischer Perspektive«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60/2012, S. 233–249. 3 Ekkehard Eggs, »Argumentation«, in: Gerd Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 914–991, hier S. 914. 1
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Was ist eine »gute« ethische Argumentation?
Diese Definition soll hier als (in seinen Voraussetzungen nicht weiter diskutierter) Ausgangspunkt genommen werden, um einen Überblick über das Spektrum der Möglichkeiten zu gewinnen, inwiefern eine Argumentation »gut« sein kann. Für eine gliedernde Systematik der Möglichkeiten geht der Überblick zunächst von der Charakterisierung einer Argumentation als Handlung aus und konzentriert sich dann auf deren Ziel der Überzeugung. Wenn man wie die oben zitierte Definition eine Argumentation als Handlung charakterisiert, liegt es aus ethischer Sicht nahe, für deren Prüfung dieselben Typen von Regeln zu unterscheiden wie für alle anderen Handlungen auch. Zieht man hierfür die wirkmächtige Dreiteilung von Kant heran, so kann eine Argumentation in dem Sinne »gut« sein, dass sie Regeln der Geschicklichkeit, Ratschlägen der Klugheit oder Geboten der Sittlichkeit genügt, 4 das heißt, dass sie ihr Ziel überhaupt erreicht, zum Gelingen des Lebens beiträgt und/oder moralischen Ansprüchen im engeren Sinne genügt. Es lassen sich also eine instrumentelle sowie eine ethische, nämlich – in der Terminologie Krämers 5 – eine entweder strebens- oder sollensethische Bewertung unterscheiden. Konzentriert man sich zunächst auf den ersten, instrumentellen Aspekt, nämlich auf das Erreichen des Ziels der Überzeugung, so kann man für eine weiterführende Untergliederung die klassische Vorstellung heranziehen, dass die Überzeugungskraft einer Argumentation auf den drei Faktoren des Logos, des Ethos und des Pathos beruht. 6 Die Perspektive des Logos betont, dass eine »gute« Argumentation logisch korrekt und sachlich begründet ist, die Perspektive des Ethos, dass sie mit der Glaubwürdigkeit des oder der Argumentierenden einhergeht und insofern authentisch ist, und die Perspektive des Pathos, dass sie emotional nicht nur ansprechend, sondern sogar auch (auf die intendierten Einstellungsveränderungen hin) bewegend ist. Dabei ist stets ihre sprachliche Form zu berücksichtigen, die entsprechend in dem Sinne »gut« sein kann, als sie sachlich eindeutig, ästhetisch ansprechend und der Situation und dem Gegenüber stilistisch angemessen ist. Betont man zusätzlich den von einer Argumentation zumindest implizierten und von einer Rede faktisch vorausgesetzten Aspekt der 4 Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1989. 5 Vgl. Hans Krämer, Integrative Ethik, Frankfurt a. M. 1996. 6 Vgl. Aristoteles, Rhetorik, hrsg. von Franz G. Sieveke, 2. Aufl., München 1987.
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sozialen Beziehung, so könnte man eine »gute« Argumentation auch darin sehen, dass sie – instrumentell betrachtet – sozial dominant und daher wirksam ist und – ethisch betrachtet – für die (geteilte) Praxis förderlich und moralisch zumindest erlaubt ist. Dieser Aspekt führt zu der Überlegung zurück, dass eine Argumentation als Handlung auch ethisch hinterfragt bzw. beurteilt werden kann. Die Frage, inwiefern eine Argumentation als Handlung in ethischer Hinsicht »gut« ist, wurde in der jüngeren Rhetorik vor allem in Form der (sollensethischen) Frage diskutiert, inwiefern ihre sprachliche und soziale Form die (als moralisches Postulat vorausgesetzte) Gleichberechtigung der (miteinander) Argumentierenden sichert und es erlaubt, die Überzeugungskraft einer Argumentation vor allem auf den Logos zu gründen. Es wurden daher entsprechende Diskussionsregeln entwickelt. 7 Eine solche Ethik der Argumentation stellt den Akt der Argumentation als solchen allerdings nicht in Frage, sondern beurteilt »lediglich« deren Formen und Methoden. Darüber hinausgehend kann sich eine ethische Kritik der Argumentation aber auch auf den gesamten Handlungstypus »Argumentation« beziehen: Ist es überhaupt in jeder Situation und sozialen Konstellation dem Gelingen des Lebens zuträglich oder im engeren Sinne moralisch erlaubt zu argumentieren? Ich kann die (auch ethische) Qualität einer Argumentation loben und gleichzeitig aus ethischer Sicht in Frage stellen, dass in der spezifischen Situation eine Argumentation als solche angemessen war: Wenn ich jemanden um Hilfe bitte, soll er mir helfen – und nicht schlüssig begründen, warum er mein Ansinnen für gerechtfertigt hält. Ich kann auch umgekehrt die (auch ethische) Qualität einer Argumentation kritisieren, es aber ethisch gutheißen, dass einer Argumentation überhaupt Raum gegeben wurde: Mir ist es lieber, dass mir jemand mit beleidigenden Worten erklärt, warum er böse auf mich ist, als dass er mich tätlich angreift. Diese Unterscheidung zwischen einer sozusagen argumentationsinternen und argumentationsexternen ethischen Kritik der Argumentation erscheint mir auch deshalb wichtig, weil mit ihr u. a. die Frage nach der Leistungsfähigkeit von Argumentationen für 7 Vgl. Frans H. van Eemeren/Rob Grootendorst, Speech Acts in Argumentative Discussions, Dordrecht 1984 und Manfred Kienpointner, Vernünftig argumentieren, Reinbek bei Hamburg 1996. – Eine solche Ethik der Argumentation ist nicht mit einer diskursund argumentationstheoretischen Fundierung der Ethik (Habermas) zu verwechseln (wenn auch letztere erstere zu begründen vermag).
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Was ist eine »gute« ethische Argumentation?
die ethische Konfliktlösung verbunden ist, auf die ich später (in III) noch einmal kurz zurückkommen möchte.
II
Explikationsfähige Elemente einer Argumentation
Aus dem in I. skizzierten Spektrum der Möglichkeiten, inwiefern eine Argumentation »gut« sein kann, möchte ich mich im Folgenden auf den Aspekt des Logos konzentrieren. Dieser Fokus soll weder einen Vorrang des Logos im Hinblick auf die Überzeugungskraft einer Argumentation noch irgendeine andere These zum Verhältnis der verschiedenen Dimensionen einer Argumentation implizieren, sondern stellt zunächst eine pragmatische Schwerpunktsetzung dar, die dem Kontext dieses Beitrags – eine wissenschaftlich-akademische Beschäftigung mit ethischen Fragen – geschuldet ist. Wenn man weiterhin davon ausgeht, dass in einem wissenschaftlichen Kontext wenn nicht die Begründbarkeit, so doch zumindest die Explizierbarkeit (wenn auch nicht immer die vollständige Explikation) der Voraussetzungen eines Urteils eine notwendige Bedingung für dessen wissenschaftliche Anerkennung ist, so stellt sich die Frage, welche Elemente einer ethischen Argumentation denn expliziert werden können. Für das bessere Verständnis möchte ich das hier vorgeschlagene Modell nicht gleich in Gänze, sondern in drei Schritten und sozusagen Schichten vorstellen, indem ich zunächst ein Grundgerüst ethischer Urteilsbildung vorschlage (1), dieses dann argumentationstheoretisch verfeinere (2) und schließlich um die spezifisch ethisch-kritische Dimension ergänze (3).
1.
Ein Grundmodell ethischer Urteilsbildung: Wahrnehmung, Bewertung, Urteil, Handlungsbezug
Ich gehe davon aus, dass die Grundstruktur ethischer Argumentation aus den vier Elementen der Wahrnehmung, der Bewertung, des Urteilens und des Handlungsbezugs besteht, die sich als solche durch eine argumentationstheoretische, sprachpragmatisch flexibilisierte sowie fundamentalethisch weitgehend offene Interpretation des Praktischen Syllogismus begründen lässt. 8 Eine ethische Argumentation verbindet 8
Vgl. Dietrich, »Ungewissheit in der ethischen Urteilsbildung« und Julia Dietrich, A
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eine deskriptive Prämisse, die eine bestimmte Annahme über die Welt als Fall einer präskriptiven Prämisse ausweist, mit eben dieser präskriptiven Prämisse sowie einem Urteil, welches sich auf eine Handlung bezieht: »Weil die Patientin unter Kopfschmerzen leidet (deskriptive Prämisse) und weil Schmerzen gelindert werden sollen, wenn jemand unter Schmerzen leidet (präskriptive Prämisse), soll die Patientin behandelt werden (Urteil), was konkret bedeutet, dass sie ein Schmerzmittel erhält (Handlung).« Ein ethisches Urteil ist also stets in dem Sinne gemischt, dass es sowohl auf einer Beschreibung der Welt als auch auf bestimmten Normen oder Werten beruht und beide in ihrer Wechselwirkung verbindet: Eine deskriptive Annahme wird deshalb als ethisch relevant eingestuft, weil bestimmte Normen oder Werte vorausgesetzt werden; bestimmte Normen oder Werte werden deshalb als einschlägig empfunden, weil eine bestimmte deskriptive Prämisse vorausgesetzt wird. Dass sich deskriptive und präskriptive Prämissen überhaupt aufeinander beziehen lassen, lässt sich mit Vossenkuhl dadurch begründen, dass moralische Regeln selbst einen deskriptiven Anteil enthalten: »Sie beschreiben Bedingungen und enthalten Handlungen, die unter diesen Bedingungen vollzogen werden sollen«. 9 Vossenkuhls These lässt sich mit Toulmin argumentationstheoretisch so rekonstruieren, dass die präskriptive Prämisse zweiteilig ist und aus einer mit »wenn« eingeleiteten Anwendungsbedingung und einer mit »dann« signalisierten Handlungsvorschrift besteht, wobei im alltäglichen Sprechen die Anwendungsbedingung häufig weggelassen wird. Beide Teile der präskriptiven Prämisse enthalten mehr oder minder detaillierte deskriptive Elemente, nämlich die Beschreibung eines bestimmten Zustands der Welt und eine (meist sehr allgemeine) Beschreibung der vorgeschriebenen Handlung: 10 »Wenn jemand Schmerzen leidet, dann sollen Schmerzen gelindert werden.« Zu beachten ist
Ethische Urteilsbildung. Zu Methode und Vermittlung Angewandter Ethik (in Vorbereitung). 9 Wilhelm Vossenkuhl, »Normativität und Deskriptivität in der Ethik«, in: Lutz Eckensberger/Ulrich Gähde (Hrsg.), Ethische Norm und empirische Hypothese, Frankfurt a. M. 1993, S. 133–150, hier S. 142. 10 Vgl. Stephen E. Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, Kronberg i. T. 1975. Stephen Toulmins Buch The Uses of Argument erschien zuerst 1958 und erfuhr eine aktualisierte (aber inhaltlich weitgehend unveränderte) Auflage 2003. Ich zitiere deutsch nach der Übersetzung von Ulrich Berk.
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hierbei, dass die deskriptive Prämisse logisch gesehen einen Fall der präskriptiven Prämisse darstellt, das heißt, dass ihr deskriptiver Gehalt spezifischer ist als derjenige der präskriptiven Prämisse: Die Patientin ist ein Teil der Klasse »jemand« und die Kopfschmerzen der Patientin sind in ihrer individuellen Ausprägung ein Fall von »Schmerzen«. Ich gehe davon aus, dass diese Struktur als ein Versuch, die Elemente ethischer Argumentation als solche auszuweisen, fundamentalethisch weitgehend offen ist und es z. B. erlaubt, sowohl sollens- als auch strebensethische sowie deduktive, induktive und kohärentistische Begründungsverfahren abzubilden und die Auseinandersetzung um die Unterscheidbarkeit von deskriptiven und präskriptiven Aussagen zumindest zu rekonstruieren. 11 Entscheidend ist hierbei, die argumentationstheoretische Frage nach den Elementen einer Argumentation als Sprechakt von der begründungstheoretischen Frage nach der Bedeutung der einzelnen Elemente für die Geltung des Urteils zu unterscheiden. Die deduktive Form der Argumentation schließt nicht aus, dass eine evaluativ geprägte Wahrnehmung die begründungstheoretische Basis ihrer Geltung ist, dass ihre präskriptive Prämisse (die sowohl strebens- als auch sollensethischer Natur sein kann) induktiv gewonnen wurde, dass die Geltung des Urteils auf einem Überlegungsgleichgewicht zwischen (z. B. intuitiv getroffenen) Einzelfallentscheidungen und deduktiv abgeleiteten präskriptiven Prämissen beruht oder aber dass ein intuitiv getroffenes Urteil oder eine unmittelbare Reaktion auf der Handlungsebene die ethische Bewertung einer Handlung begründet. Aus argumentationstheoretischer Perspektive wurde und wird an dieser Grundform des Praktischen Syllogismus vor allem kritisiert, dass sie zu einer Verwechslung mit logischen Schlussregeln verführt und darüber hinaus zu grob ist, um unsere Argumentationspraxis zu rekonstruieren. 12
Vgl. Julia Dietrich, »Zum Verhältnis von Ethik und Empirie. Ein Überblick am Beispiel der Schmerzmedizin«, in: Jochen Vollmann/Jan Schildmann/Alfred Simon (Hrsg.), Klinische Ethik, Frankfurt a. M. 2009, S. 225–239. 12 Vgl. Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten. 11
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2.
Der Ansatz von Stephen Toulmin: Die Unterscheidung von Einschlägigkeit, Anwendungsbedingungen, Art und Grad der Verbindlichkeit von präskriptiven Prämissen
Der Versuch von Stephen Toulmin, nicht die formale Logik, sondern den »Gebrauch von Argumenten« heranzuziehen, um ihre Struktur zu klären, wird zunehmend in der aktuellen deutschen Literatur zur Theorie Angewandter Ethik und zur Struktur ethischer Urteilsbildung rezipiert. 13 Toulmin hat sein Modell zwar nicht als spezifisch ethisches Argumentationsmodell entwickelt, doch verweist er selbst explizit auf mögliche Anwendungen in so unterschiedlichen Bereichen wie denen »der Ethik, der Mathematik oder der Psychologie«, 14 und eine Übertragung auf ethische Argumentationen ist unschwer möglich. 15 Toulmin arbeitet insbesondere heraus, dass präskriptive Prämissen – bzw. allgemein gesprochen: »Schlußregeln« 16 – als solche lediglich die Einschlägigkeit 17 der Beziehung zwischen Urteil und deskriptiver Prämisse ausweisen, aber noch nicht präjudizieren, unter welchen Bedingungen sie einschlägig sind, von welcher Art sie sind und mit welcher Verbindlichkeit sie gelten. Die Formulierung der Bedingungen, unter denen eine Norm gilt, das heißt die Formulierung sowohl ihrer (positiv formulierten) Voraussetzungen als auch ihrer Ausnahmen, legt nicht zugleich schon fest, dass diese Bedingungen auch de facto vorliegen und die präskriptive Prämisse in der vorliegenden Situation tatsächlich einschlägig ist: Es könnte ja sein, dass derzeit niemand an Schmerzen 13 Vgl. Frank Mathwig, Technikethik – Ethiktechnik. Was leistet Angewandte Ethik?, Stuttgart 2000; Konrad Ott, Moralbegründungen zur Einführung, Hamburg 2001; Volker Pfeifer, Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen?, Stuttgart 2003; Heinz-Albert Veraart, »Moralisches Argumentieren«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 3/2003, S. 199–213; Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren, München 2004; Rohbeck, »Rhetorik und Philosophiedidaktik«, Winfried Böhm/Werner Schiffer, »Ethisches Argumentieren«, in: Ethik und Unterricht 1/2006, S. 20–26. 14 Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, S. 94. 15 Vgl. Böhm/Schiffer, »Ethisches Argumentieren«. 16 Toulmin, Der Gebrauch von Argumenten, S. 89. 17 Ich ziehe daher den Begriff der Einschlägigkeit gegenüber der Übersetzung »Relevanz« für »bearing on« (Stephen E. Toulmin, The Uses of Argument, Aktualisierte Aufl., Cambridge, Mass. 2003, S. 90) vor, weil der Begriff der Relevanz meines Erachtens die Stärke der Verbindlichkeit und das Gewicht einer Regelung schon stärker konnotiert und damit die Verwechslung mit ihnen erleichtert als der Begriff der Einschlägigkeit.
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leidet. Und auch der spezifisch moralische Charakter der präskriptiven Prämisse wird in einem eigenen Schritt, nämlich erst durch die Art und Weise ihrer Begründung, festgelegt. 18 Denn dass Schmerzen gelindert werden sollen, könnte auch Teil einer bloß zweckrationalen Argumentation z. B. im Hinblick auf den Erhalt der Arbeitskraft der Patientin sein. Eine spezifisch strebens- oder sollensethische Qualität gewinnt die Prämisse erst durch ihre Begründung anhand einer Theorie gelingenden Lebens oder der Gerechtigkeit, mit der dann auch verschiedene Grade der Verbindlichkeit als Ratschlag oder als nötigende Pflicht verbunden sein könnten. Hierbei ist Toulmins Unterscheidung von Anwendungsbedingung und Grad der Verbindlichkeit besonders zu beachten: Wenn ein Urteil auch nur unter bestimmten Voraussetzungen zu fällen ist, so gilt es doch unter diesen Voraussetzungen unvermindert als Ratschlag oder Pflicht. So könnte man sich vorstellen, dass man von der Pflicht, Schmerzen aller Menschen mit allen Mitteln zu lindern, eine Ausnahme erlaubt oder diese Ausnahme sogar gebietet, wenn die gewählten Mittel eine erhebliche Trübung des Bewusstseins und damit der Autonomie im Sinne der Entscheidungsfähigkeit bewirken würden. Diese Ausnahme beeinträchtigt aber nicht die Stärke der Verbindlichkeit der Norm als solcher: Sofern die Ausnahme nicht gegeben ist, gilt die Norm und zwar als Pflicht und damit nötigend verbindlich. Man könnte sich sogar vorstellen, dass eine Norm eine derart große Zahl von Anwendungsbedingungen umfasst, dass sie nur in einem extrem seltenen Fall in Kraft tritt – aber auch dann wäre sie nötigend verbindlich. 19 Vgl. Jürgen Habermas, »Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der Vernunft«, in: ders. (Hrsg.), Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a. M. 1991, S. 100–118; Otfried Höffe, »Bemerkungen zu einer Theorie sittlicher Urteilsfindung (H. E. Tödt)«, in: ders., Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1979, S. 394–403; Klaus Steigleder, »Sollen«, in: Marcus Düwell/Christoph Hübenthal/Micha H. Werner (Hrsg.), Handbuch Ethik, 3. Aufl., Stuttgart 2011, S. 513–517. 19 Toulmin hält die Unterscheidung von Einschlägigkeit, Stärke der Verbindlichkeit und Ausnahmebedingungen gerade für die Ethik für wegweisend, wenn er deutlich süffisant konstatiert (man beachte, dass The Uses of Argument zuerst 1958 erschien, als die philosophische Ethik noch nicht [wieder] etabliert war): »Sogar in einem abgelegenen Bereich wie der philosophischen Ethik wurden einige altehrwürdige Probleme in genau dieser Weise erzeugt. Die Praxis zwingt uns zu der Einsicht, daß allgemeine ethische Wahrheiten im besten Falle erhoffen können, bei Abwesenheit wirksamer Gegenbehauptungen zu gelten. Konflikte zwischen verschiedenen Pflichten sind ein unver18
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Toulmin weist außerdem darauf hin, dass die Schlussregeln unter Umständen nicht geteilt werden, sondern im Rechtfertigungsprozess durch weitere Begründungen bzw. durch eine »Stützung (S)« 20 gesichert werden müssen. Präskriptive Prämissen, so könnte man seine Ausführungen reformulieren, sind kritisch überprüfbar und benötigen eine eigenständige Begründung im Rahmen einer ethischen Theorie. Erstaunlicherweise überträgt Toulmin diese Denkfigur nicht konsequent auf die deskriptiven Prämissen, sondern bemerkt nur kurz, dass es sein kann, dass wir unseren Opponenten nicht einmal dazu bringen können, mit uns über die Wahrheit dieser Tatsachen übereinzustimmen. In diesem Fall müssen wir seinen Einwand durch eine vorhergehende Argumentation ausräumen. […] Aber wir brauchen diese Komplikation hier nur zu erwähnen. 21
Es ist nicht recht verständlich, warum Toulmin die Aufmerksamkeit, die er der Stützung der Schlussregel und der Spezifikation der Konklusion widmet, nicht auch der Stützung der Daten schenkt und zum Beispiel auch auf die Anwendungsbedingungen überträgt. Da es aber diese Dimension der Begründung und damit der Kritik ist, die – versteht man unter Ethik eine Theorie der Moral – ja überhaupt erst eine moralische von einer ethischen Argumentation unterscheidet, ist in kriti-
meidbares Merkmal moralischen Lebens. Wo die Logik die Form ›Alle Lügen sind tadelnswert‹ oder ›Jedes Halten von Versprechen ist richtig‹ verlangt, antwortet das Idiom deshalb mit ›Lügen ist tadelnswert‹ und ›Das Halten von Versprechen ist richtig‹. Das ›alle‹ bzw. ›jedes‹ des Logikers bringt unglückliche Erwartungen mit sich, die in der Praxis gelegentlich enttäuscht werden müssen. Sogar die allgemeinsten Schlußregeln innerhalb von ethischen Argumentationen können in ungewöhnlichen Situationen noch Ausnahmen erfahren. Sie können deshalb höchstens mutmaßliche Schlußfolgerungen erlauben. Wenn wir auf dem ›jedes‹ bestehen, führen uns Pflichtkonflikte zu einem Paradox. Ein großer Teil der ethischen Theorie befaßt sich damit, uns aus diesem Wirrnis herauszukriegen.« (Der Gebrauch von Argumenten, S. 106). Toulmin weist also darauf hin, dass in Bezug auf die Funktion, die Einschlägigkeit der Beziehung zwischen Daten und Konklusion herzustellen, das »alle« in der Schlussregel »Alle Lügen sind tadelnswert« überflüssig ist. Setzt man es hinzu, wird das Missverständnis nahegelegt, dass die Schlussregel keinerlei Ausnahmebedingungen haben könne, so dass unlösbare Pflichtenkonflikte zu entstehen scheinen. Die Ethik habe also, so Toulmins Vorwurf, bislang die Unterscheidung zwischen Einschlägigkeit, Verbindlichkeit und Ausnahmebedingung von Schlussregeln nicht recht verstanden. 20 Ebd., S. 94. 21 Ebd., S. 88.
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scher Weiterführung des Ansatzes von Toulmin das Modell in einem dritten Schritt um die Ebene der Kritik zu erweitern. 22
3.
Ziele ethischer Reflexion: Handlungsorientierung (Handlungsrechtfertigung oder -erklärung) und Kritik
Das Grundmodell wurde bislang so beschrieben, dass es auf ein Urteil abzielt, das eine Handlung zum Gegenstand hat. Dieser Handlungsbezug kann jedoch zweifach interpretiert werden: Er kann entweder auf der Ebene des Urteils verbleiben und handlungsrechtfertigend sein (»Daher soll die Patientin behandelt werden«) oder sich auch auf die Erklärung und Motivation der individuellen Handlung selbst erstrecken und damit handlungserklärend werden: »Weil die Patientin unter Kopfschmerzen leidet (deskriptive Prämisse) und weil Schmerzen gelindert werden sollen, wenn jemand unter Schmerzen leidet (präskriptive Prämisse), und weil daher die Patientin behandelt werden soll (Urteil), wird die Patientin mit einem Schmerzmittel behandelt (Handlung).« Unabhängig aber davon, ob das Ziel der Argumentation in
Dass dieser Beitrag den Praktischen Syllogismus und den Ansatz von Toulmin integriert, ist vor dem Hintergrund, dass Toulmin 1958 den Praktischen Syllogismus gezielt ablehnt, nicht selbstverständlich. Toulmin zeigt meines Erachtens zu Recht, dass der Praktische Syllogismus in seiner Grundform nicht alle argumentativen Funktionen deutlich genug unterscheidet. Trotzdem kann man aber zugleich auch den Zusammenhang betonen und das Verhältnis so formulieren, dass Toulmin die Grundstruktur des Praktischen Syllogismus unter argumentationstheoretischem Vorzeichen sozusagen neu erfindet und dabei mit spezifizierenden Elementen ergänzt; er fügt sozusagen dem »Skelett« (Der Gebrauch von Argumenten, S. 91) Fleisch hinzu. Im Vorwort zur unveränderten Neuauflage von 2003, das heißt, mit großem zeitlichen Abstand und nach einer eingehenden Beschäftigung mit dem Kasuismus, macht Toulmin deutlich, dass es ihm weniger um die Ablehnung des Syllogismus, sondern vielmehr um die Ablehnung der Deduktion im mathematischen Sinne ging: »When I wrote it, my aim was strictly philosophical: to criticize the assumption […] that any significant argument can be put in formal terms: not just as a syllogism, since for Aristotle himself any inference can be called a ›syllogism‹ or ›linking of statements‹, but a rigidly demonstrative deduction of the kind to be found in Euclidean geometry« (The Uses of Argument, S. vii). Man kann daher sein Modell mit Ott so verstehen, dass es das argumentationstheoretische Potential des Praktischen Syllogismus herausarbeitet und in diesem Sinne einen »Weg von der Logik zur Argumentationstheorie« bahnt und das syllogistische Schlussschema durch seine Erweiterung »transformiert« (Ott, Moralbegründungen zur Einführung, S. 53). 22
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einer Handlungsrechtfertigung oder einer Handlungserklärung besteht, 23 wird aus ihr erst dann eine im engeren Sinne ethische, nämlich der Moral gegenüber kritische, wenn alle Elemente – Wahrnehmung, Bewertung, Urteil und Handlungsbezug – einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Ethische Argumentation ist damit als solche nicht nur an der Handlungsorientierung, sondern zugleich auch an ihrer Kritik ausgerichtet, die sich nicht nur auf die vorausgesetzten Normen und Werte, sondern auch auf Wahrnehmung, Urteil und Handlung bezieht. Da sich Handlungsorientierung und Kritik aber auf dieselbe Grundstruktur des Praktischen Syllogismus beziehen, werden sie zu sich gegenseitig relativierenden regulativen Ideen: Auch wenn ethische Reflexion handlungsorientierend ist, müsste sie sich idealiter in all ihren Facetten explizieren und begründen lassen, und auch wenn ethische Reflexion explizit und problemerschließend ist, müsste sie idealiter ihren Beitrag zur Handlungsorientierung ausweisen können. Insofern ist die Handlungsorientierung als reflexive Handlungsorientierung und die Problemerschließung als handlungsorientierte Problemerschließung zu verstehen. Dies bedeutet aber auch, dass es gar nicht die Aufgabe einer ethischen Argumentation ist, jegliche Unsicherheit aufzuheben, sondern vielmehr, eine immer wieder neu zu bestimmende, angemessene Balance zwischen Handlungsorientierung und Kritik herzustellen. Mit der hier fokussierten Frage, welche Elemente einer Argumentation explizierbar sind, konzentriere ich mich im Folgenden allerdings auf die Dimension der Kritik. 24 Ich möchte zunächst einige allgemeine Hinweise geben, welche die gesamte Struktur des Praktischen Syllogismus betreffen, um dann nacheinander die vier Elemente des Praktischen Syllogismus weiter zu ergänzen. Dabei orientiere ich mich immer wieder an den Überlegungen von Höffe, 25 weil sie ebenfalls von der Struktur des Praktischen Ich gehe davon aus, dass die Interpretation des Praktischen Syllogismus als Deliberationsmodell zumindest eine plausible, wenn auch nicht die einzig mögliche Interpretation ist und dass der Praktische Syllogismus sowohl der Urteils- bzw. Handlungsrechtfertigung als auch der Handlungserklärung dienen kann. Zur kontroversen Debatte um die Funktion des Praktischen Syllogismus bei Aristoteles vgl. Klaus Corcilius, »Aristoteles’ praktische Syllogismen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in: Logical Analysis and History of Philosophy 11/2008, S. 101–132. 24 Für eine weiterführende, die Kritik radikalisierende Fassung vgl. Dietrich, »Ungewissheit in der ethischen Urteilsbildung«. 25 Vgl. Otfried Höffe, »Universalistische Ethik und Urteilskraft. Ein aristotelischer Blick 23
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Syllogismus ausgehen und in ihrer Verbindung von kantischen und aristotelischen Sichtweisen die fundamentalethische Ungebundenheit der aufgeworfenen Fragen nahelegen. Was also kann in einer »guten« im Sinne von »transparenten« Argumentation als nicht selbstverständliche Voraussetzung expliziert werden? Ich sehe mindestens vier die gesamte Struktur des Praktischen Syllogismus übergreifende Gruppen von Voraussetzungen. Die erste Gruppe betrifft seine Begrifflichkeit und Sprache. In Bezug auf das oben (in 1) eingeführte Beispiel ließe sich z. B. fragen, was denn unter »Leiden« eines Menschen zu verstehen ist. Zu klären wäre dabei auch, inwiefern der Begriff des Leidens als ein moralisch dichter Begriff 26 zu verstehen ist, der nicht nur deskriptive, sondern bereits auch präskriptive Anteile enthält – wie z. B. den, dass Leiden gelindert werden soll – und insofern womöglich eine petitio principii einleitet. Die moralischethische Macht sprachlicher Formulierungen kann sich auf der Ebene der Metaphern und Bildfelder fortsetzen und nicht nur eine logische oder – rhetorisch betrachtet – stilistische, sondern auch eine metaphorologische Reflexion veranlassen. Die zweite übergreifende Gruppe von Voraussetzungen betrifft die Form des Praktischen Syllogismus: Wie genau und wie umfangreich ist ein Praktischer Syllogismus auszuformulieren? Im alltäglichen Sprechen werden vielfältige Varianten verwendet, 27 die sich zwar im aristotelischen Denken 28 und alltäglichen Sprechen 29 auf dieselbe Grundform zurückführen lassen, sprachpragmatisch und rhetorisch aber verschiedene Funktionen erfüllen und Wirkungen entfalten. Es macht für die Überzeugungskraft durchaus einen Unterschied, ob z. B. die häufig für selbstverständlich gehaltene präskriptive Prämisse angeführt oder weggelassen wird. So klingt z. B. die logisch unvollständige, rhetorisch aber vermutlich ansprechendere Kurzform »Weil die Patientin unter Kopfschmerzen leidet (deskriptive Prämisse), soll die Patientin behandelt werden (Urteil)« zunächst recht überzeugend. Die ausformulierte präskriptive Prämisse »Schmerzen sollen gelindert werauf Kant«, in: Ludger Honnefelder (Hrsg.), Sittliche Lebensform und praktische Vernunft, Paderborn [u. a.] 1992, S. 59–82. 26 Vgl. Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, London 1985. 27 Vgl. Rohbeck, »Rhetorik und Philosophiedidaktik«. 28 Vgl. Anselm Winfried Müller, Praktisches Folgern und Selbstgestaltung nach Aristoteles, München 1982. 29 Vgl. Josef Klein, Die konklusiven Sprechhandlungen, Tübingen 1987. A
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den, wenn jemand unter Schmerzen leidet (präskriptive Prämisse)« wirkt derart selbstverständlich, dass gerade deshalb durch ihre Explikation Zweifel an ihr geweckt werden könnten: Ist es denn tatsächlich immer der Fall, dass wir Schmerzen vermeiden? Gibt es nicht auch Situationen, in denen wir sie suchen oder zumindest freiwillig in Kauf nehmen? Der Akt der Explikation als solcher ist daher nicht »harmlos« und wenn er für den wissenschaftlichen Kontext gefordert wird, so sind seine rhetorischen »Nebenwirkungen« mit zu reflektieren. Mit der Frage nach der Ausführlichkeit seiner Form ist eine weitere Gruppe an Voraussetzungen verbunden, welche die Frage nach dem Verhältnis und der Begründungsrelevanz der einzelnen Elemente betrifft, die bekanntermaßen von z. B. DeduktivistInnen, KasuistInnen und KohärentistInnen verschieden beantwortet wird. Darüber hinaus ist eine vierte Gruppe von Voraussetzungen zu bedenken, welche durch die Vernetzung eines Praktischen Syllogismus mit anderen Praktischen Syllogismen entsteht: Kann nicht jedes Element eines Praktischen Syllogismus auch zugleich Bestandteil eines weiteren Praktischen Syllogismus sein? So könnte das Urteil, dass die Patientin behandelt werden soll, als präskriptive Prämisse eines weiteren Praktischen Syllogismus dienen, nämlich zum Beispiel in Verbindung mit der deskriptiven Prämisse, dass die Patientin immer noch im Wartezimmer wartet. Und die präskriptive Prämisse, dass Schmerzen gelindert werden sollen, könnte auch den Blick darauf lenken, dass eine weitere Patientin ebenfalls Schmerzen hat, so dass auch diesbezüglich ein entsprechendes Urteil zu fällen ist. Den Praktischen Syllogismus als Grundform ethischer Urteilsbildung zu betrachten, ruft insofern nicht das Bild einer linearen, sondern einer vernetzten Struktur ethischer Argumentation auf. In Bezug auf das Element der Wahrnehmung lenkt die Reflexion auf die Voraussetzungen der sprachlichen Darstellung einer Argumentation den Blick darauf, dass eine deskriptive Prämisse noch im Vorfeld der Frage, ob sie zutreffend ist, in Bezug auf ihre lebensweltliche, technische, sprachliche oder mediale Kontextualisierung und Inszenierung befragt werden kann. Zunächst ist zu explizieren – gerade wenn ethische Fragen im Vorfeld der Ereignisse antizipiert werden sollen –, ob sich die ethische Urteilsbildung auf empirische, das heißt theoriegeleitete und methodisch sowie intersubjektiv kontrollierte Aussagen oder auf unter Umständen narrativ gefasste Gedankenspiele, Zukunftsszenarien und Fiktionen bezieht, die zunächst einmal als solche auszuweisen und in ihrem Anspruch voneinander zu unterscheiden sind 138
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– wobei nicht unbedingt schon vorentschieden ist, dass empirischen Aussagen größeres Gewicht beizumessen ist als spekulativen. Unabhängig davon kann auch die Komplexität der gebotenen Situationsbeschreibung hinterfragt werden: Belässt man es z. B. bei der »trockenen« Information, dass »die Patientin Kopfschmerzen hat« oder reichert man die Darstellung mit Details an, welche der Situation eine spezifische Konkretion und damit implizit z. B. eine bestimmte Dringlichkeit geben? (»Die nette Privatpatientin, die erst 7 Jahre ist und nur noch wenige Tage zu leben hat, hat schon mehrfach darüber geklagt, dass sie schon wieder unerträgliche Kopfschmerzen hat.«) Mit dem Ziel der Explikation wäre jeweils auszuweisen, vor dem Hintergrund welcher präskriptiven Voraussetzungen die Nennung eines sogenannten Details wichtig erscheint (»Kinder sollen vorrangig behandelt werden«, »Es ist erlaubt, die Nebenwirkungen von starken Schmerzmitteln in Kauf zu nehmen, wenn jemand bald stirbt« etc.). Darüber hinaus ist selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit bzw. Richtigkeit deskriptiver Prämissen zu eruieren: Aus welchen Gründen geht man von der Wahrscheinlichkeit oder Richtigkeit der deskriptiven Prämisse aus? (»Die Patientin hat darüber geklagt« oder: »Die Studie xy zeigt, dass in sehr seltenen Ausnahmefällen das Krankheitsbild z mit starken Kopfschmerzen einhergeht«). Dies ist mit der Frage verbunden, aus welchen Gründen jemand das Definitionsrecht für die Beschreibung der vorliegenden Situation und für die Bestimmung der Kriterien für »Wahrscheinlichkeit« und »Richtigkeit« hat. (Ist es die Patientin, die über Schmerzen klagt, oder die Studie mit ihrem Ergebnis?) Diese grundlegende Frage nach der Auswahl und dem moralischen Gewicht der für relevant gehaltenen deskriptiven Prämissen leitet schon zu dem Wechselspiel zwischen Wahrnehmung und Bewertung hinüber, denn ihre Relevanz ergibt sich ja erst daraus, dass sie als Fälle von einschlägigen Normen und Werten interpretiert werden. Der Frage nach dem angemessenen Zuschnitt der deskriptiven Prämissen entspricht die Frage nach der begründeten Einschlägigkeit und Auswahl der für relevant gehaltenen Normen, Ratschläge und Werte. Ist die Norm, dass Schmerzen gelindert werden sollen, überhaupt einschlägig und warum? Hiermit verbindet sich die Frage Toulmins nach ihrer Begründung, ihrer Art und ihrer Verbindlichkeit sowie nach ihrem Gewicht: Eine Prämisse mag zwar einschlägig sein – aber wie wird sie in der vorliegenden Argumentation verstanden und begründet? Handelt es sich z. B. bei der Norm »Schmerzen sollen geA
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lindert werden« um eine sollensethische Norm mit universaler Verbindlichkeit (»… weil die Linderung von Schmerzen ein Menschenrecht darstellt«) oder um einen strebensethischen Ratschlag (»… weil Schmerzen die Freude am Leben vergällen«) oder um eine zweckrationale Überlegung (»… weil nur so die nächste diagnostische Untersuchung durchgeführt werden kann«)? Und mit welcher Begründung werden manche ethische Fragen als sollensethische und andere als strebensethische eingestuft? Ein weiterer Schritt bestünde im Sinne Toulmins darin, eigens zu explizieren und zu begründen, unter welchen Anwendungsbedingungen eine präskriptive Prämisse gelten soll. So könnte eine als strenge Pflicht begründete Norm wie »Schmerzen sollen gelindert werden« mit einer Ausnahmebedingung wie »… es sei denn, die Nebenwirkungen wie z. B. eine Bewusstseinseintrübung beeinträchtigen die Autonomie« spezifiziert werden, ohne dass die Art der Verbindlichkeit – der Pflichtcharakter – geschmälert würde. Das Beispiel macht aber deutlich, dass die Norm »Schmerzen sollen gelindert werden« hier augenscheinlich mit einer anderen Norm kollidiert: »Die Autonomie eines Menschen ist zu wahren«. Hier müsste expliziert werden, aus welchen Gründen man die letztere Norm als höherrangig eingestuft hat, so dass sie die erstere durch eine Ausnahmebedingung spezifiziert. Dabei sind die vorliegenden Lösungsvorschläge für die intersubjektiv nachvollziehbare Hierarchisierung prima facie gleichrangiger Normen, Ratschläge und Werte und damit für eine Abwägung leider bislang gerade in Bezug auf Fragen konkreter Angewandter Ethik als unbefriedigend einzustufen. 30 Die klassischen Strategien wie die Vorrangstellung der geschuldeten vor der verdienstlichen Pflicht, die Lehre vom kleineren Übel, die Konzeption des Notrechts und der Vorrang der stärkeren Begründung 31 sind für die Angewandte Ethik erst noch zu »übersetzen« und zu konkretisieren. Bezüglich des Urteils ist die logische Konsistenz eines Schlusses zu prüfen, die z. B. die Frage umfasst, ob die deskriptive Prämisse tatsächlich einen Fall der präskriptiven darstellt. Dies kann in die Prüfung der Begrifflichkeit und Basiskonzepte zurückführen: Wenn z. B. in der phiVgl. Otts Diskussion aristotelischer, utilitaristisch oder juristisch inspirierter Abwägungskonzepte in Konrad Ott, Ipso facto. Zur ethischen Begründung normativer Implikate wissenschaftlicher Praxis, Frankfurt a. M. 1997, S. 686–700. 31 Vgl. Höffe, »Universalistische Ethik und Urteilskraft«, insbes. S. 76–80; vgl. auch Anton Hügli, »Pflichtenkollision«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 440–456. 30
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Was ist eine »gute« ethische Argumentation?
losophisch begründeten präskriptiven Prämisse ein anderer Begriff von »Leiden« vorausgesetzt wird als im naturwissenschaftlichen Forschungsdesign zur Diagnostik von Kopfschmerzen, ist die logische Stringenz der Argumentation in Frage gestellt. Eine nicht unerhebliche – aber den kritischen Kern ethischer Reflexion widerspiegelnde – Schwierigkeit kann auch dann mit dem Urteil verbunden sein, wenn es – was zwei verschiedene Fälle darstellt – mit kontraintuitiven oder unbequemen Konsequenzen verbunden ist, auf die eigens mit »flankierenden« Maßnahmen zu reagieren ist, welche dann die konkrete praktische Umsetzung des Urteils beeinflussen. So könnte – um ein Beispiel für eine unbequeme Konsequenz zu geben – eine sofortige Behandlung der Patientin bedeuten, dass die leitende Oberärztin der Station Überstunden machen müsste, so dass aufgrund des Urteils, dass die Patientin (sofort) behandelt werden soll, nicht nur über die Therapie, sondern auch über den Arbeitsplan auf der Station nachgedacht werden muss. In Bezug auf die Handlung ist zu explizieren, ob überhaupt alle und, wenn nicht, aus welchen Gründen welche Handlungsoptionen für die Umsetzung des Urteils in Betracht gezogen wurden. (Wurde z. B. auch eine Akupunktur anstelle der Gabe von Schmerzmitteln in Erwägung gezogen und aus welchen Gründen wurde sie abgelehnt?) Höffe hebt hervor, dass mit der Begründung eines Urteils die Frage noch nicht gelöst ist, wie die vom Urteil anvisierte Handlung konkret realisiert wird. Er nennt vier Teilaufgaben, die zu lösen sind, nämlich die konkrete Art und Weise der Umsetzung, ihr Maß, ihre Prioritätensetzung und ihr Adressatenbezug. 32 (Wie viel Aufmerksamkeit und wie viel Dringlichkeit wird der Therapie zugemessen und welcher Priorität kommt der Patientin im Vergleich zu anderen PatientInnen zu?) Höffe rekurriert hierbei auf aristotelische Vorzugsregeln, welche die Größe der Not, die eigenen Ressourcen und die Substituierbarkeit der Maßnahmen berücksichtigen. 33 Des Weiteren kann gefragt werden, ob die Handlungsempfehlungen sozusagen eine »Feedbackschleife« implizieren, mit der eine Überprüfung der Handlungsfolgen intendiert wird. (Soll oder in welcher Form soll die Wirksamkeit der Therapie überprüft werden?) Ich möchte nun abschließend versuchen, die oben vorgestellten Überlegungen in die sprachliche Form einer Argumentation zu brin32 33
Vgl. Höffe, »Universalistische Ethik und Urteilskraft«, S. 73 ff. Vgl. ebd., S. 73. A
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gen. Ich kann dabei nicht alle denkbaren Varianten berücksichtigen, sondern es geht mir darum, das Modell noch einmal im Überblick darzustellen und in einen argumentativen Zusammenhang zu bringen. Praktischer Syllogismus Deskriptive Prämisse
Präskriptive Prämisse
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Explizierbare Elemente
Argumentationsstruktur
Richtigkeit/ Wahrscheinlichkeit
Wenn wir davon ausgehen – und die Ergebnisse der Forschung halten bislang einer kritischen Diskussion stand – dass a,
Definitionsrecht bzgl./sowie
und wenn wir uns vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussionen einig sind,
Auswahl
dass a eine Rolle spielt
Kontextualisierung (+ Inszenierung)
für die Situation s, in der wir uns laut Darstellung von d befinden,
Gewicht (z. B. Dringlichkeit der Handlung, Zahl und Art der Betroffenen, Rang der präskriptiven Prämisse)
und aus den Gründen g von besonderer Bedeutung ist, (nämlich weil – abgesehen davon, dass wir nicht mehr viel Zeit zum Überlegen haben und sehr viele Menschen betroffen sind, die es im Leben eh schon schwer haben – die fundamentale Norm n1 angesprochen ist), und wenn wir außerdem davon ausgehen, dass die Norm n1,
Auswahl (impliziert Einschlägigkeit)
die uns in Bezug auf die Situation s einschlägig und zentral erscheint, weil sie
Begründung
mit Hilfe des laut Forschungsstand zumindest ernst zu nehmenden Begründungsansatzes b
Verbindlichkeitsgrad
als Pflicht oder Ratschlag anzusehen ist,
Anwendungsbedingungen
wann immer die Situation s eintritt (und die ist ja laut d eingetreten),
Abwägung (geschuldet-verdienstlich, kleineres Übel, Notrecht, Verbindlichkeitsstärke)
und dann auch die konkurrierende Norm n2 »schlägt«, (weil diese lediglich eine verdienstliche Pflicht darstellt/weil die Folgen der Umsetzung von n1 das kleinere Übel darstellen/ weil deren Begründbarkeit in der Forschung umstrittener ist)
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Was ist eine »gute« ethische Argumentation? Praktischer Syllogismus Urteil
Handlung
III
Explizierbare Elemente
Argumentationsstruktur
Logische Konsistenz
kommen wir zu dem Schluss,
(Kriterium für) Auswahl der Handlungsoptionen
dass von allen (uns derzeit zur Verfügung stehenden) Handlungsoptionen die Handlungsoption h geboten ist,
Kontraintuitives (Geltung) oder unbequemes (Motivation) Ergebnis
auch wenn uns dies jetzt sehr ungewohnt erscheint und wir uns dazu überwinden müssen (wobei uns allerdings die Maßnahmen mm motivierend unterstützen sollten)
Umsetzungsbedingungen: Priorität Art und Weise Maß Adressatenkonflikte (Größe der Not, Hilfskapazität, Substitutierbarkeit
was konkret bedeutet, dass h
Technische Fragen
umgesetzt werden sollte,
Folgen
so dass die technischen Maßnahmen tm ergriffen werden sollten und begleitend in den nächsten Wochen untersucht werden sollte, welche Folgen aus h, aus mm und aus tm resultieren.
vorrangig, schnell, unter Aufbietung aller Kräfte für möglichst viele Betroffene (gestaffelt nach deren Bedürftigkeit, der Wirksamkeit unserer Maßnahmen und der Zugänglichkeit alternativer Maßnahmen)
Selbstkritisches Fazit
Ich habe im ersten Abschnitt ein breites Spektrum an Möglichkeiten entfaltet, inwiefern eine Argumentation »gut« sein kann und dabei in einem ersten Schritt instrumentelle und ethische und in einem zweiten Schritt auf den Logos, das Pathos oder das Ethos bezogene Qualitäten einer Argumentation unterschieden. In Bezug auf den Logos habe ich das wissenschaftliche Desiderat der Explizierbarkeit von Voraussetzungen herausgegriffen und mit Hilfe eines ethischen Urteilsbildungsmodells in kritischer Weiterentwicklung des Ansatzes von Toulmin versucht, strukturiert zu unterscheiden, welche sachlichen Aspekte einer ethischen Argumentation expliziert werden können. Es ist eindrücklich deutlich geworden, dass die vermeintlich »einA
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fache« deduktive Grundstruktur einer Argumentation sich als sehr komplex entpuppt, wenn man das Desiderat der kritischen Explikation der Voraussetzungen der einzelnen Elemente systematisch umsetzt – und zwar als so komplex, dass man kritisch fragen könnte, wie das zweite Ziel ethischer Reflexion, nämlich die Handlungsorientierung, noch sinnvoll verfolgt werden kann. Eine mögliche Antwort bestünde darin, ein eigenständiges und spontanes Vermögen der Urteilskraft oder der Intuition anzunehmen. Eine andere mögliche Antwort ginge davon aus, dass die Erfahrung im Umgang mit dieser Komplexität sich durch Erziehung, Gewöhnung, Beratung und Übung derart steigern lässt, dass eine schnelle situationsgerechte Orientierung möglich wird (diese Antwort ist nicht mit der ersten zu verwechseln). Eine dritte Antwort könnte lauten, dass die entworfene Systematik den Entscheidungsprozess zwar zunächst »entschleunigt«, dann aber dazu dienen kann, präzise zu definieren, worüber eigentlich Konsens oder Dissens besteht und in Bezug auf welche Elemente einer Argumentation eine Auseinandersetzung zu führen ist – was deren Effizienz erhöht und somit der Handlungsorientierung zugute kommt. Man sollte sich aber daran erinnern, dass eine Erhöhung der Transparenz einer Argumentation nicht unbedingt zu einer Steigerung ihrer Wirksamkeit beitragen muss – Pathos und Ethos könnten in ihrem Einfluss viel stärker und die Betonung des Logos sogar kontraproduktiv sein. Konkret gesprochen: Viele zwischenmenschliche Konflikte beruhen gar nicht auf Dissensen bezüglich der Sache, sondern haben ihren Ursprung darin, dass z. B. die gegenseitige Glaubwürdigkeit oder emotionale Zugänglichkeit unzureichend ist. Unter extremen Umständen ist dann diejenige Argumentation »gut«, die man unterlässt.
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»Placing oneself in the world« Moralische Verständigung als performative Lebenspraxis bei Stanley Cavell
Eines der vernichtendsten Urteile über die moderne Ethik ist, dass sie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Problemen der Moral nicht nur nicht befördert, sondern geradezu verhindert, weil sie uns zu einer Perspektive verleitet, in der wir den Kontakt zu uns selbst verlieren. Die Unternehmungen der rationalen Moral, so der Verdacht, lassen die Fähigkeit des Menschen, Klarheit über sich zu gewinnen, seine ethischen Orientierungen zu artikulieren und seine wirklichen moralischen Probleme in ihrem Facettenreichtum überhaupt nur zu sehen, systematisch verkümmern. Je mehr sich das Interesse auf methodische Verfahren der Begründung richtet, desto mehr erodieren diese Fähigkeiten und desto größer die Selbstentfremdung. Das Paradigma der Erkenntnis, dem die moderne Moralphilosophie so sehr verpflichtet ist, leistet dabei schlechte Dienste, indem es immer nur von der menschlichen Praxis weg verweist. Die Diagnose, dass das menschliche Handeln von verfälschter Selbstwahrnehmung bestimmt sein kann, ist so alt wie die Philosophie; schon Sokrates tritt an, dieses Leiden zu heilen. Die moderne Selbstentfremdung aber hat ihre eigene Qualität: Ausgerechnet der Begriff des Wissens – die Idee der methodisch gewonnenen wahren Überzeugung –, scheint nun die praktische Reflexion zu blockieren. Der Verdacht begleitet die Moralkritik seit ihren Anfängen: So beginnt Nietzsche seine Vorrede zur Genealogie der Moral mit der Bemerkung, dass »wir Erkennenden« uns »unbekannt« seien: Stets »dazu unterwegs«, Erkenntnisse »heimzubringen«, brächten wir für »das Leben sonst« weder »Ernst genug« noch »Zeit genug« auf, so dass wir uns »nothwendig fremd« bleiben und jeder »sich selbst der Fernste« ist. 1 1 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, München 1999, S. 245– 412, hier S. 247 f.
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Stanley Cavell macht darauf aufmerksam, dass sich zwei antithetische Haltungen zur Frage der Moral – der Anspruch auf universale moralische Wahrheit und der moralische Skeptizimus – als zusammengehörige Symptome solcher Selbstentfremdung deuten lassen. Auch für seine Variante der Moralkritik ist der Gedanke leitend, dass das praktische Denken schlecht beraten ist, wenn es sich das theoretische Denken zum Vorbild macht. Cavells Diagnose zufolge liegt das Problem nicht etwa darin, dass das Erkenntnismodell zu den falschen Ergebnissen führt, sondern bereits darin, dass es zu falschen Fragestellungen verleitet: Wer die Logik von moralischen Diskursen nach dem Modell der Wissensgewinnung deutet, wird den Blick dafür verlieren, worum es in solchen Diskursen überhaupt geht. Diese Blindheit kommt in zwei komplementären Varianten vor, in einer kognitivistischen oder antiskeptischen und in einer nonkognitivistischen oder skeptischen: Der Kognitivismus beginnt mit der Behauptung, dass es auch im Bereich der Moral Wissen gebe, und formuliert Methoden, wie dieses Wissen zu gewinnen sei. Dafür abstrahiert er von den lebensweltlichen moralischen Auseinandersetzungen. Indem er stets schon auf das Ergebnis schaut, verliert er die schwierigen, zähen Streitigkeiten des ethischen Alltags aus den Augen; sie haben nun den Status von Anwendungsproblemen. Demgegenüber lässt sich die zweite Variante der Blindheit nachhaltig von der regellosen und chaotischen Gestalt wirklicher moralischer Konflikte beeindrucken: Der Nonkognitismus ist vom Zweifel daran bewegt, dass es überhaupt moralisches Wissen gibt. Hier rückt das Gesuchte in eine unerreichbare Ferne; es wird zu einer Chimäre, der vernünftige Menschen nicht nachjagen. Indem der moralische Skeptiker ausschließlich das Schwierige und Zähe der alltäglichen moralischen Streitigkeiten sieht, verliert er den Blick dafür, dass solche Streitigkeiten gleichwohl ihren Sinn haben können und eine moralische Vernunft unterhalb allseitiger Übereinstimmung möglich ist. Diese zweite Variante lässt unsichtbar werden, inwiefern die Moral Teil des gewöhnlichen Lebens ist, und zwar auch und gerade in Gestalt von Konflikten. Diese alltägliche Erscheinungsform liefert Cavell den primären Zugang: Die Moral ist nicht etwas, das irgendwo in der Ferne erst gefunden und – mit Nietzsche – »heimgebracht« werden müsste. Sie ist uns viel vertrauter, als wir meinen. Eine der großen Schwierigkeiten für die ethische Reflexion besteht darin, dass die Selbstverständlichkeiten des Alltags äußerst schwer zu sehen sind. 146
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Die Suche nach dem »Grund der Moral« kann also mit der stolzen Behauptung enden, dieser Grund sei gefunden, oder mit dem frustrierten Ergebnis, ein solcher Grund existiere gar nicht. Man kann aber auch, wie Cavell, die Möglichkeit ins Auge fassen, dass diese Suche nur von dem Umstand ablenkt, dass uns die Moral viel näher liegt, als wir meinen. Die Frage, was dies bedeuten kann, wird dieser Beitrag am Thema der moralischen Verständigung behandeln. Hier verführt das Erkenntnismodell dazu, den Sinn der philosophischen Rekonstruktion davon abhängig zu machen, ob sich die alltägliche Moralverständigung als Begründungsverfahren interpretieren lässt. Wiederum drängt sich das Schema der exklusiven Disjunktion auf: Entweder die gegebene Moralverständigungspraxis ist eine Methode der moralischen Argumentation oder es kann keine philosophische Entfaltung der Moralverständigung geben. Die erste (antiskeptische oder kognitivistische) Position entscheidet sich für den Weg der logischen Rekonstruktion; sie widmet die wirkliche Moralverständigung in eine Begründungsmethode um. Die zweite (skeptische oder nonkognitivistische) Interpretation hingegen spricht der Moralverständigung jede Rationalität ab und überlässt diese Praxis sich selbst. Cavells Empfehlung möchte ich so auffassen: Wir sollten unsere Aufmerksamkeit für die Praxis der Moralverständigung entwickeln, die wir in unserem alltäglichen Leben je schon vollziehen. Das gesuchte »moralische Wissen« ist tatsächlich ein lebensweltliches Können. Aber was wir können, können wir besser oder schlechter; und manchmal misslingt uns etwas, das wir können, oder wir weigern uns, etwas zu tun, obwohl wir es tun könnten. Die Antithese von moralischem Skeptizismus und Antiskeptizismus ist am Ende nur eine verkleidete Form des bekannten Umstands, dass Verständigung gelingen oder scheitern kann – aber beide Positionen verkennen die Tatsache, dass wir selbst es sind, die sie gelingen oder scheitern lassen. Auf ihren Alltagssinn heruntergebrochen sind Skeptizismus und Antiskeptizismus reine Ausweichmanöver: Sie verdecken den Umstand, dass wir andauernd und unausweichlich in moralische Diskurse verwickelt sind und die damit verbundene Verantwortung leugnen oder übernehmen können. Eine Ethik, die nach dem Grund der Moral fragt, ist – ganz unabhängig davon, zu welchen Ergebnissen sie kommt – letztlich nur eine vornehme Weise, dieser Verantwortung die Anerkennung zu verweigern. Damit ist skizziert, was dieser Beitrag genauer herausarbeiten will: Auf Grundlage der Überlegungen im dritten Teil von The Claim A
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of Reason 2 werde ich versuchen, Cavells Bild der moralischen Verständigung nachzuzeichnen. Dabei möchte ich annehmen, dass es sich um eine performative, vollzugsorientierte Konzeption handelt, die eine Praxis nicht an Regeln oder Methoden, sondern an einem Können festmacht, an Fähigkeiten, die sich kultivieren lassen. Um diesem Können auf die Spur zu kommen, werde ich zuerst Cavells Deutung der Philosophie der gewöhnlichen Sprache skizzieren (I) und im Anschluss daran verständlich machen, wie Cavell sich die Verankerung der Moral im Alltag denkt (II). Im Zentrum stehen sodann das Ausdrucksverhalten in sozialen Beziehungen (III) und die Bildung von konkreten Situationsbeschreibungen (IV), die den Kern der Moralverständigung bei Cavell ausmacht. Ich schließe mit einigen Bemerkungen zum Verhältnis von Moralverständigung und Praxis des guten Lebens (V).
I
Gewöhnliche Sprache und sprachphilosophische Selbstverständigung
In der Einleitung zu The Claim of Reason berichtet Cavell, dass er den entscheidenden Impuls für sein Denken Austin zu verdanken habe, und gemeint sind damit die Konsequenzen der ordinary language philosophy für die Ethik. Er habe sich veranlasst gesehen, den »implications of Austin’s procedures for moral philosophy« nachzugehen, und zwar in dem Sinn, »that the human voice is being returned to moral assessments of itself«. 3 Wie kann die Philosophie der gewöhnlichen Sprache, für die bei Cavell neben Austin bekanntlich Wittgenstein Pate steht, einen solchen Anstoß geben? Gelegentlich wird die Meinung vertreten, dass die Aufmerksamkeit für den wirklichen Sprachgebrauch im Zeichen eines empirischen oder doch jedenfalls deskriptiven Unternehmens stehen müsse. Wittgenstein scheint dieser Lesart selbst Vorschub zu leisten. 4 Cavell insistiert demgegenüber seit den 50er Jahren auf einer anderen AkzentuieStanley Cavell, The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy, New York, Oxford 1999, insbes. S. 247–326. 3 Ebd., S. xv und xvi. Zu dem Thema vgl. auch Stanley Bates, »Stanley Cavell on Ethics«, in: Richard Eldrige (Hrsg.), Stanley Cavell, Cambridge, Mass. 2003, S. 15–47. 4 Diesen Eindruck könnte etwa eine oberflächliche Lektüre von Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, §§ 109 oder 124 vermitteln. 2
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rung: Das Wissen, dass »wir« einen Ausdruck auf eine bestimmte Weise gebrauchen, ließe sich durch die Beobachtung von sozialen Gegebenheiten oder durch das Sammeln von Erfahrungen nicht sinnvoll stützen. Es ist nämlich kein positives Wissen »über« etwas, sei es eine Gemeinschaft, seien es soziale Praktiken. In »wir«-Aussagen des betreffenden Typs artikuliert sich vielmehr ein Selbstwissen, das auf Teilbarkeit angelegt ist und auf Gemeinschaft ausgreift. Die Verfahren der Philosophie der gewöhnlichen Sprache werden damit zu »methods for acquiring self-knowledge«. 5 Ein solches Unternehmen wäre freilich ohne Pointe, wenn Personen sich ohnehin schon immer und überall transparent wären. Eine der Grundannahmen dieses Verständnisses von Sprachphilosophie besteht darin, dass wir keinen so direkten Zugang zu uns selbst haben, wie wir manchmal meinen. In Cavells Denken erfährt dieses Motiv mehr und mehr eine geistesgeschichtliche Kontextualisierung und verbindet sich mit dem Thema des Skeptizismus, den tragischen Selbsttäuschungen des modernen Menschen, seiner Verlorenheit und Heimatlosigkeit. Für die vorliegenden Zwecke sei das Thema jedoch nur vom Sprachaspekt her betrachtet: Sofern die Philosophie der gewöhnlichen Sprache einen repräsentationalismuskritischen Impuls hat, lässt sie die Idee des unmittelbaren Selbstbezugs problematisch werden. Bei Wittgenstein wird dies besonders gut greifbar: Wenn sprachliche Vollzüge nur innerhalb der Lebensformen, mit denen sie verflochten sind, Sinn haben, so ist ihr semantischer Gehalt nicht objektivierbar. Das Ganze der sprachlichen und nichtsprachlichen Lebensvollzüge lässt sich nicht in eine Vorstellung bringen; wir können »den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen«. 6 Die alltägliche Sprachpraxis in ihren feinen Verästelungen und stets wieder neuen Nuancen können wir deshalb so wenig kodifizieren, wie wir »ein zerstörtes Spinnennetz mit unsern Fingern in Ordnung bringen« können. 7 Die performative Wendung hat eine antitheoretische Pointe: Bedeutungen lassen sich nicht vergegenständlichen, da Sinnvollzüge durch ein lebensweltliches Kön-
5 Stanley Cavell, »The Availability of Wittgenstein’s Later Philosophy«, in: ders., Must we mean what we say? A Book of Essays, Updated Edition, Cambridge, Mass. 2002, S. 44–72, hier S. 66. Zum skizzierten Verständnis von »wir«-Aussagen vgl. Stanley Cavell, »Must we mean what we say?«, in: ebd., S. 1–43. 6 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 122. 7 Ebd., § 106.
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nen konstituiert sind, das weder unmittelbar gegenwärtig sein noch je vollständig expliziert werden kann. Die menschliche Selbstverständigung wird damit zu einer schwierigen Kunst. Sie wird missglücken, wo sie sich an das Ideal gegenständlichen Wissens hält. Für Cavell ist Wittgenstein ein Ausgangspunkt, um sich dieser neuzeitlichen Denkgewohnheit zu entziehen. 8 Versteht man Sprache und Leben als verflochten, so drehen sich sprachphilosophische Reflexionen um das eigene Selbst; indem wir die unüberschaubaren sprachlichen Praktiken wahrnehmen lernen, lernen wir etwas über die Konstitution unseres eigenen Meinens und Verstehens. Die Frage, was wir in bestimmten Situationen »zu sagen bereit« wären, wird zur Leitfrage einer Selbstbesinnung mit, wenn man so will, transzendentalem Charakter; Cavell nennt sie mit Wittgenstein »grammatisch«. 9 Die Aufgabe einer solchen Grammatik ist die Erschließung einer Lebensform. Was sie zutage fördert, ist ein Verständnis, das im Normalfall unthematisch bleibt, da es für das Reden und Handeln selbstverständliche Voraussetzung ist. Die sprachphilosophische Arbeit gilt nicht einem externalisierbaren Wissen, sondern dem habitualisierten Verständnis von Personen. Nun wird dieses Selbstverständigungspotential sprachphilosophischer Reflexionen gerade für die Ethik von besonderer Bedeutung sein: Wenn die Idee eines apersonalen Wissens schon im Zusammenhang von Erkenntnisfragen problematisch ist, weil sich in jedem Meinen und Verstehen ein gelebtes Ethos manifestiert, dann ist sie offenbar erst recht in moralischen Zusammenhängen problematisch. Hier geht es wesentlich um ein personales Wissen, »a knowledge of persons«; »appeals to ordinary language will play a different, and more direct role in criticizing moral theories than in criticizing traditional epistemology«. 10 Einer Ethik, die die Moralität von Personen allein an normativen Überzeugungen festmachen will, die sich in Aussagen repräsentieren lassen, ist damit der Boden entzogen. Sofern das Ethos die Gesamtheit eines In-der-Welt-seins betrifft, offenbart es sich daran, wie wir uns zu konkreten Fällen stellen. Ethische Haltungen müssen immer wieder artikuliert werden; sie bilden kein »System«, das sich abschließend ausbuchstabieren ließe. Die Ethik findet deswegen keinen Vgl. z. B. Cavell, »The Availability of Wittgenstein’s Later Philosophy«, S. 68 f. Vgl. ebd., S. 64–67 und dazu Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 90. 10 Cavell, The Claim of Reason, S. 265. 8 9
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Zugang zum ethischen Leben, solange sie sich mit normativen Gehalten befasst, die das Handeln gleichsam sekundär leiten sollen. Sie muss mit den Fertigkeiten anfangen, die unser moralisches Verständnis ausmachen und die sich in der alltäglichen ethischen Praxis zeigen. Wer den Sinn von Moral darin sieht, den unterschiedlichen Lebensweisen eine Grenze zu ziehen, könnte eine solche Herangehensweise, die man mit Cora Diamond »Ethik des realistischen Geistes« 11 nennen könnte, skeptisch beurteilen. Die Moralphilosophie muss, so möglicherweise der Einwand, die menschliche Praxis auf Grundlage von übergreifenden Prinzipien bewerten, deren normativer Sinn davon abhängt, dass sie sich dem deskriptiv Zugänglichen nicht anverwandeln. Für eine vom späten Wittgenstein ausgehende Ethik ist dies jedoch keine Option: Wer darauf baut, dass wir allgemeine moralische Normen vorpraktisch formulieren und nachträglich in die menschliche Praxis implantieren können, verkennt den fundamentalen Status von Praxis und verfällt der Illusion, man könne sich jenseits der menschlichen Lebenswelt aufstellen. Tatsächlich verstünden wir nicht einmal, was Moral ist – oder was moralische Fragen bedeuten –, wenn sie nicht schon ein Teil unseres Lebens wäre. Da sie das aber ist, können wir im Zuge einer »Grammatik der Moral« herausarbeiten, inwiefern sie es ist: Sie ist es nicht insofern, als wir uns schon implizit auf Normen verpflichtet haben. Doch sie ist es insofern, als wir uns bestimmten Praktiken der Auseinandersetzung nicht ernsthaft entziehen können.
II
Grammatik der Moral als Grammatik des Konflikts
Was bedeutet es genau, die Moral durch eine grammatische Untersuchung als Alltagsphänomen zu erschließen? Man könnte es so verstehen, dass es bedeutet, die »Sprachspiele« der Moral oder die Regeln einer Praxis zu beschreiben. Solche Deutungen sind jedoch mit Vorsicht zu genießen: Cavells Denken steht unter der Voraussetzung, dass sich Lebensformen nicht in Regeln abbilden lassen. Die Frage, inwieVgl. Cora Diamond, »Realism and the Realistic Spirit«, in: dies., The Realistic Spirit. Wittgenstein, Philosophy, and the Mind, Cambridge, Mass., London 1991, S. 39–72. Diamond geht dabei aus von Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen zu den Grundlagen der Mathematik, Werke, Bd. 6, Frankfurt a. M., S. 325: »Nicht Empirie und doch Realismus in der Philosophie, das ist das schwerste.«
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fern die Moral grammatisch in unserem Leben verankert ist, ist keine Frage nach Normen, die das Handeln im Stillen leiten oder deren Gehalt sich aus der Lebenspraxis herauspräparieren ließe. Dass die Moral nicht eigens erfunden werden muss – und es so etwas wie ein »moralisches Leben« gibt –, bedeutet weniger, dass wir »moralisch leben«, sondern, dass moralische Probleme zu unserem Leben gehören. Entsprechend zeichnet die Moralgrammatik nicht spezifische Handlungsweisen aus, sondern expliziert die Strukturen der alltäglichen Praxis der moralischen Auseinandersetzung. Diese Praxis beruht auf einer Übereinstimmung, die nicht normativer, sondern performativer Art ist, die also gewöhnlich unthematisch bleibt und sich in der Praxis zeigt. Insbesondere lässt sich aus ihr kein allgemeinverbindliches normatives Telos herauslesen. Ganz im Gegenteil: Cavells Grammatik der Moral ist primär eine Grammatik des Konflikts. Es geht um ein habitualisiertes Verständnis von Moral, das auch noch in den schärfsten moralischen Kontroversen gemeinsam geteilt wird. Die »Rationalität« moralischer Diskurse hängt deshalb nicht von Übereinstimmung ab. 12 Die Aufgabe der Ethik kann es nicht sein, den Widerstreit der Lebensformen aufzuheben. Aber bleibt die Kernfrage nicht, wie richtig zu handeln ist? Cavell kann man so verstehen, dass diese Frage zumindest nicht dadurch beantwortet werden kann, dass man bestimmte Handlungsweisen als richtig auszeichnet. Es ist vielmehr gar nicht so klar, was es überhaupt bedeutet, Praktiken als solche zu rechtfertigen. Dies ist das Thema von Cavells Auseinandersetzung mit Rawls: 13 Praktiken im Sinne Wittgensteins sind keine sozialen Institutionen, die durch Konventionen oder Abmachungen gesetzt werden können. Es sind empraktische Voraussetzungen, die überhaupt erst das Verständnis davon konstituieren, was Handlungen in besonderen Situationen bedeuten können. Dieses soziale Verständnis zeigt sich darin, dass sich Menschen in komplexen Regelzusammenhängen sinnvoll Vgl. dazu den Beitrag von Maria-Sibylla Lotter in diesem Band. Vgl. Cavell, The Claim of Reason, S. 292–312. – In der Kritik steht dabei der Versuch, das praktische Denken nach dem Vorbild des theoretischen Denkens zu interpretieren. Bei dieser Übertragung eines vorgefassten Vernunftbegriffs auf ein besonderes Gebiet entsteht der Eindruck, dass moralische Konflikte entweder im Sinne der theoretischen Vernunft oder aber auf gar keine Weise rational entscheidbar sind. Wo das moralische Denken als wahrheitsbezogenes Erkennen gilt, verschiebt sich die Aufmerksamkeit von der jeweiligen Konfliktbewältigung zur allgemeinen normativen Übereinstimmung (vgl. ebd., S. 248–250).
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zu verhalten vermögen; es lässt sich aber nicht darauf zurückführen, dass wir bestimmte Regeln verinnerlicht haben. Es ist, könnte man sagen, das Verständnis, das wir als Personen haben und das uns zu den Personen macht, die wir sind. Cavell muss deswegen den Verdacht hegen, dass eine Ethik, die die Frage nach der Moral als Frage nach Regeln begreift, in irgend einer Weise das lebensweltliche soziale Verständnis leugnen muss, das wir eigentlich schon haben. Sie stellt das moralische Handeln als ein Spiel vor, das durch Regeln geleitet wird, so dass jede Frage danach, wie richtig zu handeln ist, als Symptom mangelnder Regelkenntnis – als Form der »Inkompetenz« – erscheint. Cavells Absage an diese Position ist denkbar eindeutig: »No rule or principle could function in a moral context the way regulatory or defining rules function in games.« 14 Der Rekurs auf Regeln oder Prinzipien ist schon deswegen nicht hilfreich, weil moralische Fragen inmitten von singulären sozialen Konstellationen entstehen und im Normalfall genau dort, wo gegebene Orientierungen nicht mehr hinreichen. Jede praktische Begründung muss daher situationsbezogen sein; ein Verweis auf allgemeine Normen verfehlt das Thema. »A moral reason can never be a flat answer to the competent demand for justification.« 15 Wer das soziale Verständnis hat, das man von zurechnungsfähigen Personen verlangt, und gleichwohl moralische Überlegungen für nötig hält, will z. B. nicht wissen, warum man Versprechen halten soll oder warum es schlecht ist, andere Personen zu demütigen. »Not to know this is not merely to be without the knowledge of a particular practice (promising); it is to be incapable of engaging in any practice at all; to be unready for responsible (competent) action.« 16 Für wirkliche moralische Fragen ist es mithin wesentlich, dass sie eine sehr konkrete Form haben: Sie sind Fragen danach, wie ein Verhalten in diesem besonderen Fall, angesichts dieser Problemlage oder Ebd., S. 307. Ebd., S. 303. – Das heißt nicht, dass es sinnlos wäre, Prinzipien moralischer Normativität zu formulieren. Es heißt aber, dass damit anderes geleistet ist, als man häufig vermutet. Kant schreibt: »Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich als ob vor ihm die Welt, in dem was Pflicht sei, unwissend, oder in durchgängigem Irrtum gewesen wäre.« (Kritik der praktischen Vernunft, A 16, Anm.). Cavell stellt dieses Zitat seinen Überlegungen zur Ethik als Motto voran (The Claim of Reason, S. 245). 16 Ebd., S. 308. 14 15
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dieser besonderen Ansprüchen zu werten ist – und zwar unter der Voraussetzung einer sozialen Normalkompetenz. Wer die Frage des moralischen Skeptikers zur Grundfrage der Ethik macht, wird zu Fragen dieser Art gar nicht erst durchdringen. Cavells grammatische Reflexion setzt bei der Fähigkeit an, mit diesen besonderen, immer wieder neuen moralischen Fragen umzugehen. Dabei steht für ihn außer Zweifel, dass die sozialen Praktiken, die wir vollziehen, um diese Fragen zu klären, solche der Verständigung sind. Das moralische Können liegt darin, dass wir diese Verständigungspraktiken praktisch beherrschen und uns damit performativ auf bestimmte sinnlogische Grenzen eingelassen haben. Mit diesem Verständnis bzw. Vollziehen-Können ist gleichzeitig eine moralische Ansprechbarkeit gegeben, von der wir uns nicht ernsthaft distanzieren können. Die Verankerung der Moral in der menschlichen Existenzform ist tiefer als eine Verankerung durch formulierbare Regeln es sein könnte: Die Moral ist nicht durch ein Handeln ausgezeichnet, das man ausführen könnte oder nicht, oder durch normative Gehalte, über die gestritten wird. Als »Lebensform« durchdringt sie das gesamte Geflecht der Praktiken, deren immer wieder neuen Konstellationen menschliche Praxis konstituieren. Geltend macht sie sich insbesondere in den Spannungsfeldern zwischen den vielfältigen Praktiken, Handlungsrichtungen und Ansprüchen; und insofern wir uns in einer sozialen Welt bewegen, haben wir permanent mit diesen Spannungsfeldern und konkurrierenden Ansprüchen umzugehen. Es ist deswegen ein wesentlicher Teil der Sozialisation, sich Praktiken der Moralverständigung anzueignen. Wer diese nicht vollziehen kann, dem fehlt ein Verständnis, das so grundlegend ist wie der Sinn für persönliche Verpflichtung selbst. Ein solcher Mensch hätte auch für die Verbindlichkeit von Regeln keinerlei Sinn: »For rules are themselves binding only subject to our commitment.« 17 Dass Cavell sich das Thema der Moral »grammatisch« erschließt, darf man also nicht so nehmen, dass er es auf alltägliche Üblichkeiten zuschneiden möchte. Im Gegenteil soll diese Grammatik unverfügbare Voraussetzungen ans Licht bringen: Die normative Unbestimmtheit der Moral ist der Überzeugung geschuldet, dass die Moral eine Dimension personalen Lebens als solchem ist und eine Unausweichlichkeit hat, angesichts deren der akademische Streit um Prinzipien Spielerei
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ist. 18 Die Kontroverse um die Gültigkeit von Normen könnte von der Tatsache ablenken, dass sich das Problem der Moral nicht allgemein und endgültig, sondern allein performativ lösen lässt, indem wir unser moralisches Können in immer wieder neuen Fällen zur Ausübung bringen. Cavells Grammatik des Konflikts erweist sich als Explikation dieses Könnens: Gerade indem uns vor Augen gestellt wird, dass es keine spezifisch rationale Methode der Bewältigung von moralischen Problemen gibt, wird präsent, dass wir diese Bewältigung zu leisten haben, ohne auf eine solche Methode zurückgreifen zu können, und dies prinzipiell auch vermögen. Lebensformen sind keine in sich abgeschlossenen und miteinander inkommensurablen Systeme, so dass alle gemeinsamen Praxismöglichkeiten aufhören, wo sie kollidieren. (Wollte die Ethik ein solches Problem lösen, wäre sie von Anfang an ohne Chance; sie hätte dann ein gemeinsames Handeln aus dem Nichts in Gang zu setzen.) Tatsächlich umfassen unsere alltäglichen Interaktionen auch Praktiken der Bewältigung von konkurrierenden moralischen Ansprüchen: Wir haben eine gewisse Fähigkeit, moralische Differenzen auszutragen, von der wir bereits mehr oder minder erfolgreich Gebrauch machen und die sich weiter kultivieren lässt. Das Gesagte sollte verständlich gemacht haben, warum das moralische Wissen gleich zu Anfang von The Claim of Reason neben das treten kann, was Cavell »having a self« nennt. 19 Cavell behandelt die Moral nicht als Spezialproblem; seine Ethik kann ebenso als Reflexion über Sozialität im Allgemeinen gelesen werden. Auch deswegen ist die Idee, moralische Verpflichtungen müssten sich unter Berufung auf Regeln erklären lassen, verfehlt: In der Perspektive Cavells wäre dies so, als wollte man erklären, was es heißt, eine lebendige Person zu sein, die anderen Personen gegenüber Verantwortung empfindet. Nüchtern betrachtet, besteht wenig Grund zu der Annahme, dass irgend eine normative Erklärung weiterhelfen könnte, wo jemand nicht weiß, was dies bedeutet. Keine noch so ausgefeilte philosophische Theorie könnte hier einen schwerwiegenden Nachholbedarf stillen.
So bemerkt Cavell z. B. gegenüber Stevenson (ebd., S. 289): »To suggest that people can ›decide‹ what methods to use in supporting a moral judgment is to suggest that people can decide what a moral judgment is, can decide whether an issue is a moral one.« 19 Vgl. ebd., S. xvi. 18
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III
Das Ausdrucksverhalten als soziales Band
Dass die Lebenspraxis der Moral eine Praxis des Sich-Verhaltens zu immer wieder neu aufkommenden und stets ganz konkreten Forderungen ist, lässt vor Augen treten, dass der Bezug zum Anderen fundamentale Bedeutung für Cavells Ethik haben muss. Die ethische Verpflichtung entspringt keinem Gesetz, sondern entsteht im konkreten Bezug zu individuellen Personen. Die einzige konstitutive Voraussetzung der moralischen Verständigung, so Cavell in einer wichtigen Passage, besteht darin, dass die moralischen Forderungen anderer Personen als solche verstanden werden. In dieser Hinsicht setzt die Grammatik eine logische Grenze: »What I cannot do, and yet maintain my position as morally competent, is to deny the relevance of your doubts […], fail to see that they require a determination by me.« 20 Die Moral ist insofern Bestandteil unserer Lebensform – und grammatisch verankert –, als die moralischen Forderungen anderer Personen etwas sind, zu dem wir uns nicht nicht verhalten können. Wo diese Voraussetzung in Frage gestellt wird, hört der sinnvolle moralische Diskurs auf. Damit einsichtig wird, wie ein nicht auf Regeln oder normativen Gehalten basierendes Vermögen der moralischen Verständigung zu denken ist, sei diesem Aspekt ein wenig nachgegangen. Als Ausgangspunkt dafür bieten sich die Überlegungen zum Fremdbezug an, die Cavell in »Knowing und Acknowledging« anstellt. 21 Zentral ist hier die Einsicht, dass das »Fremdpsychische« kein Erkenntnisproblem sein kann, da soziale Verhältnisse praktisch konstituiert sind. Das Band zwischen Selbst und Anderem wird nicht durch ein Wissen, sondern durch ein Verhalten geknüpft. Man kann dies so erläutern, dass es von Anerkennung getragen ist; es ist aber wichtig zu sehen, dass Cavell kein soziales Ideal im Sinn hat, aus dem sich normative Maßstäbe ableiten ließen. 22 Der Spielraum des acknowledging ist kein Spielraum, in den
Ebd., S. 267. Vgl. Stanley Cavell, »Knowing and Acknowledging«, in: ders., Must we mean what we say? A Book of Essays, Updated Edition, Cambridge, Mass. 2002, S. 238–266. Vgl. auch Cavell, The Claim of Reason, S. 327–496. 22 Zu dem Thema vgl. auch Lars Leeten, »Anerkennung ohne Identitätsideal. Perspektiven der kritischen Sozialphilosophie«, in: Philosophische Rundschau 58/2011, S. 267– 282. 20 21
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man eigens eintritt – und den man auch wieder verlassen könnte –, sondern ein sozialer Resonanzraum, in dem wir bereits stehen, sofern wir Personen sind. Der Begriff des acknowledging hat, wie Cavell bemerkt, existenziale Bedeutung im Sinne Heideggers. 23 Er kennzeichnet eine Grundverfassung des In-der-Welt-seins. Diese legt sich ihrerseits in unterschiedliche Modi auseinander und muss grammatisch erschlossen werden. Cavell entwickelt diese Grammatik im Ausgang von Wittgensteins Überlegungen zu Schmerzäußerungen. Während die Skeptizismusdebatte unermüdlich um die Frage kreist, welcher epistemische Status Aussagen wie »Ich weiß, dass er Schmerzen hat« zukommt, arbeitet Cavell heraus, dass sich solche Äußerungen angemessener als ein Ausdrucksverhalten entschlüsseln lassen. Wo sich eine Schmerzäußerung als Wissen präsentiert, ist es dann z. B. wahrscheinlich, dass sie Ärger (exasperation), Mitgefühl (sympathy), ein Eingeständnis oder ein Zugeständnis (acknowledgment) zum Ausdruck bringt. 24 Die Sinndimension, in der Sprechakte dieser Art im Alltag stehen, lässt keinen Raum für die epistemische Frage, die die philosophische Diskussion so sehr beschäftigt; denn ein sozialer Bezug ist semantisch jeweils vorausgesetzt. Als soziales Geschehen vollzieht sich der Sprachgebrauch notwendig in den Modi des Zuwendens/Abwendens, Sich-Öffnens/ Sich-Verschließens, Zum-Ausdruck-Bringens/Zurückhaltens; er bewegt sich zwischen den Möglichkeiten des Eingestehens/Nicht-Eingestehens (erste Person) bzw. des Zugestehens/Nicht-Zugestehens (zweite Person) oder, wie man mit einer anderen Formulierung Cavells auch sagen könnte, zwischen »acknowledgment and avoidance«. 25 Dies erklärt auch noch einmal, warum die Verständigung keineswegs abbricht, wenn die Beteiligten die Geltungsansprüche der jeweils Anderen zurückweisen und kein Konsens zustande kommt: Die Verständigung würde erst abbrechen, wenn sich zeigt, dass einer der Beteiligten nicht versteht, dass er mit den Ansprüchen einer Person konfrontiert ist. Denn damit würde er leugnen, dass er sich bereits zu diesen Ansprüchen verhält und dieses Verhalten zu verantworten hat;
Vgl. Cavell, »Knowing and Acknowledging«, S. 263 f. Vgl. ebd., S. 263. 25 So der Titel von Cavell, The Claim of Reason, Kap. XIII, das den vierten Teil des Werks bildet. 23 24
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er würde den Versuch unternehmen, sich jenseits des sozialen Raums aufzustellen. Dies aber hieße, zu der Fiktion Zuflucht zu nehmen, man verstünde die Äußerungen anderer Personen gar nicht als Äußerungen geistiger Wesen. Die Position, dass wir eigentlich keinen Zugang zum Anderen hätten – dass der Andere oder wir selbst »inexpressiv« sein könnten –, kommt dieser Leugnung oder Selbstverleugnung gleich. 26 Was der Skeptiker des Fremdpsychischen als Erkenntnismangel darstellt, erweist sich damit als Stellung in einem sozialen Verhaltensspielraum. Sofern es hier wirklich ein Nicht-Wissen gäbe, so wäre es positiv beschreibbar als »a confusion, an indifference, a callousness, an exhaustion, a coldness«: »Spiritual emptiness is not a blank.« 27 Dass wir im Umgang mit Anderen unausweichlich in der Dimension des acknowledging stehen, bedeutet also, dass wir für die Forderungen anderer Personen ansprechbar sind und sich soziales Verhalten jederzeit im Lichte dieser Voraussetzung bewerten lässt, als ein, wie man auch sagen könnte, Antwortverhalten. Es gehört zum Personsein, mit anderen Personen eine Ausdruckswelt zu teilen; und dies gilt auch noch dort, wo sich eine Person den Forderungen einer anderen verschließt. Wie also kommt es überhaupt zum Skeptizismus gegenüber dem Fremdpsychischen? Cavell begreift diese Position letztlich als unklare Artikulation der existentiellen Voraussetzung, dass sinnliche Wesen raumzeitlich individuiert und damit immer auch unaufhebbar getrennt sind. Wir nehmen unterschiedliche »Positionen« ein. Gemeint ist damit zunächst eine tief in die Logik der menschlichen Praxis eingelassene »seperateness«, wie sie sich charakteristisch in der Semantik der Indexikalia »ich« und »du« niederschlägt. Verwirrung entsteht dort, wo solche grammatischen Grundvoraussetzungen zu einem Erkenntnisproblem gemacht werden: »[…] I am filled with this feeling – of our seperateness, let us say – so I want you to have it too. So I give voice to it. And then my powerlessness presents itself as ignorance – a metaphysical finitude as an intellectual lack.« 28 Die Getrenntheit der leiblichen Positionen ist kein potentiell überschreitbarer Zustand mangelnden Wissens, sondern eine Konstitutionsbedingung der menschlichen Existenzform. Vgl. die Interpretation der Idee einer Privatsprache als Fantasie einer solchen Ausdruckslosigkeit in ebd., S. 343–370. 27 Cavell, »Knowing and Acknowledging«, S. 264. 28 Ebd., S. 263. 26
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Es dürfte spürbar geworden sein, dass vieles von dem, was Cavell schreibt, mit Gewinn auch in phänomenologischer Sprache gesagt werden kann: Dass wir als sinnliche Wesen ausdruckshaft und deshalb unentrinnbar in ein reponsives Geschehen verwickelt sind, sind Motive der Leibphänomenologie; Cavells Gebrauch von »response«, seine Rede von »expressiveness« oder vom menschlichen Körper als »picture of the soul« steht dieser in vielerlei Hinsicht nahe. 29 Dass die Beziehung zum und die Verpflichtung gegenüber dem Anderen gerade durch radikale Trennung konstituiert ist, ist ein Grundgedanke in Lévinas’ Ethik der Alterität; Cavell wird später entsprechende Bezüge herstellen, wenn auch vorsichtig. 30 An dieser Stelle sei jedoch nur eines festgehalten: Cavell denkt das soziale Verhältnis nicht von Regelzusammenhängen her, sondern von den Positionen her, die Personen zueinander einnehmen. Als Verständigungsverhältnis ist es im leiblich-situativen Ausdrucksverhalten verankert; seine Struktur ist durch keine Logik bestimmt, die sich ganz von singulären Situationen abheben ließe. Dieses Geschehen, aus dem Sinn jeweils neu entsteht, setzt auch den Rahmen für die moralische Verständigung: Wo intersubjektive Verhältnisse justiert werden müssen, kommt es wesentlich auf das Vermögen an, sich zur jeweiligen sozialen Situation zu verhalten. Die Moralverständigung ist Cavell zufolge als eine Praxis zu begreifen, in der im Medium von Situationsdarstellungen ausagiert wird, welche Form dieses Verhalten jeweils findet. Ich möchte diese Praxis im Folgenden als sprachliche Wahrnehmungspraxis rekonstruieren, die zugleich eine Arbeit an der jeweiligen Situationsauffassung und an der moralischen Wahrnehmungsfähigkeit ist.
Vgl. Cavell, The Claim of Reason, Kap. XIII, und hier exemplarisch S. 342, 351 f. oder 355–357. – Zu entsprechenden phänomenologischen Beschreibungen z. B. Maurice Merleau-Ponty, Die Prosa der Welt, München 1994, insbes. S. 147–161 oder Bernard Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt a. M. 1994. Cavell bezieht sich gelegentlich auf Heidegger, dessen Ausführungen zum Mitsein eine Inspiration für ihn gewesen sein dürften; vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 121–124. 30 Zu Lévinas vgl. Stanley Cavell, »What is the Scandal of Skepticism?«, in: ders., Philosophy the Day after Tomorrow, Cambridge, Mass., London 2006, S. 132–154, insbes. S. 143–152. 29
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IV Moralische Verständigung als Praxis der Durchdringung von Positionen Cavell schreibt zu Anfang von The Claim of Reason, der moralische Diskurs sei ein »intimes« Geschehen, bei dem »Seelen« einander prüfen: »a form of intimate examination, you might say private, by one soul of another«. 31 Was wird dabei geprüft? Eine zentrale Passage lautet: »The point of the assessment is […] to determine what position you are taking, that is to say, what position you are taking responsibility for – and whether it is one I can respect.« 32 Die Praxis der moralischen Verständigung ist demzufolge eine dialogische Praxis der Selbstverortung. Sie beginnt nicht mit fertigen moralischen Überzeugungen oder überhaupt nur konstatierbaren Handlungsweisen. Sie hat erst zu klären, für welches Verhalten die Beteiligten in der gegebenen Situation einstehen wollen. Dies lässt sich aber nicht von internalisierten Normen her beantworten. Es lässt sich nur durch den Vollzug einer Verständigungspraxis beantworten: Denn ein Ethos geht nicht in kontextunabhängigen Gehalten auf; es muss in konkreten Situationen auf eine Form gebracht werden. Die moralische Verständigung ist dann eine interpersonale Ausformung von ethischen Positionen. Ihr Medium sind konkurrierende Situationsdarstellungen, in denen diese Positionen bestimmt werden. Um sich diese Lesart der moralischen Verständigung genauer zu erschließen, ist ein Blick auf Austin hilfreich. Cavell nennt nicht nur dessen Vorlesungen über das sprachliche Handeln, sondern auch die Arbeit zur Praxis des Sich-Entschuldigens als maßgebliche Auslöser seines eigenen Denkens. 33 In »A Plea for Excuses« hat Austin darauf aufmerksam gemacht, dass Entschuldigungen eine ähnliche Rolle übernehmen können wie praktische Begründungen, auch wenn sie diese Rolle in komplementärer Weise spielen: Bei der Begründung wird ein Handeln verteidigt, indem die Verantwortung akzeptiert, die negative Bewertung aber zurückgewiesen wird; bei der Entschuldigung wird ein
Cavell, The Claim of Reason, S. xvi. Ebd., S. 268. – Für gängige Darstellungen vgl. Stephen Mulhall, Stanley Cavell. Philosophy’s Recounting of the Ordinary, Oxford 1994, S. 34–48 oder Espen Hammer, Stanley Cavell. Skepticism, Subjectivity, and the Ordinary, Cambridge 2002, S. 120– 128. 33 Vgl. Cavell, The Claim of Reason, S. xv. 31 32
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Handeln verteidigt, indem die negative Bewertung akzeptiert, aber die Verantwortung zumindest teilweise zurückgewiesen wird – und zwar indem die Angemessenheit der Handlungsbeschreibung in Frage gestellt wird. Es wird, anders gesagt, Verantwortung für eine andere Handlung übernommen. 34 So kann ich mich, wenn ich jemanden beleidigt haben soll, verteidigen, indem ich plausibel mache, warum es richtig war, ihn zu beleidigen. Ich kann mich aber auch verteidigen, indem ich erkläre, warum es eigentlich keine Beleidigung war, sondern eher eine kleine Retourkutsche, eine leicht überzogene Neckerei oder eine längst überfällige Kritik. Jede dieser neuen Handlungsinterpretationen würde zugleich eine Revision der Handlungsbewertung nötig machen. Beschreibung und Bewertung gehen Hand in Hand. Im Alltag, so legt dies nahe, verteidigen wir unser Tun nicht unbedingt, indem wir Gründe geben, sondern ebenso – und vielleicht wahrscheinlicher – dadurch, dass wir auf veränderte Beschreibungen dessen drängen, was wir eigentlich getan haben. Der praktische Diskurs kann deshalb nicht darauf bauen, dass Handlungen nach der Art von Einzeldingen identifiziert werden können. 35 Wie gewisse Vorgänge kontextualisiert, umgrenzt oder klassifiziert werden sollen, ist selbst ein Streitpunkt der ethischen Auseinandersetzung. Man wird einräumen müssen, dass diese Frage sogar Vorrang gegenüber der Bewertungsfrage haben muss, da nur bereits bestimmte Handlungsweisen bewertet werden können. Für Cavell ist die Bestimmung der (Haltung zur) jeweiligen Situation der ganze Sinn der Moralverständigung. Das entsprechende sprachliche Tun fasst er mit dem Terminus »elaborative«. 36 Das englische »elaborate« kann mit »ausarbeiten«, »mehr ins Detail gehen« oder »ausfeilen« übersetzt werden. Es geht um die Tiefenschärfe von Situationsbeschreibungen. 37 Die »elaboratives« sind Leistungen der Konkretisierung, durch die Personen darlegen, wie sie eine Situation genau sehen, wie sie gewisse Vorgänge zu charakterisieren bereit sind, Vgl. John L. Austin, »A Plea for Excuses«, in: ders., Philosophical Papers, Oxford 1979, S. 175–204. 35 Aussagen über Handlungen können dann z. B. nicht prädikatenlogisch interpretiert werden. Zu einem solchen Versuch vgl. Donald Davidson, »The Logical Form of Action Sentences«, in: ders., Essays on Actions and Events, Oxford 1980, S. 105–122. 36 Vgl. Cavell, The Claim of Reason, S. 296 oder 310. 37 Bereits Austin hatte gesehen, dass dieser Aspekt für praktische Diskurse entscheidend ist: vgl. »A Plea for Excuses«, S. 183 f. 34
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wie sie den Kontext im Einzelnen verstehen, welche Implikationen ihres Tuns sie im Blick haben und mitverantworten und welche nicht, und für welche ethische Haltung sie eigentlich einstehen wollen. Dabei ist die gesamte Bandbreite der alltäglichen Kommunikationspraxis im Spiel, deren feinen Schattierungen nun jederzeit den Unterschied machen können. Eine Person, der vorgeworfen wird, ein Versprechen gebrochen zu haben, wird z. B. im Einzelnen erläutern, unter welchen Bedingungen die Verpflichtung genau eingegangen wurde, ob diese zwischenzeitlich bestätigt oder entkräftet wurde, welche Umstände dazu führten, dass es nicht zu der zugesagten Handlung kam (ob Zwang vorlag, Ängstlichkeit, Nachlässigkeit, Vergesslichkeit), was unternommen wurde, um etwaige Folgen zu mildern usw. 38 Indem sie sich so in der moralischen Welt platziert, bestimmt sie gleichzeitig, wer sie sein will. Dies ist es, was in der Praxis der Moralverständigung letztlich immer wieder neu auf dem Spiel steht: »Its rationality lies in following the methods which lead to a knowledge of our own position, of where we stand; in short, to a knowledge and definition of ourselves.« 39 Durch die Konkretisierung im Zuge von »elaboratives« wird, so könnte man sagen, eine ethische Position so zum Ausdruck gebracht, wie sie als Moment eines gelebten Ethos manifest wird: als eine Form der Wahrnehmung von Situationen. Dabei sind die Sprachvollzüge, die diese Form artikulieren, keine Beschreibungen dieser Wahrnehmung, sondern Situationsbeschreibungen, die eine Wahrnehmungsform exemplifizieren. Das Ethos wird nicht in ethischen Äußerungen ausgesagt; es zeigt sich in ihnen. Dieses Charakteristikum – nicht sagend, sondern zeigend bedeutsam zu sein – ist, könnte man sagen, für die ethische Dimension der Rede wesentlich. 40 Die »elaborativen« oder erläuternden Sprechakte haben damit selbst den Status eines Ausdrucksverhaltens. Sie bleiben als Positionierungen in einer Welt, die durch sprachliche Ordnungen mitkonstituiert ist, an leibliche Positionen rückgebunden.
Vgl. Cavell, The Claim of Reason, S. 297. Ebd., S. 312. 40 Cora Diamond verfolgt dieses Thema im Anschluss an den frühen Wittgenstein in »Ethics, Imagination and the Method of Wittgenstein’s Tractatus«, in: Alice Crary (Hrsg.), The New Wittgenstein, London, New York 2001, S. 149–173, insbes. S. 156– 160. Sie formuliert den zentralen Punkt so, dass es in ethischen Belangen nicht darauf ankommt, Sätze zu verstehen, sondern Personen zu verstehen, die Sätze äußern. 38 39
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Es ist von zentraler Bedeutung, dass damit die Art und Weise – das Wie – des sprachlichen Vollzugs ganz in den Vordergrund rückt. Für die Moralverständigung ist nicht der allgemeine (z. B. normative) Gehalt von Äußerungen, sondern ihre konkrete und individuelle Form entscheidend: ihr Ton oder Stil, ihre ästhetische Gestaltungsweise, ihre Performativität. Da es um die Frage geht, in welchem Licht eine Situation gesehen wird, ist die jeweilige Ausgestaltung keineswegs nur eine rhetorische Färbung, die für »die Sache« nichts austrägt. Im Gegenteil geht es um eine ästhetische Durchdringung, die genau durch die Variation von Situationsdarstellungen erfolgt. Wie man eine Situation sieht und wie man sich zu ihr verhält, beschreibt hier ein und dasselbe: Es gibt keine neutralen Gegebenheiten, die erst in einem zweiten Schritt zu bewerten wären. Dies hieße, die Artikulation von ethischen Perspektiven kognitiv zu deuten, als sekundäre Applikation von Moralüberzeugungen auf besondere Fälle. Wo indes nicht Denkformen, sondern Wahrnehmungsformen zum Ausdruck gebracht werden, geschieht dies performativ, als Vollzug eines ethisch-ästhetischen Könnens. Die entsprechenden Sinnvollzüge, welche aufweisenden oder zeigenden Sinn haben – und nun nicht mehr auf sprachliche Formen im engen Sinn beschränkt sind –, könnte man in Anlehnung an Wittgenstein unter das allgemeine Motto »Sieh es so an!« stellen. Die moralische Verständigung dreht sich, anders gesagt, um den Aspekt, unter dem eine Situation zu sehen ist. 41 In ihr stehen sich Zeichenbildungen gegenüber, die auf etwas aufmerksam machen wollen, was für ethisch bedeutsam gehalten wird. 42 In Kap. XII von The Claim of Reason arbeitet Cavell heraus, dass es bei einem solchen Geschehen keine logische Kluft zwischen Wissen und Handeln zu überbrücken gilt. Die moralische Verständigung – das Wahrnehmen und Zeigen – und das praktisch-ethische Verhalten Die Situationswahrnehmung im Sinne Cavells lässt sich also als ein »Sehen als« erläutern: vgl. dazu Hammer, Stanley Cavell, S. 68–76, mit Verweis auf Stephen Mulhall, On Being in the World. Wittgenstein and Heidegger on Seeing Aspects, London 1990. Zu der Wendung »Sieh es so an!« vgl. auch die ganz ähnliche Interpretation der Moralverständigung bei John McDowell, »Are Moral Requirements Hypothetical Imperatives?«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary 52/1978, S. 13– 29, insbes. S. 21 f. 42 Vgl. Sandra Laugier, »Importance of Importance. Cavell, Film und die Bedeutung von Bedeutsamkeit«, in: Kathrin Thiele/Katrin Trüstedt (Hrsg.), Happy Days. Lebenswissen nach Cavell, München 2009, S. 299–316. 41
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selbst stehen in Kontinuität zueinander. Noch die explizite normative Aufforderung verweist Cavell zufolge auf eine Vollzugsform: »›You ought to …‹ may be thought of as a mode of presenting an action to be done«. 43 Die Moralverständigung steht nicht über der Praxis, in der sich Personen handelnd zueinander verhalten, sondern umfasst selbst Weisen solchen Verhaltens. Auch in Sollensaussagen manifestiert sich kein reiner Gesichtspunkt der Moral, sondern eine Stellung, die eine Person zu einer anderen einnimmt; das »Sollen« geht in der situativen Positionsbestimmung auf. Vor diesem Hintergrund können moralische Streitigkeiten so begriffen werden, dass sie ganz im Medium konkreter Situationsdeutungen ausgetragen werden, die einander widerstreiten: Indem sie Formen der Wahrnehmung aktivieren, greifen diese Deutungen in die jeweilige Situation ein. Die Moralverständigung ist damit eine ethische Wahrnehmungspraxis, in der soziale Realität kraft sprachlicher und nichtsprachlicher Sinnformen gestaltet wird. Zu einer solchen Praxis in der Lage zu sein, ist das wesentliche Vermögen der Moralverständigung bei Cavell. Gleichzeitig ist es, wie gesehen, konditional für das Personsein selbst: Wer keine »elaboratives« beherrscht, versteht die soziale Welt als solche nicht. 44 »Knowing oneself is the capacity […] for placing-oneself-in-the-world.« 45 Das heißt nicht, dass diese Fähigkeit nicht ausgebildet und geübt werden könnte. Im Gegenteil: Die moralische Verständigung und Selbstverständigung, die moralisch ein Streit darum ist, wie eine Situation, ein bestimmtes Verhalten oder eine Handlung zu sehen ist, gilt gleichzeitig ethisch der Fähigkeit der moralischen Wahrnehmungsund Urteilskraft. Sie steht im Kontext eines übergreifenden Prozesses der ethischen Selbsttransformation. Dazu seien abschließend einige Bemerkungen gemacht. Ins Spiel kommt dabei auch die Frage, was Cavell zu dem Fall von Moralverständigung zu sagen hat, in dem sich die Differenzen als unüberwindbar herausstellen.
Cavell, The Claim of Reason, S. 319. – Cavell nimmt dabei bemerkenswerterweise an, dass »ought« in der Regel einen sehr persönlichen Charakter hat und von Anteilnahme zeugt. 44 Vgl. ebd., S. 310 f. 45 Ebd., S. 108. 43
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Moralverständigung als Praxis des ethisch Guten
Cavell konzipiert, so darf man nun sagen, moralische Verständigung als performative Lebenspraxis. Das beinhaltet, dass sie mit den übrigen Lebenspraktiken verwoben ist und nur im Rahmen einer breiter angelegten Ethik des gelingenden Lebens entwickelt werden kann. In Cavells Perspektive sollte die Praxis der Moralverständigung also angemessen als Praxis des ethisch Guten ausgelegt werden können. Ich möchte diese Auslegung abschließend entlang von drei Aspekten erkunden: Die Moralverständigung ist erstens eine unter anderen ethischen Praktiken; sie kann nicht das alleinige Fundament der Ethik sein. Die Moralverständigung muss zweitens Teil einer Praxis der Selbstverständigung sein, die über einzelne Situationen hinausragt; die moralische Verständigung steht bei Cavell im Kontext einer Idee von ethischer Bildung. Drittens kann die Praxis des gelingenden Lebens, zu der die Ethik unter diesen Voraussetzungen wird, keine bereichsspezifische philosophische Disziplin mehr sein. Gegen die vorgestellte Position könnte man – erstens – einwenden, dass die bloße Besinnung auf die Lebenspraxis der Moral keinerlei moralischen Mehrwert abwerfen kann: Die moderne Ethik habe ihren herausfordernden Kern in der Frage, wie mit konkurrierenden moralischen Ansprüchen umzugehen ist. Wie geht Cavell mit Fällen um, in denen inkompatible moralische Haltungen aufeinandertreffen? Es sollte deutlich geworden sein, dass es bei Cavell keine Garantie dafür geben kann, dass Verständigung gelingt. So eine Garantie kann es nicht geben, wo es kein Moralfundament jenseits der Praxis selbst gibt. Es ist auch gar nicht ausgemacht, dass es die Moral ist, welche einen Konflikt entschärft; denn die Moral bezeichnet nur eine der Möglichkeiten, mit Konflikten umzugehen, neben (z. B.) Religion oder Politik. 46 Für Cavell zeugt es jedoch von einem tiefen Missverständnis, von einer Rekonstruktion der Moralverständigung mehr zu erwarten. Nur wo der ethische Logos rationalistisch überhöht wird, wird man ihm eine Generalantwort auf die normativen Fragen zutrauen, die mit der Moral verbunden sind. Wenn Cavell die Moralverständigung als gewöhnliche Lebenspraxis vorstellt, die mit den anderen gewöhnlichen Lebenspraktiken verflochten ist, so verabschiedet er diesen Traum. Doch gerade dadurch wird der Blick dafür frei, dass der ethische Logos eine konkrete 46
Vgl. ebd., S. 269. A
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Redepraxis ist, von der wir stets schon Gebrauch machen und die wir zu verantworten haben. Praktische Begründungen erfordern produktive sprachliche Leistungen. Cavells Grammatik der Moral kann den Blick dafür schärfen, was solche Leistungen ausmachen kann. Sie entbindet jedoch nicht von der Notwendigkeit, diese selbst zu erbringen. Daraus geht der zweite Punkt schon hervor: Cavell entwickelt keine normative oder deontische Logik, sondern rekonstruiert die Moralverständigung, wie gesehen, als Praxis des Konflikts. Herausgearbeitet wird ein praktisches Verständnis, das selbst dort noch am Werk ist, wo unversöhnliche Differenzen bestehen, das wir aber dennoch nicht ernsthaft leugnen können, weil es zum Verständnis von Sozialität als solcher gehört. Der Sinn eines solchen Vorgehens muss offensichtlich primär darin liegen, auf Möglichkeiten der Kultivierung der Moralverständigungspraxis aufmerksam zu machen: Indem gezeigt wird, wie wir in diese Praxis verstrickt sind, wird evident, dass wir für diese Praxis zu sorgen haben. Moralische Kompetenzen, von denen ein Mindestmaß im Normalfall »natürlich« gegeben ist, können gleichwohl fortentwickelt werden. Cavells Überlegungen verweisen mithin auf einen Prozess ethischer Selbsttransformation, der das ganze Leben begleitet. Dass die moralische Verständigung der Form nach als Praxis der Selbstverständigung begriffen wird, reflektiert ihre Zugehörigkeit zu einem übergreifenden Geschehen der ethischen Bildung. Diese stellt für alle moralische Reflexion die bleibende Grundlage dar. 47 Das macht noch einmal begreiflich, warum Cavell seinem Begriff von Moralverständigung keine Vorkehrungen für den Fall einarbeitet, dass die Kommunikation zusammenbricht. 48 Wo Verständigung nicht möglich ist, Haltungen hartnäckig auseinanderklaffen oder der Streit in Gewalt umschlägt, dort wird auch die elaborierteste moralphilosophische Technik allein nichts ausrichten können. Der Fall kann sich nur mithilfe der Einsichten, Erfahrungen und Entwicklungen lösen, die das ganz gewöhnliche Leben mit sich bringt.
Das heißt, dass im Prozess der moralischen Verständigung auch entscheidend sein wird, welche moralische Autorität eine Person beanspruchen darf. Darin setzt sich das Thema fort, das Cavell seit »Must We Mean What We Say?« verfolgt. Welches Gewicht man einer Stimme beimisst, hängt davon ab, wie viel Urteilskraft man einer Person zuschreibt (vgl. The Claim of Reason, S. 269 f.). Es hängt, anders gesagt, von ihrem rhetorischen Ethos ab. 48 Vgl. die abschließenden Bemerkungen zu Teil III in: ebd., S. 326. 47
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Damit wird drittens deutlich, warum die Moralphilosophie aus Cavells Blickwinkel zu jener Ethik des gelingenden Lebens gehören muss, der die Philosophie insgesamt verpflichtet ist. In The Claim of Reason scheint dies in der häufig zitierten Wendung auf, Philosophie sei education of grownups. Dabei gilt: »for grownups this is not natural growth, but change«. 49 Die philosophische Arbeit hat als solche ethischen Charakter; sie ist bei Cavell, wie schon bei Wittgenstein, eine »Arbeit an Einem selbst«, daran, »wie man die Dinge sieht«. 50 Den Versuch, die Fragen der Ethik theoretisch zu beantworten, indem man die Logik moralischer Begründungen decodiert, könnte man aus dieser Sicht polemisch als den Versuch kennzeichnen, das Problem der Moral zu erledigen, ohne sich auf den Prozess der ethischen Bildung einzulassen, der nicht nur das menschliche Verstehen in seiner ganzen Breite fordert, sondern auch Selbstkritik und Selbsttransformation verlangt. In dieser ethischen Bildung hat Cavells Position zur Moralphilosophie ihr eigentliches Zentrum; in der Rede von der »eigenen Stimme«, die es zu entwickeln gilt, findet sie einen Ausdruck, der für das Thema der Moralverständigung sinnfällig sein könnte. 51 Eine Ethik dieser Art kann den Gesichtspunkt der Moral nicht exklusiv und durch unmittelbare Einsicht gewinnen. Sie kann ihn nur durch eine Auseinandersetzung mit jener Praxis gewinnen, die für alle moralische Verständigung die Voraussetzung bildet – das heißt: mit der Lebenspraxis selbst.
Ebd., S. 125; vgl. dazu Naoko Saito/Paul Standish (Hrsg.), Stanley Cavell and the Education of Grownups, Fordham 2011. 50 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werke, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984, S. 472. 51 Zu diesem Motiv vgl. insbes. Stanley Cavell, A Pitch of Philosophy. Autobiographical Exercises, Cambridge, Mass. 1994. Zu Cavells moralischem Perfektionismus vgl. Stanley Cavell, Conditions Handsome and Unhandsome. The Constitution of Emersonian Perfectionism, Chicago 1990 und dazu Martin Saar, »Ethisch-politischer Perfektionismus. Stanley Cavell und die praktische Philosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/2007, S. 289–301. 49
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Theda Rehbock
Wie kann ich wissen, was du willst? Zur Bedeutung sprachlicher und leiblicher Kommunikation in ethischer Hinsicht
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Zur praktischen Relevanz des Themas: der Wille des Patienten
»Wie kann ich wissen, was du willst?« Diese Frage stellt sich in besonderer Weise in der biomedizinischen Ethik, in der die Forderung, den Willen des Patienten, sein Recht auf Selbstbestimmung zu achten, erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Diese Forderung ist aber, so meint man, nur zu erfüllen, wenn der Patient hinreichend autonom, entscheidungsfähig oder »kompetent« 1 ist. Er muss zum Beispiel in der Lage sein, Informationen, Ratschläge und mögliche Behandlungsalternativen in ihrer Bedeutung für seine Situation zu verstehen, eine dieser Situation angemessene Entscheidung zu treffen und sie anderen auf verständliche Weise mitzuteilen. Er muss also auch über eine hinreichende Sprachkompetenz verfügen. So lautet die bioethische Standardmeinung. Gerade in der medizinischen Praxis aber sind diese Fähigkeiten situations- und krankheitsbedingt oft beeinträchtigt, eingeschränkt und unter Umständen noch nicht oder gar nicht mehr vorhanden. Was der Andere will, ist, so scheint es, nur schwer oder gar nicht festzustellen, wenn er sich nicht sprachlich zu äußern vermag, wie dies etwa im Zustand der Demenz oder anderer psychischmentaler Erkrankungen der Fall ist. Doch wo genau ist die Grenze zwischen Kompetenz und NichtKompetenz zu ziehen? Wie sind die Kriterien dafür zu bestimmen? Und wie sind sie zu überprüfen? Diese Fragen sind in der Medizinethik Der Begriff der »Kompetenz« wurde in der biomedizinischen Ethik im Zusammenhang mit der Festlegung der Voraussetzungen für eine rechtlich wirksame informierte Einwilligung, den Informed Consent, geprägt. Vgl. Tom L. Beauchamp/James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, New York, Oxford 2009, Kap. 4. Das Prinzip der Achtung der Autonomie (respect for autonomy) wird hier als ethische Grundlage des Informed Consent verstanden. 1
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umstritten und vor allem in den genannten Grenzbereichen schwer zu beantworten. Schwer demente Menschen sind zwar zu anspruchsvoller sprachlicher Kommunikation und Willensäußerung nicht in der Lage. Dennoch äußern sie sich sowohl sprachlich als auch durch non-verbales Verhalten auf vielerlei Weise. Zu fragen ist, ob sie dadurch – etwa durch das Zurückweisen von Essen und Medikamenten, das Herausziehen von Magensonden, oder durch positive Reaktionen auf Menschen und Situationen – nicht auch einen Willen zum Ausdruck bringen können, der moralisch und rechtlich zu berücksichtigen und zu respektieren ist. Diese Frage wird in Bezug auf den Umgang mit dementen Menschen 2 oder mit psychisch Kranken diskutiert und ist insbesondere im Zusammenhang mit der Frage nach der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen umstritten. Hier besteht die spezielle Problematik, dass die Willenserklärung sich auf einen noch unbestimmten, nur möglichen Zustand bezieht, für den gewisse Wünsche oder Präferenzen geäußert werden, deren Erfüllung von anderen erwartet wird. Patientenverfügungen gelten als ein rechtliches Instrument, mit dem es möglich sein soll, die Selbstbestimmung auf zukünftige Situationen der Nicht-Einwilligungsfähigkeit auszudehnen. Michael Quante spricht von »verlängerter Autonomie«. 3 Auch Patientenverfügungen sind nur gültig, wenn sie im Zustand der Einwilligungsfähigkeit verfasst wurden. Sie können widerrufen werden, an den Widerruf werden weniger strenge Anforderungen gestellt als an die Verfügung selbst, er muss zum Beispiel nicht schriftlich erfolgen. Doch wie sind Lebens- und Willensäußerungen zu beurteilen, die zur früheren Verfügung im Widerspruch stehen oder damit nicht zur Deckung zu bringen sind, die aber nicht (in gleichem Maße) »kompetent« sind, also zum Beispiel nicht (auf gut begründete Weise) sprachlich vermittelt werden können? Im Betreuungsrecht wurde für den Zustand mangelnder Einwilligungsfähigkeit der Begriff des »natürlichen Willens« geprägt, der sich in entsprechenden Verhaltensweisen, zum Beispiel des Widerstands gegen eine Zwangseinweisung in die psychiatrische Klinik oder Zur Selbstbestimmung von Demenzkranken vgl. die kürzlich erschienene Stellungnahme des Deutschen Ethikrates »Demenz und Selbstbestimmung«, Berlin 2012, http://www.ethikrat.org/publikationen/stellungnahmen (Stand: 4. 12. 2012). 3 Michael Quante, Personales Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik, Frankfurt a. M. 2002, Kap. 7. 2
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gegen eine Sterilisation, äußern und nicht ohne weiteres übergangen werden kann. Dieser Begriff des natürlichen Willens wird auch im Zusammenhang mit Patientenverfügungen diskutiert. 4 Angenommen, jemand hat in einer Patientenverfügung erklärt, im Zustand der Demenz sterben zu wollen, sei es durch Verzicht auf überlebensnotwendige Behandlung, etwa mit Antibiotika im Fall einer Lungenentzündung, oder – soweit rechtlich zulässig, wie in den Niederlanden – durch aktive Tötung. Nachdem die Demenz tatsächlich eingetreten ist, scheint der oder die Betreffende aber keineswegs unglücklich zu sein mit ihrer Situation. Im Gegenteil! Sie scheint die verbleibenden Lebensmöglichkeiten zu genießen und vielleicht sogar neue Lebensmöglichkeiten zu entdecken, die sie in ihrem bisherigen Leben verachtet hat, was durch ein entsprechendes leibliches Verhalten zum Beispiel des genussvollen Essens, Spielens, Tanzens, Singens und ähnliche Tätigkeiten zum Ausdruck kommt. Kann dieses Verhalten als Ausdruck eines Willens aufgefasst werden, der die frühere Willenserklärung, in diesem Zustand nicht mehr leben zu wollen und das Leben mit Hilfe anderer zu beenden, außer Kraft setzt? Von vielen Bioethikern und Philosophen wird bestritten, dass einem Menschen in dieser Situation überhaupt ein Wille im eigentlichen Sinne zugeschrieben werden könne. Nur ein bewusster, rational reflektierter, sprachlich kommunizierbarer und damit per se nicht-natürlicher Wille könne überhaupt ein Wille sein, der gemäß dem medizinethischen Prinzip der Autonomie zu respektieren sei. Der Begriff eines »natürlichen Willens« sei in sich widersprüchlich und sollte nicht verwendet werden. 5 Was sich im Ausdrucksverhalten von Demenzkranken äußere, sei kein Wille, es handle sich vielmehr um – auf das aktuelle Wohl bzw. die Vermeidung von Schmerz und Unlust zielende – Wünsche: »experiential interests« (»erlebensbezogene Interessen«), wie Ronald Dworkin und, ihm folgend, Michael Quante sagen. Der Wille oder, wie diese beiden Autoren meinen, die »Persönlichkeit« des Vgl. Ralf J. Jox, »Der ›natürliche Wille‹ als Entscheidungskriterium. Rechtliche, handlungstheoretische und ethische Aspekte«, in: Jan Schildmann/Uwe Fahr/Jochen Vollmann (Hrsg.), Entscheidungen am Lebensende. Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik, Berlin 2006, S. 73–90; ders., »Widerruf der Patientenverfügung und Umgang mit dem natürlichen Willen«, in: Gian D. Borasio/Hans-Joachim Heßler/Ralf J. Jox/Christoph Meier (Hrsg.), Patientenverfügung. Das neue Gesetz in der Praxis, Stuttgart 2012, S. 129–139. 5 Vgl. Jox, »Widerruf der Patientenverfügung«, S. 24 f. 4
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Menschen, manifestiere sich dagegen ausschließlich in seinen »critical interests« (»wertebezogenen Interessen«), die aus einer bewussten Bewertung einer Lebenssituation resultieren und über die der schwer demente Mensch nicht mehr verfüge. 6 Im Fall von Patientenverfügungen kann es nach dieser Ansicht gar nicht zu einer echten Kollision zwischen zwei gleichrangigen Willensäußerungen und damit zwischen zwei gleichrangigen Prinzipien oder Pflichten kommen, sondern allenfalls zu einem Konflikt zwischen der Pflicht zur Achtung des früheren autonomen Willens und der Pflicht zur Fürsorge für das aktuelle Wohlbefinden des dementen Menschen. In diesem Konflikt habe die Achtung des Willens klaren Vorrang vor der Fürsorge. Wenn jemand, so Dworkin, im Zustand der Einwilligungsfähigkeit entscheide, dass es in seinem Interesse wäre, »im Fall hochgradiger und irreversibler Demenz nicht weiterzuleben, würde es einen unzumutbaren moralischen Paternalismus bedeuten, wenn eine Person, die mir gegenüber eine Fürsorgepflicht hat, sich meinem Willen widersetzen würde.« 7 Das gilt insbesondere dann, wenn in der Patientenverfügung die Nicht-Beachtung der zukünftigen »experiential interests« ausdrücklich gefordert wird, wie es Jox und andere Bioethiker vorschlagen.8 Was ist von dieser Konzeption zu halten? Zunächst einmal halte ich die kompetenzorientierte Autonomiekonzeption in der Medizinethik grundsätzlich für problematisch, sofern sie nicht nur die Befolgung einzelner Entscheidungen, sondern das Selbstbestimmungsrecht bzw. den moralischen Anspruch auf Achtung des eigenen Willens insgesamt von faktisch feststellbaren kognitiven Fähigkeiten abhängig macht. Demgegenüber plädiere ich dafür, diesen Anspruch in einem unbedingt und universal (für alle Menschen und für alle denkbaren menschlichen Lebenslagen) gültigen Sinne zu verstehen, die Begriffe des Willens und der Selbstbestimmung entsprechend weit zu fassen, sie aber situationsspezifisch in der Anwendung zu konkretisieren. 9 Vgl. Ronald Dworkin, Life’s Dominion. An Argument about Abortion, Euthanasia, and Individual Freedom, New York 1993, dt. Die Grenzen des Lebens. Abtreibung, Euthanasie und persönliche Freiheit, Reinbek bei Hamburg 1994, Kap. 7; Quante, Personales Leben, Kap. 7, insbes. S. 271–275, 280–282, 286. 7 Dworkin, Die Grenzen des Lebens, S. 322. 8 Vgl. Jox, »Der ›natürliche Wille‹«, S. 88 und ders., »Widerruf der Patientenverfügung«, S. 10. 9 Das ist die zentrale These meines Buches Personsein in Grenzsituationen. Zur Kritik 6
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Für diese These argumentiere ich indirekt, ausgehend von der Kritik des Kompetenzmodells hinsichtlich fundamentaler Missverständnisse ethischer Grundbegriffe wie Selbstbestimmung, Wille und Person. Zunächst (III) zeige ich, dass das Kompetenzmodell auf einem objektivistischen Missverständnis dieser Begriffe beruht. Es verkennt, dass die Person des Anderen und ihr Wille uns nicht in einer objektivierenden Haltung der Beobachtung ihres Verhaltens, sondern nur in sprachlich und leiblich verfasster kommunikativer Praxis zugänglich sind. Diese Praxis macht den primären und unhintergehbaren Horizont für alle objektivierenden Prozeduren und medizinischen Maßnahmen aus, einschließlich der aus rechtlichen Gründen gegebenenfalls notwendigen Feststellung der »Einsichts- und Urteilsfähigkeit« oder »Kompetenz«. Das objektivistische Missverständnis ist verknüpft mit einem rationalistischen und dualistischen Missverständnis des Willens, das ich in einem zweiten Schritt (IV) der Kritik unterziehe. In diesem Zusammenhang argumentiere ich für einen weiten, nicht ausschließlich an Vernunft und Sprache gebundenen Begriff des Willens bzw. Wollens, der sich auch, ja primär im leiblichen Verhalten manifestiert. In einem dritten Schritt (V) erweitere und erhärte ich diese Argumentation durch die Kritik einer individualistischen Auffassung des Willens, indem ich zeige, dass der individuelle Wille sich nur ausbilden und verstehen lässt vor dem Hintergrund eines allgemeinen, leiblich und sprachlich fundierten Wollens. Abschließend (VI) zeige ich praktische Konsequenzen für die genannten medizinethischen Fragen auf, insbesondere für einen kritisch reflektierten und umsichtigen Umgang mit Patientenverfügungen. Bevor ich mich der Begriffskritik zuwende, präsentiere ich zunächst einen aktuell viel diskutierten Fall, der mir im Folgenden als Bezugspunkt meiner Analysen dienen wird.
der Ethik medizinischen Handelns, Paderborn 2005, zum Autonomieprinzip vgl. hier vor allem Kap. X. Was hier allerdings noch nicht erfolgt und auch in diesem Aufsatz nicht zu leisten ist, ist die Einbeziehung der moralischen Bedeutung von Autonomie im Kantischen Sinne in die Medizinethik. Vgl. hierzu meine Artikel, »Limits of autonomy in biomedical ethics? Conceptual clarifications«, in: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics 20/2011, S. 1–9; und »Freiheit, Autonomie und Menschenwürde des Straftäters angesichts der Herausforderungen durch die Neurowissenschaften«, in: Heike Baranzke/Gunnar Duttge (Hrsg.), Würde und Autonomie als Leitprinzipien der Bioethik. Grundzüge einer moralphilosophischen Verständigung, Würzburg 2013 (im Erscheinen). A
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Der Fall Walter Jens
Walter Jens hatte als Rhetorikprofessor in Tübingen, zusammen mit dem Theologen Hans Küng, in den 1990er Jahren engagiert, rhetorisch gewandt und rational begründet für die aktive Sterbehilfe gefochten und besonders den Zustand der Demenz als nicht vereinbar mit einem humanen Leben angesehen. 1996 sagte er in der Totensonntags-Sendung im ZDF: Ich glaube nicht, dass derjenige, der am Ende niemanden mehr erkennt von seinen nächsten Angehörigen, im Sinne des Humanen noch ein Mensch ist. Und deshalb denke ich sollte jeder bestimmen können, dann und dann möchte ich, dass ich sterben darf. 10
Wie sein Sohn Tilman Jens berichtet, hatte er mit einem befreundeten Hausarzt vereinbart, dieser möge ihm in Form eines assistierten Suizids rechtzeitig helfen zu sterben. Außerdem hatte er in einer Patientenverfügung den Wunsch nach einer Beendigung des Lebens auch für den Fall der Demenz geäußert. Seit einiger Zeit ist dieser Fall tatsächlich eingetreten. Seine Ehefrau, Inge Jens, die seine frühere Position zur Sterbehilfe mit ihm uneingeschränkt geteilt hatte, beschreibt seine aktuelle Lage in einem Interview folgendermaßen: Ich weiß genau, und es steht Wort für Wort in unserer Patientenverfügung formuliert, dass mein Mann so, wie er jetzt leben muss – unfähig zu schreiben, zu sprechen, zu lesen, überhaupt noch zu verstehen – niemals hat leben wollen. Sein Zustand ist schrecklicher als jede Vorstellung, die er sich wahrscheinlich irgendwann einmal ausgemalt hat. Trotzdem wäre ich im Augenblick nicht fähig, ihm zum Tode zu verhelfen. Sein Lebenswille bezieht sich nicht mehr auf sein geistiges Wirken. Er hat sich zu einem biologischen Leben in einem Maße verschoben, wie ich es selbst nicht für möglich gehalten hätte. Genauso sicher, wie wir uns damals waren, dass wir beide so nicht leben wollten, weiß ich heute, dass mein Mann nicht sterben möchte. 11
Inge Jens und ihr Sohn Tilman Jens 12 berichten, wie der ehemalige Intellektuelle jetzt, nachdem eine optimale Form der Betreuung mögZitiert nach: Tilman Jens, Demenz. Abschied von meinem Vater, München 2009, S. 17. »›Bitte nicht totmachen!‹ Trotz Krankheit hängt Walter Jens am Leben«, Interview von Marc Herwig mit Inge Jens, in: Die Berliner Literaturkritik, 21. 07. 2009, http:// www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/interview-mit-inge-jens.html (Stand: 20. 2. 2013). 12 Vgl. Jens, Demenz. 10 11
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lich geworden ist, mit Spaziergängen, Besuchen auf dem Bauernhof, genussvollem Umgang mit Tieren, Spielen und Malen eine Lebensform gefunden hat, in der er alle denkbaren Anzeichen von Lebensfreude und Lebenswillen zeigt. Auf die Frage des Interviewers Marc Herwig, ob denn nicht trotzdem der frühere, im Vollbesitz geistiger Fähigkeiten geäußerte Wille, in dieser Lebenslage zu sterben, maßgeblicher und bindender sei als die jetzigen Lebensäußerungen, antwortet sie: Darüber habe ich natürlich auch viel nachgedacht. Ich glaube, dass ich ganz gut beurteilen kann, was er wirklich denkt […], was er fühlt, was er möchte. Es gibt nach wie vor Dinge auf dieser Welt, die ihm Freude machen. Er isst mit allergrößtem Vergnügen. […] Das ist doch kein Todeswunsch, der sich da äußert. 13
Was hat Inge Jens zu einer Änderung ihrer ursprünglichen Haltung bewogen? Wie ist diese Einstellungsänderung zu beschreiben und zu beurteilen? Handelt sie im Sinne Dworkins auf unzulässige Weise paternalistisch, wenn sie ihrem Mann nicht dazu verhilft zu sterben? Oder hat sich angesichts der direkten Erfahrung der früher nur imaginierten Vorstellung der Situation der Demenz nicht nur ihre persönliche Einstellung zu dieser Form menschlichen Lebens, sondern auch der Sinn für die ethische Problematik der Diskrepanz zwischen früheren Sterbewünschen und aktuellen Lebens- und Willensäußerungen geschärft? Um diese ethische Problematik angemessen zu erfassen, ist es notwendig, das in der biomedizinischen Ethik vorherrschende Kompetenzmodell der Autonomie und des Willens bzw. die ihm zugrunde liegenden Missverständnisse, wie angekündigt, einer grundlegenden begrifflichen und methodischen Kritik zu unterziehen.
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Vom Objektivismus und Reduktionismus zum Primat kommunikativer Praxis
Das kompetenzorientierte Standardmodell der Autonomie ist objektivistisch, sofern im Fall des Kranken, dessen Urteils- und Einsichtsfähigkeit (»Kompetenz«) zweifelhaft ist, zunächst durch distanziert objektivierende Beobachtung des Verhaltens und entsprechende Test13
»›Bitte nicht totmachen!‹«, Interview mit Inge Jens. A
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und Messverfahren 14 festgestellt werden soll, ob er über die für eine Entscheidung notwendigen kognitiven Fähigkeiten verfügt, bevor man ihm einen Anspruch auf die Achtung seines Willens zubilligt. Der Kranke erscheint aus dieser Perspektive primär als ein bloßes Objekt psychologischer Beobachtung, bevor er als Person mit einem Willen in Erscheinung treten kann. Es ist selbstverständlich notwendig, für Einschränkungen, Störungen oder den Verlust kognitiver Vermögen und damit der Entscheidungsfähigkeit, im Interesse des Patienten selbst, nicht blind zu sein. Fraglich ist aber, wie darauf in erster Linie angemessen zu reagieren ist: durch objektivierende diagnostische Maßnahmen zur Feststellung kognitiver Störungen mittels der genannten Testverfahren vom Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters oder durch ein Bemühen um Verstehen, Kommunikation und Einfühlung in die Situation des Betroffenen? Der (begrenzte) Sinn psychologischer Diagnosen soll nicht in Frage gestellt werden. Sie können für die Entscheidung über die Einsetzung eines Stellvertreters oder, im Extremfall, für die Rechtfertigung von begrenzten Zwangsmaßnahmen aus Gründen der Fürsorge relevant sein. Falsch und in einem hohen Maße ethisch problematisch ist aber die Meinung, mit der Feststellung kognitiver Störungen der Entscheidungsfähigkeit würde auch der moralische Anspruch des Betroffenen auf die Achtung seines Willens und die Relevanz aktueller – »inkompetenter« – Willensäußerungen für die Bestimmung des Willens reduziert oder gar ganz außer Kraft gesetzt. Falsch ist auch die damit einhergehende Reduktion der Achtung der Selbstbestimmung auf die Achtung »kompetenter« Entscheidungen (»respect for the autonomous choices of persons«15 ). Die ethische Problematik dieses Objektivismus und Reduktionismus besteht darin, dass der primär und unaufhebbar kommunikative Auf die Entwicklung und Prüfung entsprechender Kriterien bzw. Standards und Testverfahren zur Feststellung der Entscheidungskompetenz in zweifelhaften Fällen, als »assessment tools« für die klinische Anwendung, wurde in den letzten Jahren viel Mühe verwendet. Ein viel zitiertes und diskutiertes Beispiel ist das von Thomas Grisso, Paul S. Appelbaum und Carolyn Hill-Fotouhi entwickelte »MacCAT-T: A Clinical Tool to Assess Patients’ Capacities to Make Treatment Decisions«, in: Psychiatric Services 48/ 1997, S. 1415–1419. Vgl. auch Jochen Vollmann, Patientenselbstbestimmung und Selbstbestimmungsfähigkeit. Beiträge zur Klinischen Ethik, Kap. 6 und Anhang 1. 15 Beauchamp/Childress, Principles of Biomedical Ethics, S. 99. Der Begriff der »Kompetenz« dient dementsprechend als »threshold« concept mit »gatekeeping function« (ebd., S. 111–114), indem nur denjenigen die Achtung ihres Willens gewährt wird, die eine bestimmte Messlatte an kognitiven Leistungen überspringen können. 14
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Charakter der Beziehung zwischen Arzt und Patient verkannt wird, der die Achtung der Person und ihres Willens notwendig voraussetzt. Diese Problematik besteht schon gegenüber dem »kompetenten« Patienten, der dem Kompetenzmodell zufolge auf Grundlage der ihm oder ihr vom Arzt gelieferten Informationen zu Krankheitszustand, Prognose des weiteren Verlaufs und Indikation möglicher Therapien oder anderer Maßnahmen über die aus seiner persönlichen Sicht beste Maßnahme entscheiden soll. Damit wird zum einen verkannt, dass nicht erst mögliche Therapien, sondern schon die diagnostischen Maßnahmen zur Feststellung der Krankheit einen mehr oder weniger tiefreichenden Eingriff in die körperliche und persönliche Integrität des Patienten darstellen, die seiner oder ihrer Zustimmung bedarf. Die Achtung des Patientenwillens steht nicht am Ende, sondern bereits am Anfang der Begegnung zwischen Arzt und Patient, bevor dieser überhaupt die Patientenrolle eingenommen hat. Denn auch darüber entscheidet der potentielle Patient. Zum anderen wird fälschlicherweise angenommen und gefordert, dass die dem Patienten vermittelten medizinischen Informationen einen völlig wertfreien, rein deskriptiven Charakter hätten und ihre Bewertung ausschließlich dem Patienten zu überlassen sei. Tatsächlich aber gehen in diese Information bereits notwendigerweise subjektive Wertungen und normative Annahmen vonseiten des Arztes ein, die im Interesse der Selbstbestimmung des Patienten nicht zu verdecken und zu verschleiern, sondern kommunikativ zu vermitteln und offenzulegen sind. Die Mitteilung an den Patienten, er habe eine bestimmte Krankheit, die sich auf eine bestimmte Weise behandeln lasse, ist zwar nicht als solche wertend und normativ. Sie impliziert aber die stillschweigende Voraussetzung, dass der diagnostizierte Zustand, etwa eines Tumors, als Krankheit für den Patienten eine Quelle des Leidens darstellt und auf eine bestimmte Weise behandelt werden sollte, um ihn von der Krankheit zu befreien oder zumindest Leidenslinderung zu erreichen. Schon eine allgemeine medizinische Indikation, wonach in bestimmten vergleichbaren Fällen von Krankheitsdiagnosen bestimmte Maßnahmen geeignet sind, ein bestimmtes Therapieziel zu erreichen, wäre unverständlich ohne einen allgemeinen Bezug auf Krankheit als etwas Unerwünschtes, mit Schmerz und Leiden Verbundenes, und auf ihre Überwindung, Gesundheit und Leidenslinderung als etwas, das anstrebenswert ist. Damit wird zugleich vorausgesetzt, dass der Patient selbst seine Krankheit als ein Leiden ansieht, dessen Überwindung oder LinA
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derung seinem »best interest« und damit seinem Willen entspricht. Dies ist zwar im Allgemeinen tatsächlich der Fall. Doch kann es immer und zumal stillschweigend vorausgesetzt werden? Die in der Indikation enthaltene »normative« Dimension, das »Sollen« ist, trotz allgemeiner Gültigkeit, immer nur ein konditionales Sollen, abhängig vom Wollen des Subjekts, ein »hypothetischer Imperativ« im Kantischen Sinne also. Auch die aus allgemeiner medizinischer Sicht am meisten »gebotene« Maßnahme ist möglicherweise aus subjektiver, persönlicher Sicht nicht wünschenswert und abzulehnen. Es kann immer sein, dass die Sorge um die eigene Gesundheit für den Patienten nicht an oberster Stelle steht, sondern dass er sein gesundheitliches Wohl auf Grund anderer Anliegen, Ziele oder Wünsche, die für ihn oder sie einen höheren Stellenwert haben, aufs Spiel setzt. Um herauszufinden, was dieser Patient in seiner besonderen Situation tatsächlich braucht und will, bedarf es von Anfang an der Kommunikation, die sich nicht nur am Wohl, sondern immer zugleich am Willen des Patienten orientiert. In der Geschichte der Medizin und Medizinethik wird zwar immer wieder die Notwendigkeit der – über das rein »Naturwissenschaftliche« hinausgehenden – »ärztlichen« Sorge für das Individuum betont. Offenbar in dieser Tradition stehend unterscheidet zum Beispiel Gerald Neitzke von der »medizinischen Indikation« die »ärztliche Indikation« 16 im eigentlichen und engeren Sinne, die nicht im Allgemeinen, sondern nur angesichts der individuellen Leidenssituation des Kranken als Person zu stellen ist. Dafür komme es in hohem Maße nicht allein auf physiologische Eigenheiten an, sondern ebenso auf persönlich-individuelle »Faktoren« oder »Merkmale« »wie Alter, Schwere des Krankheitsbildes, persönliche Belastbarkeit, Einsichtsvermögen, soziale Umwelt, Leidensunwilligkeit, Krankheitseinsicht u. v. a. m.«, wie Neitzke, dem Mediziner Felix Anschütz folgend, betont. 17 Neitzke meint allerdings, die so verstandene »ärztliche Indikation« setze zwar »eine genaue Kenntnis der Wünsche und Einstellungen des Patienten« Gerald Neitzke, »Unterscheidung zwischen medizinischer und ärztlicher Indikation. Eine ethische Analyse der Indikationsstellung«, in: Ralph Charbonnier/Klaus Dörner/ Steffen Simon (Hrsg.), Medizinische Indikation und Patientenwille. Behandlungsentscheidungen in der Intensivmedizin und am Lebensende, Stuttgart, New York, S. 53–66. 17 Felix Anschütz, Indikation zum ärztlichen Handeln. Lehre, Diagnostik, Therapie, Ethik, Berlin [u. a.] 1982, S. 12. Vgl. Neitzke, »Unterscheidung zwischen medizinischer und ärztlicher Indikation«, S. 57. 16
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voraus, sie sei aber nicht mit der Achtung des Patientenwillens zu verwechseln. Die Indikation stelle vielmehr zunächst nur ein »Therapieangebot« des Arztes dar, das sich »an der gesamten Persönlichkeit« des Kranken orientiere und das »Patientenwohl […] aus Sicht des Arztes« zum Ausdruck bringe. Sie könne »durch den Willen des Patienten abgelehnt werden«. 18 Dieser Versuch, den Patientenwillen nicht in wohlmeinender Fürsorge für die Person des Patienten aufgehen zu lassen, ist zwar an sich begrüßenswert. Er ist zudem auch antireduktionistisch, indem die ganze Situation des Patienten berücksichtigt werden soll. Er ist gleichwohl der objektivistischen und paternalistischen ärztlichen Grundhaltung noch mehr verhaftet als eine auf die rein medizinische Indikation sich beschränkende Aufklärung, sofern die Indikationsstellung ohne Rücksicht auf den Patientenwillen erfolgen soll. Der Patient wird nach dieser Vorstellung zunächst in einem viel umfassenderen, »ganzheitlichen« Sinne zum Objekt medizinischer Untersuchung, bevor er sich als Person mit seinem Willen zustimmend oder ablehnend zu Wort melden darf. 19 Damit wird verkannt, dass die »individuellen Faktoren« sich nicht, wie ein Tumor auf dem Röntgenbild, von einem unbeteiligten Standpunkt objektiver Beobachtung des Patienten feststellen lassen, sondern nur in direkter Kommunikation mit ihm. Indem der Arzt (idealerweise) mit dem Patienten herauszufinden versucht, welche medizinische Maßnahme hier und jetzt, in seiner individuellen Situation für ihn oder sie gut ist, seinem oder ihrem Wohl dient, muss er sich immer auch damit auseinandersetzen, was der Patient wünscht, erwartet oder anstrebt, also mit dem, was er will. Das gilt, wie gesagt, vom ersten Moment an bereits für diagnostische Maßnahmen. Person, Wille und Selbstbestimmung des Patienten stellen von Anfang bis Ende, zusammen mit seinem Wohl, die höchste Leitlinie medizinischen bzw. ärztlichen Handelns dar. Wohl und Wille sind voneinander untrennbare Begriffe, wie schon Platon hervorgehoben hat. Was ich will, ist das für mich Gute bzw. das von mir für gut gehaltene. Ebd., S. 58. Dass eine »ganzheitliche« Orientierung in der Medizin an der »gesamten Persönlichkeit«, wie Neitzke es nennt, eine noch viel größere Missachtung der Person und Freiheit des Kranken bedeutet als eine rein somatische Betrachtung und Behandlung, hat Karl Jaspers in überzeugender Weise angesichts entsprechender Tendenzen in der medizinischen Anthropologie vor allem Viktor von Weizsäckers deutlich gemacht. Vgl. Rehbock, Personsein in Grenzsituationen, Kap. V. 7.
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Ich kann mich irren, ob das Gewollte wirklich gut ist, andere können mich darüber aufklären, dass dies nicht so ist, weil mir vielleicht relevante Informationen fehlen, weil ich mir falsche Vorstellungen etwa vom Risiko oder den Nebenfolgen einer medizinischen Maßnahme mache usw. Wenn andere, etwa die Ärztin, davon überzeugt ist, dass eine medizinische Maßnahme für mich gut ist, dass sie indiziert ist, so muss sie mich davon zu überzeugen versuchen, das heißt: mich dahin bringen, dass ich die Maßnahme will. Mein Wille liegt weder von Anfang an fest, noch ist er bloß eine abschließende zustimmende oder ablehnende Stellungnahme. Er kommt im Verhalten des Patienten von Anfang an zum Ausdruck, schon durch den Gang zum Arzt, und er bildet und verändert sich im Prozess der Auseinandersetzung mit der Krankheit und der Aufklärung und Kommunikation mit dem Arzt, der Ärztin oder auch anderen medizinischen Betreuungspersonen. Am Ende dieses Prozesses kann ein Konsens, aber auch ein Dissens stehen, den der Arzt im Sinne der Achtung des Willens dann zu tolerieren hat, auch wenn ihm der Wille des Patienten noch so irrational erscheinen mag. Dieser Dissens kann auch darauf beruhen, dass, wie ebenfalls schon Platon und Aristoteles hervorhoben, die Gesundheit zwar ein hohes Gut, aber nicht das höchste Gut, sondern durch andere, ebenso hohe Güter relativierbar ist, die unter besonderen Umständen der Gesundheit vorzuziehen sind. Es mag sein, dass ich das Risiko der Unterlassung einer wichtigen, für mein körperliches Wohl (fast) unerlässlichen Operation eingehe um eines Zieles willen, das mir dieses Risiko wert ist. Betrachten wir nun vor diesem Hintergrund die ethische Problematik von Kompetenzuntersuchungen in Situationen, in denen dem Arzt die Entscheidungsfähigkeit des Patienten auf Grund kognitiver oder psychischer Störungen zweifelhaft zu sein scheint. Die ethische Problematik solcher Untersuchungen besteht schon darin, dass auch sie, wie diagnostische bzw. medizinische Maßnahmen allgemein, der Einwilligung durch denjenigen bedürfen, der oder die dieser Untersuchung unterzogen wird. Die Katze beißt sich sozusagen in den Schwanz und führt damit das Kompetenzmodell der Achtung des Willens und der Selbstbestimmung, das diese Achtung von Kompetenzfeststellungen abhängig macht, ad absurdum. Als falsch und illusorisch erweist sich bei genauerer Betrachtung auch die Meinung, die Feststellung (Messung) der Entscheidungskompetenz solle und könne rein deskriptiv, formell und wertneutral erfolgen, als objektivistisches Vor182
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urteil. Das ist zwar gut gemeint: Dem Patienten soll zugestanden werden, eine eigene Entscheidung zu treffen, gleichgültig wie unvernünftig oder irrational sie anderen erscheinen mag. Deshalb muss, so meint man, die deskriptive, empirische Feststellung von der normativen Forderung, die Selbstbestimmung zu achten, ganz unabhängig sein. Was zählt, ist aus dieser Sicht der Prozess »kompetenter« Entscheidungsfindung, nicht ihr Ergebnis. Damit wird jedoch verkannt, dass Urteile über die Entscheidungsfähigkeit anderer Menschen, ähnlich wie medizinische Diagnosen und Indikationen, notwendigerweise implizit wertend (evaluativ) und normativ sind. 20 Je mehr jemand dazu neigt, auf der Grundlage aller relevanten Informationen – ohne äußeren Zwang oder Druck und ohne erkennbaren, nachvollziehbaren Grund – Entscheidungen zu treffen, deren Folgen für ihn selbst offenbar sehr nachteilig oder schädlich sind, desto mehr besteht für uns ein Anlass, an seinen für solch eine Entscheidung notwendigen kognitiven Fähigkeiten zu zweifeln. Wer beispielsweise eine geringfügige, fast risikolose, aber in hohem Maße überlebensnotwendige medizinische Maßnahme ablehnt, lässt uns eher an seiner oder ihrer Entscheidungsfähigkeit zweifeln als jemand, der eine hoch risikoreiche Maßnahme mit nur geringen Erfolgsaussichten ablehnt. Das ungewöhnliche Verhalten der ersten Art kann Anzeichen für eine psychische oder kognitive Störung sein, es kann sich aber auch um eine eigenwillige, für andere nur schwer oder gar nicht verständliche Ablehnung (bestimmter) medizinischer Maßnahmen handeln. Dass das Verhalten des Anderen unverständlich, fremd, widersprüchlich erscheint, kann ganz unterschiedliche Gründe haben, die etwa mit einer sehr eigenwilligen oder andersartigen Weltwahrnehmung und Lebensform zu tun haben können. Ein solches Verhalten ist nicht per se als krank, pathologisch oder »inkompetent« zu beurteilen. Um zu klären, ob das eine oder das andere der Fall ist, bedarf es in erster Linie des Bemühens um Verstehen, Kommunikation und Einfühlung (Empathie). Im Fall eines Verdachtes auf Es gibt mittlerweile diverse Beiträge zur Kritik von Verfahren zur Messung der Entscheidungsfähigkeit, die in eine ähnliche Richtung gehen. Vgl. zum Beispiel: Natalie F. Banner, »Unreasonable reasons. Normative judgements in the assessment of mental capacity«, in: Journal of Evaluation in Clinical Practice 18/2012, S. 1038–1044. Zur Kritik des MacCAT-T vgl. auch Vollmann, Patientenselbstbestimmung, Kap. 6. Vollmann geht es allerdings nicht um eine grundlegende Kritik, sondern um eine Erweiterung dieses auf kognitive Fähigkeiten beschränkten Messinstrumentes durch die für eine Entscheidung notwendigen emotionalen Kompetenzen.
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eine psychische oder kognitive Störung kann eine objektive Prüfung der kognitiven Fähigkeiten eines Menschen, etwa auch mittels neurophysiologischer Untersuchungen, notwendig sein. Sie ist jedoch grundsätzlich nur im Kontext einer kommunikativen Beziehung zum Anderen und mit dessen Zustimmung möglich und zu rechtfertigen. Sie darf nicht gegen den hartnäckigen Widerstand des Patienten, mit Hilfe von Zwang und Gewalt, erfolgen, mag der Widerstand auch noch so irrational und krankheitsbedingt erscheinen. Man muss sich in jedem Fall der ethischen Problematik dieser Form der Objektivierung des Anderen bewusst sein. Die Verpflichtung zur Achtung des Willens wird nicht durch Inkompetenzfeststellungen außer Kraft gesetzt. Man kann auch nicht ohne weiteres den im Widerstand gegen medizinische Maßnahmen (etwa des Drogenentzugs oder von beruhigenden Medikamenten) anscheinend sich äußernden Willen (ohne weiteres) als einen inneren Zwang deuten, von dem der Betreffende in seinem eigenen Interesse zu befreien wäre. Paternalistisches Eingreifen in das Wollen und Handeln eines Anderen ist daher immer ein ethisches Dilemma, also eine Zwangslage, in der man durch ein Übel ein noch größeres Übel zu verhindern sucht.21 Dass Kompetenzfeststellungen implizit evaluativen und normativen Charakter haben, zeigt auch die in der medizinethischen Literatur umstrittene, aber durchaus plausible Sliding Scale Strategy, die auch im Recht zur Anwendung kommt. Kompetenzfeststellungen und Zwangsbehandlung gegen den Willen bzw. Widerstand des Betroffenen gelten demnach desto eher als gerechtfertigt, je größer die Selbstoder Fremdgefährdung, der Schaden für ihn selbst oder für andere ist, der durch die Maßnahmen verhindert werden soll. Im Fall der Selbstgefährdung beinhaltet diese Strategie selbstverständlich die Gefahr paternalistischer Fremdbestimmung und Bevormundung, soweit nicht Sowohl konsequentialistische Positionen als auch die David Ross folgende Auffassung ethischer Prinzipien als bloß prima facie gültig, wie Beauchamp und Childress sie vertreten, haben keinen Sinn für den tragischen Charakter solcher Ausnahmesituationen. Dies habe ich mit Bezug auf die Problematik altruistischer Lügen in der Medizinethik ausführlicher zu zeigen versucht in dem Aufsatz »Sprache und Moral: Ist das Lügenverbot sprachphilosophisch begründbar?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 58/2010, S. 105–125; und in »Don’t lie! – Why not? How to Argue for Truthfulness in Medical Ethics«, in: Cambridge Quarterly of Healthcare Ethics 21/2012, S. 177–187. Für eine entsprechende Kritik des Utilitarismus vgl. Bernard Williams, »Der Utilitarismus«, in: ders., Der Begriff der Moral. Eine Einführung in die Ethik, Stuttgart 1978, S. 93–110.
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wirklich aus der Perspektive und Situation des Anderen heraus geurteilt und gehandelt wird. 22 Die Alternative ist aber nicht der illusorische Versuch einer wertfreien Prüfung der Kompetenz von dem Standpunkt eines unbeteiligten Beobachters, für den der Patient zu einem bloßen Objekt psychologischer Untersuchungen wird. Es bedarf vielmehr der Offenlegung und einer kritischen Reflexion der – auf das Wohl und den (mutmaßlichen) Willen des Anderen gerichteten – fürsorglichen Handlungsgründe im Kontext einer nicht objektivierenden, sondern kommunikativen Grundhaltung sowohl gegenüber dem Patienten als auch gegenüber allen anderen an der Entscheidungsfindung beteiligten Personen (Pflegende, Angehörige bzw. Freunde, Richter usw.), die ernsthaft auf das Verstehen der Situation des Patienten in allen für die Entscheidung relevanten Hinsichten gerichtet ist. In diese Kommunikation ist der Arzt nicht nur als medizinischer Experte, sondern unweigerlich als Mensch und Person mit fürsorglicher Anteilnahme am Geschick des Anderen aktiv involviert. [C]linicians play an active role, not as impartial observers of cognitive functioning but as participants in judgement guided by normative assumptions about what it means to engage successfully in a decision-making process. 23
Es bedarf also eines fundamentalen Wechsels von der bloß objektivierenden zur kommunikativen Einstellung, Perspektive und Praxis, für die die Achtung der Person des Patienten, seines Willens und seiner Selbstbestimmung, in untrennbarer Verbindung mit der Fürsorge für sein Wohl, eine unbedingte moralische Verpflichtung darstellt, die nicht von Kompetenzfeststellung abhängig zu machen ist. Doch wie steht es mit dem Willen des Patienten im Falle einer gravierenden psychischen oder mentalen Störung oder Krankheit, in dem eine rationale Willensbildung und Willensäußerung mittels sprachlicher Kommunikation ganz offensichtlich unmöglich ist? In dieser Situation müssen andere stellvertretend für ihn in seinem Interesse Entscheidungen für ihn oder für sie treffen. Diese Forderung schließt selbstverständlich die Sorge für das Wohl des Kranken ein, sie lässt sich aber nicht darauf reduzieren. Die Idee der Stellvertretung Stephen Wear charakterisiert diese Strategie nicht ohne guten Grund als »the old paternalistic wolf dressed up in sheep’s clothing«: ders., Informed Consent. Patient Autonomy and Physician Beneficence within Clinical Medicine, Dordrecht [u. a.] 1993, S. 114. 23 Banner, »Unreasonable reasons«, S. 1042. 22
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beinhaltet vielmehr notwendigerweise die Orientierung am Willen dessen, an dessen Stelle entschieden und gehandelt wird. Nicht nur das in einer Patientenverfügung »kompetent« Gewünschte, sondern auch das für den Kranken hier und jetzt Gute, sein Wohl, kann auch im Falle aktuell nicht möglicher Willensbildung und Willensäußerung begrifflich nur als das von ihm oder ihr Gewollte verstanden werden. Der Wille des Anderen bleibt, zusammen mit dem Wohl, unbedingt gültige normative Leitlinie des Handelns auch gegenüber dem mental oder psychisch schwer kranken Menschen, und zwar auch dann, wenn keine früheren schriftlichen oder mündlichen Willenserklärungen vorliegen. Das gilt letztlich auch gegenüber dem Menschen im Koma oder gegenüber dem toten Menschen, mit dem gar keine aktuelle Kommunikation mehr möglich ist. Die Achtung der Autonomie bzw. des Willens der Person ist nicht auf die Achtung rationaler Entscheidungen, auf den »respect for autonomous choices« zu reduzieren, sondern bleibt unbedingt gültige Leitidee für jede denkbare Lebenslage, auch über den Tod hinaus. 24 Kurz gesagt: Fähigkeiten können verloren gehen, der moralische Status als Person, das heißt als Subjekt moralischer Ansprüche auf Achtung des Willens und auf Fürsorge, besteht unbedingt, für jede erdenkliche Situation menschlichen Lebens. Aus unbedingt gültigen moralischen Ansprüchen folgen selbstverständlich, je nach Situation und konkreten Bedingungen, ganz unterschiedliche konkrete Verpflichtungen. Um zu erkennen, wie dies zu geschehen hat, bedarf es der »durch Erfahrung geschärfte[n] Urtheilskraft«, die Kant zufolge erforderlich ist, um »zu unterscheiden, in welchen Fällen« und auf welche Weise »Gesetze a priori« »ihre Anwendung haben«. 25 Diese Anwendung ist nicht erst Sache des Handelns mittels praktischer Urteilskraft hier und jetzt, sondern auf allgemeinerer Ebene bereits mittels philosophischer Reflexion und reflektierender Urteilskraft notwendig. 26 Die Frage ist also nicht, ob der Wille zu achten ist, sondern wie er zu achten ist. Dass der Anspruch auf Achtung Vgl. Theda Rehbock, »Person über den Tod hinaus? Zum moralischen Status der Toten«, in: Andrea Esser/Daniel Kersting/Christoph G. Schäfer (Hrsg.), Welchen Tod stirbt der Mensch? Philosophische Kontroversen zur Definition und Bedeutung des Todes, Frankfurt a. M., New York 2012, S. 143–178. 25 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 389. 26 Vgl. zu dieser Unterscheidung Theda Rehbock, »Fälle oder Prinzipien? Zur Rolle der Urteilskraft in der (Medizin-)Ethik«, in: Marcus Düwell/Josef N. Neumann (Hrsg.), Wie viel Ethik verträgt die Medizin?, Paderborn 2005, S. 199–210. 24
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des Willens und der Selbstbestimmung nicht durch anspruchsvolle Formen rationaler und aufgeklärter Zustimmung zu medizinischen Maßnahmen einlösbar ist, heißt nicht, dass es nicht auf vielfältige andere Weisen möglich wäre, sich darum zu bemühen. Auch unterhalb der Ebene anspruchsvoller sprachlicher Kommunikation gibt es ein mehr oder weniger breites Spektrum möglicher Formen sprachlicher und leiblicher Kommunikation, durch die der Betreffende nicht lediglich elementare sinnliche Bedürfnisse, Emotionen und Befindlichkeiten, sondern, wie noch zu zeigen ist, in modifizierter Form auch seinen Willen und damit sich selbst als Person, das heißt als ein sein eigenes Leben bestimmendes und gestaltendes Subjekt zum Ausdruck bringen kann. Gegenüber dementen oder psychisch kranken Menschen erfordert die Verpflichtung zur Achtung ihres Willens im Allgemeinen sogar eine viel größere Mühe als unter Bedingungen der Entscheidungsfähigkeit, wenn es im Allgemeinen reicht, den Anderen gewähren zu lassen, wie er oder sie möchte, ohne sich weiter darum zu kümmern. 27 Es bedarf in sehr viel höherem Maße der Bemühung um Verstehen, Kommunikation und Einfühlung (Empathie) in die Situation des Betroffenen, um aus seiner oder ihrer Perspektive heraus zu erfassen, was er oder sie will und braucht, um ein im Rahmen des Möglichen selbstbestimmtes Leben zu führen. So haben auch Inge und Tilman Jens, wie sie berichten, eine Weile gebraucht, bis sie gelernt haben, mit Walter Jens auf vor allem leiblicher Ebene so zu kommunizieren, dass sie verstehen konnten, was ihr Vater will und was er nicht will, wie er unter Bedingungen der Demenz relativ gut leben, sein Leben bestimmen und gestalten kann. Nicht Abbruch, sondern eine Veränderung und Intensivierung der Kommunikation ist also gegenüber dem Demenzkranken angesagt.
Es wäre allerdings eine realitätsferne Fiktion zu meinen, dass es uns überhaupt nicht kümmern müsste, was der Andere tut und will, wenn er nur über ein gewisses Mindestmaß an kognitiven Fähigkeiten verfügt. Genau genommen dürfen zum Beispiel dem Verkäufer mögliche Risiken und schädliche Folgen unvernünftiger Käuferentscheidungen nicht völlig gleichgültig sein. Auch hier bedarf es, in angemessener Form, einer gewissen Sorge um das Wohl und den Willen des Anderen. »Vollkommene Pflichten« der Achtung sind von »unvollkommenen Pflichten« der »praktischen Liebe«, des »Wohlwollens« und des »Wohltuns« nie völlig zu entkoppeln, die Zwecke des Anderen sollten immer »so viel möglich meine Zwecke sein«, wie Kant sowohl in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV, S. 430) als auch in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten deutlich macht. 27
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Die kommunikative Grundhaltung hat auch im Fall schwerer Demenz in der Beziehung zum Anderen unbedingten Vorrang gegenüber jeder Form der Objektivierung. Es ist auch gegenüber dementen und psychisch kranken Menschen nicht möglich, einen rein objektivierenden Standpunkt einzunehmen. Dies zu versuchen, ihn so zu betrachten und zu behandeln, als ob er bloßes Objekt wäre, impliziert, gemäß Kantischem Verständnis, eine Missachtung seiner Würde. Kurz zusammengefasst: Die Verpflichtungen und das konkrete Handeln sind gegenüber dem dementen Menschen anderer Art als gegenüber dem nicht-dementen Menschen, die Grundhaltung aber bleibt dieselbe. Sie ist gegenüber einem Menschen als Person – egal ob gesund oder dement – von vornherein eine andere als gegenüber bloßen Dingen oder Sachen. Dieser Unterschied besteht auch darin, sich selbst und dem Anderen per definitionem, als Person, einen Willen zuzuschreiben, unabhängig von der aktuellen Lebenslage, und auch über den Tod hinaus. Der Sinn und die Anwendung dieser Forderung sind aber nur zu verstehen, wenn auch der Begriff des Willens nicht objektivistisch verstanden wird. In bioethischen Theorien der Autonomie wie auch in manchen philosophischen Theorien des freien Willens 28 wird der Wille als psychisch-mentaler »Willensakt«, aufgefasst, der sich durch sprachliche Artikulation äußert und dessen Möglichkeit von speziellen neuro-physiologischen Ereignissen und Funktionen abhängt. Mit dem objektivistischen Missverständnis des Willens geht ein rationalistisches Missverständnis einher, das ihn auf Willensakte reduziert, die bestimmte kognitive Anforderungen erfüllen, sowie ein dualistisches Missverständnis, das ihn als von äußeren, körperlichen Bedingungen und Äußerungsformen getrenntes inneres, psychisch–mentales Geschehen versteht. Diese beiden Missverständnisse möchte ich im Folgenden aufdecken und korrigieren, indem ich die leibliche Konstitution des Willens aufzeige. Auf dieser Grundlage ist es möglich, das Verhalten von »nicht-kompetenten« Personen als Ausdruck ihres Willens bzw. Wollens zu begreifen, das zwar nicht in gleicher Weise, aber in gleichem Maße moralisch zu respektieren ist wie der sprachlich artikulierte rationale Wille.
Zu einer entsprechenden Kritik an diesen Theorien vgl. Theda Rehbock, »Wie ist die Freiheit zu retten?«, in: Wilhelm Lütterfelds (Hrsg.), Das Sprachspiel der Freiheit, Frankfurt a. M. 2008, S. 111–139. 28
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IV Vom Rationalismus und Dualismus zur leiblichen Konstitution des Willens Dieses doppelte Missverständnis des Willens besteht darin, dass der Wille im eigentlichen Sinne mit dem rationalen Willen gleichgesetzt wird, wodurch die vorrationalen, leiblich-sinnlich-emotionalen Konstitutionsbedingungen und Ausdrucksformen des Willens verkannt und ein unüberbrückbarer Graben zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, Wille und Gefühl, Geist und Körper, Sprache und Leiblichkeit aufgerissen bzw. aufrechterhalten wird. Dieses Missverständnis manifestiert sich in der Meinung, wenn man nur die möglichst schriftliche Willenserklärung eines sprachkompetenten, rational reflektierten Patienten habe, sei man hinsichtlich der Achtung seiner Selbstbestimmung auf der sicheren Seite. Im Fall geistig kranker Menschen sei man dagegen auf höchst unsichere Deutungen ihres Verhaltens angewiesen. »Ein wie auch immer spezifizierter Wille«, so Ralf Jox, könne im Fall dementer Patienten »niemals direkt wahrgenommen werden […], sondern immer nur aus bestimmten verbalen oder nonverbalen Äußerungen indirekt geschlossen werden.« 29 Zu fragen sei, ob solche Verhaltensformen überhaupt »als Äußerungen betrachtet werden dürfen«, die »dazu dienen, innere subjektive Zustände nach außen zu kommunizieren«, so dass solche Körperbewegungen »Bedeutungsträger und Zeichen« seien, »die auf etwas außerhalb ihrer selbst verweisen.« 30 In diesen Äußerungen kommt die altbekannte Vorstellung zum Ausdruck, dass es unabhängig vom äußeren Verhalten – im Inneren des Bewusstseins – rein mentale Willensakte gäbe, welche das äußere Verhalten verursachen, dieses Verhalten sei seinerseits Wirkung und bloßes Zeichen mentaler Zustände, aus denen diese Zustände für den äußeren Beobachter nicht direkt wahrzunehmen, sondern nur zu erschließen seien. Mit Sicherheit wissen, was er will, kann demnach nur der Wollende selbst, so dass die anderen in einer schwierigen Lage zu sein scheinen, wenn er oder sie dies nicht mitzuteilen vermag. Diese Sichtweise erweist sich als inadäquat, wenn man der aristotelischen und phänomenologischen Tradition folgend, von einem denkbar weiten Begriff des Wollens ausgeht, das sich nicht nur sprachlich, sondern auch, ja sogar primär leiblich äußert und auch in seinen an29 30
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spruchsvollen sprachlichen Ausdrucksformen unaufhebbar leiblich konstituiert ist. Dieser weite Begriff des Wollens entspricht dem aristotelischen Begriff des zielgerichteten Strebens, das dem Leben ganz allgemein eigen ist und das der Mensch mit Pflanzen und Tieren gemeinsam hat. Aristoteles unterscheidet zwischen einem in der Natur eines Lebewesens angelegten Streben im Allgemeinen (orexis), das auf das für das strebende Wesen Gute als immanentes Ziel gerichtet ist – so wie etwa eine Pflanze nach Licht oder ein Hund nach dem Fressnapf strebt –, und dem speziell in der Natur des Menschen der Möglichkeit nach angelegten vernunftgeleiteten Streben, dem Willen im engeren Sinne (boulesis). Das Streben und Wollen manifestiert sich – entsprechend der von Aristoteles vorausgesetzten untrennbaren Einheit von Materie und Form – unmittelbar in dem entsprechenden Verhalten, es ist nicht aus diesem Verhalten als ein rein inneres, mentales Geschehen erst zu erschließen. Wenn das Kind schreit und zufrieden ist, wenn es Milch bekommt, dann will es offenbar trinken. Wenn Walter Jens zu den Tieren auf dem Bauernhof strebt und sich aufmerksam mit ihnen beschäftigt, dann will er dies ganz offenbar. Da gibt es nichts zu deuten und zu schließen, und auch nichts zu bezweifeln. 31 Selbstverständlich gibt es auch hier mögliche Irrtümer, die sich ihrerseits im Verhalten manifestieren, wenn etwa das Kind mit der Milch nicht zufrieden ist und ohne erkennbaren Grund weiter schreit, oder wenn der Demenzkranke sich unablässig unruhig oder ablehnend verhält und durch Kommunikation oder eine Veränderung der äußeren Umstände nur schwer herauszufinden ist, was er braucht und will. Ein möglicher Grund für solches Verhalten kann natürlich auch physiologischer Art sein, wie etwa Nebenwirkungen von Medikamenten, eine Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff oder Ähnliches. Dennoch bringt in gewisser Hinsicht das – im Allgemeinen durchaus sinnvolle und verstehbare – Verhalten des Kindes oder des Demenzkranken den Willen im Grunde unmissverständlicher und unbezweifelbarer zum Ausdruck als die rein sprachliche Willensäußerung eines »kompetenten«, gesunden Menschen. Denn Sprache und Vernunft erweitern nicht nur das Spektrum möglichen Wollens und Handelns, indem wir Wenn ich hier zunächst Tiere, Kinder und Demenzkranke hinsichtlich eines weiten Begriffs des Wollens bzw. Strebens in einem Atemzug nenne, so sollen damit nicht die gleichwohl gravierenden Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Existenzformen ignoriert werden, von denen im Folgenden noch die Rede sein wird.
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durch sie uns vom gegenwärtigen Augenblick, von uns selbst, von unseren unmittelbaren Neigungen auf vielfache Weise distanzieren können; sie ermöglichen eben dadurch auch Verhaltensweisen der Lüge, der Verstellung, der Täuschung und auch der Selbsttäuschung über das eigene Wollen. In diesen Fällen verrät das tatsächliche Verhalten oft mehr über den tatsächlichen Willen des Anderen als seine sprachlichen Willenserklärungen. Das Lügen ist deshalb oft so schwierig, weil es nicht nur auf sprachlicher und kognitiver Ebene gelingen muss, den Anderen zu täuschen, sondern auch auf der Ebene leiblichen Verhaltens. Auf schwer bestimmbare Weise, vielleicht nur auf Grund einer leichten Zuckung der Lippen oder eines schwachen Klangs der Stimme, fühlt und merkt man manchmal, dass jemand nicht wirklich meint und will, was er oder sie sagt. Manifestiert sich der Wille nicht eindeutig auch im leiblich sichtbaren Handeln, so besteht Grund zum Zweifel, ob der angeblich Wollende entweder lügt, ein falsches Versprechen abgibt, uns täuscht, oder ob er vielleicht auch sich selbst täuscht, ob er überhaupt etwas will oder es nicht vielmehr bloß wünscht. In diesem Sinne heißt es bei Wittgenstein: »›Das Wollen, wenn es nicht eine Art Wünschen sein soll, muß das Handeln selber sein. Es darf nicht vor dem Handeln stehen bleiben.‹« 32 Kant zufolge zeichnet sich der »gute Wille« im Unterschied zum »bloßen Wunsch« auch dann, wenn auf Grund äußerer Hindernisse »nichts von ihm ausgerichtet würde«, zumindest durch »größte Bestrebung« aus, und durch »die Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind«. 33 Dieses Bestreben ist selbst ein Bestandteil des Handelns, in dem das Wollen sich leiblich manifestiert. Sind keinerlei Anzeichen eines solchen Bestrebens zu erkennen, so kann nicht nur von keiner Handlung, sondern auch von keinem Wollen die Rede sein. Wer sagt, er wolle morgen verreisen, aber keine erkennbaren Vorbereitungen dafür trifft, will offenbar nicht verreisen. Darum muss man lachen angesichts der Absurdität der Situation, wenn Wladimir und Estragon am Ende von Samuel Becketts Warten auf Godot sagen Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, § 615. 33 Kant, Grundlegung, AA IV, S. 394. Die bedeutsame Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille wird, mit Bezug auf Kant und Wittgenstein, sehr viel gründlicher analysiert in dem Beitrag von Katrin Wille in diesem Band. 32
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»Gehen wir!«, sich aber ohne jedes erkennbare Hindernis nicht von der Stelle bewegen. Es handelt sich dabei um einen begrifflichen Widerspruch, um einen »grammatischen Witz« (Wittgenstein). Auch in dieser Hinsicht ist Walter Jens ein gutes Beispiel. Sein Sohn Tilman berichtet von der Phase des Übergangs zur Demenz, die von einer ambivalenten Haltung im Hinblick auf die Konfrontation mit dem eigenen Schicksal und dem Willen zum Suizid gekennzeichnet ist. Er wird nicht direkt mit der Diagnose konfrontiert, fragt aber auch nicht danach, obwohl ihm die fortschreitende eigene Demenz offenbar nicht entgangen ist. Noch in der Übergangsphase scheint kurzfristig der Punkt erreicht, an dem er offenbar den Arzt, mit dem er eine Vereinbarung zur Hilfe beim Suizid getroffen hatte, rufen will, indem er sagt: »Ihr Lieben, es reicht. Mein Leben war lang und erfüllt. Aber jetzt will ich gehen.« Doch nach Minuten des Schweigens lächelt er und sagt: »… aber schön ist es doch!« 34 Vor diesem Hintergrund erscheint es als besonders sinnvoll, gerade im Hinblick auf den Willen zu sterben besonders eindeutige Formen der Willensäußerung und des Bestrebens zu erwarten, vielleicht auch besonders hohe Hürden aufrecht zu erhalten, um sicher zu gehen, dass es sich nicht um einen vorübergehenden Wunsch, sondern um einen echten Willen handelt. In der engen, untrennbaren Bindung des Willens an das leibliche Verhalten manifestiert sich die zugleich antirationalistische und antidualistische Auffassung des Willens, die in Aristoteles’ nicht-mentalistischer Auffassung der Seele ebenso zum Ausdruck kommt wie in der für die Phänomenologie des 20. Jahrhunderts zentralen Bedeutung des Leibes bzw. der Leiblichkeit im Unterschied zum bloßen Körper. Das rationalistische und dualistische Missverständnis des Willens kommt aus phänomenologischer Sicht zustande durch die Reduktion des Leibes auf den bloß materiellen Körper, der als solcher in vergleichbarer Weise Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung und Beobachtung sowie naturwissenschaftlicher Untersuchung und technischer Bearbeitung sein kann wie andere physische Objekte auch. Das subjektive Empfinden, Wollen und Denken erscheint in dieser den Leib als Körper objektivierenden Perspektive einerseits als psychisch-mentales Endprodukt der Einwirkung materieller Gegenstände auf den menschlichen Körper, über die Nervenbahnen und das Gehirn, im Inneren des Bewusstseins. Bohrt der Zahnarzt im Zahn, so verursacht diese äußere Einwirkung 34
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auf dem Weg über körperliche Prozesse Schmerzempfindungen; gibt er ein Schmerz- oder Betäubungsmittel, so verursacht dieses auf gleichem Wege Schmerzlinderung. Andererseits werden das Empfinden, Wollen und Handeln aufgefasst als psychisch-mentale Ereignisse und Akte in diesem Inneren des Bewusstseins, welche ihrerseits das Verhalten und Handeln in Form körperlicher Bewegungen kausal verursachen. Der Schmerz verursacht ein schmerzverzerrtes Gesicht oder ein Schreien, der innere Willensakt verursacht das äußere Verhalten und Handeln in Form körperlicher Bewegungen. Der cartesianische Interaktionismus der Beziehung zwischen Geist und Körper expliziert damit das Denkund Weltmodell, das der naturwissenschaftlichen Erforschung der Welt und des Menschen zugrunde liegt und das für die Zwecke dieser Forschung, etwa auch in der Medizin, seine begrenzte Berechtigung hat. Dieses Modell wird aber zur Ursache einer ganzen Palette philosophischer und auch ethischer Probleme, wenn sein Modell- und Entwurfcharakter verkannt wird. Es wurde gegen den Cartesianischen Interaktionismus immer wieder zu Recht eingewendet, dass zwischen dem Inneren des Geistes und dem Äußeren des Körpers keine Kausalbeziehung im eigentlichen Sinne bestehen kann, da uns die beiden völlig verschiedenartigen Glieder dieser Beziehung nicht in gleicher Weise gegeben und zugänglich sind. Der Zahnarzt sieht und beobachtet die von ihm verursachten Schmerzen nicht wie die Vorgänge im Zahn, sondern ist dafür auf das körperliche bzw. leibliche Schmerzverhalten des Patienten und auf die Kommunikation mit dem Patienten angewiesen. Umgekehrt ist der Wille bzw. das Wollen weder dem Anderen noch uns selbst, etwa durch Introspektion, als ein rein inneres Geschehen zugänglich, sondern immer nur vermittelt durch leibliches Ausdrucksverhalten. Das leiblich sichtbare Verhalten oder Handeln ist daher nicht bloßes Zeichen eines davon unabhängigen inneren Geschehens, sondern ganz unmittelbar Ausdruck des Strebens oder Wollens. Es handelt sich nicht um zwei voneinander unabhängige Zustände oder Ereignisse eines inneren psychischen oder mentalen Geschehens und einer äußeren Bewegung des Körpers, die als Ursache und Wirkung miteinander verknüpft wären. Es ist nicht so, dass das innere Geschehen die körperliche Bewegung verursachen oder erzeugen würde, so wie ein dem Blick entzogenes Feuer sichtbaren Rauch bewirkt, der uns auf das Feuer als dessen (mögliche) Ursache schließen lässt. Das würde voraussetzen, dass wir das innere Geschehen, so wie das Feuer, auch direkt und geA
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trennt von der dadurch erzeugten Wirkung sehen und erkennen könnten, was aber (auch) im Fall des (eigenen) psychischen und mentalen Erlebens prinzipiell unmöglich ist. Das Streben und Wollen – sowohl das eigene als auch das des Anderen – ist nur erfahrbar und zugänglich, sofern es mit einem bestimmten leiblichen Empfinden und Erleben korrespondiert sowie zugleich in einem entsprechenden leiblichen Verhalten zum Ausdruck kommt bzw. kommen kann. Das leibliche Verhalten ist also – anders als der Rauch – nicht bloßes Zeichen für ein davon unabhängiges Geschehen, es ist vielmehr der Willensakt selber, es ist »nichts anderes als mein sichtbar gewordener Wille« 35 , um es mit Schopenhauer auszudrücken. Mit dieser anti-dualistischen Auffassung des Willens soll natürlich nicht behauptet werden, dass unser gesamtes Innenleben dem Anderen immer vollständig transparent zu Tage läge. Der Leib hat vielmehr nicht nur eine uns mit der Welt und dem Anderen verbindende und vermittelnde, sondern immer zugleich auch eine trennende und verbergende Funktion. Indem unsere leibliche Verfassung uns an einen bestimmten Ort in Raum und Zeit bindet, trennt sie uns zugleich vom Anderen, der sich an einem anderen Ort befindet, sowie von Vergangenheit und Zukunft, die uns nie unmittelbar, sondern nur vermittelt durch Erinnerung und Erwartung zugänglich sind. Dies gilt sowohl für die Vergangenheit und Zukunft unseres eigenen Lebens als auch für die Vergangenheit und Zukunft des Anderen. Dessen Empfinden, Denken und Wollen ist uns einerseits leiblich vermittelt zugänglich, andererseits aber gerade deshalb, auf Grund dieser leiblichen Vermittlung, nie unmittelbar gegeben, wir haben nicht wirklich die Empfindungen, Gedanken oder Absichten des Anderen, und sie sind uns immer nur sehr partiell und fragmentarisch zugänglich. Im Hinblick auf das Verstehen des aktuellen Verhaltens und Wollens bedarf es daher zusätzlich des narrativen Zugangs durch das Erzählen der Geschichte einer Person. Auch das aktuelle Verhalten des Demenzkranken wie Walter Jens Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Sämtliche Werke, hrsg. von Wolfgang Freiherr von Löhneysen, Bd. 1, Darmstadt 1974, S. 158: »Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehn nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie sind eines und dasselbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben: einmal ganz unmittelbar und einmal in der Anschauung für den Verstand. Die Aktion des Leibes ist nichts anderes als der objektivierte, d. h. in die Anschauung getretene Akt des Willens.«
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verstehen wir desto besser, je besser wir seine Geschichte kennen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Situation des Demenzkranken, trotz aller Gemeinsamkeiten, ganz fundamental von der Situation des Kindes, für das nicht eine gelebte Geschichte, sondern die Offenheit eines möglichen und zu erwartenden, aber noch nicht gelebten Lebens im Vordergrund steht. Mit der antidualistischen Auffassung des Willens sollen außerdem selbstverständlich nicht die zahlreichen, nur durch Sprache und Vernunft möglichen Formen der aktiven Verbergung, Distanzierung und Objektivierung unseres psychisch-mentalen Lebens geleugnet werden. All diese Möglichkeiten menschlichen Denkens, Wollens und Handelns sind aber ihrerseits leiblich vermittelt. Sich verbergen und verstellen, täuschen und lügen kann nur, wer sich auch zeigen, offenbaren und wahrhaftig mitteilen kann. Auch diese negativen Akte sind, sozusagen unter negativem Vorzeichen, leiblich vermittelt und nur vor dem Hintergrund der positiven Möglichkeiten verständlich. Das ruhige Verhalten eines Menschen, der seine Schmerzen vor anderen verbirgt, ist eine, sowohl für ihn selbst als auch für die anderen, ganz andersartige leibliche Verfassung als das ruhige Verhalten eines Menschen, der nicht von Schmerzen geplagt wird. Das Sich-Verstellen und Täuschen wäre nicht möglich, wenn es nicht prinzipiell auch entdeckt werden kann, was nur leiblich vermittelt möglich ist, indem man es zum Beispiel dem Anderen auf Grund seiner angespannten Miene anmerkt, dass er seine Schmerzen verbirgt. Ebenso wenig lassen sich die weitreichenden Möglichkeiten leugnen, mittels Sprache und Vernunft den Leib als bloßen Körper zu betrachten und zu behandeln, wie dies in der Medizin geschieht. Doch auch dieses wissenschaftliche und technische Handeln ist selbst nur möglich im Medium der Leiblichkeit, etwa durch das sinnliche Wahrnehmen und Betasten des Körpers oder durch das leibliche Hantieren mit Geräten, die das Innere des Körpers sichtbar werden lassen oder es möglich machen, in dieses Innere technisch handelnd einzugreifen und dadurch zunehmend nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die psychischen und mentalen Zustände, ja auf die Persönlichkeit des Menschen Einfluss zu nehmen. Wissenschaft und Technik sind selbst leiblich verfasste Formen menschlichen Wollens und Handelns nicht nur gegenüber der nicht-menschlichen Natur, sondern auch gegenüber dem Menschen selbst, weshalb sie der ethischen Rechtfertigung bedürfen. Im Unterschied zum objektivierbaren Körper ist die leibliche VerA
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fassung dieses objektivierenden Handelns selbst kein mögliches Objekt der Erkenntnis, sondern dessen Möglichkeitsbedingung und äußerste Grenze. Um in ethischer Perspektive das menschliche Wollen, Handeln und Sein in den Blick zu bekommen, ist daher ein grundlegender Perspektivenwechsel notwendig. Der Leib ist nicht als bloßer Körper, sondern als Leib, das heißt als nicht objektivierbare Grundform unseres In-der-Welt-Seins (Heidegger) oder Zur-Welt-Seins (Merleau-Ponty) zu begreifen, die wir nicht verlassen und von einem unbeteiligten Beobachterstandpunkt aus bloß betrachten können, als unhintergehbares Lebens- und Ausdrucksmedium des Denkens, Fühlens und Wollens, das unsere Existenz und Praxis, und damit die Welt selbst durchgängig strukturiert und konstituiert, ermöglicht und zugleich in ihren Möglichkeiten begrenzt. In dieser Hinsicht ist die Leiblichkeit der unaufhebbare Horizont auch des naturwissenschaftlichen Erkennens und technischen oder medizinischen Handelns. Diese scheinbar paradoxe menschliche Grundsituation bringt Helmuth Plessner durch die Denkfigur der »exzentrischen Positionalität« zum Ausdruck. So sehr wir uns denkend und handelnd von unserer Position in der Welt distanzieren und uns selbst zum Gegenstand des Erkennens und Handelns werden können, so sehr bleiben wir doch, in dem wir dies tun, an diese innerweltliche Position gebunden und auf sie angewiesen. Wer diese leiblich bedingte Endlichkeit auch der größten wissenschaftlichen und philosophischen Leistungen menschlichen Geistes verkennt, erzeugt schlechte Metaphysik, wie sie etwa in der hier kritisierten Konzeption des Willens zum Ausdruck kommt. Leib und Körper sind aus phänomenologischer Sicht genau genommen zwei Grunddimensionen der Leiblichkeit, des leiblich verfassten Zur-Welt-Seins. Husserl und Merleau-Ponty betonen dementsprechend besonders diesen Doppelaspekt des Leibes als Leib und als Körper. Diese Unterscheidung entspricht der im vorangegangenen Abschnitt hervorgehobenen Unterscheidung zwischen der objektivierenden und der kommunikativen Einstellung zum Menschen, Husserl spricht von der »naturalistischen« und »personalistischen Einstellung«, 36 wobei in ethischer und existenzieller Hinsicht die personalistisch-kommunikative gegenüber der naturalistisch-objektivierenden Einstellung Vorrang besitzt. Unter Bedingungen der naturwissen36 Edmund Husserl, Die Konstitution der geistigen Welt, hrsg. von Manfred Sommer, Hamburg 1984.
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schaftlich orientierten Medizin besteht die besondere ethische Herausforderung des Arztes darin, gegenüber dem Patienten immer wieder zwischen beiden Einstellungen zu wechseln und den Primat der personalistisch-kommunikativen Einstellung nicht zu vergessen. Das ist die Einstellung, in der auch der Naturwissenschaftler oder Mediziner als Mensch und Person ganz selbstverständlich lebt, die Einstellung, »in der wir allzeit sind, wenn wir miteinander leben, zueinander sprechen, einander im Gruße die Hände reichen«, 37 in der wir also nicht nur sprachlich, sondern immer zugleich leiblich miteinander kommunizieren und unser Verhalten gegenseitig als Ausdruck des Empfindens, Denkens und Wollens verstehen. Wenn wir einen Menschen nicht kennen, ist daher die Gefahr von Missverständnissen besonders groß, wenn wir zum Beispiel per Mail nur sprachlich mit ihm oder ihr kommunizieren, ohne dass die sprachlichen Äußerungen durch die leibliche Präsenz und das Verhalten des Anderen einen realen Kontext erhalten, der die Bedeutung der Worte eindeutiger verstehbar macht. Die leibliche Präsenz und Kommunikation ist daher, in enger Verbindung mit der sprachlichen Verständigung, für den Arzt, der sich ein möglichst zutreffendes Bild vom physischen und psychischen Zustand des Patienten machen muss, auch gegenüber dem »kompetenten« Patienten von besonderer Bedeutung. Warum und wie die Kommunikation auch mit dem psychisch oder mental kranken oder dem »einwilligungsunfähigen« Menschen möglich und notwendig ist, ist nur zu verstehen, wenn auch das individualistische Missverständnis des Willens aufgeklärt und überwunden wird.
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Vom Individualismus zur intersubjektiven Konstitution des Willens
Die Meinung, wir wüssten ohne explizite sprachliche Mitteilung nicht, was der Andere will, beruht auf der Vorstellung, der Wille sei etwas völlig Individuelles oder Privates, das anderen unbekannt und verborgen sei, solange es nicht mitgeteilt wird. Dieses Vorurteil verkennt die Konstitution individuellen Denkens und Wollens durch gemeinsam geteilte Sinnstrukturen der Leiblichkeit, die ihrerseits durch einen ge-
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meinsam geteilten personalen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext von Sprache und Vernunft geprägt ist. In diesen Kontext werden wir hineingeboren und hinein erzogen, nur durch ihn ist es möglich, einen individuellen Willen auszubilden. Um dieses tun zu können, müssen wir in hohem Maße denken, wollen und tun, was man denkt, will und tut. Was ich will, ist somit das gleiche, was der Andere will. Auf Grund dessen ist es uns im Allgemeinen ganz selbstverständlich möglich, zu verstehen, was der Andere denkt, fühlt und will. Husserl spricht hier von »analogisierender Auffassung« und »Paarung«, die nicht mit einem Analogieschluss zu verwechseln ist, da nicht mittels des Verstandes auf etwas Verborgenes zu schließen ist. Sie erfolgt vielmehr schon auf un- oder vorbewusster Ebene, indem ich gemeinsam mit dem Anderen in ähnlicher leiblich vermittelter Weise wahrnehmend, fühlend und wollend auf die Dinge gerichtet bin sowie sein Verhalten als Ausdruck seines Empfindens, Denkens und Wollens verstehe, indem ich mit ihm oder ihr kommuniziere und interagiere. In diesem Sinne sagt Husserl, »dass Ego und alter ego immerzu und notwendig in ursprünglicher ›Paarung‹ gegeben sind«. 38 Dies ist möglich, weil das vorrationale, vorsprachliche leibliche Empfinden kein völlig unstrukturiertes, dunkles Chaos ist, in das durch den Verstand erst die nötige Ordnung hineinzubringen wäre. Vermittelt durch unsere leibliche Verfassung ist es vielmehr auf höchst komplexe Weise strukturiert und intentional auf die Welt gerichtet. Wir finden somit auf der Ebene der Leiblichkeit, was in der rationalistischen Tradition allein der Vernunft und der Sprache zugeschrieben wurde. Husserl und Merleau-Ponty zufolge handelt es sich dabei um die »fungierende Intentionalität«, die im Unterschied zur »Aktintenionalität« nicht objektivierend in Form bewusster Urteile und willentlicher Stellungnahmen auf die Dinge gerichtet ist, sondern schon mit dem leiblichen Existieren selbst sich vollzieht. 39 Merleau-Ponty spricht hier auch von der »Intentionalität des Leibes«, 40 des leiblich-sinnlichen »Empfindens«, das »jeder Qualität einen Lebenswert« verleiht und »sie
Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie, Gesammelte Schriften, hrsg. von Elisabeth Ströker, Bd. 8, Hamburg 1992, 5. Meditation, § 51. 39 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 15. 40 Ebd., S. 165. 38
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zunächst in ihrer Bedeutung für uns« erfasst. »Das Empfinden ist die lebendige Kommunikation mit der Welt, in der uns diese als der vertraute Aufenthaltsort unseres Lebens gegenwärtig ist.« 41 Mit dem leiblich-sinnlichen Empfinden und dem Wahrnehmen geht ein auf die Dinge gerichtetes Streben, Begehren und Wollen einher, das sich auf das als gut Empfundene und Erkannte bezieht und das immer auch die negative Form des Meidens, Ablehnens und NichtWollens des als schlecht Empfundenen und Erkannten annehmen kann. Die leibliche Verfassung unserer Existenz ist auf eine Weise eingerichtet, dass sich Grundformen menschlichen Wollens in ihr sichtbar manifestieren. Schopenhauer spricht von der »Angemessenheit des menschlichen und tierischen Leibes zum menschlichen und tierischen Willen überhaupt«, die viel vollkommener sei als die Angemessenheit eines Werkzeugs zum »Willen des Verfertigers«. In den verschiedenen Teilen des Leibes würden sich die Hauptbegehrungen des Willens manifestieren: »Zähne und Schlund sind der objektivierte Hunger; Genitalien der objektivierte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen.« 42 Der Leib, so sagt Merleau-Ponty, unterscheide sich vom Körper als Gegenstand der Wissenschaft dadurch, dass »bis in seine ›Sexualfunktion‹ hinein Intentionalität und Bedeutungsvermögen« zu entdecken sei. 43 Ohne das leiblich-sinnliche Empfinden, das uns in Kommunikation mit der Welt die Dinge in ihrer Bedeutsamkeit für unser Leben erschließt, wäre das rationale Denken und Wollen machtlos und ohne Inhalt. Das gilt, wie Husserl in seiner Einleitung in die Ethik zeigt, keineswegs nur für rein sinnliche, sondern auch für geistige Werte oder Güter wie etwa eine Sonate, eine philosophische Theorie oder eine gute moralische Handlung. Ohne die leiblich vermittelte Lust, die wir beim Hören der Sonate, beim Erfassen der Theorie oder der moralischen Handlung empfinden, könnte sich uns auch das Gute dieser rein geistigen Güter nicht erschließen, und ohne diese Lust wäre auch ein auf sie gerichtetes Wollen oder Interesse nicht möglich. In Analogie zum Wahrnehmen bezeichnet Husserl dementsprechend das Fühlen oder
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Ebd., S. 76. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 168. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 207. A
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Empfinden als ein »Wert-Nehmen«, 44 das zur Wahrnehmung hinzukommen muss, um das Wahrgenommene in seinem Wert zu erfassen und zu einem Gegenstand des Wollens zu machen. Das Wahrnehmen bzw. das darauf gegründete Erkennen bis hin zur wissenschaftlichen Theorie, das damit verknüpfte, das Gute erfassende Wertnehmen und das auf das Gute gerichtete Wollen oder Streben sind Husserl zufolge drei voneinander untrennbare Dimensionen menschlichen Seins, die für jede erdenkliche Situation menschlichen Lebens konstitutiv sind, für das Leben des dementen Walter Jens auf dem Bauernhof ebenso wie für sein ehemaliges Leben an der Universität. Husserl macht zugleich – in kritischer Wendung gegen hedonistisch-skeptizistisch-individualistische Ethiktheorien seit der Antike – deutlich, dass der Gegenstand des Erkennens, Fühlens und Wollens, das Gute, etwa einer Sonate oder einer moralisch guten Handlung, keineswegs etwas bloß Subjektives ist, sondern einen intersubjektiv geteilten, objektiven Wert besitzt, der allen Mitgliedern einer Gesellschaft oder Kultur gemeinsam zugänglich ist. Nur vor diesem Hintergrund ist ein Verstehen des Anderen überhaupt möglich, sofern das für ihn Gute ein potentiell auch für mich Gutes darstellt. Dass wir den Anderen als alter ego – mittels einer gemeinsam geteilten Leiblichkeit, Sprache, Gesellschaft und Kultur, etwa des Hörens musikalischer Werke – in seinem Empfinden, Denken und Wollen verstehen können, bedeutet jedoch nicht, dass der Andere ein mir vollständig transparentes Duplikat meiner selbst wäre. Im Gegenteil! Unsere leibliche Verfassung ist zugleich, wie Husserl ebenfalls deutlich macht, notwendige Bedingung für das radikale Anderssein, Fremdsein, Entzogensein des Anderen, bis hin zur völligen Unverständlichkeit. Der Leib trennt mich vom Anderen ebenso, wie er mich mit ihm verbindet. Indem der Andere dort ist, während ich hier bin, kann ich nicht zugleich an seinem Ort sein, um von seinem Standpunkt aus die Dinge wahrzunehmen. Was er aktuell erfährt, ist mir nur der Möglichkeit nach gegeben. Das Verstehen des Anderen erfordert daher Einbildungskraft, ein Abwandeln der eigenen individuellen Erfahrungen in der Imagination, die Erfahrungen des Anderen als mögliche eigene Erfahrungen auffasst, ohne sie zur eigenen Erfahrung machen zu können. Edmund Husserl, Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920/1924, hrsg. von Henning Peucker, Husserliana Bd. 37, Dordrecht [u. a.] 2004, S. 71 f.
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Dieser Doppelaspekt der analogisierenden Paarung und des radikalen Entzogenseins impliziert, dass wir zum einen meist völlig selbstverständlich verstehen, was der Andere will, ohne ihn erst fragen zu müssen. Mein faktisches Leben und Handeln bringt unmittelbar zum Ausdruck, dass ich das, was ich tue, auch tun will, ohne dass ich anderen dies mitteilen müsste. Und wir erwarten ganz selbstverständlich, dass die Anderen im Allgemeinen den darin zum Ausdruck kommenden Willen respektieren und damit meine Freiheit und Würde als Person respektieren. Zum anderen wird das Bemühen um Kommunikation und Verstehen notwendigerweise konfrontiert und herausgefordert durch das radikale Anderssein und Fremdsein des Anderen, das die Möglichkeiten des Verstehens begrenzt und unter Umständen ganz unmöglich macht. Es besteht immer die Möglichkeit, dass das Verhalten des Anderen uns schwer verständlich oder ganz unverständlich wird. Das Anderssein des Anderen ist möglich und prinzipiell verstehbar auf Grund der großen Variabilität der gemeinsam geteilten Grundform leiblicher Existenz, die mittels der Einbildungskraft (Phantasie, Imagination) erfassbar ist. Diese Variabilität ermöglicht uns einerseits bis zu einem gewissen Grade auch das Verstehen des Verhaltens von Tieren als einer Variation der menschlichen Existenzform, andererseits aber wird diese Variabilität durch Vernunft, Sprache, Kultur und Freiheit im Fall des Menschen erheblich gesteigert, so dass das Verhalten von Menschen uns in einem radikaleren Sinne unverständlich werden kann als das Verhalten von Tieren. Diese Unverständlichkeit kann eine Reihe verschiedener Gründe haben. Ein möglicher, vielleicht der wichtigste Grund besteht in der letztlich unberechenbaren Freiheit und Individualität des Anderen als Person, so dass der Spaten sich zurückbiegt, wenn jemand sagt: »Auch wenn Du trotz aller Bemühungen nicht verstehen kannst, warum ich so handle und mich verhalte: Ich mache es so, so will ich es.« Ein anderer möglicher Grund ist eine neurologische Störung oder das ganze Spektrum möglicher psychischer oder mentaler Störungen und Erkrankungen. Gehen unter diesen Bedingungen die Freiheit der Person, die Verstehbarkeit ihres Verhaltens als Ausdruck eines Willens und der Selbstbestimmung sowie die Verpflichtung, diese zu respektieren, völlig verloren? Damit komme ich abschließend und zusammenfassend zu den praktischen Konsequenzen, die sich aus der philosophischen Kritik von Missverständnissen des Willensbegriffs für die medizinethischen Problemlagen ergeben.
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VI Praktische Konsequenzen In einem Aufsatz mit dem bemerkenswerten Titel Prolegomena to a Psychopathology of Freedom schreibt der Psychiater und Daseinsanalytiker Wolfgang Blankenburg: »The inner freedom of the human being is the secret, although unavoidable reference point, for every psychopathology and psychotherapy.« 45 Psychische oder mentale Störungen wie die Demenz gehen sowohl für die Betroffenen als auch für diejenigen, die mit ihnen zu tun haben, mit einem großen Verlust und Leiden einher. Es wäre aber falsch zu meinen, wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt, dass damit auch der Kranke selbst als Subjekt seines je eigenen Lebens, als Person mit einem Willen sozusagen verschwinden würde. Er wird nicht zu einem bloßen Objekt, zu einer bloßen Sache oder zu einer völlig anderen Art von Wesen. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Wittgenstein sagt, den »Wahnsinn« müsse man »nicht als eine Krankheit ansehen. Warum nicht als eine plötzliche – mehr oder weniger plötzliche – Charakterveränderung?« 46 Pathologisch bedingte Veränderungen des Charakters oder der Persönlichkeit geschehen, auch wenn sie noch so gravierend sind, ein und derselben Person, die dadurch gezwungen wird, ihr Leben umzustellen und sich auf eine neue Lebensform einzustellen, und die dafür der Hilfe und Unterstützung durch die anderen bedarf. Es geht nicht um eine Verklärung und Idealisierung von Krankheit als einer womöglich wünschenswerten alternativen Lebensform, sondern darum, den Kranken nicht nur als Kranken, sondern immer zugleich als Person mit einem eigenen Willen zu sehen, zu verstehen und zu behandeln. Dazu bedarf es auch der Veränderung der Kommunikation mit dem Betreffenden, die sich auf dessen besondere Situation und mögliche Kommunikationsformen einstellt. Solche neuen Formen der Kommunikation müssen zum Beispiel Angehörige von Demenzkranken erst mühsam erlernen, wie das Beispiel Walter Jens zeigt. Diesen doppelten Aspekt der Haltung gegenüber dem Kranken Wolfgang Blankenburg, »Prolegomena to a Psychopathology of Freedom«, in: Dreyer Kruger (Hrsg.), The Changing Reality of Modern Man: Essays in Honour of Jan Hendrik van den Berg, Pittsburgh 1985, S. 174–190, hier S. 174. 46 Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werke, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1984, S. 526. 45
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beschreibt Wolfgang Blankenburg mit den Begriffen der Autonomie und Heteronomie. So wie auf der einen Seite die Autonomie des »gesunden« Menschen nie vollständige Freiheit von Fremdbestimmung durch die Natur und die Gesellschaft bedeutet, so bedeutet auf der anderen Seite die Tatsache, dass die Krankheit als Fremdbestimmung erfahren wird, nicht, dass die Freiheit oder Autonomie damit völlig verloren gehen würde. Es geht vielmehr für den Kranken darum, dass er oder sie sich auf neue Bedingungen einstellen muss und dafür in größerem Maße auf Unterstützung durch andere Menschen angewiesen ist. Die dem psychisch Kranken gegenüber angemessene und notwendige Haltung sei daher nicht eine objektivistisch-zweckrationale, nicht eine poietische, wie er mit Aristoteles sagt, sondern eine praktische und kommunikative. »Praxis« in diesem aristotelischen Sinne bedeutet Blankenburg zufolge »nicht nur ein Erfassen von Merkmalen, ein Rubrizieren und Diagnostizieren […], sondern den konkreten Umgang mit dem Patienten unter der Zielsetzung therapeutischer Ermöglichung neuer Lebensbewältigung – sei es durch Symptombeseitigung, sei es durch Erschließung zuvor nicht wahrgenommener Lebens- oder auch nur Kompensationsmöglichkeiten«. 47 Die praktisch-kommunikative Haltung gegenüber dem psychisch Kranken sei nicht geleitet vom zweckrationalen Interesse »Begegnendes beherrschbar zu machen (z. B. um Störungen beseitigen zu können)«, sondern vom Interesse, »Begegnendes als es selbst, d. h. als etwas Eigenständiges, relativ Autonomes zu verstehen und zur Geltung zu bringen«. 48 Zu dieser Kommunikation gehört es aber auch, dass man genau zu differenzieren lernt zwischen körperlichen Reaktionen und Verhaltensweisen, die fremdbestimmt und durch einen »pathophysiologischen Ablauf« zustande kommen, wie etwa das »Zwangsweinen«, 49 und echten leiblichen Ausdrucksformen des Willens und der Persönlichkeit, die auch dem psychisch Kranken möglich sind. Doch auch diese Unterscheidung, auch die Feststellung von Störungen möglicher Kommunikation ist nur in der kommunikativen Grundeinstellung dem Kranken gegenüber möglich. Wolfgang Blankenburg, »Autonomie- und Heteronomie-Konzepte in ihrer Bedeutung für die psychiatrische Praxis«, in: Werner Janzarik (Hrsg.), Psychopathologie und Praxis, Stuttgart 1985, S. 29–46, hier S. 31. 48 Ebd., S. 29. 49 Ebd., S. 37. 47
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Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus dieser Sichtweise für die spezielle Problematik der Patientenverfügungen, die sich auf mögliche zukünftige psychische und mentale Erkrankungen wie die Demenz beziehen? Soll man in erster Linie der früheren Willenserklärung folgen und im Rahmen des Möglichen für eine möglichst rasche Beendigung des Lebens sorgen? Oder soll man sich an den aktuellen Willensäußerungen des Betreffenden orientieren und sie als Ausdruck eines grundlegenden Willens zum Leben verstehen und respektieren? Zunächst ergibt sich aus den obigen Überlegungen die These, dass die mündlichen oder schriftlichen Äußerungen, etwa in Form einer Patientenverfügung, nicht als ein Sterbewille im eigentlichen Sinne, sondern als ein auf die noch offene Zukunft bezogener Wunsch, unter bestimmten Bedingungen nicht leben zu müssen und das Leben zu beenden, zu verstehen ist. Der Wille im eigentlichen Sinne ist unmittelbar verbunden mit dem Bestreben, das Gewollte herbeizuführen, und mit dem Bewusstsein, selbst dazu in der Lage zu sein. Er ist, wie Kant sagt, »[verbunden] mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects«. 50 Wünschen kann ich dagegen auch etwas, worauf ich nicht den geringsten Einfluss habe und das ich »auf keine Weise durch eigenes Handeln herbeiführen kann, etwa dass […] ein Atleth gewinnen möge«, 51 wie Aristoteles sagt, dass morgen gutes Wetter werden möge, dass ich nicht in den Zustand der Demenz gerate oder, wenn dies doch geschieht, dass ich dann möglichst bald sterbe und andere mir dabei helfen. Diesen Wunsch kann ich anderen gegenüber mündlich oder in der Patientenverfügung äußern. Ich kann seine Realisierung aber nicht auf diesem Wege, sozusagen im Vorgriff auf eine bloß mögliche, noch völlig offene Zukunft, handelnd herbeiführen. Denn das würde heißen, die anderen zu einem bloßen Instrument meines Handelns zu degradieren. Ich kann nur hoffen und wünschen, dass sie in meinem Sinne handeln werden. Die Auffassung von Patientenverfügungen als einer »verlängerten Autonomie« (Quante) ist insofern sehr irreführend. Patientenverfügungen artikulieren, genau genommen, keinen Willen im eigentlichen Sinne, sondern Wünsche, Präferenzen, Interessen, verbunden mit der Bitte an andere, diese in genauer spezifizierten künftigen Situatio-
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Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 213. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1111b.
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nen des eigenen Lebens zu berücksichtigen. 52 Es ist daher meiner These nach genau umgekehrt: Nicht die frühere Willenserklärung ist ein Wille im eigentlichen Sinne, sondern das sich im aktuellen Verhalten zum Beispiel des Demenzkranken leiblich manifestierende Wollen. Dieses sich im Verhalten unmittelbar zeigende Wollen oder Nicht-Wollen bezieht sich zunächst auf dieses oder jenes, das er oder sie als etwas Gutes bewertet und begehrt oder als etwas Negatives bewertet und daher ablehnt. Dass er oder sie leben und nicht sterben will, kommt in diesem vielfältigen, konkreten Wollen und Nicht-Wollen implizit zum Ausdruck. Der Wille zum Leben ist eine Art meta-stufiges Wollen, weil er die notwendige Bedingung jedes konkreten Wollens im Leben ist. Aristoteles folgend ist zu sagen: Das Leben selbst ist ein Streben und Wollen. Ein Leben zu beenden bedeutet, das Streben und Wollen unmöglich zu machen. Der Lebenswille ist mit dem Faktum des Lebens unmittelbar gegeben. Er äußert sich mit dem ersten Schrei oder den ersten Bewegungen im Mutterleib, und er schwindet mit dem Sterben. Der Lebenswille ist weder beim Gesunden noch beim Kranken von Verhaltensweisen der Lebensfreude abhängig zu machen. Er ist unter allen Umständen selbstverständlich vorauszusetzen – es sei denn, dass der oder die Betreffende seinen oder ihren Sterbewillen unmissverständlich zum Ausdruck bringt. Doch genau dies ist nur vor dem Hintergrund eines allgemeinen Lebenswillens eine verstehbare Willensäußerung. Nicht der Lebenswille, sondern der Sterbewille bedarf der expliziten Äußerung und unter Umständen auch der Begründung, oder einer entsprechenden Situation, die ihn verständlich werden lässt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand in der Endphase der Demenz entschieden und unmissverständlich zum Ausdruck bringt, nicht mehr essen zu wollen. Unmissverständlich ist eine solche Äußerung nur, wenn man andere mögliche (physiologische oder psychische) Gründe für das Nicht-Essen ausschließen kann. Die bloße Tatsache, dass der Betreffende schwer leidet und wenig oder fast gar nichts Gutes erfährt, ist keine hinreichende Bedingung für die Zuschreibung eines Sterbewillens. Es ist eine bekannte Tatsache, dass Menschen gerade unter Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille, der in den folgenden Ausführungen eine zentrale Rolle spielt, wird in diesem Band auch durch den Beitrag von Katrin Wille auf überzeugende Weise expliziert und in ihrer praktischen Bedeutung plausibel gemacht.
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extremen Leidensbedingungen einen besonders entschiedenen Willen zum Leben entwickeln können. Auch die Lebensäußerungen eines Demenzkranken sind daher ganz generell als Äußerungen eines Lebenswillens zu betrachten, solange er sich nicht im Sterben befindet, so dass das entschiedene und dauerhafte Zurückweisen von Essen und Trinken oder das Herausziehen der Magensonde als Ausdruck des Sterbewillens verstanden werden kann und auch durch Verzicht auf Zwangsmaßnahmen und Gewährenlassen respektiert werden muss. 53 Die ethische Problematik von Patientenverfügungen besteht darin, dass die eigene Zukunft nicht nur hinsichtlich äußerer Ereignisse, sondern auch hinsichtlich der eigenen inneren Entwicklung bewertender Stellungnahme zur eigenen Situation offen und unbestimmt, nicht verfügbar, planbar und kontrollierbar ist. Ich kann nicht sicher sein, dass ich als Betroffener im Zustand der Demenz diese Situation sozusagen von innen heraus immer noch so bewerten werde, wie ich sie jetzt von außen, sozusagen als Beobachter meiner möglichen zukünftigen Situation bewerte. Das wird sich erst durch mein zukünftiges Verhalten beweisen, in dem sich mein tatsächlicher Wille manifestieren wird. In Bezug auf die untrennbare Verbindung zwischen Wollen und Verhalten bzw. Handeln sagt Schopenhauer: Willensbeschlüsse, die sich auf die Zukunft beziehen, sind bloße Überlegungen der Vernunft über das, was man dereinst wollen wird, nicht eigentliche Willensakte: nur die Ausführung stempelt den Entschluss, der bis dahin immer nur noch veränderlicher Vorsatz ist und nur in der Vernunft, in abstracto, existiert. In der Reflexion allein ist Wollen und Tun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie eins. 54
Der Verfasser einer Patientenverfügung muss damit rechnen, dass sich sein Wollen und Vorsatz unter radikal veränderten Bedingungen ebenEine eindrucksvolle Geschichte dieser Art ist die Geschichte von Gramp, einem alten Mann, der seiner Familie in der Verfassung schwerer Demenz schließlich unmissverständlich zum Ausdruck bringt, nicht mehr essen und trinken zu wollen, und ohne Zwang oder Gewalt nicht dazu zu bringen gewesen wäre. Man bietet ihm immer wieder Essen und Trinken an, versucht ihn zu überreden, aber zwingt ihn nicht. Respektiert und unterstützt durch die Familie stirbt er schließlich in der Folge seines Entschlusses an körperlicher Schwäche auf Grund des Nahrungsentzuges, ohne größeren Kampf und in der vertrauten Umgebung. Vgl. Mark Jury/Dan Jury, Gramp. A man ages and dies, New York 1978; dt. Gramp. Ein Mann altert und stirbt. Die Begegnung einer Familie mit der Wirklichkeit des Todes, Bonn 1982. 54 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 158. 53
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falls verändern wird. Er muss somit auch damit rechnen, dass er die anderen, von denen er die Erfüllung seines Sterbewunsches erwartet, in eine konfliktreiche Lage bringt, sie mit dem Dilemma konfrontiert, ob sie eher seinen früheren Wunsch zu sterben oder eher seinen aktuellen Lebenswillen respektieren sollen. Schließlich ist zu fragen bzw. zu bezweifeln, was oft behauptet wird, ob nämlich die Überlegenheit des früheren »Sterbewillens« bzw. Sterbewunsches wirklich darin besteht, im Unterschied zum aktuellen Lebenswillen »rational« und kritisch bewertend (Dworkin) zu sein. Hier stellt sich noch mal das Problem des Individualismus, und zwar in Verbindung mit einem auf die effiziente Realisierung subjektiver Zwecke reduzierten Vernunftbegriff im Kantischen Sinne des »Verstandes«, im Unterschied zur auf die Allgemeingültigkeit der Zwecke ausgerichteten »Vernunft«. Kann eine Entscheidung rational oder vernünftig sein, wenn sie in keiner Weise verallgemeinerbar ist? Es gibt rein subjektive Geschmacksurteile. Es wäre aber merkwürdig, sie rational oder vernünftig zu nennen. Ich mag Himbeereis, oder ich mag es nicht, das ist weder rational noch irrational. Entweder müssten wir Entscheidungen über Leben oder Sterben in diesem Sinne als rein subjektiv betrachten, was der Sache, um die es hier geht, nicht angemessen zu sein scheint. Oder die eigene wertende Stellungnahme impliziert einen gewissen Allgemeinheitsanspruch, indem sie für andere eine Art kulturbildende und mentalitätsprägende Vorbildfunktion hat. Wenn ich sage, es ist für mich vernünftig, im Zustand der Demenz sterben zu wollen, weil ich diesen Zustand nicht für menschenwürdig halte, so impliziert das, dass dieser Zustand auch für andere als menschenunwürdig anzusehen ist und dass diese Menschenunwürdigkeit für sie ein guter Grund sein kann, diesem Zustand durch die vorzeitige Beendigung des Lebens zu entgehen. Wer sagt, nur ich sehe das so, jeder andere kann das anders sehen und bewerten, handelt nicht (im vollen Sinne) vernünftig, sondern dezisionistisch und verkennt die Tatsache, dass das individuelle Verhalten immer auch eine intersubjektive Dimension hat, indem es beispielgebend ist für andere, wodurch es zu einer Veränderung der allgemeinen Grundhaltung und kulturellen Weise des Umgangs mit Demenz und dementen Menschen kommen kann. Walter Jens hatte seine Aussage, er glaube nicht, dass der Demenzkranke »im Sinne des Humanen noch ein Mensch« sei, ganz offensichtlich mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit geäußert. Genau diese Aussage lässt sich jedoch bestreiten, indem man zeigt, dass A
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nicht der Zustand der Demenz als solcher menschenunwürdig ist, sondern bestimmte Weisen der Betrachtung und Behandlung des Demenzkranken durch diejenigen, die ihm nicht in kommunikativer Grundhaltung als Person mit einem Anspruch auf die Achtung seines Willens begegnen. Ich meine nicht, dass man den Verzicht auf die Patientenverfügungen für die Situation der Demenz – etwa im Sinne einer Reichweitenbeschränkung, wie sie im Vorfeld der Änderung des Betreuungsgesetzes von manchen gefordert wurde – rechtlich erzwingen kann und sollte. Es ist aber ernsthaft zu überlegen, ob für solche Grenzsituationen eine Haltung der Gelassenheit, des bewussten Sich-bestimmen-Lassens (Martin Seel) und des Vertrauens in die anderen – angesichts der Offenheit der eigenen (äußeren und inneren) Zukunft, des Widerfahrnischarakters des eigenen Lebens und der Unverfügbarkeit auch der eigenen Person – nicht die angemessenere Form der Selbstbestimmung und der Achtung der Würde ist. 55
Ich greife damit einen Gedanken auf, den Martin Seel in seinem Aufsatz »Grenzfälle der Selbstbestimmung. Über die Teilnahme am Leben anderer« (in: ders., Paradoxien der Erfüllung. Philosophische Essays, Frankfurt a. M. 2006, S. 115–129) mit Bezug auf die Problematik der Patientenverfügung in meinen Augen überzeugend zum Ausdruck bringt. Er legt hier einen »revidierten Begriff der Selbstbestimmung« zugrunde, der angesichts der notwendigen Bedingungen und Grenzen der Selbstbestimmung das »Sich bestimmen lassen« – zum Beispiel »durch die faktischen Antriebe und Affinitäten des eigenen Gestimmtseins«, über die sich »keine Selbstbestimmung […] erheben« könne – einschließt (ders., »Sich bestimmen lassen. Ein revidierter Begriff der Selbstbestimmung«, in: ders., Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 279–298, hier S. 292).
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Wunsch und Wille Arbeit an einer Unterscheidung
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Auftakt: Worum es bei dieser Unterscheidung gehen könnte
Das Vokabular des Strebens und Begehrens hält viele Differenzierungen bereit. Wir sprechen zum Beispiel davon, dass wir etwas beabsichtigen, vorhaben, begehren, anstreben, etwas wünschen oder wollen. In der Alltagssprache macht es sicher einen Unterschied, in bestimmten Situationen das eine oder eher das andere zu sagen. Es kann in einem Gespräch sicher andere Anschlüsse provozieren, wenn man sagt: »Ich habe vor, morgen zu dem Vortrag zu gehen.« Oder aber wenn man sagt: »Ich strebe danach, morgen zu dem Vortrag zu gehen.« Das hat aber nicht zur Folge, dass jeder der Ausdrücke eine scharf umrissene Bedeutung hätte. Angemessener wäre es vielleicht zu sagen, dass sich in der Alltagssprache Unterscheidungsspuren finden lassen. Damit sind häufig vorkommende Unterschiede zwischen Redeweisen gemeint, die wir aber nicht konsequent durchhalten – in der Regel ohne für abweichende Verwendungen korrigiert zu werden. Solche Unterscheidungsspuren bieten oft Bezugspunkte für wissenschaftliche Terminologiebildung und für Klassifikationen wie auch für die philosophische Weiterentwicklung von Unterscheidungen. Eine in diesen drei Weisen weiterverfolgte Spur in der Alltagssprache ist mit den unterschiedlichen Verwendungen der Ausdrücke »wünschen«, »Wunsch« auf der einen Seite und »wollen«, »Wille« auf der anderen Seite gelegt. Betrachten wir folgende Redeweisen: »Ich wünsche mir, niemals mehr grob zu anderen zu sein und immer Verständnis zu haben.« Und: »Ich will heute anders mit der angespannten Situation umgehen. Ich will, dass es nicht wieder zu Tränen kommt.« Die Unterscheidungsspur wird dann besonders deutlich, wenn wir in den beiden Redeweisen die Ausdrücke »wünschen« und »wollen« durcheinander ersetzen, also: »Ich will niemals mehr grob zu anderen sein und immer Verständnis haben.« Und: »Ich wünsche mir, heute anders mit der angespannten Situation umzugehen. Ich wünsche, dass es nicht wieder zu Tränen A
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kommt.« Die Ersetzung verändert den Sinn der beiden Sätze erheblich: Unsere Redeweisen vom Wollen transportieren deutlich größere Entschiedenheit und eine Ausrichtung auf die Handlung. Unsere Redeweise vom Wünschen vermittelt demgegenüber weniger entschiedene Verwirklichungsabsichten bzw. zielt gar nicht auf Verwirklichung, weil es sich auf Gegenstände richtet, auf die wir keinen Einfluss haben (z. B. »Ich wünsche mir, dass morgen schönes Wetter ist!«) und kann auf grammatischer Ebene gut durch einen irrealen oder potentialen Konjunktiv umschrieben werden, wie: »Würde ich doch niemals mehr grob zu anderen sein …« Die gegenseitige Ersetzung in den beiden Redeweisen könnte in einer konkreten Kommunikationssituation sicher durchgehen, vielleicht aber auch Rückfragen provozieren, wie z. B.: »Meinst du, das gelingt dir, immer Verständnis zu haben?« Oder: »Wenn du es dir wünscht, warum machst du es dann nicht?« Diese vorstellbaren Entgegnungen setzen genau da an, wo die übliche Zuordnung vom Wollen zum real möglichen Handeln und vom Wünschen zum Entwurf von Möglichkeiten irritiert zu sein scheint. In der philosophischen Begriffsbildung ist diese Unterscheidungsspur aufgenommen und ausgearbeitet worden. In der Philosophie der Psychologie wurde überlegt, ob Wünschen und Wollen zwei Arten des menschlichen Begehrens, eventuell neben möglichen anderen, sind oder ob die Ausdrücke Grade von Intensitäten des Begehrens ausdrücken. Stehen die Ausdrücke für mentale Akte oder gilt dies nur für das Wünschen und nur eingeschränkt für das Wollen? In ethischen Theorien, die den Begriff des Willens in den Mittelpunkt rücken, wie es zum Beispiel für kantische Ansätze kennzeichnend ist, kommt der Abgrenzung des Willens zum Wunsch einige Bedeutung zu. Worin besteht diese genau? In der angelsächsischen Tradition finden wir die Tendenz, mit dem Ausdruck »desire« auszukommen, der in deutschen Diskussionsbeiträgen meist als »Wunsch« übersetzt wird. Die englische Sprache verfügt zwar über die Unterscheidung zwischen »will« und »wish«, in der neueren Literatur wird aber von diesen sprachlichen Differenzierungsmöglichkeiten wenig Gebrauch gemacht, im Gegenteil. Es findet sich zum Teil explizit Kritik daran. Es sei für die Analyse von Handlungen wie für ethische Reflexionen völlig ausreichend, von Wünschen (desires) zu sprechen. In einer Studie über die Kritisierbarkeit von Wünschen zieht die Autorin diese theoretische Grenzlinie in aller Deutlichkeit, indem sie kritisiert, dass die Unterscheidung zwischen dem 210
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handlungsrelevanten Wollen und dem nicht handlungsrelevanten Wünschen fundamental wirke, bei genauerem Hinsehen aber oberflächlich sei. Es reiche aus, einen allgemeinen Wunschbegriff zu verwenden, mit Hilfe dessen Grade der Handlungsrelevanz von Wünschen, die sich zum Beispiel in der Bereitschaft zeige, Nachteile in Kauf zu nehmen, differenzierbar seien. 1 Ich will mit meinen Überlegungen das theoretische Lager derer, die die Unterscheidung treffen und zum Verständnis menschlicher Handlungen für wichtig halten, stärken. Mir scheint die Unterscheidung neben der phänomenalen Erschließungskraft, die ihr eigen ist, in verschiedenen Hinsichten theoretisch herausfordernd zu sein. Ich will im ersten Schritt deshalb einige Schlaglichter auf die Verwendung der Unterscheidung in der philosophischen Tradition werfen und damit die Relevanz der Unterscheidung in den eben nur angedeuteten philosophischen Feldern sichtbarer machen (II. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in der philosophischen Tradition). In den weiteren Schritten soll ein Feld weiter verfolgt werden, nämlich das, auf dem die Verflochtenheit der Unterscheidung mit der Unterscheidung zwischen Innen bzw. Geist und Außen bzw. Körper in den Blick gerät. In dieser Einleitung habe ich die alltagssprachliche Unterscheidungsspur zwischen Wunsch und Wille an der Beschäftigung mit konkreten Redeweisen aufzuzeigen versucht. Ich werde im weiteren Verlauf des Textes immer wieder und relativ ausführlich konkrete Beschreibungen einbeziehen und die theoretischen Überlegungen im Anschluss daran entwickeln. Ich folge dabei einer methodologischen Maxime, die der philosophische Autor Marcel Proust auf den Punkt gebracht hat. Proust schreibt in einem Brief: »[A]uf der äußersten Spitze des Besonderen kommt das Allgemeine zur Entfaltung.« 2 Darin drückt sich die Auffassung und wohl auch die Erfahrung aus, dass allgemeingültige Einsichten und Strukturen nicht in Abhebung von Besonderheiten zur »Entfaltung« kommen, sondern im Gegenteil in einer bestimmt vollzogenen Vertiefung in eben diese Besonderheiten. Die Erläuterung und Rechtfertigung dieser »Maxime« verdient und erfordert sicher eine eigene ausführliche Behandlung, die hier nicht gegeben werden kann. Vgl. Anna Kusser, Dimensionen der Kritik von Wünschen, Frankfurt a. M. 1989, S. 15. Marcel Proust, »Brief an Daniel Halévy, 19. Juli 1919«, zitiert nach: Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt a. M. 2008, S. 30 f., Anm. 5.
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Dieser Maxime gemäß will ich im zweiten Schritt eine konkrete Beschreibung einer Wunschsituation und einer Willenssituation aus der Feder von Marcel Proust anführen und kurz kommentieren (III. Wunsch und Wille: Paradigmatische Situationen). Im dritten Schritt stelle ich eine Analyse der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille vor, die an traditionelle Elemente anschließt und die systematische Verwobenheit der Unterscheidungen zwischen Wunsch und Wille und Geist und Körper (oder Seele und Leib oder Innen und Außen) zwar thematisiert, aber in keinen kohärenten Zusammenhang bringt (IV. Wunsch und Wille als verschiedene Einstellungen zum Handlungserfolg [William James]). Im vierten und letzten Schritt wird in kritischer Wendung gegen die Unzulänglichkeit traditioneller Unterscheidungsversuche eine Analyse der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille vorgestellt, in der die problematischen Implikationen von Wünschen und Wollen als psychischen Zuständen und die damit verbundene notorische Lücke zwischen Innen und Außen aufgezeigt werden. Ferner wird ein Rahmen zur Lösung dieser Schwierigkeiten entwickelt, der sich pragmatistisch und leibphilosophisch lesen lässt (V. Wünschen und Wollen als »völlig« verschiedene Handlungsweisen [Ludwig Wittgenstein]).
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Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in der philosophischen Tradition
Ich will einsetzen bei einer Differenzerfahrung, nämlich der Erfahrung der Differenz zwischen einem Vorhaben etwas zu tun und dem davon abweichenden Tun. Manchmal, wie beispielsweise im Falle von guten Vorsätzen für das neue Jahr, ist diese Differenz regelrecht spürbar. Die Äußerlichkeit des Vorhabens, wie z. B. im neuen Jahr mit dem Rauchen aufhören zu wollen oder jeden Tag zu joggen, ist häufig für uns selbst und für andere ziemlich offensichtlich, und man »fällt« in die Lücke zwischen Vorhaben und Handlung mitten hinein. Aber es gibt auch Situationen, in denen uns die Differenz zwischen Vorhaben und NichtVerwirklichung in Bezug auf uns selbst oder auf andere überrascht. Zum Beispiel spricht man von »festen Absichten« dann, wenn die Ausrichtung auf das Beabsichtigte sehr entschieden ist und dadurch die Bereitschaft der Festlegung auf die Umsetzung des Beabsichtigten gegenüber sich selbst oder gegenüber anderen sehr hoch ist. Unsere Rede 212
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über feste Absichten, wie: »Ich habe die feste Absicht, das und das zu tun« oder: »Sie hat die feste Absicht, das und das zu tun«, hält das Gelingen des Handlungsbezuges offen. Ein sprachlicher Anschluss, in dem der Zusammenhang zwischen fester Absicht und Handlung ausgedrückt ist, wie: »Warum wunderst Du Dich, dass sie das und das getan hat? Sie hatte doch die feste Absicht geäußert« ist genauso denkbar, wie einer, in dem dessen Fehlen thematisiert wird, wie z. B. folgender: »Ich bin enttäuscht und wütend. Er hatte doch die feste Absicht, mich in der Sache zu unterstützen. Warum hat er es dann nicht getan?« Für die Fälle von Differenzerfahrungen, für die charakteristisch ist, dass die Differenz eigentlich schon spürbar ist, wurde in der philosophischen Tradition oft der Ausdruck »Wunsch« im Unterschied zum Ausdruck »Willen« verwendet, welcher für die Erfahrungen steht, in denen sich zwischen Vorhaben und Handlung keine Lücke auftut. Bei Kant zum Beispiel findet sich die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille an strategisch wichtiger Stelle in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Mit der Gegenüberstellung vom Willen als »Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind«, 3 auf der einen Seite und dem bloßen Wunsch auf der anderen Seite werden zwei wichtige Abgrenzungen deutlich. Der Wille ist nicht ausreichend als psychischer (oder seelischer, geistiger oder innerer) Zustand bestimmt, es trifft aber auch nicht, den Willen im Rahmen der kantischen Unterscheidung zwischen Noumena und Phänomena als rein noumenal zu charakterisieren. Der Wille muss, um vom Wunsch, der bei Kant ein bestimmter »innerer« Zustand zu sein scheint, abgrenzbar zu sein, den Überschritt zur Verwirklichung des Gewollten leisten. In der angeführten Passage läuft das Unterscheidungskriterium über den Einsatz bzw. Nicht-Einsatz von Mitteln. In einer späteren Passage in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten werden Willkür, Wunsch und Wille voneinander unterschieden. Hier kennzeichnet die Willkür, dass sie im Unterschied zum Wunsch mit dem »Bewusstsein des Vermögens seiner Ich zitiere den Kontext der Formulierung: »Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat.« (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 394).
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Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist«. 4 Das Fehlen dieses Bewusstseins macht demgegenüber den Wunsch aus. An den beiden angeführten Stellen finden sich zwei Unterscheidungshinsichten zwischen Wunsch und Wille bzw. Wunsch und Willkür: 5 Der Wunsch unterscheidet sich vom Willen bzw. von der Willkür erstens im Verhältnis zu den Mitteln, die zur Realisierung der Handlung nötig sind und zweitens in der Einschätzung der Erreichbarkeit des erstrebten Ziels. 6 Von einem Wunsch reden wir dann, wenn nicht die nötigen Ich zitiere den Kontext der Formulierung: »Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird, heißt ein Vermögen nach Belieben zu thun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objects verbunden ist, heißt es Willkür; ist es aber damit nicht verbunden, so heißt der Actus desselben ein Wunsch. Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjects angetroffen wird, heißt der Wille.« (Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 213). 5 Die spätere Unterscheidung zwischen Wille und Willkür nimmt zwei Funktionen des Willensbegriffs auseinander, die zum Beispiel in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten noch mit dem einen Ausdruck »Wille« bezeichnet werden. Der Wille hat einerseits die Funktion, Handlungen zu organisieren und andererseits die, die Gründe dafür sowie wiederum deren Legitimation zu geben. Diese Differenzierung der Funktionen drückt Kant im direkten Anschluss an die zitierte Passage aus der Einleitung in die Metaphysik der Sitten folgendermaßen aus: »Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.« (AA VI, S. 213). Es ist zu fragen, welche Auswirkungen die spätere Differenzierung auf die frühere Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten hat. Vgl. dazu näher: Katrin Wille, »Kant über Wunsch und Wille« (in Vorbereitung). 6 Ich beginne die Hinweise auf die Verwendung der Unterscheidung in der philosophischen Tradition mit Kant, obwohl sich beide Kriterien weiter zurückverfolgen lassen. Zum Beispiel finden sie sich auch bei John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Oxford 1975, Buch II, Kap. XX, § 6. Es ließen sich in einer umfassenden philosophiehistorischen Untersuchung sicher noch weiter zurückliegende Quellen finden, denn es ist deutlich, dass Locke hier keine originelle Unterscheidung präsentiert, sondern in seiner intensiven Umarbeitung der Kapitel über den Willensbegriff (vgl. die Kapitel XX und XXI im zweiten Buch des Essays) für die zweite Auflage auf diese Differenzierungen zurückgreift. Mit dem Einsatz bei Kant schließe ich mich der Einschätzung von Christoph Fehige an, dass Kant der so verstandenen Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille Resonanz verschafft hat, die vielfach weitergewirkt hat. Vgl. ders., »Wunsch I«, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, Sp. 1077–1085, insbes. Sp. 1079. 4
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Mittel zur Erreichung des Ziels eingesetzt werden. Vom Willen sprechen wir dann, wenn genau das zutrifft. Und von Wünschen reden wir weiterhin dann, wenn wir glauben, dass das gewünschte Ziel unerreichbar ist. Wir wollen dagegen dann etwas, wenn wir glauben, dass eine Realisierung möglich ist. Mit dem ersten Kriterium wird der Akzent auf die Art und Qualität der Tätigkeit gelegt und im anderen Falle auf die Art und Qualität der Gegenstände des Willens oder Wunsches bzw. der Einstellung gegenüber den Gegenständen. Wünsche können sich auch auf Gegenstände richten, deren Realisierung dem Wünschenden unter den jeweiligen Umständen unmöglich ist, wie auf solche, die menschlichen Bemühungen überhaupt entzogen sind, wie zum Beispiel ohne technische Hilfsmittel fliegen zu können wie ein Vogel. Aber wir sprechen auch dann von Wünschen, wenn die gewünschten Gegenstände zwar prinzipiell und unter den jeweiligen Umständen erreichbar wären, die nötigen Mittel und die nötige »Kraftanwendung« 7 aber eben nicht aufgebracht werden. In der philosophischen Literatur, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu Themen der philosophischen Psychologie verfasst wurde, finden sich viele Überlegungen zur Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille bei der Beschäftigung mit dem Bereich des menschlichen Begehrens. Dabei wird die Differenzierung wie bei Locke und Kant vor allem über den Mitteleinsatz und die damit verbundene Anstrengung einerseits und die Realisierbarkeit des Ziels andererseits gewonnen. In diesen Texten erfährt die Unterscheidung eine Anreicherung, von der ich einige wenige Punkte aufführen will. Der Philosoph Christoph von Sigwart definiert: Der Wunsch »ist das durch die denkende Reflexion hindurchgegangene innere Hinstreben nach einem Zustande, den ich als ein Gut vorstelle, den ich aber weder mit Sicherheit erwarten noch selbst herbeiführen kann«. 8 Damit knüpft er an das Unterscheidungskriterium an, das sich auf den Charakter des Gewünschten richtet. Zudem kontrastiert er den Wunsch als reflektiertes Streben mit Formen des unreflektierten Begehrens oder Strebens wie z. B. den Trieb. Auf das Verhältnis zwischen Wunsch und Wille wirft Sigwart zwei sehr verschiedene Perspektiven. In der ersten »Das Begehren ohne Kraftanwendung zu Hervorbringung des Objects ist der Wunsch« (Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, S. 251). 8 Christoph von Sigwart, »Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache«, in: ders.: Kleine Schriften, Bd. 2, Freiburg 1889, S. 115–211, hier S. 149. 7
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Perspektive kommt dem Wunsch gegenüber dem Wollen die Funktion zu, losgelöst von den Beschränkungen des Realen bessere Möglichkeiten zu entwerfen. Sigwart spricht vom »Idealismus des Wünschens«, um diese Funktion des freien Entwerfens auszudrücken zusammen mit der Funktion, die Aufmerksamkeit hin auf Gelegenheiten der Verwirklichung zu orientieren. Diese Orientierungsfunktion ermöglicht dann auch, dass Wünschen in Wollen übergeht. In der zweiten Perspektive kontrastiert Sigwart das ernsthafte reale Wollen mit dem Wünschen als »gehoffte oder geträumte Befriedigung unserer Neigungen«. Wünschen kann in dieser Perspektive als »bloßes Wünschen« charakterisiert werden, das die Schritte der Verwirklichung überfliegt und meidet. Die Funktion ist eher die, eine Gegenwelt der Wünsche zu erzeugen, die von der Aufgabe der Realisierung zu entbinden scheint. Sigwart differenziert zwei Perspektiven (»von dieser Seite aus gesehen«) und nicht zwei Arten des Wünschens, wie z. B. kreative Wünsche und bloße Wünsche. Ohne die möglichen Implikationen der Verschiedenheit einer Unterscheidung von Arten und einer Unterscheidung von Perspektiven zu reflektieren, scheint er damit doch zum Ausdruck zu bringen, dass Wünsche oft zwischen den verschiedenen genannten Funktionen changieren und dass es prinzipiell möglich, wenn auch nicht in jeder Situation sinnvoll ist, beide Perspektiven auf Wünsche einnehmen zu können. Der Philosoph und Psychologe Alexander Bain unterscheidet »desire« und »will« und definiert: Desire is the state of mind where there is a motive to act – some pleasure or pain, actual or ideal – without the ability. It is thus another of the states of interval, or suspense, between motive and execution. […] In Desire, there is the presence of some motive, a pleasure or a pain, and a state of conflict, in itself painful. 9
Bain wählt mit seiner Bestimmung von »desire« einen Ansatzpunkt, der sich für beide genannten Unterscheidungskriterien offen hält. Ist die Fähigkeit (ability) zu handeln nicht vorhanden, so kann das sowohl daran liegen, dass der gewünschte Gegenstand als nicht realisierbar erscheint, als auch daran, dass es Faktoren gibt, die daran hindern, die prinzipiell vorhandenen nötigen Mittel einzusetzen. Bain legt den
9 Alexander Bain, Mental and Moral Science. A Compendium of Psychology and Ethics, London 1968, S. 366.
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Akzent auf die Differenz zwischen Gewünschtem und der Realität und auf die Erfahrung dieser Differenz als Konflikt. Nach dem Philosophen Johannes Rehmke unterscheiden sich Wünschen und Wollen darin, dass zum Wünschen der Gedanke gehört, den Gegenstand des Wünschens, das Gewünschte – Rehmke spricht vom »im Lustlichte Vorgestellten« – nicht selber verwirklichen zu können. Dieser Gedanke fehlt beim Wollen. Das Einteilungskriterium ist also das Vorhandensein oder Fehlen eines zusätzlichen Gedankens über die eigene Verwirklichungskraft des Vorgestellten. Die Unterscheidung zwischen Wünschen und Wollen gründet nach Rehmke in der Erfahrung der Beschränkung der eigenen Veränderungskraft. Diese Grenze beschreibt Rehmke als Hemmung des eigenen Willens, in dem der Mensch sich seines eigenen Unvermögens bewusst ist. Der Gedanke des Nichtwirkenkönnens stecke in jedem Wünschen.10 Aus einer größeren Gruppe möglicher Autoren, die im Rahmen ihrer Beschäftigung mit der Philosophie der Psychologie über die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille schreiben, habe ich diese drei Autoren ausgesucht, weil mir ihre Analysen die spezifische Differenzerfahrung des Wünschens, mit der ich diesen Abschnitt begonnen habe, zu vertiefen scheinen. Dieser Differenzerfahrung ist eine Ambivalenz eigen, die durch Sigwarts Perspektivendifferenzierung verständlicher wird. Die Reibung zwischen dem Vorhaben etwas zu tun und dem davon abweichenden Tun hat die Struktur eines Konfliktes (Bain) und produziert die Erfahrung des Nichtwirkenkönnens (Rehmke). In den hier aufgeführten Theoriestücken werden verschiedene philosophische Felder deutlich, in denen die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille Relevanz entfaltet. Ich will diese verschiedenen Felder knapp umreißen. Einige dieser Felder gehören in die sogenannte praktische Philosophie und einige in die theoretische Philosophie. Auch wer dieser Unterscheidungsspur aus eher moralphilosophischem Interesse folgt, wird auf solche Implikationen die Aufmerksamkeit richten müssen, die in die Philosophie des Geistes oder die Handlungstheorie führen. Ist man Wunsch und Wille auf der Spur, muss man sich, so meine ich, zwischen diesen verschiedenen Feldern hin und her bewegen.
Vgl. Johannes Rehmke, Lehrbuch der Allgemeinen Psychologie, Leipzig 1905, S. 504–517.
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Willensbegriff: Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille hat in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von Kant eine Abgrenzungsfunktion für die Frage, was eigentlich unter dem Willen, der allein im ethisch relevanten Sinne gut genannt werden kann, der also gewissermaßen die Quelle der Normativität darstellt, zu verstehen ist. Durch die Abgrenzung wird deutlich, dass der Kantische Willensbegriff nichts mit Gesinnungen im Sinne von nur inneren Einstellungen zu tun hat, wie immer noch oft gesagt wird, sondern besser als wirklichkeitsschaffende Reflexion auf Handlungsgründe umschrieben ist. Diese Abgrenzungsfunktion der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille findet sich, bei aller sonstigen Diversität der philosophischen Fragen, Methoden und Ergebnisse, auch bei anderen Versuchen, den Willensbegriff zu klären, z. B. bei William James, darauf werde ich in Abschnitt IV näher eingehen, oder in der ausführlichen Studie über das Wollen von Gottfried Seebaß. Seebaß will die vielfältigen Erscheinungsweisen des Willens in einen einheitlichen Begriff integrieren. Dabei sind zwei Erscheinungsweisen und Redeweisen von unserem Wollen besonders wichtig. Die eine Erscheinungsweise ist das bloße Wollen. Damit ist eine eigene mentale Leistung gemeint, die faktisch und begrifflich von willentlichen »Verrichtungen«, wie Seebaß es nennt, zu trennen ist. Da der Gedanke, dass Wollen und Tun auseinanderfallen, sowohl in der Tradition des abendländischen Denkens wie auch in unseren Redeweisen fest verankert sei, muss ein einheitlicher Begriff des Wollens auch dem bloßen Wollen, also der Handlungsunabhängigkeit des Wollens Rechnung tragen. Auf der anderen Seite scheint auch eine Abgrenzung nötig, die Abgrenzung zum bloßen Wünschen, das motivational unzulänglich ist und deshalb nicht mehr als Wollen bezeichnet werden kann. Auch für diese Abgrenzung treten in der Tradition viele Autoren ein, und es finden sich in unserem Sprachgebrauch Spuren dieser Unterscheidung. Der Begriff des Wollens oder des Willens muss einen konstitutiven Handlungsbezug aufweisen, sonst kann die Abgrenzung nicht geleistet werden. Die Funktion der Unterscheidung zwischen Wunsch und Willen besteht darin, auf den notwendigen Handlungsbezug des Wollens hinzuweisen. 11 Moralische Praxis: Die Unterscheidung hat nicht nur eine wichtige Funktion für die Grundlegung des Willensbegriffs, sondern auch für die konkrete moralische Praxis. Die Unterscheidung zwischen Wille 11
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Vgl. Gottfried Seebaß, Wollen, Frankfurt a. M. 1993.
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und Wunsch ist von Relevanz für die Arbeit der moralischen Urteilskraft, die auch nötig ist, um den jeweiligen konkreten Gegenstand für die moralische Beurteilung und moralische Verständigung zu bestimmen. Stellen wir uns zum Beispiel vor, wie jemand uns glaubhaft Unterstützung bei einem schwierigen Gespräch zusichert und diese dann in der Situation nicht leistet. Wir fühlen uns im Stich gelassen und schlecht behandelt. Es ist ein moralisches Problem entstanden, und es steht ein moralischer Vorwurf im Raum. Der ist aber noch im Zustand der Offenheit und Unbestimmtheit, wir drängen nach Weiterbestimmung der Qualität des Vorwurfs. Das, was wir im vorbereitenden Gespräch für die Willensäußerung unseres Gegenübers gehalten haben, war im Rückblick gesehen keine Äußerung ihres Willens. Welcher Wille äußert sich durch ihre Handlungen im Gespräch? Die Durchkreuzung des Willens durch die Übermacht des Affekts der Angst vor möglichen negativen Folgen? Oder der Wille zur Täuschung? Oder das Eingeständnis: Es war ein Wunsch zum Mutigsein, den ich nicht wirklich umsetzen wollte – es obliegt der konkreten Beschreibung der Situation und der Verständigung darüber, welcher der drei genannten Gründe trifft: Der erste Grund, unerwartete Angst, könnte als eine Spielart von Willensschwäche dargestellt werden, Willensschwäche verstanden als Konflikt zwischen dem, was der Handelnde zwar für das Richtige hält, aber nicht tut, und dem, was seine Leidenschaften und Begierden Abweichendes zu fordern scheinen, und das ist es dann, was er tut. Der zweite genannte Grund ist Täuschung. Unser Gesprächspartner hätte die Unterstützungsabsicht nur vorgetäuscht, das Verhalten im Gespräch zeigt ihre eigentliche Absicht. Und der dritte Grund ist eben der, dass unser Gesprächspartner zwar den Wunsch hatte, uns zu unterstützen, aber keine Bereitschaft, den möglicherweise nicht einfachen Weg der Umsetzung zu gehen. 12 Jede dieser drei Beschreibungen evoziert sehr verschiedene Anschlüsse in Gesprächen über moralische Konflikte. 13
Es ist wichtig, kann aber hier nicht weiterverfolgt werden, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille zur Diskussion über Willensschwäche ins Verhältnis zu setzen. Auf den ersten Blick könnte die Abgrenzung so versucht werden, wie oben angedeutet. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille ein kritisches Potential gegenüber der Konzeption der Willensschwäche entfaltet. Vgl. dazu: Wille, »Kant über Wunsch und Wille«. 13 Die Relevanz der Unterscheidung für die institutionelle Praxis der Patientenver12
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Selbstreflexion: Ein Teilgebiet unserer moralischen Praxis ist die Selbstreflexion, die von der Reflexion auf unsere Interaktionen mit anderen nicht prinzipiell verschieden ist, weil wir hierbei in eine Art kritisches Gespräch mit uns selbst eintreten. In vielen Fällen ergibt sich aus Situationen sehr deutlich, ob unsere Wünsche Phantasien nahekommen. Wir wünschen uns zum Beispiel, unter ganz anderen Umständen zu leben, die mit den unseren kaum Berührungspunkte haben. Wir wissen, dass das Gewünschte nicht realisierbar ist und wenden folgerichtig auch keine Mittel zu einer aussichtslosen Umsetzung auf. Nun gibt es aber einen sehr großen Bereich von Situationen, in denen die Unterscheidung genutzt werden kann, um Reflexionsprozesse in Gang zu setzen, wie z. B.: Wollen wir diese Beziehung, wo wir andauernd Streit provozieren, oder halten wir an einem Wunsch fest, der längst nicht mehr unser Handeln leitet? In dieser Verwendung der Unterscheidung kommt es nicht darauf an, die Situation richtig als Wunsch oder Wille zu klassifizieren, sondern es kommt darauf an, die Unterscheidung zur Arbeit mit einem Spannungsfeld zu verwenden und durch die Neubeschreibung der Situation als eine, in der jemand seine Wünsche oder seinen Willen geäußert hat, neue Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Philosophie der Psychologie: Es wurde eben als moralische Aufgabe bestimmt, sich kritisch auf sich selbst zu richten und sich zu befragen, ob man Bestimmtes wünscht oder will. Wie erkenne ich das aber? Schaue ich beim Wünschen in mein Inneres und beim Wollen auf meine Handlungen? Wie geht es, in sein Inneres zu schauen? Repräsentieren Wünsche geistige (psychische oder mentale) Zustände? Die meisten Beiträge aus der philosophischen Tradition legen es nahe, Wünschen und Wollen als geistige Zustände zu konzeptualisieren, wobei letzterer handlungswirksam ist oder werden kann. Damit sind nun zwei weitere philosophische Felder eröffnet: Handlungstheoretisch virulent ist die Frage, wie diese Handlungswirksamkeit des Willens zu verstehen ist? Ist das eine kausale Wirkung? Wie verhielte sich eine solche Kausalität zur Naturkausalität? Oder sind die Handlungswirksamkeit des Willens und die Handlungsunwirksamkeit des Wunsches anders zu bestimmen? Werden diese Fragen so gestellt, scheinen aber schon bestimmte Vorentscheidungen getroffen zu sein über den Sinn fügung und die damit verbundenen moralischen Probleme zeigt Theda Rehbock in ihrem Beitrag in diesem Band.
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der Rede von geistigen Zuständen und den Sinn der Frage, wie diese in der Welt des Körpers Wirkung entfalten können. Um die Berechtigung dieser Fragen, über deren Sinn oder Unsinn muss nun aber erst philosophisch gerungen werden. Festzuhalten ist, dass die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille in systematischer Verbindung zu der Unterscheidung zwischen Geist und Körper oder Leib und Seele oder Innen und Außen (hier und im Folgenden werden diese drei Varianten als verschiedene Ausdrücke für eine Unterscheidung verwendet) steht. Ich will die Aufmerksamkeit nun auf diese Verbindung der beiden Unterscheidungen richten. Dazu will ich, der anfangs genannten methodologischen Maxime gemäß, mit einer konkreten Beschreibung einer Situation des Wünschens und einer Situation des Wollens beginnen, die sich so liest, als wären viele der in diesem Abschnitt angeführten Reflexionen in sie eingeflossen.
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Bei Unterscheidungen und Begriffen, die wie diese einen »phänomenalen Boden« haben, scheint mir ein wichtiger Schritt zu sein, eine angemessene Beschreibung zu finden. Angemessen ist eine Beschreibung dann, wenn darin eine besondere Situation so dargestellt ist, dass erstens die darin wirksame Struktur erkennbar wird, die für ähnliche Situationen auch gilt, zweitens dadurch eine reflexive Einstellung auf diese Arten von Erfahrung entsteht und drittens die Beschreibung sowohl einen Referenzpunkt als auch eine Herausforderung für theoretische Begriffsbildungen liefern kann. Beschreibungen von Situationen, in denen das erreicht wird, nenne ich paradigmatische Situationen. Unter einer paradigmatischen Situation verstehe ich etwas anderes als ein Beispiel, das vor allem illustrierende Funktion hat. In einer paradigmatischen Situation ist die Erscheinungsweise des theoretischen Gegenstandes, hier die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille so herausgearbeitet, dass sich philosophische Analysen direkt daran anschließen können. Ich nutze Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Beobachtungsergebnis von alltäglichen Unterscheidungen, an die die philosophische Reflexion anschließen kann. Wenn ich so literarische Darstellung und philosophische Unterscheidungsarbeit ins Verhältnis setze, dann kommt der Literatur die Rolle zu, filigrane Beschreibungen von der leiblichen, affektiven und kognitiven Wirkung A
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von im Alltag wirksamen Unterscheidungen zu geben, die sichtbar machen, was im Alltag selbst im Untergrund verbleibt. Die Philosophie knüpft an diese plastische Gestalt mit ihren begrifflichen Reflexionen an. Literarische Analysen wie die von Proust reichen in die Philosophie hinein, und die Philosophie erhält die Chance, das Allgemeine im Besonderen wirken zu sehen. Proust ist auch deshalb gewählt, weil die Suche nach der verlorenen Zeit als literarische Reflexion darauf gelesen werden kann, wie der Wunsch zu einem Willen, Schriftsteller zu werden, wird. Robert Pippin 14 fokussiert in seiner Auseinandersetzung mit Proust einen ähnlichen Punkt. Pippins Proust-Lektüre ist zum Beispiel eine, die Proust als geeigneten Autor präsentiert, zu diesem Problem kompetente literarische Reflexionen zu liefern: Im Werk werde dargestellt, dass »Selbstsein« und »Werden, wer man ist« nicht eine Art Treue zu einer inneren Essenz ist, sondern eine Frage der Handlung, eine Auseinandersetzung mit anderen über das, was es eigentlich war und bedeutet hat, was man getan hat. Ein zentrales Thema ist die Relation zwischen Überzeugungen und ihrem Ausdruck in Handlungen: »[I]t manifests these tensions [between reflection and action, K. W.] more than perhaps any other book, or so I am trying to claim.« 15 Die beiden Passagen aus dem umfangreichen Werk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, die ich nebeneinandersetzen möchte, stammen aus verschiedenen Etappen des Gesamtwerkes, gehören aber zu einem Faden, der die literarische Schaffenskraft des Autors und Ich-Erzählers reflektiert und der das ganze Werk durchzieht. Ich machte es wie er, und wie ich es immer schon gemacht hatte seit meinem alten Entschluss, mich ans Schreiben zu begeben, der so weit zurücklag, mir aber von gestern zu stammen schien, weil ich ihn immer von einem Tag zum andern als noch nicht gefasst betrachtet hatte. Ich machte es ebenso auch an diesem Tag und ließ wieder, ohne irgend etwas zu tun, seine Regenschauer und hellen Durchblicke zwischen Wolken vorüberziehen, während ich den festen Vorsatz fasste, mit der Arbeit am nächsten Tage zu beginnen. Doch unter einem wolkenlosen Himmel war ich dann der gleiche nicht mehr; der goldene Ton der Glocken enthielt wie der Honig nicht nur Licht, sondern vermittelte auch die Empfindung von Licht […]. Robert Pippin, »On ›Becoming Who One Is‹ (and Failing). Proust’s Problematic Selves«, in: ders.: The Persistence of Subjectivity. On the Kantian Aftermath, Cambridge 2005, S. 307–338. 15 Ebd., S. 316. 14
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Diese Stelle stammt aus einer Passage, in der der Typus eines Menschen des Wunsches entworfen wird, über den es einige Zeilen vorher heißt: »Er sieht es [sein Dasein, K. W.] nach Maßgabe seiner Wünsche, nicht wie […] er selbst es zu gestalten verstand.« 16 Die andere Stelle ist die folgende: Beiläufig bemerkte ich, dass in dem Kunstwerk, zu dessen Inangriffnahme ich mich schon ganz bereit fühlte, ohne dass ich mich bewusst dazu entschlossen hatte, große Schwierigkeiten sich ergeben würden, müsste ich doch die aufeinanderfolgenden Teile in einem Material ausführen, das sehr verschieden von demjenigen wäre, das zu der Erinnerung an Morgenstunden am Meeresufer oder Nachmittagen in Venedig passte […]. Ich ging sehr rasch über das alles hinweg, da mich weit zwingender die Aufgabe rief, nach dem Grunde jenes Glücks, dem Wesen der Gewissheit zu forschen, mit der es mich überwältigte – eine in früherer Zeit zunächst noch hinausgeschobene Untersuchung.17
Werden beide Stellen wie hier nebeneinander platziert, dann können sie als Darstellung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille gelesen werden. Hier wird ein Ergebnis literarischer Aufmerksamkeit auf Erfahrungen des Wünschens und Wollens gegeben. Ich will diese Darstellung in einigen wenigen Strichen auswerten: Das Erleben des Wünschens weist folgende Besonderheiten auf. Ein Wunsch wirkt wie ein Anspruch auf eine Verhaltensänderung (hier aus dem Modus der Empfindung in das literarische Beschreiben von Empfindungen zu gehen), der eine eigentümliche Zeitlichkeit aufweist. Der Anspruch wird als aktuell und gegenwärtig wahrgenommen, da er über einen längeren Zeitraum kontinuierlich als uneingelöster Anspruch wirkt (von einem Tag zum anderen), und dessen zeitliches Entstehen in die eigene biographische Vergangenheit zurück reicht (seit meinem alten Entschluss). In der Vorstellung wird die Einlösung des Anspruchs, die Verhaltensänderung in die nächste Zukunft verschoben (am nächsten Tag), das scheint die Tatenlosigkeit des Augenblicks (ohne irgend etwas zu tun) und damit das Auseinanderfallen von Vorstellung und Tun zu rechtfertigen. In Form einer Verhandlung mit sich selbst kann dem festen Vorsatz für die nahe Zukunft Gewicht verliehen werden, indem die Verhaltensänderung an das Eintreten anderer EreigMarcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. von Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M. 1979, Bd. 8, S. 2858–2859. 17 Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 10, S. 3940–3941. 16
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nisse gekoppelt wird: Wenn das und das geschafft ist, wenn das und das gut geht, dann tue ich aber wirklich das und das. 18 Dies ist oft eine Art von Vorstellung, die nicht im Kontakt mit den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten steht (nach Maßgabe der Wünsche, nicht wie er selbst es zu gestalten verstand). Tritt nun der sich selbst gegenüber festgesetzte Zeitpunkt ein, stellt sich ein eigentümliches Kontinuitätsund Diskontinuitätserleben ein, denn einerseits scheint der gestrige Vorsatz auf die nun aktuelle, intensiv erlebte Situation nicht zu passen, in der alles anders scheint, man selbst, die Umstände (doch unter einem wolkenlosen Himmel war ich dann der gleiche nicht mehr), die Anforderungen an die Situation. Es wird also Diskontinuität zu der Situation, in der der Vorsatz gefasst und erneuert wurde, erlebt. In der mahnenden Stimme andererseits, dass der Anspruch an die Verhaltensänderung aber weiter zu Recht besteht, meldet sich die empfundene Kontinuität. Das Erleben des Wollens weist folgende Besonderheiten auf: Erlebt wird eine eigene Art von Bereitschaft für das, was zu tun ist, die keine Vorstellung von dem, was zu tun ist, darstellt, sondern den Übergang zum Tun selber bildet. Das wird hier angesichts von Schwierigkeiten der Umsetzung deutlich, über die rasch hinweggegangen wird, ohne sich davon einnehmen zu lassen. Es wird eine Bezogenheit auf die Aufgabe empfunden, die es zu erfüllen gilt, hier die Erforschung des Grundes der besonderen ästhetischen Empfindungen. Die Bereitschaft manifestiert sich nicht als Entschluss, sondern steigt im Empfinden eher als teils leibliches oder körperliches, teils emotionales, teils kognitives Bereitsein für die Situation auf (schon ganz bereit fühlte, ohne dass ich mich bewusst dazu entschlossen hatte). 19 Vgl. die der zitierten Stelle direkt vorangehende Passage: Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Bd. 8, S. 2858. 19 Die Schwierigkeit, die auftaucht und über die hier hinweggegangen wird, ergibt sich aus dem Kontext der Stelle. Dort wird unterschieden zwischen der erinnernden Vorstellung von Tatsachen oder Tatsachenabfolgen und dem sinnlichen Wiedererleben von Eindrücken in ihrer Empfindungsumgebung. Letzteres ist die ästhetische Aufgabe (gegenüber einem falsch verstandenen Realismus), die sich zudem der Schwierigkeit gegenüber sieht, auf das Medium der Schrift (in einem Material ausführen) angewiesen zu sein, das in die lineare Aufeinanderfolge zwingt, mittels dessen aber eben auch die sinnliche Gesamtgestalt nachvollziehbar werden soll, die den Wirklichkeitsgehalt gewährt. Zugänglich werden soll eine Wirklichkeit, die nicht das einfache Erleben selbst ist, sondern das Wiedererleben, durch das die Gemeinsamkeit verschiedener Erlebnisse in einer empfindbaren Reflexion sichtbar werden kann. 18
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IV Wunsch und Wille als verschiedene Einstellungen zum Handlungserfolg (William James) James nennt Phänomene wie das von Proust beschriebene solche, die in Miniaturform die ganze Theorie (Psychologie) des Willens enthalten. Sein eigenes Beispiel, aus dessen Reflexion seine Theorie entstanden sei, ist das Phänomen des inneren Kampfes beim Aufstehen aus dem warmen Bett an einem kalten Wintermorgen, das sich nach James gut eine Stunde hinziehen kann. 20 Dieses Phänomen gehört bei Proust in den Kontext der Transformationsgeschichte des Wunsches zum Schreiben hin zum Willen zum Schreiben, nur dass der Zustand des inneren Kampfes bei ihm nicht nur eine Stunde, sondern einen ganzen Tag, ja tagelang währen kann. William James eröffnet das Kapitel über den Willen in den Principles of Psychology mit der Unterscheidung zwischen Wunsch (wish) und Willen (will). Er wählt den Weg einer differentiellen Bestimmung, da eine Definition der Zustände des Geistes wie Wünschen und Wollen, die jedem von uns bekannt seien, diese nicht deutlicher machen würde. 21 Wir wünschen etwas dann, wenn mit unserem Verlangen (desire), etwas zu fühlen, zu haben oder zu tun, ein Gefühl einhergeht, dass das Verlangte nicht erreicht werden kann. Wenn wir dagegen glauben, dass das Ziel in unserer Macht steht, wollen wir es. Wollen heißt also, die Realität des verlangten Fühlens, Habens oder Tuns herbeizuführen. Dies geschieht entweder unmittelbar beim Wollen oder nachdem bestimmte Vorbereitungen getroffen wurden. Für beide Arten des Wollens sind die Bewegungen des eigenen Körpers (body) von besonderer Bedeutung. Unmittelbar wirklich wird das Wollen dann, wenn das verlangte Tun in der Bewegung unseres eigenen Körpers besteht. Verlangtes Fühlen und Haben dagegen ist Resultat von vorbereitenden Bewegungen unseres Körpers. Daran schließt James die Behauptung an, dass die einzige direkte Außenwirkung des Willens in körperlichen Bewegungen besteht, die als willentliche Bewegungen (voluntary movements) zu verstehen sind. Was kennzeichnet nun diese willentlichen Bewegungen? Willentliche Bewegungen sind sekundäre und nicht primäre Funktionen des Vgl. William James, The Principles of Psychology, Bd. 2, New York 1905, S. 524. »Desire, wish, will, are states of mind which everyone knows, and which no definition can make plainer« (ebd., S. 486).
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Organismus. Primäre Funktionen sind Reflexe, instinktive und emotionale Bewegungen. Willentliche Bewegungen setzen ein Gedächtnis dieser primären Funktionen des Körpers voraus. Unter den sinnlichen Eindrücken im Gedächtnis von durch andere erfahrene oder selbst vollzogene Bewegungen hebt James die kinästhetischen Eindrücke besonders hervor, die in der physiologischen Forschung seiner Zeit einen neuen und viel diskutierten Forschungsgegenstand bildeten. 22 Zu den kinästhetischen Eindrücken gehören nicht nur unsere Muskeln, die mit afferenten und efferenten Nerven ausgestattet sind, 23 sondern auch die Sehnen, die Bänder, die Gelenkflächen und die Haut über den Gelenken sind alle sensitiv. Werden diese gedehnt oder gedrückt in verschiedenen Bewegungen, entstehen so viele verschiedene Empfindungen wie es mögliche Bewegungen gibt. Diese unserem Körper zugehörigen kinästhetischen Eindrücke ermöglichen das Bewusstsein von passiven Bewegungen, das sind Bewegungen von anderen, mit denen wir in Verbindung stehen. Einer willentlichen Bewegung muss eine Vorstellung (idea) der Bewegung vorausgehen. Diese Vorstellung ist als Antizipation der sinnlichen Wirkungen (sensible effect) zu beschreiben. Ist nun diese bloße Vorstellung ausreichend als der willentlichen Bewegung unmittelbar vorausgehend oder ist ein zusätzlicher mentaler Akt nötig in Gestalt eines »fiat«, einer Entscheidung oder eines ähnlichen Bewusstseinsphänomens? James untersucht eine besonders elementare Art des Handelns, die er »ideo-motor action« nennt, bei der die Vorstellung der sinnlichen Wirkungen (sensible effects) der körperlichen Bewegung die Bewegung unmittelbar auslöst. Dies soll als Typus für den Prozess des Wollens gelten. Die mentale Einstellung des Wollens und die ideomotorischen Handlungen sind unmittelbar miteinander verbunden, gehören zusammen, machen den Willen aus. Ideomotorische Handlungen sind eigene Bewegungen, die willkürlich und zum Teil auch unwillkürlich ausgeführt werden können. Ein weiterer mentaler Akt bei willentlichen Bewegungen ist dann nötig, wenn wir es mit Situationen zu tun haben, bei denen verschiedene Vorstellungen miteinander konkurrieren. Dies setzt einen Prozess der Überlegung (deliberation) in Gang, James bezieht sich auf Dr. Bastian, vgl. ebd., S. 488. Afferente Nervenbahnen sind solche, die von der Peripherie zum Zentralnervensystem laufen und efferente solche, die umgekehrt vom Zentralnervensystem zur Peripherie führen.
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der durch eine Entscheidung bzw. die Äußerung eines willentlichen fiat beendet wird. Je nachdem, um welche Art der Überlegung es sich handelt, fungieren Vorstellungen als Gründe oder Motive der Entscheidung. Das charakteristische Phänomen des Wollens ist die Vorherrschaft einer der miteinander konkurrierenden Vorstellungen, die durch eine Anstrengung der Aufmerksamkeit (effort of attention) errungen und erhalten wird. Die Ausführung des Gewollten durch körperliche Bewegungen ist nach James, das mag zunächst überraschen, ein physiologisches Phänomen, das physiologischen Gesetzen folgt. Ein Patient mit Aphasie z. B. will sprechen, öffnet den Mund und hört sich selbst aber nur nichtintendierte Laute machen. Dies mag ihn mit Wut oder Verzweiflung erfüllen, Gefühle, die den Willen des Patienten zeigen. Zentral für den willentlichen Prozess ist die Art der angestrengten Aufmerksamkeit, die gegen Widerstände erhalten werden kann. Dies ist für James ein Phänomen des Geistes und nur des Geistes, dem die physiologische Bewegung äußerlich gegenübersteht. Die altbekannte Trennung der Bereiche des Geistigen und des Körperlichen hält Einzug in die James’sche Analyse und kulminiert in der Bemerkung, dass die mysteriöse Verbindung zwischen Denken und den motorischen Zentren ins Spiel komme. 24 Wohin sind wir mit James geraten? Sollte nicht der Fall, in dem die Antizipation der sinnlichen Vorstellungen die willentliche Handlung unmittelbar zur Folge, hat als Typus für willentliche Handlungen dienen? Was an der Analyse der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille hat dazu geführt, dass die Kluft zwischen Geistigem und Materiellem in aller Schärfe neu aufgerissen ist? Bevor wir uns im nächsten Schritt mit Problemdiagnose und Problemlösung beschäftigen, will ich zurück auf die paradigmatischen Situationen blicken. Wie stellen sich diese im Lichte der James’schen Entfaltung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille dar? In dieser Perspektive kann man die erste angeführte Proust-Stelle so lesen, dass hier das für den Wunsch charakteristische Gefühl inszeniert wird, dass das Verlangte nicht erreicht werden kann. Der alte Entschluss zu schreiben, der Tag für Tag reaktualisiert wird, wird immer weiter in die Zukunft verschoben. Dies ist als eine Variante zu deuten, Ebd., S. 564: »For the mysterious tie between the thought and the motor centres next comes into play, and, in a way which we cannot even guess at, the obedience of the bodily organs follow as a matter of course.«
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wie sich das Gefühl der Unerreichbarkeit des Verlangten zeigen kann. Die zweite angeführte Stelle, die »Willens-Stelle«, gibt eine mögliche Darstellung für einen Willen, dessen Realisierung nach einigen vorbereitenden Maßnahmen erfolgt, hier, über einige auftauchende Schwierigkeiten hinwegzugehen. Darin manifestiert sich der Glaube daran, dass das Verlangte in der Macht des Wollenden steht.
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Wünschen und Wollen als »völlig« verschiedene Handlungsweisen (Ludwig Wittgenstein)
Ich will nun Wittgensteins Reflexionen über die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille als Diagnose des Problems bei der Herangehensweise von William James und als Vorschlag für eine Neufassung der Unterscheidung lesen. Wittgenstein beschäftigte sich wahrscheinlich im Jahre 1930 mit James’ Principles of Psychology 25 , und es ist an vielen Stellen deutlich, dass Wittgenstein sich kritisch mit James’ Theorie des Willens auseinandergesetzt hat. 26 Die andere wichtige Quelle für Wittgensteins Überlegungen zur Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille und zum Begriff des Willens ist die Philosophie Schopenhauers, mit der er seit den frühen Tagebuchnotizen von 1916 zum Thema bis in die späten Auseinandersetzungen mit der Philosophie der Psychologie befasst ist. Wenn Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung für Wittgensteins Arbeit sicherlich einen wichtigen Bezugspunkt darstellt, übernimmt Wittgenstein damit selbstverständlich nicht den Gesamtrahmen der Schopenhauer’schen Philosophie und Vgl. zu der kritischen Auseinandersetzung Wittgensteins mit James’ Principles of Psychology: Peter Hacker, Wittgenstein. Mind and Will, Oxford 1996 und Russell B. Goodman, Wittgenstein und William James, Cambridge, Mass. 2002 sowie John Hyman, »Action and the Will«, in: Oskari Kuusela/Marie McGinn (Hrsg.), The Oxford Handbook of Wittgenstein, Oxford 2011, S. 451–471. 26 Vgl. z. B. explizit in Bezug auf die oben diskutierte Passage aus den Principles: »Diese Abwesenheit des Willensaktes – wie ich einmal sagen will – ist William James aufgefallen und er beschreibt zum Beispiel den Akt des Aufstehens am Morgen so: er liege im Bett und überlege, ob es schon Zeit sei aufzustehen, – und auf einmal finde er, daß er aufsteht. […] Was heißt es denn aber, wenn ich sage: ›Wenn ich aufstehe, geschieht nur das.‹ Im Gegensatz wozu? Was ist es denn, was nicht geschieht? […] Es ist das Gefühl der Muskelanstrengung, dessen Abwesenheit wir ›Abwesenheit des Willensaktes‹ nannten.« (Ludwig Wittgenstein, Eine Philosophische Betrachtung [Das Braune Buch], Werkausgabe, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1984, S. 234). 25
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dessen Metaphysik des Willens, sondern arbeitet sich auf seine Art mit Hilfe von Skizzen philosophischer Experimente ab an der Schopenhauer’schen Behauptung der Identität von Wollen und Tun 27 und der Gegenüberstellung einer Welt des Willens als Aktivität (als Tun) und einer Welt der Vorstellung, in der das Prinzip der Kausalität herrscht (als Geschehen). James und Schopenhauer verbinden den Begriff des Willens und damit auch die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille systematisch mit der Unterscheidung zwischen Geist und Körper bzw. Leib, im Falle von James zunächst mit Hilfe des Modells der (empirischen) Korrelation zwischen kinästhetischen Empfindungen und physikalischen Bewegungen und im Falle von Schopenhauer mit Hilfe des Modells einer Identität von »Willensakt und Aktion des Leibes«. Wittgenstein arbeitet mit beiden Modellen kritisch weiter, um das Modell der Korrelation von James an seine Grenze zu führen und die Rolle, die die kinästhetischen Empfindungen darin spielen, zu problematisieren und um das Modell von Schopenhauer zu differenzieren und in seinen möglichen Potenzialen auszuloten. 28 Wünschen und Wollen haben auf der Oberfläche ganz ähnliche Strukturen. Die beiden Sätze: »Ich will, dass der Sessel von hier nach dort bewegt wird« und »Ich wünsche, dass der Sessel von hier nach dort bewegt wird« scheinen psychische Zustände zu beschreiben, die sich auf Vorgestelltes außerhalb ihrer richten. Dies Vorgestellte ist in beiden Fällen kein Gegenstand, sondern ein Sachverhalt, eine, wie heute oft gesagt wird, Proposition. Sätze wie die folgenden wären dann elliptisch: »Ich will das Eis!« oder »Ich wünsche mir ein Eis«. Der Ausdruck, Bei Schopenhauer lesen wir zum Beispiel die folgenden beiden Behauptungen: »Der Willensakt und die Aktion des Leibes sind nicht zwei objektiv erkannte verschiedene Zustände, die das Band der Kausalität verknüpft, stehn nicht im Verhältnis der Ursache und Wirkung; sondern sie sind Eines und das Selbe, nur auf zwei gänzlich verschiedene Weisen gegeben: ein Mal ganz unmittelbar und ein Mal in der Anschauung für den Verstand. Die Aktion des Leibes ist nichts Anderes, als der objektivirte, d. h. in die Anschauung getretene Akt des Willens.« Und: »In der Reflexion allein ist Wollen und Thun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie Eins.« (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Werke, Bd. 1, Zürich 1977, S. 143–144) Vgl. zur Rolle des Leibes in der Schopenhauer’schen Theorie des Willens auch Theda Rehbocks Beitrag in diesem Band. 28 Vgl. zu Wittgensteins Rezeption von Schopenhauer: Hans-Johann Flock, »Schopenhauer und Wittgenstein. Language as Representation and Will«, in: Christopher Janaway (Hrsg.), The Cambridge Companion to Schopenhauer, Cambridge, New York 1999, S. 422–455. 27
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der sich auf einen Gegenstand zu beziehen scheint, müsste ersetzt werden durch eine Proposition, wie: »Ich will, dass Du mir das Eis gibst« oder »Ich wünsche mir, dass wir ein Eis essen gehen«. Was aber ist ein psychischer (oder seelischer oder geistiger, kurz: ein innerer) Zustand? Wie können wir auf ihn (sprachlich) Bezug nehmen? Wittgenstein problematisiert in seinen Überlegungen zur Philosophie der Psychologie die Stipulation von solchen inneren Zuständen, die ein von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen unabhängiges Bestehen haben sollen. Hier ist, wie Hans-Julius Schneider überzeugend klar macht, die angemessene Form, innere Zustände auf der einen Seite und sprachliche und nicht-sprachliche Handlungen auf der anderen Seite zu unterscheiden, ein systematisches Einerseits-Andererseits. Einerseits wird gezeigt, dass unsere Redeweisen über Wünschen, Erwarten, Erinnern, Meinen ihren Sinn erhalten durch einen größeren Kontext von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen von mehreren Personen. Andererseits ist dadurch die Rede von inneren Zuständen aber nicht sinnlos und im Stile eines behavioristischen Programms zu eliminieren. 29 Es ist nun theoretisch unterbestimmt und sogar hochgradig irreführend, wenn die Ausdrücke »wünschen« und »wollen« einfachhin und ohne einschränkendes und balancierendes Einerseits-Andererseits als Bezugnahmen auf innere Zustände verstanden werden. Die skizzierte Oberflächenanalyse ist deswegen für beide Sätze zurückzuweisen. Die Ausdrücke »wünschen« und »wollen« nehmen beide nicht auf psychische Zustände Bezug, die unabhängig von sprachlichen und nicht-sprachlichen Handlungen sind. Die Art der Abhängigkeit von eben diesen Handlungen ist aber nun in beiden Fällen sehr verschieden. Wittgenstein reflektiert die sich daraus ergebenden differenten »Tiefenstrukturen« der beiden Sätze in verschiedenen Bemerkungen aus verschiedenen Werkphasen. Die Arbeit mit der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille greift Wittgenstein in der Zeit von 1916 und 1947 immer wieder auf 30 , und er nimmt dabei in zeitlich späteren Passagen explizit Bezug auf frühere, um verschiedene Punkte zu proVgl. Hans-Julius Schneider, »›Den Zustand meiner Seele beschreiben‹. Bericht oder Diskurs?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44/1996, S. 117–133. 30 Vgl. dazu die Zusammenstellung von Hyman, Action and the Will, S. 451, der allerdings die unten angeführten Passagen aus dem Gelben Buch nicht mit in seine Auflistung aufnimmt. 29
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blematisieren und zu differenzieren. Dabei wird in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille meines Erachtens an keiner Stelle ein Bruch vollzogen, ein völlig neuer Ansatz entwickelt, durch den frühere Einsichten zurückgewiesen würden.31 Vielmehr ist auffällig, dass das argumentative Potential für die Auseinandersetzung mit William James’ Willensbegriff, die ab 1930 einsetzt, in den frühen Tagebucheinträgen entwickelt wird, welche durch die Beschäftigung mit Schopenhauers Identitätsthese dominiert sind. Eine detaillierte Analyse der Kontinuitäten und Veränderungen in Wittgensteins jeweiligen Bemerkungsgruppen zur Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille kann und soll im Folgenden nicht gegeben werden. Vielmehr will ich zwei zentrale Passagen aus der frühen und mittleren Werkphase zum Ausgangspunkt nehmen, um solche charakteristischen Züge hervorzuheben, die durch spätere Überlegungen aus den Philosophischen Untersuchungen und den Bemerkungen über die Philosophie der Psychologie noch vertieft und differenziert werden können. Die erste Passage ist ein Tagebucheintrag vom 4. 11. 1916: Wünschen ist nicht tun. Aber, Wollen ist tun. (Mein Wunsch bezieht sich z. B. auf die Bewegung des Sessels, mein Wille auf mein Muskelgefühl.) Daß ich einen Vorgang will, besteht darin, dass ich den Vorgang mache, nicht darin, daß ich etwas Anderes tue, was den Vorgang verursacht. […] Der Wunsch geht dem Ereignis voran, der Wille begleitet es. 32
Und ganz ähnlich z. B. in einer Stelle aus dem Gelben Buch: Was ist, wenn man eine Handlung will, der Gegenstand des Wollens: der Gegenstand, den man ins Auge faßt, oder die Zusammenziehung eines Muskels? Wir müssen hier darauf achten, daß Wollen und Wünschen völlig verschieden
Die verschiedenen Arbeiten, die in der letzten Zeit zu Wittgensteins später Analyse des Willens vorgelegt worden sind, zeichnen die Veränderungen zwischen den Ausführungen zum Willen im Tractatus logico-philosophicus bis zu den Philosophischen Untersuchungen §§ 611–628 nach. Dabei wird die auffällige Kontinuität der Bemerkungen zur Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille sowie deren philosophische Bedeutung aber nicht ausreichend reflektiert. Vgl. Hans-Johann Glock, »Wittgensteins letzter Wille«, in: Eike von Savigny (Hrsg.), Klassiker Auslegen: Wittgensteins Philosophische Untersuchungen, Leipzig 1998, S. 215–237; Hyman, Action and the Will; Stewart Candlish, »The Will«, in: Hans-Johann Glock (Hrsg.) Wittgenstein. A Critical Reader, Oxford 1998, S. 156–173. 32 Ludwig Wittgenstein, »Tagebücher 1914–1916«, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 87–187, hier S. 183. 31
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sind. Wenn ich sage, ich habe es gewollt, meinen Arm zu heben, meine ich nicht, ich hätte es nur sehr heftig gewünscht, und dann sei der Arm in die Höhe gegangen. Das Wollen ist nicht etwas, was mir geschieht, sondern etwas, was ich tue. Das Wort ›wünschen‹ hat einen sehr viel umfassenderen Gebrauch als ›wollen‹. Das Wort ›wollen‹ wird im Zusammenhang mit Phänomenen verwendet, die mit unseren Körpern verbunden sind. Das Denken ist – im Gegensatz zum Wollen – etwas, was einem geschieht, nicht etwas, was man tut. 33
Ich schlage vor, diese beiden Passagen als Kommentar zu William James zu lesen. Im ersten Absatz des Kapitels über den Willen aus den Principles of Psychology schreibt James: If with desire there goes a sense that attainment is not possible, we simply wish; but if we believe that the end is in our power, we will that the desired feeling, having, or doing shall be real; and real it presently becomes, either immediately upon the willing or after certain preliminaries have been fulfilled. 34
Im vorherigen Abschnitt über William James’ Entwicklung der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille wurde deutlich, dass James die beiden Arten der unmittelbaren und der mittelbaren Realisierung des Willens sehr verschieden analysiert. Die unmittelbare Realisierung des Willens versucht James mit Rückgriff auf physiologische Einsichten seiner Zeit dort nachzuweisen, wo der Gegenstand des Willens körpereigene Bewegungen sind. Der Wille realisiert sich dort unmittelbar als ideomotorisches Tun. Bei der mittelbaren Realisierung des Willens, für die überlegende Abwägung von konfligierenden Vorstellungen charakteristisch ist, zeigt sich dagegen, dass das essentielle Phänomen des Willens ein rein geistiges ist, nämlich der »effort of attention«. Für Wittgenstein sind beide Analysen unzureichend. In der ersten Variante ist die Beziehung zwischen Wille und Handlung empirisch. Wittgenstein kritisiert vor allem im Braunen Buch aber auch an anderen Stellen James’ empirische Behauptungen, dass willentliche Bewegungen durch Erinnerungsbilder kinästhetischer Empfindungen verursacht werden und dass die kinästhetischen Empfindungen über die Lage der Körperteile und deren Bewegung »belehrten«. 35 In der zweiten Variante erweist sich die Verbindung zwischen Wille und Handlung als rätLudwig Wittgenstein, »Das Gelbe Buch. 1933/34«, in: ders., Vorlesungen 1930–1935, Frankfurt a. M. 1989, S. 199–241, hier S. 216. 34 James, Principles of Psychology, S. 486. 35 Hyman, Action and the Will, S. 455–456. 33
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selhaft. James spricht gewissermaßen in den traditionellen Bahnen des Leib-Seele Problems von der mysteriösen Verbindung zwischen Denken und den motorischen Zentren. 36 Um diese beiden Schwierigkeiten zu vermeiden, ist das Verhältnis zwischen Wille und Handlung ganz anders zu bestimmen, als James das tut, wenn er sagt, dass das Verhältnis in dem Glauben besteht, dass der gewollte Gegenstand in unserer Macht stehe. Wittgenstein betont, dass Wollen und Wünschen »völlig verschieden sind«. Worin liegt ihre Verschiedenheit? Ich will mit Bezug auf die angegebenen Stellen die Wittgenstein’sche Unterscheidungsweise von Wunsch und Wille in vier Hinsichten erläutern: (1) Wünschen ist nicht tun. Aber, Wollen ist tun: Aus den knappen Hinweisen zu Wittgensteins Auffassung über innere Zustände ist eine vielleicht naheliegende Deutung der Identifikation von Wollen und Tun einerseits und der Negation derselben im Falle von Wünschen und Tun andererseits ausgeschlossen. Ich meine die Deutung, dass Wünschen ein innerer Zustand sei, der sich nicht im sozial zugänglichen Tun zeige, und dass Wollen sich erschöpfe in wahrnehmbarem Verhalten. Aus der kontrastiv aufgebauten Passage wird aber deutlich, dass im Falle des Wünschens etwas Anderes getan wird, als der gewünschte Vorgang. Der Satz »Ich wünsche, dass der Sessel von hier nach dort bewegt wird« drückt aus, dass bestimmte Taten des Wünschens ausgeführt werden, die sich auf die Bewegung des Sessels richten. Im Falle des Wollens werden keine Taten des Wollens ausgeführt, die vom Tun des gewollten Vorgangs zu unterscheiden sind, sondern solche, die zum Tun des Vorgangs gehören. Eine Bemerkung aus den Philosophischen Untersuchungen variierend könnte man fragen: »Wie schaut das aus, wenn ich die Bewegung des Sessels von hier nach dort wünsche? – Ich blicke auf den gewünschten Standort, mache ein wohliges Geräusch bei der Vorstellung, dass man von dort in den Garten schauen kann und bleibe auf dem Sofa liegen.« – »Wie schaut das aus, wenn ich die Bewegung des Sessels von hier nach dort will? – Ich mache mich bereit, vom Sofa aufzustehen, gehe auf den Sessel zu und verschiebe ihn um einige Meter.« 37 Wünschen ist also kein Tun des Vgl. James, Principles of Psychology, S. 564. Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, § 444: »Nun könnte man aber fragen: Wie schaut das aus, wenn er kommt? – Es geht die Tür auf, jemand tritt herein, etc. – Wie schaut das aus, wenn ich erwarte, dass er kommt? – Ich gehe im Zimmer auf und ab, sehe zuweilen auf die Uhr,
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Gewünschten, sondern ist vielmehr ein Handlungskomplex der wünschenden Bezugnahme auf einen gewünschten Sachverhalt. Der Wunsch, der sich auf die Bewegung des Sessels richtet, müsste sicher in eine umfassendere Situation eingebettet werden, um nicht artifiziell zu wirken. Wenn wir aber an die Beschreibung denken, die Proust von den äußerst komplexen Handlungen des Wünschens gibt, morgen mit dem Schreiben zu beginnen, wird deutlicher, worin die hier thematisierte Differenz zwischen den Handlungen der »wünschenden Bezugnahme« und dem Tun des Vorgangs besteht. Das mit dem Wollen identifizierte Tun meint Selbst-Tun (was hier nicht bedeutet: autark tun oder erfolgreich tun). Und die Negation der Identifikation im Falle des Wünschens schließt eben dies Selbst-Tun aus, nicht aber, dass die Handlungen der wünschenden Bezugnahme anderen Anlass geben könnten, z. B. den Sessel zu verschieben. (2) Was ist der Gegenstand des Wollens: Die Oberflächenstruktur des Satzes »Ich will, dass der Sessel von hier nach dort bewegt wird« suggeriert, dass der Gegenstand des Wollens die Bewegung von hier nach dort ist. Dieser Suggestion begegnet Wittgenstein mit einer zunächst irritierenden Frage: »Was ist, wenn man eine Handlung will, der Gegenstand des Wollens: der Gegenstand, den man ins Auge fasst, oder die Zusammenziehung eines Muskels?« Diese Frage scheint die primäre Suggestion dahingehend korrigieren zu wollen, dass der Gegenstand des Wollens entweder die Zusammenziehung eines Muskels ist oder dass es nicht nur der Gegenstand, den man ins Auge fasst ist, sondern auch die Zusammenziehung eines Muskels. Irritierend an der Frage ist nicht so sehr das Aufmachen einer Alternative, sondern die physiologische Konkretheit der zweiten genannten Möglichkeit: die Zusammenziehung eines Muskels. Bestimmt ist die Rede von Muskeln und vom Muskelgefühl an beiden Stellen dem jeweiligen Beispiel geschuldet. Im einen Fall geht es um die Bewegung des Sessels, im anderen um das Heben des Arms, für beides ist Muskeleinsatz erforderlich. Es stellt sich aber darüber hinaus doch die Frage, ob der Muskelbezug in anderen Beispielen durch etwas anderes ersetzt werden kann oder ob bei jedem Wollen, das Tun ist, auch das Muskelgefühl oder die Zusammenziehung der Muskeln der Gegenstand des Wollens sind. Wenn wir zunächst bei den aufgerufenen Bildern von der Bewegung des Sesetc. – Aber der eine Vorgang hat ja mit dem andern nicht die geringste Ähnlichkeit! Wie kann man dann die selben Worte zu ihrer Beschreibung gebrauchen?«
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sels und dem Heben des Arms bleiben, für das jeweils Muskeleinsatz nötig ist, können wir sagen, dass der Muskeleinsatz hier zu den nötigen Mitteln gehört, um den Arm zu heben oder den Sessel verschieben zu können. Der Gegenstand des Wollens, so können wir mit Bezug auf eines der klassischen Unterscheidungskriterien zwischen Wunsch und Wille sagen, ist immer auch der nötige Mitteleinsatz. Löst sich auf diese Weise das Irritationspotential der Frage nach dem Gegenstand des Wollens wieder auf und findet eigentlich nur eine Wiederaufnahme eines altbekannten Unterscheidungskriteriums statt? (3) Das Wort ›wollen‹ wird im Zusammenhang mit Phänomenen verwendet, die mit unseren Körpern verbunden sind: Dieser Rückbezug auf ein altbekanntes Unterscheidungskriterium ist sicher möglich, aber nicht erschöpfend. Muskelgefühl und Zusammenziehung des Muskels scheinen im Fortgang der zweiten Stelle verallgemeinert zu werden zu dem, was mit unseren Körpern verbunden ist. Wichtig ist hier, genau zu lesen: was mit unseren Körpern verbunden ist. Gegenstand des Wollens scheint also nicht notwendigerweise die Zusammenziehung des Muskels zu sein, aber etwas, was mit unseren Körpern zu tun hat. Wollen ist nicht zutreffend analysiert als heftiger Wunsch, der eine kausale Wirkung entfaltet, zum Beispiel die, dass der Arm in die Höhe geht. Das In-die-Höhe-Gehen des Arms ist ein Ereignis in der Welt, ein körperlicher Prozess. Und Wollen ist keine Verknüpfung von heftigem Wünschen und einem körperlichen Ereignis in der Welt. 38 Vollziehen wir das in der zitierten Passage angedeutete Experiment nach und wünschen heftig, dass unser Arm in die Höhe geht, dann finde ich in meinem Nachvollzug, dass der Arm entweder liegenbleibt oder es eines gesonderten Aktes bedarf, den Arm in die Höhe zu bewegen. Phänomene geistiger Anstrengung, wie das heftige Wünschen zum Beispiel, sind also in dem Sinne, den Wittgenstein hier meint, nicht mit unseren Körpern verbunden. Wenn wir dagegen wollen, dass Nach Andrej Ule ist die Pointe der Wittgenstein’schen Analyse die folgende: Der Wille wird als der Handlung selbst inhärent aufgefasst und nicht als eigenes, der Handlung vorangehendes und sie verursachendes geistiges Phänomen. Der Wunsch geht dagegen der Handlung zeitlich voran und ist von ihr logisch unabhängig. Die Verbindung zwischen Wunsch und Handlung ist möglich, aber nicht notwendig. Wünsche sind empirische Phänomene und damit Gegenstand der psychologischen Auseinandersetzung. Vgl. ders., »Wittgenstein über Wille und Wunsch in den Handlungen«, in: Janez Juhant/ Bojan Zˇalec (Hrsg.), Person and Good. Man and his Ethics in the Postmodern World, Münster 2006, S. 215–227.
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unser Arm in die Höhe geht, so wäre das Wittgenstein’sche Experiment zu ergänzen, dann geht – wieder in meinem Nachvollzug – mein Arm in die Höhe, weil und indem ich es will. Der Wille ist die Bewegung und ist der Bewegungsgrund. Wichtig ist, dass der Wille Bewegungsgrund meines Körpers, also meiner Bewegungen ist. Ich kann es nicht wollen, dass der entfernt stehende Tisch über den Boden auf mich zurutscht, weil ich nichts wollen kann, was nicht mit meinen Bewegungen verbunden ist. Das Beispiel mit dem auf mich zu rutschenden Tisch stammt von William James, der es in den Principles als Beispiel für einen Willensakt anführt. 39 Dies zeigt noch einmal mehr, dass James die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille unscharf entwickelt und in der Konsequenz eigentlich gar nicht getroffen hat. Geht diese Abgrenzung verloren, kann nach Wittgenstein aber auch kein tragfähiger Begriff des Willens entwickelt werden. Wollen hat mit unseren Körpern zu tun. Was Wittgenstein hier andeutet, kann klarer und schärfer als leibliche Praxis bestimmt werden. 40 Der in der Tradition nur postulierte oder definitorisch gesetzte Handlungsbezug oder die Handlungswirksamkeit des Willens muss leibphilosophisch fundiert werden. 41 Wittgensteins Überlegungen weisen deutlich in diese Richtung. Ihm genügt es in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille allerdings, die Notwendigkeit der Verknüpfung dieser Unterscheidung mit der zwischen unserem Körper und dem physiologisch objektivierten Körper aufzuzeigen. Dabei ist es auffällig, dass Wittgenstein an den zitierten und an einigen anderen Stellen über den Willen die Rolle der Muskeln so stark betont. Im Hintergrund steht sicher die zeitgenössische Debatte um die Kinästhetik in der Physiologie, von der Wittgenstein unter anderem durch William James’ Principles Kenntnis haben konnte. Was aber bedeutet dieser Rekurs auf ein Teilgebiet der Physiologie? Wie ist er zu verstehen, wenn nicht die für Wittgenstein zentrale Unterscheidung zwiVgl. James, Principles of Psychology, S. 561. Ich schließe damit an die leibphilosophische Lesart von Wittgensteins Philosophie der Psychologie an, wie sie zum Beispiel Hans-Julius Schneider vorschlägt. Vgl. ders., »Die Leibbezogenheit des Sprechens«, in: Synthesis Philosophica 10/1995, S. 81–95. 41 Im sogenannten »Enaction«-Ansatz wird die Auffassung vertreten, dass die explanatorische Lücke (explanatory gap) zwischen Körper und Geist in Philosophie und Neurowissenschaften nur durch den Anschluss an den phänomenologischen Leibbegriff geschlossen werden könnte. Vgl. Evan Thompson, Mind in Life. Biology, Phenomenology and the Sciences of Mind, Cambridge, London 2007. 39 40
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Wunsch und Wille Arbeit an einer Unterscheidung
schen Handlungen und Ereignissen, die auch mit Hilfe der Willensanalyse gerade gewonnen werden kann, wieder zusammenfallen soll? Wittgenstein müsste gewissermaßen eine Philosophie der Kinästhetik vorlegen und dieser in der Willensanalyse einen systematischen Ort geben. Sonst scheint in der philosophischen Willensanalyse das letzte Wort an die Physiologie zu gehen; das würde die Grundfesten der Philosophie Wittgensteins doch erheblich erschüttern und kann nicht gemeint sein. Wittgenstein wirft mit seinen Überlegungen die Frage auf, welche philosophische Funktion die Kinästhetik für das Wollen als Tun hat. Er beantwortet sie aber nicht. Wir Leserinnen und Leser sind durch diese offene Frage auf uns selbst zurückgeworfen oder werden auf andere verwiesen, die sich explizit mit dieser Frage beschäftigt haben, wie Edmund Husserl oder Maurice Merleau-Ponty. Eine genauere Ausführung dieses möglichen Frage-Antwort-Verhältnisses muss noch geleistet werden. (4) Wollen und Wünschen sind völlig verschieden: Mit der Betonung der völligen Verschiedenheit von Wünschen und Wollen bezieht Wittgenstein Position gegen Vorschläge, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille fallen zu lassen und Grade von Wunschintensitäten an ihre Stelle zu setzen. Damit würden die Handlungen der wünschenden Bezugnahme und das Ereignis in der Welt in völlig unverständlicher Weise miteinander verknüpft (Ich hätte es nur sehr heftig gewünscht, und dann sei der Arm in die Höhe gegangen). Dieses prinzipielle Problem stellt sich auch, wenn man wie Harry Frankfurt handlungseffektive Wünsche als Wollen bezeichnet und Wollen damit als eine Spezialisierung des allgemeinen Begriffs Wunsch konzeptualisiert. 42 Die völlige Verschiedenheit kann auch nicht allein durch die beiden tradierten Unterscheidungskriterien geleistet werden, nämlich Realisierbarkeit des Gegenstandes und Mitteleinsatz. Denn beiden kann, wie gezeigt, auch in einem Theorieansatz wie dem von William James Rechnung getragen werden, in dem, so muss man von der Wittgenstein’schen Analyse her wohl sagen, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille kollabiert. Vielmehr ist Wollen Tun und Wünschen nicht Tun, und Tun meint den leiblichen Vollzug des gewollten Vorgangs.
Vgl. Harry Frankfurt, »Freedom of the Will and the Concept of the Person«, in: The Journal of Philosophy 68/1971, S. 5–20.
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Zum Schluss will ich die Aufmerksamkeit zurücklenken auf die paradigmatischen Situationen. Im Lichte der Wittgenstein’schen Fokussierung der Verhältnisbestimmung zwischen Wunsch und NichtTun und Willen und Tun ist die erste Wunsch-Passage als Inszenierung der charakteristischen Lücke zu lesen, die zwischen Wunsch und Tun besteht. Das heißt nicht, dass Wünsche nur innere Zustände sind, im Gegenteil. Proust beschreibt detailliert die vielen Mikrohandlungen der wünschenden Bezugnahme und zeigt uns, wie es »ausschaut«, wenn einer wünscht, morgen mit dem Schreiben zu beginnen. Wie anders schaut es dagegen aus, wenn einer schreiben will und den leiblichen Prozess des Schreibens gegen Widerstand und im Umgang mit der Materialität des Schreibens vollzieht. Auf der Spitze dieser Besonderheiten des Wünschens und Wollens kann sich die allgemeine Einsicht entgegen einer tief verwurzelten Überzeugung entfalten, dass Wollen kein Entschluss zum Handeln ist. Prousts Beschreibung negiert eben das, und wer darüber beim Lesen der Passage gestolpert ist, kann die Begründung bei Wittgenstein finden.
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Moralphilosophische Argumentation und moralische Verständigung Zu einer Kritik der Verwendung von Beispielen in philosophischer Begründung und Theoriebildung
Dieser Beitrag gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil (I) wird das Problem der Notwendigkeit einer Kritik des Beispiels erörtert; der zweite Teil (II) zeigt exemplarisch an einem konkreten Fall, wie eine solche Kritik aussehen könnte, d. h. auf welche Fragen sie antworten kann und welchen Anforderungen sie genügen muss; im dritten Teil (III) erfolgt ein zusammenfassender Ausblick.
I »Argumente sind der Dreh- und Angelpunkt des Philosophierens.« 1 Denn Argumente sind in der philosophischen Argumentation das wesentliche Mittel, um sich gegenüber anderen Philosophierenden verständlich machen und diese von bestimmten Schlussfolgerungen überzeugen zu können. Doch Argumente und die auf ihnen aufbauenden Argumentationen dienen zugleich auch der Selbstverständigung, da sie das eigene Denken überhaupt erst konturieren und strukturieren, und sind somit unentbehrlich für die begriffliche Arbeit. Wenn es um die Beantwortung der Frage geht, was moralische Verständigung bedeutet, dann sind es neben den verschiedensten alltäglichen Verständigungen über moralische Einstellungen und Bewertungen gerade die moralphilosophischen Argumentationen, die unser moralisches (Selbst-)Verständnis nicht nur thematisch machen, sondern zudem über die jeweiligen Argumente auch implizit und explizit zum Ausdruck bringen. Schließlich ergeben sich Argumente nicht einfach von selbst oder fal-
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len einem zu: Argumente müssen gesucht, ausgewählt und gegebenenfalls erfindungsreich ausgedacht werden. 2 In moralischen Begründungen und Argumentationen werden zuweilen Beispiele bzw. sich auf bereits gegebene Beispiele beziehende Gegenbeispiele gegeben. Wenn aus Beispielen Schlussfolgerungen gezogen werden, dann verwendet man Beispiele als Argumente. Dadurch kann Beispielen auf indirekte Weise eine argumentative Kraft zukommen, die sich wesentlich aus ihrer narrativen Struktur sowie der konkreten inhaltlichen Bezugnahme auf Weisen praktisch-rationalen Handelns ergibt. Weil sich einige Beispiele auf Inhalte dieser Art beziehen und zugleich den Anspruch auf eine implizite ›Logik‹ erheben, verbleiben sie in einer aufschlussreichen Spannung zwischen inhaltlicher Gebundenheit und formal-logischer Abstraktion: Beispiele sind demzufolge nicht nur als eine spezifische narrative Form mit bestimmten Merkmalen in den Blick zu nehmen, sondern erschließen sich überhaupt erst vollständig hinsichtlich des mit ihnen gegebenen Verweisungszusammenhangs in der Anwendung: Denn Beispiele werden als Beispiele verwendet, um damit auf etwas hinzuweisen, Erklärungen zu geben oder zu vervollständigen, Belege oder Beweise für etwas vorzubringen, einen abstrakten begrifflichen Zusammenhang zu veranschaulichen etc. Die Verwendung von Beispielen bezeichnet also eine Methode, und sofern das Geben von Beispielen im Kontext von Argumentationen verortet ist, gehört es zum methodischen Kern des Philosophierens. Wenn es zutrifft, dass zumindest einige Beispiele nicht nur als Beispiele, sondern auch als Argumente in Erscheinung treten, dann stellen sich zwei zentrale methodologische Fragen: (1) Betrachtet man Argumente in allgemein begrifflicher und formaler Hinsicht, so ist es in analytischer Perspektive gemäß den logisch bedingten Argumentationsregeln – wie etwa dem Prinzip der Widerspruchsfreiheit – zumeist unmittelbar evident, unter welchen Voraussetzungen ein Argument als plausibel und überzeugend gelten und sich entsprechend in eine schlüssige Argumentation einfügen kann. Da Beispiele der Form nach Im philosophischen Sprachgebrauch besteht ein Argument gewöhnlich aus der Verbindung von (voraussetzenden) Prämissen und (schlussfolgernden) Konklusionen. Es ist jedoch zudem nicht unüblich, mit dem Terminus Argument auch bestimmte Teilargumente umfassenderer Argumentationen sowie die Ergänzung bzw. Ersetzung von stützenden oder – in kritischer Absicht – widerlegenden Prämissen zu bezeichnen. Für den Zweck der vorliegenden Darstellung sollen zunächst beide Verwendungsweisen gelten.
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– sofern es sich um keine reinen Belegbeispiele im Sinne von ›x ist ein (besonderer) Fall, der unter den (allgemeinen) Begriff A fällt‹ handelt – wenigstens in minimaler Weise narrativ verfasst und zudem auf sinnliche Anschauungen bezogen sind, ist eine rein formale Reduktion des in Beispielen gegebenen Inhalts auf argumentationslogische Regeln zumindest problematisch. Denn wie soll sich eine eo ipso narrative Darstellung, die bestenfalls prägnant und damit in ihren Erschließungs-, Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten potentiell unerschöpflich ist, in einer Weise ›auf den Begriff bringen‹ lassen, die den formalen Bedingungen einer Argumentationslogik genügen kann? (2) Wenn es zutrifft, dass einige Beispiele als Argumente dienen können, dann muss aus einer mitunter umfassenden Menge möglicher Beispiele eine begründete Auswahl geeigneter Beispiele erfolgen, die dem vorgesehenen Zweck entsprechen – nämlich als Argument in einer Argumentation eine bestimmte Funktion zu erfüllen. Welche Kriterien sind für diese begründete Auswahl maßgeblich? Es ist offensichtlich, dass die als Argumente vorgebrachten Beispiele, ebenso wie andere Argumente auch, gerade nicht in bloß rhetorischer Absicht persuasiv, sondern in philosophischer Absicht überzeugend sein sollten. Doch Beispiele lassen sich nicht derart überzeugend auf nur einen Begriff bringen, weil sie zwar notwendig in der Relation stehen, Beispiel für etwas zu sein und damit einerseits wesentlich in dieser Verweisungsfunktion aufgehen. Aber andererseits enthalten Beispiele neben den Aspekten, unter denen und derentwegen sie ausgewählt wurden, immer noch weitere Aspekte, die mit der kontextuellen Einbettung eines ausgewählten Beispiels nicht einfach verschwinden, sondern auf die potentiell ebenfalls oder ebenso gut (wenn nicht sogar besser) Bezug genommen werden kann. Daraus lässt sich nun allerdings nicht schließen, dass die Auswahl von Beispielen hinsichtlich dieser argumentativ funktionalen Aspekte dem Verdacht der völligen Beliebigkeit auszusetzen und folglich jegliche mit Beispielen operierende Argumentation per se entwertet sei. Die Methode des Beispielgebens in philosophischen Argumentationen steht damit lediglich unter dem methodologischen Vorbehalt, in nachvollziehbarer Weise erläutern zu müssen, wie Beispiele als Argumente funktionieren und nach welchen Kriterien sie auszusuchen sind. Die wichtigste Frage mit Blick auf Beispiele als Argumente ist jedoch nicht nur methodologischer, sondern zugleich systematischer Natur und betrifft die Bedingungen und Möglichkeiten einer Kritik des Beispiels. A
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Was soll diese letzte Frage genau bedeuten? Bislang war von Beispielen recht allgemein und ohne nähere definitorische Bestimmung die Rede, d. h. von einem eher umgangs- und alltagssprachlichen Verständnis von Beispiel. Da die vielfältige Verwendung von Beispielen die Alltagspraxis intensiv durchdringt, ist es kaum erstaunlich, dass zur Systematik des Beispiels fundierte Untersuchungen vorliegen. 3 Und tatsächlich scheint es ein sinnvolles Verfahren zu sein, sich ›das Beispiel‹ als Gegenstand einer umfassenden Untersuchung zunächst im Rahmen einer schematisierenden Kategorisierung der unterschiedlichen Arten und Verwendungsweisen von Beispielen vorzulegen und den Versuch zu unternehmen, eine möglichst vollständige Typologie zu erstellen. Was dann allerdings vorliegt, kann man durchaus als ›Paradox der Beispielforschung‹ bezeichnen: Weil es die Logik des Beispiels impliziert, dass über das Herausgreifen eines einzelnen, partikulären Falls aus einer umfassenden und nicht in ihrer Gesamtheit aufrufbaren Menge von Sachverhalten überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet wird, einen übersichtlichen Verweisungszusammenhang aufzuzeigen, und weil auch die Beispielforschung in ihrem methodischen Selbstverständnis nicht umhin kommt, das Verfahren einer beispielhaften (exemplarischen) Auswahl zur Anwendung zu bringen, kann eine schematisierende Systematik, Kategorisierung oder Epistemologie des Beispiels nicht über den Stand hinauskommen, über Beispiele nur vermittels von Beispielen reden zu können. Wenn jedoch für die Erklärung des Beispielgebens und -gebrauchs wiederum das Geben und der Gebrauch von Beispielen vonnöten ist und diese Verwendung von Beispielen für Beispiele nicht mehr auf einer anderen, nämlich einer Meta-Ebene zu reflektieren ist, dann dreht sich die gesamte Untersuchung von Beispielen insofern im Kreis, als diese methodisch von Voraussetzungen ausgeht (und konsequenterweise auch ausgehen muss), deren sie sich methodologisch erst einmal zu vergewissern hätte. Es soll damit nicht gesagt sein, dass die typologisierende Beschreibung und Analyse der Verwendung und des Gebrauchs von Beispielen für sich genommen unsinnig ist. Jede ausführliche Theorie oder auch Kritik des Beispiels muss sich ab einem bestimmten Punkt der Untersuchung die Aufgabe vornehmen, anhand kategorialer Zuordnungen genauer auszuweisen, welche Formen und Verwendungsweisen des 3 Vgl. dazu u. a. die Beiträge in Jens Ruchatz/Stefan Willer/Nicolas Pethes (Hrsg.), Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007.
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hier zunächst bloß vage bestimmten Oberbegriffs Beispiel es gibt. Die Frage ist allerdings, in welcher Reihenfolge vorzugehen ist: Beginnt die Untersuchung mit einer umfassenden und allgemeinen Typologie des Beispiels, so gerät man zwar in das besagte Paradox. Dies mag jedoch um so weniger gravierend sein, je mehr man sich diesen Zusammenhang bewusst macht und den damit erreichbaren Zweck vergegenwärtigt, nämlich eine Art ›Handbuch‹ von etablierten und für die jeweilige kategoriale Zuordnung typischen Beispielen zu erstellen. Mit dieser Vorgehensweise ist jedoch m. E. der eigentlich interessanten philosophischen Fragestellung bezüglich des Beispiels nur bedingt beizukommen. Wenn nämlich Philosophie als eine Tätigkeit zu verstehen ist, die bei der Beschäftigung mit ihren Untersuchungsgegenständen imstande ist, sich gewissermaßen ›selbst über die Schulter zu schauen‹ und damit über ihre eigene Methodik methodologisch aufgeklärt zu reflektieren, so können gerade Beispiele in der Philosophie, die sowohl konstitutiv für Argumentationen und philosophische Theoriebildung als auch offen für die philosophisch-methodologische Selbstreflexion sind, das Potential für eine vorgängige Kritik des Beispiels aufzeigen. Doch ist eine solche, vor aller Typologisierung vorzunehmende Kritik überhaupt erforderlich? Ich denke ja, und zwar aus folgendem Grund: Nicht wenige systematische Überlegungen und Konzeptionen nehmen ihren Ausgang von realen oder idealisierten Beispielen und werden von Belegbeispielen gestützt. Infolgedessen sind diese Beispiele dann als Argumente wesentlicher Gegenstand philosophischer Auseinandersetzungen, wobei die Gefahr besteht, dass die anschauliche narrative Form und die potentielle Unerschöpflichkeit des Beispiels – oftmals unbewusst – dazu verleitet, den eigentlich zugrundeliegenden systematischen Gehalt aus dem Blick zu verlieren und Kontroversen nur noch auf der Ebene von Beispielen zu führen. 4 Eine erschließende Kritik des Beispiels kann diesen Zusammenhang in distanzierender Bezugnahme verdeutlichen und auf die doppelte Perspektivierung aufmerksam machen, durch die Beispiele in der Philosophie relevant sind: Einerseits dienen sie als bloßes Mittel zum Zweck und verweisen dann stets auf anderes und nicht auf sich selbst. Andererseits erhalten Beispiele als Argumente zuweilen einen Status, der sie in Aufschlussreiche Bemerkungen dazu enthält Michael Tanners kurzer Problemaufriss »Examples in Moral Philosophy«, in: Proceedings of the Aristotelian Society 65/1964– 65, S. 61–76.
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ihrer argumentativen Rolle und Funktion mehr oder weniger unentbehrlich macht. Dadurch werden Beispiele zu einem konstitutiven Element von Argumentationen und in der Theoriebildung. Um diesen argumentationsinternen Zusammenhang aufzudecken, spricht in methodologischer Hinsicht einiges für ein gegenläufiges Verfahren, welches mit einer philosophischen Kritik des Beispiels beginnt: Da die vorgängige Methode der schematisierenden Kategorisierung von Beispieltypologien in besagtes Paradox führt und bloß bedingte Ergebnisse hervorbringt, erfolgt der Weg der Kritik in umgekehrter Richtung und steigt in medias res ein, um einen konkreten Fall der Verwendung von Beispielen als Argumenten in einer Argumentation zu untersuchen. Indem dieser eine Fall nicht einfach nur als das genommen wird, was er selbstverständlich in der Tat ist und bleibt – nämlich eine Argumentation, auf die man sich argumentativ beziehen kann –, sondern zudem die verwendeten Beispiele hinsichtlich ihrer argumentationslogischen Funktion in kritischer Perspektive rekonstruiert werden, ergibt sich jene zweifache Blickrichtung, die es ermöglicht, zugleich nachvollziehbar in der Argumentation mitdenken und in kritisch-distanzierender Bezugnahme deren implizite Voraussetzungen in den Blick nehmen zu können. Gerade weil die Beschäftigung mit diesem einen exemplarischen Fall ausdrücklich von einer kritischen Rekonstruktion ausgeht, in der Methode und Methodenreflexion bzw. Methodologie in einer permanenten Spannung verbleiben, scheint mir hier keineswegs eine »methodisch fragwürdige Mimesis« an den Gegenstand der Untersuchung vorzuliegen. 5 Denn die in der kritischen Rekonstruktion erhellten Momente argumentativen Beispielgebrauchs bilden dann in einem nachgelagerten Schritt die Grundlage für eine mögliche Kategorisierung philosophischer Beispiele, die dann den unmittelbaren Vorteil hat, sich über die enge Anbindung an den funktionalen Gebrauch in nachvollziehbaren Argumentationen rechtfertigen zu können. Gemäß dieser ersten Anforderung wird es im folgenden zweiten Teil darum gehen, anhand von Judith Jarvis Thomsons »Eine Verteidigung der Abtreibung« 6 eine solche rekonstruktive Kritik konkret vorzuführen. Stefan Willer, »Was ist ein Beispiel? Versuch über das Exemplarische«, in: Gisela Fehrmann/Erika Linz/Eckhard Schumacher/Brigitte Weingart (Hrsg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004, S. 51–65, hier S. 52. 6 Judith Jarvis Thomson, »Eine Verteidigung der Abtreibung«, in: Anton Leist (Hrsg.), 5
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II Das Problem, mit dem sich Thomson auseinandersetzt, betrifft die Debatte um die Abtreibung. Ein wesentlicher Punkt dreht sich dabei um die Frage, ob dem beginnenden menschlichen Leben bereits in einem frühen vorgeburtlichen Stadium der Entwicklung der Status einer Person zukommt. Sollte dies zutreffen, würde aus der besonderen Schutzwürdigkeit von Personen unmittelbar folgen, dass Abtreibungen grundsätzlich abzulehnen sind. Eine besondere Schwierigkeit ergibt sich jedoch, wenn eine begründete Entscheidung getroffen werden soll, ab welchem Stadium der Entwicklung ein menschliches Wesen als Person aufzufassen ist. Um diese Schwierigkeit zu umgehen und zum eigentlichen argumentativen Projekt vordringen zu können, entschärft Thomson diesen zentralen Streitpunkt der Abtreibungsdebatte insofern, als sie jeglichem vorgeburtlichen Lebewesen den Status einer Person zugesteht, und konzentriert sich im Folgenden darauf, welche plausiblen Argumente auch vor diesem Hintergrund noch für eine liberale Verteidigung der Abtreibung verbleiben. Die Argumentation nimmt zunächst gemäß der zugestandenen Prämisse das Lebensrecht des Fötus 7 als Person in den Blick, bevor es anschließend um die Frage nach der Gerechtigkeit gegenüber Personen geht. Thomson bittet den Leser, sich folgende Situation vorzustellen: Sie wachen morgens auf und finden sich in einem Bett liegend, Kopf an Kopf mit einem bewußtlosen Geiger. Einem berühmten bewußtlosen Geiger. An ihm wurde eine bedrohliche Nierenkrankheit diagnostiziert, und die Gesellschaft der Freunde der Musik hat alle verfügbaren Patientenunterlagen durchsucht und herausgefunden, daß allein Sie die richtige Blutgruppe haben, um helfen zu können. Sie hat Sie deshalb gekidnappt, und letzte Nacht wurde der Blutkreislauf des Geigers an den Ihren angeschlossen, so daß Ihre
Um Leben und Tod. Moralische Probleme bei Abtreibung, künstlicher Befruchtung, Euthanasie und Selbstmord, Frankfurt a. M. 1990, S. 107–131. 7 Ich werde, in Anlehnung an Thomsons eigenen Sprachgebrauch, im Folgenden ohne nähere Erläuterung generell von »Fötus« sprechen, wenn es um das vorgeburtliche menschliche Leben geht. Thomson nimmt selbst keine ausdrückliche terminologische Unterscheidung anhand der Entwicklungsschritte werdenden menschlichen Lebens vor – allerdings ist diese ohne weiteres zu vernachlässigen, da sie sich dafür entschieden hat, die genannte Prämisse bezüglich des Personenstatus für alle Entwicklungsstadien einzuräumen. A
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Nieren dazu benutzt werden können, Gift ebenso aus seinem wie aus Ihrem Blut herauszuziehen. 8
Dieser Zustand, so die weitere Schilderung, wird neun Monate anhalten, bis der Geiger genesen ist; sich bis dahin vom Geiger abzukoppeln, würde dessen sofortigen Tod bedeuten. Für Thomsons weitere Argumentation ist diese Situationsbeschreibung zentral, denn mit Hilfe des Geiger-Beispiels versucht sie, die Frage nach dem Lebensrecht der Person und der Gerechtigkeit gegenüber Personen grundlegend zu klären. Der Form nach ist dieses Beispiel kein konkret benennbarer Fall aus der Erfahrung, sondern ein Gedankenexperiment. 9 Denn die beschriebene Situation ist insofern fiktiv, als die bloße Verbindung zwischen den Blutkreisläufen von zwei Menschen es faktisch nicht ermöglichen würde, die defizitäre Nierenfunktion des einen Organismus durch die intakte Nierenfunktion des anderen Organismus zu kompensieren. Was also enthält diese Situationsbeschreibung, obwohl sie keinem realen Fall menschlichen Alltagserlebens entspricht? Da sich die gesamte Argumentation auf die Frage nach einer Begründung für oder gegen die Abtreibung bezieht, sollen mit dieser Vorstellung bestimmte Analogiebeziehungen etabliert werden: Einzelne Elemente der Situationsbeschreibung stehen hier stellvertretend für andere, ähnliche Elemente in realen Fallsituationen. Es obliegt dabei demjenigen, der sich die Vorstellung machen soll, in welcher Weise er die verschiedenen, als analog konzipierten Situationselemente tatsächlich in einen kohärenten Zusammenhang bringt. Im vorliegenden Geiger-Beispiel soll die Verkopplung zweier Blutkreisläufe das Verhältnis zwischen einer Schwangeren und dem noch ungeborenen Leben in ihrem Bauch repräsentieren. Es besteht eine einseitige Abhängigkeitsbeziehung, weil sowohl der Geiger als auch das ungeborene Leben nicht von der anderen Person abgekoppelt werden können, ohne unmittelbar zu Tode zu kommen. Zudem dauert der Zustand der
Ebd., S. 108 f. In Beispieltypologien wird – mit z. T. unterschiedlichem Ergebnis – gewöhnlich zwischen Beispiel, Paradigma, Gleichnis, Modell, Gedankenexperiment, Metapher und weiteren Formen der Vergleichung und des Verweises unterschieden. Vgl. u. a. Luiz Antônio Marcuschi, Die Methode des Beispiels. Untersuchungen über die methodische Funktion des Beispiels in der Philosophie, insbesondere bei Ludwig Wittgenstein, Erlangen 1976, S. 49–108.
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Verkopplung in beiden Fällen neun Monate, auf diesen zeitlichen Aspekt werde ich später noch zurückkommen. Was bezweckt Thomson mit dieser Situationsbeschreibung, die eine derartige Übertragungsleistung erfordert? Indem der Geiger als eine geborene Person mit einer eigenen Biographie in eine vergleichbare Lage versetzt wird wie der ungeborene Fötus und ebenso wie dieser als Person ein unverbrüchliches Lebensrecht für sich beansprucht, erfährt die Festlegung, wonach prinzipiell alles ungeborene menschliche Leben den Status von Personen hat, eine bemerkenswerte Revision: Die implizite Gegenüberstellung von Geiger und Fötus soll verdeutlichen, wie wenig plausibel das (begriffliche) Argument ist, wonach Föten nicht abgetrieben werden dürfen, weil sie Personen sind. Dies geschieht, indem die offensichtliche Nicht-Plausibilität im Fall des Geigers hinsichtlich des Personenkriteriums auf den Fall des Fötus übertragen wird, womit eine fingierte Situationsbeschreibung diejenige argumentative Überzeugungsarbeit leistet, der die reale Situation einer Schwangeren entbehrt: Ist das Lebensrecht einer Person tatsächlich so entscheidend, wie von den Abtreibungsgegnern behauptet, so ist das Abkoppeln des Geigers ebenso wenig zulässig wie das ›Abkoppeln‹ eines Fötus – und umgekehrt. Wer also, so die Intention, die Vorstellung intuitiv befremdlich findet, gezwungenermaßen mit einer fremden Person verkoppelt sein zu müssen, der wird auch die abhängige Verbindung eines Fötus mit der Schwangeren nicht mehr als unantastbar begreifen wollen. Aber ist die beschriebene Situation mit dem angekoppelten Geiger überhaupt in dieser Weise vergleichbar mit dem Verhältnis einer Schwangeren zu einem Fötus in ihrem Bauch? Dies ist vor allem davon abhängig, welche Vergleichselemente man in beiden Situationen als analog miteinander verknüpft und für wie gewichtig man deren argumentative Bedeutung hält. Ein entscheidender Punkt im Narrativ des Geiger-Beispiels ist zweifellos die Zwangslage, in der sich die angekoppelte Person plötzlich wiederfindet: Sie wurde gekidnappt und gegen ihren Willen operiert, damit der Geiger angeschlossen werden konnte, der nun in völliger Abhängigkeit auf seinem Lebensrecht beharrt. Thomson sieht zwar die Schwierigkeiten mit diesem Vergleich, der ja in einem recht engen Fokus ausschließlich einer nicht einvernehmlichen Schwangerschaft und damit genuin dem Fall einer Vergewaltigung entspricht, kommentiert dieses Problem aber zunächst nur als weiteren Beleg gegen die nicht plausible Haltung der AbtreibungsgegA
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ner, die selbst in diesem Fall das Lebensrecht des Fötus verteidigen und die Erlaubnis zu einer Abtreibung vehement in Abrede stellen würden. 10 Allein für sich betrachtet, wäre das Geiger-Beispiel in dieser Hinsicht nicht mehr so plausibel, wie es auf den ersten Blick schien, denn obwohl Abtreibungsgegner gemäß dem Lebensrecht-qua-PersonArgument konsequenterweise auch für die durch Vergewaltigung hervorgerufenen Schwangerschaften das unbedingte und in dieser Form tatsächlich wenig plausible Verbot der Abtreibung aufrecht erhalten würden, bleiben doch die weitaus häufigeren Fälle von Schwangerschaften unberücksichtigt: Das Narrativ des Eingangsbeispiels kann schlechthin nicht den realen Fällen entsprechen, in denen eine Frau, um die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft wissend, freiwillig Geschlechtsverkehr hat und sich nun vor der Entscheidung sieht, ob das noch ungeborene Leben weiter existieren darf. Eine Möglichkeit hätte darin bestehen können, das Geiger-Beispiel um ein alternatives Narrativ zu ergänzen: In einer zweiten Version wäre nämlich auch eine Entscheidungssituation denkbar, bei der die anzukoppelnde Person vor dem Ankoppeln darüber in Kenntnis gesetzt wird, dass es da eine andere hilfsbedürftige Person mit einem schweren Nierenleiden gibt, deren Genesung ausschließlich durch diese Ankopplung gewährleistet ist. Das ist mit Sicherheit ein weit weniger dramatischer Fall als die bereits bestehende Kopplung mit dem Geiger, denn hier hat die Person immerhin die Chance, vorab die möglichen Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Eingriffs abzuschätzen und ihre Zustimmung oder Ablehnung von diesen Erwägungen abhängig zu machen. Mit Blick auf die analoge Situation einer Schwangerschaft würde dies bedeuten, dass eine Frau sich vorab bewusst machen kann, welche möglichen Folgen ein freiwilliger Geschlechtsverkehr mitunter hat, um daraufhin auch die Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Unter Berücksichtigung des immer noch zugestandenen prinzipiellen Lebensrechts für Föten lautete die argumentative Struktur wie folgt: Ist von einer Handlung bekannt, dass sie bestimmte Folgen zeitigen kann, besteht bei Vollzug dieser Handlung zumindest die Verbindlichkeit, auch deren Konsequenzen gerecht zu werden. Sobald man sich also entscheidet, den Geiger an den eigenen Blutkreislauf anschließen zu lassen, hat man gleichzeitig eingewilligt, diesen Zustand gemäß dem Lebensrecht der Person für neun Monate aufrecht10
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Vgl. Thomson, »Eine Verteidigung der Abtreibung«, S. 109 f.
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zuerhalten – und entsprechend gälte dies für den Fall der Schwangerschaft. Thomson hat sich jedoch nicht für diese oder eine andere alternative Beschreibung entschieden, sondern führt statt dessen weitere Beispiele ein. Bevor wir uns diesen zuwenden, sind noch abschließend zwei wesentliche Aspekte am Geiger-Beispiel zu erörtern, die mit Blick auf die intendierte Argumentation relevant sind: (1) Die ausschließliche Konzentration auf das Lebensrecht des angekoppelten Geigers verschleiert den Tatbestand der unfreiwilligen und durch sogenanntes Kidnapping erzwungenen Lebensrettung für den Geiger. Schaut man sich diesen Vorgang genauer an, so ist aus einer rechtsphilosophischen Perspektive heraus gerade diese Form der Freiheitsberaubung zentral, denn die Sicherung des Lebensrechts einer Person ist schlechterdings nicht über die erzwungene Einschränkung oder sogar Gefährdung des Lebensrechts einer anderen Person begründbar. Die argumentative Bewertung der Frage, ob der Geiger auch unter diesen Umständen ein Recht darauf hat, nicht abgekoppelt zu werden, ist also vor dem Hintergrund dieser Vorgeschichte keineswegs unerheblich, wird aber von Thomson vernachlässigt. (2) Auf der Ebene des Geiger-Beispiels machen sich zudem die rhetorischen Anspielungen verdächtig, in denen von der Berühmtheit des Geigers und indirekt von einem allgemeinen Interesse am Überleben dieses Künstlers die Rede ist. Denn ist es für den Zweck der Argumentation wirklich wichtig, inwiefern diese Merkmale der angekoppelten Person benannt werden? Einerseits nein, da es letztlich egal sein soll, um welche konkrete Persönlichkeit es sich handelt, so lange jedem angekoppelten Menschen als Person ein unverfügbares Lebensrecht eingeräumt wird, welches ein Abkoppeln verbietet. Andererseits spielt Thomson auch mit vertrauten Einflussfaktoren auf unsere Entscheidungen: Es kann sehr wohl einen Unterschied machen, ob die angekoppelte Person ein beliebiger Fremder ist oder ein weltberühmter Musiker, das heißt, gemeinhin beziehen wir selbst in unsere moralisch relevanten Entscheidungen das Verdienst bestimmter Persönlichkeiten mit ein. Man kann nur mutmaßen, ob und inwiefern die angesprochene Berühmtheit des Geigers hier dazu beitragen soll, vorsorglich dem Vorwurf zu begegnen, man würde sich intuitiv eher für das Abkoppeln entscheiden, falls es sich um einen vollkommen unbekannten Menschen ohne irgendeine Beziehung zu einem selbst handelte. A
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In ihrer Argumentation ist Thomson bislang zu dem Ergebnis gekommen, dass die Abtreibungsgegner angesichts des Geiger-Beispiels eine Abtreibung auch in den Fällen für unerlaubt halten (müssen), in denen die Situation über Zwang herbeigeführt wurde (Kidnapping bzw. Vergewaltigung). Obwohl bereits diese Auffassung als nicht sehr plausibel erscheint – was durch die kritische Betrachtung des Beispiels selbst jedoch zum Teil relativiert wird –, konzentriert sich Thomson nun auf die sogenannte ›extreme Position‹, mit der Abtreibungsgegner auch dann am Lebensrecht des Fötus festhalten, wenn durch die fortgesetzte Schwangerschaft das Leben der werdenden Mutter akut gefährdet sein sollte. 11 Damit stünde unmittelbar das Lebensrecht des Fötus gegen das Lebensrecht der schwangeren Frau. Das einschlägige Argument gegen die Abtreibung beruft sich auf das absolute Tötungsverbot in Abgrenzung zum Sterbenlassen: Weil der Fötus bei der Abtreibung keineswegs den Tod der Schwangeren beabsichtigt und zudem unschuldig getötet wird, ist das Sterbenlassen der Frau gegenüber der direkten Tötung des Fötus vorzuziehen. Thomson versucht auf zwei Wegen, das Falsche an dieser Auffassung darzulegen: Zum einen rekurriert sie noch einmal auf das Geiger-Beispiel und macht darauf aufmerksam, dass im Falle einer akuten Gefährdung des eigenen Lebens das Abkoppeln vom Geiger kein Mord sein könne. 12 Sie beruft sich hier allerdings (bewusst?) auf die folgenreichste der zuvor vorgestellten vier Argumentationsmöglichkeiten, 13 bei der das direkte Töten einer unschuldigen Person zugleich Mord bedeutet und deshalb immer und absolut unerlaubt ist. Den dadurch erzeugten Effekt, nämlich unter diesen lebensgefährdenden Umständen das Abkoppeln vom Geiger selbstverständlich nicht für einen Mord halten zu müssen, hätte man mit einer der anderen Argumentationen, die ›bloß‹ auf den Unterschied zwischen direktem Töten und passivem Sterbenlassen abzielen, wohl kaum erreicht. Zum anderen führt Thomson ein weiteres Beispiel ein, um zu verdeutlichen, was nicht nur eine dritte Partei im Fall der Abtreibung zu
Vgl. ebd., S. 110–113. Vgl. dazu die rhetorisch ausdrucksstarke Passage: »Wenn irgendwas in der Welt zutrifft, so das, daß Sie keinen Mord begehen, nicht etwas Unerlaubtes tun, wenn Sie hinter sich greifen und sich von dem Geiger abkoppeln, um Ihr Leben zu retten« (ebd., S. 112). 13 Vgl. ebd., S. 111. 11 12
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tun oder zu lassen berechtigt ist, sondern welche begründeten Möglichkeiten der betroffenen schwangeren Frau zukommen sollten. Angenommen, Sie finden sich in einem winzigen Haus mit einem wachsenden Kind eingeschlossen. Ich meine ein sehr kleines Haus und ein sehr schnell wachsendes Kind – Sie stehen schon gegen die Wand des Hauses gepreßt, und in wenigen Minuten werden Sie zerquetscht werden. Das Kind wird hingegen nicht zerquetscht werden. Wenn es nicht am Wachsen gehindert wird, wird es sich verletzen, aber schließlich einfach das Haus sprengen und befreit herausspringen. 14
Selbst wenn ein Zuschauer dieses Geschehens nach Thomsons Auffassung verständlicherweise nicht unbedingt eingreifen wollen würde, da er nicht sinnvoll zwischen einem der Lebensrechtansprüche von Fötus und werdender Mutter entscheiden kann, so spreche doch einiges dafür, dass die werdende Mutter nicht passiv die Bedrohung ihres Lebens erdulden muss, sondern zur Notwehr berechtigt ist: Beide [Schwangere und Fötus, F. B.] sind unschuldig: die bedrohte wird nicht aufgrund irgendeiner Schuld bedroht, die bedrohende bedroht nicht aufgrund irgendeiner Schuld. Aus diesem Grund mögen wir der Meinung sein, daß wir als Zuschauer nicht eingreifen können. Aber die bedrohte Person kann eingreifen. 15
Unter diesen Bedingungen ist Notwehr für Thomson berechtigt, wohingegen kontrastiv andere und mitunter drastischere Fälle – wie etwa: jemand bedroht jemand anderen mit dem Tod, falls dieser nicht eine dritte Person foltert 16 – dieses Recht auf Notwehr nicht gestatten. Nun wirkt jedoch das Beispiel mit dem zu engen Haus gerade im Vergleich mit der Todes- und Folterandrohung einigermaßen befremdlich: Die Schilderung der Situation zeigt ein isoliertes Verhältnis zwischen zwei Personen, die um ein knappes Gut konkurrieren – den gemeinsamen Platz in einem engen, kleinen Haus. Eine der Personen, der Fötus, bedroht diese Koexistenz und treibt durch sein natürliches Wachstum die andere Person in die Enge, womit deren Lebensrecht gefährdet ist. Daher ist es durchaus überzeugend zu sagen, die bedrohte Person sei berechtigt, ihr Lebensrecht in Notwehr zu verteidigen, denn angesichts der prekären Lage innerhalb des Hauses geht es dann offensichtlich um 14 15 16
Ebd., S. 112. Ebd. Vgl. ebd. A
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Leben oder Tod. Inwiefern dies in einen kohärenten Zusammenhang mit dem ebenfalls genannten Folterbeispiel gebracht werden soll, ist nicht ohne weiteres ersichtlich: Wenn jemand gewalttätig mit dem Tode bedroht und gezwungen wird, einen Dritten zu foltern, so kommt man schwerlich auf die Idee zu fragen, ob der Bedrohte ein Recht darauf habe, jenen Dritten zu foltern, um sein eigenes Leben zu retten. Denn offensichtlich hat er dazu kein Recht, und es ist auch nicht zu sehen, wie und aus welchen Gründen er ein solches überhaupt geltend machen sollte. Vielmehr liegt der entscheidende Punkt an diesem Beispiel – abseits von Thomsons Argumentation, aber intern damit verknüpft – in der Frage, ob der mit dem Tode Bedrohte gegenüber dem Bedrohenden ein Recht auf Notwehr hat, um sich der zu erzwingenden Folter von Dritten entziehen und sich seines eigenen Todes erwehren zu können. Und hier könnte man ein Recht auf Notwehr mit einiger Plausibilität zugestehen. Das Haus-Beispiel erfährt auf der nächsten Stufe der Argumentation eine signifikante Veränderung: Während bisher überhaupt nicht klar wurde, wie sich die beschriebene Situation – werdende Mutter und Fötus befinden sich gemeinsam in einem Haus – adäquat auf eine Schwangerschaft beziehen lassen kann, wird Thomson nun konkreter: […] wir sollten beachten, daß die Mutter und das ungeborene Kind nicht zueinander stehen wie zwei Mieter in einem kleinen Haus, das durch einen unglücklichen Zufall an beide vermietet wurde: der Mutter gehört das Haus. 17
Weil der Körper, in welchem das ungeborene Leben heranwächst, der werdenden Mutter gehört – von der direkten Frage nach dem Lebensrecht wird in diesem Abschnitt abgesehen –, haben auch dritte Parteien keinen berechtigten Grund mehr zu sagen, sie könnten sich nicht zwischen dem Lebensrecht der schwangeren Frau und dem des Kindes entscheiden und von daher prinzipiell nicht handeln. Ob sie handeln sollten, lässt Thomson bewusst offen; dass aber dritte Parteien in solchen Situationen handeln dürfen, sollte plausibel geworden sein. 18 Wenn ich Ebd. Das sich unmittelbar anschließende Beispiel unterstützt diese Bemühung um Plausibilisierung: »Wenn Müller einen bestimmten Mantel gefunden hat und sich überzieht, den er braucht, um nicht zu erfrieren, den aber auch Schmidt benötigt, um nicht zu erfrieren, dann stellt es keine Unparteilichkeit dar, zu sagen: ›Ich kann nicht zwischen euch wählen‹, wenn Schmidt der Mantel gehört. […] Schließlich wird uns Schmidt
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Thomson an dieser Stelle richtig verstehe, so argumentiert sie indirekt für die Superiorität des Lebensrechts der Frau gegenüber dem Lebensrecht des Fötus, weil ihr der Körper, auf den der Fötus angewiesen ist, gehört und damit ihrer Entscheidungsgewalt unterstellt ist. Gegenüber dritten Parteien hat eine Schwangere zwar kein zwingendes Recht auf die Durchführung einer Abtreibung durch Dritte, d. h., sie kann niemanden im strengen Sinn verpflichten, eine Abtreibung an ihr vorzunehmen. Aber jede Schwangere hat einen Anspruch darauf, in ihrem Recht auf den eigenen Körper anerkannt zu werden, wobei dieses Recht auch die Entscheidung für eine Abtreibung mit einschließt. Das HausBeispiel ist bis zu dieser Stelle zunächst einmal angemessen, denn es verweist auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis, das beiden vergleichend betrachteten Situationen zugrunde liegt: Das Haus/der Körper gehören der Frau, der (im weiten Sinne zu verstehende) Eigentumsanspruch wie auch die Verfügbarkeit über den für den Lebensvollzug unmittelbar notwendigen Körper begründen ein Recht auf Unversehrtheit, dem eine Pflicht auf Seiten Dritter zur Beachtung und Wahrung dieser Unversehrtheit korrespondieren kann. Inwiefern weitere Pflichten von dritten Parteien hinzukommen, kann Thomson offen lassen, da es ihr lediglich darum geht, die Nicht-Plausibilität eines gleichwertigen Lebensrechts von Fötus und schwangerer Frau aufzuzeigen. Mit dem Beispiel des zu engen Hauses wird die Frage nach dem Lebensrecht noch einmal fokussiert und rückblickend wieder an das Geiger-Beispiel angeschlossen: Obwohl das wachsende Kind in dem Haus (bzw. der Fötus) wie auch der Geiger ein Recht auf Leben haben, korrespondiert diesem Rechtsanspruch nicht notwendigerweise eine uneingeschränkte Einräumung zur Durchsetzung dieses Rechts von Seiten Dritter. Was sich mit dem Verweis auf die Notwehr bereits angedeutet hatte, wird jetzt argumentativ verstärkt: Thomson gesteht zwar zu, dass sowohl der Geiger als auch der Fötus ein Lebensrecht haben, aber das berechtige sie keineswegs, alle Mittel zur Wahrung dieses Rechts einzusetzen, d. h. für eine bestimmte Zeit die Nieren einer anderen Person für die eigene Genesung zu gebrauchen bzw. im Körper einer schwangeren Frau heranzuwachsen. 19 Die damit stark gekaum freudig zustimmen, wenn wir ihm gegenüber sagten: ›Natürlich ist es dein Mantel; jeder würde zugestehen, daß es deiner ist. Aber niemand darf entscheiden, wer ihn benutzen kann, du oder Müller.‹« (ebd., S. 114). 19 Vgl. ebd., S. 115–117. A
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machte These lautet: Das Lebensrecht einer Person bietet an sich keine hinreichenden Gründe, um das Lebensrecht einer anderen Person einzuschränken oder gar zu negieren. Diese Überzeugung versucht Thomson mit einem weiteren fiktiven, weil eher unwahrscheinlichen Fall zu stützen, womit einmal mehr die Intuition des Lesers angesichts einer offensichtlich kontrastierenden Überlegung auf die Probe gestellt werden soll: Wäre Henry Fondas kühlende Hand auf der Stirn die einzige Möglichkeit, von einer tödlichen Krankheit gerettet zu werden, bedeutete dies keineswegs, dass man ein Recht darauf habe, Henry Fonda zu zwingen, vom anderen Ende des Kontinents herüberzukommen, um zu helfen. 20 In dieser Vergleichung zwischen geringfügigem Zutun – eine kühlende Hand aufzulegen – und erheblichem Aufwand – eine strapaziöse Anreise quer durch den Kontinent – ist das persuasive Moment einschlägig, denn so einfach, wie Thomson suggeriert, kann die Frage nach bestimmten Rechtsansprüchen und damit möglicherweise korrelierenden Pflichten nicht geklärt werden, da allein schon die in das Narrativ dieses Beispiels integrierte Rede von Rechten und Pflichten zumindest merkwürdig anmutet: Angesichts der Fallbeschreibung würden wir wohl eher sagen wollen, dass Henry Fonda grundlegend verpflichtet ist, anderen Menschen beizustehen, die etwaiger Hilfe bedürfen – und dieses Kriterium gilt zunächst unabhängig von allen jeweils spezifischen Umständen einer Situation. Erst in der Betrachtung einer konkret zu treffenden Entscheidung ließe sich daran anschließend zudem beurteilen, ob es für Henry Fonda auch zumutbar ist, dieser Pflicht nachzukommen. Ob der todkranke Patient zugleich ein Recht darauf hat, von Henry Fondas kühlender Hand geheilt zu werden, ist m. E. nicht der entscheidende Punkt, zumal diese Frage durch die inszenierte Absurdität der Situation eine ganz andere Ausrichtung bekommt: Der eigentlich moralische Zusammenhang, nämlich inwiefern man dazu verpflichtet sein sollte, andere Menschen als Personen und darum als Subjekte wahrzunehmen, die in Handlungsentscheidungen zu berücksichtigen sind und somit ›zählen‹, tritt hinter die einseitige Hervorhebung der Inanspruchnahme und Durchsetzung von Rechten zurück. Sicherlich mag die Vorstellung wenig plausibel erscheinen, dass Henry Fondas kühlende Hand gemeinsam mit der dazugehörigen Person an jedes Krankenbett weltweit eilen müsse, sofern diese dort die 20
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Vgl. ebd., S. 116.
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einzig lebensrettende Maßnahme darstellt – aber das soll sie eben auch. Noch weniger plausibel ist dann die Vorstellung, man könne als todkranker Patient Henry Fonda mit einem starken Verständnis von Rechten in irgendeiner zwangsbewehrten Form dazu nötigen, dem eigenen Lebensrecht Genüge zu tun und stante pede die kühlende Hand bereitzustellen. Jedoch ist diese vermeintliche Nicht-Plausibilität durch eine (bewusste?) Verschleierung der Rede von Rechten erkauft: Denn als todkranker Patient wird man Henry Fonda nur dann auf gerichtlichem, d. h. rechtsstaatlich institutionalisiertem Wege belangen können, wenn ein eindeutiger Fall von unterlassener Hilfeleistung vorliegt, dem konkrete Rechtssatzungen entsprechen. Allerdings kann man Henry Fonda durchaus einen moralischen Vorwurf machen, falls er seiner grundlegenden Pflicht, anderen Menschen in Not zu helfen, nicht nachgekommen sein sollte, obwohl er unter den jeweiligen Umständen dazu in der Lage gewesen wäre. Dies gesteht zwar auch Thomson an einer späteren Stelle letztlich zu, 21 für unsere Kritik am Beispiel ist hier jedoch zunächst entscheidend, dass der Fall Henry Fonda mit einer Rede von Rechten eingeführt wird, die nicht einmal die ins Visier genommenen Abtreibungsgegner auf sich beziehen müssen. Denn die geschilderte Situation legt als solche weder eine derartige Verknüpfung mit Rechten nahe noch impliziert sie diese notwendig. Somit wird die intendierte Nicht-Plausibilität nicht erst durch das spezifische Narrativ des Beispiels aufgewiesen, sondern bereits mit dem Geben des Beispiels beiläufig mit vorausgesetzt. Da Thomson den Henry-Fonda-Fall auch mit dem Geiger-Beispiel verknüpft, ist es wichtig zu sehen, welchen Begriff des Rechts auf Leben sie über die Veranschaulichung in den Beispielen zu kritisieren versucht, um damit in argumentativer Absicht zu zeigen, wie wenig überzeugend das ihrer Meinung nach von Abtreibungsgegnern so vehement geforderte Lebensrecht für Föten ist: Wenn das Recht auf Leben darin besteht, die minimalen Mittel zu bekommen, um am Leben zu bleiben, 22 so scheinen diese für Thomson vorrangig auf unmittelbar lebensbedrohliche Situationen beschränkt zu sein. Da es aber, wie bereits aus Thomsons eigener Argumentation ersichtlich wurde, keine stichhaltigen Argumente dafür geben kann, das Lebensrecht einer PerVgl. ebd., S. 123. Thomson erwähnt, dass dies die Ansicht »einiger« sei, allerdings ohne Nennung entsprechender Referenzen (vgl. ebd., S. 115).
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son zugunsten des Lebensrechts einer anderen Person einzuschränken, müssen das Geiger-Beispiel und das Ein-zu-enges-Haus-Beispiel strikt von dem Henry-Fonda-Beispiel getrennt werden: Für den basalen Lebensvollzug Henry Fondas stellt es keine existentielle Bedrohung dar, falls er sich doch entschließen sollte, den Kontinent zu überqueren und die rettend-kühlende Hand aufzulegen. Und auch das Geiger-Beispiel ›passt‹ nicht zu dem Vergleich mit dem lebensbedrohlich heranwachsenden Fötus im ›gemeinsamen Haus‹ : Die Geiger-Situation ist vor allem deshalb ein Dilemma, weil sich zwei Personen ad hoc und jeweils ohne eigenes Zutun aneinandergekoppelt sehen, wohingegen der das Leben der werdenden Mutter bedrohende Fötus durch sein Wachsen gewissermaßen ›aktiv‹ ist und damit zur Eskalation der Lage beiträgt. Es zeigen sich hier m. E. deutlich die Schwierigkeiten, die mit dem Versuch verbunden sind, aus mehreren verschiedenen Beispielen gleichlautende Schlussfolgerungen ziehen zu wollen, aus denen gleichwertige Argumente für denselben Argumentationsgang hervorgehen sollen. Ungeachtet dessen führt Thomson noch weitere Beispiele an, um ihre liberale Position zur Abtreibung zu verteidigen. In der bisherigen Argumentation hat Thomson einen eher vagen und vor allem ambivalenten Begriff von Recht verwendet, der den Leser weithin im Unklaren darüber lässt, gegen welche konkrete Auffassung von Recht hier eigentlich opponiert wird und welche angemessene wie auch plausible Auffassung statt dessen verteidigt werden soll. So ist zumindest eine Unterscheidung notwendig, die zwischen moralischen und juridischen Ansprüchen, Rechten und Pflichten differenziert sowie deren interne Beziehungen und Abhängigkeiten ausweist. 23 Mit dieser impliziten Anforderung können wir uns nun den letzten Beispielen bei Thomson zuwenden: Als Zwischenergebnis der Erörterung entsteht eine Art Patt-Situation, denn das Lebensrecht einer Person (Geiger/Fötus) bietet keine hinreichenden Gründe, um das Lebensrecht einer anderen Person (der imaginiert an den Geiger angeschlossene Leser/die schwangere Frau) signifikant einzuschränken, d. h., es besteht von keiner Seite aus das Recht, vom anderen oder von Seiten Dritter die Gewährleistung des Überlebens oder die VerhinBezüglich der Frage nach den Rechten ist hier nicht der Ort, um eine erschöpfend umfassende Revision und Erörterung der Argumentation Thomsons vorzunehmen, da es für eine Kritik des Beispiels zunächst ausreichen soll, auf die mit dem argumentativen Beispielgebrauch verbundenen systematischen Probleme hinzuweisen.
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derung des Tötens zu beanspruchen. Im Geiger-Beispiel hat der Geiger demnach zwar ein unbestrittenes Lebensrecht, er darf jedoch nur dann nicht abgekoppelt werden, wenn die an ihn angeschlossene Person ihm das Recht eingeräumt hat, ihren Körper zur Genesung zu nutzen. Auf der Ebene des Beispiels ist dies insofern widersprüchlich, als hier keine entsprechende Entscheidungssituation vorgesehen ist, wie sie ein alternatives Narrativ geboten hätte (s. o.). Da dem Geiger zu keiner Zeit ein Recht auf Ankopplung eingeräumt werden konnte, wird das Beispiel in diesem Punkt stark entwertet. Interessanterweise bringt Thomson an dieser Stelle allerdings den zeitlichen Faktor wieder ins Spiel: Während ursprünglich gemäß der Analogie zur Schwangerschaft von neun Monaten die Rede war, werden nun plötzlich neun Jahre daraus. 24 Diese zeitliche Disponierung von Jahren, Monaten und schließlich nur noch Tagen dient Thompson zur Vorbereitung ihres abschließenden Samariter-Arguments, 25 welches ihre im Kern radikale Pro-Abtreibung-Argumentation insofern abmildert, als mit dem Kriterium der moralischen Zumutbarkeit doch wieder ›schwache‹ Verbindlichkeiten gegenüber Föten (oder Geigern) postuliert werden. Thomson sieht durchaus die Schwierigkeiten, die mit dem Verständnis des in Frage stehenden Lebensrechts verbunden sind, zumal dieses bislang noch nicht umfassend erläutert wurde. Um hier einen Schritt weiterzukommen, bedient sie sich weiterer Beispiele, die zeigen sollen, dass ein Lebensrecht zu haben vorrangig nicht bedeuten sollte, unter gar keinen Umständen getötet zu werden, sondern nicht ungerechterweise getötet zu werden: Wenn zwei Jungen gemeinsam eine Tafel Schokolade bekommen, dann wird ihnen gemeinsam das Recht zugesprochen, über diese Tafel zu verfügen. Nimmt einer der Jungen dem anderen die Schokolade weg und verspeist sie alleine, verhält er sich ihm gegenüber ungerecht. 26 Koppelte man den Geiger ab, dem zuvor kein Recht auf den Gebrauch fremder Nieren eingeräumt wurde, so würde er zwar getötet, aber nicht ungerechterweise getötet. Aber mit dieser wenig plausiblen, weil stark erläuterungsbedürftigen Unterscheidung treten die Probleme mit Thomsons Erörterung der Rechte eigentlich erst hervor und nötigen sie auch letztlich, diesen Strang der Argumentation unvermittelt abzubrechen: Wenn das ›Haben‹ von 24 25 26
Vgl. ebd., S. 118. Vgl. ebd., S. 124 ff. Vgl. ebd., S. 117 f. A
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Rechten ausschließlich darauf beruht, diese von anderen eingeräumt bzw. zugestanden zu bekommen, dann wird gerade mit Blick auf die in Anschlag gebrachten Beispiele ersichtlich, welcher Beliebigkeit diese Entscheidung unterliegen würde. Es gäbe schwerlich ein allgemeinverbindliches Kriterium dafür, wem unter welchen Umständen ein bestimmtes Recht eingeräumt werden sollte. Nicht einmal das vorab zugestandene Recht auf Leben wäre von dem Vorbehalt ausgenommen, dass es von einem vorherigen und expliziten Akt des Einräumens dieses Rechts in seiner Geltung abhängt. Welche Schwierigkeiten sich mit der Explikation dieses Einräumungsakts ergeben, zeigt Thomson selbst an den Beispielen mit dem geöffneten Fenster, durch welches der Einbrecher einsteigt, sowie – mit stärkerer Analogie zur Situation der Schwangeren – den Menschensamen, die in der Luft schweben und sich trotz Sicherheitsvorkehrungen ›in der Wohnung einnisten‹. 27 Für Thomsons Argumentation folgt daraus, dass es zwar durchaus eindeutige Fälle der Einräumung von Rechten auch hinsichtlich der Frage nach der Beurteilung von Abtreibung geben mag, diese aber nicht das entscheidende Kriterium sein können: Weil sich – vor allem anhand der Beispiele – gezeigt hat, dass nicht jede Abtreibung ein ungerechtes Töten darstellen muss, geht Thomson dazu über, die Bewertung von Abtreibung von einer sehr liberalen Position aus durch das Postulat moralischer Verpflichtungen gemäß (kontextuell) bestimmter Zumutbarkeitserwägungen vorzunehmen und damit die anfänglich zugestandene Prämisse des Lebensrechts gemeinsam mit allen anderen Rechtsansprüchen zum Teil auszuklammern. In systematischer Perspektive verbleibt damit ein erheblicher Interpretationsspielraum, der sich entsprechend auf die für die Argumentation veranschlagten Beispielsituationen überträgt, wobei diese durch die zu leistende Übertragung auf reale Fallsituationen noch einmal in gewissem Maße interpretationsoffen sind. Denn der Begriff des Rechts ist bei Thomson letztlich vage und unbestimmt, ebenso wie die moralischen Kriterien zur Qualifizierung des ›minimal anständigen Samariters‹ am Schluss der Argumentation. Mit dieser keineswegs abschließenden, sondern vielmehr in einem ersten Zugang erschließenden Kritik soll es zunächst seine Bewandtnis haben. Im folgenden dritten Teil lassen sich davon ausgehend einige Beobachtungen zusammenfassen, die für eine Begründung des metho27
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Vgl. ebd., S. 120 f.
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dologischen Vorschlags einer vorgängigen Kritik im Rahmen einer umfassenderen Theorie der Beispielverwendung in philosophischen Argumentationen ausschlaggebend sind.
III Wenn man sich vergegenwärtigt, was genau im Durchgang des zweiten Teils dieses Aufsatzes geschehen ist, so fällt Folgendes auf: Die kritische Analyse und Bewertung der von Thomson in argumentativer Absicht in Anschlag gebrachten Beispiele erweist sich als performativer Aufweis der Art und Weise, wie wir für gewöhnlich mit Beispielen in der Philosophie und – mit Einschränkungen – nicht nur dort umgehen. Eine derartige Kritik macht nämlich das besondere Verstehen der zwischen inhaltlich konkreter Bezugnahme auf praktisch-rationales Handeln und formal-abstrakter Bestimmung verorteten Beispiele bewusst. Wichtig ist hierbei, dass sich in diesem Zusammenhang neben einer gewissen hermeneutischen Perspektive vor allem der Gebrauch der praktischen Urteilskraft als bedeutsam erweist: Im Versuch, einzelne bzw. zusammenhängende Elemente aus der narrativen Form von Beispielen unter eine einheitliche Beschreibung und damit unter einen mehr oder weniger allgemeinen Begriff zu bringen, ist die Urteilskraft genötigt, zwischen beiden Ebenen hin und her zu gehen, um hinsichtlich einer schlüssigen Argumentation insbesondere die auffälligen ›Bruchstellen‹ in den Beispielen näher zu untersuchen. In diesem Verfahren zeigt sich dann auffällig, wie ambig letztlich die Verwendung von Beispielen als Argumenten ist – und der Sache nach sogar sein muss: Sofern, wie im Fall der vorliegenden Argumentation, die aus Beispielen gezogenen Schlussfolgerungen als Argumente in eine begrifflich nicht hinreichend differenzierte Argumentationsstruktur integriert werden, bleiben die Schlussfolgerungen der Beispiele entweder nicht plausibel, weil sie begrifflich ›nicht gedeckt‹ sind, oder ihre vermeintliche Plausibilität verdankt sich einer Verschiebung des Problems der begrifflichen Klärung auf die Ebene des Beispiels. Dort geht es in der Vorführung eines bestimmten Narrativs jedoch gerade nicht um dezidiert begriffliche Arbeit, sondern um eine anschauliche Darstellung, die mit Begrifflichkeiten in Verbindung zu bringen ist. Denn für sich allein betrachtet kann das gegebene Beispiel keine argumentative Kraft hervorbringen, da es erst in seinem GeA
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brauch als Argument wirklich ›funktioniert‹ : Die im und durch das Beispiel gezogenen Schlussfolgerungen bedürfen notwendig einer gediegenen Rückbindung an den begrifflichen Gehalt dessen, wofür oder wogegen argumentiert werden soll. Oder anders gesagt: Obwohl es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, dass Schlussfolgerungen in kontextuell eingebetteten Beispielen ›irgendwie anders‹ sind, bleiben sie trotzdem grundsätzlich Schlussfolgerungen aufgrund begrifflicher Zusammenhänge – nur eben zusätzlich vor dem Hintergrund einer Einbettung in einen bestimmten, material reichhaltigen Kontext. Selbst Thomson hat diesen Zusammenhang letztlich kritisch rückblickend gesehen 28 und die Vermutung geäußert, womöglich irrelevante Analogien bemüht zu haben, was vor allem die Frage nach der besonderen Verantwortung einer Mutter gegenüber dem von ihr unmittelbar abhängigen Fötus betrifft, die offensichtlich nicht mit der Verantwortungsbeziehung zu unabhängigen Personen wie dem Geiger oder Henry Fonda gleichzusetzen ist. Einer Kritik an der methodischen Verwendung von Beispielen, die Thomson als Argumente vorgebracht hat, muss dabei zum einen auffallen, von welcher ›Art‹ diese Beispiele sind, denn die vorliegende Argumentation hat reale Sachverhalte fast durchweg als Analogiebeispiele chiffriert, obwohl die Möglichkeit bestand, zumindest teilweise mit faktisch konkreten Belegbeispielen zu arbeiten. Diese hätten, ausgehend etwa von der Praxis einer geltenden Rechtsprechung und -begründung zu Fragen der Abtreibung, deren Geltungsanspruch in Kombination mit weiteren, auch fiktiven Beispielen hinterfragen können. Zum anderen verdeutlicht die kritische Rekonstruktion der Beispielverwendung in methodologischer Hinsicht, wie weit solche Beispiele hinsichtlich des angestrebten Argumentationsziels überhaupt ein ausreichendes Maß an Plausibilität hervorbringen können, ohne sich vorab in der interpretationsoffenen Fülle ihrer eigenen Anschaulichkeit zu verstricken oder gar daran zu scheitern. Der hier vorgestellte Fall einer beispielgestützten philosophischen Argumentation konnte als besonders anschaulicher Fall für die Vorführung einer methodisch-methodologischen Kritik des Beispiels dienen, weil beinahe die gesamte Argumentationslinie auf miteinander verschränkten Beispielen aufgebaut wurde. Einerseits hat Thomson damit – vermutlich unbeabsichtigt – in ungewöhnlicher und zuweilen konterkarierend-übertreibender Weise gezeigt, wie selbstverständlich die 28
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Vgl. ebd., S. 127 f.
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Moralphilosophische Argumentation und moralische Verständigung
Verwendung von Beispielen in philosophischen Argumentationen ist. Andererseits wird gerade dadurch die Notwendigkeit deutlich, sich zu vergegenwärtigen, was es heißt, mit anschaulichen Beispielen umzugehen und diese begrifflich zu erfassen. Denn grundsätzlich muss sich jede Beispielverwendung in philosophischen Theorien und Begründungen zunächst kritisch befragen lassen und vor dem Hintergrund einer begrifflichen Argumentation bewähren. Erst wenn dies geleistet ist, kann schrittweise der Versuch unternommen werden, aus den verwendeten Beispielen selbst bzw. auf der Grundlage bereits vorhandener Beispieltypologien eine Übersicht philosophischer Beispiele zu erstellen, die sich dann nicht bloß einem Schematisierungsinteresse verdankt, sondern den stetigen Bezug zu einer auf die Urteilskraft gestützten Argumentationspraxis wahrt.
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Moralische (Selbst-)Verständigung durch Film
»Der Film zeigt uns, wie grausam der alltägliche Rassismus sein kann«; »In der Serie können wir mitverfolgen, wie sich ein rechtschaffener Bürger zum Verbrecher entwickelt, obwohl alle seine Entscheidungen auf guten Gründen basieren«; »Man bekommt beim Sehen des Films ein Gefühl für die bedenkliche Beiläufigkeit, die moralisch brisante Entscheidungen im Alltag erhalten«. Solche und ähnliche Äußerungen liest und hört man in Texten oder Gesprächen über Filme. Sie heben moralische Phänomene hervor, zu denen die entsprechenden Filme offenbar etwas Interessantes beitragen können. Einerseits können in Filmen bekannte Phänomene dargestellt werden, die den Zuschauern vielleicht sehr geläufig sind, die sich aber der bewussten Wahrnehmung mehr oder weniger entziehen und nur im Bereich von Ahnungen oder flüchtigen Bekanntschaften liegen – sie können in Filmen fokussiert, verdeutlicht und in einer konzentrierten Einheit zusammengefasst werden. Andererseits kann es aber auch um Phänomene gehen, mit denen die Zuschauer, ohne den jeweiligen Film zu sehen, gar nicht konfrontiert würden, die also in gewisser Hinsicht neu sind und erst durch den Film kennengelernt und verstanden werden. 1 Filme sind demnach Gegenstände moralischen Verstehens, indem sie moralische Gefühle, Tugenden und Probleme darstellen. Sie können die Aufmerksamkeit in bestimmte Bahnen lenken oder etwas wahrZwar schreibe ich hier über Filme, aber die meisten Bemerkungen gelten in gleicher Weise von anderen darstellenden und/oder erzählenden Medien/Künsten/Präsentationsformen. Als Filme spreche ich sowohl fiktive Filmformate (Spielfilme, Serien) als auch Dokumentarfilme an. Auch sind die meisten Bemerkungen nicht auf narrative Formen eingeschränkt (obwohl dies die paradigmatischen Fälle sind). Insofern erhebe ich nicht den Anspruch, ausschließlich spezifische Merkmale des Films zu untersuchen, die sich in anderen Medien so nicht wiederfinden. Filme geben mir nur einen Anlass, einige Gedanken zu Fragen der moralischen Verständigung und Selbstverständigung zu formulieren. Trotzdem werden im Verlauf des Textes einige Spezifika des Films zur Sprache kommen.
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Moralische (Selbst-)Verständigung durch Film
nehmbar machen, was so zuvor überhaupt nicht (oder als irrelevant) aufgefasst wurde, und so die moralische Sensibilität fördern. Im Folgenden soll dieser Modus filmischen Verstehens unter dem Aspekt moralischer Verständigung näher bestimmt und untersucht werden.
I
Verstehen, Verständigung, Selbstverständigung
Moralische Verständigung bezeichnet im Folgenden den Prozess des wechselseitigen Verständlichmachens voneinander abweichender moralischer Einstellungen, Eigenschaften oder Gefühle. Dieser Prozess kann z. B. in einem Austausch von Gründen und Argumentationen bestehen – andere Modi sind aber ebenfalls nicht ausgeschlossen, wie etwa emotionale Auseinandersetzung. Verständigung geht insofern über bloßes Verstehen hinaus, da sie immer nur im Konfliktfall notwendig wird, nämlich dann, wenn moralische Einstellungen aufeinandertreffen, die miteinander unvereinbar sind oder gegeneinander wirken – oder wenigstens zunächst so erscheinen, denn Ergebnis einer Verständigung kann schließlich auch die Feststellung sein, dass vermeintlich abweichende Einstellungen tatsächlich übereinstimmen. Während Verstehen also das Erfassen, Einordnen und Interpretieren eines Phänomens bezeichnet (meist aus einer bestimmten Perspektive, Position bzw. Einstellung), umfasst Verständigung den Vergleich mehrerer voneinander abweichender Einstellungen und ihrer Beziehungen zueinander. Primäres Ziel von Verständigung ist es, ihre Zusammenhänge zu verstehen. An eine erfolgreiche Verständigung müssen sich nicht zwangsläufig oder unmittelbar Bewertungen, Entscheidungen, Einigung oder Konfliktlösung anschließen. Zwar läuft eine moralische Beurteilung normalerweise auch immer auf eine Stellungnahme hinaus, vorauszusetzen ist aber zunächst ein angemessenes Verständnis der zu beurteilenden Phänomene. Eine Vereinbarung beider Seiten kann also ein weiteres Ziel von Verständigung sein; alternativ kann Verständigung allerdings auch die bloße Anerkennung oder Toleranz einer entgegengesetzten Position anstreben, ohne sie mit der eigenen zusammenzubringen. Im äußersten Falle ist sogar denkbar, dass ein Verständigungsprozess auf eine Verschärfung des Konflikts abzielt, etwa indem eine Differenz gezielt als solche verdeutlicht wird und dadurch die gegenüberstehenden Einstellungen klarer bestimmt werden (im GegenA
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satz zu einem Konflikt, der auf Missverständnis beruht). Verständigung ist daher nicht unbedingt mit Problemlösung oder Anerkennungsbemühung gleichzusetzen, sondern kann als vorgelagertes gegenseitiges Verstehen der in Frage stehenden Einstellungen diese Ziele ermöglichen und unterstützen. Verständigung findet zwischen Personen statt; aber auch eine einzelne Person kann eine Selbstverständigung anstreben, in der sie sich voneinander abweichende moralische Einstellungen verständlich zu machen versucht. Dieser Vorgang setzt nicht unbedingt einen inneren Konflikt, einen Zweifel oder eine Unentschlossenheit voraus, denn auch dann, wenn die eigene Einstellung nicht in Frage steht, kann Interesse am Verstehen einer abweichenden Position bestehen. Zugleich ermöglicht eine solche Selbstverständigung auch die Auseinandersetzung mit der eigenen, als selbstverständlich angenommenen Position, mit dem Ziel, sich über sich selbst und die eigenen Einstellungen klarer zu werden – Selbstverständlichkeiten können im Prozess der Selbstverständigung expliziert und durch Kontrastierung besser erkannt werden.
II
Film und (Selbst-)Verständigung
Welche Rolle kann moralischer Verständigung im Bezug auf Filme zukommen? Filmische Inhalte in einen moralischen Kontext einordnen, mit moralischen Gefühlen auf sie reagieren, die eigenen moralischen Einstellungen von ihnen unbewusst beeinflussen lassen, sie in moralischer Hinsicht kritisieren oder als wertvollen Beitrag herausstellen – all diese Prozesse können als moralisches Verstehen (in einem weiten Sinne) aufgefasst werden. Wahrscheinlich enthalten die meisten Filme Elemente, die in irgendeiner Hinsicht moralisch verstanden werden. Dagegen bezieht sich eine Untersuchung zur moralischen (Selbst-)Verständigung hauptsächlich auf solche Filme, deren moralisch relevante Inhalte nicht einfach als selbstverständlich und wohlvertraut (und daher oft ganz unbemerkt) verstanden werden, sondern klar von den eigenen moralischen Einstellungen abweichen und ihnen widersprechen. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen moralischer Verständigung im Film (also z. B. der Darstellung von Verständigungssituationen zwischen verschiedenen im Film vorkommenden Personen) und moralischer Selbstverständigung durch Film (also dem Prozess, den 264
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Moralische (Selbst-)Verständigung durch Film
ein Zuschauer in der Auseinandersetzung mit dem Film anstößt). 2 Beide Modi können zusammenspielen, etwa wenn eine Auseinandersetzung im Film dargestellt wird, die ein Verständlichmachen voneinander abweichender moralischer Positionen für den Zuschauer nachvollziehbar macht und so auch bei ihm einen Verstehensfortschritt anstößt. 3 Verständigungen können aber auch unabhängig voneinander auftreten: Eine dargestellte Verständigungssituation muss beim Zuschauer nicht auf ein Verstehen hinauslaufen, und eine Selbstverständigung des Zuschauers kann stattfinden, auch wenn im Film gar keine Verständigungssituation vorkommt. Wie kommen die moralischen Einstellungen des Zuschauers ins Spiel? Sie werden berührt, möglicherweise in Frage gestellt, verändert oder gefestigt, entweder durch unmittelbare Reaktionen oder durch Reflexion auf die eigene Position zu dem Gezeigten. Gerade Filme, in denen abweichende Einstellungen vorkommen und thematisiert werden, fordern Zuschauer zu einer Auseinandersetzung auf. Auf der anderen Seite spiegeln Filme auch die moralischen Einstellungen derjenigen Personen wider, die an der Produktion des Films beteiligt waren. Filme repräsentieren in gewissem Ausmaß einige dahinter stehende moralische Einstellungen und können als deren (absichtlicher oder unabsichtlicher) Ausdruck gelten. So kann ein Film immer auch als moralische Äußerung gedeutet werden, die auf die Einstellung oder Ideologie der für die Inhalte verantwortlichen Filmemacher hinweisen. Fragestellungen, in deren Kontext die Beziehungen zwischen Film und Moral diskutiert werden, betreffen z. B. die Potentiale und Grenzen moralischer Erziehung durch Filme; die Gefahr von Traumatisierung, Abstumpfung und Prägung des Zuschauers (z. B. im Zusammenhang mit Gewaltdarstellungen oder Pornographie) und damit verbundene moralische Konsequenzen; die Wirkung manipulativer oder propagandistischer Filme auf politische und moralische Einstellungen; sowie Entscheidungen im Rahmen der Filmproduktion, die gesellschaftliche (z. B. repräsentative), politische und moralische Kontexte berühren. 4 Verständigung über Film wäre ein gegenseitiges Verständlichmachen voneinander abweichender Interpretationen eines Films. 3 Stanley Cavell thematisiert diesen Vorgang in seinen filmphilosophischen Schriften. 4 Vgl. Debatten über Filme, die gezielt moralische (z. B. religiöse) Gefühle verletzen, und die damit verbundene kritische Frage: »Darf das (so) gezeigt werden?» 2
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Diese Aspekte können jeweils zwei mehr oder weniger entgegengesetzten Funktionsweisen moralischen Verstehens zugeordnet werden. (a) Auf der einen Seite reflektieren die Zuschauer über einen Film und interpretieren ihn bewusst und vernünftig, um ihm eine Position im moralischen Diskurs zuordnen zu können. Auf diese Weise kann ein Film einen Anspruch auf moralisch-didaktische Aufklärung erheben; ebenso können in der Filmproduktion relevante Intentionen aufgedeckt und entsprechende Kritik geübt werden. Diese reflektierende Einstellung kann klar mit einem Konzept moralischen Verstehens verbunden werden und ermöglicht bestimmte Formen moralischer (Selbst-)Verständigung. (b) Die entgegengesetzte Funktionsweise von Filmen wird durch die Verhinderung einer bewussten Reflexion gekennzeichnet: Wenn die Zuschauer unbewusst beeinflusst werden und infolgedessen bestimmte moralische Einstellungen unhinterfragt annehmen, dann handelt es sich um Manipulation oder wirksame Propaganda. Ebenso sind Traumatisierung und Abstumpfung Wirkungen auf die Zuschauer, die unmittelbar nicht durch Reflexion kontrolliert werden können. Verstehen liegt hier bestenfalls als Grenzfall vor, etwa im Sinne eines impliziten Verstehens. Doch selbst unter Voraussetzung eines weiten Verstehensbegriffes kann diese Wirkweise des Films kaum mehr als Verständigung oder Selbstverständigung gefasst werden, da hier die jeweils abweichende Einstellung eigentlich gar nicht mehr als solche wahrgenommen wird bzw. werden soll. Im äußersten Fall kann dieser Vorgang der Manipulation aus einer Außenperspektive, aus der die Abweichung der Einstellungen erkennbar ist, als Verständigung beschrieben werden; in keinem Fall kann allerdings von Selbstverständigung gesprochen werden, da der Zuschauer selbst keinen Konflikt der Einstellungen erkennen kann und somit auch keinen Prozess der Auseinandersetzung in Gang setzt. Beide Modi moralischen Verstehens – Reflexion und Manipulation – finden sich in Diskussionen zum Verhältnis von Film und Moral leicht wieder. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, einen Bereich moralischer Verständigung dazwischen zu identifizieren, in der Annahme, dass die beiden Extreme – totale intellektuelle Durchdringung und unbewusste Programmierung – nur in Ausnahmefällen (oder überhaupt nicht in Reinform) vorkommen. Die hier vertretene These ist also, dass es einen Spielraum moralischer Verständigung durch Film gibt, der weder durch übermäßige Reflexion, noch durch manipulative Beeinflussung geprägt ist, sondern in dem mora266
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Moralische (Selbst-)Verständigung durch Film
lische Auseinandersetzung anders funktioniert: Subtil, weder als distanzierter und technischer Überlegungsprozess, noch ganz mechanisch wider die vernünftige Autonomie des Zuschauers. Zur Annäherung an diesen Modus soll im Folgenden zunächst ein Modell reflektierten Verstehens diskutiert und davon ausgehend dann eine Alternative angedeutet werden.
III
Erkenntnisgewinn durch Film: Beispiel, Illustration, Gedankenexperiment
Eine Auffassung moralischen Verstehens durch Film besteht darin, filmische Darstellungen als Beispiele oder Illustrationen moralischer Phänomene zu deuten. Ein Zuschauer kann demnach in einem Film beispielhaft typische Phänomene identifizieren, seine Aufmerksamkeit darauf konzentrieren und über sie nachdenken. Die Reflexion über diese Phänomene besteht dann hauptsächlich darin, die moralisch relevanten Eigenschaften zu paraphrasieren, zu verallgemeinern und in allgemeiner Form zu beurteilen. So kann eine reflektierte Positionierung zu Phänomenen der entsprechenden Art ausgelöst werden, oder es wird die Aufmerksamkeit auf gleichartige Phänomene in der eigenen Lebenswelt gelenkt. Umgekehrt kann ein Film als Illustration einer vorgefassten moralischen Einstellung gedeutet und als Stützung oder Schwächung dieser Einstellung beurteilt werden. Ein solches Modell ähnelt bekannten Methoden der Philosophie und der Ethik: Beispiele (oder »Intuitionen«) liefern Material und Hinweise für Theorien, Illustrationen bestätigen oder widerlegen Theorien. Diese Konzeption philosophischer Erkenntnisgewinnung durch Filme soll hier als Ausgangspunkt für die Untersuchung moralischer Verständigung durch Film dienen. Ian Jarvie beschreibt einen solchen Ansatz, mit dem philosophische Erkenntnisse aus Filmen gewonnen werden können. Bei ihm stehen zwar keine spezifisch moralphilosophischen Fragen im Vordergrund, sein Modell lässt sich aber mühelos als allgemeines Schema auf moralphilosophische Kontexte übertragen: The [purpose] is to penetrate the ideas being put forward in items of popular entertainment, to endeavour to state them and subject them to the test of truth. To do this they have to be paraphrased out of their originating context
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– in which, of course, they are made to seem true, even inevitable, in that the film unrolls the same way each time – into a context of assessment. We have to be able to identify and label the philosophical components, isolate the arguments implicit in their incorporation in the film, then bring to bear philosophical skill and expertise in assessing these ideas and their argumentative support. When we do this we may come up with somewhat different conclusions than the film offers, but our tribute to the film consists in its having forced us to think things through for ourselves. 5
Gemäß diesem Modell erhält ein Film philosophische Relevanz indem er Anlass gibt, über dargestellte Phänomene philosophisch nachzudenken. Das in Filmen Dargestellte wird auf philosophischen Gehalt hin abgeklopft und dann im Vergleich zu den eigenen Beurteilungen untersucht – so gelangt man schließlich zu reflektierten Wahrheitsaussagen über die von den Filmen implizit (per Darstellung) gemachten Behauptungen. Auf ganz ähnliche Weise geht Joseph Kupfer in Visions of Virtue in Popular Film vor, einer Untersuchung von Tugenden in Spielfilmen. Er unterscheidet zwischen zwei unabhängigen Ebenen der Richtigkeit, auf denen sich eine Interpretation bewähren muss, sofern sie moralisches Verständnis anstrebt: Einerseits muss die Interpretation auf den Film passen, d. h. die in einer Interpretation identifizierten moralischen Phänomene sollten in der Filmerfahrung nachvollzogen werden können. So wird das Ziel der Interpretation erreicht, moralische Phänomene in dem Film deutlich hervorzuheben. Auf einer anderen Ebene stellt sich die Frage, ob die von dem Film exemplifizierten moralischen Phänomene tatsächlich über das fiktive Film-Beispiel hinaus einen echten Bezug zur Realität haben. Es steht also der Wahrheitsgehalt der in Filmen implizierten moralischen Behauptungen in Frage: The moral generalizations that I propose, therefore, have a double reference – to the film fiction and to the real world. Taken as referring to the movie fiction, the generalizations purport to enhance movie appreciation. Taken as referring to reality, the general claims are supposed to capture truths about human life. 6
Das Modell sieht also so aus: Filme können (z. B. im Rahmen von erzählten Geschichten) moralische Phänomene – Tugenden, Gefühle, Konflikte – mit einer vergleichsweise hohen Komplexität darstellen, 5 6
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Ian Jarvie, Philosophy of the Film, New York, London 1987, S. 24. Joseph H. Kupfer, Visions of Virtue in Popular Film, Boulder 1999, S. 23.
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aus denen dann im Rahmen einer Interpretation allgemeine Eigenschaften und Regeln gefolgert werden können. Indem Interpreten diese Eigenschaften und Regeln erkennen und beurteilen, lernen sie etwas moralisch Relevantes über die Realität. Filme funktionieren nach diesem Modell wie Fallstudien in der Rechtswissenschaft: 7 Moralische Phänomene werden darin identifiziert, generalisiert und in allgemeiner Form im Bezug auf die Realität der Zuschauer beurteilt – so lernt man schließlich etwas daraus: »We can learn from movie fictions because the construals we make of them have reference to the world in which we live.« 8 Außerdem können Filme so als Argumentationen für die Plausibilität von vorgefassten Regeln oder angenommenen Eigenschaften dienen. Indem die entsprechenden Phänomene in einem realistischen und überzeugenden Kontext dargestellt werden, können sie ihre Kohärenz und Stimmigkeit unter Beweis stellen und so Einstellungen der Zuschauer bestätigen oder widerlegen. Diese Form moralischer Selbstverständigung deckt sich mit dem typischen Charakter philosophischer Überlegungen im Bereich der Ethik. Auch hier wird häufig mit Beispielen gearbeitet, die ein allgemeines Prinzip veranschaulichen und – je nach Klarheit und Geläufigkeit des Beispiels – es zu einem gewissen Grade bestätigen können. Da in Filmen die dargestellten Fälle ungleich konkreter und reichhaltiger sind als die normalerweise in wenigen Sätzen skizzierten Beschreibungen in philosophischen Texten, werden moralische Prinzipien viel deutlicher und realistischer veranschaulicht, als dies in philosophischen Texten möglich ist. Dadurch wird nicht zuletzt in einer interpretativen Auseinandersetzung die Urteilskraft des Zuschauers geschärft: Ist diese Situation ein Fall der Regel? Über diesen Prozess der interpretierenden und reflektierenden Selbstverständigung wird Kupfer zufolge ein Verständniszuwachs erzielt, der mit der Welt, in der die Zuschauer leben, in einem fruchtbaren Zusammenhang steht: »Movie fictions can be a basis for a new understanding of the world.« 9
Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 20. 9 Ebd. Es fällt übrigens auf, dass sich die Ausführungen der zitierten Autoren ausschließlich auf Spielfilme beziehen und Dokumentarfilme nicht in ihr Modell einbeziehen. Es stellt sich die Frage, ob man aus ihrer Sicht für Dokumentarfilme ein ganz anderes Konzept moralischen Verstehens entwerfen müsste. 7 8
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In eine ähnliche Richtung weist die Auffassung von fiktiven Filmen als Gedankenexperimenten. Spielfilme werden als denkbare Szenarien gedeutet, die Regeln und andere Eigenschaften der Welt aufzeigen und sie plausibel machen. Das Muster ist ähnlich: Es sollen anhand von konkreten Darstellungen allgemeine Zusammenhänge aufgezeigt und begründet werden. Die Auffassungen von Filmen als Beispielen, Illustrationen oder Gedankenexperimenten liefern interessante Interpretationen, wie die Arbeiten von Jarvie und Kupfer zeigen. Dennoch bringt diese Herangehensweise auch prinzipielle Einschränkungen und Schwierigkeiten mit sich, von denen einige im Folgenden erläutert werden.
IV Das Problem der Paraphrase Die Forderung, filmische Inhalte sprachlich zu beschreiben, also relevante Aspekte ihrer Inhalte in einem Reflexionsschritt sprachlich zusammenzufassen, um einen Erkenntnisgewinn zu ermöglichen, verhindert gerade eine Einbeziehung von Merkmalen, die spezifisch für filmische Erfahrung sind. Filme sind Gegenstände sinnlicher Wahrnehmung; Filmwahrnehmung hat es hauptsächlich mit sinnlichen Qualitäten zu tun, seien sie visuell oder akustisch. Eine sprachliche Paraphrasierung eliminiert in gewissem Ausmaß diese sinnlichen Anteile aus der weiteren Überlegung. Ästhetische und emotionale Eigenschaften moralischer Phänomene könnten unter dieser Voraussetzung als solche keine entscheidende Rolle in Verständigungsprozessen spielen. Der Punkt ist trivial. Die genannten Autoren sind sich selbstverständlich darüber im Klaren und tragen den mit einer Versprachlichung verbundenen Problemen auf verschiedene Weisen Rechnung. Ihnen geht es in erster Linie um Interpretation, die wiederum auf sprachlichen Ausdruck angewiesen ist – das ist angesichts der damit verbundenen Ansprüche kein Problem, wirkt sich allerdings dann als Mangel aus, wenn die Filmerfahrung vor einer explizit reflektierenden Interpretationshaltung thematisiert wird. Wenn es ein Verstehen in der Wahrnehmung gibt, dann kann der sprachliche Ausdruck dieses Verstehen nicht reproduzieren, sondern bestenfalls darauf verweisen. Zur weiteren Begründung dieses Punktes müsste allerdings eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von filmischer Darstellung zu ihrer Paraphrase ausgearbeitet werden. 270
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Das Problem der Abstraktion und der Verallgemeinerung
Die Annahme ist, dass die in Filmen dargestellten einzelnen Phänomene und Situationen für einen philosophischen Erkenntnisgewinn zunächst von ihrem Kontext abstrahiert und in verallgemeinerter Form aufgefasst werden müssen. Dies wäre demnach auch ein notwendiger Schritt im Prozess der moralischen Selbstverständigung über den Film. Denn im Bereich der Moral geht es vorrangig um Einstellungen, Tugenden und Normen, also um Charaktereigenschaften oder Regeln, die einen gewissen Anspruch auf Allgemeinheit erheben. Durch diesen Abstraktionsprozess wird wiederum einiges fallengelassen, was am filmischen Inhalt für einige Zwecke wesentlich sein kann: Kontexte, Details, Besonderheiten, Persönliches. Kupfer erwähnt deren Wichtigkeit: In providing detailed, complex pseudo-biographies, movies augment more abstract philosophical analysis. Film fictions are like case studies in law, filled with the subtlety and messiness that naturally elicit attention to those loose ends of life so easily lost on the clean edges of academic theory. 10
Obwohl die verallgemeinernden Abstraktionen von den konkreten Einzelsituationen Wesentliches weglassen, stellen sie dennoch für jede philosophische Interpretation einen notwendigen Schritt dar und genügen auch völlig deren Ansprüchen, wie Kupfer einräumt: »In contrast to the particularity of narrative, philosophers must generalize, even when championing the irreducible significance of particularity in moral judgment.« 11 Für die hier interessierende Frage nach einem Verstehen bzw. einer Verständigung vor der reflektierenden Interpretation kann aber nicht auf die Konkretheit der filmischen Inhalte verzichtet werden. Hält man sich an das, was den Zuschauern in der Filmerfahrung unmittelbar vor Augen steht, dann zeigen sich die dargestellten Phänomene normalerweise gerade nicht als Beispiele, die auf eine dahinter stehende allgemeine Form oder Regel verweisen. Vielmehr werden Einzelfälle, ganz individuelle Charaktere und Situationen in Filmen erfahren – so, wie es sich ganz überwiegend in der unmittelbaren
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Wahrnehmung von nicht gefilmten Personen und Situationen verhält. Die Abstraktion von einzelnen Phänomenen mit dem Ziel, eine allgemeine Eigenschaft oder Regel hinter den Einzelfällen zu ermitteln, spielt nur aus einer speziellen Interpretationsperspektive eine Rolle. Mit diesem Punkt soll nicht behauptet werden, dass es gar nicht möglich wäre, angemessen zu abstrahieren, mit dem Ziel, korrekte und informative Regeln zuzuordnen. Dies ist sicherlich immer möglich und kann offensichtlich zu interessanten Ergebnissen führen. Im vorliegenden Zusammenhang soll aber gerade gefragt werden, welche relevanten Eigenschaften ein vorreflexiver, unmittelbarer Zugang zu filmischen Inhalten unter dem Gesichtspunkt moralischer Verständigung hat – daher muss von den im Interpretationsprozess vollzogenen gezielten Aussonderungen abgesehen werden.
VI Das Problem der Fiktion – Wahrheit und Geltung Wenn man annimmt, dass Filme zuletzt Behauptungen aufstellen – darüber, wie die Welt ist oder wie sie sein soll – dann entsteht das Problem, dass diese Behauptungen möglicherweise falsch sind (oder verfälscht, im Falle von Dokumentarfilmen). Das Problem der Fiktion besteht ganz einfach darin, dass alles in einem Film Seh- und Hörbare grundsätzlich nicht mit der Realität übereinstimmen muss, bzw. dass die im Film dargestellten Phänomene gänzlich erfunden sein können. Zumindest verfügen Zuschauer normalerweise nicht über unabhängige Kriterien, mit denen der »Realitätsgehalt« einzelner Aspekte der filmischen Darstellungen überprüft werden könnte. Was bedeutet das für die Darstellung von moralischen Phänomenen? Geht es um die Bestimmung von Einstellungen und Regeln, die dann anhand eines Vergleichs mit der Realität beurteilt werden? Wenn wir in einem Film sehen, wie ein Bösewicht nach langem Kampf schließlich vom tugendhaften Helden seiner gerechten Strafe zugeführt wird, dann wäre es offenbar Unsinn, diese Filmhandlung (bzw. die von ihr instanziierte Regel) auf ihren Realitätsgehalt zu prüfen. Die moralische Handlungsentwicklung ordnet sich dort anderen Gesichtspunkten unter. Näher liegt es, Erkenntnisse aus authentischen moralpsychologischen und emotionalen Verhaltensmustern zu ziehen. Aus dem Problem der Fiktion ergibt sich dann die Gefahr, aus vermeintlich authentischen Darstellungen tatsächlich Falsches über die Psychologie 272
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moralischer Einstellungen, Gefühle und Forderungen zu lernen. Gregory Currie beschreibt dieses Modell und dessen Gefahr so: By engaging with the characters and their situations in imagination, we may, if we are careful and lucky, enhance our moral and social sensitivities, becoming more attuned to the complexities of thought and decision, especially where they serve moral goals. But engagement with such imagined models is helpful only if the models approximate to the realities of thought and feeling. If they don’t, we are in the position of trainee pilots trying to learn on a flight simulator that fails to observe the true laws of aerodynamics. 12
Die in dieser Auffassung enthaltenen Voraussetzungen zum Verhältnis von Fiktion und Realität und zur Funktionsweise moralischer Erkenntnisgewinnung würden es ermöglichen, für Fiktionen klare Qualitätsoder sogar Zensurkriterien zu Zwecken der moralischen Erziehung einzuführen. Voraussetzung für einen echten Zuwachs moralischen Verstehens wäre die Nähe zur moralpsychologischen Realität; wo diese Nähe fehlt, könnte der erwünschte soziale und moralische Verstehensfortschritt ausbleiben – oder könnten gar negative Konsequenzen zu befürchten sein. Das Problem der Fiktion entsteht also immer dann, wenn ein korrekter Bezug zur Realität zur Voraussetzung für Erkenntnisgewinn gemacht wird. Ein Verstehen der in einem fiktionalen Werk dargestellten moralischen Phänomene würde dann als fehlgeleitet aufgefasst, wenn die Darstellungen nicht im geforderten Sinne realitätshaltig sind. Dieses Modell einer »Moral von der Geschichte« erscheint relativ einfach und möglicherweise unterkomplex. Denn wird man Filmen mit einer derartigen Untersuchung gerecht? Als Ansatz zu einer bestimmten Art moralphilosophischer Filminterpretationen mag dieser Ansatz fruchtbar sein – Kupfer spricht in diesem Zusammenhang von einer didaktischen Perspektive. 13 Und um Missverständnisse zu vermeiden schränkt Jarvie die Ansprüche ein, die eine derartige philosophische Herangehensweise erhebt: Auch wenn Filme in entscheidenden Hinsichten von der Realität abweichen, dann haben sie natürlich trotzdem auf anderen Ebenen neben dieser philosophischen noch einiges mehr Gregory Currie, »What did Balzac know?«, http://gregcurrie.com/component/con tent/article/36-thoughts-on-literature-and-philosophy/55-what-did-balzac-know.html (Stand: 01. 10. 2012). 13 Vgl. Kupfer, Visions of Virtue in Popular Film, S. 7. 12
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zu zeigen, z. B. wenn man die Aufmerksamkeit auf ästhetische, filmwissenschaftliche oder zeitgeschichtliche Gehalte lenkt. Dass die philosophischen Aussagen und Argumente von Filmen sich als falsch herausstellen können (und sich dieses Ergebnis womöglich bei den meisten Filmen ergibt) schmälert insofern nicht unbedingt ihren Wert. Das zu verkennen hieße, Bedeutung und Funktion von Filmen misszuverstehen. Die These der folgenden Überlegungen lautet hingegen, dass moralische Verständigung durch Film nicht auf diese Weise vom Realitätsbezug abhängig gemacht werden muss, sondern dass auch ein Verstehensfortschritt vor einer Reflexion über die Übereinstimmung mit der Realität angesetzt werden kann. Damit wird den Besonderheiten eines spezifisch filmischen Verstehens und damit einer filmischen moralischen (Selbst-)Verständigung Rechnung getragen.
VII Das Problem der Überzeugungskraft Einen weiteren Anknüpfungspunkt für Verstehensfortschritt bietet die Empfindung der Zuschauer für Plausibilität, Kohärenz, Authentizität, Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft eines Films. Auch wenn die filmischen Inhalte fiktiv sind und kein direkter Realitätsbezug in der Darstellung ausgemacht werden kann, so könnten sie doch als kontrafaktische Argumentationen für die Geltung bestimmter moralischer Zusammenhänge aufgefasst werden, indem deren Kohärenz und Plausibilität verdeutlicht wird. Filme argumentieren auf eine solche Weise, indem sie z. B. moralische Phänomene in konkreten Kontexten darstellen und so die Denkbarkeit, Umsetzbarkeit und Konsequenzen dieser Phänomene zeigen. Solche Argumentationen können überzeugend sein oder nicht, unabhängig davon, ob das, wofür argumentiert wird, sich so oder ähnlich in der Realität wiederfindet oder nicht. Aber selbst dieses Gefühl von Plausibilität und Überzeugungskraft, das Filme abrufen können, genügt nicht den Ansprüchen eines Verstehensfortschritts durch moralische Selbstverständigung. 14 Wenn Im Übrigen sind filmische Inhalte hinsichtlich Plausibilitäts- und Kohärenzempfindungen unterbestimmt: Auch angesichts eines überzeugend und authentisch dargestellten Sachverhalts ist nicht auszuschließen, dass eine wirkungsvolle Darstellung eines völlig gegenteiligen Sachverhalts ebenso plausibel und authentisch wirken könnte.
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ausschließlich von den gegebenen Maßstäben an Kohärenz und Überzeugungskraft der Zuschauer ausgegangen wird, dann dürften deren Einstellungen und Verstehensperspektiven nur bestätigt, aber kaum ein Prozess der Verständigung herausgefordert werden. Inkohärente und unverständliche Filme könnten nicht zu einer Selbstverständigung beitragen, sondern würden unmittelbar verworfen. Eine Auseinandersetzung und ein Verstehensfortschritt treten jedoch dann ein, wenn gegen die eigenen Plausibilitäts- und Kohärenzmaßstäbe verstoßen wird, wenn ihnen etwas Inkommensurables begegnet. Filme verfügen über die Möglichkeit, den Zuschauern neue Maßstäbe für plausible Entwicklungen und kohärente Phänomene erst beizubringen. Nicht allein in den von »außen« mitgebrachten Empfindungen der Glaubwürdigkeit, nicht in einer Beurteilung der filmischen Inhalte anhand von Vergleichen mit der außerfilmischen Realität, sondern in den Eigenschaften, Begründungen und Zusammenhängen, die uns die Filme selbst zeigen, liegt das Potential für den Verstehensfortschritt begründet. Filme können in diesem Sinne z. B. zeigen, wie Gründe funktionieren – nicht nur Gründe, die schon längst geläufig und bekannt sind, sondern solche, die unbekannt und noch unverstanden sind. Abweichende moralische Phänomene müssen in diesem Zusammenhang nicht realitätsnah oder authentisch sein: Sie im Prozess der Selbstverständigung verstehen zu lernen, ist an sich schon ein Beitrag zum Verstehen, ganz unabhängig davon, ob eine Verbindung zur Realität hergestellt werden kann. Es wird dadurch die Kompetenz moralischen Verstehens selbst gefördert, da im Falle fiktiver Darstellungen verständnisorientierte Auseinandersetzungen mit suspendierter Ernsthaftigkeit und somit aus »sicherer Entfernung« geführt werden können.
Durch diese Möglichkeit filmischer Darstellung wird deren argumentative Kraft wiederum geschmälert. Ein interessantes filmisches Beispiel für diese Unterbestimmtheit findet sich in den Filmen Smoking und No Smoking von Alain Resnais: Dort wird die Handlung nach einiger Zeit auf einen früheren Moment zurückgeschnitten, um dann durch Variationen in neue Richtungen gelenkt zu werden. Die verschiedenen Gabelungen der Handlung stehen sich in Plausibilität, Kohärenz, Authentizität und Überzeugungskraft in nichts nach. A
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VIII Identifikation mit dem Bösen Ein für die Frage nach der moralischen Verständigung besonders interessantes Phänomen bei der Filmwahrnehmung ist die häufig gezielt eingesetzte Erzeugung von Sympathie für Charaktere, deren Verhalten unzweifelhaft gegen die eigene moralische Position spricht. Da sind smarte Serienmörder, sympathische Drogenbosse und grenzüberschreitende Polizisten, mit denen man als Zuschauer mitfiebert und die man gerne jeder Gefahr entkommen sehen will, während man zugleich ihre Handlungen in der Realität aus moralischen Gründen entschieden ablehnen würde. Als Zuschauer hat man unter bestimmten Umständen keine Probleme damit, sich auf die Seite eines Charakters zu stellen (gewissermaßen »für« ihn zu sein), obwohl es einen ganz klaren Konflikt mit den eigenen moralischen Einstellungen gibt. 15 Aber gibt diese Identifikation Anlass zu moralischer Selbstverständigung, also zu einer Auseinandersetzung um des besseren Verstehens willen? Zunächst bestätigt dieses Phänomen in gewissem Maße einige der oben erwähnten Eigenschaften der Filmerfahrung: Sinnliche Eigenschaften können ein Wohlgefallen und damit verbundene Sympathie zu einem Charakter oder sogar zu einer Handlung erzeugen – man denke an die Ästhetisierung von Gewalt. Die Sympathie für moralisch schlechte Charaktere führt zugleich nicht automatisch zur Revision der eigenen moralischen Einstellungen, da in ihnen unmittelbar nicht die Regel oder die moralische Vorschrift gesehen wird, sondern die Charaktere als Einzelpersonen für sich genommen – der Beurteilungskontext ist ein anderer. Zugleich verweist diese Wirkung auf die Zuschauer im Falle des Spielfilms auf eine Funktion der Fiktion: Dadurch, dass ein Zuschauer eine Darstellung für fiktiv nimmt, wird zu einem gewissen Grad die moralische Ernsthaftigkeit suspendiert. Es wird ein Spielraum der verstehensmäßigen Auseinandersetzung eröffnet, der sich in der Realität ganz anders (oder gar nicht) entfalten würde. Es ist übrigens interessant, dass Hume genau dieses Phänomen ablehnt bzw. verleugnet: »I cannot, nor is it proper I should, enter into such sentiments; and however I may excuse the poet, on account of the manners of his age, I never can relish the composition.« (David Hume, »Of the Standard of Taste«, in: Essays Moral, Political and Literary I, Aalen 1964, S. 266–284, hier S. 282) Vgl. dazu die Diskussion von Kendall L. Walton/ Michael Tanner, »Morals in fiction and fictional morality«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplementary 68/1994, S. 27–66.
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Schließlich weist dieser Umgang mit abweichenden moralischen Einstellungen auf ein Potential zur Förderung des Verstehens hin: Die Zuschauer lernen, wie Gründe für moralisches Verhalten funktionieren könnten – und zwar nicht nur die jeweils eigenen Gründe, die sie im besten Falle schon verstehen und mit denen sie sich vielleicht schon bewusst auseinandergesetzt haben, sondern eben auch Gründe, die sie sich fiktiv zu eigen machen und die sie in der Realität in dieser Form nicht anerkennen würden. Fiktive Darstellungen können somit moralisch erkenntnisbringend sein, auch wenn die dargestellten Verhaltensmuster »falsch« oder »unrealistisch« sind. Es geht dann mehr darum zu verstehen, wie ein fiktiver Charakter handelt und warum, bzw. was er in der Erzählung tut, und nicht mehr darum, ob er auch in Wirklichkeit tatsächlich so handeln würde oder ob es mit den Beurteilungskriterien des Zuschauers übereinstimmt. Zum Abschluss möchte ich noch auf ein Konzept hinweisen, das die erhobenen Anforderungen an moralische Selbstverständigung durch Film passend erfüllen könnte.
IX »Dichtes Verstehen« als Grundlage von moralischer (Selbst-)Verständigung Wie kann eine filmische Darstellung konkreter Einzelereignisse, die nicht auf die von ihnen instanziierte allgemeine Regel hin gedeutet wird, eine Grundlage für moralische Verständigung bilden? Diese Verständigung müsste ohne Paraphrasierung, ohne Abstraktion und Verallgemeinerung und (für den Fall fiktiver Filme) ohne Wahrheits- und Geltungsansprüche funktionieren. Ein Modell für einen solchen Zugang bietet die Konzeption dichten Verstehens, wie sie von Autoren wie Gilbert Ryle, Clifford Geertz, Bernard Williams, Michael Walzer und zuletzt Maria-Sibylla Lotter entwickelt worden ist. 16 Dichtes Verstehen beruht »auf der persönlichen Vertrautheit mit den emotionalen
Vgl. Gilbert Ryle, »The thinking of thoughts. What is ›Le Penseur‹ doing?«, in: Collected Papers, Bd. 2, London 1971, S. 480–496; Clifford Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt a. M. 1983; Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosopy, Cambridge, Mass. 1985; Michael Walzer, Thick and Thin. Moral Argument at Home and Abroad, Notre Dame, Indiana 1994; Maria-Sibylla Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung, Berlin 2012. 16
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und praktischen Bedeutungen eines Begriffs«; 17 gelernt werden die Kontexte und Bedeutungsdimensionen durch intensive Erfahrung mit den jeweiligen Praktiken der Begriffsverwendungen. Die entsprechenden Begriffe sind demnach »dicht«. Dünnes Verstehen ist dagegen abstrakt; es bezieht sich auf universale, »dünne« Begriffe, die unabhängig von stark kontextgebundenen Begriffsverwendungen verstanden werden können. In Analogie zur Rede von dichten Begriffen könnte man im Bezug auf Filme von »dichten Darstellungen« sprechen. Was bringt die Auffassung filmischen Verstehens als dichtes Verstehen? Wie entsteht daraus Verständigung? Die moralphilosophische Perspektive auf Filme, wie sie von Autoren wie Kupfer eingenommen wird, besteht in der Untersuchung von Abstraktionen dichten Verstehens, also der Bestimmung universaler »Gesichtspunkte, unter denen sich dichte Begriffe […] überschneiden.« 18 Die Form moralischer Selbstverständigung durch Filme kann dann etwa so beschrieben werden: Das moralische Verstehen von Filmen ist ein dichtes Verstehen, aus dem in einem reflektierenden Schritt über Paraphrase, Abstraktion und Verallgemeinerung ein dünnes Verständnis erschlossen wird. Diese Bildung eines dünnen Verständnisses durch eine Differenzfunktion ist allerdings nur eine besondere Form moralischer Selbstverständigung durch Filme. Primär und unmittelbarer ist das dichte Verstehen selbst, noch vor der Abstraktion. Welchen Gewinn bringt das Konzept eines filmischen dichten Verstehens im Vergleich zu Kupfers und Jarvies Ansätzen einer (moral-)philosophischen Untersuchung von Filmen? Wo liegt der Unterschied zwischen dem, was Jarvie »Identifizierung und Etikettierung der philosophischen Bestandteile« 19 nennt, und dem dichten Verstehen eines Films? Der Hauptpunkt besteht in der Hervorhebung der Differenz vor dem »Zusammenpassen« mit der Realität. Moralische Selbstverständigung durch Filme muss weder darauf hinauslaufen, Ähnlichkeiten zwischen den moralischen Phänomenen im Film und solchen aus der eigenen Lebenswelt zu identifizieren, noch darauf, die filmischen Phänomene hinsichtlich ihrer Richtigkeit oder ihres »PasLotter, Scham, Schuld, Verantwortung, S. 23. Ebd. 19 Jarvie, Philosophy of the Film, S. 24: »We have to be able to identify and label the philosophical components […].« 17 18
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sens« zu beurteilen. Vielmehr kann ein Film darauf abzielen, einen anderen Kontext (eine andere »Welt«) als anderen verstehen zu lernen, ohne dass Ähnlichkeiten und vergleichende Beurteilungen stattfinden müssen. Natürlich kann die Grenze zwischen dichtem Verstehen von Filmen und der eigenen Lebenswelt nicht ganz so scharf gezogen werden, wie es hier angedeutet wird. Vieles in Filmen wird verstanden, weil die Zuschauer es aus dem eigenen Verstehenskontext kennen. Eine Untersuchung von Filmen nach dem hier entworfenen Modell moralischer Selbstverständigung durch dichtes Verstehen müsste die Übergänge im Konkreten und den damit verbundenen Verstehensfortschritt aufzeigen. Zusammenfassend ergeben sich folgende Konsequenzen. Zunächst wird durch Filmerfahrungen die Kompetenz zu dichtem Verstehen moralischer Phänomene weiterentwickelt und gefördert. Dieser Punkt ist nicht zu unterschätzen. Die Fähigkeit, abweichende moralische Einstellungen zu verstehen und mit ihnen im Vergleich zur eigenen Position umzugehen, kann durch Filmerfahrung auf komplexe und anspruchsvolle Weise ausgebildet werden. Zugleich hat diese Fähigkeit Konsequenzen für die Beurteilung der jeweiligen Zusammenhänge und der moralischen Wirklichkeit als ganzer. Dabei ist es für die Entwicklung dieser Fähigkeit relativ unwichtig, ob die Gegenstände des Verstehens realitätsnah und authentisch sind. Im Gegenteil: Gerade sehr irreale Konstruktionen dürften größere Anstrengungen zu einer Selbstverständigung erfordern, als es Darstellungen relativ vertrauter Kontexte tun – und dadurch eine stärkere Förderung der entsprechenden Kompetenz ermöglichen. Filme dicht verstehen lernen heißt in diesem Zusammenhang, ein Gefühl für Plausibilität, Authentizität und Kohärenz zu entwickeln – und nicht, eine vorher schon vorhandene Gefühlsdisposition nur zu aktualisieren. Eine moralische Selbstverständigung durch Film läuft schließlich auf einen Vergleich zwischen dem dichten Verstehen der eigenen moralischen Einstellungen und dem dichten Verstehen der dargestellten moralischen Phänomene hinaus. Dieser Vergleich muss nicht unbedingt mit Abstraktionen einhergehen. Ein Verstehen der abweichenden Kontexte wird nämlich nicht nur dadurch erreicht, dass die dünne Schnittmenge der Gemeinsamkeiten bestimmt wird, auf die dann alle abweichenden Eigenschaften bezogen werden. Das dichte Verstehen ist primär: »Dünne Begriffe sind nicht etwa universale Grundlagen von A
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dichten Begriffen« 20 – vielmehr baut das Verständnis abstrakter Begriffe erst auf dem komplexen und verstrickten Verstehen konkreter Bedeutungszusammenhänge auf. 21
Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung, S. 24; vgl. Walzer, Thick and Thin, S. 13: »Maximalism in fact precedes minimalism.« 21 Ich danke Kathrin Vogt, Brandon Woolf, Jan Kromminga, Claudio Roller und Stefan Tolksdorf für hilfreiche Diskussionen und Kommentare. 20
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Narrative Verfahren und genealogischer Blick Formen genealogischer Kritik und Verständigung bei Nietzsche und Foucault
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Zur Genealogie als literarischer Darstellungsform
Welche Form moralischer Verständigung ist eigentlich die Genealogie? Mit dieser Frage ist der Horizont des vorliegenden Beitrags zwar benannt, jedoch ist damit ebenso deutlich ausgesprochen, dass es sich hierbei nicht um eine erschöpfende Beantwortung dieser Frage handeln kann. Vielmehr sollen charakteristische und spezifische Aspekte der genealogischen Narrations- und Darstellungsform herausgestellt werden. Nach einer ersten philosophiegeschichtlichen Verortung, die sich am Phänomen des genealogischen Blicks bei Schopenhauer, Nietzsche und Foucault orientiert, sollen einige literarische Aspekte herausgearbeitet werden, die in Nietzsches und Foucaults Genealogien zum Einsatz kommen. In der Frage danach, welche Form moralischer Verständigung die Genealogie eigentlich darstellt, wird also nach deren performativer, expressiver sowie historischer Dimension gefragt. Der hier eingeschlagene Weg ist somit ein indirekter, da die Aussagen und Argumente zunächst nicht auf ihre sprachphilosophischen, erkenntnisund moraltheoretischen Eigenschaften untersucht werden, sondern das Funktionieren der moralischen Verständigung von der literarischen Form her erhellt werden soll. Der Grund für dieses Vorgehen ist in diesem Sinne experimentell, er erhält seine Berechtigung allerdings in der Sache. Denn beim genealogischen Erzählen geht es nicht primär um normative Bestimmungen von moralischen Handlungen. Neben Kritik und Entlarvung zielt die Genealogie auf die plausible Darlegung einer Entstehungsgeschichte von moralischer Identität, moralischen Praktiken und moralischen Formationen des Individuums. In ihrer Dimension als eine verstehende Deskription von sozialen Zusammenhängen unterscheidet die Genealogie zwischen Ursprung und Zwecken der Phänomene in ihrer historischen Genese. Der Einsatz rhetorischer, stilistischer und literarischer Mittel ist facettenreich und nicht von der A
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methodischen Verfahrensweise der Genealogie zu trennen. Sowohl Nietzsche als auch Foucault haben sich durch einen eigenen genealogischen Erzählstil als kreative Erfinder im Umgang mit Metaphern und Bildern hervorgetan, deren Analyse eine fruchtbare Unterscheidung zwischen allgemein-begrifflicher sowie individuell-ästhetischer Sprachdimension erlaubt.
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Dimensionen des genealogischen Blicks bei Schopenhauer, Nietzsche und Foucault
Der erste Teil meines Beitrags fasst eine zentrale Ausgangserfahrung genealogischen Denkens ins Auge, die zugleich an eine Denkfigur innerhalb des methodisch-theoretischen Verfahrens der Genealogie gebunden ist: den genealogischen Blick. Insbesondere bei Nietzsche ist das genealogische Betrachten und Schauen oftmals literarisch höchst ansprechend und kunstvoll dargestellt, eröffnet eine solche Beschreibung manchmal gar seine Bücher, wie beispielsweise in Unzeitgemäße Betrachtungen I–V. Es seien an dieser Stelle zwei Beispiele gegeben: Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. 1 In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹ : aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mussten sterben. 2
Während der genealogische Blick in der ersten Textpassage analogisch verfährt, also die Beobachtung einer Viehherde suggeriert, um eigentFriedrich Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1999, S. 243–334, hier S. 248. 2 Friedrich Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1, München 1999, S. 873–890, hier S. 875. 1
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lich den Menschen in den Blick zu bekommen, zielt der genealogische Blick im zweiten Zitat unmittelbar auf die Herstellung einer imaginären Fernperspektive ab. Nietzsches anschließender Verweis darauf, dass jemand so eine Fabel erfinden könne, ist in unserem Kontext nicht unerheblich, da hier ein stilistisches Mittel zum Vorschein kommt, das auch in der Genealogie Nietzsches sowie Foucaults eine besondere Rolle spielt: die Figur fiktionaler Verkürzung, die sich bei Nietzsches Fabel von der verlogensten Minute der Weltgeschichte auf radikale Weise wiederfindet. 3 In den zwei zitierten Beispielen kommt allerdings eine Dimension hinzu, ohne welche die kommunikative und kognitive Leistung des Gesagten nicht verstanden werden kann. Beide Textstellen nehmen den genealogischen Blick als Ausgangserfahrung und regen den Leser dazu an, ihn selbst einzunehmen. Die immanente Beziehung zum Adressaten entspricht der genealogischen Fokussierung auf das Selbst und das Subjekt als ihr privilegiertes, historisches Objekt. Ich möchte zunächst herausarbeiten, dass und in welcher Form der genealogische Blick dem Denken von Schopenhauer, Nietzsche und Foucault zugrunde liegt. Vorab kann man wohl sagen, dass innerhalb eines gedachten Kontinuums zwischen den drei Denkern Schopenhauer am wenigsten mit diesem Blick schreibt und Foucault am meisten. 4 Ich möchte nun für jeden der drei Philosophen eine repräsentative Aussage anführen, welche zeigt, dass Moralkritik und genealogischer Blick genuin zusammengehören. Dabei meine ich nicht nur, dass die drei Philosophen in ihren Schriften den genealogischen Blick auf ihre jeweilige Weise anwenden, um Moral- und Kulturkritik zu betreiben,
Zur Figur der Verkürzung in der Geschichtsschreibung vgl. auch Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1991, S. 342 f. 4 Nietzsche ist hingegen derjenige, der den genealogischen Blick als erster mittels rhetorischer und darstellerischer Mittel im Rahmen seiner genealogischen Urszenen ausgeführt hat, wenn auch der Begriff Genealogie selbst von Kant in den philosophischen Diskurs eingeführt worden ist und bei Nietzsche selbst kaum Hinweise auf die genauere Bestimmung einer eigenen genealogischen Methode zu finden sind. Vgl. hierzu die einschlägige und wegweisende Monographie von Martin Saar, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a. M. 2007, S. 188–193. Ebenso Philipp Sarasin, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a. M. 2009, S. 225 f. Foucault kommt das Verdienst zu, diese methodischen sowie darstellerischen Anfänge Nietzsches noch einmal systematisiert und an einigen Stellen perfektioniert bzw. für seinen eigenen programmatischen Ansatz fruchtbar angewendet und eigenwillig transformiert zu haben. 3
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sondern der genealogische Blick ist zudem theoretisches Postulat in der Konzeption von Menschen-, Subjekt- und Gesellschaftsbild der drei Philosophien. Zunächst ein Satz aus Schopenhauers Preisschrift Über die Grundlage der Moral, in dem der verdinglichende Aspekt im menschlichen Blick im Allgemeinen zum Ausdruck kommt: In jedem Andern ein mögliches Mittel zu unsern Zwecken, also ein Werkzeug zu suchen, liegt beinahe schon in der Natur des menschlichen Blicks: ob nun aber etwan das Werkzeug beim Gebrauche mehr oder weniger zu leiden haben werde, ist ein Gedanke, der viel später und oft gar nicht nachkommt. 5
Ganz eindeutig geht hier die Moralkritik, die bei Schopenhauer den Egoismus als stärksten Trieb des Menschen herausstellt, mit einer Verdinglichungskritik einher, ermöglicht durch den genealogischen Blick, der bei Schopenhauer als anthropologisch in der Natur bzw. in der charakterlichen Gesinnung des Menschen verankert gedacht ist. 6 In dieser Hinsicht ist es kaum verwunderlich, dass Schopenhauer eine Handlung in moralischer Hinsicht als wertlos ansieht, 7 solange sie auch nur im Geringsten noch das eigene Wohl und Wehe vor Augen hat und nicht das Wohl und Wehe des Anderen. Bemerkenswert ist an der zitierten Aussage allerdings, dass die Tendenz zur Instrumentalisierung anderer Menschen bereits im menschlichen Blick verortet wird, ein Gedanke, der unmittelbar zu Sartres existenzphilosophischem Ansatz überführt. Kommen wir nun zu einer für den genealogischen Blick repräsentativen Aussage bei Friedrich Nietzsche: Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der HerrschenArthur Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, Werke in fünf Bänden, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Bd. 3, Zürich 1988, S. 459–631, hier S. 520. 6 Die von Marx stammende Verdinglichungskritik wird in der Regel ausgehend von Lukács im Kreis der Frankfurter Schule angesiedelt, die dann von Adorno und Horkheimer bis zu Heidegger verläuft. Vergessen wird dabei, dass Verdinglichung und die Kritik an derselben ein viel älterer Topos ist und sich u. a. in der Linie von Schopenhauer über Nietzsche bis Foucault zieht. Paradigmatisch für die in der genannten Hinsicht einseitige Rezeption der Verdinglichungskritik ist Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt a. M. 2005. Aufschlussreich zur Verbindung und Verwandtschaft zwischen der materialistischen Moral- und Kulturkritik Schopenhauers und der Frankfurter Schule sind vor allem die Schriften von Alfred Schmidt, der immer wieder auf die expliziten Bezüge zwischen Schopenhauer und Horkheimer aufmerksam macht. 7 Vgl. Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 563. 5
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den zu fassen: sie sagen ›das ist das und das‹, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz. 8
Dieses Beispiel zeigt ganz gut, dass bei Nietzsche Moralkritik und Sprachkritik zusammengeführt und zum typischen Zeichen des genealogischen Blicks werden. Sprachlicher Ausdruck und Machtäußerung werden hier in eins gesetzt und in einer Theorie der Herrschenden zusammengefasst. Etwas zu benennen wird somit zu einem Akt der Eroberung, zu einem In-Besitz-Nehmen. Es ist niemand anderer als Michel Foucault, der diese Zusammenführung von Sprache, Macht und Wissen in seinem Diskursbegriff fruchtbar aufgenommen hat. Insbesondere die genealogischen Untersuchungen des mittleren und späten Foucault nehmen sich die Macht-Wissens-Komplexe als Gegenstand ihrer Analyse vor. Moralkritik bedeutet aber von Anfang an bei Foucault vor allem eines: Subjektivierungskritik. Die Subjektivierung kann als genealogische Denkfigur aufgefasst werden, in der das Individuum Subjekt und Objekt des Unterwerfungsprozesses ist. Am Beispiel der Prüfung möchte Foucault diesen Vorgang in der Alltagserfahrung der Subjekte verorten: Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie [sc. die Prüfung] die subjektivierende Unterwerfung jener, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden. 9
Der genealogische Blick ist bei Foucaults Denkfigur der Subjektivierung in gewisser Hinsicht am stärksten ausgeprägt, da nun grundsätzlich jede Form von Subjektwerdung, Subjektprägung – und dies bedeutet im Prinzip jede Form von Identitätsbildung – als ein Unterwerfungsprozess unter eine Macht und als Subjektwerdung aufgefasst wird. Deutlich wird dies auch in der foucaultschen Bestimmung des Diskurses als »Gewalt […], die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen.« 10 Die Genealogie des Selbst ist somit bei Foucault, ebenso wie bei Nietzsche, an eine Machttheorie gebunden. Bei allen drei Denkern führt der genealogische Blick zu einer kritischen Verallgemeinerung. Für Schopenhauer ist das instru8 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 5, München 1999, S. 245– 412, hier S. 260. 9 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1994, S. 238. 10 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1991, S. 34–35.
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mentalisierende Moment des Menschen bereits im Blick zu suchen, Nietzsche sieht in jedem Sprachakt einen Machtausdruck, und Foucault stellt wiederum jede Form von Subjektwerdung unter die Vorzeichen produktiver Macht sowie diskursiver Unterwerfung.
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Moralkritik und ihre historische Dimension bei Schopenhauer, Nietzsche und Foucault
Ich möchte nun kurz auf einige wesentliche Aspekte der Moralkritik bei den drei Denkern eingehen, wobei einige spezifische Diskurselemente der Moralkritik selbst in ihrer Entwicklung von der Schopenhauerschen Moralkritik zur genealogischen Kritik sichtbar werden sollen. Trotz offensichtlicher Unterschiede wird sich herausstellen, dass Schopenhauers Schriften einige Keimzellen für die weitere Moralkritik bereithalten. Obwohl Schopenhauer generell nur wenig von historischer Analyse hielt, hat er bei der Suche nach einer Begründung von Moral den historischen Blick nicht gescheut. Sein »Rückblick[.] auf die seit mehr als zwei Tausend Jahren vergeblich gemachten Versuche, eine sichere Grundlage für Moral zu finden«, 11 lässt ihn allerdings nicht daran zweifeln, dass die Welt moralisch ist, wenn sich Moral-Begründung auch in der Regel »als eine bloße Verkleidung der theologischen Moral erweist.« 12 Seine Hauptkritik zielt darauf, die religiöse (d. h. die christliche) Moral sei auf egoistische Motive zurückführbar. 13 In dieser Hinsicht verweist Schopenhauer jedoch bereits auf Holbach, Helvetius und d’Alembert, die moralisches Handeln bereits als egoistisches Handeln entlarvt hatten. Dennoch setzt sich Schopenhauer das ambitionierte Ziel, den echten Wert einer moralischen Handlung zu bestimmen, d. h. eine nicht- bzw. unegoistische Handlung, die allein das Wohlergehen und Leid anderer im Auge hat. 14
Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 542. Ebd., S. 541. 13 Vgl. ebd., S. 558 und 592. 14 Schopenhauer drückt dies auch mit anderen Worten in Bezug auf Vollzug und Unterlassen einer Handlung aus: »Dieser Zweck allein drückt einer Handlung, oder Unterlassung, den Stämpel des moralischen Werthes auf; welcher demnach ausschließlich darauf beruht, dass die Handlung bloß zu Nutz und Frommen eines Andern geschehe, oder unterbleibe« (ebd., S. 564). 11 12
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An diesem Punkt wird bereits der erste entscheidende Bruch zwischen Schopenhauers Ausgangspunkt auf der einen und dem genealogischen Unternehmen Nietzsches und Foucaults auf der anderen Seite deutlich: Schopenhauer vertritt die Position, dass ohnehin jede Moral ein- und denselben Grund hat, denn so schreibt er in seiner Kritik am obersten Grundsatz der Kantischen Ethik, dass Kants oberster Grundsatz auch nur »eine Prämisse« darstellt »zu der Konklusion, die der letzte wahre Zielpunkt aller Moral und alles Moralisierens ist: Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva: welcher Satz, wie alles Schöne, sich nackt am besten ausnimmt.« 15 Während diese Art zu denken sicherlich ihren ganz eigenen Reiz hat und zudem mit einem klaren Anspruch auf Wahrheit verbunden ist, verhält es sich bei Nietzsche und Foucault anders und gerade in Bezug auf den Wahrheitsstatus uneindeutiger. Bei dem genealogischen Verfahren geht es gerade nicht wie bei Schopenhauer um eine positive Bestimmung von moralischen Handlungen, geschweige denn um das Bewerten von deren möglichem letzten und wahren Zielpunkt. Nach Nietzsche sind historische Dinge schlichtweg nicht definierbar, wozu er freilich auch die Zwecke moralischer Handlungen zählt. Der Wahrheitsanspruch, der bei Schopenhauer trotz historischer Perspektive in den Vordergrund tritt, wird in Nietzsches historischer Betrachtung zur fiktionalisierenden und kommunikativen Leistung des Wahrscheinlichen verschoben, wie etwa auch Martin Saar unter Berufung auf Roland Barthes bestätigt. 16 Auch bei Foucault geht es letztlich um Wahrheitseffekte, welche zwar von historischen Stimmen hervorgerufen werden, in welchen jedoch niemals die Wahrheit ausgesprochen werden kann, da dies mit deren historischer Ereignishaftigkeit kollidieren und einen vermeintlich kontinuierlichen Fortschritt im Gang der Geschichte unterstellen würde. 17 Zwar werden in den Genealogien Nietzsches und Foucaults verschiedene Zwecke moralischer Praktiken und Handlungen in ihrer Herkunftsgeschichte entlarvt, jedoch geht es hierbei meist um eine spezifische Moralpraxis in ihrer historischen Bedeutung sowie um ein kritisches Darstellen dieser historischen Formation und Ausprägung. Ebd., S. 519. Vgl. Saar, Genealogie als Kritik, S. 135. So argumentiert aber auch Hans Robert Jauß, allerdings ohne Bezug auf Nietzsche, für die wesentliche Funktion des Wahrscheinlichen im Verhältnis von Fiktion und Geschichtsschreibung schlechthin. Vgl. ders., Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 324–331. 17 Vgl. Sarasin, Darwin und Foucault, S. 222–223. 15 16
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Dies schließt insbesondere bei Nietzsche keine globale Sichtweise auf die historische Genese der Moral aus, im Gegenteil bewirkt der genealogische Blick aus der Ferne eine ständige Spannung zwischen Anonymisierung und Personalisierung, so dass nichtpersonale Mächte in der genealogischen Darstellung als Figuren und personale Gestalten auftreten und so andererseits historische Bewegungen als epochale sowie globale Machtinstanzen erscheinen können. 18 Nur so kann Nietzsche beispielsweise die Selbstverkleinerung des Menschen als die eigentliche Wirkung der Mitleidsmoral herausstellen. Nur so »erscheint selbst der ›Sklavenaufstand der Moral‹ als das, was er nicht ist: ein historisches Ereignis.« 19
IV Das Tier, das versprechen darf! Genealogien des Gewissens und der Strafe bei Nietzsche und Foucault Ich möchte nun auf einige zentrale Passagen aus der Genealogie der Moral zurückgreifen, um daran das genealogische Verfahren Nietzsches zu verdeutlichen. Nietzsches berühmter Ausspruch »Ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf«, 20 steht nicht nur in einem engen Zusammenhang mit der historischen Bedeutung und Genese von Gedächtnis und Gewissen, er hat auch Foucault in seinem Denken maßgeblich beeinflusst. 21 Was aber ist nach Nietzsche erforderlich, damit von einem Tier, das versprechen darf, die Rede sein kann? Nichts Geringeres als ein Gedächtnis als Gegenvermögen zur Kraft der Vergesslichkeit, aus dem die Geschichte der Verantwortlichkeit entstanden ist. Und damit nicht genug: »was von mir ›Sittlichkeit der Sitte‹ genannt worden ist«, so Nietzsche, »die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts«, hat dazu geführt, dass der Mensch berechenbar wurde: »der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirkZu diesen Verfahren der genealogischen Darstellungsweise bei Nietzsche vgl. auch Saar, Genealogie als Kritik, S. 137–138. 19 Ebd., S. 136. 20 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 291. 21 Vgl. hierzu vor allem Foucaults Vorlesungen zur Gewissensleitung und Seelenführung im Rahmen seiner Analyse des Pastorats als Geschichte der Gouvernementalität: Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt a. M. 2006, S. 173–238. 18
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lich berechenbar gemacht.« 22 So viel zum Anfang, zur entscheidenden Urszene des ungeheuren Prozesses der Gewissensgenese in Nietzsches Genealogie der Moral. Am Ende des historischen Prozesses wird die Sittlichkeit der Sitte aber wieder überwunden, das souveräne und autonome Individuum, das von sich aus auszeichnet oder verachtet, das aus sich heraus seine Werte schöpft, erhält nach Nietzsche das Bewusstsein einer seltenen Freiheit, nämlich »das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit.« 23 Dieses Bewusstsein und Wissen seiner eigenen Selbstbeherrschung wird Nietzsche zufolge mit dem Gewissen identifiziert. Im Übrigen befindet sich Nietzsche hierbei im Fahrwasser Schopenhauers, der das Gewissen folgendermaßen kritisiert hat: Mancher würde sich wundern, wenn er sähe, woraus sein Gewissen, das ihm ganz stattlich vorkommt, eigentlich zusammengesetzt ist: etwan zu 1/5 Menschenfurcht, 1/5 Deisidämonie, 1/5 Vorurtheil, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit: so daß er im Grunde nicht besser ist als jener Engländer, der geradezu sagte: I cannot afford to keep a conscience […]. 24
Was Schopenhauer an dieser Stelle in anthropologisch-psychologischer Manier analysiert, trägt für Nietzsche wiederum eine lange und eigene schmerzvolle Geschichte zwischen Schuld-, Pflicht- und Leiderfahrungen, die sich tief in das Gedächtnis eingebrannt haben. So verweist er auf die Strafen, die in Deutschland ausgeübt wurden, wie das Steinigen, das Rädern, das Werfen mit dem Pfahle und das Vierteilen, das Sieden des Verbrechers in Öl und Wein usw. Ein wesentlicher Zweck des Strafens für die Entwicklung des Versprechens, welcher dem des Abschreckens doch stark verwandt scheint, ist dabei für Nietzsche folgender: Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs ›ich will nicht‹ im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Versprechen gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societät zu leben, – und wirklich! Mit Hülfe dieser Art von Gedächtniss kam man endlich ›zur Vernunft‹ ! 25
Es steht außer Zweifel, dass Foucault exakt an diese antihumanistische Sichtweise auf die Errungenschaften der Aufklärung anknüpft und in 22 23 24 25
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 293. Ebd., S. 294. Schopenhauer, Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 548. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 296 f. A
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seinem Werk Überwachen und Strafen im Detail aufzeigt, »wie viel Blut und Grausen […] auf dem Grund aller ›guten Dinge‹ [ist]!« 26 Dabei geht Foucault allerdings ein Stück weit über Nietzsche hinaus, da er eine Zäsur zwischen den Bestrafungsprozeduren bis weit in das 18. Jahrhundert hinein und dem Einsetzen neuer Disziplinartechniken um 1800 annimmt, um aufgrund einer neuen Periodisierung das Entstehungsbild der Disziplinargesellschaft nachzuzeichnen. Ebenso wie Nietzsche geht es Foucault dabei nicht darum, die Strafpraxis auf einen Zweck zu reduzieren, es geht ihm um das Aufzeigen von Brüchen innerhalb der Geschichte der Strafe, die als eine unendlich »fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen« 27 aufgefasst wird. Insbesondere für Nietzsche ist die Kette der möglichen Funktionen, welche eine Strafe innehaben kann, eine nicht abzuschließende. Die Strafe gehört ihm zufolge zu jenen Phänomenen mit Geschichte, die nicht definiert werden können. 28 Die Einsicht in die permanente Möglichkeit der Veränderung von Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit der Strafe – für Nietzsche gilt dies für ein historisches Ding schlechthin – macht ihm zufolge den Hauptgesichtspunkt der historischen Methodik aus. 29 Nietzsche grenzt sich dabei von einem reduktionistischen Verständnis von Wachstumsprozessen ab. Er kritisiert eine populäre sowie naturwissenschaftliche Auffassung von Fortschritt. Dennoch weist Nietzsche mehrfach und mit großer Nachdrücklichkeit auf den Zusammenhang von Grausamkeit und Festfreude in der älteren und ältesten Menschheitsgeschichte hin: »auch an der Strafe ist so viel Festliches!« 30 Für unseren Kontext seien aus Nietzsches unvollständiger Liste einiger Funktionen der Strafe zwei hervorgehoben, die auch für Foucaults genealogische Untersuchung des Gefängnisses immanente Bedeutung haben:
Ebd., S. 297. Ebd., S. 314. 28 »Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, warum eigentlich gestraft wird: alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definierbar ist nur Das, was keine Geschichte hat« (ebd., S. 317). 29 Wesentlich ist hierbei das Verständnis von Fortschritt, das Nietzsche an dieser Stelle expliziert. Ebenso die Beziehung von Ganzem und Einzelnem ist bezeichnend im Wachstumsprozess: »mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der ›Sinn‹ der einzelnen Organe« (ebd, S. 315). 30 Nietzsche diagnostiziert eine »wachsende Vergeistigung und ›Vergöttlichung‹ der Grausamkeit« (ebd., S. 301). 26 27
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Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich niedergeworfenen Feindes. Strafe als ein Gedächtnissmachen, sei es für Den, der die Strafe erleidet – die sogenannte ›Besserung‹, sei es für die Zeugen der Exekution. 31
Foucault, der in seinem Buch Überwachen und Strafen an exakt diese Funktionsbenennungen anknüpft und diese zu genealogischen Beschreibungen ausweitet, tut dies unter Rückgriff auf historische Dokumente, Akten und Texte aus Justiz, Wissenschaften und Gesetzeswesen. Er erweitert und aktualisiert damit die Nietzscheanische globale Periodisierung der Geschichte. So kommt Foucault zu der These, dass im 18. Jahrhundert »ein neues Zeitalter« 32 für die Strafjustiz anbricht. Wenn Nietzsche von einer vermeintlich notwendigen Selbstüberwindung der Moral spricht, so besteht Foucaults Diagnose von der Umwandlung der Strafpraxis in einer regelrechten Selbstüberwindung der Marter. Um die Zäsur zwischen den Bestrafungsmethoden der Souveränitätsmacht und denen der Disziplinarmacht darzulegen, gebraucht Foucaults Genealogie einen facettenreichen und multifunktionalen Begriff des Technologischen.
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Das Begriffsfeld der Technik als narrative Serie
Insgesamt lassen sich drei große Begriffsfelder ausmachen, die bei Foucault die ganze Studie hindurch in Gebrauch sind: Technik, Strategie und Ökonomie. 33 Man kann sogar beobachten und behaupten, dass sich die Begriffe eines Feldes in Serien einteilen lassen. So bilden die Begriffe Maschine – Mechanismus – Apparat in ihrer Betonung des Mechanischen eine narrative Serie ebenso wie Dispositiv – Programm – Instrument in ihrem technisch-instrumentellen Charakter. Aus demselben Wortfeld stammt auch die narrative Serie Technik – Technologie – Diagramm. Auf der anderen Seite findet man im strategischen BeEbd., S. 318. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 14. 33 Neben diesen drei zentralen Bereichen lassen sich aber auch noch andere Wortfelder bei Foucault finden. Zum Beispiel gibt es narrative Serien wie Organismus – Körper – Funktion, die aus dem Begriffsfeld des Organismus stammen. Oder aber geometrische Begriffe, wie Linie – Kurve – Vektor – Diagramm, die vor allem Deleuze ins Zentrum seiner Untersuchung der kartografischen Darstellung Foucaults stellt. Es finden sich auch Begriffe aus der Geographie, wie beispielsweise der Kerker-Archipel. 31 32
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griffsfeld die Serie Disziplin – Dressur – Übung – Prüfung wie Formation – Manöver – Taktik. Im ökonomischen Raster findet sich beispielsweise häufig die Verwendung der Begriffe Effizienz – Optimierung – Produktionssteigerung – Wertschöpfung. Neben den großen Serien, die im kartografischen Denken Foucaults gewissermaßen die großen Fix- und Markierungspunkte darstellen, gibt es auch kleinere, narrative Serien. 34 Sie geben der Landkarte ihr ästhetisches Panorama, sie verleihen dem Denken auf der Landkarte Farbe und Klang. In ihrem technischen, strategischen und ökonomischen Raster bilden die narrativen Serien selbst Linien und Wege. Sie sind narrativ, da sie der kartografischen Landkarte ihre erzählerische Kraft verleihen. Sie sind zugleich ästhetisch, indem sie die Hintergrundfarbe und Hintergrundgeräusche des Denkens auf der Landkarte erzeugen. Wenn Foucault am Ende des Buches vom »Donnerrollen der Schlacht« 35 spricht, das im Fabrikationsprozess der Disziplinarindividuen nicht zu überhören sei, dann ist dieses Donnerrollen dank der narrativen Serien hör- und wahrnehmbar. Phänomenologisch gesprochen bauen die Begriffe der narrativen Serien eine Atmosphäre auf und wirken auf diese Weise auf den Erkenntnis- und Rezeptionsprozess beim Lesen ein. Die Verknüpfung von visueller und akustischer Dimension wird bereits zu Beginn hergestellt, wenn nach den anschaulichen historischen Berichten die gesellschaftlichen Beziehungen als Räderwerke 36 und die Seele als Zahnradgetriebe 37 beschrieben werden. Die Wirkung der narrativen Begriffe ist aber nicht auf stilistische oder ästhetische Elemente reduzierbar. Die narrativen Serien haben erkenntnisstiftende, methodische und ästhetische Aspekte. So sorgen sie erstens für Kontinuität und bilden die verbindenden Elemente zwischen den diskontinuierlichen Praktiken und Strafmethoden. Instrumente und Apparate gibt es sowohl bei den Martern und peinlichen Strafmethoden wie auch bei den verfeinerten und lautloseren ApparaDie von mir so genannten narrativen Serien tauchen bei Foucault nicht in systematischen Zusammenhängen mit systematischer Bedeutungsstruktur auf. Sie sind vielmehr durch Regelmäßigkeit, Ersetzbarkeit und polymorphe Bedeutungswechsel ausgezeichnet. Ihr Gebrauch geschieht regelmäßig. Auf der semantischen Ebene arbeiten die Begriffe vor allem mit einem Prinzip der Ähnlichkeit, innerhalb derer sie prinzipiell austauschbar werden. 35 Ebd., S. 397. 36 Ebd., S. 38. 37 Ebd., S. 42. 34
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ten und Maschinen der Disziplinarmacht: In allen Fällen handelt es sich um Technologien und technische Verfahren. So sind insbesondere der Begriff der Technologie und das gesamte Begriffsfeld der Technik Ausdruck einer neuen Form von Kontinuität. Mit Deleuze gesprochen bilden sie eine Einheit »ohne Analogie oder Homologie, ohne Einstimmigkeit, aber mit einem neuartigen Typus möglicher Kontinuität.« 38 Man könnte hierbei auch von einem Ähnlichkeitsverhältnis anstelle von Kontinuität sprechen. Die Begriffe Apparat, Technologie und Maschine sind durch semantische Ähnlichkeit ausgezeichnet, da sie von Foucault synonym verwendet werden, dabei aber dennoch ihre differenten semantischen Konnotationen behalten. 39 In dieser Hinsicht sind die narrativen Serien operationale Beschreibungskategorien, die methodische und weniger historische Gründe haben. Sie artikulieren sich zugleich in der literarischen Form als sicht- und hörbar machende Elemente. Mit dieser ersten Funktion werden nicht nur die technischen Strafverfahren des Ancien Régime sicht- und hörbar gemacht: »Es bleibt also ein ›peinlicher‹ Rest in den modernen Mechanismen der Kriminaljustiz – ein Rest, der nicht ganz überwunden wird, der aber immer mehr in ein Strafsystem des Körperlosen integriert wird.« 40 Kein Leser kann dieses Postulat in Foucaults Text überhören oder -sehen, denn es ist ein sehr ähnliches begriffliches Instrumentarium, mit welchem die beiden Machttechnologien beschrieben werden. Die zweite und vielleicht wichtigere Funktion der narrativen Serien besteht in der Fusion der Felder, Praktiken, Institutionen und Objekte. So kann Foucault in einem Atemzug von einer neuen Anatomie, Physik, Mechanik und Ökonomie der Macht sprechen. 41 Auf der Ebene der narrativen Serie zeigt sich dies in der Fusion und Neuzusammensetzung der Begriffe aus unterschiedlichen Rastern. So spricht Foucault beispielsweise von Wissensapparat, Produktionsapparat, Machtmaschinerie, Technopolitik und Mikrophysik der Macht, indem er zwei Begriffe aus zwei Feldern zu einem Wort zusammenschließt. Bei anderen Begriffen, wie Dispositiv und Formation, handelt es sich wiederum um Termini, die ohnehin und explizit in verschiedeGilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a. M. 1992, S. 40. Zur Funktion technologischer Synonyme als Einkreisung eines unmöglichen Eigennamens bei Foucault vgl. auch Michel de Certeau, Theoretische Fiktionen: Geschichte und Psychoanalyse, Wien 2006, S. 141. 40 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 25. 41 Vgl. ebd., 116. 38 39
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nen Feldern zur Anwendung kommen. Während die Formation insbesondere im militärischen und geografischen Begriffsfeld gebraucht wird, findet sich der Dispositivbegriff im Französischen »vornehmlich in juristischen, medizinischen und vor allem militärischen Kontexten.« 42 Das Dispositiv ist ein genuin strategisch-technischer Begriff, da es auch auf der semantischen Ebene die materiellen und technischen Vorkehrungen bezeichnet, »die es erlauben, eine strategische Operation durchzuführen.«43 So wie Technik und Strategie in Foucaults Machttheorie nicht zwei getrennte Modelle sind, so sind es auch nicht Technik und Ökonomie. 44 Es gibt den Wissensapparat, den Produktionsapparat und den Strafapparat. Und schließlich ist »der Verwaltungsapparat […] gleichzeitig eine Gesinnungswandelmaschine.« 45 Die Gleichmäßigkeit der Macht findet ihren sprachlichen Ausdruck und ihre wiederholbare Materialität in der »Automatik der Gewohnheiten«. 46 Die Überkreuzung und Überlappung des technischen und strategischen Rasters zeigt sich auch an der Politisierung des Körpers. Im Mittelpunkt der mikrophysischen Machtmechanismen soll der »politische Körper« als »Gesamtheit der materiellen Elemente und Techniken« angesehen werden, »welche als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Stützpunkte den Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Körper besetzen und unterwerfen, indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen.« 47 Die politisch-strategische Besetzung des Körpers ist aber auch hier ohne ihren ökonomiThomas Krämer, Die Ökonomie der Macht. Zum Ökonomiebegriff in Michel Foucaults Spätwerk (1975–1979), Marburg 2011, S. 43. 43 Ebd., S. 43. Krämer bezieht sich hierbei auf die Anmerkung der Übersetzer Raulff und Seitter in Michel Foucault, Die Hauptwerke, Frankfurt a. M. 2008, S. 1044. 44 In diesem Sinne ist die Beobachtung von Petra Gehring richtig, dass »Foucaults prozessorientiertes Denken […] seine spezifische Präzision in Sachen ›Macht‹ durch die Mischfarben, die sich aus der Arbeit mit beiden Wortfeldern ergeben«, gewinnt. Vgl. dies., Foucault. Die Philosophie im Archiv, Frankfurt a. M. 2004, S. 139. Bei ihrer besonderen Hervorhebung der Wortfelder Technik und Strategie vernachlässigt Gehring allerdings andere entscheidende Wortfelder, wie beispielsweise die Ökonomie und die Geologie. 45 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 162. 46 Ebd., S. 173. 47 Ebd., S. 40. Für eine besonders herausragende thematische Ausweitung und historische Fundierung des Körperdiskurses im 19. Jahrhundert, der im Zusammenhang mit dem auf mechanistischen und disziplinären Reizmodellen basierenden Hygienediskurs genealogisch entwickelt wird, vgl. Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765–1914, Frankfurt a. M. 2001. 42
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schen Aspekt nicht zu denken. Sie ist an seine ökonomische Nutzung gebunden, indem er mittels »Beschlagnahme« in den Produktionsprozess eingereiht wird. 48 Der strategische und ökonomische Imperativ gehören zusammen; zusammengehalten werden sie von der Ähnlichkeit ihrer technischen Verfahren, von derselben Machttechnologie, die ihnen zugrunde liegt. In diesem Sinne ist also die Technik bzw. die Technologie das verbindende Element zwischen Strategie und Ökonomie. Die Logik der Technik ist die grundlegende Kategorie, die Foucault bis zu den Selbsttechniken aufrechterhalten, variieren und ausbauen wird, während er zur Logik des Kampfes und Kampfmetapher mehr und mehr auf Distanz geht. 49
VI Die Mikrotechniken als Problem zwischen Gegenstand und Form der Darstellung Das »große Buch vom Menschen als Maschine« 50 von Descartes und La Mettrie wird mit Foucaults Überwachen und Strafen zum großen Buch von der Gesellschaft als Maschine umgeschrieben. Die Fusion von technischen und strategischen Terminologien und Bildfeldern ist auffallend und gehört genuin zur Entfaltung des foucaultschen Machtbegriffs. Dieser ließe sich ohne diese Dimensionen schlichtweg nicht denken. Michel de Certeau hat in diesem Sinne Recht, wenn er kritisch Vgl. zur Beschlagnahme Thomas Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg, Berlin 1997, S. 76. 49 Die strategische Dimension der Macht und die damit zusammenhängende Logik der Schlacht mögen für Foucaults Denken insgesamt wirkmächtiger gewesen sein als die technische Dimension, zumal sie in der Tradition Nietzsches stehen und somit bereits eine philosophiegeschichtliche Bedeutung haben. So behauptet Petra Gehring, dass das »Paradigma […] des Kampfes und der strategischen Logik« das wichtigere von beiden sei (vgl. Foucault, S. 124). Zwei Dinge sprechen gegen diese Auffassung: Einerseits distanziert sich Foucault mehr und mehr von der Kampfmetapher. Andererseits ist das technische Raster in Überwachen und Strafen als operationale Beschreibungskategorie grundlegender, da sie als Schnittstelle zwischen dem Paradigma der Technik und dem der Ökonomie vermittelt. Die Analyse anhand von technischen Verfahren ist daher die grundlegendere Methodik und wird als operationale Kategorie zudem bis zu den diversen Selbsttechnologien der Subjekte durchgängig verwendet. Zur These, dass Foucault bereits in früheren Schriften zu den Cartesischen Meditationes die Übung der Erkenntnisprüfung als Selbsttechnik begriffen hat, vgl. Sarasin, Darwin und Foucault, S. 163– 168. 50 Foucault, Überwachen und Strafen, S. 174. 48
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bemerkt, dass die Isolierung einiger Straf- und Disziplinarpraktiken »dazu dienen [soll], die spezifische Dynamik einer bestimmten Technologie zu verstehen.« 51 Certeau meint hierin eine Taktik zu erkennen, »die Foucaults Theorie mit demselben Fabrikationscode [versieht] wie die Praktiken, die er analysiert.« 52 Zwar zeige Foucault damit zugleich, dass auch der geisteswissenschaftliche Diskurs selbst von technischen Verfahren bestimmt werde. Aber seine Analyse beruhe dennoch auf einer »ähnlichen Maschinerie wie die, deren Funktionsweise er aufgezeigt hat.« 53 Certeau oszilliert zwischen Kritik und Bewunderung, wenn er über angebliche Zirkularität von Foucaults theoretischen Taktiken schreibt: Diese Theorie ist eine Erzählung, die ähnlichen Regeln gehorcht wie die panoptischen Verfahren. Es gibt also keinen epistemologischen Bruch zwischen dem theoretischen Text und den Mikrotechniken: In dieser Kontinuität liegt die Neuheit von Foucaults philosophischem Werk. 54
So sehr die einzelnen Beobachtungen mit einem scharfsinnigen und ästhetisch geübten Auge Certeaus einen wichtigen Aspekt von Foucaults Vorgehen in Überwachen und Strafen aufdecken, so wenig muss man seiner einseitigen Schlussfolgerung zustimmen, dass sein Vorgehen ein methodisches Vergehen sei. Auf einer ersten Ebene wirft Certeau dem Kollegen vor, dass seine Theorie den Mikrotechniken nicht entkomme, die sie beschreibt. »Sie bildet vielmehr einen Effekt und das Netzwerk dieser Techniken selbst.« 55 Grund für diese Kritik und Sichtweise ist ein einfacher: Certeau betrachtet die Mikrotechniken vor allem als das, was die Theorie erzeugt und nicht als ihr Objekt. »Die Frage betrifft dann nicht länger die Verfahren, die Überwachungs- und Disziplinierungssysteme organisieren«, so Certeau, »sondern jene Verfahren, die Foucaults Text selbst hervorbringen.« 56 Damit reduziert und vereinseitigt Certeau allerdings den Blick auf die theoretische und textuelle Konstruktionsleistung der analysierten Gegenstände. Foucaults Praktiken werden so zu selbsterzeugten Spiegelbildern und verlieren jeglichen Anspruch auf Wirklichkeit. Dabei 51 52 53 54 55 56
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verkennt Certeau allerdings ihren Wahrheitsgehalt ohne Totalitätsanspruch einerseits und die Überlegenheit und Flexibilität des genealogischen Blicks andererseits. Die Mikrophysik der Macht in Überwachen und Strafen ist aber kein »ausgeklügeltes Rezept«, das sich auf eine Kontinuität zwischen Inhalt und Methode reduzieren und dann zugunsten einer sich selbst organisierenden Produktion des Diskurses und seiner Regeln abtun lässt. Es scheint, dass Certeau hier den rhetorischen und literarischen Kunstfertigkeiten Foucaults auf den Leim geht. Es stimmt zwar, dass Foucault uns eine andere und neue Form der Theoriebildung liefert, »die die literarische Geste dieser Verfahren selbst darstellt.« 57 Die Kontinuität zwischen Methode und Selbstdarstellung besteht aber zunächst nur auf der literarischen Ebene, wie hier an den narrativen Serien aufgezeigt. Es wäre ein Fehlschluss, auf dieser Basis eine geschlossene Kontinuität und hermetische Einheit für die gesamte Theorieproduktion zu behaupten, in der die Theorie ausschließlich von den panoptischen Verfahren produziert wird. Certeau selbst weist auf die Tatsache hin, dass die von Foucault analysierten Verfahren spezifische Machteffekte ausüben. 58 Die Machteffekte müssen allerdings nach Foucault, wie gesehen, nicht notwendig der gleichen Logik folgen wie die technologischen Verfahren, die sie ausgelöst haben. Foucault zeigt eben nur singuläre Fälle, in denen dies der Fall ist. Im Umkehrschluss behauptet er aber eben an keiner Stelle, dass dies allgemein der Fall sei. Nichtsdestotrotz war die Kritik an einer heimlichen und hermetischen Interdependenz zwischen Darstellungsmethode und Gegenstand in Foucaults historischer Studie unter Historikern weit verbreitet, wie beispielsweise an der Kritik des deutschen Historikers Detlev J. K. Peukert deutlich wird. 59 Die Rede gegen einen Ebd., S. 150. Vgl. ebd., S. 146. 59 So kritisiert Peukert Foucaults Darstellungsmethode mit einem Argument, das mit demjenigen von Certeau identisch ist: »Deshalb gilt: so anregend die Theorien Foucaults, so unbefriedigend ihr Reduktionismus auf den globalen Diskurs der Disziplinierung. Es drängt sich dem Historiker der Verdacht auf, dass hier Foucaults Darstellungsmethode und sein Gegenstand eine merkwürdige Wahlverwandtschaft eingegangen sind. Sein Werk unterliegt über weite Strecken eben jenem methodischen Hermetismus der modernen Vernunft, den es so unvergleichlich aufgedeckt hat. Die Diskursanalyse droht, den hermeneutischen Zirkel selbst zu hermetisieren. Da ihr nicht der Gegenstand des Historikers im Mittelpunkt steht, sondern der historische Diskurs über einen Gegenstand, droht die Quellenauswahl (und wir unterliegen nicht der Illusion, alle Quellen berücksichtigen zu können) selbst von der Bedeutung der Quelle für den interes57 58
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»Fatalismus des Kritikers, der die geschlossene Totalität dieser Pläne so minutiös rekonstruiert, bis er selbst in ihren panoptischen Strukturen rettungslos gefangen ist«, 60 ist Teil einer Reihe von Missverständnissen und einseitigen Fehlinterpretationen, denen Foucaults Werk insbesondere im deutschsprachigen Raum über eine längere Zeit ausgesetzt war. 61 Diese Kritik zeigt aber auf der einen Seite ein Unverständnis der genealogischen Methode und Perspektivik, die in Foucaults Werk zum Einsatz kommt. Auf der anderen Seite bedient sie sich eines Arguments, das eigentlich nur die konstruktivistische Wirkung einer jeden Methode auf ihr theoretisches Konstrukt aufzeigt. Es gibt keine Theorie, deren Gegenstand ohne Einfluss auf ihre eigene Konstruktion bleibt. Während Certeau als Kritiker Foucaults auch dessen rhetorische Kunst hervorzuheben wusste, scheint er zudem die Haltlosigkeit der eigenen Kritik selbst erkannt zu haben, wenn er auf eine immanente Spannung in der kritisierten Kontinuität hinweist: Doch auf einer zweiten Ebene ist dieser panoptische Diskurs nur mehr eine Bühne, auf der eine narrative Maschinerie unsere siegreiche panoptische Epistemologie umkehrt. Daher kommt es in Foucaults Buch zu einer Spannung zwischen seiner historischen These (dem Siegeszug des panoptischen Systems) und seiner eigenen Schreibweise (der Subversion des panoptischen Diskurses).62
Die Kontinuität ist nur eine Dimension in Foucaults Methode und lässt sich am besten an den eben vorgestellten narrativen Serien – insbesondere am Begriffsfeld der Technik – erkennen. Der genealogische Blick sierenden Diskurs bestimmt zu werden.« (Detlev J. K. Peukert, »Die Unordnung der Dinge. Michel Foucault und die deutsche Geschichtswissenschaft«, in: Francois Ewald/ Bernhard Waldenfels [Hrsg.], Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M. 1991, S. 320–333, hier S. 330). 60 Ebd., S. 330 f. 61 Die wirkmächtigsten Kritiken im deutschsprachigen Raum fand das Werk Foucaults mit den Stimmen von Jürgen Habermas und Axel Honneth. Neben der Kritik an dem methodischen Vorgehen, das als scheinwissenschaftlich bezeichnet wurde, kritisierten Habermas und Honneth vor allem die vermeintliche Auslöschung des Subjekts. Es hat einige Jahre gedauert, bis letzterer seine Kritik relativiert und die Verdienste, die einseitigen Rezeptionen und Missverständnisse des foucaultschen Werks in den 80er Jahren der Bundesrepublik hervorgehoben hat. Vgl. hierfür vor allem Axel Honneth, »Foucault und die Humanwissenschaften. Zwischenbilanz einer Rezeption«, in: ders./Martin Saar (Hrsg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a. M. 2001, S. 15–26. 62 Certeau, Theoretische Fiktionen, S. 150.
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kann einen Ausschnitt bestimmter historischer Praktiken vergrößern, zuspitzen und übertreiben und dabei sich selbst und das eigene Verfahren sogar noch mit darstellen. Jedoch ist seine Perspektive nicht darauf beschränkt. Foucaults Genealogie beruht ja nicht zuletzt auf dem methodologischen Postulat der Diskursanalyse, dass einer Aussage mehrere Subjektpositionen – d. h. Perspektiven – zukommen können. In diesem Sinne zielen die Fusion und die Verschmelzung der Begriffe und Raster gerade nicht nur auf die Herstellung einer Kontinuität: Sie zeigen vielmehr, dass Foucault keine klaren Grenzen zwischen ökonomischen, politischen und technischen Prozessen zieht. Auf diese Weise wird die konventionelle Einteilung der Gesellschaft in Technik, Wissenschaft, Kultur und Natur dekonstruiert. Die Disziplinarprozeduren sind erst dann sichtbar und zu verstehen, wenn man die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Natur und Kultur, Technik und Ökonomie, Wissen und Strategie problematisiert und durch eine neue Fragestellung mit neuen Perspektiven ersetzt. Man erkennt hieran direkt, dass die narrativen Serien ein wesentlicher Bestandteil der Methode sind. In ihren beiden Funktionen sind die narrativen Serien erkenntnisstiftend. In ihrer ersten Funktion sorgen sie für eine Einsicht in die Ähnlichkeit von Machttechniken und betonen auf der literarischen Ebene den transformativen und kontinuierlichen Aspekt der Diskontinuität. In ihrer zweiten Funktion dienen die narrativen Serien einer methodischen Problematisierung konventioneller Grenzziehungen und verweisen darauf, dass die neue Machtform jenseits der Dichotomie von Technik, Ökonomie und Strategie operiert. Dieses Vorgehen entspricht nicht zuletzt einer inhaltlichen, auf die Wirklichkeit bezogenen These von Überwachen und Strafen, dass die neuen Techniken der Disziplinarmacht als politische Ökonomie des Körpers, als Machtdiagramme und Anatomie einer Machtstruktur anzuerkennen sind, die sich weder auf ökonomische oder politische Entwicklungen reduzieren lassen. Damit erheben sie nichtsdestotrotz einen Wahrheitsanspruch in der Wirklichkeit, der über keine Betonung stilistischer oder literarischer Gesten wegzuwischen ist. Die Stilmittel und literarischen Gesten sind vielmehr ein Teil der Methode, um den Anspruch auf Wirklichkeit durchzusetzen und die wahren Thesen darzustellen. Wenn Foucault also die literarischen Gesten seiner eigenen Verfahren gleich mitliefert, dann nicht, weil diese in einer hermetischen Einheit von Methode und Darstellung die eigenen theoretischen Implikationen exklusiv hervorA
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bringen. Das Problem besteht eher in einer Spannung zwischen behaupteter Diskontinuität und darstellender Kontinuität, die jedoch wiederum dazu dient, die Spezifizität der diskontinuierlichen Machttechnologien zu belegen. Vielleicht liegt dies daran, dass »alle Rede von Veränderung […] Kontinuität und Diskontinuität zugleich voraus [setzt]«, 63 wie Tilman Borsche in seinem methodischen Beitrag zur Geschichte der Philosophie anmerkt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Foucault ein methodisches learning by doing angewandt hat, das hypothetische Ungereimtheiten erst einmal stehen lässt, um die Stärken und Schwächen einer Methode an ihren Ergebnissen zu bemessen. Analog zu einer als Begriffsgeschichte verstandenen Geschichte der Philosophie hält sich auch Foucaults Genealogie »offen für das Neue in der Geschichte.« 64 Da es nicht leicht ist, »diesem für das Fremde und Unverständliche offenen Verständnis von Geschichte einen Namen zu geben, der methodische Fixierungen von ihm fernhält«, schlägt Tilman Borsche folgende Beschreibung für das Neue vor, das weder rein entdeckt noch frei erfunden werden kann: »Es [sc. das Neue] erscheint vielmehr zugleich als Gegenstand einer Darstellung und als Darstellung eines Gegenstands, derart, dass keine Seite vor der anderen da ist.« 65 Mit dieser Formulierung verweist Borsche auf einen wesentlichen Punkt der bisherigen Diskussion. Bei einer Analyse von Foucaults literarischer Darstellungsform und Methode darf nämlich nicht vergessen werden, dass er »einen bisher nicht erschlossenen Bereich in ein neues historisches Objekt verwandelt: jene Zone, in der technologische Verfahren spezifische Machteffekte ausüben, die nach ihrer eigenen Logik funktionieren und in den wissenschaftlichen und rechtlichen Institutionen grundlegende Umwälzungen vollziehen können«. 66 Das Neue in der praxeologischen Analyse Foucaults muss sich also als Gegenstand einer Darstellung und als Darstellung eines Gegenstands zugleich präsentieren, um etwas zu problematisieren, das bisher nicht auf diese Weise sichtbar war. Die von Certeau aufgedeckte Spannung gehört demnach zur spezifischen Artikulationsform des Neuen in der Geschichte. Foucault hat sich für seine doppelte DarstelTilman Borsche, Was etwas ist. Fragen nach der Wahrheit der Bedeutung bei Platon, Augustin, Nikolaus von Kues und Nietzsche, München 1990, S. 23. 64 Ebd., S. 22. 65 Ebd., S. 23. 66 Certeau, Theoretische Fiktionen, S. 146. 63
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lung des Neuen in einer genealogischen Form artikuliert. Ein Teil der Kritik Certeaus ist auf ein Un- oder Missverständnis der literarischen und methodischen Funktionsweise der Genealogie zurückzuführen. Daher sollen nun abschließend einige weitere literarische und stilistische Besonderheiten der Genealogie beleuchtet werden, die das genealogische Verfahren in seiner Anwendung sichtbar und als Projekt rhetorischer sowie kritischer Geschichtsschreibung durchführbar machen.
VII Genealogische Form zwischen Montage, Serie und Kritik In dem von mir ausgewählten Kontext ist der genealogische Blick als ein Phänomen der Aufmerksamkeit und nicht als ein Phänomen der sinnlichen Wahrnehmung im klassischen Sinne zu verstehen. Als Phänomen ist der Blick des Genealogen heterogen und transformativ. Er bezeichnet einen bestimmten Blick auf die Wirklichkeit und ihre Geschichte. Was ihn zunächst vom Blick des kalten Systematikers nicht unterscheidet, ist die quasi-affirmative Haltung ohne Wertung, die jedoch zersetzende Folgen nach sich zieht. Nach Nietzsche ist nur das »definierbar […], was keine Geschichte hat«. 67 Die radikale Bejahung bezieht sich zunächst auf die Historizität der Welt und macht auch vor der eigenen Existenz keinen Halt. In diesem Sinne wird in der Genealogie das Selbst zum privilegierten und wichtigsten Objekt der Historie. Die genealogische Implikation des Selbst ist eine performative Struktur mit Appellcharakter: »Der als Objekt genealogischer Erzählungen verhandelte Gegenstand ist das Subjekt, das gleichzeitig als Betroffener und Angesprochener Teil des genealogischen Textes ist.« 68 Die Reflexivität des Textes besteht in einem doppelten Bezug auf das Subjekt als Gegenstand und Adressat. In dieser Spannung liegt nicht zuletzt die zersetzende Ausgangserfahrung des genealogischen Blicks. Oftmals auch als Blick aus der Ferne bezeichnet, arbeitet er vor allem mit fiktionalisierenden, anonymisierenden und personalisierenden Mitteln, um aus der Distanz heraus in das Innere des Subjekts einzudringen. Fiktionalisierung, Anonymisierung und Personalisierung können auch als die kognitiven Funktionen des genealogischen Blicks bezeichnet werden, die ihre konkrete Einschreibung auf der literari67 68
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, S. 317. Saar, Genealogie als Kritik, S. 139. A
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schen Ebene des Textes finden. Nach Martin Saar sind die drei wesentlichen konstitutiven Elemente des genealogischen Erzählens folgende: der »historisierende Ansatz am Subjekt, die machtanalytische Reduktion« und »die kontingenzerschließende, drastische Darstellungsform«. 69 Als Form der Kritik spricht Saar den Genealogien einen genetischen, welterschließenden und hyperbolischen Charakter zu, der sich nur schwer in gewöhnliche Raster philosophischer Kritik und Aufklärung einreihen lässt. 70 Die genealogische Kritik ist somit eine eigenständige Form des Schreibens und Kritisierens, sie ist »eine philosophisch angeleitete Technik der Darstellung, eine Kunst der Beschreibung und der Sichtbarmachung« 71 von sozialen Prozessen. Die vielleicht wichtigsten stilistischen Mittel – neben der Verwendung von Metaphern – sind die verkürzende Darstellung 72 und das Memorabile, die sich sowohl bei Nietzsche als auch bei Foucault finden und typisch sind für die Tradition rhetorischer Geschichtsschreibung. Die berühmte Eingangsszene von Überwachen und Strafen, in der Foucault den historischen Bericht einer öffentlichen Hinrichtung aus dem Jahr 1757 und die minutiöse Darlegung eines Reglements für jugendliche Gefangene aus einem Pariser Gefängnis aus dem Jahr 1838 zunächst kommentarlos nebeneinanderstellt, erschöpft sich nicht in einem Akt der Übertreibung oder Provokation. Die beiden Bilder, die exemplarisch für eine jeweilige Bestrafungstechnik einer bestimmten Zeit stehen, lassen sich auch nicht auf die Funktion des Exemplarischen Ebd., S. 154. Saar unterscheidet hierbei zwischen der Genealogie als Methode und der Genealogie als kritischem Verfahren. Von einer Methode im engeren Sinne kann man ihm zufolge allerdings nicht sprechen. An dieser Stelle ist der Begriff der Methode selbst zu eng angelegt. 70 Nach Saar teilt die genealogische Kritik den machtdenunziatorischen Charakter mit der Ideologiekritik und den genetischen Charakter mit historiographischen und hermeneutischen Projekten mit gegenwartskritischem Anspruch. Der hyperbolische Charakter wiederum verbinde die genealogische Kritik mit der Psychoanalyse und dem Situationismus. Vgl. zur genealogischen Kritik und deren drei Charakteristika ebd., S. 314– 318. 71 Ebd., S. 318. Ebenso weist Saar auf das wichtige methodologische Merkmal hin, dass sich die genealogische Analyse am Objekt orientiert. Vgl. ebd., S. 155. Dieser Aspekt ist vor allem für Foucaults Methode wesentlich, so dass eigentlich nur die Rede von Genealogien im Plural sein kann, da die genealogische Analyse je nach Untersuchungsgegenstand ihre methodische Ausrichtung verändert. Die Analyse des Begriffsfeldes der Technik liefert hierfür vielleicht das beste Beispiel. 72 Beispiele für eine verkürzende Darstellung finden sich in Foucault, Überwachen und Strafen, S. 14 und 239. Vgl. hierzu auch Anm. 3. 69
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reduzieren. Was Foucault hier anwendet, ist eine Montagetechnik, die heterogene und multiple Wirkungen erzielt. Zunächst lässt Foucault die Quellen selbst sprechen und kann somit einen Anspruch auf Objektivität und Wissenschaftlichkeit zur Geltung bringen. Die Montage suggeriert unverfälschtes Quellenmaterial, das für sich selbst spricht. Zweitens schafft Foucault den Übergang vom Sagen zum Zeigen, indem er mit der Montage-Geste auf die Diskontinuität zwischen den beiden Weisen des Strafens verweist. In einer dritten Hinsicht liefern die beiden montierten Bilder quereinschießende Details, die nicht in einem höheren Ganzen aufgehen. Die Montage entpuppt sich damit als Mnemotechnik und Memorabile. So schreibt Jauß über das Memorabile, das seinen Ursprung in der rhetorischen Geschichtsschreibung hat: Im Unterschied zum Exempel, das aus vergangener Tat eine moralische Lehre für zukünftiges Handeln zu ziehen und eindeutig zu formulieren erlaubt, ist der Sinn der geschichtlichen Erfahrung im Memorabile komplex, nicht selten paradox und nicht auslotbar. Das bewerkstelligt formal die Erzählfigur des sogenannten ›quereinschießenden Details‹. 73
Das Besondere am Memorabile in seiner ateleologischen Funktion ist daher »eine Erfahrung der unaufhebbaren Kontingenz des geschichtlichen Lebens«. 74 Der Hund auf der Feuerstelle am Ort der Hinrichtung und das Händewaschen der Sträflinge im Hof sind nur zwei Beispiele für quereinschießende Details in Überwachen und Strafen, die der genealogischen Erzählung eine eigene Dimension des Wahrscheinlichen verleihen. Die Montagetechnik entspricht der von Foucault verwendeten seriellen Methode, mit deren Hilfe er seine mehrere Jahrhunderte umspannende historische Studie über die Transformation des Strafsystems entwirft. Die erste große Serie ist die der Macht- und Gewaltapparate. Foucault unterscheidet drei Modalitäten der Ausübung von Strafgewalt, die zugleich drei Technologien der Macht darstellen: die Gewalt des Souveräns, den Gesellschaftskörper und den Verwaltungsapparat. In einem einzigen Satz, der wiederum ein einzigartiger Ausdruck von Foucaults seriellem Denken ist und sich zudem als serielle Figur auf der konkreten literarischen Ebene artikuliert, werden die wesentlichen Elemente und Differenzen zusammengefasst:
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Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 354. Ebd., S. 354 f. A
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Gewalt des Souveräns, Gesellschaftskörper, Verwaltungsapparat; Mal, Zeichen, Spur; Zeremonie, Vorstellung, Übung; besiegter Feind, wiedereingebürgertes Rechtssubjekt, unmittelbarem Zwang unterworfenes Individuum; gemarterter Körper, manipulierte Vorstellungen der Seele, dressierter Körper: diese drei Serien von Elementen charakterisieren die drei konstituierenden Strafsysteme der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 75
Diese Serie ist insofern faszinierend, als sie dem foucaultschen Denken des Seriellen einen direkten literarischen Ausdruck gibt. Zudem sind sie wesentliche methodische und ästhetische Bausteine für das genealogische Denken Foucaults, das sich in solchen Serien strukturieren und abbilden lässt. Foucault liefert damit selbst einen Darstellungsmodus, der einerseits seine methodische Verwendung seriellen Denkens in nuce zusammen fasst und andererseits eine ästhetisch-literarische Selbstdarstellung des verwendeten Denkens konstituiert. Textästhetisch gesprochen ließe sich die Sache so ausdrücken: Das serielle Denken entwirft nicht nur Serien, es durchläuft einen Prozess der Ästhetisierung, indem es sich selbst mit darstellt. Diese Mitdarstellung als literarische Form wird nicht gesagt, sondern gezeigt. Foucault ästhetisiert die Form des seriellen Denkens, indem er die Ästhetisierung dieser Denkform in der literarischen Form ostentativ darstellt. In einem letzten Abschnitt soll nun ein Beispiel für eine Figur der Personalisierung gegeben werden, die eine besondere Beziehung zwischen genealogischem Blick und subversiver Kritik stiftet.
VIII Personalisierung und Subversion der Perspektive Im Zentrum seiner Mikrophysik der Macht entdeckt Foucault eine ganze »politische Technologie des Körpers«, aus der sich »vielleicht eine gemeinsame Geschichte der Machtverhältnisse und der Erkenntnisbeziehungen ablesen lässt«. 76 Unterstützung für dieses Projekt holt sich Foucault bei einem Wissen über den Körper, das nicht identisch mit dem Wissen der Wissenschaft ist. In einer rhetorisch brillanten und gewandten Form steckt er zunächst das Feld der Machtbeziehungen und Körper ab, um im Anschluss daraus den Begriff eines strategisch-praktischen Wissens über den Körper zu generieren. Dabei per75 76
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Foucault, Überwachen und Strafen, S. 170. Ebd., S. 34.
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sonalisiert er die Machtverhältnisse, die den Körper mit einer Rationalität und Zielgerichtetheit besetzen, wie dies sonst nur Subjekte können: Aber der Körper steht auch unmittelbar im Feld des Politischen; die Machtverhältnisse legen ihre Hand auf ihn; sie umkleiden ihn, markieren ihn, dressieren ihn, martern ihn, zwingen ihn zu Arbeiten, verpflichten ihn zu Zeremonien, verlangen von ihm Zeichen. 77
Auch in dieser Passage fällt wieder das Denken des Seriellen in der Form von Aufzählung auf, mit dem Foucault den Körper in seinen Besetzungen und Beziehungen artikuliert. Dies gilt für eine archäologische Betrachtung der foucaultschen Besetzung des Körpers. In einer genealogischen Betrachtung muss auf die bereits erwähnte Personalisierung erneut hingewiesen werden, die sich allerdings als komplexer und vielschichtiger erweist als angenommen. Zunächst scheint es sich um eine Personalisierung der Machtverhältnisse zu handeln, welche die Körper wie agierende Entitäten umkleiden, markieren, dressieren etc. In diesen Sätzen ist aber ebenso die Perspektive und Subjektposition 78 des Körpers angelegt: Ich möchte für diese serielle Aussage sogar die These aufstellen, dass die Personalisierung der Machtbeziehungen nur deshalb gelingen kann, weil der genealogische Blick zugleich die Perspektive des Körpers einnimmt. Vom Standpunkt der genealogischen Betrachtung aus gesehen ist es die Perspektive des Körpers, die in der zitierten Aussage sogar die der Machtverhältnisse übermalt. Der genealogische Blick beschreibt die Handlungen der Machtverhältnisse durch den besetzten Körper hindurch und blickt von diesem in die Welt hinaus. In der Position des Körpers sieht er die Machtverhältnisse agieren. Die vermeintliche Außenansicht des genealogischen Blicks ist nur durch die Innenperspektive aus dem Körper heraus möglich. Aus diesem einfachen Grund handelt es sich auch nicht um eine reine Personalisierung der Machtverhältnisse, denn der Körper wird durch die Einnahme der schauenden Innenperspektive ebenso personalisiert. Die genealogische Beschreibung der Besetzung des Körpers ist nur durch die Perspektiveinnahme aus dem Körper heraus möglich. Dies entspricht auch dem foucaultschen Beschreibungsmodus. Die MachtbezieEbd., S. 37. Foucault selbst spricht in der Archäologie des Wissens von den unterschiedlichen Positionen und Subjekten, die in ein und derselben Aussage auftreten können. Ich orientiere mich daher hier an methodischen Implikationen der foucaultschen Diskursanalyse.
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hungen ziehen durch das Körperinnere und durchdringen ihn, sie bleiben also nicht vor ihm stehen und wirken nur von außen auf ihn. Sie entfalten ihre Wirkung gerade in der Verbindung von Außen- und Innenansicht des Körpers. Das Unterwerfungsverhältnis geschieht aus dem Inneren heraus. Wer nur die aktiven Unterwerfungshandlungen der Machtverhältnisse liest, der bleibt der archäologischen Ebene verhaftet und erreicht nicht die Vertikalität der genealogischen Dimension dieser Aussage. Mithilfe des genealogischen Blicks kommt es somit nicht nur zu einer Verdopplung der Subjektposition auf der Ebene der Aussage, der Perspektivwechsel führt ebenso zu einer Verdopplung des Personalisierungsprozesses. In diesem Sinne ist der genealogische Blick eine Grundoperation philosophischen Denkens, die in verschiedenen Gestalten, Facetten und Varianten im Text auftauchen kann. Ob nun als Blick aus der Ferne, doppelte Personalisierung, Montagetechnik oder subversive Kritik: Bei Foucault konstituiert der genealogische Blick selbst eine Technik und ein Verfahren des Denkens, eine Technologie des Selbst und der Analyse, die sich in konkreten und spezifischen literarischen Verfahren zeigt. So gelingt es Foucault, den Leser auf subversive Weise die Perspektive des disziplinierten Körpers einnehmen zu lassen und vor Augen zu führen, ohne diese explizit als moralische Ungerechtigkeit zu denunzieren. Die Vermittlung der Perspektive des Untertanen und Opfers geschieht implizit. In dieser Hinsicht ist Foucaults genealogischer Kritikstil heimtückischer und hinterlistiger als er sich im positivistischen Duktus der Diskursanalyse gibt. Zwar enthält sich Foucault größtenteils expliziter ethischer Imperative und präskriptiver Aussagen – zumindest was moralische Aussagen betrifft, in methodischer Hinsicht ist Foucaults Werk übersät mit präskriptiven Aussagen –, allerdings enthalten seine Berichte und deskriptiven Aussagen einen impliziten ethischen und moralischen Gehalt. Insofern sind Foucaults Werke selbstverständlich und absichtlich weder neutral noch wertfrei. Die Werte werden lediglich auf implizite Weise vermittelt. »Auf diese Weise erfüllt die Genealogie ihre ureigenen Zwecke, Selbstbewusstsein eines Prozesses der Aufklärung und Emanzipation zu sein.« 79 In diesem Sinne sind Foucaults Schriften kritisch und vermitteln ihren normativen Gehalt auf subversive Weise. 79
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David Owen, »Kritik und Gefangenschaft. Genealogie und Kritische Theorie«, in:
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Die Genealogie ist damit zu Recht als eine Art Widerstand gegen starre Begriffssysteme anzusehen. Oder mit den Worten von Raymond Geuss: »Eine Genealogie ist eine historische Auflösung selbstverständlicher Identitäten.« 80 Wenn Sartre das Werk des jüngeren Philosophen bei Erscheinen der Ordnung der Dinge noch ironischerweise als das Bollwerk des Bürgertums gegen den Marxismus bezeichnet hatte, dann lässt sich retrospektiv sagen, dass kaum ein Intellektueller im 20. Jahrhundert die Herrschaftsstrategien des Bürgertums auf so radikale Weise bloßgelegt und kritisiert hat wie Michel Foucault.
Axel Honneth/Martin Saar (Hrsg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a. M. 2001, S. 122–144, hier S. 137. 80 Raymond Geuss, »Kritik, Aufklärung, Genealogie«, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hrsg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a. M. 2001, S. 145– 156, hier S. 152. A
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Zu den Autorinnen und Autoren
Bernardy, Jörg (M.A. phil.): Studium der Philosophie und Romanistik. Tätigkeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hildesheim und an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Arbeitsschwerpunkte: Medien- und Kunstphilosophie, Ästhetik, Poststrukturalismus, Philosophie der literarischen Formen, Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Boldt, Joachim (PD Dr. phil.): Studium der Philosophie und Germanistik in Heidelberg, Sheffield und Berlin. Seit 2005 Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg, seit 2010 dort stellvertretender Direktor. Forschungsschwerpunkte: Existenzphilosophie, Hermeneutik, Bioethik und Medizinethik. Bornmüller, Falk (Dr. phil.): Studium der Germanistischen Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Chemnitz und Jena. Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl Praktische Philosophie der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg. Arbeitsschwerpunkte: Ethik und Moralphilosophie, Verhältnis von Philosophie und Literatur, Darstellungs- und Erkenntnisformen in der Philosophie. Dietrich, Julia (Dr. phil.): Studium der Philosophie, Neueren Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft in Bonn und München. Promotion an der Universität Dresden. Leiterin des Arbeitsbereichs Ethik und Bildung am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Eberhard Karls Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Theorie ethischer Urteilsbildung und Argumentation, Angewandte Ethik, Didaktik der Ethik, Leiblichkeit, Schmerz. Leeten, Lars (Dr. phil.): Studium der Philosophie und Germanistik und Postgraduiertenstudium der Semiotik in Osnabrück und Berlin. Promotion an der Technischen Universität Berlin. Seit 2008 WissenA
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Zu den Autorinnen und Autoren
schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Rhetorik, Sozialphilosophie, Sprachphilosophie. Lotter, Maria-Sibylla (PD Dr. phil.): Studium der Philosophie, Religionswissenschaft und Ethnologie. Diverse Lehrtätigkeiten an deutschen und schweizer Universitäten. Privatdozentin an der Universität Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Metaphysik (Whitehead, Leibniz), Geschichte der Philosophie und Religionsphilosophie, angewandte Ethik und praktische Philosophie unter interkulturellen Gesichtspunkten. Mazuga, Anne (Dr. des.): Studium der Germanistik und Philosophie in Greifswald, Paris, Potsdam. Promotion 2012 am Max-Weber-Kolleg Erfurt. Seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Leibniz Universität Hannover. Forschungsgebiete: Analytische Handlungstheorie, Moralphilosophie, Metaethik. Ortland, Eberhard (Dr. phil.): Studium der Philosophie, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bochum, Berlin und Kyo¯to. Promotion an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über Ästhetik als Lehre von der Wahrnehmung. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim und Redakteur der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, Ethik/Lebenskunst, interkulturelle Philosophie, Begriffsgeschichte. Rehbock, Theda (PD Dr. phil.): Studium in Zürich, München, Konstanz und Münster, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Konstanz, Paderborn und Dresden. Stipendiatin im Graduiertenkolleg »Ethik in den Wissenschaften« in Tübingen, Fellowship an der Harvard University. Professurvertretungen in Gießen und Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Medizinethik, Anthropologie, Philosophie der Person. Remmers, Peter (M.A. phil.): Studium der Philosophie, Kommunikationswissenschaft und Musikwissenschaft an der Technischen Universität Berlin. Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Technischen Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Klassische Deutsche Philosophie, Philosophie des Films, Ästhetik. 310
ALBER PHILOSOPHIE
Lars Leeten (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495998502 .
Zu den Autorinnen und Autoren
Wille, Katrin (Dr. phil.): Studium der Philosophie, Neueren Geschichte und evangelischen Theologie in Münster und München. Akademische Rätin a. Z. am Institut für Philosophie der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Theorien der Unterscheidung, Kant und Deutscher Idealismus, Wittgenstein, Pragmatismus.
A
Moralische Verständigung https://doi.org/10.5771/9783495998502 .
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