Moral als Kapital im antiken Athen und Rom 3515120777, 9783515120777

Im antiken Athen und Rom war moralkonformes Verhalten eine Ressource von Ansehen. Aber welche konkrete Relevanz hatte Mo

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INHALTSVERZEICHNIS
(Elke Hartmann) Moral als Kapital im antiken Athen und Rom. Aufriss einer Fragestellung
Eine Übersicht der Beiträge
I. GUTER ODER SCHLECHTER RUF UND DIE SOZIALEN FOLGEN
(Sven Page)
Die Moral des Demagogen.
Soziokulturelle Wertediskurse im klassischen Athen
(Rafał Matuszewski)
(Un)edle Vergnügungen?
Freizeitbeschäftigungen als Spiegel moralischen Wandels
im spätklassischen Athen
(Jan Timmer)
Moral und Vertrauen in der römischen Republik
(Jan B. Meister)
Klatsch, Gerüchte und fama als moralisches Kapital im
spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom
(Simone Blochmann)
„Mit entblösster Brust in gezückte Schwerter“.
Majestätsprozesse und aristokratische Moral in der frühen Kaiserzeit
(Johannes M. Geisthardt)
Die moralische Hypothek des toten Tyrannen.
Plinius, Tacitus und die Diskussion über die Führungselite
der post-domitianischen Ära
II. DISKURSE ÜBER MORAL
(Thomas Gärtner)
Das ‚Recht des Stärkeren‘ in den Athenerreden bei Thukydides
(Elke Hartmann)
Die Krieger-Ethik des ‚Schiffspöbels‘ von Athen
(Anabelle Thurn)
Admets Kampf um die Ehre.
Gastfreundschaft in der Alkestis des Euripides
(Kornelia Kressirer)
Die Forderung nach Versorgung und Ehrung der Alten als wertvolles
Gut in der griechischen Antike
(Thomas Baier)
Clementia als politisches Kapital
(Christian Rollinger)
Oportet ex fide bona.
Moral als Kategorie römischer Rechtsprechung
(Katja Kröss)
Die stadtrömische plebs in den zeitgeschichtlichen Büchern
Cassius Dios
(Karen Piepenbrink)
Zwischen Gemeindeorientierung und Gottesbezug.
Verhaltenserwartungen an Bischöfe in der Regula Pastoralis
Gregors des Großen
(Isabelle Künzer)
Prestige- oder Geschmacksfragen?
Plinius der Jüngere und die senatorische Reputation im otium
Autorenbeschreibungen
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Moral als Kapital im antiken Athen und Rom
 3515120777, 9783515120777

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Elke Hartmann Sven Page Anabelle Thurn

Alte Geschichte Franz Steiner Verlag

MORAL als KAPITAL im antiken athen und rom

Elke Hartmann / Sven Page / Anabelle Thurn (Hg.) Moral als Kapital im antiken Athen und Rom

MORAL als KAPITAL im antiken athen und rom Herausgegeben von Elke Hartmann, Sven Page und Anabelle Thurn

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Togatus Barberini, 2. Hälfte 1. Jahrhundert n. Chr. Centrale Montemartini, Rom akg-images / Erich Lessing Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12077-7 (Print) ISBN 978-3-515-12080-7 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Elke Hartmann Moral als Kapital im antiken Athen und Rom. Aufriss einer Fragestellung ......................................................................................7 Eine Übersicht der Beiträge ...................................................................................11 I. GUTER ODER SCHLECHTER RUF UND DIE SOZIALEN FOLGEN Sven Page Die Moral des Demagogen. Soziokulturelle Wertediskurse im klassischen Athen ............................................17 Rafał Matuszewski (Un)edle Vergnügungen? Freizeitbeschäftigungen als Spiegel moralischen Wandels im spätklassischen Athen .......................................................................................45 Jan Timmer Moral und Vertrauen in der römischen Republik ..................................................75 Jan B. Meister Klatsch, Gerüchte und fama als moralisches Kapital im spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom .............................................95 Simone Blochmann „Mit entblösster Brust in gezückte Schwerter“. Majestätsprozesse und aristokratische Moral in der frühen Kaiserzeit ................117 Johannes M. Geisthardt Die moralische Hypothek des toten Tyrannen. Plinius, Tacitus und die Diskussion über die Führungselite der post-domitianischen Ära ................................................................................137

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Inhaltsverzeichnis

II. DISKURSE ÜBER MORAL Thomas Gärtner Das ‚Recht des Stärkeren‘ in den Athenerreden bei Thukydides ........................161 Elke Hartmann Die Krieger-Ethik des ‚Schiffspöbels‘ von Athen ...............................................179 Anabelle Thurn Admets Kampf um die Ehre. Gastfreundschaft in der Alkestis des Euripides ....................................................199 Kornelia Kressirer Die Forderung nach Versorgung und Ehrung der Alten als wertvolles Gut in der griechischen Antike ............................................................................213 Thomas Baier Clementia als politisches Kapital .........................................................................229 Christian Rollinger Oportet ex fide bona. Moral als Kategorie römischer Rechtsprechung ..................................................247 Katja Kröss Die stadtrömische plebs in den zeitgeschichtlichen Büchern Cassius Dios .........................................................................................................275 Karen Piepenbrink Zwischen Gemeindeorientierung und Gottesbezug. Verhaltenserwartungen an Bischöfe in der Regula Pastoralis Gregors des Großen .............................................................................................291 Isabelle Künzer Prestige- oder Geschmacksfragen? Plinius der Jüngere und die senatorische Reputation im otium ...........................307 Autorenbeschreibungen .......................................................................................327

MORAL ALS KAPITAL IM ANTIKEN ATHEN UND ROM Aufriss einer Fragestellung Elke Hartmann Am 15. April 1816 ermordete der Schustergeselle Johann Philipp Schneider vor dem Rheintor in Darmstadt den Druckereigesellen Bernhard Lebrecht. Nach der blutigen Tat reinigte er Hände und Gesicht und wusch seine Kleider im Großen Woog, einem in der Innenstadt von Darmstadt gelegenen See; danach erholte er sich in einem Wirtshaus und wurde bald darauf anhand der Mordwaffe überführt, verhaftet, später verurteilt und hingerichtet.1 Dies ist eine von mehreren historischen Begebenheiten, die den Dramatiker Georg Büchner, der seine Kindheit in Darmstadt verbrachte, zur Verfassung seines Dramas Woyzeck veranlasste, das im Jahr 1836 entstand und unvollendet blieb, weil der Autor verstarb.2 Ich nehme diese Begebenheit zum Ausgangspunkt, weil sie mir einen Brückenschlag zwischen Darmstadt, dem Ort der Tagung, und dem Thema unserer Tagung ermöglicht. In einer bekannten Szene in Büchners Woyzeck findet sich nämlich eine interessante Definition von Moral. Sie wird von dem überaus unsympathischen Hauptmann ausgesprochen während er von dem Soldaten Woyzeck rasiert wird, der sich durch diese Dienste ein kleines Zubrot zu seinem Sold verdient. Nachdem sich der Hauptmann im Gespräch über die Willfährigkeit Woyzecks lustig gemacht hat, sagt er zu ihm: „Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man moralisch ist, versteht er. Es ist ein gutes Wort.“

Und Woyzeck, der ein uneheliches Kind hat ohne den Segen der Kirche, verteidigt sich mit den Worten: „Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat – Da setz eines seinesgleichen auf die Moral in die Welt. Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und in der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen. […] Sehn Sie, wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt’ ein’ Hut und eine Uhr […] und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein.“3

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Siehe DEDNER/VERING 2005: 35. MARTIN/BÜCHNER 2007: 8. Zur Vorlage des Gutachtens eines Medizinalrates über den Mörder Johann Christian Woyzeck vgl. EBD.: 188; zu den weiteren Fällen, die als Vorlage in Betracht zu ziehen sind: EBD.: 92. BÜCHNER 1981: 4f.

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Elke Hartmann

Moral ist, wenn man moralisch ist. Das ist auf den ersten Blick eine definitorisch wenig hilfreiche Tautologie. Auf den zweiten Blick aber erkennt man, dass der Hauptmann Moral mit mores, mit Sitten bzw. Konventionen in Verbindung bringt, deren Implikationen bei Strafe sozialer Ächtung und Ausgrenzung zu befolgen sind. Und Woyzeck macht klar, dass eben diese Moral nicht für alle gilt, sondern dass diese nur mit bestimmten gehobenen Sitten einhergeht. Der arme Schlucker hat keine Moral, er kann folglich auch nicht moralisch sein. Man kann Moral durchaus so verstehen. Das deutsche Wort geht bekanntlich auf das lateinische moralis (die Sitte betreffend), einer Wortschöpfung Ciceros,4 zurück, hängt also unmittelbar mit dem Wort mos/Sitte zusammen. Dieser lateinische Begriff „deckt sich in einem Kernbereich auch mit unserem heutigen Terminus ‚M.‘ [Moral] in der weiteren Bedeutung, nämlich als Gesamtheit der akzeptierten und durch Tradierung stabilisierten Verhaltensnormen einer Gesellschaft.“5 In enger Anlehnung an die antike Terminologie kann Moral umreißen, wie sich Menschen faktisch zu dem verhalten, was in bestimmten Situationen für richtig gehalten oder erwartet wird. Moral bezeichnet demnach das Spannungsfeld zwischen Handlungsmustern und Handlungsregeln. Im deutschen Alltagsprachgebrauch werden Moral und Ethik oft synonym verwendet; im Speziellen wird allerdings Ethik als philosophische Reflexion über Moral verstanden werden, Moral hingegen „den Gesamtbereich dessen, worauf die Ethik reflektiert“.6 Inwiefern können Handlungsmuster/Handlungsregeln Kapital sein? Geht man von der Grundbedeutung des Wortes ‚Kapital‘ in der Sprache der Ökonomie aus, bezeichnet es zunächst die Basis von Wohlstand in einer auf Viehzucht basierenden Agrargesellschaft, nämlich Kopfzahl des Viehbestands (im Gegensatz zum Zuwachs durch Jungtiere).7 So kann ‚Kapital‘ ganz allgemein als Ressource des (materiellen) Wohllebens verstanden werden. Wenn nun nach der Bedeutung von Moral im oben genannten Sinne als Ressource des sozialen Wohllebens, als Voraussetzung für die Einnahme einer privilegierten Position innerhalb der Gesellschaft gefragt wird, springt die Anlehnung an die Kategorie des ‚Sozialkapitals‘ des französischen Soziologen PIERRE BOURDIEU ins Auge, die er verwendet, um zu verdeutlichen, dass Individuen – auch unabhängig vom Finanzkapital – über unterschiedliche Ressourcen verfügen, die im wesentlichen auf der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe basieren.8 Im Rahmen seiner Entwicklung einer Klassentheorie anhand von unterscheidbaren Lebensstilen interessierte ihn die Verfügungsgewalt der Akteure über bestimmte Ressourcen, die er Kapital nennt. Dabei unterscheidet er drei Kapitalsorten: das soziale Kapital (verkürzt: der Vertrauensvorschuss, den man aufgrund der Zugehörigkeit zu bestimmten Kreisen 4 5 6 7 8

Cic. de fato 1; dazu JÜSSEN 1986: 149. EBD. FISCHER/GRUDEN/IMHOF/STRUB 2008: 28. KLUGE 1999: 425; REGENBOGEN/MEIER 2014: 335. BOURDIEU 1983: 190f.: „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ Vgl. zum Begriff ausführlicher STRICKER/STRASSER 2014: 213f.

Moral als Kapital im antiken Athen und Rom

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bekommt);9 das kulturelle Kapital (es lässt sich verkürzt als Bildungskapital begreifen, ergänzt um materielle Güter, welche mit Bildung zu tun haben). Schließlich das ökonomische Kapital, welches die Basis bildet für die Aneignung der zuvor genannten Kapitalsorten. In unserem Kontext ist vor allem aber das – bei BOURDIEU nur am Rand thematisierte – ‚symbolische Kapital‘ von Interesse, welches die soziale Wahrnehmung und Bewertung der drei anderen Kapitalsorten meint, die Summe der Anerkennung, die ein einzelnes Individuum oder eine Gruppe durch geschickte Verwendung der Kapitalsorten für sich gewinnt. Das symbolische Kapital beruht auf Bekanntheit und Anerkennung, es umfasst Ehre, Ansehen, Reputation. Wenn hier danach gefragt wird, inwieweit Moral – die Praxis oder die Kenntnis bestimmter Handlungsregeln – (in der Antike) dazu führte, dass ein Individuum/eine Gruppe einen gesellschaftlicher Vorteil erreichte (etwa in Form von höherem Ansehen) oder Unterschiede im Hinblick auf die Kenntnis oder Praxis von Handlungsregeln Klassenlagen überhaupt erst entstehen ließen, so sind vorrangig die literarischen Hinterlassenschaften der Antike im Hinblick auf Sitten, Werte und Normen zu untersuchen. Diese aber sollen nicht rein deskriptiv herausgearbeitet werden, sondern im Hinblick auf die ihnen innewohnenden Macht- und Kapitalrelationen analysiert werden. Somit stehen Zuschreibungs- und Aushandlungsprozesse im Zentrum des Interesses: Inwiefern war moralkonformes Verhalten in der Antike eine wichtige Ressource für gesellschaftliches und politisches Ansehen? Wer stritt um die ‚richtigen‘ Werte und für wen sollten Werte Geltung haben? Welche Gruppen wurden aus bestimmten normativen Diskursen exkludiert? Wo und wie wurden Verhaltensnormen definiert, verbreitet und eingefordert? Wie konnte ‚moralisches Kapital‘ erworben, vermehrt, verringert und investiert werden? Welche sozialen und politischen Konsequenzen waren mit der Erfüllung oder der Abweichung von Verhaltensnormen verbunden? Das sind exemplarische Fragen, die im Rahmen der Darmstädter Tagung anhand von konkreten Beispielen diskutiert werden sollten. Der vorliegende Band gibt bewusst keine für die Einzelanalysen bindende Begriffsbestimmung von ‚Moral‘/‚Kapital‘ vor, nicht zuletzt weil BOURDIEU vor „wissenschaftlichen Kochrezepten“ gewarnt hat. „Forschung“ – so formuliert es BOURDIEU an einer Stelle – „ist möglicherweise die Kunst, sich – und den anderen – produktive Schwierigkeiten zu bereiten. Wo zuvor einfache Dinge waren, werden Probleme sichtbar gemacht.“10 Als Resultat dieser „produktiven Schwierigkeiten“ legt der vorliegende Band die überarbeiteten Tagungsbeiträge vor, wobei es im ersten Teil um die nachweisbaren sozialen Konsequenzen eines guten oder schlechten Rufes im antiken Athen 9

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Soziales Kapital: Mit diesem Begriff bezeichnet BOURDIEU 1993 die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit der Teilhabe am Netz sozialer Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sein können. Es zielt nicht auf natürliche Personen, sondern auf Beziehungen zwischen ihnen. BOURDIEU 1993: 57.

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Elke Hartmann

und Rom geht, im zweiten Teil werden verschiedene Moraldiskurse vorgestellt. Die Binnengliederung entspricht jeweils einer groben chronologischen Reihung. BIBLIOGRAPHIE Bourdieu, Pierre (1993): Soziologische Fragen. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp 1993. Büchner, Georg (1981): Woyzeck. Ein Fragment (hrsg. mit einem Nachwort von Otto C. A. zur Nedden). Stuttgart: Reclam 1981. Dedner, Burghard / Vering, Eva-Maria (2005): Es geschah in Darmstadt – In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 299 (23. Dezember 2005), S. 35. Fischer, Johannes / Gruden, Stefan / Imhof, Esther / Strub, Jean-Daniel: Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik. Stuttgart: Kohlhammer 2008. Jüssen, Gabriel (1986): Moral, moralisch, Moralphilosophie – In: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried / Schwabel, Gottfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6. Darmstadt: Schwabe Verlag 1986, S. 149–151. Kluge, Friedrich: (1999): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (bearbeitet von Elmar Seebold). Berlin: de Gruyter 231999. Martin, Ariane: (2007): Georg Büchner. Stuttgart: Reclam 2007. Regenbogen, Arnim / Meier, Uwe (Hrsg.) (2014): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2014. Stricker, Michael / Strasser, Hermann (2014): Kapital, soziales – In: Endruweit, Günter / Trommsdorff, Gisela / Burzan, Nicole (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, Bd. 3. München: UTB 2014, 213–214.

EINE ÜBERSICHT DER BEITRÄGE I. GUTER ODER SCHLECHTER RUF UND DIE SOZIALEN FOLGEN Im klassischen Athen wurde der Prozess der politischen Willensbildung durch die Kommunikation und Interaktion der politischen Protagonisten mit dem demos bestimmt. Die sog. Demagogen waren dabei in der ekklesia, im Theater oder auch vor Gericht der Kritik und Kontrolle durch das athenische Volk ausgesetzt, das bestimmte Erwartungen an die öffentlich auftretenden Politiker stellte. Wer dem nicht entsprach, stieß auf Ablehnung. Der Beitrag von SVEN PAGE zeigt, dass die Anpassung an die von der Gemeinschaft geforderten Verhaltensregeln eine Option war, um keinen Unmut zu erzeugen. Dass sich den politischen Akteuren auch die Möglichkeit bot, mit unterschiedlichen kommunikativen Strategien aktiv Einfluss auf den zugrundeliegenden Wertediskurs zu nehmen und den demos gezielt zur Änderung seiner aktuellen Erwartungshaltung anzuregen, wird am Beispiel des Perikles gezeigt. RAFAŁ MATUSZEWSKI analysiert die Wahrnehmung von Wirtshäusern und Spielhallen sowie die in diesen Räumen stattfindenden Aktivitäten im spätklassischen Athen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass sich die Moralvorstellungen einer Gesellschaft besonders gut in Äußerungen über Aktivitäten von Personen in bestimmten sozialen Räumen greifen lassen. Es wird die These vertreten, dass es im untersuchten Zeitraum zu einer Verschiebung der Anständigkeitsgrenze gekommen ist: Der Aufenthalt in Kneipen und Spielhallen erfuhr zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz, im Unterschied zum 5. Jh. v. Chr. prägte nicht mehr ausschließlich die Elite die moralischen Standards, sondern zunehmend die Masse. Die Veränderung der Kollektiveinstellungen gegenüber bestimmten Freizeitbeschäftigungen der Bürger kann als Indikator tieferer Wandlungen in der athenischen Demokratie verstanden werden. Der Frage, welche Rolle ‚Moral‘ für die Sicherung von Vertrauen in der römischen Republik spielte, geht JAN TIMMER nach. Ausgehend von der Bedeutung der Disposition in einem politischen System, das auf die Herstellung weitgehender Einmütigkeit über Verhandlungen zwischen den Akteuren ausgerichtet war, und den Nebenwirkungen, die andere Mechanismen der Stabilisierung von Vertrauen zeitigten, werden die spezifische Leistungsfähigkeit der moralischen Überhöhung von Vertrauen und ihre Grenzen in den Blick genommen. JAN B. MEISTER stellt Klatsch und Gerüchte innerhalb der römischen Führungselite ins Zentrum. Ausgehend von der Feststellung, dass die römische Aristokratie ein großes Interesse an Klatsch und Gerüchten an den Tag legte, fragt er nach den mentalen und strukturellen Eigenheiten dieser spezifischen Kommunikationskultur. Er begreift die Kommunikation über Gerüchte als eine Art Metakommunikation, in deren Rahmen Aristokraten zu beobachten suchen, was andere über sie selbst und ihre Standesgenossen reden, um so das eigene ‚moralische Ka-

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Eine Übersicht der Beiträge

pital‘ und das der politischen Rivalen in der städtischen Öffentlichkeit zu evaluieren. Es wird gezeigt, welche Vorstellung von fama die römische Gesellschaft hatte, welche sozialen Folgen dieses Konzept implizierte und inwiefern Rom als Stadtgesellschaft strukturell die große Bedeutung eines guten Rufes beförderte. SIMONE BLOCHMANN untersucht die Majestätsprozesse des 1. Jhs. n. Chr. im Spiegel der literarischen Quellen. Deren besondere Dynamik ergab sich vor allem daraus, dass das Recht bei den Prozessen keine ausreichende Orientierung bot. Besonderes Augenmerk widmet sie den moralischen Kategorien, die in den aristokratischen Diskussionen als Bewertungsmaßstab dienen. Der darin nachweisbaren Moral spricht sie eine ganz eigene Funktion zu. In der Zeit zwischen der Herrschaft Domitians und Trajans wurde in der senatorischen Elite Roms darüber diskutiert, wie das Verhalten einzelner Mitglieder unter dem als Tyrannen angesehenen Domitian zu bewerten und welche Konsequenzen daraus abzuleiten wären. Die Positionen reichten von einem kompletten Austausch der durch ihre Nähe zum letzten Flavier moralisch kompromittierten Führungselite bis hin zu einer generellen Amnestie und der Aufrechterhaltung des status quo ante. Dieser Diskussion, ihren Argumenten und ihrer tatsächlichen Bedeutung für die Konstituierung der trajanischen Führungsschicht geht JOHANNES GEISTHARDT in seinem Beitrag nach und zeigt, dass die an die moralische Handlungsdimension gebundene fama des Einzelnen im Herrschaftssystem des Prinzipats eine Rolle in der Binnenhierarchisierung der senatorischen Funktionselite spielen konnte. II. DISKURSE ÜBER MORAL In den Reden (insbesondere athenischer Redner) bei Thukydides lässt sich mehrfach das sophistische Theorem vom ‚Recht des Stärkeren‘ ausmachen. In programmatischen Abschnitten dieser Reden werden moralisierende Gerechtigkeitsargumente als unzulässig zurückgedrängt. Der Beitrag von THOMAS GÄRTNER versucht zu zeigen, dass diesen Partien keinesfalls ein einheitlich verstandenes ‚Recht des Stärkeren‘ zugrunde liegt, sondern dass im Gegenteil differenzierte rhetorische Vorgehensweisen vorliegen, an deren sukzessiver Veränderung sich die thukydideische Interpretation der moralischen Entwicklung Athens an signifikanten Stationen des Peloponnesischen Kriegs (vor Kriegsbeginn, bei der Belagerung von Melos und während der Sizilischen Expedition) nachvollziehen lässt. ELKE HARTMANN geht der Frage nach, ob die Ruderer Athens, die in der Forschung gemeinhin als wichtiger Faktor des militärischen Erfolges Athens im Zusammenhang mit der Perserabwehr gelten, als Krieger wahrgenommen wurden, denen im öffentlichen Diskurs eine spezifische Ethik nahegelegt wurde, die eine Identifikation mit der polis impliziert. Der Beitrag zeigt, dass dies über lange Zeit keineswegs angenommen werden darf: Die Flottensiege wurden zunächst ausschließlich als Erfolge der Generäle wahrgenommen, und die Idealisierung der Landkämpfer stand im Vordergrund. Erst siebzig Jahre nach der Schlacht von Salamis gibt es Indizien dafür, dass die Rudermannschaften in Gänze seitens der

Eine Übersicht der Beiträge

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polis für ihre Leistung eine Anerkennung bekamen, die über den empfangenen Sold hinausging. Erst in der Folge der niedergeschlagenen oligarchischen Umsturzversuche im Jahr 411 v. Chr. erlangten die Ruderer das Selbstbewusstsein von gleichberechtigten polis-Bürgern, und es wurde ihnen der Status von Kriegern zugesprochen. ANABELLE THURN untersucht, wie in der Tragödie Alkestis des Euripides konkurrierende moralische Verpflichtungen verhandelt werden. Einerseits trauert Admet um seine verstorbene Gattin Alkestis, andererseits fühlt er sich als guter Aristokrat verpflichtet, den reisenden Herakles als einen Gastfreund aufzunehmen, obwohl sich dies in Zeiten der Trauer nicht ziemt. Welcher moralische Standard ist höherwertig? Die Tragödie führt vor, wie die sich überschneidenden Normen zu Schwierigkeiten des Umgangs von Gastgeber und Gast führen und löst diese exemplarisch auf. KORNELIA KRESSIRER zeichnet den Diskurs über die Verehrung der Alten in der griechischen Antike nach. Die Sorge um die Alten und speziell um die Eltern wurde seit der archaischen Zeit als Ideal und erstrebenswerte Tugend angesehen. Die Forderung und Durchsetzung der Versorgung und Achtung der Alten waren ein wertvolles Kapital, das sowohl dem Einzelnen als auch dem Gemeinwohl Nutzen brachte. Aus welchen Quellen speist sich das moralische Kapital eines princeps? THOMAS BAIER fragt am Beispiel der Milde, wie diese als Herrschertugend konturiert wurde. Ausgangspunkt ist Senecas Schrift De clementia, in der der kaiserliche Berater und Erzieher Nero auf die Tugend der Milde festzulegen und diese als ein Prinzip zu etablieren versucht, das der Willkür des princeps entzogen ist. Vor allem im unvollendeten zweiten Buch nähert Seneca die clementia, die ursprünglich im innenpolitischen Diskurs keine Rolle spielte, sondern nach römischer Vorstellung allenfalls im Umgang mit besiegten Feinden zur Anwendung kam, dem aequitas-Konzept der römischen Juristen an. Sie wird zu einer Tugend, welche die Anwendung der iustitia moderiert, für Gerechtigkeit im Einzelfall sorgt. In dem Beitrag wird gezeigt, dass Ansätze zu diesem Denken bereits bei Cicero und Sallust vorgeprägt sind. CHRISTIAN ROLLINGER widmet sich einer besonderen Kategorie des römischen Zivilrechts, den iudicia bonae fidei, die Teile des Kauf-, Miet-, Gesellschafts- und Personenrechts betreffen und eine explizit moralische Wertung als Grundlage des Urteils und der Strafbemessung beinhalten. Die dabei zur Geltung kommenden moralischen Normen und normativen Erwartungen orientieren sich eng an den bislang als vornehmlich aristokratisch wahrgenommenen sozialen Konventionen von fides und virtus, die durch die römische Jurisprudenz auch gesamtgesellschaftlich implementiert wurden. Da mit der Verurteilung in einem iudicium bonae fidei stets auch eine Verurteilung des moralischen Charakters des Angeklagten einherging, führte sie zu einer moralischen ebenso wie rechtlichen Benachteiligung (Infamierung), wodurch die enge Verbindung zwischen Rechtsnorm und sozialer Konvention erkennbar wird. Wie in einem historischen Diskurs Moralisches verhandelt werden kann, zeigt KATJA KRÖSS. Sie analysiert, wie die stadtrömische plebs in Cassius Dios zeitge-

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Eine Übersicht der Beiträge

schichtlichen Bücher als ein Subjekt konfiguriert wird, das politisch reflektierend oder zumindest intuitiv moralisch handelt. Dies ist primär auf ihre literarische Funktion zurückzuführen: Dio setzt die plebs bewusst als moralisches Korrektiv und als Stütze einer Senatorenschaft ein, die oftmals gegenteilig handeln muss. Er führt auf diese Weise einerseits seinen Lesern vor Augen, was in der jeweiligen Situation ‚richtiges‘ Handeln ist, und fällt andererseits sein Urteil über den Kaiser. Der Beitrag von KAREN PIEPENBRINK geht der Frage nach, inwieweit auch ein spätantiker Bischof des ausgehenden 6. Jhs. n. Chr. noch gehalten war, seine Konformität mit sozialen Werten zu explizieren. Überdies wird eruiert, in welchem Verhältnis traditionelle soziale Werte dabei zu genuin christlichen standen. Schließlich wird untersucht, wie sich seine Ausrichtung auf die Gemeinde und seine Bezugnahme auf Gott zueinander verhielten. ISABELLE KÜNZER stellt die soziale Lebenswelt der römischen Senatorenschaft am Beispiel des jüngeren Plinius in den Mittelpunkt. Es wird deutlich, dass dessen otium keineswegs ein Bereich war, in dem individuelle Freiräume nach Belieben ausgelebt werden konnten. Gerade dort war es außerordentlich bedeutsam, die senatorische Reputation zu wahren und den Verhaltenserwartungen sowie den Wert- und Moralvorstellungen des Senatorenstandes gerecht zu werden. Ursächlich dafür war, dass die Gestaltung des otium als eine Analysefolie für die charakterlichen Qualitäten einer Person in allen Lebensbereichen diente und dieses Werkzeug von den Zeitgenossen bereitwillig genutzt wurde.

I. GUTER ODER SCHLECHTER RUF UND DIE SOZIALEN FOLGEN

DIE MORAL DES DEMAGOGEN Soziokulturelle Wertediskurse im klassischen Athen Sven Page Das Volk von Athen machte es seinen führenden Politikern nicht leicht. Als Konsequenz der im Laufe des 5. Jhs. v. Chr. gestiegenen Relevanz der Volksversammlung, dem wichtigsten Ort der politischen Willensbildung des athenischen Volkes, sahen sich die soziopolitischen Funktionsträger zunehmend mit den hohen Ansprüchen des demos konfrontiert. Die Bürgerschaft zeichnete sich dabei insbesondere durch spontane Stimmungsschwankungen und häufige Meinungswechsel in den Sitzungen der ekklesia aus. Sie war zudem von tief verankertem Argwohn gegen jeden Machtmissbrauch durch Politiker geprägt und stand den sich bis weit ins 5. Jh. v. Chr. in der Regel aus aristokratischen Kreisen rekrutierenden Rednern stets skeptisch gegenüber. Sein Missfallen gegenüber den Akteuren auf der politischen Bühne vermochte der demos nicht nur durch das Ablehnen ihrer Anträge kundzutun. Er zögerte auch nicht, die politischen Handlungsträger eventuell niederzuschreien, sie von der Rednertribüne wegzuzerren oder für ihr Verhalten in der ekklesia vor Gericht zu stellen.1 Im klassischen Athen wurde der Diskurs über das angemessene Verhalten gegenüber dem demos allerdings nicht nur in der städtischen Öffentlichkeit geführt, sondern vor allem an den prominenten Persönlichkeiten der Gemeinschaft exemplifiziert. Die Redner standen infolgedessen mit ihrer gesamten Existenz – ihrer Person, ihrem Lebenswandel, ihrem öffentlichen Auftreten – im Fokus der Aufmerksamkeit. Sie mussten sich daher immer wieder Kritik an ihrem Verhalten gefallen lassen, wenn sie in der ekklesia persönliche Anfeindungen und Widerspruch erfuhren, in Komödienaufführungen zum Gegenstand des Spottes wurden oder sich vor Gericht mit den Folgen von Diffamierungen auseinanderzusetzen hatten. Da deviantes Verhalten potentiell zu Konflikten mit dem demos führte, war die Anpassung des eigenen Auftretens in der Öffentlichkeit eine gangbare Option, um auf die von der Gemeinschaft geforderten Verhaltensregeln zu reagieren.2 Meine These ist, dass sich den politischen Akteuren darüber hinausgehend jedoch auch die Möglichkeit bot, mit Hilfe verschiedener Strategien aktiv Einfluss auf den Wertediskurs zu nehmen, um den demos letztlich gezielt zur Änderung seiner 1 2

Vgl. MANN 2007: 29; vgl. für das ausgehende 5. und frühe 4. Jh. v. Chr. zudem Xen. Mem. 3,6,1; Plat. Prot. 319c–d; Aischin. 1,34f. sowie NIPPEL 1980: 74; VRETSKA 1966: 115. Vgl. etwa STEIN-HÖLKESKAMP 2000: 89; TIERSCH 2010: 86; AZOULAY 2014: 151; FINLEY 1962: 18.

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Sven Page

aktuellen Erwartungshaltung anzuregen. Jenseits der Frage nach dem Stellenwert dieser sog. Demagogen in der politischen Ordnung sowie den Kriterien für ihr angemessenes Verhalten im Umgang mit der Bürgerschaft werden diese Methoden am Fallbeispiel des Perikles exemplarisch untersucht. Zunächst wird die nicht unproblematische Quellenlage thematisiert. Da sich die zeitgenössischen literarischen Hinterlassenschaften nur in begrenztem Maße direkt zur fraglichen Thematik äußern, steht hierbei vor allen Dingen die PeriklesVita Plutarchs im Zentrum. Es wird gezeigt, dass Plutarchs Abhandlung als kaiserzeitlich ‚eingefärbter‘ Zugang zur politischen Kultur des klassischen Athens die Analyse der demagogischen Kommunikation mit dem demos um wertvolle Argumente bereichern kann. Es schließt sich ein zweiter, auf die politische Kulturgeschichte Athens bezogener Schritt an, der die Spezifika der perikleischen Kommunikation mit dem Volk von Athen in den Blick nimmt. Anhand exemplarisch herangezogener Quellenpassagen sollen dabei die kommunikativen Strategien herausgearbeitet werden, die es Perikles ermöglichten, maßgeblichen Einfluss auf den Diskurs über das Wirken der Demagogen seiner Zeit zu nehmen und dadurch zur beherrschenden Figur der athenischen Politik zu avancieren. Bevor nun der Beitrag des Perikles zu diesem soziopolitischen Prozess untersucht werden kann, erscheint es notwendig, einige kurze definitorische Vorbemerkungen zu machen, um inhaltliche Missverständnisse zu vermeiden. 1 BEGRIFFSKLÄRUNG UND QUELLENLAGE Der Begriff des Demagogen (δηµαγωγός) bezeichnet wörtlich übersetzt einen ‚Volksführer‘ und findet erstmals bei Aristophanes und Thukydides Anwendung, wo er die populistisch agierenden Politiker seit Kleon mit manipulativen oder auch betrügerischen Charakterbildern zeichnet.3 Seine dezidiert negative Konnotation als geradezu zerstörerischer ‚Volksverführer‘ erfuhr der Begriff erst in der frühen Neuzeit und insbesondere im 20. Jh.4 Perikles wurde, soweit wir wissen, von seinen Zeitgenossen noch nicht als demagogos bezeichnet,5 sondern erst von 3

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Vgl. Aristoph. hipp. 191–193; hipp. 213–222; Thuk. 4,21,3; vgl. hierzu auch LOSSAU 1969. Er ersetzt vielfach den zuvor gebräuchlichen Begriff ‚Anführer des Volkes‘ (προστάτης τοῦ δήµου; vgl. etwa Thuk. 3,70,3; Thuk. 3,75,2; Thuk. 3,82,1; Aristot. Ath. pol. 2,2; Ath. pol. 20,4; Ath. pol. 23,3) – Perikles wird bei Thuk. 2,65,5 sogar als ‚Anführer der Stadt‘ (προστάτης τοῦ πόλεως) bezeichnet; vgl. CONNOR 1971: 109ff.; RHODES 1997: 416; LEPPIN 1999: 133; zur erweiterten Terminologie OBER 1989: 105ff. Vgl. zum (vermeintlich) andersartigen Wesen athenischer Politiker seit Kleon, das Thuk. 2,65,10 und Aristot. Ath. pol. 28,1 zu postulieren scheinen, MANN 2007: 75–96; NIPPEL 2008: 59; DERS. 1980: 69f.; MEIER 2006: 147, 151; FINLEY 1962: 4, 16; anders AZOULAY 2014: 127f. Vgl. zum negativen Urteil über Demagogen und ihre Methoden jedoch bereits Plat. Gorg. 502d–503c; Gorg. 515c–517c; Gorg. 526b; Aristot. pol. 1270b13–15; pol. 1312b11–13. Vgl. allgemein MANN 2007: 19ff.; FINLEY 1962. Vgl. anders BLEICKEN 1994: 172ff.

Die Moral des Demagogen

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späteren Autoren wie Isokrates oder Plutarch mit diesem häufig noch neutral verwendeten Begriff bedacht.6 Der Einfachheit halber wird im Folgenden unter einem Demagogen ein führender Politiker verstanden, der den demos allein durch sein rhetorisches Geschick zu lenken vermochte.7 Der Demagoge trat dabei nicht als politischer Amtsträger auf und die Gruppe der so bezeichneten Redner bildete keinen eigenen sozialen oder politischen Stand.8 Er war vielmehr ein soziopolitisches Phänomen, das seine politische Durchsetzungskraft gänzlich aus seiner sozialen Vorrangstellung bezog.9 Die Wahl zum Amt des Strategen war freilich oftmals das Resultat dieser sozialen Prominenzrolle. Der Demagoge konnte jedoch auch ohne eine Amtsfunktion innezuhaben seine Überzeugungskraft auf den demos ausüben und wie alle anderen Bürger in der ekklesia sprechen10 – er war folglich dem Volk gegenüber nicht rechenschaftspflichtig.11 Umgekehrt bedeutet dies aber ebenfalls, dass die Stellung des Demagogen nicht durch die Autorität eines Amtes geschützt wurde und er folglich immer wieder Überzeugungsarbeit leisten musste, um dem ständig drohenden Verlust seiner politischen Führungsrolle zu entgehen.12 Die natürliche Bezugsgruppe des Demagogen war der demos.13 Der Begriff wird im Folgenden hauptsächlich gebraucht, um die Versammlung der Bürgerschaft in der ekklesia zu beschreiben. Obwohl er in der Regel als Einheit ange-

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Vgl. Isokr. 15,234; Plut. Per. 4,4. Vgl. etwa LOSSAU 1969: 83; LEPPIN 1999: 125, 132; NIPPEL 1980: 70; vgl. zur Thematik auch Plat. Gorg. 455d–456a; allgemein FINLEY 1980: 28ff.; YUNIS 1991. Vgl. zur Verbindung von Rhetorik mit Auftreten und Gestik zudem STEIN-HÖLKESKAMP 2000: 82–85. Die Demagogen des 5. Jhs. v. Chr. rekrutierten sich lange Zeit aus aristokratischen Kreisen, waren aber schon bereits vor Kleon (vgl. DAVIES 1971: 318f. [Nr. 8674]) keinesfalls immer nur der großgrundbesitzenden ‚Altaristokratie‘ zuzurechnen; vgl. in diesem Kontext MANN 2007: 124–141; CONNOR 1971: 151–163; teilweise anders HANSEN 1995: 37–39; OBER 1989: 112–118. Ephialtes etwa wird wiederholt als ‚arm‘ bezeichnet (vgl. Plut. Kim. 10,8; Ail. var. 2,43; var. 9,9; var. 13,39), Nikias bezog seinen enormen Reichtum hingegen vor allen Dingen aus dem Silberbergbau (vgl. Plut. Nik. 4,2; DAVIES 1971: 403f. [Nr. 10808]; allgemeiner Lys. 19,47; Plut. Nik. 3,1; Nik. 11,2; Nik. 15,2; Thuk. 7,86,4; Xen. por. 4,14). Vgl. hierzu auch Thuk. 2,37,1. Obgleich alle (Voll-)Bürger das Recht besaßen, in der Volksversammlung zu sprechen, so haben dies doch nur wenige Wortführer regelmäßig getan; vgl. NIPPEL 2008: 54; DERS. 1980: 70; MANN 2007: 15; FINLEY 1980: 28. Vgl. NIPPEL 1980: 102. So konnte etwa Kleon seinen Einfluss auch ohne bedeutende Amtsfunktion entfalten, bevor er 424 v. Chr., weniger als drei Jahre vor seinem Tod, erstmals zum Strategen gewählt wurde (vgl. Aristoph. Nub. 581–587) – ob sein Einsatz in Sphakteria als Stratege erfolgte, bleibt unklar (vgl. Thuk. 4,27,3–29,1; Diod. 12,63,4; Plut. Nik. 7,1–8,1). Vgl. nur einmal den Kleon karikierenden Paphlagonier in Aristophanes’ Rittern, der seine Stellung bei dem „Herr Demos von der Pnyx“ (Aristoph. hipp. 43) sofort verliert, als ihn ein anderer Demagoge in Verruf bringt und des Missbrauchs, Diebstahls sowie der Korruption bezichtigt. Vgl. auch NIPPEL 1980: 57–60, 107; FINLEY 1980: 28f.; DERS. 1962: 19; STEINHÖLKESKAMP 2000: 87. Vgl. zur Wechselwirkung von Masse und politischer Elite OBER 1989 (bes. 104–155).

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sprochen wird, stellte der demos dennoch keine einheitliche Masse dar.14 Er setzte sich vielmehr aus einer Vielzahl einzelner athenischer Bürger zusammen, die sich jeweils in Abhängigkeit des Beratungsgegenstandes mehr der einen oder anderen Position zuneigen konnten, ohne sich notwendigerweise langfristig politisch festzulegen.15 Für den Demagogen bedeutete dies, dass er sich bei Abstimmungen nicht auf eine wie auch immer beschaffene ‚Partei‘ verlassen konnte.16 Er musste vielmehr stets die Mehrheit des demos überzeugen. Um an dem hier zu untersuchenden soziokulturellen Wertediskurs zu partizipieren, war es dem Demagogen daher im Grunde gar nicht möglich, sich an dem normativen Erwartungshorizont der Bürgerschaft zu orientieren. Die Konstatierung der ‚Moral des Demagogen‘ muss in diesem Zusammenhang folglich auch als eine Chiffre für den gesellschaftlich akzeptierten Umgang des Redners mit den spezifischen Herausforderungen seiner Zeit vor dem Hintergrund des jeweils gültigen Wertesystems verstanden werden. Deviantes Verhalten führte dabei zur Formulierung von Kritik durch Vertreter des demos und der direkt oder indirekt vorgetragenen Aufforderung, das – verglichen mit dem maßgeblichen Erwartungshorizont als schlechter oder sogar falsch bewertete – Verhalten zu ändern, um soziale wie politische Sanktionen abzuwenden. Nach diesen Vorbemerkungen nun zur Quellenlage. Sie ist in Bezug auf Perikles selbst sowie seinen Beitrag zum Wertehorizont des Demagogen nicht unproblematisch: Herodot erwähnt Perikles lediglich ein einziges Mal.17 Thukydides schenkt ihm wiederholt Aufmerksamkeit, beleuchtet jedoch aufgrund seines Themas nur die beiden letzten Lebensjahre des Politikers.18 Der Zeit der Pentekontaetie – und somit des primären zeitlichen Wirkungsrahmens des Perikles – schenken 14

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Vgl. zur Zusammensetzung des Bürgerverbandes am Beispiel des perikleischen Bürgerrechtsgesetzes von 451/450 v. Chr. stellvertretend BLOK 2009; COŞKUN 2013. Vgl. allgemeiner STEIN-HÖLKESKAMP 2000: 89; FINLEY 1962: 5, 15. Es lässt sich freilich nicht von der Hand weisen, dass in den Quellen in erster Linie die Sicht der aristokratischen Elite repräsentiert wird. Die Interessen, Meinungen und Positionen des demos (und seiner Teilmengen) sind dort in der Regel nur indirekt greifbar, wenn sich einzelne Demagogen diese zu eigen machen und kommunizieren. Zuweilen tritt die ansonsten namens- und gesichtslose Bürgerschaft jedoch auch aktiv in Erscheinung, ohne dass die Quellen hierbei aristokratische Demagogen als Wortführer benennen könnten – mehr noch: wiederholt gerät der demos in direkten Konflikt mit seinen führenden Politikern; so etwa bei der Absetzung des Perikles (vgl. Plut. Per. 35,3; Thuk. 2,65,3), bei der Hinrichtung von sechs Strategen im Arginusenprozess (vgl. Xen. hell. 1,7; Diod. 13,101), beim Niederschreien nicht glaubhafter Redner (vgl. Plat. Prot. 319c; Aischin. 1,34) oder bei der Weigerung der Soldaten/Ruderer, den oligarchischen Umsturz von 411 v. Chr. zu unterstützen (vgl. Thuk. 8,75–77). Vgl. zu ‚Parteien‘, Hetairien, Freundschaften, etc. und ihrem Einfluss auf die politische Willensbildung GEHRKE 1984; HÖLKESKAMP 1998; MANN 2007 (bes. 98–123); ANDREWES 1978: 2; CONNOR 1971: 3–32; STEIN-HÖLKESKAMP 1989 (bes. 157–165); FINLEY 1962: 6; OBER 1989: 121ff. Vgl. zum vermeintlichen Gegensatz einer demokratischen und einer oligarchischen ‚Partei‘ im Athen des 5. Jhs. v. Chr. EBD.: 205–230; NIPPEL 1980: 64ff.; KIENAST 1953; MEYER 1967; FROST 1964. Vgl. Hdt. 6,131 für den Traum der Agariste von der Geburt ihres Sohnes Perikles; vgl. weiterführend zu Herodot und Perikles STRASBURGER 1955. Vgl. zu Perikles bei Thukydides WILL 2003; NICOLAI 1996; MEIER 2006; YUNIS 1991.

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beide Historiker nur wenig Aufmerksamkeit. Je eine Biographie des Perikles aus der Feder des Ion von Chios und des Stesimbrotos von Thasos, die noch zu Lebzeiten des Perikles verfasst wurden, sind nicht mehr erhalten.19 Die Vertreter der Alten Komödie haben darüber hinaus Charakteristika der perikleischen Erscheinung und seines Wirkens zu ihrem Gegenstand erhoben, diese jedoch ihrem Genre entsprechend häufig stark überzeichnet und ohnehin nur sehr punktuell thematisiert. Es tritt hinzu, dass sich die erhaltenen Fragmente und Stücke in ihrer Bewertung des Perikles stark unterscheiden: Während die politischen Invektiven des Kratinos eine scharfe, zeitgenössische Kritik formulieren,20 suggerieren erst nach dem Tod des Perikles entstandene Passagen bei Aristophanes und Eupolis ein ausgewogeneres Bild.21 Platon hingegen erwähnt den athenischen Strategen zwar in einigen seiner Dialoge – so etwa im Menexenos, im Gorgias oder auch im Protagoras –, führt ihn in der Regel aber lediglich als (oftmals negativ konnotiertes) historisches Beispiel an. In der Athenaion politeia wiederum kommt die ablehnende Haltung ihres Autors gegenüber den Demagogen und deren Einfluss auf den demos klar zum Ausdruck.22 Perikles findet als positive Ausnahme zwar explizit Erwähnung,23 die Auseinandersetzung mit seiner Person und seiner Politik bleibt allerdings auf wenige Stellen beschränkt.24 Lediglich eine Handvoll Inschriften sind zudem auf uns gekommen, welche die Existenz und das Wirken des Politikers bezeugen.25 Die Erwähnungen des Perikles bei Pausanias wiederum besitzen meist illustrativen Charakter, der wenig zur fraglichen Thematik beizusteuern vermag.26 Und auch Diodor widmet sich dem athenischen Strategen nur in

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Vgl. FGrHist 107 (Stesimbrotos von Thasos) und FGrHist 392 (Ion von Chios). Die Verspottung von Politikern durch die Komödie (ὀνοµαστὶ κωµῳδεῖν) wurde zwischen 440/439 und 437/436 v. Chr. scheinbar sogar verboten. Eventuell diente das von Morychides eingebrachte Gesetz dazu, die Innenpolitik während Perikles’ langer Abwesenheit aufgrund des Samos-Feldzuges zu kontrollieren; vgl. Schol. Aristoph. Ach. 67; SCHWARZE 1971: 178f. Vgl. EBD.: 169, 178. Vgl. die vieldeutige Formulierung in Aristot. Ath. pol. 41,2: „[…] Die siebente und darauffolgende [Verfassungsänderung] (war) die, die Aristeides anbahnte und die Ephialtes durch die Auflösung des Rates auf dem Areopag vollendete; unter dieser geschah es, dass die Stadt unter dem Einfluss der Demagogen und wegen der Seeherrschaft die meisten Fehler machte.“ / „[…] ἑβδόµη δὲ ἡ µετὰ ταύτην, ἣν Ἀριστείδης µὲν ὑπέδειξεν, Ἐφιάλτης δ᾽ ἐπετέλεσεν, καταλύσας τὴν Ἀρεοπαγῖτιν βουλήν: ἐν ᾗ πλεῖστασυνέβη τὴν πόλιν διὰ τοὺς δηµαγωγοὺς ἁµαρτάνειν διὰ τὴν τῆς θαλάττης ἀρχήν.“ (Übers.: CHAMBERS); vgl. auch Ath. pol. 26,1f. Vgl. am deutlichsten Aristot. Ath. pol. 28,1: „Solange nun Perikles das Oberhaupt des Volkes war, stand es mit dem Staat ziemlich gut, aber nach seinem Tode (wurde es) viel schlimmer.“ / „ἕως µὲν οὖν Περικλῆς προειστήκει τοῦ δήµου, βελτίω τὰ κατὰ τὴν πολιτείαν ἦν, τελευτήσαντος δὲ Περικλέους πολὺ χείρω.“ (Übers.: CHAMBERS). Vgl. hierzu ebenfalls die entsprechende Formulierung in Thuk. 2,65,5–7. Vgl. Aristot. Ath. pol. 26,4–28,1. Vgl. IG I3 48 (Perikles’ Name kann in Zeile 43 ergänzt werden); IG I3 49 (Perikles’ Name kann in Zeile 13 ergänzt werden); IG I3 884; IG II2 2318, Zeile 10f. So beschreibt Pausanias die statuarische Ausstattung der Akropolis, die auch Weihgeschenke für Perikles (vgl. Paus. 1,25,1; Paus. 1,28,2) und dessen Vater Xanthippos (vgl. Paus. 1,25,1) aufwies, sowie das Grabmal des Strategen (vgl. Paus. 1,29,4). Die restlichen Befunde haben

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wenigen Kapiteln seiner Griechischen Weltgeschichte, wobei er diesen dem Charakter seines Werkes entsprechend vor allen Dingen im Rahmen einer ereignisgeschichtlichen Darstellung präsentiert.27 Obgleich all diese Quellen eine Auseinandersetzung mit Perikles widerspiegeln, so lassen sie doch eine umfassende Gesamtdarstellung seiner Person und seiner soziopolitischen Existenz nicht zu. Hinzu kommt, dass uns keinerlei Schriftzeugnisse von Perikles selbst überliefert sind. Dies ist umso bedauerlicher, da Thukydides, Platon und die Komödiendichter, Freunde und Feinde gleichermaßen, Perikles als den größten Redner seiner Zeit beschrieben haben.28 Einzig bei Thukydides sind drei Reden des Perikles überliefert29 – der Historiograph betont allerdings, dass er Reden stets nur so gut wiedergegeben hat, wie es ihm möglich war und mitunter auch notierte, was seine Protagonisten in einer Situation seiner Meinung nach hätten sagen müssen.30 Das einzige Werk, das Perikles umfassend charakterisiert und insbesondere seinem politischen Wirken große Aufmerksamkeit schenkt, stellt jene Biographie dar, die Plutarch dem Leben des athenischen Staatsmannes mehr als ein halbes Jahrtausend später gewidmet hat. Die altertumswissenschaftliche Forschung hat wiederholt ihre großen Vorbehalte gegenüber den von Plutarch verfassten bíoi parálleloi zum Ausdruck gebracht.31 Sie zieht etwa den vermeintlich historischer arbeitenden Thukydides Plutarch, die Historiographie also der Biographie vor. Es sind dabei nicht die Inhalte der Doppelbiographien, sondern vielmehr die enorme zeitliche Distanz, die Unbehagen bereitet. So lässt sich gegen Plutarch ins Feld führen, dass ihm jedes tiefere Verständnis für die politische Kultur des perikleischen Athens fehlen würde, er folglich als Quelle für die Thematik zu disqualifizieren sei. Für den kaiserzeitlichen Autor geht es jedoch nicht um die historisch akkurate Darstellung perikleischer Kommunikationsstrukturen. Mit seinem biographischen Anspruch ist er eben kein politischer Denker, der die historische Ge-

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eher beiläufigen Charakter, wenn sie etwa als finanzieller Vergleichswert (vgl. Paus. 1,29,16) oder zeitliche Markierung (vgl. Paus. 8,41,9) herangezogen werden. Vgl. Diod. 11,85,1f.; Diod. 11,88,1–3; Diod. 12,22,2; Diod. 12,27f. Lediglich Diod. 12,38,2– 12,46,1 erlaubt einige Einblicke in die politische Kultur des perikleischen Athens, die über eine faktische Darstellung hinausgehen. Vgl. z. B. Thuk. 1,139,4; Kratinos, PCG 4, frg. 324 (= Ael. Aristid. or. 2,72 = CAF 1, frg. 293); Kratinos, PCG 4, frg. 326 (= CAF 1, frg. 300); Eupolis PCG 5, frg. 102 und 103 (= Schol. Ael. Aristid. or. 3,51 = CAF 1, frg. 94 und frg. 96); Hermippos, PCG 5, frg. 47 (= CAF 1, frg. 46); Aristoph. ach. 530f.; Plat. Phaedr. 269e; Diod. 12,38,2; Diod. 12,39,5; Diod. 12,40,5; Diod. 12,46,1; Plut. Per. 8,1–5; vgl. indirekt Diod. 12,1,5; Thuk. 1,127,3. Vgl. zudem LEPPIN 1999: 83; LEHMANN 2008: 22–25; STEIN-HÖLKESKAMP 2000: 79; MEINHARDT 1957: 86–88; YUNIS 1991: 183; allgemein SPAHN 2005. Vgl. Thuk. 1,140–144; Thuk. 2,35–46; Thuk. 2,60–64; vgl. dazu auch WILL 2003: 198–213. Vgl. das ‚Methodenkapitel‘ in Thuk. 1,20–22, insbesondere Thuk. 1,22,1; vgl. hierzu grundlegend TSAKMAKIS 1998; VÖSSING 2005; WILL 2003: 361–367 mit weiterführender Literatur. Vgl. markant RUSCHENBUSCH 1992: 394; ebenso ANDREWES 1978: 1; CARTLEDGE 2014: XI, der vor allem die Perikles-Vita zu den schlechteren Schriften Plutarchs zählt und die dazugehörige Synkrisis weder „at all helpful or even interesting“ findet; vgl. zum Quellenwert von Plutarch darüber hinaus MANN 2007: 34–37; AMELING 1985; WILL 2003: 256–282; LEHMANN 2008: 25–29; vgl. für einen detaillierten Forschungsüberblick mit unterschiedlichen Positionen PODLECKI/DUANE 1992; BECK 2014.

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nese einer politischen Ordnung analysieren möchte.32 Von Bedeutung sind für ihn allein seine Hauptfigur und deren Charakter, die er mitunter zu Lasten des soziopolitischen Umfeldes und der Ereignisgeschichte in den Vordergrund rückt.33 Vollständigkeit oder eine korrekte Darstellung der Chronologie wird von Plutarch nicht angestrebt. Es ist vielmehr seine Intention, den Vorbildcharakter der geschilderten historischen Persönlichkeit herauszustellen und seine Leser moralisierend zu belehren, indem er ihnen tugendhafte Beispiele vor Augen hält – lediglich zwei der erhaltenen 22 Doppelbiographien (Alkibiades-Coriolanus, DemetriosAntonius) greifen Negativbeispiele auf. Plutarch ‚konstruiert‘ zudem bewusst die griechische Klassik, in die er sich durch breites Quellenstudium – auch und gerade von Autoren, die außerhalb seines Werkes wenig Erwähnung finden34 – intensiv eingelesen hat, zur nachahmenswertesten aller Epochen: Allein 13 Biographien behandeln Protagonisten des 5. und 4. Jhs. v. Chr., acht davon wiederum Männer aus Athen.35 Trotz der konzeptionell bedingten Fokussierung seiner Darstellung auf den jeweiligen Protagonisten, liefert Plutarch jedoch ebenso wichtige historische Details und Strukturelemente. Am athenischen Feldzug gegen Samos kann dies exemplarisch veranschaulicht werden: Die militärische Aktion ist in unterschiedlichen Varianten auch bei Thukydides und Diodor überliefert.36 Ein Abgleich des Informationsgehaltes veranschaulicht, dass Plutarch neben den rein faktischen Geschehnissen, die er möglicherweise direkt Thukydides und Diodor entnommen hat, zusätzliche Elemente anführt, die sich bei den anderen Autoren nicht finden lassen37 – der gleiche Sachverhalt lässt sich in Bezug auf die Ergänzung des epigraphischen Befundes durch den kaiserzeitlichen Autor feststellen.38 Darüber hinaus wird deutlich, dass zahlreiche historische Sachverhalte zwar unter der Schicht moralischer Verweise und kaiserzeitlicher Wertungen verborgen sind, gleichwohl aber für den weiterführenden historischen Erkenntnisprozess nutzbar gemacht 32 33 34 35 36 37

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Vgl. HÖLKESKAMP 1998: 10f.; MANN 2007: 35; vgl. zur Arbeitsweise Plutarchs MEINHARDT 1957: 9–16. Vgl. hierzu ganz eindeutig Plut. Alex. 1,2. Vgl. stellvertretend am Beispiel der Perikles-Vita MEINHARDT 1957; WILL 2003: 256–282; CARTLEDGE 2014: XI; MANN 2007: 35; DESIDERI 1992. Dion, Agesilaos, Nikias (A), Aristeides (A), Themistokles (A), Kimon (A), Perikles (A), Alkibiades (A), Pelopidas, Timoleon, Demosthenes (A), Phokion (A), Eumenes. Vgl. Plut. Per. 25,1–28,3; Thuk. 1,115,2–1,117,3; Diod. 12,27f. So etwa die vermeintliche Einflussnahme Aspasias auf Perikles (vgl. Plut. Per. 25,1; vgl. auch Per. 24,2), das Angebot der Bestechungsgelder (vgl. Per. 25,2f.) oder die Beschuldigung, die Athener hätten unter Perikles ‚Kriegsverbrechen‘ begangen (vgl. Per. 26,4; Per. 28,2f.). Eine fragmentarisch erhaltene Inschrift (vgl. IG I3 48), die Plutarch zusammen mit anderen perikleischen Zeugnissen in Athen gesehen hat (vgl. Plut. Per. 8,4), erwähnt Perikles im Friedensvertrag zwischen Athen und Samos. Im Vergleich mit dem literarischen Befund fällt auf, dass Perikles ohne besondere Prominenz als Mitglied des Kollegiums der Strategoi des Jahres 439/438 v. Chr. aufgeführt wird. Plutarchs literarische Ergänzung zeigt überdies die Möglichkeiten Athens auf, in die inneren Angelegenheiten seiner Bündnispartner einzugreifen und deren Streitigkeiten vor Gericht oder mit Gewalt zu beenden. Vgl. hierzu ausführlich MEIGGS 1972 (bes. 205–305); SCHULLER 1974.

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werden können.39 Dies gilt insbesondere für die zahlreichen Gerüchte, persönlichen Eigenheiten und Diffamierungen, die Plutarch für die Biographie des Perikles aufgegriffen hat: Sie geben wertvolle Einblicke in das individuelle Wirken seines Protagonisten auf der soziopolitischen Bühne seiner Zeit sowie die Wahrnehmung seiner Person und seiner Kommunikationsstrategien durch den demos.40 Plutarch übernimmt dabei die seinen Darstellungsinteressen am besten dienlichen Informationen aus den Quellen, die ihm zur Verfügung standen, um sie in wertender Zusammenschau wiederzugeben und illustrativ – zuweilen sogar geradezu beiläufig – um seine biographische Darstellung herum anzuordnen. Seine moralisierende Position ist jedoch vielfach klar ausgewiesen, seine Quellen werden zuweilen sogar direkt zitiert und erlauben es, dahinterliegende Sachverhalte zu erkennen.41 Der enorme zeitliche Abstand des kaiserzeitlichen Autors zu seinem klassischen Gegenstand mindert also nicht per se den Quellenwert. Im Gegenteil: Plutarchs Schrift besitzt mit ihrem großen Schatz an verwendeten Autoren eine ausgesprochen hohe Aussagekraft für die politische Kultur Athens in der zweiten 39

So kann Perikles während der militärischen Operation in caesarianischer Manier – er kam, sah und siegte – den Erfolg für sich verbuchen. Erst später (vgl. Plut. Per. 25,4–28,3) wird ergänzt, dass der Zug gegen Samos keinesfalls ein Kommandounternehmen ohne Widerstände, sondern tatsächlich der Beginn einer zwei Jahre andauernden Belagerung war (Kostenfaktor: ca. 1.200 Talente, vgl. Nep. Timoth. 1,2). Der Bericht impliziert zudem, dass Perikles zwar der kommandierende Befehlshaber vor Ort war, jedoch lediglich die Anordnungen der Volksversammlung ausführte – hier spiegelt sich offenkundig die kaiserzeitliche Militärstruktur wieder (der legatus Augusti [Perikles] zieht in kaiserlichem Auftrag [psephisma] aus der Hauptstadt Rom [Athen] in einer Provinz [Samos] in die Schlacht, um für den princeps [demos] einen Sieg zu erringen). Die kaiserzeitliche Interpretation der Ereignisse lässt sich aber von den hierzu von Plutarch verarbeiteten Informationen über das perikleische Athen trennen. Tatsächlich wird nach dem Beschluss der ekklesia die Befehlsgewalt alleine bei Perikles (und seinen Mitstrategen, vgl. IG I3 48) gelegen haben, der sich in der Kriegführung wiederholt bewiesen hatte (vgl. Thuk. 1,111,2; Thuk. 1,114; Thuk. 1,116; Thuk. 1,117) und daher auch in allen militärischen Operationen eine tragende Rolle spielte. 40 MANN 2007: 36 hat herausgearbeitet, dass es nicht von Bedeutung ist, ob besagte Gerüchte, Eigenheiten und Diffamierungen tatsächlich der Wahrheit entsprachen oder zu welchen interpretativen Schlüssen sie Plutarch verleitet haben. Zentral ist vielmehr, dass er Elemente aus einem zeitgenössischen Diskurs über den politischen Protagonisten Perikles verarbeitet und somit seinen Lesern zugänglich gemacht hat. 41 Vgl. stellvertretend nur einmal Plut. Per. 26,1f. und Per. 28,1–3. Direkte Zitate und Autorenangaben finden sich in Per. 3,5 (Kratinos, Cheirones, PCG 4, frg. 258 [= CAF 1, frg. 240]); Per. 3,5 (Kratinos, Nemesis, PCG 4, frg. 118 [= CAF 1, frg. 111]); Per. 3,7 (Eupolis, Demoi, PCG 5, frg. 115 [= CAF 1, frg. 93]); Per. 4,1 (Aristoteles, frg. 364); Per. 4,4 (der Komiker Platon, PCG 7, frg. 207 [= CAF 1, frg. 191]); Per. 4,5 (Timon von Phleius); Per. 4,5 (unbekannt); Per. 13,8 (Kratinos, incerta fabulae, PCG 4, frg. 326 [= CAF 1, frg. 300]); Per. 13,10 (Kratinos, Thraittai, PCG 4, frg. 71 [= CAF 1, frg. 71]); Per. 15,3 (Thuk. 2,65); Per. 16,2 (Telekleides, incertae fabulae, PCG 7, frg. 45 [= CAF 1, frg. 42]); Per. 24,9 (Kratinos, Cheirones, PCG 4, frg. 259 [= CAF 1, frg. 241]); Per. 24,10 (Eupolis, Demoi, PCG 5, frg. 110 [= CAF 1, frg. 98]); Per. 26,4 (Aristophanes, Babylonioi, PCG 3.2, frg. 71 [= CAF 1, frg. 64]); Per. 28,7 (Archilochos, frg. 27 Diehl); Per. 30,4 (Aristoph. Ach. 524–527); Per. 33,8 (Hermippos, Moirai, PCG 5, frg. 47 [= CAF 1, frg. 46]). Vgl. ergänzend für indirekte Zitate MEINHARDT 1957 (bes. 69–75).

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Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. und den spezifischen Charakter der unbedingt auf den demos hin ausgerichteten politischen Kommunikation des Perikles. Dies gilt freilich nur dort, wo Plutarch tatsächlich Informationen verarbeitet hat – wo sein selektives Vorgehen hingegen Auslassungen vorgenommen hat, sind wir auf andere Quellen angewiesen.42 2 FORSCHUNGSSTAND UND ARBEITSHYPOTHESEN Das Verhältnis der Demagogen zum Volk stellt ein zentrales Thema der politischen Ordnung Athens dar und ist als solches von der altertumswissenschaftlichen Forschung auch wahrgenommen worden. Der hier nur eingeschränkte Raum ermöglicht leider keinen umfassenden Forschungsüberblick, so dass stattdessen an der jüngsten monographischen Arbeit zu diesem Themengebiet die maßgebliche Forschungsposition kurz aufgezeigt werden soll: Im Zentrum von CHRISTIAN MANNs Arbeit Die Demagogen und das Volk steht die Frage nach der sozialen und politischen Existenz der athenischen Demagogen des 5. Jhs. v. Chr.43 Es geht MANN vor allen Dingen um das Verhältnis von sozialer Führungsposition und politischem Einfluss vor dem Hintergrund des Gedankens der isonomía. Es gelingt ihm, die unter anderem von ROBERT CONNOR44 formulierte These überzeugend zu widerlegen, dass mit dem Tod des Perikles im Jahr 429 v. Chr. eine neue Form der Demagogen auf der politischen Bühne zu verzeichnen gewesen sei, die sich hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft markant von ihren Vorgängern unterschieden und durch ihre populistische Politik die Beziehung zum demos grundlegend verändert hätten. Hierauf aufbauend untersucht MANN anhand der (politischen) Freundschaften, der Abstammung, dem Reichtum und der Bildung vier Felder traditioneller aristokratischer Selbstdarstellung.45 Er kann zeigen, dass diese Kriterien zwar das gesamte 5. Jh. v. Chr. hinweg konstitutiv für den Erwerb sozialen Prestiges waren, nicht jedoch zugleich auch politische Durchsetzungskraft sicherstellen konnten, mehr noch: politische Handlungsträger für die Demonstration betont aristokratischen Verhaltens durch Ostrakismos und andere Gerichtsverfahren sogar bestraft wurden.46 Da der soziale Status von den 42 43 44 45

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Dies gilt ebenfalls für geradezu verherrlichende, in jedem Fall zumindest recht unkritische Passagen; vgl. etwa Plut. Per. 35,2; Per. 38,4. Vgl. MANN 2007. Vgl. CONNOR 1971 auf der Grundlage von Thuk. 2,65; vgl. hierzu MANN 2007 (bes. 75–96). Vgl. ausführlich MANN 2007: 97–123 (philíai/hetairíai), 124–141 (eugéneia), 142–164 (ploútos), 165–183 (paideía); vgl. mit unterschiedlichen Positionen ebenfalls TIERSCH 2010; CONNOR 1971; OBER 1989 (bes. 156ff., 192ff., 248ff.); vgl. am Beispiel des Perikles etwa Plut. Per. 7,5–8 (Perikles nimmt nicht mehr an den Symposien seiner Freunde teil), Per. 33,3 (Perikles erklärt seine Bereitschaft, seine Ländereien zu Gunsten des demos aufzugeben) sowie Per. 4–8 (zahlreiche Beispiele für Perikles’ Bildung und normative Prägung); AZOULAY 2014: 15–22. So wurden etwa Kimon, der Sohn des Miltiades und Gegner der durch Perikles forcierten antispartanischen Politik 461/460 v. Chr. oder auch Thukydides, der Sohn des Melesias und Widersacher im Hinblick auf den Akropolisausbau 444/443 v. Chr. ostrakisiert. Der Einfluss

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Prozessen der politischen Meinungsbildung also ausgeschlossen war, inszenierten sich Demagogen infolgedessen oftmals als betont volksnah. MANNs Nachweis über die strukturelle Gleichheit der Demagogen des 5. Jhs. v. Chr. lässt allerdings auch das herausragende Handeln einzelner politischer Akteure, wie Ephialtes oder Perikles, die durch ihr Wirken in der ekklesia maßgeblichen Einfluss auf die Existenz der Demagogen im politischen Raum hatten, in den Hintergrund treten. Der Autor stellt insbesondere Perikles in eine lange Reihe von Rednern, die letztlich auf einem scheinbar vorgegebenen Feld von Kommunikationskriterien im ständigen Wettbewerb um die Gunst des demos miteinander standen. Als Konsequenz der politischen Macht, die dem athenischen Volk seit den Reformen des Kleisthenes zur Verfügung stand, muss meines Erachtens jedoch als Interpretationsmaxime gelten, dass sämtliches politische Wirken nicht nur vor dem in der Volksversammlung institutionalisierten demos vollzogen wurde, sondern vielmehr ohne Einschränkung auf diesen bezogen sein musste47 – der innenpolitische Kampf zwischen aristokratischen Demagogen stellte hierbei nur noch das auslösende Moment der Kommunikation mit der Bürgerschaft dar und trat danach in den Hintergrund. Als Folge hiervon muss die Beziehung des politischen Protagonisten zum Volk als ein andauernder Aushandlungsprozess zwischen dem demos auf der einen und dem Demagogen auf der anderen Seite begriffen werden. Perikles hat vielleicht nicht als Erster, aber unter seinen Zeitgenossen wohl am deutlichsten erkannt, welche Möglichkeiten die neue politische Ordnung für den einzelnen Redner bot und welche Strategien der politischen Kommunikation dabei genutzt werden konnten. MANN geht zudem implizit davon aus, dass die von Vertretern des demos formulierte Kritik einen grundsätzlich ähnlichen Charakter hatte und sich namentlich auf die Konstatierung einer Abweichung vom gemeinschaftlichen Wertekanon bezog, der etwa im Theater, im Gerichtswesen und in der Volksversammlung kommuniziert wurde.48 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der demos aber durchaus dazu in der Lage war, eine Vielzahl unterschiedlicher Wert- und Norm-

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des Perikles auf diese Entwicklungen darf jedoch nicht überschätzt werden. Die OstrakismosAbstimmungen waren nicht nur geheim und machten eine direkte Einflussnahme daher schwierig, sondern bargen obendrein das Risiko, selbst aus Athen verbannt zu werden. Zwei Ostraka aus der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. sind auf uns gekommen, die zeigen, dass auch Perikles zumindest von einem Teil der Athener als potentielle Gefahr im politischen Raum wahrgenommen worden ist; vgl. LANG 1990: 98 (Nr. 651/652). Vgl. MANN 2007: 28f. Der demos war hierbei mehr als nur ein erweiterter Resonanzkörper im Rahmen demagogischer Auseinandersetzungen. Dieser Umstand wird noch durch die Reformen verstärkt, mit denen unter der Führung des Ephialtes 462/461 v. Chr. wesentliche politische Kompetenzen vom Areopag auf die Volksversammlung und den Rat der 500 transferiert wurden; vgl. grundlegend RHODES 1992: 67–77; vgl. ebenfalls Plut. Kim. 15,2; Per. 9,5; Aristot. Ath. Pol. 25. Vgl. allgemein HÖLKESKAMP 1998: 21–25; STEIN-HÖLKESKAMP 1989: 229f.; DIES. 2000: 89; CONNOR 1971: 94–98, 105–108; OBER 1989: 77f., 123f. Die Wechselwirkung zwischen demos und Demagogen lässt sich freilich auch in anderen politischen Institutionen greifen, aber von einem breiten Diskurs über das angemessene demagogische Verhalten etwa in der boule berichten die Quellen wenig. Vgl. etwa die indirekte Schilderung eines demagogischen Konfliktfalles vor dem Rat in Aristoph. hipp. 611–690.

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verstöße seitens des Demagogen zu unterscheiden, in ihrem Schweregrad einzuschätzen und entsprechend angemessen zu kommunizieren, ohne in jedem Fall immer die umgehende Korrektur des fraglichen Verhaltens zu erwarten. Es lassen sich hierbei zwei Kategorien strukturell voneinander unterscheiden: 1. Vertreter des demos stellten eine häufig nur geringfügige Abweichung von ihrem Wertekanon seitens des Demagogen fest. Das Missfallen darüber, das auch eine allgemeine Kritik und Karikatur der prominenten Vertreter der Bürgerschaft umfassen konnte, zirkulierte in der Regel in Gestalt eines Gerüchtes (φήµη) mittel- bis längerfristig auf einem nicht-institutionellen Level innerhalb der polis, bis es häufig von Komödiendichtern aufgegriffen und im Rahmen von Theateraufführungen direkt kommuniziert wurde.49 Hierauf musste der Demagoge nicht – oder doch zumindest nicht sofort – reagieren, da ernstliche Konsequenzen nicht umgehend drohten. Ein Beispiel: Plutarch berichtet in seiner Charakterisierung der Aspasia ausführlich von Anspielungen auf den Lebenswandel des Perikles:50 „(3) Aspasia stammte aus Milet und war eine Tochter des Axiochos. Soweit stimmen die Quellen überein. […] (5) Die einen behaupten, Perikles habe Aspasia nur wegen ihrer Weisheit und politischen Einsicht umworben. Denn auch Sokrates besuchte sie zuweilen mit seinen Schülern,51 und ihre Freunde brachten oft die eigenen Gattinnen zu ihr, damit sie ihr zuhören könnten. Sie taten dies, obwohl Aspasia ein keineswegs ehrbares und anständiges Gewerbe trieb: sie hielt nämlich Hetären in ihrem Hause. […] (8) […] Er selber nahm Aspasia, an der er in inniger Liebe hing; (9) denn man erzählt, er habe sie jeden Tag, wenn er das Haus verließ und wenn er vom Markt heimkehrte, zärtlich geküsst. In den Komödien hingegen heißt sie die neue Omphale, Deianeira, zuweilen auch Hera. Kratinos nennt sie geradezu eine Dirne, wenn er sagt: ‚Die Geilheit gebar ihm Hera – Aspasia / die hundsäugige Dirne.‘52 (10) Wie es scheint, hatte Perikles von Aspasia auch einen unehelichen Sohn, nach dem ihn Eupolis in seinem Stück ‚Die Gemeinden‘ fragen lässt: ‚Wie? Lebt mein Bastard noch?‘, worauf Myronides zur Antwort gibt: ‚Er wäre längst ein Mann / wenn er nicht fürchtete die Schande von der Hure.‘53 […] 25. (1) Man wirft Perikles vor, er habe den Zug gegen Samos hauptsächlich wegen der Milesier, für die sich Aspasia verwendete, beantragt. […]“54

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Vgl. zum Charakter von Kritik in Komödienaufführungen MARTIN 2012: 72–76; zum Umlauf von politischen Gerüchten OBER 198: 148–151; zur Verarbeitung aktueller Themen der perikleischen Ära durch die Komödie SCHWARZE 1971: 185. Vgl. hierzu allgemein LEHMANN 2008: 179–182; AZOULAY 2014: 101–106. Dieser Vorwurf wird auch in Plat. Mx. 249d thematisiert. Identisch mit Kratinos PCG 4, frg. 259 (= CAF 1, frg. 241); vgl. grundlegend zu Perikles bei Kratinos SCHWARZE 1971: 5–90. Identisch mit Eupolis PCG 5, frg. 110 (= CAF 1, frg. 98); vgl. grundlegend zu Perikles bei Eupolis SCHWARZE 1971: 113–135. Plut. Per. 24,3–25,1: „(3) ὅτι µὲν γὰρ ἦν Μιλησία γένος, Ἀξιόχου θυγάτηρ, ὁµολογεῖται: […] τὴν δ' Ἀσπασίαν οἱ µὲν ὡς σοφήν τινα καὶ πολιτικὴν ὑπὸ τοῦ Περικλέους σπουδασθῆναι λέγουσι: καὶ γὰρ Σωκράτης ἔστιν ὅτε µετὰ τῶν γνωρίµων ἐφοίτα, καὶ τὰς γυναῖκας ἀκροασοµένας οἱ συνήθεις ἦγον ὡς αὐτήν, καίπερ οὐ κοσµίου προεστῶσαν ἐργασίας οὐδὲ σεµνῆς, ἀλλὰ παιδίσκας ἑταιρούσας τρέφουσαν. […] (8) […] αὐτὸς δὲ τὴν Ἀσπασίαν λαβὼν ἔστερξε διαφερόντως. (9) καὶ γὰρ ἐξιών, ὥς φασι, καὶ εἰσιὼν ἀπ' ἀγορᾶς ἠσπάζετο καθ' ἡµέραν αὐτὴν µετὰ τοῦ καταφιλεῖν. ἐν δὲ ταῖς κωµῳδίαις Ὀµφάλη τε νέα καὶ Δηϊάνειρα καὶ πάλιν Ἥρα προσαγορεύεται. Κρατῖνος δ' ἄντικρυς παλλακὴν αὐτὴν εἴρηκεν ἐν τούτοις: ‚Ἥραν τέ οἱ Ἀσπασίαν τίκτει Καταπυγοσύνη παλλακὴν κυνώπιδα.‘ (10) δοκεῖ δὲ καὶ τὸν νόθον ἐκ ταύτης τεκνῶσαι, περὶ οὗ πεποίηκεν Εὔπολις ἐν Δήµοις αὐτὸν µὲν οὕτως ἐρωτῶντα: ‚ὁ νόθος δέ µοι

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Der explizite Verweis auf die Fremdstämmigkeit und die angebliche Betätigung als Prostituierte und Bordellbesitzerin mögen einer (kaiserzeitlichen) Wertung Plutarchs entstammen, stellten für Perikles’ Zeitgenossen jedoch ein in aristokratischen Kreisen durchaus vertrautes Motiv dar – allenfalls mag dies indirekt seine Beziehung zu Aspasia als legitime athenische Ehe disqualifiziert haben. Es ist nun aber weniger Perikles selbst, der hier Kritik erfährt, als vielmehr der Lebenswandel mit seiner Gefährtin, den Plutarch und die Komödiendichter als zumindest anrüchig erscheinen lassen.55 Der Politiker muss sich so etwa durch den Vergleich mit dem Omphale-Mythos den Vorwurf gefallen lassen, sich als verweichlichter Mann der Führung einer starken Frau untergeordnet zu haben – Platon präsentiert im Menexenos eine Variation dieser Diffamierung, wenn er Sokrates behaupten lässt, der Epitaphios des Perikles sei in Wahrheit von Aspasia verfasst worden, die obendrein auch noch dessen Rhetoriklehrerin gewesen sei.56 Die Kritik wird durch die angebliche Einmischung Aspasias in die athenische Politik noch verstärkt, wodurch, wie Plutarch an anderer Stelle weiter ausführt, athenische Bürger zu Schaden kommen.57 Perikles mag zudem seine manchen Bürgern über das Maß hinausgehenden Zuneigung zu Aspasia vorgeworfen worden sein, hat aber zunächst keinerlei negative Sanktionen durch den demos erfahren müssen. Anders hingegen Aspasia, die – allerdings erst 433/432 v. Chr. – durch den Komödiendichter Hermippos der Asebie und der Kuppelei angeklagt wurde.58 Obgleich Perikles öffentlichen Spott und Missbilligung erfuhr, so lässt sich in den Quellen keinerlei Reaktion des Politikers darauf ausmachen. Der Rhetor scheint die Vorwürfe schlichtweg ignoriert zu haben, möglicherweise auch deswegen, da die Mehrheit des demos den Gerüchten keinen Glauben schenken konnte: Der Prozess gegen Aspasia endete jedenfalls durch den Einsatz des Perikles mit einem Freispruch.59 Und selbst auf dessen politische Karriere hatte die formulierte Kritik keine negativen Auswirkungen – zwischen 443 und 429 v. Chr. wurde er jedes Jahr aufs Neue zum Strategen gewählt. Freilich brachte der vage Vorwurf der Gottlosigkeit den Redner, obwohl er selbst nicht angeklagt worden war, zugleich in eine potentiell heikle Lage, wenn er sich vor den Richtern zugunsten von Aspasia äußern und diese, wie Plutarch den Sokratiker Aischines wiedergibt, unter Tränen um Gnade anflehen musste.60

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ζῇ;‘ τὸν δὲ Μυρωνίδην ἀποκρινόµενον: ‚καὶ πάλαι γ' ἂν ἦν ἀνήρ, εἰ µὴ τὸ τῆς πόρνης ὑπωῤῥώδει κακόν.‘ […] 25. (1) τὸν δὲ πρὸς Σαµίους πόλεµον αἰτιῶνται µάλιστα τὸν Περικλέα ψηφίσασθαι διὰ Μιλησίους Ἀσπασίας δεηθείσης. […]“ (Übers.: ZIEGLER/WUHRMANN). Vgl. ausführlich hierzu SCHWARZE 1971: 169f.; vgl. zur Verwendung von perikleischen Komödienfragmenten durch Plutarch allgemein EBD.: 183–185. Vgl. besonders deutlich in Plat. Mx. 235e–236b; SCHWARZE 1971: 122f. Vgl. Plut. Per. 26. Vgl. in diesem Zusammenhang indirekt auch Aristoph. ach. 524–534. Vgl. Plut. Per. 32,1. Vgl. für den Vorwurf sexueller Ausschweifungen und sogar des Inzests Per. 13,15f. bzw. Per. 36,6. Vgl. zum Prozess der Aspasia HARTMANN 2002: 204–207; vgl. zur Frage der Historizität des Prozesses mit unterschiedlichen Positionen STADTER 1989: 297f.; RAAFLAUB 2001: 106f. Vgl. Plut. Per. 32,5 (= SSR 6 A 67).

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2. Ein eklatantes Fehlverhalten des Demagogen – im Sinne eines direkten Konfliktes mit einer größeren Teilmenge des demos – wird festgestellt und umgehend dem fraglichen Akteur kommuniziert. Eine rasche Lösung war zwingend erforderlich, da der Demagoge ansonsten mit Sanktionen seitens der Bürgerschaft rechnen musste, wie etwa die Absetzung des Perikles als Stratege 430/429 v. Chr. als Folge eines solchen Konfliktes zeigt.61 Wie bereits angesprochen standen dem Rhetor zur Vermeidung einer solchen Situation, vereinfacht ausgedrückt, zwei Handlungsmöglichkeiten offen: Er konnte entweder sein Verhalten ändern und es den Forderungen des demos anpassen oder aber selbst Anstrengungen unternehmen, aktiv Einfluss auf die Erwartungshaltung der Bürgerschaft zu nehmen, um so letztlich sein eigenes Verhalten zu legitimieren. 3 DEMAGOGISCHE KOMMUNIKATIONSSTRATEGIEN Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen soll der Blick nun auf den Demagogen selbst gerichtet und dabei nicht mehr nach den Themenfeldern und Kriterien des Wertdiskurses mit dem demos gefragt werden. Vielmehr rücken die ihm zur Verfügung stehenden Strategien der Kommunikation in den Fokus, mit deren Hilfe ihm eine differenzierte Reaktion auf den Konflikt mit der Bürgerschaft ermöglicht wurde. In den Quellen lassen sich zwei unterschiedliche Kategorien von Methoden identifizieren: Strategien zur Konfliktvermeidung (A) sowie Strategien zur aktiven Diskursveränderung (B). 3.1

Strategien der Konfliktvermeidung

Neben der schlichten Anpassung des eigenen Verhaltens an die Erwartungshaltung des demos (A1) stand es dem Demagogen prinzipiell frei, dem Konflikt mit seinen Kritikern durch Rückzug aus dem politischen Raum zu entgehen (A2): So berichtet Plutarch etwa, dass Perikles sich in jungen Jahren bewusst von der politischen Bühne ferngehalten habe, da seine körperliche Erscheinung Ähnlichkeit 61

Vgl. Thuk. 2,65,3; Diod. 12,45,4; Plut. Per. 35,3–5. Die Abwahl hatte indes keine gravierenden Folgen für Perikles (die in Plat. Gorg. 515e formulierte Gefahr einer Hinrichtung dürfte überzogen sein), der kurz darauf erneut zum Strategen gewählt wurde. Und auch der durch Ostrakismos verbannte Kimon konnte nach Ablauf seines zehnjährigen Exils wieder nahtlos an seine Führungsposition anknüpfen (vgl. etwa Per. 10,3–6; Kim. 18,1f.). In beiden Fällen hatten die politischen Protagonisten jedoch vorübergehend die Zustimmung und Unterstützung des demos verloren und konnten daher in der fraglichen Zeit nur indirekt Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen; vgl. auch NIPPEL 2008: 60. Plat. Gorg. 515c–516d begreift die Anklage des Perikles und dessen anschließende Abwahl sogar als Anzeichen dafür, dass der Alkmeonide niemals ein ‚guter‘ Staatsmann gewesen sei. Vgl. zu dieser Frage unter anderem Thuk. 2,65,8f.; Dem. or. 3,21f.; vgl. allgemeiner zur Thematik Xen. Symp. 8,39; Mem. 2,6,13; vgl. zu Konfrontationen zwischen dem demos und Perikles darüber hinaus KIENAST 1953: 222–224.

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mit jener des Peisistratos aufgewiesen hätte.62 Der Verweis scheint Plutarch vor allem als Erklärung für die mehrere Jahre umfassende biographische Lücke in der Jugend seines Helden zu dienen,63 dürfte aber wohl eher ein Reflex aus späteren Jahren sein, als die Machtstellung des Perikles derart gefestigt war, dass ein Griff nach der Tyrannis manchen Zeitgenossen eventuell nicht mehr so abwegig erschien.64 Temporärer oder auch nur punktueller Rückzug lässt sich aber durchaus in den Quellen ausmachen.65 So heißt es an anderer Stelle in der Perikles-Vita: „Er hütete sich vor der ständigen Berührung mit dem Volk, die zum Überdruss führen musste, und zeigte sich ihm nur von Zeit zu Zeit, er vermied es, bei jeder Gelegenheit das Wort zu ergreifen oder vor der Menge aufzutreten, sondern gab sich wie das Staatsschiff ‚Salaminia‘, so drückt sich Kritolaos aus, nur für die wichtigsten Geschäfte her, die anderen ließ er durch seine Freunde und ihm ergebene Redner erledigen.“66

Kritolaos, der von Plutarch fragmentarisch wiedergegeben wird,67 versucht die scheinbar auffällige Zurückhaltung des Perikles in der Volksversammlung mit dessen belegter politischer Führungsposition in Einklang zu bringen.68 Er gibt zugleich Einblick in die politische Methodik des Alkmeoniden, politische Willensbildung nicht im Alleingang, sondern gemeinsam mit Gleichgesinnten zu betreiben. Geradezu präventiv – von einer zuvor geäußerten Kritik wird jedenfalls nichts berichtet – wiegt der junge Aristokrat seine Auftritte auf dem politischen Parkett Athens ab und hält sich in der Zwischenzeit zurück. Ein dauerhafter und totaler Abschied von der politischen Bühne konnte damit allerdings nicht verbunden sein – dem stand sowohl das politische Bewusstsein im Allgemeinen als auch das Selbstverständnis des Demagogen im Speziellen entgegen.69 Eine dritte Strategie wurde weiter oben bereits angesprochen: Bis zu einem gewissen Grad stand es dem Demagogen frei, die Kritik von Vertretern der Bürgerschaft schlichtweg zu ignorieren oder auszusitzen (A3), ohne dass es dabei zwangsläufig sofort zu einem Konflikt kommen musste. So war es Perikles etwa 62 63

Vgl. Plut. Per. 7,1. Historisch greifbar ist Perikles erstmals 473/472 v. Chr., als er für die von Aischylos verfasste Tragödie Die Perser die Choregie übernahm; vgl. IG II2 2318 (Zeile 10). 64 Vgl. deutlich Plut. Per. 16,1; SCHWARZE 1971: 170–172. 65 Vgl. hierzu Xen. mem. 3,7; Plat. Gorg. 485d; Thuk. 2,40,2; vgl. außerdem CONNOR 1971: 175–194 mit weiteren Belegen. 66 Plut. Per. 7,7: „ὁ δὲ καὶ τῷ δήµῳ τὸ συνεχὲς φεύγων καὶ τὸν κόρον οἷον ἐκ διαλειµµάτων ἐπλησίαζεν, οὐκ ἐπὶ παντὶ πράγµατι λέγων, οὐδ᾽ ἀεὶ παριὼν εἰς τὸ πλῆθος, ἀλλ᾽ ἑαυτὸν ὥσπερ τὴν Σαλαµινίαν τριήρη, φησὶ Κριτόλαος, πρὸς τὰς µεγάλας χρείας ἐπιδιδούς, τἆλλα δὲ φίλους καὶ ῥήτορας ἑτέρους καθιεὶς ἔπραττεν.“ (Übers.: ZIEGLER/WUHRMANN). 67 Frg. 37b Wehrli (vgl. auch frg. 37a Wehrli), das scheinbar nur bei Plutarch überliefert wurde. 68 HÖLSCHER 1975: 198 vermutet, dass der Salaminia-Verweis auf einen zeitgenössischen Witz, möglicherweise sogar aus einer Komödie, zurückzuführen ist. 69 Vgl. hierzu LEHMANN 2008: 163–166; STEIN-HÖLKESKAMP 2000: 89. Eine Verknüpfung der Strategien A1 und A2 lässt sich im Ostrakismos greifen, bei dem sich der Politiker den Forderungen des demos fügt – von ernsthaftem Widerstand gegen die Verbannung ist nichts bekannt – und sich so, wenn auch nicht aus Eigenantrieb, temporär aus dem politischen Raum zurückzieht. Freilich konnte der Verbannte durch Verwandte, Freunde und Gleichgesinnte immer noch Einfluss auf die politische Meinungsbildung nehmen.

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möglich, die Vorwürfe über seine Beziehung mit Aspasia und seinen Lebenswandel unkommentiert stehen zu lassen, sich jedoch weiterhin ohne Hindernisse auf der politischen Bühne zu bewegen.70 Als eine vierte Strategie lässt sich schließlich die Ablenkung benennen (A4): Um sein eigenes Fehlverhalten vergessen zu machen, konnte der Demagoge versuchen, die Aufmerksamkeit seiner Kritiker auf dringlichere Angelegenheiten zu lenken. So hat etwa Themistokles versucht, obgleich wenig erfolgreich, den Zorn des demos aufgrund seines als arrogant empfundenen aristokratischen Auftretens durch Verweise auf seine einzigartigen Leistungen während der Seeschlacht bei Salamis zu entkräften.71 In den Rittern des Aristophanes versucht der als Paphlagonier angesprochene, Kleon karikierende Demagoge den demos durch die Denunziation seines Herausforderers von seinen eigenen Verfehlungen abzulenken.72 Und über Perikles heißt es diesbezüglich etwa bei Aristophanes: „Hört, ihr weisen Ökonomen, und beherzigt mein Wort / wenn ihr gründlich wollt erfahren, wie sie [Athena] euch abhanden kam! / Ihr den ersten Stoß gegeben hat der arme Pheidias. / Darauf Perikles – weil ihm bangte vor des Freundes Missgeschick, / weil er euer Treiben kannte, eure bissige Natur, – / nur um sich zu sichern, stecke er selbst unsere Stadt in Brand / warf hinein den kleinen Funken: das megarische Edikt, / blies sie an, des Krieges Flamme, dass in Hellas allem Volk / nah und fern vor Rauch die Augen überliefen, hier wie dort.“73

Und ähnlich deutlich bei Plutarch: „Für Aspasia konnte Perikles einen Freispruch erwirken, freilich nur so, dass er, wie Aischines sagt, während der Verhandlung reichliche Tränen für sie vergoss und die Richter um Gnade anflehte. Den Anaxagoras hingegen bewog er, die Stadt zu verlassen, da er sich allzu sehr um ihn ängstigte.74 Weil er aber das Volk durch sein nahes Verhältnis zu Pheidias gegen sich aufgebracht hatte, fürchtete er den drohenden Prozess und blies darum den erwarteten, unter der Asche glimmenden Krieg zu heller Flamme an. Er hoffte nämlich, auf diese Weise die Anschuldigungen zerstreuen und den Neid niederschlagen zu können, da sich ja die Stadt wegen seines Ansehens und seiner Macht ihm allein anvertrauen müsste, wenn sie sich einer so großen Aufgabe und Gefahr gegenübersähe. […]“75

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Letzten Endes sah sich Perikles aber doch noch genötigt, seiner Lebensgefährtin in ihrem Prozess beizustehen, wobei die völlige Abwesenheit politischer Beweggründe in der Darstellung Plutarchs auffällig ist: Seine Stellung als Stratege (oder seinen Einfluss als Demagoge) sah er offenbar nicht direkt bedroht – die Notwendigkeit zum Handeln muss für ihn folglich persönlich begründet gewesen sein. Vgl. für ein anderes Beispiel demonstrativer Missachtung von Kritik durch Perikles Plut. Per. 5,2. Vgl. Plut. Them. 22,1; Hdt. 8,125; Diod. 11,27,3. Vgl. Aristoph. hipp. 278f. Aristoph. eir. 603–611: „ὦ σοφώτατοι γεωργοί, τἀµὰ δὴ ξυνίετε / ῥήµατ᾽, εἰ βούλεσθ᾽ ἀκοῦσαι τήνδ᾽ ὅπως ἀπώλετο. / πρῶτα µὲν γὰρ ἦρξεν αὐτῆς Φειδίας πράξας κακῶς: / εἶτα Περικλέης φοβηθεὶς µὴ µετάσχοι τῆς τύχης, / τὰς φύσεις ὑµῶν δεδοικὼς καὶ τὸν αὐτοδὰξ τρόπον, / πρὶν παθεῖν τι δεινὸν αὐτός, ἐξέφλεξε τὴν πόλιν. / ἐµβαλὼν σπινθῆρα µικρὸν Μεγαρικοῦ ψηφίσµατος, / ἐξεφύσησεν τοσοῦτον πόλεµον ὥστε τῷ καπνῷ / πάντας Ἕλληνας δακρῦσαι, τούς τ᾽ ἐκεῖ τούς τ᾽ ἐνθάδε.“ (Übers.: SEEGER). Vgl. zum Prozess des Anaxagoras auch Diog. Laert. 2,12–15. Plut. Per. 32,5f.: „Ἀσπασίαν µὲν οὖν ἐξῃτήσατο, πολλὰ πάνυ παρὰ τὴν δίκην, ὡς Αἰσχίνης φησίν, ἀφεὶς ὑπὲρ αὐτῆς δάκρυα καὶ δεηθεὶς τῶν δικαστῶν: Ἀναξαγόραν δὲ φοβηθεὶς

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Perikles stand – unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt – offenbar schon in der Antike im Verdacht, den Peloponnesischen Krieg ausgelöst zu haben, um von anderen Problemen abzulenken.76 Beide Autoren nennen übereinstimmend den innenpolitischen Druck, dem der Politiker in Folge von mehreren Prozessen in seinem Umfeld ausgesetzt war.77 Plutarch betont darüber hinaus sogar das Kalkül des Demagogen, der um seinen – vielleicht auch durch militärisches Geschick erworbenen – politischen Einfluss beim demos wusste und sich daher der Betrauung mit der Lösung des Problems sicher sein konnte, selbst dann, wenn er dieses in der öffentlichen Wahrnehmung selbst verursacht hatte.78 3.2

Strategien zur Diskursveränderung

Anders als die Methoden im obigen Abschnitt sind die Kommunikationsstrategien der zweiten Kategorie (B) darauf ausgelegt, den jedem Konflikt zugrundliegenden Diskurs über das als angemessen empfundene demagogische Verhalten aktiv zu beeinflussen und idealiter maßgeblich zu gestalten. Die wirksamste Strategie des Demagogen war hierbei sicherlich die Gegenrede (B1). Sie kam zur Anwendung, wenn der Konflikt mit dem demos bereits eingetreten und die Kritik am Verhalten des Politikers öffentlichkeitswirksam kommuniziert worden war. Aufgrund seiner rhetorischen Fähigkeiten wurde der Demagoge dabei in die Lage versetzt, sein eigenes Verhalten als akzeptabel oder sogar überlegen zu inszenieren79 – je nach Sachlage konnte er seine Kritiker gegebenenfalls auch davon überzeugen, dass eine Fehleinschätzung ihrerseits vorlag und sein eigenes Verhalten eigentlich der geltenden Norm entsprach.80 Die Beschreibung der perikleischen Baumaßnahmen auf der Akropolis schildert eine

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ἐξέπεµψεν ἐκ τῆς πόλεως. ὡς δὲ διὰ Φειδίου προσέπταισε τῷ δήµῳ, φοβηθεὶς τὸ δικαστήριον µέλλοντα τὸν πόλεµον καὶ ὑποτυφόµενον ἐξέκαυσεν, ἐλπίζων διασκεδάσειν τὰ ἐγκλήµατα καὶ ταπεινώσειν τὸν φθόνον ἐν πράγµασι µεγάλοις καὶ κινδύνοις τῆς πόλεως ἐκείνῳ µόνῳ διὰ τὸ ἀξίωµα καὶ τὴν δύναµιν ἀναθείσης ἑαυτήν.“ (Übers.: ZIEGLER/WUHRMANN). Vgl. hierzu auch LEHMANN 2008: 13–18, 200–203. Die hier wirkende φήµη, das Gerücht, ist unbedingt von der διαβολή bzw. συκοφαντία, der Verleumdung, zu unterscheiden. Während pheme von der Masse des demos ausging und allgemeinen Druck auf den Demagogen erzeugte, sein gegenwärtiges Verhalten zum Wohle der Gemeinschaft zu ändern, waren diabole bzw. sykophantia negativ konnotiert und wurden vom Einzelnen gezielt zu dessen eigenem Vorteil eingesetzt; vgl. NÜNLIST 2000: 765f.; allgemeiner VOIGT 1938: 1954f. Dieser Sachverhalt wird ebenfalls bei Diod. 12,38,2 und Diod. 12,39,2f. geschildert. Vgl. zu den Prozessen im Umfeld des Perikles ausführlich RAAFLAUB 2000; KIENAST 1953: 210– 217; FROST 1964: 394–397. Vgl. hierzu Plut. Per. 37,1. Vgl. für die Wortgewaltigkeit des Perikles eindrücklich Plut. Per. 8,5; vgl. zum besonderen Charakter der perikleischen Rhetorik YUNIS 1991: 180ff. Vgl. als Beispiele für die Strategie B1 ergänzend zu den folgenden Ausführungen auch Themistokles (Plut. Arist. 2,5; ger. r. p. 13 [= Mor. 807AB]), der seine Loyalität zum demos der Verbundenheit zu seinen Freunden unterordnete. Vgl. außerdem Thuk. 2,65,8f. sowie Dem. or. 3,21f. mit der allgemeineren Formulierung, dass Perikles zuweilen hart mit dem demos ins Gericht ging, um seinen politischen Kurs durchzusetzen.

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solche Situation beispielhaft:81 Im Zuge der Arbeiten war es zu heftigem Widerstand in der Volksversammlung gekommen, der sich vor allen Dingen an der Verwendung der Seebundgelder für die Baumaßnahmen entzündete. Die Vorwürfe wurden wahrscheinlich von Thukydides, dem Sohn des Melesias, artikuliert,82 spiegeln allerdings grundlegende Vorbehalte der Aristokratie wieder, die traditionell über enge Gastfreundschaftsbeziehungen in viele der Bündnisstädte verfügte und diese durch das Handeln des Perikles bedroht sah.83 Der Kritik wich Perikles geschickt aus: „12. (3) Perikles machte demgegenüber dem Volk klar, dass Athen den Bundesgenossen für seine Gelder keine Rechenschaft schuldig sei, da es den Krieg für sie führe und sie vor den Persern beschütze. ‚Die Bundesgenossen stellen uns kein einziges Pferd, kein Schiff, keinen Soldaten zur Verfügung, sie geben uns nichts als ihr Geld. Das Geld aber gehört nicht denen, die es zahlen, sondern denen, die es bekommen, sofern sie für den erhaltenen Betrag die vereinbarte Gegenleistung erstatten. (4) Da nun unsere Stadt mit Kriegsbedarf hinreichend versehen ist, müssen wir den Überfluss auf Werke lenken, die uns nach ihrer Vollendung ewigen Ruhm, während ihres Entstehens allgemeinen Wohlstand versprechen. So wird es Arbeit in Fülle geben, die mannigfachen Bedürfnisse werden jedes Handwerk beleben, jeder Hand Beschäftigung bringen, fast die ganze Stadt wird ihren Verdienst finden, indem sie sich durch eigene Leistung schmückt und zugleich ernährt.‘ “84

Perikles macht seine politischen Gegner darauf aufmerksam, dass die vorgebrachte Kritik auf einer Fehleinschätzung beruht. Athen, so seine Argumentation, handele dem Geist des Seebundes entsprechend, wenn es als bedeutendste Macht im Bündnis seine Vertragspartner militärisch vor den Persern schütze. Für diesen Dienst stünde den Athenern eine Gegenleistung zu, die Perikles in den phoroi 81

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Vgl. hierzu ebenfalls Val. Max. 3.1 ext. 1; FGrHist 228 F 8 (Demetrios v. Phaleron). Vgl. im Folgenden ausführlich AMELING 1985; vgl. zur Mitgliedschaft des Perikles in der zuständigen Baukommission FGrHist 328 F 121 (Philochoros); Strab. geogr. 9,1,12; vgl. zu Fragen der Datierung und der perikleischen Beteiligung an den Baumaßnahmen den sog. Anonymus Argentinensis (= Strasbourg Papyrus Graeca 84), dazu MEIGGS 1972: 515–518; zu Perikles als ‚Bauherr‘ WILL 2003: 309–316; zum Bauprogramm LEHMANN 2008: 139–144. Thukydides wird in Plut. Per. 12,1f. zwar nicht namentlich genannt, tritt jedoch kurz darauf in Per. 14,1 als Meinungsführer in Erscheinung. Vgl. zum politischen Konflikt zwischen Perikles und Thukydides HÖLKESKAMP 1998; KIENAST 1953; LEHMANN 2008: 154–158; MEYER 1967; zur ‚Opposition‘ des Perikles ANDREWES 1978; FROST 1964. Wie Thukydides (vgl. Plat. Men. 94d; DAVIES 1971: 230–237 [Nr. 7268]), so muss auch Perikles als führende Persönlichkeit der Alkmeoniden über entsprechende Verbindungen verfügt haben. Plutarch nennt mit der Gastfreundschaft zu Archidamos, einem der Könige Spartas (vgl. Plut. Per. 33,2; freilich kein Mitglied des Seebundes), sowie der engen Verbundenheit Aspasias mit Milet zwei dieser Beziehungen beispielhaft (vgl. Per. 25,1). Plut. Per. 12,3f.: „12. (3) ἐδίδασκεν οὖν ὁ Περικλῆς τὸν δῆµον ὅτι χρηµάτων µὲν οὐκ ὀφείλουσι τοῖς συµµάχοις λόγον προπολεµοῦντες αὐτῶν καὶ τοὺς βαρβάρους ἀνείργοντες, οὐχ ἵππον, οὐ ναῦν, οὐχ ὁπλίτην, ἀλλὰ χρήµατα µόνον τελούντων, ἃ τῶν διδόντων οὐκ ἔστιν, ἀλλὰ τῶν λαµβανόντων, ἂν παρέχωσιν ἀνθ᾽ οὗ λαµβάνουσι: (4) δεῖ δὲ τῆς πόλεως κατεσκευασµένης ἱκανῶς τοῖς ἀναγκαίοις πρὸς τὸν πόλεµον, εἰς ταῦτα τὴν εὐπορίαν τρέπειν αὐτῆς ἀφ᾽ ὧν δόξα µὲν γενοµένων ἀΐδιος, εὐπορία δὲ γινοµένων ἑτοίµη παρέσται, παντοδαπῆς ἐργασίας φανείσης καὶ ποικίλων χρειῶν, αἳ πᾶσαν µὲν τέχνην ἐγείρουσαι, πᾶσαν δὲ χεῖρα κινοῦσαι, σχεδὸν ὅλην ποιοῦσιν ἔµµισθον τὴν πόλιν, ἐξ αὑτῆς ἅµα κοσµουµένην καὶ τρεφοµένην.“ (Übers.: ZIEGLER/WUHRMANN).

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identifiziert und für deren Verwendungszweck er sich und seine polis in keinerlei Rechenschaftspflicht sieht.85 Er appelliert zugleich an den Wunsch der Bürgerschaft nach der ewigen Größe Athens und führt ihr die Vorteile seines Handelns vor Augen: Da Athen bereits für jeden militärischen Konflikt ausreichend gerüstet sei, erscheint es ihm angebracht, die verfügbaren Finanzmittel für Baumaßnahmen einzusetzen, die dem demos Beschäftigung und Wohlstand ermöglichen. Ob es tatsächlich der athenische Bürger war, der letztlich hiervon profitierte, muss fraglich bleiben.86 Vielfach dürften die Arbeiten eher von auswärtigen Architekten, Handwerkern und Künstlern ausgeführt worden sein, die gemeinsam mit ihren Sklaven die Akropolis Gestalt annehmen ließen. Perikles’ argumentative Strategie scheint trotz allem erfolgreich gewesen zu sein, denn als seine Kritiker erneut das Wort erheben, werden die Baumaßnahmen an sich nicht mehr infrage gestellt. Die Kritik beschränkt sich allein auf die Höhe der Ausgaben:87 „14. (1) Als Thukydides und die Redner seiner Partei Perikles verschrien, er verschleudere das Staatsvermögen und zerrütte die Finanzen, richtete er in der Versammlung die Frage an das Volk, ob es die Ausgaben hoch finde. ‚Ja‘, lautete die Antwort, ‚außerordentlich hoch.‘ ‚Nun gut‘, erwiderte Perikles, ‚so sollen die Kosten nicht auf euch fallen, sondern auf mich, und auf die Bauten werde ich meinen eigenen Namen setzen lassen!‘ (2) Nach diesen Worten erhob die Menge ein lautes Geschrei, er solle das Geld aus dem Staatsschatz nehmen, unbedenklich und ohne zu sparen. So riefen ihm die Bürger zu, vielleicht aus Bewunderung für seinen edlen Stolz, vielleicht aber auch aus dem ehrgeizigen Verlangen, selbst teilzuhaben am Ruhm dieser Werke.“88

Die Volksversammlung ließ sich umgehend zum Einlenken bewegen – Thukydides und seinen Mitstreitern gelang es nicht, sich gegen den plötzlichen Meinungsumschwung des demos durchzusetzen.89 Dieser hatte erkannt, dass der Ausbau der Akropolis ein Gemeinschaftsprojekt war, das letztlich allen Athenern zu Gute kam. Mehr noch: Perikles hatte nicht nur die Monopolisierung der Baumaßnahmen – und damit auch des daraus resultierenden Ruhmes – angedroht. Er hatte 85 86 87

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Vgl. zur Verfügungsgewalt Athens über die Tributzahlungen SCHULLER 1974: 70f.; MEYER 1967: 148f. Vgl. hierzu MUSS/SCHUBERT 1988: 152f.; AMELING 1985: 53f. Vgl. zur Höhe der Ausgaben und zu den Finanzen sowie Rücklagen Athens IG I2 91 und 92; IG I3 436–450; Thuk. 2,13,3–5; Diod. 12,40,2f.; Dem. or. 2,24; Isokr. 8,126; Isokr. 15,234 sowie SAMONS 1993; MEIGGS 1972: 234–272 (insbesondere zu den phoroi); SCHUBERT 1994: 54–88; MUSS/SCHUBERT 1988: 149–155; allgemein JONES 1954; AMELING 1985: 50f. Plut. Per. 14,1f.: „14. (1) τῶν δὲ περὶ τὸν Θουκυδίδην ῥητόρων καταβοώντων τοῦ Περικλέους ὡς σπαθῶντος τὰ χρήµατα καὶ τὰς προσόδους ἀπολλύντος, ἠρώτησεν ἐν ἐκκλησίᾳ τὸν δῆµον εἰ πολλὰ δοκεῖ δεδαπανῆσθαι: φησάντων δὲ πάµπολλα: ‚µὴ τοίνυν‘, εἶπεν, ‚ὑµῖν, ἀλλ᾽ ἐµοὶ δεδαπανήσθω, καὶ τῶν ἀναθηµάτων ἰδίαν ἐµαυτοῦ ποιήσοµαι τὴν ἐπιγραφήν.‘ (2) εἰπόντος οὖν ταῦτα τοῦ Περικλέους, εἴτε τὴν µεγαλοφροσύνην αὐτοῦ θαυµάσαντες εἴτε πρὸς τὴν δόξαν ἀντιφιλοτιµούµενοι τῶν ἔργων, ἀνέκραγον κελεύοντες ἐκ τῶν δηµοσίων ἀναλίσκειν καὶ χορηγεῖν µηδενὸς φειδόµενον.“ (Übers.: ZIEGLER/WUHRMANN). Vgl. außerdem HÖLKESKAMP 1998 (insbesondere 1–6). Die rhetorischen Fähigkeiten des Perikles, der diese Situation laut Plutarch herbeigeführt hat, werden auch dadurch als herausragend veranschaulicht, dass seine Reden in der Volksversammlung oftmals den Abschluss der Diskussionen markieren; vgl. hierzu LEPPIN 1999: 151; vgl. außerdem Thuk. 1,145; Thuk. 2,65,1; Plut. Per. 14,2.

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obendrein die einseitige Aufkündigung der bislang gemeinsam durch das Volk und die Demagogen getragenen Politik und die Rückkehr zur aristokratischen Großzügigkeit der Archaik in den Raum gestellt.90 Die Androhung, die Baumaßnahmen auf eigene Kosten fortzuführen, hätte er freilich nicht in die Tat umsetzen können – über derartige finanzielle Mittel verfügte kein einzelner Bürger.91 Die Formulierung lässt sich scheinbar direkt dem kaiserzeitlichen Erfahrungshorizont Plutarchs zuschreiben, in dessen Lebenswelt der großzügige und märchenhaft reiche princeps Roms eine feste Größe war. Sie fügt sich jedoch ebenso in die bürgerorientierte Politik des Perikles ein: Mit seinem Manöver führt der aristokratische Demagoge der Bürgerschaft deutlich vor Augen, dass die Gemeinschaft stets vor dem Einzelnen kam, sogar vor ihm selbst.92 Alles andere – das sah nun auch der demos wieder – war letztlich untragbar.93 Die Grundlage der perikleischen Stellung, die Thukydides in seiner berühmten Formulierung – „[…] Es war dem Namen nach eine Demokratie, in Wirklichkeit eine Herrschaft des ersten Mannes“94 – umschreibt, sehen die antiken Quellen übereinstimmend in der effektvollen Kombination aus Rede und Tat.95 Es mag daher nur wenig überraschen, wenn die demonstrative Handlung eine weitere Strategie im Repertoire des athenischen Politikers darstellt (B2). Im Grunde bildet sie das praktische Pendant zur Gegenrede, muss aber nicht zwangsläufig damit in Zusammenhang stehen. Der Demagoge konnte hierbei, anstatt sich auf möglicherweise langwierige Erwiderungen einzulassen, aus eigener Initiative heraus Fakten schaffen und dem vom demos problematisierten Verhalten ein in seinen Augen erstrebenswerteres Handeln entgegensetzen. So beschreibt Plutarch, wie die Spartaner unmittelbar nach Ausbruch des Peloponnesischen Krieges Attika bis nach Acharnai verwüsteten:

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Vgl. ausführlich hierzu STEIN-HÖLKESKAMP 1989: 228; NIPPEL 1980: 67; allgemeiner AME1985: 60f. Kimon hatte seinerzeit allen Bürgern Zugang zu seinen Gütern gewährt, um sich an deren Erträgen zu bedienen (vgl. Plut. Kim. 10,1); Perikles gelobte angesichts der drohenden Invasion Attikas durch die Spartaner, seine Güter dem demos zu überschreiben, sollten sie verschont werden (vgl. Thuk. 2,13,1; Plut. Per. 33,2). Vgl. allgemein zu privater Großzügigkeit und öffentlicher Dankbarkeit OBER 1989: 226–230. Vgl. AMELING 1985: 57; vgl. zur finanziellen Lage von Perikles und seiner Familie ausführlich DAVIES 1971: 455–460 [Nr. 11811]. Vgl. dazu auch LEPPIN 1999: 87 (Gebrauch der ersten Person Plural im Epitaphios des Perikles), 110; STEIN-HÖLKESKAMP 2000: 90f. Vgl. ebenfalls IG I3 49. Die Inschrift gibt darüber Auskunft, dass Perikles (Zeile 13) und seine Söhne ein Brunnenhaus aus eigenen Mitteln stiften wollten, der demos zwar für das Angebot dankte, die Kosten jedoch lieber aus öffentlichen Mitteln beglich; vgl. hierzu AMELING 1985: 59f.; MANN 2007: 158; STADTER 1989: 181ff. Thuk. 2,65,9: „[…] ἐγίγνετό τε λόγῳ µὲν δηµοκρατία, ἔργῳ δὲ ὑπὸ τοῦ πρώτου ἀνδρὸς ἀρχή.“ (Übers.: LANDMANN). Vgl. zur Bewertung der Stelle SPAHN 2005; VRETSKA 1966. Vgl. deutlich etwa Thuk. 1,139,4: „[…] schließlich stand Perikles Xanthippos’ Sohn auf, zu jener Zeit der erste Mann in Athen, gleich mächtig im Reden wie im Handeln […]“ / „[…] καὶ παρελθὼν Περικλῆς ὁ Ξανθίππου, ἀνὴρ κατ' ἐκεῖνον τὸν χρόνον πρῶτος Ἀθηναίων, λέγειν τε καὶ πράσσειν δυνατώτατος […]“ (Übers.: LANDMANN). LING

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Sven Page „(4) […] Hier schlugen sie ein Lager auf in der Hoffnung, die Athener würden nicht an sich halten, sondern in ihrem Stolz zornig zur Schlacht ausrücken. (5) Für Perikles aber war es ein furchtbarer Gedanke, gegen sechzigtausend wohlbewaffnete Peloponnesier und Boiotier – so stark war das Feindesheer bei seinem ersten Einfall – eine Schlacht zu wagen, welche über Sein oder Nichtsein der Stadt entscheiden musste. Den Bürgern, welche die Lage unerträglich fanden und zum Kampf drängten, hielt er zur Beschwichtigung entgegen, dass umgehauene Bäume in kurzer Zeit nachwüchsen, während es schwer halte, erschlagene Männer zu ersetzen. (6) Auch rief er das Volk nicht mehr zur Versammlung, weil er fürchtete, es könnte ihn gegen seinen Willen zur Schlacht zwingen, sondern, wie ein Kapitän auf hoher See angesichts des drohend heraufziehenden Sturmes alles in Bereitschaft setzen lässt, die Segel einzieht und das Schiff im Vertrauen auf seine Erfahrung steuert, ohne auf die Tränen und Bitten angsterfüllter seekranker Passagiere zu achten, so ließ sich auch Perikles, nachdem er die Stadt verschlossen und alle wichtigen Punkte durch Wachen gesichert hatte, einzig von seiner persönlichen Einsicht leiten und kümmerte sich wenig um das Geschrei aufgebrachter Mitbürger. (7) Von vielen Seiten drängten sie auf ihn ein, die Freunde mit Bitten, die Feinde mit Drohungen und Anklagen, es gingen Chöre um, die Spottlieder sangen und ihn als Feigling verhöhnten, dessen Feldherrenkunst darin bestehe, das Staatswesen an die Feinde auszuliefern. […]“96

Die militärische Strategie des Perikles, sich hinter die Befestigungsmauern Athens zurückzuziehen, den Truppen Spartas auszuweichen und stattdessen den Krieg mit Hilfe der Flotte zu bestreiten, polarisierte die Bevölkerung Athens.97 So reagierte der wahrscheinlich landbesitzende Teil der Bürgerschaft, der am meisten unter der Verwüstung Attikas durch den Peloponnesischen Bund zu leiden hatte, mit nur wenig Verständnis. Diese Haltung wurde noch durch die bewusste Provokation der Spartaner verstärkt, in unmittelbarer Nähe zu Athen ihr Lager aufzuschlagen, um die Athener zu einer militärischen Reaktion herauszufordern. Trotz der Androhung von Sanktionen durch den demos sowie der in verschiedenen Foren kommunizierten, massiven Kritik an der folgenreichen Entscheidung des Perikles, demonstrierte dieser jedoch Beständigkeit in seinem Handeln. Er hielt dem demos auf diese Weise vor Augen, dass der Wert und Schutz der Bürger höhere Priorität hatte, als eventuell verletzter Stolz, dass dem impulsiven Drang, dem Zorn auf den Gegner nachzugeben, nicht die Sicherheit der polis geopfert werden dürfe, insbesondere nicht in einer potentiell existenzbedrohenden Situation. Perikles

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Plut. Per. 33,4–7: „(4) […] καὶ κατεστρατοπέδευσαν, ὡς τῶν Ἀθηναίων οὐκ ἀνεξοµένων, ἀλλ' ὑπ' ὀργῆς καὶ φρονήµατος διαµαχουµένων πρὸς αὐτούς. (5) τῷ δὲ Περικλεῖ δεινὸν ἐφαίνετο πρὸς τοὺς ἑξακισµυρίους Πελοποννησίων καὶ Βοιωτῶν ὁπλίτας ̔τοσοῦτοι γὰρ ἦσαν οἱ τὸ πρῶτον ἐµβαλόντεσ̓ ὑπὲρ αὐτῆς τῆς πόλεως µάχην συνάψαι: τοὺς δὲ βουλοµένους µάχεσθαι καὶ δυσπαθοῦντας πρὸς τὰ γινόµενα κατεπράϋνε, λέγων ὡς δένδρα µὲν τµηθέντα καὶ κοπέντα φύεται ταχέως, ἀνδρῶν δὲ διαφθαρέντων αὖθις τυχεῖν οὐ ῥᾴδιόν ἐστι. (6) τὸν δὲ δῆµον εἰς ἐκκλησίαν οὐ συνῆγε δεδιὼς βιασθῆναι παρὰ γνώµην, ἀλλ' ὥσπερ νεὼς κυβερνήτης ἀνέµου κατιόντος ἐν πελάγει θέµενος εὖ πάντα καὶ κατατείνας τὰ ὅπλα χρῆται τῇ τέχνῃ, δάκρυα καὶ δεήσεις ἐπιβατῶν ναυτιώντων καὶ φοβουµένων ἐάσας, οὕτως ἐκεῖνος, τό τε ἄστυ συγκλείσας καὶ καταλαβὼν πάντα φυλακαῖς πρὸς ἀσφάλειαν, ἐχρῆτο τοῖς αὑτοῦ λογισµοῖς, βραχέα φροντίζων τῶν καταβοώντων καὶ δυσχεραινόντων. (7) καίτοι πολλοὶ µὲν αὐτοῦ τῶν φίλων δεόµενοι προσέκειντο, πολλοὶ δὲ τῶν ἐχθρῶν ἀπειλοῦντες καὶ κατηγοροῦντες, χοροὶ δ' ᾖδον ᾄσµατα καὶ σκώµµατα πρὸς αἰσχύνην, ἐφυβρίζοντες αὐτοῦ τὴν στρατηγίαν ὡς ἄνανδρον καὶ προϊεµένην τὰ πράγµατα τοῖς πολεµίοις.“ (Übers.: ZIEGLER/WUHRMANN). Vgl. Thuk. 2,13,2; Thuk. 2,21f.; Thuk. 2,55,2; Thuk. 2,65,1–3; AZOULAY 2014: 36–39.

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ordnete damit, ohne es direkt zu kommunizieren, erneut das Individuum und seine persönlichen Interessen dem gemeinschaftlichen Bürgerstaat unter. Seine Position bekräftigte der Politiker darüber hinaus, indem er aus eigener Initiative heraus Fakten schuf und die Stadtanlage sichern sowie fortan keine Volksversammlung mehr einberufen ließ.98 Offen bleibt, auf welcher Grundlage Perikles die Versammlung der ekklesia verhinderte. Es ist nicht auszuschließen, dass den zehn Strategen in Kriegszeiten außerordentliche Befugnisse zugestanden wurden, möglicherweise war jedoch auch der Rat der 500 in die Entscheidung mit eingebunden.99 Der explizite Verweis Plutarchs auf die Aussetzung von Volksversammlungssitzungen muss jedenfalls als Indiz für den Ausschluss der breiten Volksmasse aus der Entscheidungsfindung verstanden werden – die Gefahr, von einer Mehrheit der ekklesia zur Handlung gezwungen zu werden, wird klar formuliert. Die Verwendung der maritimen Metaphern zeigt zudem an, dass Plutarch hier möglicherweise noch einen anderen Teil des demos als Adressaten erkannt hat: Die in der Flotte dienenden Theten dürften sich der oben formulierten Kritik kaum angeschlossen haben. Sie besaßen kein gefährdetes Land in Attika und standen durch die Spezifik der Kriegsführung zudem unter ständigem Lohn, profitierten auf diese Weise direkt von der Strategie des Perikles.100 Um nun aber die Menge der landbesitzenden Bürger nicht dauerhaft unberücksichtigt zu lassen, ließ Perikles, so berichtet Plutarch wenig später, Unterstützungsgelder auszahlen, neues Siedlungsland vergeben und jährliche Ausfälle des Hoplitenheeres durchführen.101 Der Demagoge hat über die bereits genannten Strategien hinausgehend die Möglichkeit, neue Aspekte aktiv in den Diskurs einzubringen (B3). Er konnte dabei aus eigener Initiative heraus handeln, das Verhalten des demos öffentlich kritisieren und sich so selbst als moralisch überlegen inszenieren.102 Im Laufe 98 99

Vgl. auch Thuk. 2,22,1f. Im Normalfall wurde die ekklesia durch die geschäftsführende Prytanie der boule einberufen. Es stand den Strategen jedoch frei, an Sitzungen des Rates teilzunehmen und dort einen entsprechenden Beschluss zur Versammlung des demos zu erwirken; vgl. hierzu NIPPEL 2008: 43; AZOULAY 2014: 29f.; HANSEN 1995: 136f., 237. Ob die Einberufung der Volksversammlung in Thuk. 2,59,3 tatsächlich alleine durch Perikles erfolgte, bleibt unklar. 100 Der Seebund bescherte den Bürgern Athens schon vor Kriegsbeginn zahlreiche Vorteile; vgl. hierzu etwa Plut. Per. 11,4; Ps.-Xen. Ath. Pol. 1,2; Ath. Pol. 2,2–2,7; Aristot. Ath. Pol. 27,1. 101 Vgl. beispielsweise Plut. Per. 34,1–3; Per. 35,1f. 102 In Thuk. 1,140–1,144 wird eine Perikles in den Mund gelegte Rede unmittelbar vor Kriegsausbruch wiedergegeben, in der dieser die ekklesia für ihre Unentschlossenheit und zögerliche Haltung gegenüber Sparta kritisiert. Laut Thukydides machte sich der Politiker dabei ohne direkte argumentative Notwendigkeit und unter Verweis auf die Einzigartigkeit und Überlegenheit Athens für die unbedingte Loyalität gegenüber der polis als Leitgedanken stark (vgl. auch Thuk. 2,41). Perikles ordnete sämtliche Individual- und Partikularinteressen, die er am Beispiel des Peloponnesischen Bundes als kurzsichtig und hinderlich entlarvt, klar dem gemeinschaftlichen Interesse unter, ohne zugleich den Wert des einzelnen Bürgers – insbesondere als potentielles Opfer des Krieges – aus den Augen zu verlieren; vgl. zur Ehrung gefallener athenischer Bürger durch Perikles neben Thuk. 2,35–46 (bes. Thuk. 2,42f.) etwa Plut. Per. 8,9; Per. 28,4; Arist. Rhet. 1365a31–33.

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seiner politischen Wirkungszeit hat Perikles zudem wiederholt Bestrebungen unternommen, die Rahmenbedingungen für das Wirken der Demagogen in soziopolitischer Hinsicht zu beeinflussen (B4). Nach der Entmachtung des Areopags 461 v. Chr.103 müssen die Zulassung der Zeugiten zum Archontat 457/456 v. Chr., die Einführung der Diäten für Geschworenenrichter kurz darauf 104 sowie schließlich die Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes 451/450 v. Chr.105 als die markantesten Eckpunkte der durch Perikles geprägten Politik gelten. Alle drei Maßnahmen waren im Besonderen dazu geeignet, die Demagogen in den fortschreitenden Demokratisierungsprozess der gesamten Bevölkerung mit einzubeziehen: Die Zulassung der dritten Vermögensklasse, der Zeugiten, zum Archontat vergrößerte die Chancen der einfachen, wenn auch nicht gerade ärmlichen Bürger, aktiv an der Gestaltung der Politik teilzunehmen.106 Dadurch verringerte sich zugleich aber ebenso die Wahrscheinlichkeit der alteingesessenen Aristokratie, weiterhin in gleichem Maße wie zuvor dieses immer noch prestigeträchtige Amt zu übernehmen. Die Einführung der Diäten für die Richtertätigkeit machte zudem einerseits die aristokratische Großzügigkeit gegenüber dem demos obsolet,107 wurden die Bürger, die sich als Geschworene betätigten, doch fortan aus der staatlichen Kasse finanziert.108 Andererseits muss sie in Anbetracht des großen personellen Bedarfs an Richtern auch als pragmatische Lösung begriffen werden, die letzten Endes aber den einfachen Bürger nicht nur materiell begünstigte, sondern ihm eine Partizipation an der politischen Sphäre vielfach überhaupt erst ermöglichte.109 Und sogar das sog. perikleische Bürgerrechtsgesetz muss als zweischneidige Maßnahme verstanden werden:110 Es beschnitt jegliche über die Gren103 Wahrscheinlich war auch Perikles daran beteiligt, obgleich sicher nicht in führender Stellung, wie Plut. Per. 7,8 dies beschreibt; vgl. AZOULAY 2014: 26f. Das gemeinsame Vorgehen von Ephialtes und Perikles wird allerdings ebenfalls in Aristot. pol. 1274a7–8 geschildert, nicht aber in Ath. pol. 25,3f. (vgl. aber wiederum den Hinweis in Ath. pol. 27,1). 104 Vgl. Aristot. pol. 1274a8–9; Ath. Pol. 27,3f.; NIPPEL 2008: 31 sieht diesen Schritt in erster Linie durch die geringe Anzahl von Freiwilligen für die Richtertätigkeit motiviert. 105 Vgl. Aristot. Ath. Pol. 26,4; Plut. Per. 37,2f. 106 Vgl. Aristot. Ath. pol. 26,2. In diesem Zusammenhang muss auch die (Wieder-)Einführung der Demenrichter vier Jahre später (453/452 v.Chr.) Erwähnung finden; vgl. Ath. pol. 26,3. 107 Vgl. jedoch Aristot. Ath. pol. 27,4, wo die Richterdiäten als das Resultat aristokratischer Großzügigkeit beschrieben werden. Vgl. für Kritik an der Richterbesoldung Plat. Gorg. 515e; JONES 1954: 12f. 108 Unter Perikles betrug deren Höhe ursprünglich wohl zwei Obolen, auf Veranlassung Kleons wurde sie 425 v. Chr. auf drei Obolen erhöht; vgl. Schol. Aristoph. vesp. 88; Aristoph. hipp. 799f. (vgl. ergänzend unter anderem hipp. 50f.; hipp. 255; vesp. 684; vesp. 689f.; HANSEN 1995: 194f.). Vgl. zudem die Höhe der Diäten im Rat der 500, die Aristot. Ath. pol. 62,2 mit fünf Obolen angibt. 109 Vgl. HÖLKESKAMP 1998: 20f.; vgl. hierzu auch Thuk. 2,37,1: „[…] und ebenso wird keiner aus Armut, wenn er für die Stadt etwas leisten könnte, durch die Unscheinbarkeit seines Namens verhindert.“ / „[…] οὐδ' αὖ κατὰ πενίαν, ἔχων γέ τι ἀγαθὸν δρᾶσαι τὴν πόλιν, ἀξιώµατος ἀφανείᾳ κεκώλυται.“ (Übers.: LANDMANN). 110 Laut Aristot. Ath. Pol. 26,4 erfolgte die Einführung des Gesetzes „wegen der großen Anzahl der Bürger“. In Anbetracht der hohen Verluste an Menschenleben, die Athen in den militärischen Konflikten der Jahre zuvor (vor allem im sog. Ersten Peloponnesischen Krieg) erlitten

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zen der polis hinausgehende Heiratspolitik, da solchen Ehen fortan keine athenischen Bürger mehr entsprangen, und muss somit als deutlicher Appell an die athenische Aristokratie verstanden werden, sich in erster Linie an der Heimatstadt zu orientieren.111 Gleichzeitig stärkte das Gesetz die einfachen Athener, indem es fortan selbst den Töchtern armer Bürger ermöglichte, legitime athenische Erben zu zeugen. Diese Politik hatte weniger eine soziale Stoßrichtung und diente auch nicht der rein materiellen Begünstigung der ärmeren Bürger, obwohl diese in der Gestalt des Flottenprogramms, der städtischen Baumaßnahmen und der Diäten durchaus vorhanden war und dabei half, weiterhin bestehende ökonomische Ungleichheiten innerhalb des politischen Systems zu verringern.112 Der tiefere Sinn dieser Maßnahmen muss vielmehr in ihrer politischen Intention gesehen werden: die Stärkung der Bürgergemeinschaft als Ganzes durch die Integration all ihrer Schichten und die Lösung der politischen Führung aus der Hand einiger weniger Aristokraten.113 Mit der Beeinflussung dieser Rahmenbedingungen beschnitt Perikles folglich auch seinen eigenen Handlungsspielraum als Demagoge, indem er sich selbst zurücknahm und wertvolle materielle, soziale und politische Ressourcen des athenischen Gemeinwesens einer breiteren Bürgerschaft zugänglich machte sowie diese zugleich in ihrem politischen Wirken auf die eigene polis festschrieb. 4 FAZIT Die Analyse der Perikles-Vita Plutarchs vermag einen wertvollen Einblick in die politische Kultur des klassischen Athens zu geben. Der zeitliche Abstand des Autors zu dem von ihm beschriebenen Gegenstand verringert dabei keinesfalls den Quellenwert. Im Gegenteil: Die von Plutarch selbst oftmals kenntlich gemachte (oder philologisch nachweisbare)114 Verwendung von unterschiedlichen, mitunter nur noch bei ihm erhaltenen Quellen verdeutlicht den hohen Wert des Autors für die hier behandelte Thematik. Die von Perikles betriebene Politik zur Förderung der gesamten athenischen Bürgergemeinschaft – und eben nicht der Maßnahmen-

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hatte, bleibt diese Erklärung jedoch unbefriedigend. Die gesetzliche Maßnahme orientierte sich weniger an Personen, die eine Aufnahme in den athenischen Bürgerverband anstrebten, als vielmehr an dessen bereits vorhandenen Mitgliedern, deren Moral und Selbstverständnis als Athener durch die scharfe Definition des Bürgerstatus gestärkt wurden. Vgl. hierzu BLOK 2009; COŞKUN 2013; LEHMANN 2008: 123–133; HARTMANN 2002: 52–57. Vgl. NIPPEL 2008: 34. Vgl. kritisch ANDREWES 1978: 4; MEYER 1967: 152; FROST 1964: 389–392; vgl. zur Besoldung der Ruderer in der Flotte vor allem Ps.-Xen. Ath. pol. 1,13. Thukydides lässt Alkibiades deren Höhe mit drei Obolen angeben; vgl. Thuk. 8,45,2. Vgl. zur gedanklichen Verknüpfung des Bürgerstatus mit Sold- bzw. Diätenzahlungen NIPPEL 1980: 96f.; Ps.-Xen. Ath. pol. 1,2. Vgl. hierzu BLOK 2009: 165; VRETSKA 1966: 113; allgemeiner NIPPEL 1980: 50f., 67f.; WILL 2003: 298–303. Vgl. stellvertretend MEINHARDT 1957.

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katalog eines Demagogen zur Privilegierung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe – lässt sich nur mit Plutarch greifen; Thukydides, Diodor oder andere Autoren lassen diese Politik nur ansatzweise erkennen. Perikles hatte als erster athenischer Politiker die veränderten Grundstrukturen der politischen Kommunikation erkannt – oder doch zumindest effektiver als seine aristokratischen Kontrahenten zu nutzen gewusst. Er hat es in seinem Wirken als Demagoge im Umgang mit den sozialen Gruppierungen des demos besser – vielleicht sogar: am besten – verstanden, diese differenziert wahrzunehmen sowie ihre jeweiligen Erwartungshaltungen und Forderungen an seine Person und sein Auftreten auf der politischen Bühne im richtigen Moment richtig zu lesen.115 Perikles gelang es darüber hinaus über einen langen Zeitraum hinweg einzuschätzen, welche kommunikative Strategie jeweils angemessen war, um Konflikte mit der Bürgerschaft erfolgreich beizulegen. Als Konsequenz davon, ist seine politische Führungsposition in der wiederholten Wahl zum Strategen greifbar, die gleichermaßen Ausdruck seiner Stellung als bestimmende Persönlichkeit des politischen Raumes ist, als auch seiner besonderen Befähigung, mit dem Volk von Athen erfolgreich zu kommunizieren. Die Leitlinie der perikleischen Politik war dabei die Verwirklichung einer durch alle Bürger getragenen politischen Ordnung, in der das Gemeinschaftliche (koinonia) dem Eigenen (ta idia) vorangestellt wurde. Perikles hatte erkannt, dass alle Argumente im Diskurs über die angemessene demagogische wie auch bürgerliche Existenz letztlich immer auf den Bürgerstaat bezogen sein mussten.116 Oberstes Kriterium war daher auch stets die unbedingte Loyalität gegenüber der polis, die es, wie Thukydides ‚seinen‘ Perikles sagen lässt, tagtäglich mit wahrer Leidenschaft zu lieben galt.117 Ein nicht auf die Bürgergemeinschaft ausgerichtetes Verhalten, ganz gleich welcher Art, wurde infolgedessen auch scharf kritisiert und abgestraft. Es gelang Perikles, die enorme soziale Distanz zum demos zu überbrücken und eine Vermittlerrolle zwischen der alteingesessenen Aristokratie und den einfachen Bürgern, denen zunehmend mehr Mitsprache eingeräumt wurde, einzunehmen. Die Tatsache, dass Perikles im Laufe seiner politischen Wirkungszeit nur wenige Konflikte mit dem demos nicht erfolgreich beilegen konnte, qualifiziert ihn vielleicht mehr als alles andere zum Demagogen im wahrsten Sinne des Wortes.

115 Vgl. mit ähnlichen Überlegungen HÖLKESKAMP 1998: 26. 116 Vgl. hierzu auch NIPPEL 1980: 66. 117 Vgl. Thuk. 2,43. In diesem Sinne wird Perikles ein wenig später als philopolis beschrieben (vgl. Thuk. 2,60,5).  

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(UN)EDLE VERGNÜGUNGEN? Freizeitbeschäftigungen als Spiegel moralischen Wandels im spätklassischen Athen Rafał Matuszewski Nach einem in Historikerkreisen oft wiederholten Urteil gelte die Freizeit als Produkt der Moderne.1 Dieser Vorstellung gemäß ließen sich die europäischen Gesellschaften historisch betrachtet einer von zwei Kategorien zuordnen: der Kultur der Feste oder der Kultur der Freizeit, wobei die industrielle Revolution die Trennlinie zwischen beiden darstelle. Erst mit Beginn des industriellen Kapitalismus sei also die Idee von der leisure geboren worden und demzufolge seien verschiedene Formen des Zeitvertreibes früherer Zeiten – die Jagd und das gemütliche Miteinander in der Taverne, das Würfel- oder Kartenspielen, das Reisen und das Lanzenstechen, um nur einige Beispiele zu nennen – als Aktivitäten betrachtet worden, die an sich keine distinkte Kategorie des damaligen Zeitverständnisses gebildet hatten.2 Eine solch binäre Unterteilung scheint ebenso vereinfachend wie trügerisch zu sein, doch um das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, fügen wir nur hinzu, dass diese Dichotomie natürlich keinesfalls bedeutet, dass die Menschen der vorindustriellen Gesellschaften nicht zwischen Arbeitszeit und NichtArbeitszeit unterscheiden konnten.3 Man muss gewisse Facetten der Wirklichkeit nicht unbedingt konzeptualisieren, um sie zu erfahren. Auch beinahe jeder Athener Bürger – abgesehen von dem vieldiskutierten und wohl unlösbaren Problem, wie viel Prozent der Bürgergruppe einer Arbeitsbeschäftigung nachgehen musste bzw. nachgegangen ist – verfügte sicherlich über ein gewisses Ausmaß an Muße, welche er sozialspezifisch den unterschiedlichen Formen von Soziabilität widmen konnte.4 Das Beaufsichtigen oder die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, die Ausübung eines Amtes oder einer öffentlichen Funktion innerhalb der polis ließen den Bürgern genug Zeit, um sich dem geselligen Zeitvertreib zuzuwenden. Die atheni1 2

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Vgl. beispielsweise DUMAZEDIER 1962; MARRUS 1974; THEOBALD 1994. Vgl. MATHIAS 1994 und BURKE 1995 mit wichtigen Kritikpunkten von MARFANY 1997. Am Rande sei noch bemerkt, dass es im Grunde genommen die Unterscheidung der Freizeit von der Arbeitszeit auf der einen und von der religiösen Festzeit auf der anderen Seite schon im Mittelalter gab, weil sie eine der Folgen der ‚Geburt‘ des Intellektuellen und der mittelalterlichen Universität war: Gemeint ist nämlich die Erfindung der Ferien, d. h. der laizisierten Erholungszeit im 13. Jahrhundert. REINHARD 2004: 469: „Freilich einen Wechsel von Arbeit und arbeitsfreier Zeit mit entsprechendem Zeitvertreib dürfte es immer und überall gegeben haben, und zwar keineswegs nur für die oberen Schichten“. Zum schole/ascholia-Diskurs vgl. allen voran ANASTASIADIS 2004.

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sche Demokratie, die Kultur der Feste par excellence,5 ließ also auch viel Raum für andere Arten von alltäglichen Freizeitbeschäftigungen ihrer Bürger. Ziel dieses Beitrags ist es, über die Freizeitbeschäftigungen nachzudenken, um dem gesellschaftlichen Wandel moralischer Normen im spätklassischen Athen näherzukommen. Von Interesse sind dabei nicht die Freizeitbeschäftigungen an sich, sondern vor allem die Veränderungen der Kollektiveinstellungen gegenüber solchen Aktivitäten, den Individuen, die sich ihnen hingaben, sowie den Räumen, in denen sie stattfanden.6 Der Wandel der Wahrnehmung von diesen Soziabilitätsformen – so die These, die im Folgenden entfaltet wird – kann als Symptom tiefer Wandlungen der athenischen Bürgergruppe betrachtet werden und – was viel wichtiger ist – ermöglicht den Blick auf die Mechanismen der Festsetzung moralischer Standards.7 Wie in zahlreichen historischen, anthropologischen oder soziologischen Studien, darunter insbesondere in NORBERT ELIAS’ vielkritisiertem und nichtsdestoweniger anregenden Buch „Über den Prozeß der Zivilisation“8 gezeigt wurde, wurde die Rolle der Übertragung moralischer Prinzipien in den meisten Gesellschaften und Kulturen des vormodernen Europa modellhaft immer der Oberschicht zugesprochen. Die Bewertung jeglicher Handlungen basierte auf deren Einschätzung durch die oberen Schichten der Gesellschaft; diese sind wiederum in den meisten Fällen als Agens der Formierung des Anständigkeitsgefühls zu fassen. Gewisse Formen des Zeitvertreibs galten als sozial akzeptabel, andere wurden dagegen als schändlich oder niedrig betrachtet und gering geschätzt – und das nur deshalb, weil sie genau auf diese Weise durch die Oberschicht bewertet wurden. Freizeitbeschäftigungen der Oberschicht, ihre Angewohnheiten und Bräuche versprachen höheres Prestige und bestimmten die soziale Position; sie wurden daher zum Gegenstand der Nachahmung bei Angehörigen der anderen Schichten, 5

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Fraglich ist, ob die Feste griechischer poleis wirklich als ‚Freizeitveranstaltungen‘ zu begreifen sind. Diesbezüglich stellt FLAIG 1998: 51 entschieden fest: „Solche Feste waren in der Antike keine Freizeitveranstaltungen. Sie verstärkten den sozialen Zusammenhalt unter den Bürgern, dienten einer spezifischen Memorialkultur, insofern die Kulthandlungen wiederholt, die Kultmythen erinnert und ihre Bedeutung für die gesamte politische Gemeinschaft eingeschärft wurden“. OSBORNE hält die Beantwortung solcher Fragen zu Recht für ein Desiderat: „the ways, the changing ways, in which Athenians thought of the activities that filled their lives, have been neglected by scholars for whom social history meant the study of social structure“ (OSBORNE 2010: 15). Bezüglich der Terminologie ist eine Präzisierung erforderlich: Es soll nämlich zwischen den Werten einerseits und den moralischen Normen, Regeln bzw. Standards andererseits unterschieden werden. Die ersten verstehe ich hier als Grundhaltungen, die Menschen Orientierung verleihen; sie „sind tief und dauerhaft verankert im Menschen, so dass sie um ihrer selbst willen gelten“ (HRADIL 2012: 541). Letztere sind weniger abstrakt und, obwohl sie auf Werten basieren, können von Menschen erschaffen, verändert oder abgeschafft werden. Die beiden oft vermischten Dimensionen des Moralkonzepts lassen sich unter dem von MAX WEBER geprägten Begriff „nomologisches Wissen“ einer Gesellschaft subsummieren, welches von einigen Althistorikern in Hinblick auf die griechische Antike gebraucht wird (vgl. vor allem MEIER 1988: 44ff. und HÖLKESKAMP 2000: 24). ELIAS 1977.

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um konsequenterweise im Laufe der Zeit – mitsamt und infolge ihrer Verbreitung – an Reiz und sozialem Prestige zu verlieren. Zwar standen die unterschiedlichen Schichten vieler Gesellschaften des vorindustriellen Europa in permanentem Austausch und in dynamischer Wechselwirkung miteinander,9 doch generell betrachtet scheint es angebracht, das Verhalten der Massen als eher rezeptiv zu bezeichnen und dies trifft insbesondere auf die Diffusion der moralischen Standards zu. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich das ‚aristokratische Ethos‘ der athenischen Demokratie des 5. Jhs. v. Chr., das einige Forscher mehr oder weniger deutlich suggerieren, besser verstehen.10 Der demos imitierte nicht nur die Freizeitaktivitäten der Oberschicht, sondern internalisierte auch deren Werte und Normen.11 Begrenzt wurden diese Nachahmungsversuche durch einen offensichtlichen Faktor: die zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel. Während einige Praktiken ohne Weiteres ‚demokratisiert‘ werden konnten (z. B. das 9

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Nichtsdestoweniger scheint das Urteil des britischen Historikers KEITH THOMAS, obwohl im Kern richtig, ein wenig zu weit zu gehen, wenn er feststellt „The lower classes were not passive recipients of elite ideas, but actively opossed and modified them. In some respects elite culture was permeated upwards by ideas derived from below.“ (THOMAS 1991: 71). OBER 1989: 277; zum Spannungsverhältnis von aristokratischem und demokratischem Ethos vgl. EBD.: 289–292; ARNHEIM 1977: 131f.; 156; 163f. (ihm zufolge sei die athenische polis gleichzeitig aristokratisch im Ethos und antiaristokratisch in der Regierung gewesen); RAAFLAUB 1983: 533f. beschreibt die Idee vom Sklavenethos als einen Gegensatz zum Ethos eines freien Mannes und deutet auf den Bezug des Letzten auf aristokratische Werte hin (EBD.: 534: „Generally speaking, values implanted themselves only if they were rooted in the lifestyle habits, values, and characteristic of the aristocracy. The positive typology of the free man, therefore, had to be close to that of the nobleman“). Dies alles zeigt sich ebenfalls am Konzept der kalokagathia, das zwar erst gegen Ende des 5. Jhs. v. Chr. auftritt (BOURRIOT 1995), aber Ideen widerspiegelt, die es bereits in der griechischen Archaik gab, vgl. dazu MEIER 1985, vgl. HUMPHREYS 2002. MORRIS 1994 dagegen betont einen egalitäreren Charakter der athenischen Demokratie in der Periode vor dem Jahre 430 v. Chr. als in der Zeit danach. Vgl. Anm. 7 oben. Zu Verwirrung kann die undefinierte Verwendung von Begriffen wie beliefs und social attitudes in den im anglo-amerikanischen Raum publizierten Arbeiten zur Moral in der athenischen Demokratie klassischer Zeit führen. HUNTER 1994: 6f.; HUNT 2010: 19 („Athenian attitudes and values“) und CHRIST 2012: 7, 164, Anm. 83 („Athenian values and beliefs“) gehen grundsätzlich von der Annahme OBERS aus, welche auf der These DOVERS über „a high degree of continuity in social attitudes“ beruht (Zitat: OBER 1989: 37f.; vgl. DOVER 1974: 30). Während die values völlig unmissverständlich sind, sind die Ausdrücke beliefs oder social attitudes nicht so eindeutig. Unter der Prämisse, es handle sich bei diesen Begriffen um Werte und nicht um soziale Normen, kann dem Urteil dieser Forscher im Grunde zugestimmt werden, obwohl man meines Erachtens eine langsame Entwicklung auch des Wertesystems nicht ganz ausschließen sollte. Es sei hier noch darauf hingewiesen, dass OBER die Annahme DOVERS bestätigt, weil „there was no large new body of citizens added after 403 who might have imported radically cultural or social assumptions“ (OBER 1989: 37). Man darf aber die andere Seite der Medaille nicht übersehen: Zwar gab es keinen großen Zufluss neuer Bürger, aber dennoch gab es enorme Menschenverluste infolge der Kriegsauseinandersetzungen (demographische Schätzungen bietet: BRULÉ 1999 = DERS. 2007: 47–65). Darüber hinaus ist noch die ganz beträchtliche, wie neuste Studien gezeigt haben, soziale Mobilität im spätklassischen Athen zu berücksichtigen (vgl. DEENE 2013). Diese profunden Veränderungen der Sozialstruktur könnten etwaige Umbewertungen bürgerlicher Werte als Folge gehabt haben.

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Symposion12), blieben andere – wie beispielsweise Pferdezucht (hippotrophia) oder auch Sport – nur den Wohlhabenden vorbehalten.13 Die Sozialitätsformen der Massen entsprangen also nicht notwendigerweise einer geringeren Begeisterung oder Sensibilität dieser Menschen, sondern repräsentieren vielmehr das, was PIERRE BOURDIEU als „Notwendigkeitsgeschmack“ (goût de nécessité) bezeichnet hat,14 was als eine Antithese zur Freiheit des Geschmacks verstanden werden soll. Da der Geschmack in einem Ethos wurzelt, erscheint das Bedürfnis des athenischen Volkes im 5. Jh. v. Chr., die Aktivitäten der Oberschicht zu imitieren, völlig nachvollziehbar. Letzten Endes prägte die (aristokratische) politische Elite15 die Standards und legte die Grenzen dessen fest, was als aischron und dessen, was als kalon galt: Diese grundlegenden sozialen Wertmaßstäbe im Athen orientierten sich im 5. Jh. v. Chr. durchaus an aristokratischen Maßstäben. In den folgenden Überlegungen wird zu zeigen versucht, dass die sozialen Normen im Athen des 4. Jhs. v. Chr. – anders als im vorigen Jahrhundert sowie historisch gesehen auch in den meisten Kulturen und Gesellschaften des vorindustriellen Europas – nicht ausschließlich in der sozialen Skala von oben nach unten tradiert wurden, sondern auch umgekehrt. Dass das einfache Volk einen größeren Einfluss auf die Festsetzung moralischer Normen nahm und den Rahmen des Anständigen und des Schicklichen sowie des Anstößigen erweiterte, lässt sich an Veränderungen der Kollektiveinstellungen gegenüber bestimmten Freizeitbeschäftigungen athenischer Bürger ablesen. Dies erscheint exzeptionell und von großer Bedeutung für das Verständnis der historischen Entwicklung der athenischen Demokratie. I Isokrates’ ins Jahr 354/3 v. Chr. zu datierende16 Antidosis-Rede ist nicht nur aufgrund ihrer Länge und ihres hybriden Charakters, sondern vielmehr wegen der in ihr geäußerten Ansichten über die geistige Bildung bekannt.17 In dieser Schrift liefert Isokrates einige Gedanken, die für den Gegenstand unserer Überlegungen von höchster Bedeutung sind und dadurch einen guten Ausgangspunkt bilden. 12

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Angebracht ist daher die Frage, ob das ‚demokratisierte‘ Symposion als das gleiche Phänomen wie das aristokratische Symposion zu begreifen ist. WĘCOWSKI 2002 zufolge seien die geistigen und intellektuellen Komponenten prinzipielle Bestandteile der Definition eines griechischen Symposions und diese alte aristokratische Sitte habe infolge ihrer ‚Demokratisierung‘ ihre wichtigste Komponente verloren: Die ‚Symposiasten‘ aus den niedrigeren Schichten der Gesellschaft seien nämlich aller Wahrscheinlichkeit nach selten dazu fähig gewesen, die Poesie zu deklamieren oder eigene Gedichte ex promptu zu erschaffen. Am ausführlichsten jetzt PRITCHARD 2013, der die These von FISHER 1998 überzeugend widerlegt. BOURDIEU 1982: 289ff., 585ff. Vgl. dazu die wichtigen Überlegungen von MANN 2007. Ps.-Plut. Vit. Isokr. 838A zufolge sei Isokrates zum Zeitpunkt des Entstehens dieser Schrift 82 Jahre alt gewesen. Zu dieser Schrift vgl. OBER 1998: 256–277.

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Er beschwert sich nämlich über die zeitgenössische junge Generation mit den Worten, „dass die Jugendlichen mit schlechten Anlagen in einem solchen zügellosen Treiben dahinleben, wie es früher nicht einmal ein anständiger Sklave gewagt hätte. Manche von ihnen kühlen ihren Wein bei der Enneakrunos, manche trinken in den Schenken, manche geben sich dem Würfelspiel in den Spielhallen hin, viele vertreiben sich ihre Zeit in den Schulen der Flötenspielerinnen“.18 Ähnlich klingende Vorwürfe äußerte Isokrates bereits ein paar Jahre zuvor in seinem Areopagitikos, in derjenigen Schrift also, die sich durch einen klar dargestellten Leitgedanken auszeichnet.19 Sie stellt nämlich einen Aufruf zur Durchführung gewichtiger Veränderungen der politeia dar, um zur alten Verfassung der Vorväter (patrios politeia20) zurückzukehren, in deren Rahmen alles gut gewesen sei und sich alle ordentlich verhalten hätten, weil der Rat des Areopags über das Benehmen aller Bürger die Aufsicht ausgeübt habe.21 Dem Verfasser zufolge tragen nicht die Gesetze, sondern die alltäglichen Sitten und Gebräuche (epitedeumata22) zur Verbreitung der arete bei. Die im Areopagitikos vorgestellten Gedanken stehen im engen Zusammenhang mit denjenigen aus der Antidosis-Rede und diese Tatsache macht das Problem, welches sich hier vor uns auftut, viel sichtbarer, wenn wir dazu kommen, die oben zitierten Aussagen des Isokrates aus dem Jahre 354/3 v. Chr. kritisch zu interpretieren. Haben wir es hier zu tun mit einer reinen Nostalgie, einer Sehnsucht nach einer altüberkommenen imaginären Wirklichkeit, einer Wunschvergangenheit? Sind seine Beschreibungen der Gegenwart nur ‚Dekadenzegeschwätz‘? Oder ist diese Kritik tatsächlich als ein mehr oder weniger reales Abbild der athenischen Alltagswirklichkeit nach dem aufreibenden und sowohl an den Finanzen als auch am Wohlbefinden der Athener zehrenden Bundesgenossenkrieg (357/6–355/4 v. Chr.) zu lesen? Oder verweist sie vielleicht auf eine infolge eines nachhaltigen Umwandlungsprozesses entstandene generelle Situation der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr.? Eine eindeutige Antwort fällt schwer. Die von Isokrates in beiden Schriften verbreiteten Ansichten sollte man jedoch nicht vorschnell mit der krypto-oligarchischen Ideologie oder der antidemokratischen Einstellung gleichsetzen. Denn es lässt sich nicht leugnen, dass Isokrates sich mit der Demokratie arrangierte, sie verbessern und keinesfalls zugunsten der Oligarchie aufheben wollte. Es ist des Weiteren unverkennbar, dass 18

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Isokr. 15,286–287: „τοὺς δὲ χείρω τὴν φύσιν ἔχοντας ἐν τοιαύταις ἀκολασίαις ἡµερεύειν ἐν αἷς πρότερον οὐδ' ἂν οἰκέτης ἐπιεικὴς οὐδεὶς ἐτόλµησεν· οἱ µὲν γὰρ αὐτῶν ἐπὶ τῆς Ἐννεακρούνου ψύχουσιν οἶνον, οἱ δ' ἐν τοῖς καπηλείοις πίνουσιν, ἕτεροι δ' ἐν τοῖς σκιραφείοις κυβεύουσιν, πολλοὶ δ' ἐν τοῖς τῶν αὐλητρίδων διδασκαλείοις διατρίβουσιν.“ (Übers.: LEY-HUTTON). Vgl. Isok. 7,48. Dazu vgl. unter anderem OBER 1998: 277–286. Vgl. z. B. Isokr. 7,26–27; Isokr. 7,32. Vgl. Isok. 7,39f. Am Rande sei bemerkt, dass die Vorstellung von einer einstmaligen Sittenaufsicht des Areopags in der klassischen Zeit nicht ausschließlich ein Wunschbild bestimmter Publizisten des 4. Jhs. v. Chr. gewesen ist (vgl. ENGELS 1988: 184, Anm. 10; BERNHARDT 2003: 38ff.), sondern meines Erachtens in den 40er Jahren des 4. Jhs. v. Chr. in breiteren Schichten der athenischen Gesellschaft verbreitet war. Davon zeugt die Rolle des Areopags in der Struktur und Argumentation der Rede gegen Timarchos von Aischines (vgl. RYDBERGCOX 2000). Der Beleg dieser Hypothese bedarf aber einer separaten Behandlung. Zu diesem Begriff vgl. THOMAS/MORENO 2014: 1–16.

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Isokrates ein aufmerksamer Beobachter und ein guter Prognostiker und Analytiker sowohl der inneren athenischen als auch der panhellenischen Situation war, was uns darin bestärken sollte, seinen Aussagen mehr Glauben zu schenken. Abgesehen von dem Problem der generellen Gedankenessenz der Antidosis-Rede und des Areopagitikos, kann man wohl davon ausgehen, dass sich in beiden oben erwähnten, aus diesen Schriften stammenden Textpassagen Ideen widerspiegeln, welche zentrale Elemente eines im damaligen Diskurs gängigen Topos der zügellosen Jugend bildeten.23 Dies ist aber bei weitem nicht alles. Zum einen ist zu bemerken, dass der Vorwurf, wonach sich die Jugendlichen nur dem Genuss hingeben, sicherlich auf eine breitere Gruppe zu beziehen ist. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf die körperlichen Lüste. TONIO HÖLSCHER hat vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass sich in der athenischen Keramik gegen Ende des 5. Jhs. v. Chr. „eine weitreichende Entwicklung zu Idealen des entrückten Lebensgenusses“24 beobachten lasse, weil sich die Präsenz der Vasenbilder mit Dionysos, Aphrodite und Eroten im Zeitraum nach dem Peloponnesischen Krieg mehr und mehr gesteigert habe. HÖLSCHERS Urteil, dass „in dem unvergleichlich harten und langen Krieg […] solche Bilder offenbar verbreiteten Sehnsüchten nach einem Heraustreten aus den Bedrückungen der Gegenwart“25 entsprachen, ist zuzustimmen, wobei auch hinzugefügt werden soll, dass sich ebenfalls zu derselben Zeit eine scheinbar umgekehrte Entwicklung beobachten lässt: Im beginnenden 4. Jh. v. Chr. nimmt die Prominenz des Motivs des (gleichsowie verschiedengeschlechtlichen) Sexualverkehrs in der Vasenmalerei stark ab.26 Der erhöhte Bedarf nach sinnlicher Freude ging folglich mit der Zunahme an Diskretion27 bezüglich dieser Lebenssphäre einher und war gewiss kein kurzlebiges Charakteristikum des Alltagslebens athenischer Bürger unmittelbar nach dem Peloponnesischen Krieg oder nach dem Regime der Dreißig, sondern blieb ebenfalls in der ersten Hälfte des 4. Jhs. v. Chr. unverändert. Davon zeugen nicht nur die beliebtesten Themen und Gestalten der mittleren Komödie (körperliche Lüste, geheime Rendezvous, Hetären und Zuhälter)28 oder die Tatsache, dass allem Anschein nach zu dieser Zeit unter dem Namen der berühmten Hetäre Philainis29 ein erotisches Handbuch verfasst wurde, sondern darüber hinaus auch die zahlreichen mit der Aphrodite verbundenen archäologischen Befunde. Zu nennen ist hier ei23 24 25 26 27

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Vgl. exempli gratia Lys. 14,27; Lys. 16,11; Aischin. 1,53f. Zum Topos der akolasia/akrasia der athenischen Jugend in der spätklassischen Zeit siehe die Untersuchung von MENU 2000. HÖLSCHER 2007: 90. EBD.: 91. DAVIES 1978: 170. So auch EBD.: 170f. Diese signifikante Entwicklung im Geschmack der Elite könnte meines Erachtens Folge eines verstärkten Interesses der Massen an sexuellen Vergnügungen sein; diese Hypothese kann hier aber nicht weiter erörtert werden. Die Veränderung der Komödienthematik kann möglicherweise eine Folge der ‚panhellenischen‘ Verbreitung der athenischen Theaterstücke sein (vgl. KONSTANTAKOS 2011), sicherlich aber auch eines Sensibilitätswandels der Athener. Vgl. Athen. 8,335b–e. Möglicherweise war der Sophist Polykrates der Autor dieser Schrift, vgl. MAAS 1938. Siehe jetzt PERALE 2013 (mit weiteren Literaturangaben).

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gens das ihr geweihte Relief mit der aussagekräftigen Darstellung des Venushügels und der nicht weniger vielsagenden Inschrift: „ἐπαινεῖτε οἱ παριόντες“ – „Passanten, lobt (die Göttin)“.30 Die Wendung zu den Vergnügungen hin stellte demzufolge geradezu einen generellen Trend innerhalb der athenischen Gesellschaft dar und ist daher nicht ausschließlich der Jugend zuzuschreiben. Überdies ist zu bedenken, an welche Personengruppen genau sich die isokratische Kritik richtet, wenn er über die „Jugendlichen“ spricht. Es scheint nämlich im Lichte der lexikalischen Analyse ganz so, als ob hier nicht – in unseren Alterskategorien gedacht – Jugendliche gemeint sind, sondern junge Männer, d. h. Bürger nach dem 20. Lebensjahr.31 Somit kann die Diagnose des Isokrates als eine Feststellung über die Neigungen einer größeren Gruppe verstanden werden. Zum anderen, und dies ist für unsere Überlegungen wesentlich, konstatiert Isokrates eine grundlegende Veränderung gegenüber gewissen Soziabilitätsformen: Früher sei es unvorstellbar gewesen, einen Bürger an gewissen Stätten oder bei gewissen Unterhaltungshandlungen zu sehen, sogar ein anständiger Sklave erlaube es sich nicht, sich an solchen Orten blicken zu lassen. Die letzte Äußerung kann zwar eine beabsichtigte Übertreibung sein und sollte daher cum grano salis betrachtet werden, nichtsdestoweniger sollte diesem Passus mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch wenn man die nostalgische Aussage dieser Schriften annehmen und die Gegenüberstellung einstmaliger Anständigkeit/heutiger Sittenlosigkeit als eine rein rhetorische Übertreibung betrachten würde, so kann Isokrates’ Aussage unserer Aufmerksamkeit nicht entgehen, dass sich die jungen Bürger zur Zeit der Verfassung dieser Schrift allgemein32 solchen Unterhaltungen hingaben. Schon im Lichte der bereits in aller Kürze erwähnten ‚Versinnlichung der Atmosphäre‘ im Athen im ausgehenden 5. und beginnenden 4. Jh. v. Chr., die den athenischen Bürgern ermöglichte, sich ihrem gesteigerten Bedürfnis nach körperlichen Lüsten zu widmen, lässt sich vermuten, dass im Urteil des Isokrates tatsächlich ein Körnchen Wahrheit stecken kann. Es soll folglich danach gefragt werden, welcher Zusammenhang zwischen Diskurs und sozialer Praxis hinsichtlich der von Isokrates erwähnten Unterhaltungsformen und -orten33 bestand.

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IG II² 4575; Athen, Nationalmuseum Inv. 1821; VAN STRATEN 1981: 74, der auf S. 121 auch andere der Aphrodite im 4. Jh. v. Chr. geweihte Darstellungen der weiblichen Schamteile angibt. Isokrates (15,286) erwähnt nämlich ihre helikia. Sogar eben „die Wertvollsten von denen“ (Isokr. 15,286) / „τοὺς µὲν ἐπιεικεστάτους αὐτῶν“ (Übers.: LEY-HUTTON). Ausgelassen werden im Folgenden die von Isokrates erwähnten Schulen der Aulosspielerinnen, da man zum einen kaum relevante Quellen über sie hat und uns zum anderen hier in erster Linie die öffentlichen Räume der Soziabilität und an solchen Orten stattfindende Freizeitaktivitäten interessieren.

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II An einem nicht näher zu bestimmenden Tag gegen Ende der 390er Jahre v. Chr. verteidigte sich vor der Boule ein zu diesem Gremium gehörender Bürger – ein gewisser Mantitheos – gegen die Vorwürfe, die gegen ihn während einer Dokimasie erhoben wurden: Er soll während der Regierung der Dreißig in der Reiterei gedient und dadurch das Regime der Tyrannen unterstützt haben. Der wahre Sachstand und die Inkongruenzen in der von Mantitheos vorgestellten Schilderung der Geschehnisse interessieren uns hier weniger, wesentlich ist dagegen zum einen, dass (schon seit der Zeit des Umsturzes 411 v. Chr.) die Reiterei mit dem oligarchisch gesinnten Milieu der reichen Bürger assoziiert wurde, und zum anderen, dass Mantitheos sicherlich einer reichen Familie, welche der antidemokratischen Gesinnung verdächtig war, angehörte.34 Vor diesem Hintergrund scheint es somit selbstverständlich, dass seine Ankläger aus den Kreisen stammen, die den wohlhabenden und antidemokratisch eingestellten Eliten höchst feindlich gegenüberstanden. Dies ist insofern für unsere Überlegungen wichtig, als es uns die Gruppe anzeigt, auf welche sich folgende Worte des Mantitheos beziehen: „Was nun aber das öffentliche Leben angeht, so ist der beste Beweis meiner anständigen Haltung, daß alle diejenigen jüngeren Leute, die ihr Leben mit Würfeln, Trinken oder ähnlichen Ausschweifungen hinbringen, mit mir verfeindet sind, wie ihr selbst sehen werdet, und am meisten über mich Lügengeschichten erzählen. Und es ist offenbar, daß sie nicht so über mich dächten, wenn wir die gleiche Lebensauffassung hätten“.35 Man könnte im ersten Augenblick in diesen Worten die Ähnlichkeit zur ca. 40 Jahre später geäußerten Feststellung des Isokrates bemerken und beide Zeugnisse gleichsetzen. Dies wäre aber aus zweierlei Gründen falsch. Zum einen unterscheidet der Kontext die beiden Reden: Im Falle der lysianischen Rede handelt es sich um eine vor der demokratischen Boule gehaltene Antwort auf die gegen Mantitheos gerichteten Vorwürfe und aus diesem Grunde ist sie als eine Widerspiegelung der Einstellung und Ansichten der Zuhörer und nicht derjenigen des Redners zu verstehen. Zum anderen findet sich bei Lysias ein signifikantes Detail, welches einen wichtigen Unterschied ausmacht: Die Benutzung des Relativpronomens ὅσοι deutet darauf hin, dass Aktivitäten wie Würfelspiel und Weintrinken (es handelt sich gewiss um das Trinken in einer Kneipe bzw. an Weinverkaufsständen) nicht allgemein unter den jungen Bürgern Popularität genossen, sondern

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Er (PA 9674) könnte mit einem gewissen Mantitheos, der in die Hermen- und Mysterienfrevel verwickelt war (Andok. 1,43–44; PA 9670), verwandt sein: siehe dazu CARAWAN 2013: 255. Lys. 16,11: „περὶ δὲ τῶν κοινῶν µοι µέγιστον ἡγοῦµαι τεκµήριον εἶναι τῆς ἐµῆς ἐπιεικείας, ὅτι τῶν νεωτέρων ὅσοι περὶ κύβους ἢ πότους ἢ [περὶ] τὰς τοιαύτας ἀκολασίας τυγχάνουσι τὰς διατριβὰς ποιούµενοι, πάντας αὐτοὺς ὄψεσθέ µοι διαφόρους ὄντας, καὶ πλεῖστα τούτους περὶ ἐµοῦ λογοποιοῦντας καὶ ψευδοµένους. Καίτοι δῆλον ὅτι, εἰ τῶν αὐτῶν ἐπεθυµοῦµεν, οὐκ ἂν τοιαύτην γνώµην εἶχον περὶ ἐµοῦ.“ (Übers.: TREU).

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nur unter einigen (d. h. wenigen),36 wie beispielsweise den Anklägern des Mantitheos, die dadurch natürlich in ein schlechtes Licht gerückt wurden. Aufs Ganze gesehen kann man anhand des oben zitierten Passus schlussfolgern, dass die Kollektiveinstellung athenischer Bürger gegenüber solchen Arten von Freizeitbeschäftigung im ersten Jahrzehnt des 4. Jhs. v. Chr. negativ gewesen sein muss und dass ihnen ausschließlich eine kleine, nicht gut angesehene, aus niedrigen Schichten der demokratischen Gesellschaft37 stammende Gruppe von Jugendlichen nachging. Dies entsprach zweifelsohne den aristokratischen Ansichten. Es ist daher erlaubt, zu schlussfolgern, dass zu dieser Zeit aristokratische Strömungen in der athenischen Gesellschaft immer noch derart vorherrschend waren, dass diese Aktivitäten durch Mantitheos vor den Mitgliedern der Boule unbedenklich so eindeutig beurteilt werden können. Lässt sich aber diese Einstellung generalisieren und auf die ganze klassische Zeit ausdehnen? Die Untersuchung griechischer Wirtshäuser und des jenseits des Symposions gepflegten Weinkonsums der Athener ist aus zwei Gründen schwierig. Erstens gibt es viele Termini, die zur Bezeichnung solcher Stätten verwendet wurden: πανδοκεῖον, καταγώγιον, κατάλυσις,38 am häufigsten jedoch einfach καπηλεῖον.39

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Dies bemerkt auch MENU 2000: 46: „Par l’allusion au compartement social, Mantithéos établit donc un clivage entre deux catégories de jeunesse, correspondant moins à l’antagonisme politique aristocratie/démocratie qu’à une divergence d’idéal civique“. In Hinblick auf Byzantion versteht Theop. FGrHist 115 F 62 (ap. Athen. 12,526d–f) das häufige Besuchen der Schenken als einen Ausdruck der akolasia und verknüpft es interessanterweise mit der demokratischen Verfassung, was im Falle dieses Historikers angesichts seiner politisch-moralischen Ansichten keineswegs verwundert. Denn „Theopompus believed that there was a correlation between forms of government and standards of morality“, so FLOWER 1994: 78. Diese Stelle Theopomps macht auch deutlich, wie FLOWER 1994: 91 zu Recht bemerkt, dass er mit den Schriften des Isokrates vertraut war. Zur angeblichen Trunksucht der Byzantiner vgl. auch Phylarchos FGrHist 81 F 7 (ap. Athen. 10,442c), Damon FGrHist 389 F 1 (ap. Athen. 10,442c) und Menander fr. 66 K-A (ap. Athen. 10,442c–d). All diese Termini bezeichneten vor allen Dingen ein Gasthaus, welches selbstverständlich neben Schlafplätzen für Reisende auch den Ausschank anbot und wo sich vermutlich ebenfalls die Bewohner der polis insbesondere zum Austausch von Neuigkeiten trafen. Vgl. Athen. 13,566d, wo ein gewisser Kynoulkos seinem Gesprächspartner den Vorwurf macht, dass dieser die ganze Zeit in kapeleia und pandokeia verbringt („ὃς ἐν τοῖς καπηλείοις καὶ τοῖς πανδοκείοις αἰεὶ διαιτᾷ“) und Alexis fr. 2 K-A (ap. Athen. 11,502f), wo die Hauptperson der Komödie sagt, dass sie in eine katalysis geht, um sich mit einem xenos zu treffen. Dem Urteil von HUG 1949 ist somit nicht zuzustimmen, dass ein pandokeion „nur für Reisende […], nicht für Einheimische zu geselliger Unterhaltung“ bestimmt gewesen sei. In Bezug auf Plat. leg. 918d–919b und Pollux 7,16 stellt KRAYNAK 1984: 13 überdies fest, dass „these two references […], the only instances in which καπηλεία [sic] may refer to hostelry-keeping, suggest that occasionally κάπηλος, καπηλίς and καπηλεῖον were synonyms for πανδοκεύς, πανδοκεύτρια and πανδοκεῖον“. LIDDELL-SCOTT erklärt den Terminus als „shop of a κάπηλος“ (LSJ, s.v. καπηλεῖον), wobei ein κάπηλος einfach einen „retail-dealer, huckster“ (LSJ, s.v. κάπηλος) und nicht unbedingt einen Weinverkäufer bezeichnete. Zuzustimmen ist dennoch der Ansicht von DAVIDSON 1998: 53, dass „a kapelos can be both a retailer in general and a taverner in particular, although in comedy and oratory, when it is used without qualification, the latter sense can al-

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Das zweite Problem resultiert aus dem Mangel an eindeutigen archäologischen Befunden, vergleicht man diese mit den beeindruckenden Überresten der römischen Tavernen. Die Wandmalereien, die epigraphischen wie literarischen Texte enthüllen die Welt der römischen Vergnügungsstätten, in denen sich Menschen unterschiedlichen Standes ein Spektrum von Unterhaltungsaktivitäten eröffnete: Trinker, Diebe, Gladiatoren oder sogar Sklaven konnten dort Wein trinken, essen, mit Würfeln spielen oder mit Prostituierten Kontakt aufnehmen (man möge in dieser Hinsicht nicht nur an die Wandmalereien, sondern auch beispielsweise an die bekannte Stele des Calidius Eroticus aus Aeserna denken).40 Um es kurz zu sagen: die römischen Wirtshäuser standen aufs Ganze gesehen nicht unbedingt in gutem Ruf, und da sie dank des umfangreichen zur Verfügung stehenden Quellenmaterials viel besser erforscht sind als ihr griechisches Pendant, bleibt dies nicht ohne Konsequenzen. In der Forschung überträgt man nämlich häufig römische (und sogar vormoderne) Realien und Bedeutungen auf das griechische Äquivalent. So ist die Feststellung geradezu zu einem Axiom geworden, dass die griechischen Wirtshäuser verachtet gewesen seien, dass sie den Ausschank oft mit dem Anbieten sexueller Dienstleistungen verknüpft hätten und dass man sie ipso facto mit tiefem Misstrauen betrachtet habe.41 Es genügt hier, die im Jahre 2009 vom Archaeological Institute of America veranstaltete Konferenz zu erwähnen, die einen – durch die Interpretationsfolie der Moderne geprägte und aus methodologischer Sicht unzulässigen – Titel trug: Houses of Ill-repute: the Archaeology of Brothels, Houses, and Taverns in the Greek World (meine Hervorhebung). Ohne Weiteres setzten die Veranstalter voraus, dass diese Stätten in der griechischen Welt einen schlechten Ruf hatten.42 Es versteht sich von selbst, dass man solchen nicht unbedingt stets falschen, sicherlich aber allzu simplifizierenden Bewertungen mit Vorsicht begegnen sollte. Zwar könnte man dem Urteil moderner For-

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most be assumed“. Ähnlich auch EHRENBERG 1962: 114: „Above all, he or she was a wineseller and the keeper of an inn or public house“, vgl. ROSTOVTZEFF 1941: 1628, Anm. 196. Vgl. unter anderem RITTER 2011; KLEBERG 1957; HOLLERAN 2012: 99–158; HERMANSEN 1974 und 1981: 125–206. Die Stele des Calidius Eroticus: ILS 7478 = CIL IX,2689. Exempli gratia: WALLACE 1989: 252, Anm. 17 („Taverns were not thought respectable“); BROCK 1994: 341 („The milieu is a low-status one“); SCHMITZ 2004: 435 („Die ärmeren Athener in der Stadt saßen in den von Männern und auch Frauen geführten Schänken“); KELLY BLAZEBY 2011: 94 („The milieu is low status“); WRENHAVEN 2012: 60 („the common tavern (kapêlion) which was considered to be a place of ill-repute, doubtless because kapêlia were open to almost anyone, free or slave, Greek or barbarian, and in some cases even women“). Zuzustimmen ist selbstverständlich den Worten von AZOULAY 2004: 184, Anm. 64: „la taverne (kapèleia) s’oppose diamétralement au symposion aristocratique où circulent les bienfaits et les conversations plaisantes. Dans les tavernes, on ne distribue pas le vin mais on l’achète; en outre, le public n’y est pas choisi et les conversations sont généralement grossières“; man sollte dabei jedoch die schmale Grenze nicht überschreiten, indem man a priori voraussetzt, dass das Symposion eine rituelle, quasi egalitäre Weinkonsumpraxis für die reichen Bürger und die Wirtshäuser etwa eine entritualisierte Geselligkeitsform nur für die Armen darstellen (in diese Richtung scheinen die Überlegungen von DAVIDSON 1998: 60 zu gehen).

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scher anhand der oben zitierten Stelle aus der lysianischen Rede für Mantitheos sofort zustimmen, andere Quellenzeugnisse hingegen lassen dieses Bild differenzierter erscheinen und ermöglichen dadurch, es zu revidieren. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist auf ein gewichtiges wie (scheinbar) problematisches durch Aristoteles vermitteltes Diktum eines Kynikers zu verweisen:43 „Der Hund“, heiß es dort, „nannte die Kneipen attische phiditia“ („ὁ Κύων δὲ τὰ καπηλεῖα τὰ Ἀττικὰ φιδίτια“).44 Die in diesen Worten enthaltene Aussage mag prima facie rätselhaft erscheinen. Betrachtet man jedoch den sozialen Kontext und die philosophischen Ansichten des Autors näher, wird sie nachvollziehbar. Wie schon JAMES DAVIDSON zu Recht bemerkt hat, bezieht sich dieses Diktum auf die große Anzahl der Wirtshäuser in Attika.45 Genauso wie in Sparta das Gemeinschaftsmahl in den phiditia eine wesentliche Institution des spartanischen Kosmos war und folglich im öffentlichen Raum sichtbar wurde,46 so müssen auch die attischen kapeleia die urbane Landschaft und den bürgerlichen Lebensstil geprägt haben. Die Ironie, die sich in diesen Worten verbirgt, besteht wahrscheinlich darin, dass die Spartiaten ab dem Moment, in dem sie die Volljährigkeit erlangt hatten, zur täglichen Teilnahme an den phiditia verpflichtet waren.47 Hingegen sah es in Athen so aus, als ob auch die Athener eine Art Äquivalent der spartanischen Mahlgemeinschaften gehabt hätten, da sie angeblich nicht imstande waren, sich einen Tag ohne den Besuch einer Schenke vorzustellen. Darüber hinaus ist ein solcher Vergleich selbst provokativ. Eine Gegenüberstellung der elitären (da den sozialen Status bestimmenden) und gemeinschaftlichen Institution der Spartiaten mit den allgemein zugänglichen, also von Grund auf demokratischen, athenischen Wirtshäusern ist einem Kyniker eigen. Die Aussagekraft dieses Zeugnisses könnte einerseits aufgrund seiner oben erläuterten Besonderheiten angezweifelt und somit als unzulänglicher Beleg für die These betrachtet werden, dass die kapeleia einen wichtigen Bestandteil der urbanen Landschaft sowie des Lebensstils athenischer Bürger (nicht nur derjenigen aus den niedrigen Schichten) bildeten. Andererseits sind das bei Aristoteles übermittelte Diktum des Kynikers sowie die Worte des Isokrates keinesfalls vereinzelte Zeugnisse. Theophrast vergleicht interessanterweise ein stark frequentiertes Wohnhaus mit einem Wirtshaus (pan43

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Eine genauere Bestimmung der Autorschaft dieser Worte ist für die vorliegenden Betrachtungen von geringer Bedeutung. Beinahe alle modernen Forscher setzen als selbstverständlich voraus, dass hier unter dem Spitznamen „der Hund“ Diogenes von Sinope gemeint sei. GOULET-CAZÉ 1996 plädiert jedoch für die These, dass in diesem Passus Antisthenes gemeint sei, da er unter anderem laut Diogenes Laertios (6,15) eine Abhandlung Περὶ τῶν σοφιστῶν φυσιογνωµονικός angefertigt haben soll, in der er auch von den Schankwirtinnen (αἱ καπηλίδες) schrieb. Um die Mitte des 4. Jhs. v. Chr. solle laut Goulet-Cazé unter dem Spitzname „der Hund“ eher Antisthenes als Diogenes von Sinope bekannt gewesen sein. Aristot. rhet. 1411a24f. (Übers.: MATUSZEWSKI). DAVIDSON 1998: 55. Die den Syssitien dienenden Gebäude befanden sich vermutlich an der Straße nach Amyklai, siehe BIELSCHOWSKY 1869: 22 (non vidi, nach: BUSOLT/SWOBODA 1926: 698). Vgl. ferner KULESZA 2003: 143–158; NAFISSI 1991: 173–226; RABINOWITZ 2009: 113–191. Vgl. Plut. Lyk. 12,4.

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dokeion), weil beide immer voll gewesen seien.48 Nach einer in den Schriften Plutarchs erwähnten Anekdote soll sogar selbst Demosthenes in einer Schenke gesehen worden sein, was auch der Grund dafür gewesen sei, dass er vor Scham errötete.49 Dass diese Anekdote als historisch zu betrachten ist, ist zwar eher zweifelhaft; wenn dies jedoch der Fall wäre, dann würde es darauf hindeuten, dass sich auch die Oberschicht nach und nach und manchmal mit gewissen Hemmungen die neuen moralischen Standards und den neuen Habitus aneignete. Demosthenes’ Präsenz in einem kapeleion könnte demnach einen solchen Prozess dokumentieren. In diesem Zusammenhang soll noch auf eine bedeutsame Stelle bei Athenaios verwiesen werden, in der ein Fragment der angeblich hypereidischen Rede gegen Patrokles erwähnt wurde: „Hypereides aber bemerkt in der Rede gegen Patrokles, wenn die Rede echt ist, dass die Areopagiten einen Bürger, weil er in einer Schenke gefrühstückt hatte, daran hinderten, zum Areopag hinaufzugehen.“50

Die Interpretation dieser Worte bereitet gewisse Schwierigkeiten. Einige Forscher nehmen ohne Weiteres an, dass es sich um einen einmaligen Fall handelt, wobei ein gewisses Mitglied des Areopags von anderen Mitgliedern dieses Gremiums aus Rücksicht auf seine Präsenz in einer Schenke gewissermaßen bestraft werden sollte. Einer solchen Lektüre dieser Stelle wäre zu entnehmen, dass die Areopagiten auf diese Weise ihre Würde schützen wollten, d. h. ipso facto, dass die athenischen kapeleia als verruchte und unangemessene Orte für anständige Bürger betrachtet worden wären. Aus dieser Perspektive betrachtet beispielsweise PAUL VEYNE die hypereidische Stelle. Er gibt sie folgendermaßen wieder: „Ein alter Archon wurde aus dem Areopag ausgeschlossen, weil er im Wirtshaus gespeist hatte, was einen äußerst lockeren Lebenswandel anzeigte“.51

Der Ausdruck εἰς Ἄρειον πάγον könnte sich zwar tatsächlich nicht auf den Ort, sondern auf die Institution (deren vollständige Bezeichnung zwar ἡ βουλὴ ἡ ἐξ Ἀρείου πάγου bzw. ἡ βουλὴ ἡ ἐν Ἀρείῳ πάγῳ lautete) beziehen, aber in Verbindung mit dem Verb ἄνειµι kann er die Bedeutung von „Zulassung zum Areopag“ annehmen. Und hier kann von einem endgültigen „Ausschluss“ eines Mitglieds aus diesem Gremium, was die (zwar unklare) Formulierung VEYNES wohl suggeriert, nicht die Rede sein. Im Kontext der ‚Ausschließung‘ eines Areopagiten aus dem Areopag erwähnt diese Stelle ebenfalls DOUGLAS M. MACDOWELL, welcher behutsam feststellt: „Whether a man who had once become an Areopagite could be expelled from membership is not quite clear. We hear of one occasion on which the Areopagites forbade a man to ‘go up to the Areopagos’ because he had 48 49 50

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Vgl. Theophr. Char. 20,9. Vgl. Ps.-Plut. X Orat. 847 F. Diog. Laert. 6,2,34 wiederholt die Anekdote ebenfalls. Hyper. fr. 138 Kenyon, ap. Athen. 13,566f.: „Ὑπερείδης δὲ ἐν τῷ κατὰ Πατροκλέους, εἰ γνήσιος ὁ λόγος, τοὺς Ἀρεοπαγίτας φησὶν ἀριστήσαντά τινα ἐν καπηλείῳ κωλῦσαι ἀνιέναι εἰς Ἄρειον πάγον.“ (Übers.: FRIEDRICH). VEYNE 1988: 36. Das gleiche wiederholt er auch in VEYNE 2005: 112–113.

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breakfasted in a café“, sofort fügt er aber hinzu: „But he may have been excluded only from the meeting on that one day, and not permanently“.52 Die Interpretation, wonach ein Areopagite aus diesem Gremium endgültig entfernt werden sollte, weil er in einer Schenke gefrühstückt hätte, kann gewiss ausgeschlossen werden; die oben angeführte Phrase lässt in dieser Hinsicht keinen größeren Zweifel zu. Nur zwei Möglichkeiten sind hier in Betracht zu ziehen: Entweder handelt es sich in diesem Fall um eine Zulassungsverhinderung eines ehemaligen Archon zum Rat des Areopags oder – was MACDOWELL ebenfalls vorsichtig vorschlägt und was meines Erachtens plausibler scheint – um die Verhinderung des Eintritts auf den Hügel des Ares (was dem Verbot der Teilnahme an einer Sitzung des Rats gleichkommt) eines Areopagiten, welcher kurz zuvor in einer Schenke gewesen war. Für die erste Möglichkeit sprach sich schon GUSTAV GILBERT, ein Gelehrter des 19. Jhs., aus, der von der Annahme ausging, dass sich die Archonten am Ende ihrer Amtsperiode nicht nur den Euthynai, sondern ebenfalls einer von dem Areopag durchgeführten Dokimasie unterziehen mussten, die es erst ermöglichte, die ehemaligen Archonten in den Kreis der Areopagiten zuzulassen.53 Während einer solchen Prüfung des Benehmens und Lebens eines ehemaligen Archon könnten ihm verschiedene Arten von Vergehen vorgeworfen worden sein. Würde man dieser Interpretation folgen, bedeutete dies, dass der Besuch von Kneipen zu solchen Vergehen gezählt haben könnte. Eine solche Lektüre dieser Textpassage würde somit darauf hindeuten, dass auf der einen Seite eine in der polis so wichtige und ehrbare Person wie der Archon derartige Räumlichkeiten besucht hätte. Das Besuchen von Kneipen wäre also potentiell ohne eine unmittelbare Stigmatisierung möglich gewesen, wenngleich dies unter bestimmten Umständen, insbesondere für angesehene Bürger während ihrer Amtszeit, Probleme mit sich bringen konnte. Auf der anderen Seite erscheint es logisch, dass der Hort konservativer Ansichten und des Traditionalismus – der Areopag – solchen Orten mit Vorbehalten oder sogar Verachtung gegenüberstand, was nicht unbedingt den Einstellungen der Bürgerschaft entsprochen haben muss. Allerdings ist die der Zulassung zum Areopag vorhergehende Dokimasie schlecht belegt. Berechtigt sind deshalb die kritischen Worte von ROBERT W. WALLACE: „Are we to assume at this dokimasia (for which there is no evidence) the Areopagites sought to discover whether an archon had ever eaten in a tavern?“54

WALLACE geht jedoch in der Annahme zu weit, dass es überhaupt keine Belege gegeben habe, da die erhaltenen Belege lediglich umstritten sind.55 Wenn wir jedoch auf Grundlage dieser problematischen Quellenstellen die Existenz einer solchen Dokimasie annehmen, wie es auch CHRISTOPHE FEYEL neuerdings getan hat, 52 53

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MACDOWELL 1964: 40–41. GILBERT 1893: 314 hat diese Quellenstelle explizit in den Kontext der Dokimasie vor dem Eintritt in den Areopag gestellt. HANSEN 1991: 288–289 schreibt ebenfalls von einer von dem Areopag durchgeführten Dokimasie. WALLACE 1989: 96. Demosth. 24,22; Ps.-Demosth. 26,5 und Schol. Demosth. 20,90, vgl. dazu FEYEL 2009: 181– 184.

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so müssen wir zugleich annehmen, dass sie nicht vom Areopag, sondern vor einem Volksgericht durchgeführt wurde.56 Somit kann das hypereidische Fragment (in dem die Areopagiten als Agens auftauchen) nicht als Beleg für eine Dokimasie der Areopagiten betrachtet werden, wodurch die erste oben vorgestellte Deutung ihre Überzeugungskraft verliert. Viel sinnvoller erscheint jedoch, wie bereits bemerkt, die zweite Möglichkeit, wonach die Mitglieder des Areopages einen Areopagiten daran hinderten, zum Areopag hinaufzugehen („κωλῦσαι ἀνιέναι εἰς Ἄρειον πάγον“ also in erster Linie im topographischen Sinne57), weil er zuvor in einer Schenke gefrühstückt hatte.58 Dieses Eintrittsverbot richtete sich gegen ein konkretes Mitglied des Areopags, es ist aber durchaus möglich, dass es danach ebenfalls universelle Geltung erlangte. D. h., es beträfe jeden Areopagiten, der solche Orte besuchte. Dann könnte man schlussfolgern, dass die Notwendigkeit eines solchen Verbots gerade auf den Sachverhalt hinweisen würde, dass sich die Areopagiten öfters in den Wirtshäusern verköstigen ließen. Das ist für sich genommen schon bemerkenswert. Das Verbot, wenn wir die Authentizität der Rede59 und diese Interpretation annehmen, resultierte höchstwahrscheinlich nicht – wie von MACDOWELL, WALLACE oder anderen Forschern umstandslos angenommen – aus Sorge um die Würde der Mitglieder dieses Rates, sondern aus ganz pragmatischen Gründen: Die Areopagiten sollten während der Sitzungen nüchtern sein. Diese Annahme können die Ausführungen von Platon oder bereits Antiphon ebenfalls untermauern. Letzterer konstatiert, dass ein Politiker kein philopotes („ein dem Alkohol ergebener Mensch“) sein sollte.60 Auch Platon betont in seinen Nomoi, dass unter anderem die Beamten in der von ihm geplanten Stadt das Weintrinken während ihrer Amtszeit vermeiden sollen, um die ganze Zeit nüchtern und effektiv zu sein.61 Man kann vermuten, dass dieser Gedanke der allgemeinen Meinung der Athener entsprach. Das 56

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FEYEL 2009: 182: „Ces quelques textes attestent l’existence d’une dokimasia des membres de l’Aréopage. Elle se faisait devant le Tribunal du Peuple, car le Pseudo-Démosthène qui en traite brièvement, s’adresse à des jurés“. In diesem Sinne auch beispielsweise im Eukrates-Gesetz: editio princeps in MERITT 1952; für die Übersetzung mit Kommentar vgl. RHODES/OSBORNE 2003, 388–393 (Nr. 79). Auf diese Art und Weise versteht diesen Satz auch der Autor der deutschen Übersetzung von Athenaios (CLAUS FRIEDRICH). So auch WALLACE 1989: 96. Zwar bemerkt Athenaios: „εἰ γνήσιος ὁ λόγος“, eine solche Formulierung findet man aber in seinem monumentalen Werk an mehreren Stellen (vgl. Athen. 2,70a–b; Athen. 4,144e; Athen. 6,231b; Athen. 7,283a; Athen. 13,573b; Athen. 13,586e; Athen. 13,586f; Athen. 13,592c; Athen. 14,652a), was auf nichts anderes als seine Akribie hindeutet, denn er war beim Zitieren sehr sorgfältig (so Jacoby, FGrHist 2 [D], 389; Komm. ad 115 F 247–248), vgl. FLOWER 1994: 36, Anm. 41. DIELS-KRANZ, Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 2, Nr. 87 (Antiphon) B 76: „µήτε φιλοπότην κληθῆναι καὶ δοκεῖν τὰ πράγµατα καταµελεῖν ὑπὸ οἴνου ἡσσώµενον“. Dieser Ausdruck war nicht abwertend und hatte keine pejorativen Konnotationen, im Gegensatz zu Worten wie kothonismos, konthonizethai, welche zur Beschreibung asozialer Einstellungen gebraucht werden; Demosthenes prägte sogar einen neuen Begriff akratokothones (Hyp. In Demosth. p. 24 [Jensen]), um die sich betrinkende Jugend anzuklagen, siehe DAVIDSON 1998: 61f., 151. Plat. leg. 674A–B.

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Verbot der Teilnahme an der Sitzung des Rates für einen Areopagiten, der sich zuvor in einer Schenke hatte verköstigen lassen, war allem Anschein nach dem Verdacht der Trunkenheit (schließlich servierte man dort nicht nur Essen, sondern vor allen Dingen Wein) und der Sorge um die Rationalität der während der Sitzung vorgenommenen Bestimmungen geschuldet, und eine solche Deutung scheint hier am zutreffendsten. Es bedarf wohl kaum eines Beleges, dass man in den Wirtshäusern aß, trank, mit Würfeln spielte und verschiedene Arten von Kontakten knüpfte – dies waren Orte, wo die Mitglieder der athenischen Gesellschaft ihre Freizeit verbringen und wo sie Geschäfte und andere Angelegenheiten besprechen konnten (dabei ist insbesondere an die Schenken im Piräus zu denken,62 wo sich die Athener Bürger oder Metöken mit Kaufleuten und anderen Reisenden treffen konnten).63 Ob man in solchen Räumlichkeiten beim Konsum von Wein auch auf Prostituierte treffen konnte und diese darüber hinaus auch ihre Dienste in Bordellkammern vor Ort anboten64, lässt sich zwar nicht ganz ausschließen, kann jedoch nicht mit abschließender Sicherheit festgestellt werden.65 Außer über die Ereignisse des Alltages tauschten sich die Besucher der Schenken en passant bestimmt über die wichtigsten aktuellen Probleme aus. Es ist anzunehmen, dass gerade in solchen Stätten wie den Wirtshäusern die politischen Ansichten beträchtlicher Teile der Bürger62 63

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Vgl. KELLY BLAZEBY 2011: 96ff. Diese Funktionen kann man als universelle Aufgaben der Wirtshäuser bezeichnen, siehe die in KÜMIN/TLUSTY 2002 und in RAU/SCHWERHOFF 2004 versammelten Beiträge; vgl. auch RAU 2004. Dies war sicherlich in römischen tabernae der Fall – Geschlechtsverkehr mit einer tabernaria zählte nach dem römischen Recht nicht als Ehebruch: Paulus, Sententiae 2,26,11; vgl. FOXHALL 2013: 97, 99. Beachtenswert sind auch die semantische Verschiebung und der terminologische Übergang in der Bezeichnung der Berufe, die sich am Beispiel der alttestamentlichen Prostituierten Rahab gut beobachten lässt: in Joz 2:1 wurde sie als „‫ “זוֹנָה‬und in der Septuaginta entsprechend als „πόρνη“ (=„Hure“) bezeichnet, dagegen bevorzugten die Autoren einer aramäischen Übersetzung der hebräischen Bibel sowie Flavius Josephus Rahabs Beruf mit dem Euphemismus „die Wirtin“ wiederzugeben (vgl. GOODMAN 2007: 308) oder auch in Wirtshäusern in späteren Epochen (vgl. zum Mittelalter z. B. SCHMITT 1990: 229). Als Paradebeispiel dafür führt man in der Forschung stets den Bau Z am Kerameikos an, in welchem KNIGGE 1991: 93 und DERS. 2005: 78 zufolge in seiner dritten Bauphase ebenfalls Prostituierte gearbeitet haben sollten. Dies ist grosso modo die opinio communis der Forschung, vgl. LIND 1988 (der zu beweisen versucht hat, dass es sich im Falle des Baus Z um die bei Is. 6,20f. erwähnte synoikia eines gewissen Euktemon handelt, was jedoch hinsichtlich der Datierung problematisch scheint und von KNIGGE angezweifelt wird; KNIGGE 1993: 139 und STROSZECK 2014: 118 haben vorgeschlagen, den Bau Y 2 mit der synoikia des Euktemon zu identifizieren); HARTMANN 2002: 249–252 (die sich für ein Hetärenhaus ausspricht); AULT 2005: 149–150 (der meines Erachtens fälschlicherweise vermutet, dass sich schon in der ersten und zweiten Phase in diesem Gebäude ein Bordell bzw. eine Gaststätte befunden habe); DAVIDSON 1998: 85 (spricht sich überlegt dafür aus, dass „for most or all of its life building Z served as a brothel and/or inn“). Eine wertvolle Studie zum athenischen porneion bietet GLAZEBROOK 2011. Zu den Bauphasen des Baus Z bietet jetzt STROSZECK 2014: 111–116 einen konzisen Überblick. Die gleichzeitige Erfüllung der beiden Funktionen vom Bau Z als eines Wirts- bzw. Gasthauses und eines Bordells ist meines Erachtens nicht ausreichend belegt und verlangt nach einer gründlichen Analyse.

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gruppe geformt wurden: insbesondere diejenigen, die während der Sitzungen der Volksversammlung nicht das Wort ergriffen, weil dies mit einem gewissen Risiko behaftet war,66 konnten an Orten wie den Schenken oder Geschäften ohne Scheu ihre Meinung äußern und mit anderen frei diskutieren. Damit boten diese Orte den Athenern die Möglichkeit, sich dem ‚produktiven Müßiggang‘ hinzugeben. Nebenbei soll an dieser Stelle noch bemerkt werden, dass Schenken nicht unbedingt feste bauliche Strukturen haben mussten, sondern temporäre Weinverkaufsstände sein konnten. In seinen Äußerungen über die weintrinkende Jugend erwähnt Isokrates das Brunnenhaus Enneakrounos.67 Viele Weinverkaufsstände haben sich demnach in der Nähe der öffentlichen Quell- und Brunnenhäuser befunden. Denn der Wein verlangt Wasser, wie man mit Simonides wiederholen könnte.68 Die größeren Wirtshäuser (und die in den Privathäusern eingerichteten) verfügten über Zisternen oder private Brunnen zur Wasserspeicherung und -schöpfung (das beste Beispiel stellt der Bau Z am Kerameikos dar). Die kleineren Betriebe, die kleinen und temporären Marktbuden,69 mussten das nötige Wasser aus öffentlichen Wasserversorgungsanlagen schöpfen.70 Die Aussage des Isokrates, dass sich die jungen Bürger bei der Enneakrounos versammeln und Wein kühlen, erscheint im Lichte dieser Deutung viel verständlicher. Aus den angeführten Überlegungen ergibt sich, dass ab einem gewissen Zeitpunkt die Bürger Athens – sowohl diejenigen aus den niedrigeren als auch diejenigen aus den oberen Schichten der Gesellschaft – die Wirtshäuser besuchten, dort speisten und Wein tranken, ihre Freizeit mit Würfelspielen oder Gesprächen verbrachten. Die Feststellung des Isokrates aus dem Areopagitikos und der Antidosis66

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Dazu vgl. CHRIST 2012: 78 (mit Anm. 70 für Belege) und BALOT 2014: 60–63 (mit weiterer Literatur). Politische Diskussionen im außerinstitutionellen Kontext – auf dem Markt oder in Werkstätten – bezeugen beispielsweise Isokr. 7,15, Demosth. 19,122 und Aischin. 3,1. Vgl. TÖLLE-KASTENBEIN 1986 und vor allem OWENS 1982. Alle Testimonia zur Enneakounos-Kallirrhoe in: THOMPSON/WYCHERLEY 1972: 137–142. Simonides fr. 24 West (ap. Athen. 1,32c). Beispielsweise in Alexis fr. 9 K.-A. (ap. Ath. 10,430,38e) hören wir, dass der schon gemischte Wein von den Wagen aus (ἐν ταῖς ἁµάξαις) verkauft wurde. Diese Annahme bestätigen in gewissem Maße die archäologischen Befunde, da sich nahe der durch LUCY TALCOTT als Wirtshaus identifizierten Struktur tatsächlich ein Brunnenhaus (unter der späteren Stoa des Attalos) befand (TALCOTT 1935; vgl. THOMPSON/WYCHERLEY 1972: 202). In dieser Umgebung – im süd-östlichen Teil der klassischen Agora – lag ferner ein weiteres Quellhaus, das angeblich von den Peisistratiden erbaut wurde. Dass die Brunnenhäuser im imaginaire social als für Frauen gefährliche Orte angesehen wurden, kann unter anderem auch dadurch erklärt werden, dass sich in ihrer Nähe betrunkene Männer versammelten; zur ‚weiblichen Topographie‘ Athens siehe NEVETT 2011 (allerdings ist die dort beigelegte Karte der Quell- und Brunnenhäuser unvollständig); zu den Darstellungen der Frauen bei den Quell- und Brunnenhäuser in der attischen Keramik siehe MANFRINI-ARAGNO 1992; MANAKIDOU 1992/1993; PFISTERER-HAAS 2002; FERRARI 2003: 44–51; SCHMIDT 2005: 232–246; KOSSO/LAWTON 2009; SABETAI 2009; STÄHLI 2013: 16–20, die alle unterschiedliche Ansätze verfolgen; darüber hinaus scheint das aus der Vasenmalerei bekannte Motiv der Satyrn bei Brunnenhäusern – vgl. dazu jetzt LISSARRAGUE 2013: 91 – diese Hypothese zu bekräftigen: Hier symbolisieren die Satyrn die sexuelle Gefahr für die Frauen, zugleich aber auch deuten sie auf den Gott Dionysos und deshalb auch auf den Wein.

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Rede gewinnt somit an Glaubwürdigkeit. Bereits um die Mitte des 4. Jhs. v. Chr. erregte es nicht mehr unbedingt Anstoß, wenn die angesehenen Bürger in Wirtshäuser gingen. Es liegt somit nahe, dass die soziale Einstellung gegenüber solchen Räumen der Soziabilität einem Wandel unterlag, obwohl man in gewissen Kreisen weiterhin mit Misstrauen, manchmal sogar mit Ablehnung oder Verachtung auf die Arbeiter und Besitzer der Weinkonsumstätten wie auch andere Verkäufer blickte – genau dies (und hier stehen uns zahlreiche Zeugnisse zur Verfügung) bringt vermutlich moderne Forscher zu der Annahme, dass man die kapeleia in Athen ausschließlich mit niedrigen Schichten assoziierte.71 Die Beurteilung der in Wirtshäusern Tätigen sollte jedoch getrennt von der Beurteilung der Räume und dort angebotenen Freizeitaktivitäten erfolgen. Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, dass natürlich zum einen die Beurteilung konkreter Betriebe gewiss variierte und zum anderen verschiedene Wirtshäuser in unterschiedlichem Ruf standen. Für diese Beurteilung stand die ganze Skala von gutem Ansehen bis Verachtung zur Verfügung. In der vorliegenden Untersuchung soll jedoch nicht die Einstellung gegenüber einzelnen Schenken, sondern die kollektive Einstellung gegenüber dieser Art von Soziabilitätsräumen ermittelt werden. Und hier lässt sich wie bereits bemerkt eine wesentliche Umwandlung feststellen. Die oben analysierten Quellenstellen lassen schlussfolgern, dass sich die Grenze des Anständigkeitsgefühls verschoben hat. Wie und warum kam es dazu? Bevor wir dieser Frage und dem Problem nachgehen, was aus diesem Einstellungswandel gegenüber solchen Freizeitbeschäftigungen und Soziabilitätsräumen in einer breiteren Perspektive folgt, ist ein Blick auf die Würfelspiele und Spielhäuser zu werfen, über die sich Isokrates in der genannten Rede ebenfalls äußert. III Das leidenschaftliche Spielen ist ein Phänomen, das den Menschen vermutlich von alters her begleitet. Spärlich zwar, aber dennoch bezeugt ist die Existenz spezieller Spielhäuser in Athen, in denen sowohl die Bürger als auch die Metöken und andere Fremde ihrer Leidenschaft frönen konnten. Eine nähere Untersuchung dieses Phänomens hat NICK FISHER in seinem plausiblen Aufsatz The Perils of Pittalakos: Settings of Cock Fighting and Dicing in Classical Athens vorgenommen.72 Andere wertvolle Studien beschäftigen sich ebenfalls mit den Würfel- und Astragalspielen und den Hahnen- bzw. Wachtel-

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Die Betrügereien der Schankwirte und -wirtinnen (nur exempli gratia): Aristoph. Plut. 435– 436; Thesm. 347–348; Nikostratos fr. 22 K.-A. (ap. Athen. 15,700b); Plut. Lys. 13,8; zur abwertenden Beurteilung dieser Tätigkeiten siehe z. B.: Theophr. Char. 6,5; EHRENBERG 1962: 113–164. Interessant ist, dass die kapeloi zu den am häufigsten in den Fluchtäfelchen erwähnten Gewerben gehören, siehe z. B. WÜNSCH 1887: Nr. 68, Nr. 70, Nr. 73, Nr. 75, Nr. 87; JORDAN 1985: Nr. 11, Nr. 43. FISHER 2004, vgl. MATUSZEWSKI 2013.

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kämpfen im klassischen Athen73, denen man sich in den Spielstätten widmen konnte.74 Es wird im Folgenden nur ein Aspekt dieses Problems thematisiert, der von den Autoren anderer Arbeiten nicht behandelt wurde und welcher zugleich für die hier vertretene These ein weiteres Argument liefern kann. Folgende Bemerkung ERIC HOBSBAWMS bringt dies genau auf den Punkt: „Words are witnesses which often speak louder than documents“.75 Deshalb sollen uns nun in erster Linie Worte interessieren. In einer Passage bei Isokrates, in der er die Freizeitbeschäftigungen der zeitgenössischen athenischen Jugendlichen kritisiert, erfährt man, dass sich die Jugendlichen „dem Würfelspiel in den Spielhallen“ hingaben („ἐν τοῖς σκιραφείοις κυβεύουσιν“).76 Dabei verwendet Isokrates den Begriff skirapheion. Da auch andere Autoren der klassischen Zeit, wie beispielsweise Deinarch oder Theopomp,77 genau dieses Wort gebrauchen, liegt es nahe, dass gerade dieser Begriff eine Standardbezeichnung solcher Soziabilitätsräume gewesen sein muss. Allerdings ist die Etymologie von skirapheion nicht ganz eindeutig. Die antiken und byzantinischen Lexikographen verbinden diesen Terminus mit der Gegend Skiron,78 genauer gesagt mit dem sich dort befindenden Tempel der Athena Skiras, in dem man diesen Autoren zufolge mit Würfeln spielte.79 Von diesen Erklärungen früherer Lexikographen ausgehend stellt Eustathios von Thessalonike in seinem Kommentar zur Odyssee interessanterweise fest: „aus diesem Grunde nannte man alle Betrugstaten skiraphoi, weil man in Spielbetrieben (skirapheia) betrog“.80 Dieser Terminus hatte durch seine Assoziation mit dem Betrug pejorative Konnotationen. 73

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Zu Knöchel-, Würfel- und anderen Brettspielen siehe unter anderem LAMER 1927; KURKE 1999 und 2002; FISHER 2004; MATUSZEWSKI 2013; zu den Wachtel- bzw. Hahnenkämpfe siehe unter anderem CSAPO 1993a; DERS. 1993b; DERS. 2006/2007; BRÜGGENBROCK 2006: 127–140; BRUNEAU 1965; HOFFMANN 1974. Vgl. Aischin. 1,53. HOBSBAWM 2003: 13. Isokr. 15,287; vgl. Isokr. 7,48. Harp. s.v. „· Δείναρχος ἐν τῷ Κατὰ Προξένου. σκιραφῖα ἔλεγον τὰ κυβευτήρια, ἐπειδὴ διέτριβον ἐν Σκίρῳ οἱ κυβεύοντες, ὡς Θεόποµπος ἐν τῇ νʹ ὑποσηµαίνει“ / „Skirapheia: Deinarch in der Rede Gegen Proxenos. Die Spielhallen [kybeuteria] wurden skirapheia genannt, da in Skiron die Würfelspielenden [kybeuontes] ihre Zeit verbrachten, wie Theopomp im 50. Buch andeutet“ (Übers.: MATUSZEWSKI). Vgl. Theop. ap. Athen. 12,532d. Skiron lag nordwestlich des Heiligen Tores an der Heiligen Straße in Richtung Eleusis und gehörte – wie PETER SIEWERT vermutet – zum Demos Kerameis oder zum Demos Boutadai, siehe SIEWERT 1982: 40f. mit Anm. 22; vgl. ferner JUDEICH 1905: 164 und 45f. und vor allem STEFFELBAUER 2007: 253f. Poll. 9,96: „σκιραφεῖα δὲ τὰ κυβευτήρια ὠνοµάσθη, διότι µάλιστα Ἀθήνησιν ἐκύβευον ἐπὶ Σκίρῳ ἐν τῷ τῆς Σκιράδος νεῴ“ / „Skirapheia ist ein Name für die Spielhallen [kybeuteria], weil man in Athen vor allem beim Skiron im Tempel der Skiras mit Würfeln spielte“ (Übers.: MATUSZEWSKI); Etym. Mag. 717,30: „ἢ ὅτι ἐν τῷ τῆς Σκιράδος Ἀ. ἱερῷ οἱ κυβευταί ἔπαιζον“ / „Oder weil im Bezirk der A[thena] Skiras die Würfelspieler [kybeutai] spielten“ (Übers.: MATUSZEWSKI). Eustath. Od. 1397,10: „ἐξ ὧν καὶ πάντα τὰ πανουργήµατα διὰ τὴν ἐν σκιραφείοις ῥᾳδιουργίαν σκίραφοι ἐκαλοῦντο.“ (Übers.: MATUSZEWSKI).

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Es wäre nun verlockend zu vermuten, dass diese Bedeutungsdimension eine Folge der Assoziation nicht mit dem Tempel der Athena Skiras war, wie die oben erwähnten antiken und byzantinischen Gelehrten durchweg dachten, sondern mit Skiron – einem von Theseus getöteten Straßenräuber, der Wanderer aus den (nach ihm benannten) Skironischen Felsen hinterlistig ins Meer hinabstieß.81 Dass sich die Etymologie des Wortes skirapheion tatsächlich nicht von der attischen Gegend und dem dortigem Tempel der Athena herleiten kann, können auch die Verse des ionischen Dichter Hipponax bezeugen, der im 6. Jh. v. Chr. die skiraphoi im Sinne von Betrügereien und Tricks in seinem Werk erwähnt.82 Im neuesten etymologischen Wörterbuch des Altgriechischen nimmt ROBERT BEEKES an, dass das Wort skirapheion ein Derivat von skiraphos sei; er erläutert diesen Begriff in Anlehnung an Herodians Erklärung („ἀκόλαστος καὶ κυβευτής“)83 als „treachery“.84 Die Spielhallen – skirapheia – zogen folglich häufig verschiedene Arten von Schurken und maßlosen Spielern an, die beim Spielen nicht selten betrogen und besinnungslos ihr Geld verspielten. Eben diese Assoziationen prägten die Bedeutung des Begriffs skirapheion in der griechischen Welt. Umso auffälliger erscheint daher der Fall der Aischines-Rede gegen Timarchos, die uns die besten Informationen zum Milieu der Besucher solcher Stätten liefert und in welcher zur Erwähnung eines Spielhauses erstaunlicherweise nicht das Wort skirapheion, sondern kybeion gebraucht wurde. Das Wort, das ausschließlich bei Aischines auftaucht, scheint ein neuer, erst im 4. Jh. v. Chr. geformter Ausdruck zu sein. Die Verwendung eines solchen Begriffs ist, um es gleich vorwegzunehmen, sicherlich kein Zufall. Um die unvermeidbare Frage beantworten zu können, warum sich Aischines entschieden hat, in seiner Rede das Wort kybeion statt skirapheion zu verwenden, muss auf seine rhetorische Taktik und daher auch die wichtigsten Einzelheiten der Geschehnisse aufmerksam gemacht werden. In dieser im Jahre 346/5 v. Chr. gehaltenen Rede, die politisch motiviert war und deren Hintergründe wir beiseite lassen können,85 wollte Aischines zeigen, dass Timarchos, ein Anhänger des Demosthenes, nicht berechtigt sei, eine Anklage gegen ihn zu erheben, weil ihm die wichtigsten Teile des Bürgerrechts entzogen werden sollten. Timarchos wird nämlich vorgeworfen, sich in jungen Jahren prostituiert und sein väterliches Erbe verprasst zu haben.86 Der Politiker Timarchos soll Aischines zufolge ein schändliches Leben geführt haben. Angeblich war er ununterbrochen mit der Suche nach Genuss und Vergnügen beschäftigt und war infolgedessen gezwungen gewesen, sich aufgrund seiner Lasterhaftigkeit 81 82 83

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Apoll. Epitome 1,2 (mit FRAZER 1921: ad loc.); Plut. Thes. 10,1; Paus. 1,44,8. Hipponax, fr. 129 a Masson. Hdn. 1,225,13. Dieser Terminus taucht auch in anderen nachklassischen eindeutig negativen Kontexten, wie im Falle eines gewissen Deinias, der bei Lukian als enkapsikedalos bzw. enkapsikidalos bezeichnet wurde, siehe dazu LENGAUER 2013. BEEKES 2010: s.v. σκίραφος; FRISK 1970 wiederum leitete dieses Wort von κίραφος („der Fuchs“) her, vgl. CHANTRAINE 1974: s.v. σκίραφος. Für eine knappe Darstellung des Hintergrundes vgl. FISHER 2001: 2–8. Dazu DOVER 1989: 19–109.

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(bdelyria) einen „Sponsor“ (choregos) zu suchen. Er habe seine Zeit nach der Trennung von seinen früheren Liebhabern Antikles und Misgolas in einem Spielhaus (ἐν τῷ κυβείῳ) verbracht, wo er auch einen gewissen – dem Würfelspiel und den Vögelkämpfen verfallenen – Pittalakos getroffen habe, welcher selbst bald zu einem Liebhaber des Timarchos geworden sei. Das Pikante bestand darin, dass dieser Pittalakos dem Redner zufolge kein Bürger (wie Timarchos’ frühere Liebhaber), sondern ein öffentlicher Sklave (ἄνθρωπος δηµόσιος οἰκέτης τῆς πόλεως)87 gewesen sei. Alsbald habe jedoch Timarchos einen Spielkameraden Pittalakos’ namens Hegesandros kennengelernt und sei dann bei ihm eingezogen. Infolge dieser Ereignisse sei Pittalakos in Verzweiflung geraten, weil er viel Geld für die Gelüste des Timarchos ausgegeben hätte und dieser ihn schließlich zu Gunsten des reicheren und sozial höher stehenden Hegesandros verlassen habe. Das neue Paar hätte schnell genug von seiner Jammerei gehabt und sie „stürzten betrunken des Nachts in das Haus hinein, wo Pittalakos wohnte, und zerbrachen zuerst die Geräthschaften [sic] und warfen sie auf die Straße sowohl gewisse durchschüttelte Würfel (ἀστραγάλους) und Würfelbecher als andere Spielgeräthe [sic] und tödteten [sic] die Wachteln und Hähne, an denen der unglückselige Mensch seinen Wohlgefallen hatte“.88 Der Geschädigte Pittalakos soll dann das ihm widerfahrene Leid öffentlich gemacht haben, indem er auf der Agora beim Altar der Göttermutter als Schutzflehender gesessen und seine Blessuren89 den Passanten präsentiert habe. Die rhetorische Taktik des Aischines wird somit ersichtlich: Bei seinen Zuhörern wollte er Mitleid für den benachteiligten Pittalakos erregen und sie gegen Timarchos und dessen schändliches Verhalten aufbringen.90 Anders formuliert: Mit der Gegenüberstellung dieser beiden Figuren wollte der Redner zeigen, dass der angebliche öffentliche Sklave (Pittalakos) paradoxerweise eine viel anständigere Person gewesen sei als Timarchos, welchem aufgrund seines strafwürdigen Verhaltens die Bürgerrechte entzogen werden sollten. Diese rhetorische Absicht des Redners äußert sich darüber hinaus ebenfalls in der Kontrastierung des Timarchos mit anderen Personen. Symptomatisch ist hier der Fall eines seiner früheren Liebhaber, Misgolas von Kollytos. Aischines versucht sogar ihn als eine eher positive Persönlichkeit zu schildern (er bezeichnet ihn als „aner kalos kagathos“),91 obwohl er wegen seiner besonderen sexuellen Neigungen überall ver-

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Allem Anschein nach war Pittalakos in Wirklichkeit kein öffentlicher Sklave (vgl. FISHER 2004: 67f. und bereits JACOB 1928: 159–162; contra HUNTER 2006: 2–8); uns interessiert jedoch hier, wie Aischines ihn präsentieren wollte. Aischin. 1,59 (Übers.: BENSELER). Aischines schreibt, dass Pittalakos gymnos auf die Agora ging, worunter zu verstehen ist, dass er dort nicht wortwörtlich ‚nackt‘, sondern lediglich ohne Himation auftrat. Vgl. dazu FISHER 2001: 198 und ferner GOTTELAND 2010 (bes. 19f.). Das Problem der Einsetzung der Emotionen als eines Überzeugungsmittels durch die attischen Redner hat in den letzten Jahren eine zunehmende Konjunktur in der Forschung erfahren; vgl. beispielsweise KONSTAN 2000; TZANETOU 2005; RUBINSTEIN 2013. Aischin. 1,41.

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spottet war.92 Dies ist für den Gegenstand unserer Überlegung insofern wichtig, als es die Beantwortung der Frage ermöglicht, warum Aischines in seiner Rede den neuen Begriff kybeion verwendet, wenn er die Orte, die beinahe alle Hauptpersonen dieses Prozesses besuchten, und die dort angebotenen Vergnügungen, denen sich sie hingaben, beschreiben will. Dieses Wort hatte nämlich hinsichtlich der Semantik keine pejorative Konnotation, da es sich von „Würfel“ (kybos) herleitet. Wenn Aischines seinen Widersacher im Kontext eines pejorativ assoziierten skirapheion platzieren würde, wäre dies die beste Methode, um Timarchos zu diskreditieren. Allerdings würde dieses taktische Vorgehen gleichzeitig andere Personen, die sich zusammen mit Timarchos in solchen Spielbuden amüsierten, ins schlechte Licht rücken. Die Verwendung des neutralen Wortes kybeion war daher die bessere Lösung. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Wahrnehmung der Astragal- und Würfelspiele, des Veranstaltens der Wachtel- bzw. Hahnenkämpfe sowie der diesen Aktivitäten dienenden Stätten in der athenischen Gesellschaft spätklassischer Zeit nicht ausschließlich vom Status der an diesen Unterhaltungsformen Teilnehmenden abhing, sondern sie war ebenfalls von der Art und Weise des Spielens geprägt. Gewiss lehnte man das maßlose und risikoreiche Spielen ab,93 weil es zum einen die ökonomischen Grundlagen der oikoi und dadurch die Stabilität der polis bedrohen konnte und zum anderen auch die Selbstbeherrschung94 eines Bürgers auf die Probe stellte. Die drohende Gefahr der ἀργία und des Lebens über die eigenen Verhältnisse hinaus beunruhigte die athenische Bürgergruppe nicht umsonst. Andererseits jedoch billigte man verständlicherweise jede Form der Soziabilität, die den sozialen Zusammenhalt der Bürger stärkte und der Intensivierung sozialer Kommunikation diente. In der Konsequenz zeichnete sich die Wahrnehmung der athenischen Spielhallen und der dortigen Freizeitbeschäftigungen häufig durch solche recht ambivalenten Eindrücke aus. Dennoch kann das Aufkommen eines neuen, von pejorativen Konnotationen befreiten Begriffs zur Bezeichnung der Spielstätten davon zeugen, dass sich trotz des Unbehagens von traditionell eingestellten Bürgern die gesellschaftliche Einstellung gegenüber solchen Betrieben und Aktivitäten gegen Mitte des 4. Jhs. v. Chr. peu à peu zu wandeln begann.

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Vgl. unter anderem Antiphanes fr. 27 K.-A., ap. Athen. 8,338e–339b; Timokles fr. 32 K.-A., ap. Athen. 8,339c; Alexis fr. 3 K.-A., ap. Athen. 8,339c. Daher tauchen die kybeutai so häufig in den Komödien unter anderem von Eubulos, Antiphanes, Amphis oder Alexis auf, vgl. z. B. Eubulos fr. 56 K.-A. mit HUNTER 1983: ad loc. Die sophrosyne wird im 4. Jh. v. Chr. zu den wichtigsten bürgerlichen Tugenden gezählt (vgl. PIEPENBRINK 2010: 43, Anm. 11, siehe ferner ausführlichere Behandlungen von NORTH 1966, RADEMAKER 2005 und WHITEHEAD 1993, die gut gezeigt haben, dass die sophrosyne nötig gewesen sei, um einen Bürger als „anständig“, kosmios oder metrios, bezeichnen zu können), was meines Erachtens als eine Folge der Zunahme an sozialer Kontrolle im spätklassischen Athen zu deuten ist.

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IV Fassen wir die bisherigen Betrachtungen zusammen: Ausgehend von den Textpassagen aus den zwei gegen Mitte des 4. Jhs. v. Chr. entstandenen Schriften des Isokrates haben wir zunächst die Frage gestellt, ob seine kritischen Worte die soziale Realität widerspiegeln oder ob sie ausschließlich als rein rhetorisches Bedauern und als Ausdruck seines nostalgischen Wunsches nach einer imaginierten patrios politeia aufgefasst werden sollten. Es hat sich im Laufe der Überlegungen herausgestellt, dass in seinen Aussagen in der Tat ein Funke Wahrheit steckt. Das uns vorliegende Quellenmaterial lässt vermuten, dass sich noch bis zum Ende der 390er Jahre v. Chr. nur diejenigen Bürger solchen Freizeitbeschäftigungen wie dem Weinkonsum in den Schenken und dem Würfelspiel im öffentlichem Raum hingaben, die keinen Wert darauf legten, in der polis in gutem Ruf zu stehen und Ansehen zu genießen. Dabei handelt es sich gewiss um diejenigen Bürger aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Die Untersuchung anderer Quellenzeugnisse hat gezeigt (und bestätigte dadurch Isokrates’ Urteil), dass Bürger aus der Oberschicht nur kurze, aber nicht näher zu bestimmende Zeit später ebenfalls begannen, solchen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen und solche Arten von Soziabilitätsräumen zu besuchen. Die naheliegende Erklärung dafür ist, dass diese zunehmend nicht mehr mit Ablehnung betrachtet wurden, nicht mehr mit Tabus belegt waren und kein soziales Stigma mehr mit sich bringen mussten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Einstellung ihnen gegenüber bei Personen wie Isokrates, Platon oder Theopomp verändert hat – die Elite versuchte, auf ihren alten aristokratischen Ansichten zu beharren. Anders verhielten sich dagegen die jüngeren Mitglieder der Oberschicht. Es benötigt nämlich Zeit, bis sich ein neuer Habitus und die damit verbundene Neuorientierung vollständig herausbildet und von allen übernommen werden kann. Dies bedeutet auch keinesfalls, dass ab einem gewissen Zeitpunkt alle Schenken und Spielhallen einen guten Ruf hatten. Immerhin konnten sie nicht nur den sozialen Zusammenhalt der Bürger verstärken, sondern ebenfalls zum Müßiggang und zur Verschwendung des Vermögens führen, d. h. zur Bedrohung ökonomischer Stabilität der Grundeinheit der polis, nämlich des oikos. Trotz der potentiell ambivalenten Wahrnehmung dieser Soziabilitätsaktivitäten und -stätten sollte man den Blick auf die allgemeine Perspektive nicht verlieren. Es handelt sich bei der Umwandlung der kollektiven, sozialen Wahrnehmung nämlich um ein auf der gesellschaftlichen Ebene zu beobachtendes Phänomen. Diese Schlussfolgerung impliziert, dass es nach den 390er Jahren v. Chr. zu einer Verschiebung der Anständigkeitsgrenze gekommen sein muss. Um die Gewichtigkeit dieser sozialen und moralischen Wandlungen besser begreifen zu können, muss nach deren Auslösern gefragt werden. Im Lichte dessen, was zu Beginn dieses Essays gesagt wurde und ausgehend von den Überlegungen von NORBERT ELIAS kann man zu der Annahme gelangen, dass aus den behandelten antiken Textstellen Rückschlüsse auf die Mechanismen der Festsetzung moralischer Standards gezogen werden können. Die Eliten prägten in den Gesellschaften des vormodernen Europa die Normen und setzten mit ihrem Verhalten die Grenzen für das, was als anständig (d. h. nachahmenswert) und was als anstößig galt.

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Dies trifft ebenfalls auf die athenische Demokratie des 5. Jhs. v. Chr. zu, die nach Meinung vieler Forscher vom aristokratischen Ethos geprägt war. Im 4. Jh. v. Chr. ist dies nicht mehr in gleichem Maße der Fall, da sich die sozialen Einstellungen gegenüber zuvor verrufenen unterschiedlichen Freizeitaktivitäten grosso modo verändert hatten. Diese Veränderung kann davon zeugen, dass in Athen ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr ausschließlich die Elite, sondern in zunehmendem Maße die Massen die moralischen Standards prägten. Und diese Veränderung ist von enormer Bedeutung. In der Forschung über die athenische Demokratie in klassischer Zeit wird häufig von einer weitgehenden Kontinuität nicht nur der politischen, sondern ebenfalls der sozialen wie mentalen Strukturen ausgegangen. Wie meine Überlegungen gezeigt haben, kann davon keine Rede sein. Vielmehr ist zu bezweifeln, dass das Wertesystem und die moralischen Normen im klassischen Athen konstant blieben. Schon JOHN KENYON DAVIES hat darauf hingewiesen, dass sich die athenische Gesellschaft seit den 380er Jahren v. Chr. tiefgründig zu wandeln begann.95 Die Frage nach der Kausalität dieses sozialen Wandels bedarf eines holistischen Ansatzes und daher einer separaten, tief gehenden wie umfassenden Behandlung.96 BIBLIOGRAPHIE Anastasiadis, Vasileios I. (2004): Idealised σχολή and Disdain for Work: Aspects of Philosophy and Politics in Ancient Democracy – In: CQ 54.1 (2004), S. 58–79. Arnheim, M.T.W. (1977): Aristocracy in Greek Society. London: Thames and Hudson 1977. Ault, Bradley A. (2005): Housing the poor and the homeless in ancient Greece – In: Ault, Bradley A. / Nevett, Lisa (Hrsg.): Ancient Greek Houses and Households. Chronological, Regional, and Social Diversity. Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2005, S. 140–159. Azoulay, Vincent (2004): Xénophon et les grâces du pouvoir. De la charis au charisma. Paris: Publications de la Sorbonne 2004. Balot, Ryan K. (2013): Courage in the Democratic Polis. Ideology and Critique in Classical Athens. Oxford: Oxford University Press 2013. Beekes, Robert S.P. (2010): Etymological Dictionary of Greek. Leiden: Brill 2010. Bernhardt, Rainer (2003): Luxuskritik und Aufwandsbeschränkungen in der griechischen Welt. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003. Bielschowsky, Albert (1869): De Spartanorum Syssitiis. Diss. Breslau 1869. Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Edition Suhrkamp 1982. Bourriot, Félix (1995): Kalos kagathos – kalokagathia. D’un terme de propagande de sophistes à une notion sociale et philosophique. étude d’histoire athénienne. Hildesheim: Georg Olms 1995. Brock, Roger (1994): The labour of women in classical Athens – In: CQ 44.2 (1994), S. 336–346.

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DAVIES 1978: 165–187. Mein herzlicher Dank gilt Prof. Dr. Kai Trampedach für die kritische Lektüre des vorliegenden Manuskripts und dem polnischen National Science Center (NCN; 2012/05/N/HS3/01535) für die Unterstützung.

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MORAL UND VERTRAUEN IN DER RÖMISCHEN REPUBLIK Jan Timmer Vertrauen ist gefährlich: Stets geht man ein Risiko ein, wenn man ohne hinreichende Informationen annimmt, dass das Verhalten des Gegenübers eigene Interessen mitberücksichtigen werde.1 Nie kann man sicher sagen, ob der Andere nicht vielleicht doch defektieren wird. Wer weiß denn, ob der Gebrauchtwagen wirklich nur die verlockend wenigen Kilometer, die der Verkäufer angibt, gelaufen ist. Wer weiß denn, ob der neue Babysitter das Kind nicht stockwickelt und dann seine Freunde zur Party einlädt. Wer weiß denn, wenn er Genussscheine deutscher Windparkbetreiber zeichnet, ob er sein Geld jemals wiedersehen wird. Vertrauen ist gefährlich! Vertrauen ist gefährdet: Ein kurzer Blick in die Tageszeitung kann bereits einen Eindruck vermitteln. Vertrauen ist ein rares Gut. Stets wird davon gesprochen, dass es schwinde, erodiere und schließlich – gar nicht selten – zurückgewonnen werden müsse. Ob in die Finanzmärkte, die Technik, die Politik oder aktuell innerhalb von zwischenstaatlichen Beziehungen:2 Vertrauen ist leicht zu erschüttern. Vertrauen ist aber nicht nur gefährlich und gefährdet, sondern auch notwendig: Das haben vor allem in den letzten 20 Jahren Untersuchungen zu unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen immer wieder gezeigt. Die Zahl möglicher Zukünfte überfordert die Verarbeitungskapazität personaler wie sozialer Systeme. Vertrauen reduziert Komplexität.3 Wer morgens aufsteht und nicht vertraut, sondern alle Optionen, die der Tag mit sich bringen könnte, berechnen will, der erreicht nichts. Vertrauen erweitert den Zeithorizont eines Systems, es ermöglicht die Ausbreitung von generalisierten Tauschmedien und den Aufbau komplexer Strukturen, es führt dazu, dass auf die Kontrolle des Handelns Anderer verzichtet werden kann, was es wiederum gestattet, die Ressourcen, die ansonsten in diese Kontrolle geflossen wären, anderweitig einzusetzen. Vertrauen legt schließlich die Grundlage für eine Ausweitung kooperativen Verhaltens mit den damit verbundenen Möglichkeiten, Kooperationsgewinne zu generieren.4

1 2

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Grundsätzlich zum Phänomen: ENDREß 2002; DERS. 2010; LUHMANN 2000; MÖLLERING 2005; DERS. 2006; OFFE 1999; DERS. 2001; SCHAAL 2004; SZTOMPKA 1999. FREVERT 2014 (bes. 32; 42f.), wobei die Verfasserin allerdings auch die Diskrepanz zwischen einem omnipräsenten Diskurs über die Erosion von Vertrauen und der damit nur schwer in Einklang zu bringenden sozialen Realität hervorhebt. So vor allem LUHMANN 2000. Zu den Folgen etablierten Vertrauens vgl. etwa: OFFE 1999; DERS. 2001; SZTOMPKA 1995; SZTOMPKA 1999; vgl. dagegen kritisch: CLEARY/STOKES 2009.

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Jan Timmer

Wenn aber Vertrauen ebenso gefährlich wie gefährdet und notwendig ist, dann muss man annehmen, dass es Mechanismen gibt, um das benötigte Vertrauen zu erzeugen, Vertrauensbeziehungen zu stabilisieren, schließlich Vertrauenskulturen zu etablieren, und hier kommt nun ‚Moral‘ ins Spiel. Es soll im Folgenden also um die Frage gehen, welche Rolle ‚Moral‘ für die Stabilisierung von Vertrauen spielt, und zwar am Beispiel einer Gesellschaft, die in besonderem Maß auf selbiges angewiesen war, nämlich derjenigen der Römischen Republik. Diese Frage soll in vier Schritten verfolgt werden: Zunächst ist kurz zu thematisieren, welche Rolle Vertrauen über die skizzierten Funktionen hinaus speziell für die soziopolitische Ordnung der Römischen Republik spielte. Zweitens ist auf andere Formen der Stabilisierung von Vertrauen und ihre jeweiligen Nachteile einzugehen. Aus diesen Nachteilen ist dann die besondere Bedeutung der moralischen Aufladung von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit abzuleiten, die im Mittelpunkt des dritten Abschnitts stehen soll. Zum Schluss sollen dann die Grenzen der Möglichkeit, Vertrauen über seine moralische Aufladung sicherzustellen, thematisiert werden. 1 VERTRAUEN IN DER GESELLSCHAFT DER RÖMISCHEN REPUBLIK Vertrauen ist Teil der Interaktion mindestens zweier Akteure, einem, der Vertrauen schenkt, und einem, dem vertraut wird, wobei die Rollen auch wechselseitig eingenommen werden können. Dabei muss zum Ersten der, dem Vertrauen geschenkt wird, die Möglichkeit besitzen, durch sein Handeln entweder zu nutzen oder zu schaden, zum Zweiten muss der zu befürchtende Schaden größer sein als der zu erhoffende Nutzen und zum Dritten darf die Information, um über Vertrauen oder Misstrauen sicher zu entscheiden, nicht hinreichend sein, so dass vorhandene Informationen überzogen werden müssen.5 In dieser Situation soll Vertrauen ein Verhalten (bzw. eine Disposition zu einem solchen Verhalten) bezeichnen, das so tut, als ob die Wahlmöglichkeit des Vertrauensnehmers nicht existiere, sondern sich dieser bereits zur Kooperation entschieden habe,6 wobei das Verhalten, wie GUIDO MÖLLERING dargestellt hat, auf rationaler Überlegung, Routine oder Reflexion bisherigen Verhaltens des Vertrauensnehmers ruhen kann.7 Welche Funktion besitzt aber nun so verstandenes Vertrauen speziell in der Gesellschaft der Römischen Republik?

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LUHMANN 2000; anders ENDREß 2002: 33. Dabei ist in Hinblick auf die Form der Kooperation zwischen starkem und schwachem Vertrauen zu unterscheiden. Während im ersten Fall lediglich darauf vertraut wird, dass die Informationen über Optionen und Präferenzen, die der potentielle Vertrauensnehmer kommuniziert, korrekt sind, bedeutet starkes Vertrauen die Annahme, dass der Vertrauensnehmer die Interessen des Vertrauensgebers bei der Auswahl der Handlungsoptionen berücksichtigt, sich letzten Endes solidarisch verhalten wird; vgl. zur Unterscheidung SCHARPF 2000: 234. MÖLLERING 2006.

Moral und Vertrauen in der römischen Republik

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Das politische System der Römischen Republik lässt sich als nichtformalisiertes Verhandlungssystem beschreiben.8 Solche Systeme sind dadurch gekennzeichnet, dass, um Entscheidungen zu produzieren, über Verhandlungen eine möglichst weitgehende Einmütigkeit unter den relevanten unabhängigen Akteuren hergestellt werden muss, und das bloße Vorhandensein einer wie auch immer gearteten Mehrheit für die Verbindlichkeit einer Entscheidung nicht hinreichend ist. Dabei unterscheidet sich die Entscheidungsregel von ihren formalisierten Gegenstücken dadurch, dass es keiner Einstimmigkeit bedarf – einzelne Gegenstimmen sind akzeptabel.9 Zu den Nachteilen solcher Systeme gehören die hohen Transaktionskosten des Verfahrens.10 Es braucht viel Zeit, um divergierende Interessen über Verhandlungen auszugleichen und Entscheidungen herzustellen, gegen die sich kein relevanter Widerstand mehr regt. Vertrauen senkt diese Transaktionskosten und wirkt damit auf einen zentralen Nachteil solcher Systeme.11 Dabei sind drei Aspekte für die Römische Republik von besonderer Bedeutung: Aufgrund des geringen Differenzierungsgrades des politischen Systems mussten sich die Austauschbeziehungen der Akteure über einen längeren Zeitraum erstrecken. Denn jedes Jahr galt aufs Neue, dass nun einmal nicht jeder Konsul werden konnte. Unterstützte nun ein Senator einen anderen bei dessen Bemühungen, ein Amt zu erlangen (oder parallel bei einer inhaltlichen Frage), so musste er damit rechnen, dass die Gegenleistung auf sich warten lassen würde. Vertrauen erweiterte den Zeithorizont der Akteure und machte damit zeitversetzte Austauschbeziehungen möglich.12 Daneben wirkt Vertrauen im Rahmen des sog. Verhandlungsdilemmas:13 Bei Verhandlungen sind Produktions- und Verteilungsdimension stets zu unterscheiden, wobei sich das Problem ergibt, dass beide nur lose gekoppelt sind. Aus einer hohen Beteiligung an der Produktionsdimension folgt nicht notwendig eine entsprechende Berücksichtigung bei der Verteilung knapper Güter. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Homogenität der Bezugsgruppe gewahrt werden muss, 8

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Vgl. zum Ansatz grundsätzlich etwa: SCHARPF 2000: 197–249; SARTORI 1984: 83–107; DERS. 1997 (bes. 212–233). Für die Anwendung des Ansatzes in der Alten Geschichte ist besonders auf die Beschreibung der Römischen Republik als „Konsenssystem“ zu verweisen, die von EGON FLAIG in die Debatte eingebracht und – zumindest in der deutschsprachigen Forschung – recht breit rezipiert wurde: FLAIG 1995; vgl. auch FLAIGS spätere Ausführungen zur Konzeptionalisierung der Republik: DERS. 1997; DERS. 1998; DERS. 2003; DERS. 2013 (bes. 29–51); 351–383. Zur Verbreitung des Ansatzes in der Alten Geschichte: HÖLKESKAMP 2004; DERS. 2006; JEHNE 2006; LUNDGREEN 2011; MÄRTIN 2012; vgl. kritisch: KUHNERT 2012. Zu einer Behandlung des Ansatzes und seiner Verwendung in der Alten Geschichte siehe TIMMER 2014. COLEMAN 1994: 3, 244–250. SCHARPF 2000: 198. OFFE 2001: 257f.; PREISENDÖRFER 1995: 271; GILBERT 2010: 169–197; MÖLLERING 2006: 24–43; SZTOMPKA 1999: 105f. Die Probleme, die im politischen System der Römischen Republik durch die Notwendigkeit intertemporaler Austauschbeziehungen erzeugt wurden, sind vor allem von EGON FLAIG hervorgehoben worden; vgl. zuletzt FLAIG 2013: 42f.; 353–380. SCHARPF 2000: 211–229; LAX/SEBENIUS 1986 (bes. 29–45).

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obwohl die Beiträge der Akteure zum System zunehmend differieren, wie dies in der späten Römischen Republik der Fall war. Zudem sind die Interaktionsorientierungen, die für eine erfolgreiche Beteiligung an Produktions- und Verteilungsdimension benötigt werden, diametral verschieden. Während bei der Produktion knapper Güter Transparenz, Kooperationsbereitschaft und solidarisches Verhalten der Beteiligten die Wahrscheinlichkeit, dass potentielle Wohlfahrtsgewinne realisiert werden können, erhöhen, braucht es, um vom zu Verteilenden möglichst viel abzubekommen, ausgeprägten Individualismus und Durchsetzungsfähigkeit.14 Diese Konstellation und die aus ihr erwachsenden Probleme sind für das Verständnis des politischen Systems der Römischen Republik und ihrer strukturellen Krise von Bedeutung: Die Inhaber der außerordentlichen Imperien in der späten Republik trugen in einem Maß zur Verteilungsmasse bei, dass es nicht mehr möglich war, sie entsprechend des von ihnen geleisteten Beitrags zu beteiligen, wenn man die grundsätzliche Gleichheit der Senatsaristokratie, die die Grundlage des politischen Systems der Republik darstellte, nicht in Frage stellen mochte. Wie gefährlich ein solches Auseinandertreten der Beteiligung an Produktions- und Verteilungsdimension war, kann man sich verdeutlichen, wenn man die Begründung Caesars für die Eröffnung des Bürgerkriegs betrachtet, die sich genau auf die Differenz seiner Leistung für die res publica und die mit dieser Leistung seines Erachtens nicht in Einklang befindliche „Schmälerung“ seiner dignitas richtet.15 Auch zeigt sich in den letzten Jahren der Republik – besonders deutlich sicherlich wiederum bei Caesar als einem der zentralen Protagonisten –, wie konfligierende Interaktionsorientierungen allmählich gegenüber auf Kooperation hin Ausgerichteten die Oberhand gewannen. Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Fairness des Systems ist für dessen Funktionieren insofern von Bedeutung, als es die Akzeptanz eines objektiven Auseinandertretens der Beteiligung eines Akteurs an Produktions- und Verteilungsdimension erleichtert, da dieser nicht annehmen muss bzw. de facto eben nicht annimmt, dass dieses durch die Missgunst anderer Gruppenmitglieder bedingt ist. Zudem hält dieses Systemvertrauen auch die konfligierenden Interaktionsorientierungen der Verteilungsdimension, die potentiell desintegrative Wirkung haben, in Schach und sorgt dafür, dass der Systemintegration förderliche Orientierungen überwiegen. Beziehen sich diese beiden Aspekte auf die Wirkung von Vertrauen in symmetrischen Beziehungen, d. h. für Rom innerhalb der Senatsaristokratie, so tritt eine weitere Fähigkeit in asymmetrischen Konstellationen, also im Verhältnis von Senatsaristokratie und Volk, hinzu: Vertrauen begründet dort, wo es generalisiert geschenkt wird, Macht.16 Die Fähigkeit der Senatsaristokratie, gegenüber der plebs ihren Willen durchzusetzen, beruhte nicht zuletzt auf dem Vertrauen, das das Volk darauf setzte, dass Mitglieder der Elite besser in der Lage seien, Entscheidungen zu treffen, als es selbst, ein Vertrauen, das die Senatoren nicht zuletzt 14 15 16

SCHARPF 2000: 211. Caes. civ. 1,4,4; civ. 1,7,7; civ. 1,9,2. BAECKER 2009; LUHMANN 2002 (bes. 41–44); TYLER 2001: 285–306.

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mit sozialer und zeitlicher Selbstbindung, die die Grundlage für ihre generalisierte Vertrauenswürdigkeit bildete, erkauften.17 Die Römische Republik – soviel sollte aus diesem freilich sehr kurzen Abriss deutlich geworden sein – war in besonderer Weise auf Vertrauen angewiesen. Die Krise der Republik ist nicht nur und vielleicht auch nicht in erster Linie, aber eben auch eine Vertrauenskrise. 2 FORMEN DER STABILISIERUNG VON VERTRAUEN JENSEITS SEINER MORALISCHEN ÜBERHÖHUNG Nun ist Vertrauen zwar – wie oben angerissen – fragil, es gibt aber selbstverständlich eine ganze Reihe von Möglichkeiten, das Wachstum von Vertrauen zu fördern und bestehende Vertrauensbeziehungen zu stabilisieren, ohne dass dabei ‚Moral‘ im Spiel wäre.18 Die Grundlage allen Vertrauens ist Vertrautheit.19 Das Kennen des jeweils Anderen ermöglicht es, aus der Erfahrung seines bisherigen Verhaltens heraus, ihm gegenüber Vertrauen aufzubauen. Dementsprechend sind Prozesse der Institutionalisierung von Interaktionsbeziehungen die nächstliegende Möglichkeit, wenn man Vertrauenskulturen befördern möchte.20 Idealerweise erreicht man da-

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Cic. top. 73: „sed auctoritatem aut natura aut tempus affert. Naturae auctoritas in virtute inest maxima; in tempore autem multa sunt quae afferant auctoritatem: ingenium, opes, aetas, fortuna, ars, usus, necessitas, concursio etiamnon numquam rerum fortuitarum. Nam et ingeniosos et opulentos et aetatis spatio probatos dignos quibus credatur putant; non recte fortasse, sed vulgi opinio mutari vix potest ad eamque omnia dirigunt et qui iudicant et qui existimant.“ / „Autorität aber schafft die Natur oder die Zeit. Natürliche Autorität wohnt in hohem Maße der Tugend inne; von der Zeit aber hängt viel ab, was Autorität begründen kann: Begabung, Reichtum, Alter, Schönheit, Kunstfertigkeit, Erfahrung, Zwang, manchmal auch das Zusammentreffen zufälliger Umstände. Denn die Begabten, die Reichen und die in einem langen Leben Bewährten hält man für glaubwürdig – möglicherweise zu Unrecht, aber die öffentliche Meinung lässt sich kaum ändern, und nach ihr richten sich nun einmal sowohl diejenigen, die urteilen, als auch die, die ihre Meinung äußern, in allem.“ (Übers.: BAYER). Vgl. zur Selbstbindung als spezifischer Form der Herstellung von Vertrauenswürdigkeit grundsätzlich BAECKER 2009. LUHMANN 2000: 48; FUHSE 2002. LUHMANN 2000: 22f. Dabei wirken Institutionalisierungsprozesse auf doppelte Weise: Zum einen ermöglichen sie, wie dargestellt, den Interaktionspartner so gut zu kennen, dass man mit ihm vertraut ist und aus dieser Vertrautheit heraus dessen zukünftiges Verhalten einschätzen kann, was dann die Grundlage für Vertrauen (selbstverständlich bei entsprechenden Erfahrungen auch von Misstrauen) bilden kann. Daneben erhöht sich durch die Institutionalisierung die Wahrscheinlichkeit, dass der Andere sich kooperativ verhält, weil mit der Institutionalisierung in der Zukunft liegende Interaktionen im Vergleich zu gegenwärtigen an Bedeutung gewinnen. Die Attraktivität zukünftiger Kooperationsgewinne macht dann den Vertrauensbruch mit dem Ziel, aktuelle Defektionsgewinne zu realisieren, unwahrscheinlicher; vgl. AXELROD 1984.

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bei ein Stadium, in welchem die Erfahrungen gar nicht mehr reflektiert werden (müssen), sondern Vertrauen Routine geworden ist.21 Besonders wirksam sind solche Institutionalisierungsprozesse dann, wenn sie sich nicht auf Zweierbeziehungen beschränken, sondern auf die Ausbildung von Netzwerken ausgerichtet sind und damit für einzelne Interaktionen eine Form von Öffentlichkeit herstellen. Netzwerke verstärken dabei die Effekte der Institutionalisierungsprozesse insofern, als sie Sanktionsmechanismen etablieren, die es ansonsten in Formen nicht vertragsförmig ausgestalteter Beziehungen nicht gibt, und zwar dadurch, dass derjenige, der Vertrauen bricht, Vertrauenswürdigkeit nur vortäuscht, von zukünftigen Interaktionen innerhalb der Gruppe ausgeschlossen werden kann. Insofern nun die Möglichkeit zukünftiger Interaktionen mit Gruppenmitgliedern höhere Gewinne verspricht als die augenblickliche Defektion, stabilisiert das Netzwerk dann die Vertrauensbeziehung.22 Das führt zum dritten klassischen Mechanismus, nämlich der Stabilisierung durch die Institutionalisierung von Misstrauen. Während im Bereich der einzelnen Interaktion zweier Individuen Vertrauen und Misstrauen einander ausschließen, man also einem anderen Akteur (oder auch einer bestimmten Sache) in einem bestimmten Zusammenhang nur vertrauen oder misstrauen kann, besteht auf Systemebene die Möglichkeit, Bereiche zuzuweisen, in denen misstraut werden soll, bzw. Rollen auszubilden, deren Aufgabe gerade im Misstrauen besteht.23 Solche Formen institutionalisierten Misstrauens, die über die Vertrauensketten unterbrochen werden, erleichtern das Schenken von Vertrauen, indem sie die Risiken, die mit Vertrauen stets verbunden sind, begrenzen. Dies kann soweit reichen, dass die einzelne Interaktion kontrolliert und ggf. deviantes Verhalten, also die Enttäuschung gewährten Vertrauens, sanktioniert werden kann. Das sind drei gängige Möglichkeiten, Vertrauensbeziehungen zu stabilisieren. Die Aufzählung erhebt dabei keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Faktoren. Wichtig ist zweierlei: Moralische Überhöhung ist nicht die einzige Form der Stabilisierung, aber es ist eine, die sich mit Blick auf die Nachteile der oben genannten Faktoren anbietet. Nebenwirkungsfrei ist nämlich keine der Optionen: Vertrauensstabilisierung durch Institutionalisierung ist mit hohem Zeitaufwand verbunden; wird Vertrauen durch Netzwerkbildung stabilisiert, ist es notwendig, dass die durch eine Mitgliedschaft im Netzwerk in der Zukunft potentiell erzielbaren Gewinne im Verhältnis zu den in der Gegenwart zu erwartenden Vorzügen, die sich aus Defektion von den Akteuren ergeben würden, für relevant gehalten werden. In Zeiten beschleunigten Wandels, die mit Unsicherheit, was zukünftige Entwicklungen betrifft, einhergehen, funktioniert die Methode nur begrenzt. Ebenso führt der Zugang zu knappen Ressourcen, die außerhalb des Netzwerks liegen, dazu, dass die Wirksamkeit der Netzwerkbildung begrenzt wird. 21 22 23

MÖLLERING 2006. FUHSE 2002: 419–421; LUHMANN 2000: 60–79; FODDY/YAMAGISHI 2009; KRAMER 2004: 9– 13; SCHARPF 2000: 230–241. LUHMANN 2000: 119; SZTOMPKA 1999: 141–143; ENDREß 2012: 94.

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Begleiteffekte kann auch die Institutionalisierung von Misstrauen besitzen. So gilt, dass diese durch ihr bloßes Vorhandensein den Erwartungshorizont der Beteiligten stabilisieren soll; kontraproduktiv ist hingegen die ständige Nutzung. Das gilt insbesondere auch für das Recht. Rechtliche Regeln machen Interaktionen berechenbarer, und sie bieten eine Möglichkeit, Vertrauensbrüche zu ahnden. Die vertrauenssteigernde Wirkung beruht aber auf der Annahme des Vertrauensgebers, dass der Vertrauensnehmer die Möglichkeit der Sanktion berücksichtigen und dementsprechend nicht defektieren wird. Wer aber stets mit dem Rechtsanwalt droht, wird wohl kaum erfolgreich eine Vertrauensbeziehung etablieren können. So hat bereits NIKLAS LUHMANN festgestellt: „Es ist für die Struktur der Vertrauensbeziehung entscheidend, dass sie [sc. die Sanktionsdrohung] latent bleibt und lediglich als Sicherheitsüberlegung im Verborgenen ihre generalisierende Wirkung entfaltet.“24

Wird sie übermäßig aktualisiert – und dies gilt grundsätzlich für Formen, Vertrauen über die Institutionalisierung von Misstrauen zu stabilisieren –, so kann dies im schlimmsten Fall zum Gegenteil des erhofften Ergebnisses führen: Die Aktualisierung wird realisiert, als notwendig verstanden und dementsprechend mit der Generalisierung von Misstrauen beantwortet. 3 DIE MORALISCHE ÜBERHÖHUNG VON VERTRAUEN Diese Nachteile führen nun zur Frage nach der Stabilisierung von Vertrauensbeziehungen durch ‚Moral‘ bzw. ihre Moralisierung. Dabei besteht die erste Herausforderung allerdings darin, dass bestimmt werden muss, was denn im Folgenden unter ‚Moral‘ verstanden werden soll. ‚Moral‘ gehört ohne Zweifel zu denjenigen Begriffen, mit denen jeder etwas verbindet, aber ebenso offenkundig nicht immer dasselbe. Wählt man einen weiten Moralbegriff, wie im Historischen Wörterbuch der Philosophie, so lässt sich unter ‚Moral‘ zunächst einmal einfach die „Gesamtheit der akzeptierten und durch Tradierung stabilisierten Verhaltensnormen einer Gesellschaft“ begreifen.25 Dieser weite Moralbegriff jedoch lässt die Frage nach der Spezifik von ‚Moral‘ offen. Eine solche scheint in der Begründung und damit einhergehend der Form der Sanktionierung der Verhaltensnormen zu liegen.26 Moral verbindet Normen mit ethischer Bewertung, d. h. mit dem ‚Guten‘ und ‚Richtigen‘, wobei gegebenenfalls das Gute transzendiert wird und somit moralisches Handeln religiös aufgeladen wird.27 Damit geht eine Verlagerung der Sanktionierung devianten Verhaltens einher: Anstelle eines Akteurs, der einen anderen für

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Vgl. LUHMANN 2000: 45. JÜSSEN 1984: 149. Zur Bestimmung der Spezifik von moralischen Normen über die Form der Sanktionierung vgl. TUGENDHAT 1992. LUHMANN 1978: 80.

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die Übertretung von Normen zur Rechenschaft zieht, verlagert sich die Sanktion hier partiell in das Individuum selbst hinein – es fühlt sich schuldig.28 Ein dritter, von beiden Vorstellungen abweichender, Moralbegriff findet sich bei NIKLAS LUHMANN: Moral ist bei diesem ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität in Interaktionen, und zwar dadurch, dass Moral die Grundlage für die Achtung des jeweils Anderen darstellt.29 Diese Komplexitätsreduktion ist insofern notwendig, als Interaktionen zwischen ego und alter es erforderten, dass ego reflektiert, dass es selbst ego, für alter alter und gleichzeitig für alter dessen alter ego ist. Das ist in alltäglicher Kommunikation nicht umsetzbar. Daher muss die Interaktion entlastet werden, und zwar nach LUHMANN dadurch, dass man dem Anderen Achtung erweist, deren Grundlage eben die Moralisierung von Themen, Symbolen, Strukturen oder Erwartungen ist.30 Dementsprechend definiert LUHMANN: „Die Gesamtheit der faktisch praktizierten Bedingungen wechselseitiger Achtung oder Mißachtung macht die Moral einer Gesellschaft aus.“31 Wenn man nun von diesen drei unterschiedlichen Begriffsbestimmungen ausgeht, und sie jeweils mit dem Problem der Stabilisierung von durch die Gesellschaft der Römischen Republik benötigtem Vertrauen verbindet, dann geraten drei verschiedene Komplexe in den Blick: 1. Ausgehend von dem weiten Moralbegriff – einem Verständnis von Moral als Gesamtheit der in einer Gesellschaft geltenden Werte und Normen – ist zu untersuchen, inwieweit auf der einen Seite das Schenken von Vertrauen und auf der anderen Seite Zuverlässigkeit und andere Vertrauenswürdigkeit begründende Eigenschaften Teil des Normenhaushalts der Republik waren. 2. Mit Blick auf die Spezifik von Moral muss es darum gehen zu prüfen, ob Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit ethisch aufgeladen und mit dem sittlich Guten verbunden wurden bzw. Defektion, also die Enttäuschung gewährten Vertrauens, umgekehrt als sittlich defizitär angesehen wurde. 3. Der Moralbegriff luhmannscher Prägung lenkt den Blick schließlich auf die Frage nach der Rolle der Moral in der Interaktion der Akteure, womit in Hinblick auf die Frage nach dem Vertrauen in der Gesellschaft der Römischen Republik zu prüfen ist, inwieweit die dem Anderen erwiesene Achtung und die Anerkennung seiner Person darauf beruhte, dass dieser Vertrauen geschenkt bzw. sich umgekehrt als besonders verlässlich und vertrauenswürdig erwiesen hatte. Zunächst zur Frage, inwieweit eine grundsätzliche Disposition zu vertrauen zum Wertehaushalt der Römischen Republik gehörte: Dieser Punkt kann kurz abgehandelt werden. Einen guten Eindruck vermittelt bereits Cicero in seinen Rat-

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TUGENDHAT 1992: 316. LUHMANN 1978. EBD.: 43–63. EBD.: 51.

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schlägen zur Provinzadministration, die er seinem Bruder als Statthalter der Provinz Asia angedeihen lässt: „Denn ich halte es für ganz abwegig, zumal angesichts der Tatsache, daß die heutigen Anschauungen an sich schon zu übertriebener Nachsicht und Gunstbuhlerei drängen, wenn Du jedem Makel nachforschen, einem jeden die Taschen umkehren wolltest; nein, vertraue jedem, soweit er Vertrauen verdient.“32

Dabei wird das „soweit er Vertrauen verdient“ auf einfachste Weise operationalisiert. Handelt es sich um einen Römer, der auch noch Mitglied im Senat oder Ritterstand ist, dann verdient er dieses Vertrauen automatisch.33 Problematisch ist, wie die weiteren Ausführungen des Briefes zeigen, nur die Vertrauenswürdigkeit Anderer, vor allem diejenige von Sklaven und – noch schlimmer – Griechen.34 Der Ratschlag ist typisch. Vertrauen ist erwünscht und, so lange der Vertrauensnehmer Mitglied der römischen Aristokratie ist, auch weitgehend unproblematisch. Das gilt im Übrigen nicht nur dort, wo der, der Vertrauen schenkt, zur Nobilität gehört, sondern auch für das Verhältnis der plebs zu den Angehörigen der Senatsaristokratie, das durch ein Vertrauen gekennzeichnet war, welches, wie oben angesprochen, über die Absorption von Unsicherheit lange Zeit die Macht der Elite begründete: „Denn einerseits haben wir zu denen Vertrauen, die unserer Ansicht nach mehr sehen als wir, und die, wie wir glauben, sowohl die Zukunft voraussehen als auch, wenn etwas betrieben wird und zur Entscheidung gekommen ist, die Lage klären und eine Entscheidung nach den Umständen treffen können.“35

Interessanter als das Vorhandensein der Vorstellung von Vertrauen bzw. Vertrauenswürdigkeit als Werte, ist im vorliegenden Kontext deren Überhöhung, ihre Verbindung mit dem ‚Guten‘ und ‚Richtigen‘. Für diese gibt es nun eine ganze Reihe von Beispielen: Vor allem in de officiis wird die Verbindung regelmäßig hergestellt: „Daher bewirkt alle drei Dinge, die auf den Ruhm zielen, die Gerechtigkeit: das Wohlwollen, weil sie so vielen wie möglich nutzen will, und aus demselben Grunde Vertrauen und Bewunderung, weil sie die Dinge verschmäht und gering schätzt, zu denen die meisten von Begehrlichkeit entzündet hingerissen werden.“36

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Cic. ad Q. fr. 1,1,11: „neque enim mihi sane placet, praesertim cum hi mores tantum iam ad nimiam lenitatem et ad ambitionem incubuerint, scrutari te omnis sordis, excutere unum quemque eorum, sed, quanta sit in quoque fides, tantum cuique committere.“ (Übers.: KASTEN). SZTOMPKA 1999: 139–150; OFFE 2001: 266. Cic. Flac. 9: „Verum tamen hoc dico de toto genere Graecorum: […] testimoniorum religionem et fidem numquam ista natio coluit, totiusque huiusce rei quae sit vis, quae auctoritas, quod pondus, ignorant.“ (Übers.: FUHRMANN). Cic. off. 2,33: „Nam et iis fidem habemus, quos plus intellegere quam nos arbitramur quosque et futura prospicere credimus et cum res agatur in discrimenque ventum sit, expedire rem et consilium ex tempore capere posse.“ (Übers.: BÜCHNER). Cic. off. 2,38: „Itaque illa tria quae proposita sunt ad gloriam, omnia iustitia conficit, et benivolentiam, quod prodesse vult plurimis, et ob eandem causam fidem et admirationem,

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Oder an anderer Stelle: „Da nun offensichtlich ist, daß die Macht des Wohlwollens groß, die der Furcht schwach ist, bleibt, daß wir auseinandersetzen, durch welche Dinge wir am leichtesten diese Liebe, die wir wollen, in Verbindung mit Ehre und Vertrauen erlangen können.“37

Aber nicht allein das Schenken von Vertrauen wird mit dem Guten verbunden, gleiches gilt auch für Vertrauenswürdigkeit begründende Eigenschaften: „Was aber aufgrund von Tugend Vertrauenswürdigkeit begründet, ist zweigeteilt; davon hat die eine Art Gewicht durch Natur, die andere durch Leistung.“38

Besonders häufig – und dies auch jenseits von philosophischen Traktaten – erscheint die moralische Übersteigerung der Zuverlässigkeit des Vertrauensnehmers als eines zentralen Kriteriums für die Wahrnehmung des Anderen als vertrauenswürdig: „Bei den Geschäften, die wir selber nicht wahrnehmen können, tritt die Zuverlässigkeit von Freunden an die Stelle unserer eigenen Mühewaltung, und wer es hieran fehlen läßt, der bekämpft eine dem Schutze aller dienende Einrichtung und zerstört, soviel an ihm liegt, die menschliche Lebensgemeinschaft.“39

Was sich an dieser Stelle ebenfalls zeigt, ist die enge Verbindung von Vertrauen bzw. Vertrauenswürdigkeit sowie ihrer moralischen Überhöhung auf der einen, und die Verbindung bzw. Begründung für diese moralische Überhöhung mit der Bedeutung für das Gemeinwesen auf der anderen Seite.40 Auch diese Argumentationsstruktur findet sich vergleichsweise häufig, und auch hier spielen Ciceros Bücher über die Pflichten eine besondere Rolle: „Alles aber, was wertvoll ist, entsteht aus einem von vier Teilen. Entweder ist es nämlich dem Erkennen und dem Sichverstehen auf die Wahrheit zu Hause, oder darin, daß man die Gemeinschaft der Menschen schützt und jedem das Seine zuteilt, und der Verläßlichkeit bei Abmachungen oder in der Größe und Kraft eines erhabenen Geistes oder in der Ordnung und dem Maß all dessen, was getan und was gesagt wird, worin Bescheidenheit und Ausgeglichenheit ruhen.“41

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quod eas res spernit et neglegit, ad quas plerique inflammati aviditate rapiuntur.“ (Übers.: BÜCHNER). Cic. off. 2,29: „Quod cum perspicuum sit benivolentiae vim esse magnam, metus imbecillam, sequitur ut disseramus, quibus rebus facillime possimus eam, quam volumus, adipisci cum honore et fide caritatem.“ (Übers.: BÜCHNER). Cic. top. 76: „Quae autem virtute fidem faciunt ea bipertita sunt; ex quibus alterum natura valet alterum industria.“ (Übers.: BAYER). Cic. S. Rosc. 111: „Itaque mandati constitutum est iudicium non minus turpe quam furti, credo, propterea quod quibus in rebus ipsi interesse non possumus, in eis operae nostrae vicaria fides amicorum supponitur; quam qui laedit, oppugnat omnium commune praesidium et, quantum in ipso est, disturbat vitae societatem.“ (Übers.: FUHRMANN). Zur Rolle des Gemeinsinns als Argumentationsmuster vgl. etwa JEHNE 2013. Cic. off. 1,15: „Sed omne, quod est honestum, id quattuor partium oritur ex aliqua. Aut enim in perspicientia veri sollertiaque versatur aut in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide aut in animi excelsi atque invicti magnitudine ac

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Wenn nun Vertrauen und Eigenschaften bzw. Verhaltensweisen, die Vertrauenswürdigkeit begründen, mit dem sittlich Guten verbunden werden können, so steht zu vermuten, dass umgekehrt Defektion, also das Enttäuschen gewährten Vertrauens, nicht gerade als geschickter Schachzug, seinen eigenen Nutzen zu maximieren, sondern eben als ein Übel, als moralisch defizitär bewertet wird. „Deshalb also ist ein Verschulden dieser Art [sc. die Enttäuschung von Vertrauen] schimpflich, weil es zwei sehr ehrwürdige Dinge verletzt: die Freundschaft und die Treue. Denn fast niemand gibt einem Anderen Aufträge als seinem Freunde, noch traut er jemandem, es sei denn, er hält ihn für treu. Nur ein ganz verworfener Mensch ist somit fähig, zugleich die Freundschaft aufzulösen und den zu täuschen, der nicht geschädigt worden wäre, hätte er nicht jemandem sein Vertrauen geschenkt.“42

Mit dem Verweis auf die res sanctissimas ist schließlich eine letzte Option berührt, gewünschte Eigenschaften mit dem Guten zu verbinden, nämlich die bereits angesprochene Verknüpfung von Moral und Religion. „Der Bereich der Tugend aber, der für das Zusammenleben untereinander nötig ist, wird als Gerechtigkeit bezeichnet, und zwar im einzelnen gegenüber den Göttern als Frömmigkeit, gegenüber den Eltern als Ehrerbietung, bei anvertrauen Dingen als Zuverlässigkeit, bei der Mäßigung im Strafen als Milde, bei der wohlwollenden Zuneigung als Freundschaft.“43

Die Nähe der beiden Sphären ist offenkundig. Das Thema soll an dieser Stelle nicht eingehender verfolgt werden. Es sei lediglich daran erinnert, dass fides – und das ist selbstverständlich der zentrale Begriff, wenn es um Vertrauen geht – in Rom früh verehrt wurde. Einen ersten Tempel soll ihr bereits Numa geweiht haben; und auch, wenn man diese Dedikation heutzutage mit guten Gründen in der Regel für ahistorisch hält, so ist mindestens ab der Mitte des 3. Jhs. v. Chr. ein Fides-Tempel in Rom belegt.44 Und auch diese Form religiöser Überhöhung diente dazu, entsprechende gewünschte und vom System benötigte Handlungsdispositionen zu befördern. Es ist kein Zufall, dass der Senat vor allem die entscheidende Sitzung des Jahres 133 v. Chr., die parallel zur von Tiberius Gracchus geleiteten Volksversammlung vor dem Iupiter-Tempel stattfand, im Fides-Tempel abhielt.45 Zum Dritten soll nun auf die Moralisierung im luhmannschen Sinne thematisiert werden. Allerdings gibt es hierbei zwei Probleme, die mit dem Quellenmaterial zu tun haben, auf die zumindest kurz zu verweisen ist. Moral ist zwar nach LUHMANN Grundlage für Achtung in Interaktionen, sie ist aber keineswegs mit dieser Achtung identisch. Ganz im Gegenteil ist die direkte Bezugnahme auf Mo-

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robore aut in omnium, quae fiunt quaeque dicuntur ordine et modo, in quo inest modestia et temperantia.“ (Übers.: BÜCHNER). Cic. S. Rosc. 112: „Ergo idcirco turpis haec culpa est, quod duas res sanctissimas violat, amicitiam et fidem. Nam neque mandat quisquam fere nisi amico neque credit nisi ei quem fidelem putat. Perditissimi est igitur hominis simul et amicitiam dissolvere et fallere eum qui laesus non esset, nisi credidisset.“ (Übers.: Fuhrmann). Cic. part. 78: „In communione autem quae posita pars est, iustitia dicitur, eaque erga deos religio, erga parentes pietas, vulgo autem bonitas, creditis in rebus fides, in moderatione animadvertendi lenitas, amicitia in benevolentia nominatur.“ (Übers.: K. BAYER/G. BAYER). Zum archäologischen Befund vgl. REUSSER 1993: 55–62. App. civ. 67.

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ral in Kommunikationssituationen eher ungewöhnlich, und zwar schon deshalb, weil in Konstellationen, in denen Ansatzpunkte für Konflikte gegeben sind, die Moralisierung des Themas die Generalisierung des Konfliktstoffes befördert. Latente Konflikte werden also durch offene Moralisierung verstärkt bzw. ggf. in den Zustand eines aktualisierten Konflikts überführt. Das bedeutet, dass sich in den Quellen, die Interaktionsbeziehungen abbilden, also mit Blick auf die Römische Republik vor allem innerhalb der Briefliteratur, mit hoher Wahrscheinlichkeit Vertrauen, dessen Verbindung mit dem sittlich Guten und die daraus resultierende Bewertung des Gegenübers nicht dezidiert finden lassen. Die Form, über die die Kommunikation der Achtungsbedingungen erfolgt, ist Takt bzw. Höflichkeit.46 Möglich ist ebenso die Auslagerung der Kommunikation über Moral, und zwar in dem Sinne, dass man nicht mit demjenigen, dessen Verhalten man moralisch missbilligt, sondern mit Dritten über dieses Verhalten kommuniziert.47 Beschränkt wird eine Betrachtung der Moralisierung als Grundlage von Achtung in Interaktionen zudem dadurch, dass ein solches Verständnis die Beobachtbarkeit von Interaktionsbeziehungen, nach Möglichkeit über einen gewissen Zeitraum hinweg, voraussetzt. Das ist aber selbst für die – für antike Verhältnisse gut dokumentierte – Zeit der späten Republik nicht einfach. Im Folgenden soll daher dieser Ansatz an der Beziehung von Cicero zu Appius Claudius verfolgt werden.48 Diese zeichnet sich zum Ersten dadurch aus, dass mit Blick auf die Interessen der beiden Seiten (insbesondere selbstverständlich Ciceros als Nachfolger des Appius als Statthalter der Provinz Kilikien) ein Anfangsverdacht gegeben ist, dass die Bewertung des Handelns des Anderen in nicht zu unterschätzendem Ausmaß von Vertrauen bzw. der Wahrnehmung des Anderen als vertrauenswürdig abhängig ist. Sie gestattet zum Zweiten mit den insgesamt 13 erhaltenen Briefen, die zwischen der 2. Hälfte 52 v. Chr. und dem Sommer des Jahres 50 v. Chr. zu datieren sind,49 tatsächlich eine längere Interaktionsgeschichte nachzuvollziehen. Sie macht zum Dritten, da über Briefe Ciceros an Atticus eine Parallelüberlieferung vorliegt, die Kontrolle der Hypothese von der Auslagerung der Moralkommunikation möglich.50 Dabei wird die hohe Bedeutung, die taktvollem Verhalten in der Kommunikation römischer Aristokraten zukommt, bereits in der zeitgenössischen rhetorischen

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LUHMANN 1978: 55. EBD.: 55f. SCHURICHT 1993; SCHNEIDER 1998: 345–448. Die Datierung ist im Einzelnen umstritten. Für den ersten Brief (Cic. fam. 3,1) wird in der Regel eine Entstehung an der Jahreswende 53/52 v. Chr. angenommen. Bereits SHACKLETON BAILEY 1977: 359 hatte jedoch eine Spätdatierung nicht ausgeschlossen, die von SCHURICHT 1994: 24 mit guten Gründen vertreten worden ist. Ebenso gilt für den letzten Brief (Cic. fam. 3,13), dass eine zeitliche Einordnung nicht sicher vorgenommen werden kann; zu dem Problem der Zeitstellung von Cic. fam. 3,13 im Vergleich zum sicher auf den 3. Sextilis datierten Cic. fam. 3,12 vgl. SCHURICHT 1994: 129–134. Vgl. vor allem Cic. Att. 5,15; Att. 5,16; Att. 5,17; Att. 5,21; Att. 6,1; Att. 6,2.

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Theorie reflektiert.51 So sinniert Cicero in de oratore etwa über die Bedeutung des Wortes ineptus.52 Dieser Begriff sei ‚typisch römisch‘: zum einen weil er einer der meistgebrauchten Begriffe der lateinischen Sprache sei, zum anderen weil es im Griechischen für ihn keinerlei Entsprechung gebe. Dabei bezeichne ineptus,53– und das ist an dieser Stelle wichtig – den Verstoß gegen Verhaltensregeln, die in unterschiedlichen Situationen Achtung und Respekt einfordern: „Denn wer nicht sieht, was die Umstände fordern, wer zu viel redet, wer sich aufspielt, wer keine Rücksicht auf den Rang oder das Interesse der Leute nimmt, mit denen er zu tun hat, ja wer überhaupt in irgendeinem Punkt Takt und Maß vermisse läßt, von dem sagt man er sei ineptus [er treibe Unfug].“54

Diese Sorge um den richtigen Tonfall, durchzieht auch den Briefwechsel zwischen Cicero und Appius; und er wird inhaltlich – neben einer ganzen Reihe weiterer Aspekte – mit Dispositionen, die hier im Mittelpunkt stehen, also Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, verbunden.55 Es sind dementsprechend Eigenschaften wie Zuverlässigkeit, Offenheit – besonders bezüglich der Transparenz eigener Beweggründe –, frühere Leistungen für den jeweils Anderen, die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Bezugsgruppe (Appius und Cicero waren beide Mitglieder des Augurenkollegiums),56 die die Achtung des Gegenübers begründen. Am deutlichsten erscheint die Verbindung von Vertrauen und der Achtung des Kommunikationspartners im vierten Brief Ciceros an Appius vom Beginn des Juni 51 v. Chr.: „Ich werde bei der hohen Achtung, die ich Dir zolle, alle deine Maßnahmen gutheißen; aber ich habe das Vertrauen, daß auch Du das tun wirst, was, wie Du Dir sagen kannst, meinen Erwartungen am meisten entspricht.“57

Dabei zeigen sich hier selbstverständlich nur die moralische Aufladung des Vertrauens sowie die Verbindung einer moralisch aufgeladenen Eigenschaft mit der

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Zu Formen der Höflichkeit im Umgang unter römischen Aristokraten vgl. auch: HALL 2009; ROESCH 2004; SCHOLZ 2009. Cic. de orat. 2,17f. Für ineptus gibt etwa der Stowasser „unbrauchbar“, „unpassend“, „albern“ als Spektrum einer Übersetzung ins Deutsche an. Cic. de orat. 2,17: „nam qui aut tempus quid postulet non videt aut plura loquitur aut se ostentat aut eorum, quibuscum est, vel dignitatis vel commodi rationem non habet aut denique in aliquo genere aut inconcinnus aut multus est, is ineptus esse dicitur.“ (Übers.: MERKLIN). Das Bemühen, dem Gegenüber Achtung zu erweisen und gleichzeitig eine innigere Vertrautheit herzustellen, zeigt sich bereits in der Form der Anrede. So hat J.N. Adams argumentiert, die Verbindung des zweigliedrigen Namens im Rahmen der Anrede bei gleichzeitigem Verzicht auf weitere Namensbestandteile über „Cicero“ hinaus bei der Nennung der eigenen sei ebenso Zeichen für die Achtung, die dem Gegenüber erwiesen werde, wie Einladung zu einem vertraulicheren Umgang; vgl. ADAMS 1978. Cic. fam. 3,4,2. Cic. fam. 3,3,2: „equidem pro eo quanti te facio quicquid feceris approbabo, sed te quoque confido ea facturum quae mihi intelleges maxime esse accommodata.“ (Übers.: KASTEN).

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Zuweisung von Achtung, nicht aber ein tatsächlich bestehendes Vertrauensverhältnis.58 Dass explizit ausgesprochenes Vertrauen nicht notwendig Indikator für real existierendes Vertrauen sein muss, gehört nicht erst seit einigen berühmt gewordenen zeitgenössischen Vertrauensbekundungen zu den Problemen der Untersuchung dieses Gegenstandsbereichs. Dies zeigt sich auch, wenn man die parallele Überlieferung des Briefwechsels mit Atticus danach durchsucht, inwieweit es zu einer Auslagerung der Moralkommunikation gekommen ist. Tatsächlich schreibt Cicero häufig an Atticus über sein Verhältnis zu Appius; vor allem in der Phase nach Juli 51 v. Chr., als mit Eintreffen in der Provinz deutlich wurde, dass es insbesondere um die Zuverlässigkeit des Appius schlecht bestellt war.59 Dabei braucht es an dieser Stelle nicht darum zu gehen, was Appius dazu bewegte, trotz der Ankunft seines Nachfolgers Gerichtstage abzuhalten und in den Osten der Provinz zu reisen. Auch die Frage, inwieweit es Appius bei der Ausbeutung seiner Provinz wirklich übertrieb, braucht nicht zu interessieren. Vielmehr geht es darum, dass sich die Darstellung des Verstoßes gegen moralisch aufgeladene Eigenschaften – vor allem der Vorwurf mangelnder Zuverlässigkeit – mit einer sprachlichen Form verbindet, wie man sie auch erwarten kann, wenn jemand einen anderen wegen Verstoß gegen moralische Normen tadelt. Cicero ist empört. Und das lässt er Atticus wissen. In allen drei verfolgten Perspektiven zeigt sich eine enge Verbindung von Vertrauen und Moral: Das Schenken von Vertrauen gehört wie sich vertrauenswürdig zu erweisen zum Ersten zu den in der Gesellschaft der Römischen Republik geltenden Werten; es wird zum Zweiten überhöht und mit dem sittlich Guten verbunden, ebenso wie Defektion als sittlich minderwertig verstanden wird, es ist zum Dritten Grundlage wechselseitiger Achtung. 4 DIE GRENZEN DER MORAL Von diesem Befund aus lassen sich zwei weitere Fragekomplexe verfolgen: Auf ein erstes Problem soll dabei lediglich kurz verwiesen werden: Das Verhältnis von Vertrauen und Moral ist nicht so einseitig, wie es bis hierhin dargestellt worden ist. Die moralische Aufladung bzw. moralische Überhöhung des Vertrauens sichert nicht allein aktives Vertrauen des Vertrauensgebers (als positiv bewertete Disposition) und die Vertrauenswürdigkeit des Vertrauensnehmers, indem es Vertrauensbrüche und mangelnde Zuverlässigkeit geißelt, ist nicht allein Grundlage für die Existenz einer Vertrauenskultur, vielmehr ist Vertrauen umgekehrt auch die Basis für die Gültigkeit und Wirksamkeit moralischer Normen. Diese Umkehrung des Verhältnisses spielt bereits in Thomas Hobbes’ Leviathan eine zentrale 58

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Dass die Grundsituation, in der der Brief zu verorten ist, ganz im Gegenteil von tiefem Misstrauen geprägt war, ist verschiedentlich herausgearbeitet worden. So hat bereits CONSTANS 1921: 57f. das Misstrauen des Appius, SCHURICHT 1994 dagegen dasjenige Ciceros betont. Cic. Att. 5,14,1; Att. 5,15,2; Att. 5,16,4; Att. 5,17,6; Att. 5,21,10; Att. 6,1,2.

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Rolle.60 Dieser hatte bekanntlich behauptet, die wahre Moralphilosophie, die vera et sola philosophia moralis, beschäftige sich mit denjenigen Regeln, deren Befolgung für die Erhaltung des Friedens in den zwischenmenschlichen Beziehungen aus Vernunftgründen unerlässlich sei.61 Mit Blick auf das einzelne Individuum aber gelte, dass dieses nur dann sinnvoll in der Lage sei, diese Regeln zu befolgen, wenn es darauf vertrauen dürfe, dass sie von allen eingehalten würden, es mithin auf ihre allgemeine Geltung vertrauen dürfe. Die Beziehung zwischen Vertrauen und Moral ist also nicht einseitig in dem Sinne, dass moralische Überhöhung Vertrauenskulturen zu stabilisieren vermag, sondern insofern zweiseitig, als umgekehrt Vertrauen notwendige Voraussetzung für die Gültigkeit moralischer Normen ist.62 Wichtiger scheint ein anderes Problem zu sein, nämlich die Grenzen der Möglichkeit, Vertrauensbeziehungen durch moralische Überhöhung zu stabilisieren. Es ist offensichtlich, dass Vertrauen fragil bleibt – es erodieren oder zerstört werden kann. Dies gilt auch für die Geschichte der späten Römischen Republik, und zwar auch dann, wenn diese Handlungsdisposition im Prozess der Sozialisation vermittelt und von den Akteuren als Norm internalisiert bzw. sogar dann, wenn Vertrauen ethisch überhöht und mit „dem Guten“ verbunden wird. Es gibt also Grenzen, will man Vertrauen als gewünschte und für das Funktionieren der Gesellschaft benötigte Handlungsdisposition durch Moralisierung sichern. Auf ein erstes Problem ist bereits verwiesen worden. Stabilisierung durch Moralisierung tendiert dazu, die Generalisierung des Konfliktstoffes zu befördern und damit latente Konflikte zu aktualisieren. Einige weitere Probleme sollen zumindest angesprochen werden: Im losen Anschluss an die gerade erwähnten Überlegungen zur Zweiseitigkeit des Verhältnisses, d. h. die Abhängigkeit der Gültigkeit moralischer Normen von dem Vertrauen des einzelnen Individuums in deren Allgemeingültigkeit, ist zunächst einmal festzuhalten, dass Grenzen der moralischen Sicherung einer erwünschten Vertrauenskultur in der Homogenität der Bezugsgruppe und der mit dieser einhergehenden Wahrscheinlichkeit, Vertrauen in die Allgemeingültigkeit von moralischen Normen haben zu können, liegen. Prozesse zunehmender Ausdifferenzierung und beschleunigter sozialer Wandel gehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Entstehung unterschiedlicher Moralen einher. Wenn aber Vertrauen zur Moral einer gesellschaftlichen Subgruppe gehört, zu derjenigen einer anderen aber nicht, so lässt sich ein risikobehaftetes Verhalten wie Vertrauen kaum noch moralisch begründen. Ein zweites Problem, Vertrauen über die moralische Überhöhung von Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit begründenden Eigenschaften zu stabilisieren, ist mit dem Objekt des Vertrauens, also dem, worauf vertraut werden kann, verbunden. WALTER PFANNKUCHE hat in diesem Zusammenhang betont, dass man zwi60 61 62

HOBBES Leviathan 1,9. EBD. 1,15. Diese Ambivalenz ist nicht auf die Wirksamkeit moralischer Normen beschränkt. Auch für den Bereich des Rechts gilt, dass dieses durch seine bloße Existenz wirksam werden soll. Ist der Rückgriff auf das Recht regelmäßig notwendig, hat es seinen Zweck verfehlt.

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schen dem Vertrauen auf das Vermögen und dem auf das Wollen des Anderen unterscheiden müsse.63 Das ist leicht ersichtlich: Wenn man jemandem Geld leiht, dann vertraut man sowohl darauf, dass der Andere sich ernstlich darum bemühen wird, das Geld zurückzuzahlen, als auch darauf, dass der Andere zu dem Zeitpunkt, an dem er das Geld zurückzahlen soll, über selbiges verfügt. Man wird auch andere Beispiele finden können. Immer aber geht es um die Unterscheidung von Wollen und Können des Vertrauensnehmers. Diese hat Auswirkungen auf die Sicherstellung einer Vertrauenskultur durch moralische Aufladung. Denn in diesem Sinne aufladbar ist allein das Wollen. Man kann es einem Anderen verübeln, wenn er das geliehene Geld nicht zurückzahlen kann, aber es ist nicht verwerflich. In dieselbe Richtung geht auch eine dritte Beschränkung, die allerdings weiter reicht und das Problem grundsätzlicher angeht: Relevanz besitzt Moral bzw. Moralisierung innerhalb von Interaktionsbeziehungen und hier besonders unter Anwesenden. Moralisch aufladbar ist personales Vertrauen, Systemvertrauen hingegen nur sehr bedingt.64 Das ist dort leicht ersichtlich, wo sich Vertrauen auf Systeme, Institutionen oder generalisierte Tauschmedien richtet: Wenn man mit seinem Geld, ein Medium, das ganz wesentlich auf Vertrauen angewiesen ist,65 nichts mehr kaufen kann oder umgekehrt fremdes Geld nicht mehr annehmen möchte, dann ist das ganz sicher ein Problem, aber kein moralisches. Es gilt aber ebenso dann, wenn aus dem Systemvertrauen Vertrauen in einzelne persönlich unbekannte Akteure abgeleitet wird. Das Vertrauen, das ego einem Arzt entgegenbringt, den es zum ersten Mal aufsucht, entspringt dem Vertrauen auf dessen professionelle Ausbildung innerhalb des Wissenschaftssystems. Enttäuscht dieser Arzt das in ihn gesetzte Vertrauen, so ist der Schaden gegebenenfalls hoch und das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Systems, aus dem das Vertrauen abgeleitet wurde, möglicherweise beschädigt, aber mit Moral hat dies nichts zu tun. Es ist eben nicht ‚gut‘, an die Leistungsfähigkeit des Wissenschaftssystems zu glauben. Für die Chancen der Stabilisierung von Vertrauen durch Moralisierung bedeutet das eine relevante Beschränkung, und zwar dadurch, dass komplexere Gesellschaften in zunehmendem Maße auf Systemvertrauen angewiesen sind. Die Möglichkeiten von Vertrauen als Folge von persönlicher Vertrautheit schwinden, gleichzeitig macht zunehmende Komplexität zunehmende Komplexitätsreduktion durch Vertrauen nötig. Dies bedeutet sicher nicht, dass personales Vertrauen im Zuge eines Modernisierungsprozesses durch Systemvertrauen abgelöst würde, genauso wenig wie Moral bzw. Moralisierung verschwindet, aber es führt in zunehmendem Ausmaß dazu, dass funktionale Äquivalente zur Moral für die Stabilisierung des benötigten Vertrauens gebraucht werden. So blieb auch für die Gesellschaft der römischen Republik die Stabilisierung von Vertrauen sowie Vertrauenswürdigkeit begründender Eigenschaften durch 63 64 65

PFANNKUCHE 2012. Möglich sind die Personalisierung von Systemen und die damit einhergehende persönliche Zurechnung von Systemversagen im Sinne der Festlegung von Verantwortlichkeit. LUHMANN 2000.

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ihre moralische Aufladung lediglich eine unter zahlreichen Mechanismen, um diese für das Funktionieren des politischen Systems zentrale Verhaltensdisposition zu stabilisieren. Die Erosion des Vertrauens in der Krise der Republik ließ sich durch Moralisierung nicht aufhalten. BIBLIOGRAPHIE Adams, James N. (1978): Conventions of Naming in Cicero – In: CQ 28.1 (1978), S. 145–166. Axelrod, Robert (1984): Die Evolution der Kooperation. München: Oldenbourg 1984. Baecker, Dirc (2009): Die Sache mit der Führung. Wien: Picus 2009. Cleary, Matthiew R. / Stokes, Susan C. (2009): Trust and Democracy in Comparative Perspective – In: Cook, Karen S. / Levi, Margaret / Hardin, Russell (Hrsg.): Whom Can We Trust? How Groups, Networks, and Institutions Make Trust Possible. New York: Russell Sage Foundation 2009, S. 308–338. Coleman, James S. (1994): Grundlagen der Sozialtheorie. 3 Bde. München: Oldenbourg 1994. Constans, Léopold Albert (1921): Un correspondant de Cicéron. Ap. Claudius Pulcher Paris: De Boccard 1921. Endreß, Martin (2002): Vertrauen. Bielefeld: Transcript 2002. Ders. (2010): Vertrauen – soziologische Perspektiven – In: Maring, Matthias (Hrsg.): Vertrauen – zwischen sozialem Kitt und der Senkung von Transaktionskosten. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing 2010, S. 91–113. Flaig, Egon (1995): Entscheidung und Konsens. Zu den Feldern der politischen Kommunikation zwischen Aristokratie und Plebs – In: Jehne, Martin (Hrsg.): Demokratie in Rom? Die Rolle des Volkes in der Politik der römischen Republik. Stuttgart: Steiner 1995, S. 77–127. Ders. (1997): Die Mehrheitsentscheidung in der Antike. Dynamiken und Risiken – In: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft (1997), S. 676–681. Ders. (1998): War die römische Volksversammlung ein Entscheidungsorgan? Institution und soziale Praxis – In: Blankner, Reinhard / Jussen, Bernhard (Hrsg.): Institution und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 49–73. Ders. (2003): Ritualisierte Politik, Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003. Ders. (2013): Die Mehrheitsentscheidung. Entstehung und kulturelle Dynamik. Paderborn: Schöningh 2013. Foddy, Margaret / Yamagishi, Toshio (2009): Group-Based Trust – In: Cook, Karen S. / Levi, Margaret / Hardin, Russell (Hrsg.): Whom Can We Trust? How Groups, Networks, and Institutions Make Trust Possible. New York: Russell Sage Foundation 2009, S. 17–42. Frevert, Ute (2014): Über Vertrauen reden. Historisch kritische Beobachtungen – In: Barberowski, Jörg (Hrsg.): Was ist Vertrauen? Ein interdisziplinäres Gespräch. Frankfurt am Main: Campus 2014, S. 31–47. Fuhse, Jan A. (2002): Kann ich Dir vertrauen? Strukturbildung in dyadischen Sozialbeziehungen – In: ÖZP 31 (2002), S. 413–426. Gilbert, Dirk Ulrich (2010): Entwicklungslinien der ökonomischen Vertrauensforschung – In: Maring, Matthias (Hrsg.): Vertrauen – zwischen sozialem Kitt und der Senkung von Transaktionskosten. Karlsruhe: KIT Scientific Publishing 2010, S. 169–197. Hall, Jon (2009): Politeness and Politics in Cicero’s Letters. Oxford: Oxford University Press 2009. Hölkeskamp, Karl-Joachim (2004): Rekonstruktionen einer Republik. Die politische Kultur des antiken Rom und die Forschung der letzten Jahrzehnte. München: Oldenbourg 2004.

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KLATSCH, GERÜCHTE UND FAMA ALS MORALISCHES KAPITAL IM SPÄTREPUBLIKANISCHEN UND FRÜHKAISERZEITLICHEN ROM Jan B. Meister 1 DIE BEDEUTUNG VON GERÜCHTEN IN ROM War Plinius eine ‚Klatschbase‘? Die Frage ist nicht so absurd, wie sie scheinen mag. Denn in einem gewohnt elaborierten Kunstbrief führt Plinius aus, welche Freuden ihm das Landleben bereitet, und kontrastiert dabei in geradezu idealtypischer Weise die antike Konzeption des ländlichen otium mit dem negotium, das einen in der Stadt erwartet. Eine der lästigen Aufgaben, von denen man auf dem Land befreit ist, charakterisiert Plinius wie folgt: „Nichts höre ich, was zu hören, nichts sage ich, was zu sagen ich bereuen würde; niemand verleumdet irgendwen bei mir mit bösen Reden und ich selbst tadle niemanden, außer mich selbst, wenn ich weniger schreibe, als ich sollte; keine Hoffnung, keine Angst bewegt mich, von keinen Gerüchten werde ich beunruhigt: so sehr unterhalte ich mich mit mir selbst und meinen Büchern.“1

Es lohnt sich, diese Aussage genauer zu betrachten. Das Sammeln, Weitergeben und Beobachten von Gerüchten stellt für Plinius offenbar einen integralen Bestandteil dessen dar, was ein Aristokrat in der Stadt zu tun hat. Das ist nicht selbstverständlich: Wie PASCAL FROISSART in einer Geschichte zur Erforschung und Diskursivierung von Gerüchten im 20. Jh. gezeigt hat, werden in der Moderne Gerüchte vor allem als Phänomen erstens von Unterschichten und zweitens von Frauen angesehen.2 Nicht dass das der Realität entspräche, die sieht – das macht FROISSART sehr deutlich3 – ganz anders aus, zentral ist die Selbstbeschreibung, die damit, ob treffend oder nicht, gemacht wird. Da ist es doch interessant, dass im antiken Rom der Umgang mit Gerüchten als zentraler Bestandteil des aristokratischen negotium angesehen wird. Oder anders formuliert: Ja, Plinius war eine 1

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Plin. epist. 1,9,5: „Nihil audio quod audisse, nihil dico quod dixisse paeniteat; nemo apud me quemquam sinistris sermonibus carpit, neminem ipse reprehendo, nisi tamen me cum parum commode scribo; nulla spe nullo timore sollicitor, nullis rumoribus inquietor: mecum tantum et cum libellis loquor.“ (Übers.: MEISTER). FROISSART 2002 (bes. 199–240). FROISSART (EBD.: bes. 91–113) betont den engen Zusammenhang von Massenmedien und Gerüchten in der Moderne und den Umstand, dass gerade gut Gebildete besonders sensibel für Gerüchte sind, bzw. (dies die Kernthese des Buches) dass eigentlich erst die Diskursivierung des Phänomens durch die Eliten (zusammen mit der Stigmatisierung der vermeintlichen Träger) das ‚Gerücht‘ als solches hervorbringe.

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‚Klatschbase‘, denn Beschäftigung mit Klatsch war integraler Bestandteil seiner Rolle als Aristokrat. Doch was bedeutet das? Die Forschung hat schon lange gesehen, dass römische Aristokraten sich sehr für Gerüchte und Klatsch interessieren. Die meisten Studien befassen sich jedoch vor allem aus literaturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Phänomen und untersuchen beispielsweise, wie Tacitus Gerüchte als suggestive Deutungsebene in seine historischen Werke einbaut.4 Oder aber sie widmen sich der Personifikation der fama, wie sie etwa bei Vergil begegnet und eine lange Wirkungsgeschichte entfalten sollte.5 Arbeiten, die Gerüchte, Klatsch und Gerede als historische Praxis untersuchen, sind dagegen vergleichsweise rar. In den 90er Jahren haben sich RAY LAURENCE und FRANCISCO PINA POLO eingehender mit Gerüchten in Bezug auf die politische Praxis der späten Republik beschäftigt.6 Die Idee dabei war, dass Gerüchte und Klatsch das Medium seien, über das sich der ‚kleine Mann‘ politisch informiere.7 Der zugrundeliegende Ansatz basiert in beiden Fällen auf zwei nicht unproblematischen Prämissen, nämlich erstens, dass es bei Gerüchten vor allem darum gehe, ein Informationsdefizit auszugleichen, und zweitens, dass die Kommunikation einseitig top-down erfolge, d. h. von der gut informierten Aristokratie hin zum weniger gut informierten Volk. Der Fokus dieser Arbeiten liegt primär auf der Frage, wie Aristokraten das ‚Medium‘ Gerücht zu kontrollieren und den Informationsfluss zu steuern suchten. Einen deutlich komplexeren und meines Erachtens weiterführenden Ansatz wählte EGON FLAIG in einem 2003 erschienen Aufsatz über Gerüchte unter Kaiser Nero.8 Flaig betont dezidiert die Bedeutung der Rezipienten. Denn ein Gerücht ist eine kollektive Praxis, die nur dann Wirkung entfalten kann, wenn das Gerücht geglaubt und weitergetragen wird. Es handelt sich also keineswegs um ein von der Aristokratie steuerbares Medium, sondern kann als Ausdruck der öffentlichen Meinung angesehen werden. Diese kann sich durchaus auch gegen Autoritäten richten. Bei FLAIG wird das Gerücht damit zu einer politischen Waffe, mit der die

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Vgl. RIES 1969; GIBSON 1998; FELDHERR 2008. Vgl. HARDIE 2012 und für eine Analyse des schillernden Begriffs fama bei Vergil: SYSON 2013. LAURENCE 1994; PINA POLO 1996: 94–113; DERS. 2010. Erwähnenswert ist auch die Studie von DUBOURDIEU/LEMIRRE 1997, welche die Bacchanalien-Affäre in Analogie zum von MORIN 1969 untersuchten ‚Gerücht von Orléans‘ liest (obschon bei Livius selbst nicht explizit von Gerüchten die Rede ist). LAURENCE schließt mit seinen Überlegungen dezidiert an die FERGUS-MILLAR-Debatte an und sieht Gerüchte und Informationsfluss vor allem im Kontext von Klientelbeziehungen mit der salutatio als Kommunikationszentrum; PINA POLO betont die Rolle der plebs etwas stärker in dem Sinne, dass sie nicht alles glaubt, und sieht die Rednerbühne und nicht die Klientelnetze der Oberschicht als das primäre Kommunikationszentrum – auch bei ihm ist jedoch die plebs weitgehend passiv, indem sie Gerüchte glaubt oder nicht glaubt. FLAIG 2003.

Klatsch, Gerüchte und fama als moralisches Kapital

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plebs sich im Kontext des von Flaig entwickelten „Akzeptanzsystems“ artikulieren kann.9 Was bei FLAIGS Untersuchung jedoch unberücksichtigt bleibt, ist die Beobachterposition der Aristokratie, deren Schriften es überhaupt erst ermöglichen, dass wir von diesen Gerüchten erfahren, und die, so ist zu vermuten, mit ganz bestimmten Absichten Gerüchte festhalten und weitertragen. Gerüchte in Rom können also meines Erachtens als historisches Phänomen nur dann vollständig erfasst werden, wenn die Oberschicht und ihr Interesse an den über sie kursierenden Gerüchten mit einbezogen wird. Doch das simplizistische Kommunikationsmodell, das von einer einfachen top-down Kommunikation ausgeht, ist dafür – da schließt der vorliegende Beitrag dezidiert an Flaigs Überlegungen an – unbrauchbar. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, ein komplexeres Modell zu entwerfen. Dabei wird argumentiert werden, dass das ‚moralische Kapital‘ einzelner Aristokraten ausschließlich in Klatsch und Gerüchten zum Ausdruck gebracht werden kann und dass genau das der Grund ist, weshalb römische Aristokraten Gerüchte zu ihrem negotium zählen. Hierzu sollen in einem ersten Schritt einige theoretische Überlegungen zu Klatsch und Gerüchten angestellt werden, um diese dann in einem zweiten Schritt anhand der Briefe Ciceros auf die römische Aristokratie anzuwenden. Abschließend sollen die dort gewonnen Ergebnisse anhand der Kaiserbiographien Suetons verifiziert werden. 2 ‚GERÜCHTE‘ UND ‚KLATSCH‘: THEORIE UND DEFINITIONEN Zu ‚Gerüchten‘ liegt eine stattliche Menge an Forschungsliteratur vor.10 Zentral sind zwei Erklärungsmuster: Das eine geht von einem Informationsparadigma aus. Demnach entstehen Gerüchte bei fehlenden bzw. unklaren Informationen oder aber wenn man den offiziellen Informationsquellen keinen Glauben schenkt.11 Das zweite Erklärungsmuster ist eher psychologisch und argumentiert, dass Gerüchte unbewusste oder unterdrückte Ängste, Wünsche und Emotionen ansprechen und artikulieren.12 Beide Ansätze sind an sich einleuchtend, zumal sie sich auch gut kombinieren lassen. De facto sind solche Erklärungen aber wenig hilf9

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Vgl. vor allem die methodischen Ausführungen von FLAIG 2003: 358–363; die Rolle von Gerüchten als ‚Gegenöffentlichkeit‘ in der frühen Neuzeit betont auch die Fallstudie von EIBACH 1994, auf die sich FLAIGS diesbezügliche Überlegungen explizit berufen. Einen Überblick zur Forschung bietet FROISSART 2002, ferner KAPFERER 1996 und NEUBAUER 2009. Berühmte Studien sind unter anderem ALLPORT/POSTMAN 1947 und MORIN 1969. Neuere Sammelbände zum Thema ‚Gerücht‘ im (sehr) Allgemeinen bieten unter anderem BRUHN/WUNDERLICH 2004 und BROKOFF/FOHRMANN/POMPE/WEINGART 2008. Dies ist der zentrale Ansatz von ALLPORT und POSTMANN, markant auf den Punkt gebracht in ALLPORT/POSTMAN 1946/1947: 502: „Rumor travels when events have importance in the lives of individuals and when the news received about them is either lacking or subjectively ambiguous“; vgl. auch ALLPORT/POSTMAN 1947. Berühmt und vielzitiert ist vor allem die Studie von JUNG 1910/1911; dazu kritisch: FROISSART 2002: 173–198.

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reich. Eine Durchsicht der einschlägigen Publikationen der letzten Jahre zeigt, dass unter ‚Gerücht‘ fast alles fallen kann, was irgendwie mit Kommunikation zu tun hat. Moderne ‚urban legends‘ fallen ebenso darunter wie Klatsch über Starlets, Börsengerüchte, Zeitungsenten und natürlich die allgegenwärtigen Verschwörungstheorien.13 Dass dabei nicht nur die reine mündliche Kommunikation in den Blick genommen wird, sondern vor allem Medien, die sich auf angebliche Gerüchte berufen, und in zunehmendem Maße auch das Internet, macht diese Ansätze nahezu unbrauchbar, da sowohl vom Medium als auch von der Thematik her fast alles darunter gefasst werden kann. PASCAL FROISSART, einer der führenden Gerüchteforscher Frankreichs, hat daher argumentiert, dass ‚das Gerücht‘ als Phänomen erst entsteht, indem man es als solches thematisiert. Das Gerücht, dem die moderne Forschung nachspüre, so FROISSARTS etwas überspitze These, sei primär eine Erfindung dieser Forschung selbst.14 Denn während Klatsch überall existiere, sei ‚das Gerücht‘ als Vorstellung ganz wesentlich von spezifisch modernen Prämissen geprägt. Zentral sei einerseits die im 19. Jh. aufkommende Vorstellung einer als ‚Publikum‘ konzipierten ‚Masse‘, die einer kleinen Elite gegenüberstehe und die es zu kontrollieren und zu informieren gelte, andererseits aber die Existenz moderner Massenmedien, über die eine solche Information der Massen erfolgen kann.15 Gerüchte sind in diesem Kontext ein Störfaktor, nämlich eine unautorisierte Information, die sich außerhalb der offiziellen Medien und unabhängig von der Elite verbreitet.16 So werden Gerüchte oft mit Krankheitsmetaphern beschrieben – als ein sich ausbreitendes Virus –, und in den USA wurden in den 1960er Jahren sog. „Rumor Controll Centers“ eingerichtet, um von staatlich autorisierter Seite Gerüchte zu widerlegen und die ‚Befallenen‘ zu heilen.17 Die im 20. Jh. florierenden Diskurse zu Gerüchten sieht FROISSART daher primär als eine Strategie, mit der die Autorität der ‚offiziel13

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Davon zeugen beispielsweise die sehr heterogenen Beiträge in BRUHN/WUNDERLICH 2004; zur Unfähigkeit der Forschung, ‚das Gerücht‘ zu definieren, vgl. FOISSART 2002: 23–46. Diese Problematik zeigt sich besonders deutlich in dem Versuch von MERTEN 2009, das Gerücht systemtheoretisch zu definieren: Auch er sieht das Gerücht nicht als Beobachtungskategorie, sondern als ein eigenes System, das – im Sinne LUHMANNS – autopoietisch funktioniert, d. h. den Abbruch der Kommunikation zu verhindern sucht. Die sehr offen gehaltenen Inhalte dieser Kommunikation, deren primäre Definition auf Relevanz und Neuigkeitswert beruht, führen freilich dazu, dass darunter fast alle Formen von Kommunikation fallen können. Im Gegensatz dazu fungiert in der hier vorgeschlagenen Deutung ‚das Gerücht‘ als Umwelt, auf die in Kommunikation zwar verwiesen werden kann, die selbst aber nie Teil des Systems sein kann: Das Gerücht existiert nur als jeweils abstrahierte Kategorie außerhalb der konkreten Kommunikationssituation. FROISSART 2002 und speziell zu diesem Punkt DERS. 2001; vgl. auch DERS. 2008. Die Angst vor der unberechenbaren Masse im ausgehenden 19. Jh. zeigt sich unter anderem in der breit rezipierten Studie von LE BON 1895; moderne Konzeptionen von ‚Propaganda‘ als elitengesteuerte Massenkommunikation bauen wesentlich auf dieser nicht unproblematischen Konzeption auf: vgl. BUSSEMER 2008: 63–250 und generell zum Propaganda-Begriff SCHIEDER/DIPPER 1984. FROISSART 2002: 23–88 zur Geschichte der Gerüchteforschung und insbesondere 91–113 zum Verhältnis von Gerücht und Massenmedien. FROISSART 2002: 199–240; vgl. NEUGEBAUER 2009: 219–225.

Klatsch, Gerüchte und fama als moralisches Kapital

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len‘ Medien und der Elite propagiert wird, indem eine Kluft zwischen ungesicherten Informationen, die irrationale Ängste bedienen, und angeblich gesicherten ‚offiziellen‘ Informationen impliziert wird. Die despektierliche Bezeichnung ‚Klatschbase‘ entspricht genau diesem Bild: Der Begriff diskreditiert sowohl die Person als auch die von ihr ausgehende Kommunikation, die eben keine offizielle, glaubwürdige und objektive Quelle darstellt. Die ‚Klatschbase‘ Plinius zeigt jedoch, dass die Thematisierung von Klatsch und Gerüchten in der Antike, wo das Konzept eines anonymen Massenpublikums ebenso fehlte wie moderne Massenmedien, anders funktionierte. Um diese Funktion genauer zu verstehen, hilft es, das Phänomen ‚Klatsch‘ erst einmal losgelöst von dem sehr viel problematischeren Terminus ‚Gerücht‘ zu betrachten. Denn zu ‚Klatsch‘ gibt es eine klare systemtheoretische Definition, mit der sich in unserem Kontext ausgezeichnet arbeiten lässt. ANDRÉ KIESERLING hat Klatsch als moralische Bewertung Abwesender durch Anwesende definiert.18 Dies ist, so KIESERLING, die primäre Art, in der die Moral der Gesellschaft überhaupt zum Gegenstand von Kommunikation werden kann. Denn Interaktionssysteme tendieren dazu, Konfliktpotential zu vermeiden. ‚Moral‘ hat als Thema jedoch ein hohes Konfliktpotential, da es dabei um die Beurteilung einer Person nach der Unterscheidung ‚gut‘‒‚schlecht‘ geht. Bei moralisch negativen Beurteilungen liegt dies auf der Hand: Ist die beschuldigte Person anwesend, kommt es fast zwangsläufig zu Konflikten. Moralische Vergehen einer Person werden daher vornehmlich dann zum Thema von Gesprächen, wenn die betroffene Person selbst abwesend ist, und genau das ist die Funktion von Klatsch. Ein funktionales Äquivalent zu Klatsch wäre die Schmeichelei, bei der eine ausschließlich positive moralische Bewertung einer anwesenden Person durch Anwesende vorgenommen wird, die aber gerade deshalb als unaufrichtig gilt.19 Damit wird deutlich, dass die moralische Beurteilung einer Person – ob negativ oder positiv – immer ein Problem darstellt, wenn diese Person selbst anwesend ist. Für die Beurteilung von Moral als Kapital ist diese Überlegung zentral. Denn die Frage, wie andere einen moralisch beurteilen, ist in sozialen Beziehungen nicht ohne Bedeutung – der daraus resultierende Ruf kann als ‚moralisches Kapital‘ angesehen werden. Wenn man nun KIESERLING folgt, dann manifestiert sich dieses moralische Kapital bzw. vor allem fehlendes moralisches Kapital vornehmlich in Klatschkommunikationen. Um Moral als ‚Kapital‘ verstehen zu können, scheint diese Korrelation zentral zu sein. Denn die moralische Bewertung einer Person nach den Kategorien ‚gut‘‒‚schlecht‘ funktioniert nur, wenn sie auf konkrete soziale Normen und Rollenerwartungen bezogen wird; damit bleibt ‚Moral‘ als Analysekategorie jedoch recht unscharf, da sie auf alle Aspekte des sozialen Lebens beziehbar ist. Der Inhalt ist daher wenig geeignet, um ‚Moral‘ zu analysieren, umso bedeutsamer ist jedoch die Form, in der sich moralische Urteile innerhalb einer Gesellschaft manifestieren. Und genau hier liegt meines Erachtens der Schlüssel, um das Interesse der römischen Oberschicht an Klatsch und Gerüchten 18 19

KIESERLING 1998. EBD.: 405–409.

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zu verstehen. Denn um das eigene moralische Kapital, aber auch das der Rivalen evaluieren zu können, müssen sich die Angehörigen dieser Oberschicht zwangsläufig mit Klatsch beschäftigen. Dabei reicht es nicht aus, sich einfach nur an der Klatschkommunikation zu beteiligen, nicht zuletzt weil über einen selbst nur dann geklatscht wird, wenn man nicht anwesend ist. Vielmehr geht es darum, zu versuchen, aus einer Beobachterposition heraus Hinweise zu finden, was andere klatschen, und daraus Rückschlüsse auf die eigene fama oder die der jeweiligen Mitaristokraten zu ziehen. Wenn dieser Klatsch eine entsprechende Breitenwirkung und eine Eigendynamik entfaltet, so kann von einem ‚Gerücht‘ gesprochen werden, das dann losgelöst von der konkreten Klatschsituation eine eigene Größe darstellt. Der lateinische Terminus fama, der je nach Kontext als Gerücht oder aber als Ruf übersetzt werden kann, spiegelt genau diesen Umstand wider. Wenn PASCAL FROISSART argumentiert, dass der Diskurs über Gerüchte in den modernen Medien und in der modernen Forschung das Phänomen, das er thematisiert, überhaupt erst hervorbringt, so kann man ähnliches auch für die Antike vermuten. Denn ein ‚Gerücht‘ ist nichts Fassbares. In einer Kommunikationssituation kann ein ‚Gerücht‘ immer nur als ‚Umwelt‘ thematisiert werden: Wenn man auf ein ‚Gerücht‘ rekurriert, so impliziert man, dass dies etwas sei, was außerhalb der konkreten Gesprächssituation eine eigene Existenz friste. In der Moderne dient dies gemäß FROISSART vor allem dazu, die so etikettierten Inhalte abzuwerten. In der Antike dagegen, so soll gezeigt werden, werden ‚Gerüchte‘ oft als Abstraktion von Klatschkommunikation und des dort verhandelten moralischen Kapitals einzelner Akteure verstanden: Das Reden über ‚Gerüchte‘ – bzw. die entsprechend abstrahierenden Termini wie rumor, fama und existimatio – ist daher zu einem nicht unwesentlichen Teil ein Reden über moralisches Kapital. Freilich ist dies kein absoluter, sondern ein gradueller Unterschied: Vieles, was in der Antike begegnet, ähnelt dem modernen Reden über Gerüchte.20 Dennoch gibt es meines Erachtens im Vergleich zur Moderne zwei zentrale Differenzen: Einerseits können antike Gerüchte nicht in Opposition zu modernen Massenmedien stehen ‒ so liest Plinius eben keine Zeitung, sondern beobachtet Gerüchte –, andererseits war die moralische Bewertung einer Person für deren sozialen Status tendenziell bedeutsamer als heute, da fachliche Kompetenz, die heute oft sehr viel entscheidender ist, eine eher geringere Rolle spielte. Während daher in der Moderne das Etikett ‚Gerücht‘ vor allem dazu dient, die so charakterisierten Inhalte zu diskreditieren und von autorisierter Information abzusetzen, ist die Sache in der Antike nicht so einfach. Denn Plinius ist keineswegs der Einzige, der Gerüchte zu seinem negotium zählt.

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Verwiesen sei hier lediglich auf Plutarchs Schrift Über die Geschwätzigkeit (de garrulitate = Plut. mor. 502b–515a), wo schwatzhafte Frauen (de garrulitate 11 = Plut. mor. 507b–508b) und klatschsüchtige Barbiere (de garrulitate 13 = Plut. mor. 508f–509c) in klischeehafter Form präsentiert werden, die den abschätzigen Urteilen der Moderne über Klatsch als Frauenund Unterschichtenphänomen in nichts nachsteht.

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3 KLATSCH UND GERÜCHTE ALS MORALISCHES KAPITAL IN CICEROS BRIEFEN Im umfangreichen Briefkorpus Ciceros finden sich zahlreiche Bezüge auf Gerüchte und Gerede. Oft geht es dabei schlicht um Neuigkeiten, die mündlich als fama oder rumor meist schneller sind als Briefe. So schreibt Cicero beispielsweise im Jahr 61 v. Chr. an Atticus, dass sein Bruder Quintus Statthalter von Asia geworden sei, um hinzuzufügen, dass Atticus das wohl schon wisse, da der rumor sicher schneller gewesen sei als irgendein Brief.21 Und als Quintus’ Statthalterschaft verlängert wird, schreibt Cicero dies seinem Bruder mit der Bemerkung, dass fama ipsa seinem Brief sicher zuvorgekommen sei.22 Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.23 Gerüchte können dabei auch – analog zur Moderne – die Bedeutung nicht gesicherter Nachrichten annehmen. So schreibt Cicero beispielsweise im Jahr 55 v. Chr. an Atticus, in Puteoli gäbe es den magnus rumor, dass Ptolemaius wieder in seinem Königreich sei, wenn Atticus aber etwas sichereres wisse, solle er es schreiben.24 Diese Gerüchte, die tatsächlich einem Informationsdefizit begegnen, sollen hier jedoch nicht weiter interessieren. Stattdessen soll im Folgenden der Fokus auf jenen Gerüchten liegen, die konkrete Personen betreffen und damit moralische Urteile zumindest implizieren. Die Grenze zu ungesicherten Neuigkeiten ist dabei fließend. Die moralische Komponente wird in den Situationen jedoch deutlich, wo der Rekurs auf eine ungesicherte fama oder einen unbestätigten rumor vorgebracht wird, um die Kommunikation zu entlasten, da man den Briefpartner so mit einem moralisch verwerflichen Verhalten konfrontieren kann, ohne ihm dies direkt in eigener Person vorzuwerfen. So schreibt Marcus Antonius 49 v. Chr. an Cicero, um ihn zu überzeugen, im aufziehenden Bürgerkrieg nicht für Pompeius Partei zu ergreifen. Den Verdacht, dass Cicero zu den Gegnern übergehen könnte, spricht Antonius nicht direkt aus, sondern rekurriert auf einen rumor, den er, auch wenn es nur eine fama sei, doch gerne als falsch erwiesen sähe.25 Ganz ähnlich argumentiert in einem unmittelbar anschließenden Brief Caesar selbst, der ebenfalls betont, dass er Cicero selbstverständlich keine so unüberlegte Handlungsweise zutraue, dass es aber eine fama gäbe, die ihn dazu bewege, Cicero in dieser Sache zu schreiben.26 Der Rekurs auf angeblich zirkulierende Gerüchte dient also einerseits dazu, die Kommunikation zu entlasten, indem man dem Kommunikationspartner keine direkten Vorhaltungen machen muss, andererseits setzt es diesen unter Druck, zu reagieren 21 22 23 24

25 26

Cic. Att. 1,15,1 [sämtliche Briefe werden in der Zählung KASTENS zitiert, Konkordanzen zur Vulgata finden sich jeweils in Klammern]. Cic. Q. fr. 1,1,1. Vgl. RIEPL 1913: 235–240, der auch plausibel argumentiert, dass Gerüchte tatsächlich schneller unterwegs sind als ein einzelner Bote. Cic. Att. 4,10,1. In einem ähnlichen Sinn begegnen fama und rumor in Cic. Att. 3,11,1; Att. 5,2,3; Att. 11,21(25),2; Att. 12,2,1; Att. 14,3,1; Att. 16,12; Cic. fam. 1,9(8),7; fam. 12,4,2; fam. 12,9,1; fam. 12,10,2; fam. 15,17,3; fam. 16,27(25),1. Cic. Att. 10,9a(8a),1. Cic. Att. 10,9b(8b),1.

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und sich zum Gerede zu verhalten. Denn bei diesen Gerüchten geht es eben nicht nur um unbestätigte Neuigkeiten, sondern ganz wesentlich auch um moralische Urteile über die Beteiligten. In diesem Fall ist es der Ruf mangelnder Zuverlässigkeit als Freund, in den Cicero im Lager Caesars offenbar geraten ist. Schaden für die eigene fama abzuwenden, ist das ureigenste Interesse eines jeden Aristokraten. Wenn Cicero auf die Gefahren hingewiesen wird, die seiner fama drohen, handelt es sich dabei daher vordergründig um einen reinen Freundschaftsdienst ‒ freilich mit einer handfesten Aufforderung zu entsprechendem Handeln. So schreibt im selben Zeitraum der Caesarianer Balbus – fast schon drohend –, dass Cicero, sollte er gegen Caesar die Waffen ergreifen, nicht nur ein officium verletzen, sondern auch seine fama schädigen würde.27 Der Freundschaftsdienst ist auch ein zentrales Thema in dem bereits erwähnten Brief des Antonius: Dieser schreibt nicht nur von rumores und famae, die ihm über Cicero zu Ohren gekommen seien, sondern auch, dass ihn als Freund dieses Gerede (sermo) boshafter Leute nicht unbekümmert lassen könne.28 Die Passage zeigt überdies deutlich, dass rumor und fama als etwas gesehen wurden, das sich aus Klatsch (sermo) – in diesem Falle auch eindeutig mit moralischen Urteilen verbunden – konstituiert. Cicero selbst war in der Tat sehr um seine fama besorgt. Doch anders als die Briefe der Caesarianer suggerieren, war ihm im aufziehenden Bürgerkrieg der Klatsch im Lager Caesars weit weniger wichtig als das, was die in Rom verbliebenen boni über ihn redeten. Atticus wird mehrfach gebeten, ihn über diesen Klatsch zu informieren, und das Gerede über ihn spielt bei seiner zögerlichen Parteinahme eine wichtige Rolle.29 Als Cicero dann nach verlorenem Krieg in Brundisium festsitzt und auf Caesars Begnadigung hofft, erläutert er Atticus gegenüber seine Strategie: Es sei das Gerede der Menschen – sermones hominum – gewesen, das er nicht mehr habe ertragen können und das ihn in das Lager des Pompeius getrieben habe.30 Dies war offenbar eine Argumentation, mit der er bei Caesar auf Verständnis hoffen konnte. In diesen Fällen ist stets von sermo die Rede, also von Klatsch, der oft sehr konkret mit bestimmten Personen oder Personengruppen verbunden ist – dies ist der zentrale Unterschied zu den Termini fama und rumor, die ein weitgehend anonymes Gerede mit einem von konkreten Gruppen losgelösten Eigenleben beschreiben. So kann Cicero, als er im Jahr 61 v. Chr. Atticus bittet, einem rufschädigenden Gerede nachzugehen, für diese sermones konkrete Gewährsmänner benennen.31 Auch in anderen Fällen nimmt er auf den Klatsch bestimmter ihm eindeutig bekannter Leute Bezug.32 Doch in einigen Fällen ist sermo auch sehr allgemein verwendet und kann fast synonym zu Begriffen wie rumor, fama, aber 27 28 29

30 31 32

Cic. Att. 9,8b(7b),1. Cic. Att. 10,9a(8a),1. Bitten um Berichte über Gerede und Klatsch finden sich in: Cic. Att. 8,11,7 (seromones der boni); Att. 9,3(2a),3 (sermones der sog. boni); Att. 9,23(19),4 (sermones hominum); Einfluss dieser sermones auf seine Parteinahme: Att. 8,16,1; Att. 9,1,4; Att. 9,3(2a),3. Cic. Att. 11,13(12),1. Cic. Att. 1,12,2. Cic. fam. 1,10(9),10; fam. 1,10(9),20; fam. 3,6,4f.; fam. 3,7(8),7; fam. 11,18(20),1.

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auch existimatio verwendet werden, was letztlich zeigt, wie eng zusammenhängend diese Phänomene gedacht wurden. So verteidigt sich Cicero gegen den Vorwurf des Appius Claudius, er habe dessen fama bei den Provinzialen geschädigt, mit dem Hinweis darauf, dass lediglich an jenem Gerede (sermo) etwas dran sei, wonach Appius bei der Wahl seiner Legaten eine schlechte Hand gehabt habe, doch diese sermones würden die existimatio des Appius nicht schädigen.33 Seinem Bruder empfiehlt er, ganz im Gegenteil, bei seinem Personal als Statthalter sehr genau aufzupassen, da er sonst zum Gegenstand von Klatsch (sermo) und Tadel (vituperatio) würde.34 Sermo kann freilich auch Lob beinhalten – etwa wenn Quintus’ Statthalterschaft von dem Gerede (sermo) aller und einer constans fama gefeiert wird oder wenn Cicero in einem Gestus übertriebener Bescheidenheit Cato gegenüber betont, dass leeres Lob und sermones volgi ihn nie gekümmert hätten.35 Cicero ist sich also sehr bewusst, dass Handlungen von Aristokraten stets dem moralischen Urteil durch Klatsch unterliegen. In einigen Situationen empfiehlt es sich daher, nicht aufzufallen, um dem Klatsch zu entgehen, in anderen Situationen bleibt nur die Möglichkeit, sich so zu verhalten, dass der Klatsch und die daraus resultierenden Gerüchte im Rahmen bleiben und der eigene Ruf keinen Schaden nimmt.36 So schreibt Cicero im Jahr 46 v. Chr. an Varro und erörtert das Problem, wie man sich in Anbetracht der schwerwiegenden Krise auf dem Land treffen könne, ohne jenen Leuten, die sie nicht richtig kennen würden, unnötigen Stoff für Gerede (sermo) zu geben – zwar komme man unweigerlich ins Gespräch, doch gelte es zu schauen, dass die Zusammenkunft in ländlicher Zurückgezogenheit nicht getadelt werde.37 In einem unmittelbar folgenden Brief führt er weiter aus, dass er es für unklug halte, nach Baiae zu gehen, solange der rumor sich noch nicht heiser geschrien habe – schließlich solle man sehen können, dass sie Rom verlassen, um zu klagen, nicht um zu baden.38 In einigen Fällen ist Cicero völlig klar, welche Handlung zu welchem Gerede und damit zu welcher fama führen wird. So suchte er im Jahr 54 v. Chr. Lentulus zu einer Hinwendung zu Pompeius zu überzeugen und betonte, dass er nicht glaube, dass Lentulus deshalb eine fama inconstantiae, also den Ruf von Unbeständigkeit, befürchten müsse.39 Das ist freilich keineswegs immer so und zumindest ein Teil der Korrespondenz dient ausdrücklich dazu, zu erfahren, was über einen geredet wird – also die moralische Bewertung, die andere der eigenen Person angedeihen lassen, als Abwesender zu 33 34 35 36

37 38 39

Cic. fam. 3,7(8),7; ausführlich zu Appius Claudius siehe unten. Cic. Q. fr. 1,1,17. Cic. Q. fr. 1,1,24; fam. 15,4,13. So reist Cicero mit seinen Liktoren 49 v. Chr. bei Nacht von seinem Standort unmittelbar vor Rom ab, um kein Gerede zu erzeugen (Cic. Att. 7,10), schickt seine Frauen mit Rücksicht auf das zu erwartende Gerede nicht nach Rom zurück (Att. 7,23,3) und wünscht sich, als er 48 v. Chr. in Brundisium festsitzt, er hätte eine kleinere Stadt gewählt, wo er nicht so viel Gerede erzeugen würde (Att. 11,7[6],2). Cic. fam. 9,2(3),1. Cic. fam. 9,3(2),5. Cic. fam. 1,10(9),11.

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beobachten. Die bereits erwähnten Erkundigungen aus dem Jahr 49 v. Chr., was in Rom geredet würde, sind ein Beispiel. Doch auch deutlich weniger politische Belange interessierten. So plagten Cicero im Jahr 45 v. Chr. Sorgen um seine Scheidung von Publilia. Cicero selbst war nicht vor Ort und bat daher seinen Freund Atticus, nicht nur ‚die Sache mit Publilius‘ zu erledigen, d. h. die Rückzahlung der Mitgift abzuwickeln, sondern auch zu schreiben, was die fama darüber sei: „Natürlich, das Volk interessiert sich dafür,“ zitiert er einen Vers von Terenz, um aber sogleich hinzuzufügen, dass er das nicht wirklich glaube, denn diese fabula sei doch viel zu „abgedroschen“40 – offensichtlich interessiert es ihn aber trotzdem. Doch nicht nur Cicero möchte über seine eigene fama informiert werden, er informiert auch andere über die ihre. Besonders augenfällig ist dies in einem Brief an seinen Bruder Quintus, in welchem das übergroße Vertrauen thematisiert wird, das dieser als Statthalter von Asia seinem Freigelassenen Statius entgegenbringt. Zuerst verteidigt sich Cicero gegen den Verdacht, er selbst urteile ungnädig über Statius: „Erstens war er mir nämlich nie verdächtig, noch habe ich das, was ich Dir über ihn geschrieben habe, als Ausdruck meiner eigenen Meinung geschrieben.“41 Diese Argumentation kennen wir bereits: Man verweist auf das Gerede anderer, um Kritik vortragen zu können, ohne direkt einen persönlichen Vorwurf formulieren zu müssen. Doch der Verweis auf Gerüchte ist mehr als nur eine praktische Floskel, wie Cicero sogleich deutlich macht. Denn er schreibt weiter: „Da aber Planung und Heil von uns allen, die wir uns um die res publica bemühen, nicht allein auf der Wahrheit, sondern auch auf der fama ruht, habe ich Dir immer das Gerede anderer, nicht aber mein eigenes Urteil ausführlich beschrieben. Wie verbreitet dieses Gerede ist und wie gravierend, hat Statius bei seiner Ankunft selbst erfahren. Denn er kam an, als gerade einige Leute bei mir Klagen über ihn vorbrachten, und konnte das Gerede, das Übelwollende gegen seinen mächtigen Namen vorbrachten, selbst hören.“42

Das Gerücht muss also nicht wahr sein – da geht Cicero mit modernen Definitionen von Gerücht als ‚unbestätigte Information‘ einig –, doch, und hier liegt der zentrale Unterschied, selbst wenn Gerede objektiv unwahr ist, ist es dennoch ein Faktor, den es unbedingt zu berücksichtigen gilt, da für Personen, die politisch im Rahmen der res publica tätig sind, ratio und salus auch auf der fama beruhen. Erneut wird auch in der Semantik deutlich, wie eng verbunden die fama mit Klatsch gedacht wurde: Cicero schreibt mehrfach von sermones rund um Statius und auch darüber, dass dieses Gerede nun, da Statius aus der Provinz abgereist

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Cic. Att. 13,40(34),1: „de quo quae fama sit scribes. ‚id populus curat scilicet!‘ [Ter. Andr. 185] non mehercule arbitror; etenim haec decantata erat fabula.“ (Übers.: KASTEN). Cic. Q. fr. 1,2,2: „primum enim numquam ille mihi fuit suspectus, neque ego quae ad te de illo scripsi scripsi meo iudicio.“ (Übers.: MEISTER). Cic. Q. fr. 1,2,2: „sed cum ratio salusque omnium nostrum qui ad rem publicam accedimus non veritate solum sed etiam fama niteretur, sermones ad te aliorum semper, non mea iudicia perscripsi. qui quidem quam frequentes essent et quam graves adventu suo Statius ipse cognovit. etenim intervenit non nullorum querelis quae apud me de illo ipso habebantur et sentire potuit sermones iniquorum in suum potissimum nomen erumpere.“ (Übers.: MEISTER).

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sei, abnehme.43 Der Brief zeigt uns ferner zwei Ebenen, über die Aristokraten sich auf dem Laufenden halten: Cicero berichtet seinem Bruder offenbar regelmäßig in Briefen über das ihm zugetragene Gerede, genauso wie er selbst gerne von seinen Briefpartnern informiert wird, was geredet wird. Zentral scheint jedoch die Interaktion im Haus zu sein. So kommt Statius just in dem Moment bei Cicero an, als dieser sich Beschwerden über den mächtigen Freigelassenen anhört. Plinius’ Klage über das Verleumden und Tadeln, das Teil seines negotium sei, findet hier ihre Bestätigung. Es wird des Weiteren deutlich, dass auch das Klatschen in der aristokratischen domus Gegenstand von Beobachtungen war – denn Cicero muss davon ausgehen, dass Statius seinem Herrn umgehend berichtet, was ihm an Gerede in Ciceros Haus zu Ohren gekommen ist. Dies kann zu folgenden brieflich greifbaren Situationen führen: Im Jahr 43 v. Chr. schreibt Lepidus einen Brief an Cicero, in welchem er Cicero seiner innigen Freundschaft versichert. Nachdem auf die langjährige familiaritas verwiesen wurde, kommt Lepidus zum eigentlichen Problem: „ ‚Zweifellos‘, schreibt er, ‚sind Dir aber in dieser schweren, unerwarteten Krise allerhand falsche, meiner unwürdige Gerüchte [rumores] über mich von meinen Neidern zugetragen worden, die Dich angesichts Deiner Liebe zur res publica tief getroffen haben müssen.‘ “44

Lepidus scheint also bestens darüber informiert zu sein, welche Gerüchte über ihn zirkulieren. Er geht nicht nur davon aus, dass Cicero diese „zweifellos“ gehört habe, er weiß auch sehr genau, wie Cicero darauf reagiert hat: „Dass Du sie besonnen aufgenommen hast mit der Erklärung, man dürfe ihnen nicht blindlings trauen, haben mir meine procuratores berichtet.“45

Römische Aristokraten beobachten also nicht nur die Verbreitung von Gerüchten, sondern werden auch selbst beim Beobachten von Gerüchten beobachtet.46 43

44

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Cic. Q. fr. 1,2,1 („exhaustus est enim sermo hominum“); Cic. Q. fr. 1,2,2 („sermones aliorum“); Cic. Q. fr. 1,2,3 („materiam omnem sermonum eorum qui de te detrahere velint Statium dedisse“). (Übers.: MEISTER). Cic. fam. 10,35(34a),1: „tamen non dubito in tanto et tam repentino motu rei publicae quin non nulla de me falsis rumoribus a meis obtrectatoribus me indigna ad te delata sint, quae tuum animum magno opere moverent pro tuo amore in rem publicam.“ (Übers.: KASTEN modifiziert durch MEISTER). Cic. fam. 10,35(34a),1: „ea te moderate accepisse neque temere credendum iudicasse a meis procuratoribus certior sum factus.“ (Übers.: KASTEN modifiziert durch MEISTER). Die Bezeichnung procuratores lässt ferner vermuten, dass Aristokraten zahlreiche Informanten besaßen, die ihnen solche Beobachtungen meldeten – diese Personengruppe dürfte jedoch kaum identisch sein mit den eher prominenten Briefpartnern, die im ciceronischen Briefkorpus überliefert sind. So tadelt Cicero etwa Caelius als Reaktion auf dessen langen, von Gerüchten strotzenden Brief (Cic. fam. 8,1), dass er von einem Mann seines Kalibers eine Einschätzung des politischen Gesamtbildes und nicht derartigen Kleinkram berichtet haben möchte, denn dafür habe er andere – in der Korrespondenz offenbar nicht erhaltene – Quellen. (Cic. fam. 2,8,1: „Andere werden mir schreiben, viele werden mir berichten und vieles wird das Gerücht selbst mir zutragen“ / „scribent alii, multi nuntiabunt, perferet multa etiam ipse rumor“ [Übers.: MEISTER]; ein ähnliches Netz an Informanten wird auch für Atticus vorausgesetzt: vgl. Cic. Att. 4,1,4).

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Bemerkenswert ist ferner, dass Lepidus an dieser Stelle von rumores schreibt und nicht von fama. Beide Begriffe werden von Cicero oft synonym verwendet, sie können den Sinn von ‚Gerücht‘ annehmen und sind, anders als sermo, das als ‚Klatsch‘ oder ‚Gerede‘ übersetzt werden kann, eine Abstraktion, die losgelöst von der konkreten Gesprächssituation als eigene Größe gedacht werden kann. Anders als rumor kann fama in gewissen Kontexten jedoch die Bedeutung von ‚Ruf‘ annehmen – eine Semantik, in der sich die enge konzeptionelle Verbindung von ‚Ruf‘ und ‚Gerücht‘ spiegelt. Wenn Lepidus daher von rumores schreibt und nicht von fama, macht er deutlich, dass es sich in diesem Fall eindeutig um ‚Gerüchte‘ und nicht etwa um einen seiner Person anhaftenden ‚Ruf‘ handelt – mehr noch: Cicero wird damit, ganz der Beschwörung der gegenseitigen amicitia entsprechend, in der Rolle eines fürsorglichen Freundes gezeichnet. Denn indem er den rumores um Lepidus entgegentritt, erweist Cicero ihm einen Freundschaftsdienst, da er zu verhindern sucht, dass diese unvorteilhaften Gerüchte tatsächlich Auswirkungen auf die fama des Lepidus haben könnten. In der Tat begegnet die Erwartungshaltung, dass Freunde sich um die fama ihrer Freunde kümmern sollten, in den Briefen gleich mehrfach. So finden sich an verschiedenen Stellen Beteuerungen Ciceros, für die fama seiner Freunde einzustehen und sie nach Kräften zu fördern.47 Diese fama, die es zu fördern gilt, ist durchaus ein ‚Kapital‘, das einem Vorteile verschaffen kann, das aber auch behütet werden muss. Oft tritt es in Verbindung mit anderen ‚Kapitalsorten‘ auf. So betont Cicero in einem Empfehlungsschreiben für Varro nicht nur dessen ausgezeichnete Treue (fides), sondern auch die optima fama, die beide für ihn sprächen.48 In einem weiteren Empfehlungsschreiben, nun für P. Messienus, wird der Empfänger aufgefordert, die res und die fama des Messienus zu behüten.49 Bei seinen eigenen Finanzgeschäften weist Cicero Atticus explizit an, er soll die Angelegenheiten für ihn so erledigen, dass es sowohl seiner res, also seiner Vermögenslage, seiner fides als auch seiner fama zugute komme.50 Bruder Quintus wird angewiesen, den Provinzialen klarzumachen, dass ihm als Statthalter ihr Heil, ihre Kinder, ihr Vermögen und ihre fama am Herzen liege.51 Dem A. Caecina, der im Exil auf Caesars Begnadigung hofft, spricht Cicero in einem Brief Mut zu: Schließlich sprächen für Caecina seine Begabung (ingenium), seine Dankbarkeit (gratia) und seine fama beim römischen Volk – einen solchen Mann könne Caesar nicht auf Dauer von der res publica ausschließen.52 Der in seiner Bedeutung ähnlich gelagerte Begriff existimatio bestätigt diesen Befund: Die existimatio eines Freundes gilt es ebenfalls zu bewah-

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Speziell Cic. fam. 4,14,4; vgl. fam. 3,7(8),5; fam. 12,20(22),2; in der Provinz freut sich Cicero, dass sein Gefolge sich so um seine fama kümmert: Att. 5,10,2. Cic. fam. 13,10,2. Cic. fam. 13,51,1. Cic. Att. 5,8,3. Fama im Zusammenhang mit Vermögensgeschäften auch bei: Att. 11,2,1; Att. 16,4(2),2. Cic. Q. fr. 1,1,13. Cic. fam. 6,5(6),9.

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ren und zu fördern,53 Cicero führt seine Provinz mit Rücksicht auf sie,54 man kann sie jemandem anvertrauen55 und auch sie tritt oft in Verbindung mit anderen Kapitalsorten auf.56 Die fama einer Person kann so durchaus als eine Art Kapital angesehen werden und der Umstand, dass sich diese fama über Klatschkommunikation und damit über moralische Urteile konstituiert, kann es rechtfertigen, von ‚moralischem Kapital‘ zu sprechen. Das besondere an diesem Kapital ist demnach weniger sein konkreter Gegenstand – einem moralischen Urteil kann nahezu alles unterzogen werden – als vielmehr die Art, wie es sich manifestiert und der Umstand, dass es als das Gerede anderer ein teilweise unheimliches Eigenleben führen kann. Wie sehr die fama als ein über Klatsch konstituiertes Phänomen gesehen wurde, zeigt sich deutlich im Commentariolum Petitionis, jener Denkschrift, in der Q. Cicero seinem Bruder Empfehlungen für die Bewerbung um das Konsulat gibt.57 In einem bemerkenswerten Abschnitt führt Quintus aus, dass ein Kandidat sich auch um rumores zu kümmern habe: Ziel müsse es sein, dass über die guten Qualitäten des Kandidaten geredet werde; dies erreiche man durch vorbildliches Verhalten und häufige Interaktion mit verschiedensten Personenkreisen. Dabei gehe es, so Quintus, nicht primär darum, dass die fama über diese Personen zum Volk gelange, sondern dass das Volk selbst zu dieser fama beitrage.58 Das so entworfene Bild ist weniger das eines Kandidaten, der aktiv Gerüchte streut, sondern der darauf bedacht ist, dass sein Verhalten Gegenstand von Beobachtung Dritter und damit von Klatsch wird. Eine gute fama scheint dabei vor allem dazu zu dienen, eine Person gegen Angriffe zu immunisieren. Nebst Kandidaten, betrifft dies vor allem Statthalter, denen bei schlechter Amtsführung Prozesse in Rom drohen. Die fama, die ein Statthalter in seiner Provinz genießt, ist ein häufiges Thema in der Korrespondenz – wohl nicht zuletzt deshalb, weil hier die räumliche Distanz die mündliche 53 54 55 56

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Cic. Att. 1,10(1),4; Att. 15,31,10(16,16c,1); Cic. fam. 2,13,2; fam. 3,4,1; fam. 3,7(8),7; fam. 3,10,8; fam. 8,3,2; fam. 13,65,1; fam. 13,73,2. Cic. Att. 5,11,5; Att. 6,1,21; analoges gilt für Quintus: Cic. Q. fr. 1,1,10; Q. fr. 1,1,12; Q. fr. 1,1,14f.; Q. fr. 1,2,7. Cic. fam. 12,17,3; fam. 15,10,2; fam. 15,13,3. Existimatio und res: Cic. Att. 11,1,1; Att. 16,17(15),5; Att. 15,31,7(16,16a,5); Att. 15,31,15(16,16e,1); fam. 5,20,1; existimatio und dignitats: Att. 14,7,2; fam. 3,4,1; fam. 12,17,3; fam. 13,77,1; ad Brut. 17(26),21; vgl. ferner Att. 1,10(1),2 (amici und existimatio); fam. 5,13,2 (existimatio und honos); Q. fr. 1,3,6 (existimatio, dignitas, auctoritas und gratia). Die Zuweisung an Q. Cicero ist umstritten. Der jüngste Versuch von ALEXANDER 2009, das Commentariolum als kaiserzeitliche Satire auf den republikanischen Wahlkampf zu deuten, mag meines Erachtens nicht zu überzeugen, da er die Distanz des Wahlkämpfers zu seiner Rolle als Parodie ansieht und dabei nicht berücksichtigt, dass just dies ein kennzeichnendes Moment der politischen Kultur der ausgehenden Republik war; vgl. dagegen überzeugend TATUM 2007 sowie allgemein zur Selbstreflexiven Distanz republikanischer Politiker zu ihren öffentlichen Auftritten MEISTER 2012: 77–94. Die Angst, die Amtsbewerber vor Gerüchten haben, und wie sie sich unter dauernder Beobachtung wähnen, ist auch Thema bei Cic. Mil. 42. Q. Cic. Pet. 50: „[…] nicht dass von diesen Leuten die fama zum Volk dringe, sondern dass das Volk selbst sich an diesen Bemühungen beteiligt.“ / „[…] non ut ad populum ab his hominibus fama perveniat sed ut in his studiis populus ipse versetur.“ (Übers.: MEISTER).

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Kommunikation im Haus, die sonst zentral zu sein scheint, deutlich erschwert. So gratuliert Cicero Q. Philippus, dass dieser mit unbeschädigter fama aus der Provinz zurückgekehrt sei.59 Bei Bruder Quintus wird stolz darauf verwiesen, dass seine Verwaltung der Provinz Asia durch eine constans fama und das Gerede (sermo) aller gefeiert werde.60 Ciceros eigene fama, die er in seiner Provinz genießt, ist selbstverständlich ebenfalls Gegenstand diverser Briefe, in denen nicht nur deutlich wird, dass Cicero seine Verwaltung mit Rücksicht auf die fama führt, sondern auch, dass er von seinem Gefolge erwartet, dass sie sich ebenfalls um seine fama bemühen.61 Dass das in Rom zur Kenntnis genommen wird – nicht zuletzt auch vom jüngeren Cato, der als lebende Verkörperung rigoroser Moralvorstellungen angesehen werden kann –, ist ihm dabei durchaus ein Anliegen.62 Denn eine schlechte fama in der Provinz konnte einem zuhause zur Bedrohung werden. Ciceros Amtsvorgänger in der Provinz, Appius Claudius Pulcher, wurde beispielsweise in Rom von Repetundenprozessen bedroht und war entsprechend besorgt um seine fama bei den Provinzialen. Das schlechte Verhältnis zu seinem Nachfolger Cicero war dabei kein geringes Problem. Claudius muss Cicero scharfe Vorhaltungen gemacht haben. Jedenfalls verteidigt dieser sich in einem Brief, dass er in der Provinz selbstverständlich nichts tue, um die fama seines Vorgängers zu schädigen.63 Die fama des Claudius scheint Cicero in der Tat nicht sonderlich am Herzen gelegen zu haben. So schreibt ihm Caelius, sein Verbindungsmann in Rom, kurze Zeit später hoch erfreut, wie er dem hochmütigen Claudier eins ausgewischt habe.64 Dieser habe ihn nämlich unter der lex Scantinia angeklagt – einem Gesetz, das sich gegen stuprum, unerlaubten Geschlechtsverkehr, richtete.65 Wenig verlegen habe Caelius daraufhin Appius Claudius unter demselben Gesetz seinerseits angeklagt. Es ist offensichtlich, dass Caelius nicht im Geringsten mit einem Erfolg seiner Klage rechnet. Viel wichtiger ist ihm jedoch festzuhalten, dass er damit beim Volk auf überraschend große Zustimmung gestoßen sei. Claudius werde daher nun sehr viel mehr Kummer wegen der fama als wegen der Klage haben. Die Schilderung zeigt sehr deutlich, wie Römer sich die fama dachten: Man kann nicht einfach ‚Gerüchte streuen‘ – nicht Caelius ‚macht‘ das Gerücht, sondern erst die Reaktion des Publikums. Doch sobald diese Reaktion stattgefunden hat, ist die entsprechende fama entstanden und jedem in Rom ist fortan klar, dass man beim Publikum auf Resonanz stoßen wird, wenn man Appius Claudius Pulcher in Fragen der Sexualmoral angreift. Darin scheint mir der Hauptgrund zu liegen, weshalb Aristokraten ihre eigene fama und die ihrer Rivalen so eifrig beobachten: Hier wird deutlich, wo jemand 59 60 61 62 63 64 65

Cic. fam. 13,73,1. Cic. Q. fr. 1,1,24. Cic. Att. 5,19,6; Att. 5,10,2; Att. 6,1,8; fam. 2,12(11),1. Cic. Att. 5,20,6. Cic. fam. 3,7(8),5. Cic. fam. 8,13(12),3. Der genaue Inhalt dieser lex ist umstritten; für eine umsichtige Diskussion vgl. WILLIAMS 2010: 130–136.

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verwundbar ist und wo persönliche Angriffe auf Resonanz stoßen können. Ciceros Invektiven gegen seine diversen Gegner sind denn auch keineswegs beliebig. Sicherlich sind die einzelnen Vorwürfe hochgradig stereotyp, doch der Ansatzpunkt ist bei jedem Gegner individuell gewählt: Inzest ist ein Vorwurf, der bei Clodius offenbar auf Resonanz stößt,66 nicht aber bei Marcus Antonius, über den es dafür schlüpfrige Geschichten aus der Jugend gibt.67 Bei Piso, über den Cicero so ziemlich alles an Schmutz ausgießt, was der rhetorische Waffenschrank hergibt, fehlen die sonst sehr prominenten sexuellen Vorwürfe fast gänzlich.68 Dafür genügt es bei Cloelius, von lingua zu sprechen, und jeder weiß, dass damit auf die stadtbekannten angeblichen sexuellen Vorlieben dieses Herrn angespielt wird.69 Die ‚Medienwirkung‘ solcher Invektiven sollte man daher nicht überschätzen: Ein Redner kann seinem Gegner nicht irgendetwas anhängen, vielmehr muss eine wirkungsvolle Invektive auf einem bereits bestehenden schlechten Ruf aufbauen, also eine bereits vorhandene Erwartungshaltung des Publikums bedienen.70 Das Wissen über die jeweilige fama des Gegners ist damit vor allem ein Wissen um diese wunden Punkte. Die Frage, ob die Römer glaubten, was geredet wurde, ist dabei sekundär. Denn die fama kann zwar als eine Art moralisches Kapital gedacht werden, das man besitzen und schützen kann, doch anders als andere Kapitalformen – wie etwa das in Ahnenmasken manifestierte ‚symbolische Kapital‘ einer gens – wird diese fama unabhängig von der objektiven ‚Wahrheit‘ als eine Wirklichkeit sui generis gedacht. Wer sich um die res publica bemüht, so Cicero in dem bereits zitierten Brief an Quintus, müsse sich eben nicht nur um die Wahrheit, sondern auch um die fama kümmern. Konkret bedeutet das, dass das eigene Tun – also die ‚Wahrheit‘ – der fama nicht zwingend entsprechen muss. Das führt zu dem Bild einer fama, die ein Eigenleben führen kann und nur bedingt kontrollier- und steuerbar ist, die sich aber auch als eigene abstrahierte Größe beobachten und evaluieren lässt. Das zeigt sich nicht nur bei Cicero, sondern auch in einer ganz anderen Textgattung, die aber letztlich dieselbe aristokratische Lebenswelt widerspiegelt, nämlich den Kaiserbiographien Suetons. Es lohnt sich, diese Texte als Vergleichkontrolle zu Ciceros Korrespondenz heranzuziehen. 66

67 68 69

70

Cic. Cael. 32; Cael. 36; Cael. 38; Cael. 78; dom. 92; har. resp. 38; har. resp. 42; har. resp. 59; Sest. 16; Sest. 39. Die Anspielungen bei Catull (72,2; 79,1) legen nahe (sofern Gleichsetzung von Lesbia mit Clodia zutrifft), dass eine entsprechende fama (auf die Cicero sich in Cic. Cael. 38 explizit beruft) tatsächlich stadtbekannt war. Cic. Phil. 2,44–46. Zu Piso vgl. MEISTER 2009. Cic. dom. 25; dom. 47; Cael. 78; vgl. dom. 26; dom. 83. Zum Vorwurf allgemein vgl. CORBEILL 1996: 99–127. Allgemein zur Konnotation solcher Praktiken vgl. MEYER-ZWIFFELHOFFER 1995: 88–95. Vgl. dazu grundlegend MEYER-ZWIFFELHOFFER 1995: 184–197, der zeigt, dass ein guter Redner vor allem bemüht sein musste, die bereits existierende fama seiner Gegner mit stereotypen Figuren der rhetorischen Invektive in Verbindung zu bringen; vgl. auch MEISTER 2014: 63f. Eine überaus informative Fallstudie zu Invektiven gegen Cicero selbst, die ebenfalls nicht beliebig waren, sowie generell zu Formen der Invektive im spätrepublikanischen Rom bietet VAN DER BLOM 2014.

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4 FAMA UND INFAMIA IN SUETONS KAISERVITEN Die Forschung war Sueton lange Zeit wenig gnädig gesonnen. Ein „Zeichen der niedergehenden Zeit“, sah GINO FUNAIOLI in diesem Werk und moniert in seinem RE-Artikel den „Reichtum an kleinen Anekdoten, Wundergeschichten, seltsamen Zeichen, körperlichen Eigentümlichkeiten, auch an Klatsch der schlimmsten Sorte, überhaupt an unglaubwürdiger Überlieferung.“71

Dass Sueton sich für die Gerüchte über Caesars Affäre mit Nikomedes mehr interessiert als für die Eroberung Galliens, scheint FUNAIOLI schwer verständlich.72 Doch Sueton schreibt eben keine moderne, sondern eine antike Biographie – und das gilt es ernst zu nehmen: Wenn dabei „Klatsch der schlimmsten Sorte“ wichtiger ist als die Eroberung Galliens, dann womöglich aus dem Grund, weil das aus Suetons Perspektive tatsächlich wichtiger war.73 Denn Sueton sammelt nicht einfach Klatschgeschichten. Wie bereits WOLF STEIDLE in seiner wichtigen Studie von 1951 gezeigt hat, interessiert sich Sueton für die fama seiner Protagonisten74 – die Klatschgeschichten dienen ihm dabei als Beleg für eine bestimmte fama bzw. häufiger für infamia.75 So interessiert sich Sueton explizit für die fama pudicitiae Caesars, den Ruf seiner ‚Keuschheit‘. Dieser sei einzig durch das contubernium mit Nikomedes geschädigt worden, dafür aber schwer und hartnäckig.76 Für diese schlechte fama führt Sueton alsdann ‚Belege‘ an, nämlich die diversen Invektiven von Caesars Gegnern, die genau diesen wunden Punkt angriffen, und die Spottlieder seiner Soldaten, die während des Triumphzugs über Gallien sangen, Caesar habe zwar Gallien, Nikomedes aber Caesar unterworfen.77 Das Bonmot des älteren Curio, Caesar sei der Mann aller Frauen und die Frau aller Männer, dient Sueton dann als finaler Beleg, dass Caesar „ohne Zweifel“ unter infamia impudicitiae et adulteriorum litt.78 Auch Augustus musste von früher Jugend an infamia verschiedenster Art über sich ergehen 71 72 73 74 75

76 77 78

FUNAIOLI 1932: 615. EBD. Für eine historisch differenzierte Einschätzung Suetons vgl. WALLACE-HADRILL 1995. STEIDLE 1951: 58–60. Vgl. zum Folgenden auch MEISTER 2014 (bes. 62–64). Der Begriff infamia im Sinne eines explizit ‚schlechten‘ Rufs spielt bei Sueton eine größere Rolle als bei Cicero, bei dem auch der schlechte Ruf in der Regel mit fama wiedergegeben wird (infamia begegnet in den Briefen lediglich neun Mal: Cic. Att. 1,12,3; Att. 1,16,2; Att. 2,21,3; Att. 2,22,2; Att. 4,19[17],2; Att. 16,7,5; fam. 1,1,2; Q. fr. 1,3,9; Q. fr. 3,4,3). Grundsätzlich interessant ist der Terminus, weil er durch die zensorische nota auch eine rechtliche Bedeutung annehmen konnte (vgl. GREENIDGE 1894), dies spielt jedoch bei Sueton keine Rolle und auch bei Cicero scheint der alltägliche Wortgebrauch ein anderer zu sein, was deutlich wird, wenn er erklärt, es wäre besser gewesen, Clodius in seiner infamia zu belassen, statt ihm wegen der bona dea-Affäre den Prozess zu machen (Cic. Att. 1,16,2) – ein eindeutiges Indiz, dass infamia hier nicht in einem rechtlichen Sinne aufgefasst wird. Suet. Iul. 49,1. Suet. Iul. 49,4. Suet. Iul. 52,3.

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lassen.79 Als Belege werden erneut Invektiven der Gegner angeführt. Sueton glaubt dabei keineswegs alles. So vermerkt er explizit, die infamia der inpudicitiae habe Augustus durch seinen späteren Lebenswandel problemlos widerlegen können.80 Doch es geht nicht darum, was Sueton glaubt, sei die ‚Wahrheit‘, sondern darum, was er meint, sei die entsprechende fama gewesen. Das findet sich mehr oder weniger ausgeprägt in allen Viten, wobei die fama durchaus zutreffend sein kann. So hatte Galba, noch bevor er als Kaiser in Rom einzog, eine fama der Grausamkeit und der Habgier. Als er dann in Rom eintraf, so Sueton, habe sich diese fama nicht nur bestätigt, sondern sogar verstärkt.81 Thematisch stehen bei der Beurteilung der fama Sexgeschichten klar im Vordergrund. Besonders schön zu sehen bei Tiberius, wo Sueton erklärt, dieser habe unter einer derart schwerwiegenden und schändlichen infamia gelitten, dass er es kaum über sich bringe, davon zu erzählen82 – nur um dann mit sichtlicher Freude an pikanten Details die angeblichen Orgien des Kaisers auf Capri in den grellsten Farben zu schildern. Sensationslust spielt bei diesen Geschichten sicherlich auch eine Rolle, aber eben nicht nur. Die fama ist bei Sueton etwas, was in eine Biographie gehört und berücksichtigt werden muss. Man kann auch nicht behaupten, Sueton sei den Invektiven von Curio gegen Caesar oder Marcus Antonius gegen Octavian aufgesessen und habe deren Unterstellungen kritiklos übernommen. Sueton ist sich des denunziatorischen Charakters dieser Anschuldigungen bewusst und nimmt sie dementsprechend auch nicht als Beleg für eine Realität. Was diese Invektiven in seinen Augen beweisen, ist lediglich die Existenz einer entsprechenden fama. Hier ist Sueton mit Cicero einig: Die ‚Wahrheit‘ ist das eine, aber gelegentlich kann die fama wichtiger sein. Sueton referiert die angebliche fama seiner Protagonisten daher auch in den Fällen, in denen er eindeutig davon überzeugt ist, dass sie falsch ist: Titus, einer der wenigen Kaiser, die bei Sueton wirklich gut wegkommen, hatte zwar von Natur aus alle guten Anlagen, stand aber dennoch in seiner Jugend in einem schlechten Ruf. Dass Titus als Kaiser dann zum Liebling Aller wurde, war daher nicht die Folge eines Wandels seiner natura – das einzige, was sich änderte, war seine fama.83 Anders als die gleichzeitigen Biographien Plutarchs, die auf den Charakter zielen, ist Sueton sehr viel stärker an der Außenwirkung interessiert. Wie seine Protagonisten wahrgenommen werden, was über sie geredet wird, ist in seinen Augen mindestens so entscheidend wie die Frage nach ihrem tatsächlichen Wesen. Plutarchs Biographien mögen mit ihrem Fokus auf den Charakter der einzelnen Personen ‚moderner‘ wirken, doch Suetons Viten, welche die fama als eine eigene Größe würdigen, die losgelöst vom eigentlichen Sein der Protagonisten existiert, geben das Denken der römischen Aristokratie meines Erachtens sehr viel adäquater wieder. Dabei geht es eben – anders als bei Plutarch – weniger um Mo79 80 81 82 83

Suet. Aug. 68,1. Suet. Aug. 71,1. Suet. Galba 12. Suet. Tib. 44,1. Suet. Tit. 7,1.

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ral in einem absoluten Sinn, sondern um Moral als Kapital, und dieses Kapital wird erst erkennbar und wirksam durch die Klatschkommunikation anderer. Dem trägt Sueton mit seinen aus moderner Sicht vielleicht etwas seltsam geratenen Biographien ebenso Rechnung wie Cicero in seiner Korrespondenz oder Plinius, der Klatsch und Gerüchte als Teil seines negotium betrachtet. 5 DIE BESONDERHEIT DER ANTIKEN STADTGESELLSCHAFT Bleibt zum Abschluss die Frage, inwieweit diese intensive Sorge um die fama ein Spezifikum antiker Aristokratien ist. Für eine definitive Antwort fehlt mir die Vergleichsgrundlage und es bestehen auch gewisse Zweifel, ob die doch sehr unterschiedlichen Quellenbestände aus den verschiedenen Epochen hier überhaupt einen seriösen Vergleich zulassen. Dennoch wage ich zwei Thesen: Die eine betrifft die spezifisch vormoderne Form ‚öffentlicher Meinung‘. In einem 2012 erschienen Sammelband zu politischer Kommunikation und öffentlicher Meinung in der Antike84 untersuchte NIKOLAUS JACKOB die Sprache Ciceros85 und hielt fest, dass es dort durchaus Metaphern wie ‚Urteile‘ oder ‚Meinungen‘ des Volkes oder der Öffentlichkeit gäbe, dass diese sich aber in zentralen Punkten von den Konzeptionen ‚öffentlicher Meinung‘, wie sie seit der Aufklärung begegnen, unterscheiden. In der Vormoderne, so seine Argumentation, habe die ‚öffentliche Meinung‘ vor allem eine soziale Kontrollfunktion: Akteure antizipieren in ihrem Handeln, dass dieses von einer ‚Öffentlichkeit‘ beobachtet und entsprechend den gegebenen moralischen Standards beurteilt wird. Gleichzeitig ist diese ‚öffentliche Meinung‘ aber auch erratisch und unberechenbar: Man ist ihr, wie einer Naturgewalt, ausgeliefert – ein fundamentaler Unterschied zur Vorstellung einer rational-raisonierenden ‚öffentlichen Meinung‘, wie sie in der Aufklärung konzeptualisiert werden sollte.86 Die hier vorgetragene Untersuchung zum antiken Reden über Gerüchte und Klatsch deckt sich mit diesem Befund: Wenn antike Aristokraten in ihren Schriften Klatsch und Gerüchte über sich selbst thematisieren, so versuchen sie damit zu beobachten, wie sie selbst beobachtet und moralisch beurteilt werden. In gewisser Weise sind Gerüchte daher ein Äquivalent zu den Massenmedien, in denen sich in der Moderne die ‚öffentliche Meinung‘ manifestiert. Doch sind sie deshalb keineswegs das „älteste Massenmedium der Welt“:87 Ge84

85 86 87

KUHN 2012; freilich vermögen nicht alle Beiträge in dem Band gleichermaßen zu überzeugen, da meines Erachtens nicht in allen Fällen genügend reflektiert wird, dass die antike Dichotomie publicus – privatus nicht einfach eine metahistorische Übertragung der modernen Konzeption(en) von ‚öffentlich – privat‘ darstellt; vgl. zu dieser Problematik grundlegend WINTERLING 2005. JACKOB 2012. EBD.; vgl. ferner HÖLSCHER 1978 zur Begriffsgeschichte. So lautet der suggestive Untertitel von KAPFERER 1996. Eine komplexe Beschreibung von ‚öffentlicher Meinung‘ in der Moderne aus Sicht der Systemtheorie bietet LUHMANN 2000; dort insbesondere 303–312 zu der zentralen Rolle moderner Massenmedien, die aber nach dem Code ‚Information/Nicht-Information‘ funktionieren und damit einer anderen Codierung

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rüchte sind kein Medium, sie können sich nicht von Klatschkommunikation emanzipieren und als eigenes System spezifische Themen setzen, daher können sie auch nicht ‚kontrolliert‘ oder ‚gesteuert‘ werden. Die römischen Aristokraten, die Klatsch und Gerede vor allem durch entsprechendes Verhalten, das Gegenstand von Beobachtungen wird, und weniger durch das gezielte Verbreiten von Informationen zu beeinflussen suchen, tragen genau diesem spezifischen Charakter einer auf Unmittelbarkeit und sozialer Kontrolle basierenden ‚Öffentlichkeit‘ Rechnung. JACKOB weist aber auch auf ein weiteres Problem hin, das in diesem Kontext ebenfalls relevant ist: Weder Cicero noch andere antike Autoren haben ein durchdachtes Konzept davon, was genau eine ‚Öffentlichkeit‘ oder das ‚Volk‘ konstituiere.88 Dies deckt sich ebenfalls mit dem hier vorgestellten Befund, demzufolge keineswegs immer klar ist, für wessen Gerede man sich interessiert: In vielen Fällen dürfte es sich bei der ‚öffentlichen Meinung‘ primär um eine ‚aristokratische Meinung‘ handeln, aber eben nicht nur – und gerade dieser Umstand, dass antike Aristokraten sich nicht nur für ihr Ansehen bei den Mitgliedern ihrer Statusgruppe interessieren, sondern auch für das, was in breiteren Bevölkerungsschichten über sie geredet wird, scheint mir ein entscheidender Punkt zu sein. Denn eine auf Kontrolle bedachte ‚öffentliche Meinung‘ findet sich mehr oder weniger ausgeprägt in allen Gesellschaften, ist demnach kein Spezifikum der Antike. Spezifisch für die Antike ist freilich die Siedlungsform der Stadt und diese führt, so die zweite These, möglicherweise in der Tat zu einer besonderen Sensibilität der Aristokratie für Klatsch, Gerüchte und Moral als Kapital. MOSES FINLEY bezeichnete die antike Stadt als face-to-face Gesellschaft, die auf direkter Interaktion beruht.89 Diese direkte Interaktion stößt jedoch schon bei vielen griechischen poleis an ihre Grenzen und erst recht in der Weltstadt Rom. Denn eine Stadt ist – anders als ein Dorf – immer auch ein Ort der Anonymität, wo eben nicht jeder jeden kennen kann.90 Diese Anonymität macht die Interaktion mit einem Gegenüber, das einen vielleicht nur vom Hören-Sagen kennt, unberechenbar. Für eine stadtsässige Aristokratie ist diese Situation in doppelter Hinsicht prekär: Einerseits können sie sich aufgrund der räumlichen Situation der Interaktion mit anonymen städtischen Massen kaum entziehen – ein ‚unter sich Bleiben‘ der Aristokratie ist in einer Stadt also nur schwer möglich –, andererseits stehen aber Aristokraten, weil sie Aristokraten sind, unter erhöhter Beobachtung, d. h. sie sind viel mehr Leuten vom Hören-Sagen bekannt, als sie selbst kennen können. Die Versuche der römischen Aristokratie, herauszufinden, was man über sie hört

88

89 90

folgen als die moralische Bewertung nach dem Code ‚gut‘-‚schlecht‘, die für die antike Konzeption von ‚öffentlicher Meinung‘ zentral ist. JACKOB 2012: 182–185 spricht von einem „naiven Konzept“ und weist auf die entsprechende Tendenz antiker Akteure hin, die vermeintliche ‚öffentliche Meinung‘ dementsprechend falsch zu antizipieren; letzteres ist auch ein Thema in dem Beitrag von MORSTEIN-MARX 2012 (bes. 204–213) zur fehlgeleiteten Antizipation der Stimmung in der plebs durch die Caesarmörder. FINLEY 1980: 21. Vgl. WEBER 2000: 1.

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oder sagt, und das unter dem Begriff fama zu einer eigenen Größe zu subsumieren, können dieser Situation geschuldet sein. Daher ist vielleicht in der Tat die Sorge um den guten Ruf und damit die Frage nach ‚Moral als Kapital‘ in antiken Stadtgesellschaften im historischen Vergleich besonders ausgeprägt. BIBLIOGRAPHIE Alexander, Michael C. (2009): The Commentariolum Petitionis as an Attack on Election Campaigns – In: Atheneaeum 97 (2009), S. 31–57, 369–395. Allport, Gordon W. / Postman, Leo (1946/1947): An Analysis of Rumor – In: Public Opinion Quarterly 10.4 (1946/1947), S. 501–517. Dies. (1947): The Psychology of Rumor. New York: Holt 1947. Brokoff, Jürgen / Fohrmann, Jürgen / Pompe, Hedwig / Weingart, Brigitte (Hrsg.) (2008): Die Kommunikation der Gerüchte. Göttingen: Wallstein 2008. Bruhn, Manfred / Wunderlich, Werner (Hrsg.) (2004): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform. Bern: Haupt 2004. Bussemer, Thymian (2008): Propaganda. Konzepte und Theorien. Mit einem Vorwort von Peter Glotz. Wiesbaden: Springer 22008. Corbeill, Anthony (1996): Controlling Laughter. Political Humor in the Late Roman Republic. Princeton: Princeton University Press 1996. Dubourdieu, Annie / Lemirre, Elisabeth (1997): La rumeur dans l’affaire des Bacchanales – In: Latomus 56 (1997), S. 293–306. Eibach, Joachim (1994): Gerüchte im Vormärz und März 1848 in Baden – In: Historische Anthropologie 2 (1994), S. 245–264. Feldherr, Andrew (2008): The Poisoned Chalice. Rumor and Historiography in Tacitus’ Account of the Death of Drusus – In: MD 61 (2008), S. 175–189. Finley, Moses I. (1980): Antike und moderne Demokratie. Stuttgart: Reclam 1980 [erstmals erschienen als: Democracy. Ancient and Modern. New Brunswick: Rutgers University Press 1973]. Flaig, Egon (2003): Wie Kaiser Nero die Akzeptanz der Plebs urbana verlor. Eine Fallstudie zum politischen Gerücht im Prinzipat – In: Historia 52 (2003), S. 351–372. Froissart, Pascal (2001): Historicité de la rumeur. La rupture de 1902 – In: Hypothèses 4 (2001), S. 315–326. Ders. (2002): La rumeur. Histoire et fantasmes. Paris: Belin 2002. Ders. (2008): Rumor – In: Donsbach, Wolfgang (Hrsg.): The International Encyclopedia of Communication. Malden/MA: Blackwell 2008, S. 4431–4433. Funailoli, Gino (1932): s.v. Suetonius (4) – In: RE 4A (1932), Sp. 593–641. Gibson, Bruce J. (1998): Rumours as Causes of Events in Tacitus – In: MD 40 (1998), S. 111–129. Greenidge, Abel Henry Jones (1894): Infamia. Its Place in Roman Public and Private Law. Oxford: Clarendon Press 1894. Hardie, Philip (2012): Rumour and Renown. Representations of ‚Fama‘ in Western Literature. Cambridge: Cambridge University Press 2012. Hölscher, Lucian (1978): Öffentlichkeit – In: Geschichtliche Grundbegriffe 4 (1978), S. 413–467. Jackob, Nikolaus (2012): Cicero und die Meinung des Volkes. Ein Beitrag zu einer neuen Geschichtsschreibung der öffentlichen Meinung – In: Kuhn, Christina (Hrsg.) (2012): Politische Kommunikation und öffentliche Meinung in der antiken Welt. Stuttgart: Steiner 2012, S. 167–190. Jung, Carl Gustav (1910/1911): Ein Beitrag zur Psychologie des Gerüchts – In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 4: Freud und die Psychoanalyse. Olten: Walter 1910/1911, S. 43–57.

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„MIT ENTBLÖSSTER BRUST IN GEZÜCKTE SCHWERTER“ Majestätsprozesse und aristokratische Moral in der frühen Kaiserzeit Simone Blochmann 1 EINLEITUNG In den Quellen – und besonders in den unmittelbar zeitgenössischen – werden die Majestätsprozesse oft mit der zerstörerischen Kraft von Bürgerkriegen verglichen, um zu verdeutlichen, welche Bedeutung die Autoren dem Phänomen beimessen.1 Die Kritik richtet sich sowohl gegen die Kaiser als auch gegen die alltägliche Praxis des Prozesswesens: Im Mittelpunkt steht die Tatsache, dass in solchen Prozessen Aristokraten vor Gericht gegen ihre Standesgenossen vorgingen. Für die Beschuldigten blieb oft allein der Selbstmord als Ausweg. Entsprechend wird dieser in den Quellen besonders hervorgehoben: als Beispiel für die Standhaftigkeit der Beschuldigten, aber auch als Ausweg, der höchstens die individuellen Probleme löst und entsprechend kein Vorbild für ‚richtiges‘ Verhalten darstellt. Zeigen lässt sich an den Diskussionen um die Selbstmorde, dass die zeitgenössischen Kontroversen über das Verhalten, das für einen Aristokraten in solchen Situationen moralisch angemessen erschien, in engem Zusammenhang mit der Praxis der Gerichtsverfahren selbst standen. Für die Frage, warum diesen drastischen Schilderungen der kaiserzeitlichen Prozesse in den Quellen so viel Raum gewidmet wird und warum sie – insbesondere in der Geschichtsschreibung – zum dominierenden Erzählmuster werden, eröffnen sich mit der Neubewertung der Majestätsprozesse in Bezug auf ihre Funktionalität und Dysfunktionalität in der althistorischen Forschung der letzten Jahre neue Perspektiven: Was die Quellen in der Regel auf einen Konflikt zwischen den einzelnen Kaisern und der Aristokratie zuspitzen, lässt sich auch als struktureller Konflikt innerhalb der Aristokratie verstehen.2 Dieser Konflikt mitsamt der Eigendynamik, die er im 1. Jh. n. Chr. entwickelte, ergab sich wesentlich aus spezifisch kaiserzeitlichen Mechanismen, mit denen innerhalb der Aristokratie Hierarchien ausgehandelt wurden. Vor allem ging es darum, die Nähe zum Kaiser herzustellen, wofür es sich besonders gut eignete, mit einem Majestätsprozess demonstrativ die eigene Loyalität zur Schau zu stellen. Wie der Kaiser mit den

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Vgl. z. B. Sen. benef. 3,26; Tac. ann. 6,7,4; Calp. Sic. ecl. 1,58–73; Cass. Dio 58,23,4. Vgl. unter anderem FLAIG 1992: 115f.; DERS. 1993; anhand des Prozesses gegen Thrasea Paetus auch RONNING 2006: 351, 354. Außerdem zu den Majestätsprozessen, wenn auch mit anderen Schwerpunktsetzungen, RUTLEDGE 2001.

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zahlreichen Prozessen umging, war nicht unwichtig, letztlich aber nur ein Teil eines wesentlich komplexeren strukturellen Problems.3 Seine Eigendynamik bezog das Phänomen vor allem auch daraus, dass eine Anklage nicht nur eine Flut von weiteren Anklagen auslösen konnte, sondern oft auch für die nachfolgenden Generationen noch Konsequenzen hatte.4 Damit verfestigten sich die Konfliktlinien dauerhaft (oder hatten zumindest das Potential dazu). Die schwerwiegendste Folge war, dass auf diese Weise der Zusammenhalt innerhalb der Aristokratie als Gruppe permanent gefährdet war, was sich wiederum auch auf die Funktionsfähigkeit des Senats als Gremium negativ auswirkte. Die Zuspitzung auf einen Konflikt zwischen Kaiser und Aristokratie ist vor diesem Hintergrund sekundär bzw. eher als ein Versuch zu verstehen, den Konflikt zu externalisieren. Vor dem Hintergrund dieser feststellbaren Dysfunktionalität der Majestätsprozesse wird der Frage nachgegangen, welcher Stellenwert Moralvorstellungen in diesem Kontext zukam: Wurde darüber in diesen Situationen in besonderer oder intensivierter Form diskutiert und welche Funktion übernahmen moralische Reflexionen im Kontext der Majestätsprozesse? 2 THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUR FUNKTION DER MORAL Für die Fragestellung ist zunächst zu klären, was hier unter Moral verstanden wird und wie sich theoretisch beschreiben lässt, welche Funktion sie hat. Weiterführend sind in dieser Hinsicht vor allem soziologische Konzeptionen, weil dort explizit das Anliegen im Mittelpunkt steht „zu erklären, was faktisch geschieht, wenn mit Bezugnahme auf Moral kommuniziert wird“ und damit genau die Zusammenhänge untersucht werden, die auch hier interessieren: welche Funktion Moral im Gesellschaftsgefüge zukommt.5 Im Anschluss an die Überlegungen NIKLAS LUHMANNS lässt sich Moral systemtheoretisch als eine Möglichkeit verstehen, um komplexe soziale Beziehungen in der Kommunikation zu strukturieren. Diese Kommunikation muss verschiedenen Perspektiven und Identitäten Rechnung tragen; sie funktioniert daher nur, indem diese komplexen Zusammenhänge reduziert werden.6 Eine zentrale Rolle spielt dabei das Ansehen, über das eine Person verfügt bzw. das sie sich erworben hat. Dieses Ansehen – bei LUHMANN als „Achtung“ bezeichnet – basiert auf dem Vertrauen, das dieser Person entge3 4

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Zu diesem Zusammenhang siehe insbesondere FLAIG 1993. Vgl. dazu EICH 2008: 138f. Hier wird die Einordnung der Prozesse als primär inneraristokratischer Konflikt allerdings nicht diskutiert. Vielmehr wird die Rolle des Kaisers deutlich stärker betont als bei der Deutung als inneraristokratischer Konflikt. Im Vordergrund stehen hier die komplexen Beziehungsgeflechte: die Eigendynamik der Prozesse ergibt sich demnach erheblich aus der Verpflichtung zur Rache (vgl. dazu EBD.: 139–145). LUHMANN 1991: 499. Vgl. dazu auch LUHMANN 2012: 97. Ein solches Anliegen versteht sich vor allem in Abgrenzung von philosophischen Theorien zur Moral. Einen guten (wenn auch nicht vollständigen) Überblick von Möglichkeiten, Moral zu konzipieren, gibt POWELL 2013. Vgl. LUHMANN 2012: 97–99.

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gengebracht wird. Das Gelingen der Kommunikation vorausgesetzt, wird auf diese Weise den Perspektiven und Identitäten aller an der Kommunikation Beteiligten Rechnung getragen. Das Ansehen einer Person ist dabei keine objektive Eigenschaft, sondern der Kommunikation ausgesetzt. Das bedeutet, dass sie selbst erst in Kommunikationsprozessen entsteht; es ist „diejenige emergente Symbolisierung, die Moralbildung ermöglicht.“7 Ein zentrales Problem der Moral bzw. moralischer Wertungen ist, dass diese immer und alternativlos in Gegensätzen bipolarer Wertungen strukturiert ist – von LUHMANN wird das als „Bivalenz der Moral“ bezeichnet.8 Das hat zwar den Vorteil, dass in der Reduzierung auf diese gegensätzlichen, sich einander ausschließenden Wertungen in ‚gut‘ und ‚schlecht‘ die Situation für die Akteure überhaupt erst strukturierbar wird. Gleichzeitig wird die Situation damit auch überschaubarer, weil sie in dieser Form der Objektivierung konkrete Verhaltensanweisungen liefert. Sobald die Zuordnung aber nicht mehr eindeutig funktioniert, wird das zu einem Problem, weil an dieser Stelle die grundsätzlichen Strukturierungsmechanismen versagen.9 Ein Problem, das sich bei einer solchen Form der Systematisierung ergibt, besteht also darin, dass sie in ihrer Funktion als Systematisierung nur begrenzt tragfähig ist. „Auch wenn jede Situation moralisch bewertbar ist, besagt dies nicht, daß jede Situation nur moralisch bewertbar ist.“10 Sobald es Alternativen zur moralischen Bewertung einer Situation gibt, steht das Ansehen von Personen daher nicht mehr selbstverständlich im Mittelpunkt der Kommunikation, sondern konkurriert mit anderen Formen der Strukturierung, die ebenfalls für sich in Anspruch nehmen, die soziale Ordnung zu repräsentieren. Diese Alternativen bezeichnet Luhmann als „funktionale Äquivalente“.11 Eine besondere Rolle kommt dem Recht als funktionales Äquivalent zur Moral zu, weil es diesen Anspruch in besonderer Weise formuliert. Denn in seinem Absolutheitsanspruch kann es die oben beschriebenen Probleme moralischer Wertungen neutralisieren, „weil im Konfliktfalle nur noch das Recht zählt“.12 Diese Setzung ist gerade in ihrer Auswirkung auf die Praxis nicht unumstritten,13 in diesem Kontext braucht das aber nicht weiter verfolgt zu werden. Für die hier zu untersuchenden Majestätsprozesse ergibt sich damit, dass zunächst die rechtliche Situation in der frühen Kaiserzeit als Grundlage für die Fälle genauer beleuchtet wird. Nach einem Blick auf das Quellenmaterial, das für die konkreten Majestätsprozesse zur Verfügung steht, wird es schließlich darum ge7 8 9 10 11 12 13

EBD.: 104. Vgl. zu diesen Zusammenhängen EBD.: 97–107 (bes. 102ff.). Vgl. EBD.: 115. Vgl. EBD.: 116–118. EBD.: 116. EBD.: 123. EBD.: 128. Ein guter Überblick über die Probleme, die sich daraus ergeben, findet sich bei HEIMER 2013. Sie diskutiert die Zusammenhänge als drei Möglichkeiten, das Verhältnis von Recht und Moral zueinander zu bestimmen: 1. Moral und Recht, 2. Moral des Rechts, 3. Moral oder Recht. Für einen Forschungsüberblick vgl. HEGTVEDT/SCHEUERMAN 2013.

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hen, der oben aufgeworfenen Frage nachzugehen, welche Bedeutung Moralvorstellungen bei den Majestätsprozessen zukam oder zugewiesen wurde. 3 MAJESTÄTSPROZESSE UND RECHT Die rechtliche Grundlage der Majestätsprozesse zu rekonstruieren, erweist sich als schwierig. Das zeigt auch der Blick auf die Forschung: Zwar ist man sich über die Grundzüge einig, für die systematische Rekonstruktion im Detail gilt das aber keineswegs, was im Wesentlichen dem heterogenen Quellenbefund geschuldet ist.14 Konsens besteht darüber, dass eine lex Iulia de maiestate die gesetzliche Grundlage für die Majestätsprozesse bildete, die sich im Wesentlichen auf die republikanische Praxis bezog.15 Über diesen Befund hinaus ergeben sich allerdings einige Probleme, wie RICHARD BAUMAN feststellt: „There is much confusion about the nature of the crimen maiestatis in the Principate, and the original cause is to be found in the primary sources, which seem quite unable to achieve a stable position either terminologically or conceptually.“16 Rekonstruktionsversuche des Gesetzesinhalts basieren daher im Wesentlichen auf den Digesten. Entsprechend schwierig ist es auf dieser Grundlage aber, Inhalt, Umfang und Anzahl der Gesetze sowie deren Entstehung genau zu datieren. Weitere Hinweise zu den Bestimmungen in der frühen Kaiserzeit finden sich darüber hinaus in verstreuten Hinweisen oder Bezugnahmen auf konkrete gesetzliche Regelungen in den literarischen Quellen, die zumindest zum Teil annähernd zeitgenössisch sind. Beispielsweise bezieht sich Tacitus, wenn er einzelne Fälle erörtert, immer wieder auf konkrete Inhalte der gesetzlichen Regelungen.17 Sichtbar wird daran vor allem,

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Eine ausführliche Diskussion der rechtlichen Grundlagen gibt BAUMAN 1979. Siehe Dig. 48,4. BAUMAN 1979: 2. Tac. ann. 4,34,4 – der Kontext ist die Rede des Cremutius Cordus. Tacitus bezieht sich damit auf die lex Iulia, wie sie sich in Dig. 48,4 findet. Im Zusammenhang mit der Erzählung über das Schicksal des Silanus (vgl. Tac. ann. 3,24,2) deutet Tacitus außerdem die ursprünglichen Grenzen des Gesetzes unter Augustus an. Zur inhaltlichen Differenzierung dessen, was als Straftatbestand gelten sollte Tac. ann. 1,72,4: „mox Tiberius consultante Pompeio Macro praetore, an iudicia maiestatis redderentur, exercendas leges esse respondit. hunc quoque asperavere carmina incertis auctoribus vulgata in saevitiam superbiamque eius et discordem cum matre animum.“ / „Später gab Tiberius auf die Anfrage des Prätors Pompeius Macer, ob gerichtliche Verhandlungen über Majestätsprozesse zugelassen werden sollten, zur Antwort, Gesetze müsse man anwenden. Auch ihn erbitterten die von unbekannten Verfassern verbreiteten Spottgedichte auf seine Grausamkeit, seinen Hochmut und seine Unfähigkeit, sich mit seiner Mutter zu vertragen.“ (Übers.: HELLER). Für die Zuordnung der Fälle in der Kaiserzeit vgl. MOMMSEN 1899: 583ff.; dazu auch KOESTERMANN 1955: 77, Anm. 11. „Bei seinem kurzen historischen Überblick über die Entwicklung der Majestätsprozesse bis zum Prinzipat des Tiberius 1,72,2f. legt Tacitus Gewicht auf die Feststellung, dass im Gegensatz zur früheren Praxis erstmalig unter Augustus procacia verba, die sich überdies nicht gegen die maiestas des populus Romanus, sondern gegen bestimmte Einzelpersonen gerichtet hätten, zu einer strafrechtlichen Verfolgung im Rahmen der lex maiestatis geführt hatten. […] Nach ann.

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dass der Straftatbestand gegenüber der republikanischen Praxis einige Erweiterungen erfuhr, weil man sich mit den veränderten soziopolitischen Strukturen des Prinzipats auch mit neuen juristischen Problemen konfrontiert sah. Ein zentrales Problem war die Frage, die sich in tiberischer Zeit neu stellte und bei der – ebenso wie auch bei anderen Vergehen – unklar ist, inwieweit sie in die Kategorien der existierenden Rechtslage integriert wurde bzw. überhaupt integrierbar war, nämlich wie man mit dem divus Augustus umging. Die Konsequenzen, die sich aus solchen Fragen der Zuordnung für die Praxis ergaben, sind nicht zu unterschätzen.18 Nicht eindeutig ist auch, was genau mit den Änderungen ursprünglich beabsichtigt war. Um dem nachzugehen, kommt erschwerend hinzu, dass sie noch nicht einmal genau zu datieren sind. Insgesamt ist über die ursprüngliche Intention, die hinter der Übertragung der Gerichtsbarkeit über die Standesgenossen auf den Senat stand, jedenfalls kaum etwas bekannt.19 Cassius Dio zufolge ging es bei der Entscheidung in augusteischer Zeit primär darum, den Zusammenhalt innerhalb der Senatsaristokratie in Abgrenzung von den Rittern zu stärken.20 Eine vergleichbar positive Darstellung findet sich in den Quellen in der Zeit nach Augustus nicht, vielmehr wird sie ins Gegenteil verkehrt. Ein Grund für ein solches Urteil dürfte sein, dass selbst wenn die Änderungen gesellschaftliche Hierarchien hätten schärfen sollen, sich diese in der Praxis anders auswirkten. Das Problem ergab sich dadurch, dass die Konfliktlinien, die sich mit den Majestätsprozessen offenbarten, im Senat potentiell vorgezeichnet waren. Denn schon in republikanischer Zeit war die neu geregelte Gerichtsbarkeit extrem unpopulär; es ergab sich

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4,21,3 fand die Verhandlung in einem betont feierlichen Rahmen im Senat statt, durch dessen Verdikt (iudicio iurati senatus) Cassius nach Kreta verbannt wurde.“ (EBD.: 79f.). So auch BAUMAN 1979: 15: „The two tentative ventures of Augustus, the one into asebeia/impietas on an extra-legal basis and the other into defamation under the aegis of the lex maiestatis, raised a dichotomy that was to plague the crimen maiestatis for the rest of its history. Difficulties began being encountered almost immediately after the accession of Tiberius, and they were engendered above all by the asebeia/impietas formulations of 2 B.C.“ Eine Möglichkeit von Seiten der Kaiser, diesem Problem zu begegnen, war die amicitia aufzukündigen. Eine endgültige Lösung des Problems war das aber nicht und bedeutet nicht zwangsläufig, dass sich damit die Situation in der frühen Kaiserzeit erfassen lässt (vgl. dazu BAUMAN 1979: 12f.). Die Quellenlage deutet vielmehr eher darauf hin, dass die Klärung der Frage, wann und unter welchen Umständen ein Vergehen als Majestätsvergehen zu werten war, nicht eindeutig geregelt und entsprechend problematisch war (vgl. Dig. 48,4,7,3). Ähnlich offen ist auch, wie die Vergehen jeweils gewichtet wurden, auf der Basis der Rechtslage scheint das kaum möglich. Vgl. dazu BAUMAN 1979: 3–25, 3–12 zur terminologischen Differenzierung in den Quellen und den Konsequenzen für die Rekonstruktion; speziell zum divus Augustus 71–82. Welche Bedeutung diesem Problem beigemessen wurde, illustriert Plinius der Jüngere in seinem Paneygricus (Plin. paneg. 11,1f.): „dicavit caelo Tiberius Augustum, sed ut maiestatis crimen induceret […]. tu siderius patrem intulisti non ad metum civium […].“ / „Tiberius hat den Augustus zum Gott erhoben – um die Anklage wegen Majestätsverletzung einzuführen […]. Du aber hast deinen Vater zu den Sternen erhoben, nicht um die Bürger in Schrecken zu versetzen […].“ (Übers.: KÜHN). Vgl. LEVICK 1979: 374. Vgl. Cass. Dio 52,32.

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allein schon durch die zahlreichen homines novi und den dadurch beschleunigten demographischen Wandel innerhalb der Senatsaristokratie in der frühen Kaiserzeit ein erhebliches Konfliktpotential. Solche Bemühungen, wie Cassius Dio sie Augustus attestiert, sind damit grundsätzlich zumindest nicht unplausibel; in den späteren Quellen – die Darstellung des Cassius Dio stellt in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar – steht dagegen eher die Bewertung mit dem Wissen um die historische Entwicklung im Vordergrund, womit gleichzeitig die Trennung von Intention und Wirkung an diesem Punkt verwischt.21 Zu berücksichtigen bleibt außerdem, dass insbesondere bei den augusteischen Maßnahmen immer eine gewisse Ambivalenz bestehen bleibt, was deren genauere Einordnung zusätzlich erschwert. Möglicherweise war es aber auch genau diese Ambivalenz, die gewollt war. Denn angelegt dürften diese Mehrdeutigkeiten zum einen in Ansprüchen und Bedürfnissen gewesen sein, die kaum miteinander zu vereinbaren waren. Zum anderen dürften sich die Mehrdeutigkeiten auch aus der schrittweisen und situationsgebundenen Entwicklung ergeben haben.22 In tiberischer Zeit war die Übertragung der Gerichtsbarkeit von den Quaestionengerichten auf den Senat weitgehend abgeschlossen. Die Majestätsprozesse gewannen in dieser Zeit aber erst eine neue Qualität.23 Zur Eigendynamik dieser Prozesse dürfte wesentlich beigetragen haben, dass es mit der lex maiestatis zwar eine gesetzliche Grundlage gab. Diese konnte, wie die Schwierigkeiten der Systematisierung zeigen, aber nur scheinbare Sicherheit im Umgang mit solchen Fragen vermitteln. Jedenfalls ist es außerordentlich schwierig zu erkennen, inwieweit die Gesetze den Straftatbestand und den Umgang mit der Anklage klar regeln konnten. Die Überlieferungslage deutet eher darauf hin, dass es in dieser Hinsicht erhebliche Spielräume gab – auch wenn sich immer wieder Versuche finden lassen, die rechtliche Lage zu schärfen.24 Die Diskussionen über den Umgang mit 21 22

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Vgl. RUTLEDGE 2001: 47f. Siehe dazu LEVICK 1979 (bes. 373f.); EBD. 1976: 184. Zu den frühen Prozessen siehe Suet. Tib. 8; Cass. Dio 54,3. GRIFFIN 1997: 254f. stellt auf der Grundlage des SC Pisone Patre in Frage, ob der Senat überhaupt das letztgültige Urteil in solchen Angelegenheiten fällte. Die Unsicherheiten, die sich bei der Deutung dieser Formulierung ergeben, dürften allerdings eher der allmählichen Entwicklung der senatorischen Gerichtsbarkeit geschuldet sein, zumal später mehrmals explizit die Endgültigkeit des senatorischen Urteils bestätigt wurde. Vgl. dazu Kap. 4. Für einen Überblick über die Verfahrensabläufe siehe TALBERT 1984: 480– 488; RUTLEDGE 2001: 16–18. Vgl. Anm. 17. Dazu gehört auch, dass von den Kaisern erwartet wurde, dass sie sich klar gegen die Weiterführung der Majestätsprozesse aussprachen, was in ritualisierter Form zum Herrschaftsantritt geschah (dazu BAUMAN 1979, 191–214). Vgl. z. B. Cass. Dio 59,4,3f.: „τά τε τῆς ἀσεβείας ἐγκλήµατα παύσας πλείστους ὅσους ἐπ‘ αὐτοῖς ἀπώλεσε. καὶ τοῖς συστᾶσιν ἐπί τε τὸν πατέρα καὶ ἐπὶ τὴν µητέρα τούς τε ἀδελφοὺς αὐτοῦ τήν τε ὀργὴν ἀφείς, ὡς ἔλεγε, καὶ τὰ γράµµατα αὐτῶν καταφλέξας, παµπληθεῖς ἐξ αὐτῶν ἀπέκτεινε […].“  /  „Den Anklagen wegen Majestätsbeleidigung setzte er wohl ein Ende, nahm sie aber gleichwohl zum Anlaß, um zahllose Menschen zu töten. Auch hatte er nach seinen eigenen Worten denen verziehen, die gegen seinen Vater, seine Mutter und seine Brüder konspirierten, und ihre Briefe verbrannt […].“ (Übers.: VEH). Skeptischer als BAUMAN gegenüber solchen Zusagen sind KEAVENEY/MADDEN (1998): 316. Dass solche Zusagen keine wirkliche Sicherheit schufen, räumt auch Bauman ein, denn bindend waren sie für den Kaiser nicht. Außerdem konnten, wie die

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den einzelnen Anklagen dürfte dies insgesamt angeheizt (zumal, wie oben erwähnt, die Gerichtstätigkeit an sich den Senat strukturell überforderte) und zur Verunsicherung und situationsgebundenen Handhabung beigetragen haben. Eine Durchsicht der einzelnen Fälle in den Quellen bestätigt das. Der Regelungsbedarf betraf auch die Verfahrenspraxis. Jedenfalls ordnete Tiberius im Jahr 21 n. Chr. an, dass Beschlüsse des Senats erst zehn Tage im aerarium zu liegen hätten, bevor das Urteil vollstreckt wurde. Hintergrund für diese Regelung durch den princeps war die überstürzte Hinrichtung des Clutorius Priscus.25 Während des Prozesses war es auch die Rolle des Kaisers, die abhängig von seinem Auftreten für Sicherheit oder Unsicherheit sorgte. Der Kaiser spielte bei der Entscheidungsfindung eine zentrale Rolle. Das gilt vor allem, weil es bei den Majestätsprozessen um die Verurteilung eines Standesgenossen in einem am Konsens orientierten Gremium ging (dessen wesentliches Strukturmerkmal in solchen Situationen zu Gunsten des kompetitiven Elementes regelmäßig in Frage oder auf die Probe gestellt wurde). So konnte der Kaiser in derartigen Situationen in die Entscheidungsfindung eingreifen. Dies tat beispielsweise Tiberius im PisoProzess 20 n. Chr.: Als die Vorschläge eingebracht wurden, von denen Tacitus berichtet, dass sie weit über die üblichen Strafen hinausgingen, betonte Tiberius, sich an traditionellen, republikanischen Verhältnissen zu orientieren. Für die Urteilsfindung war das zentral. Entsprechend erscheinen die übrigen Vorschläge im Senatsbeschluss auch nicht mehr.26 Das Auftreten des Kaisers konnte aber auch zur Unsicherheit beitragen, sobald die Meinung des Kaisers nicht deutlich genug ersichtlich oder die Reihenfolge der Stimmabgabe nicht klar geregelt war.27 Festhalten lässt sich damit, dass sich zwar für die severische Zeit mit den Digesten Regelungsversuche finden; insgesamt war die Strafpraxis aber gerade in der frühen Kaiserzeit von einer ‚juristischen Grenzenlosigkeit‘ geprägt, die den Umgang für alle Beteiligten wenig plan- oder vorhersehbar machte.28 Die lex Iulia

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Entwicklung unter Claudius zeigt, solche Zusagen nicht verhindern, dass andere Straftatbestände – das gilt insbesondere für jene der lex Cornelia de iniuriis – genutzt wurden, um Prozesse fortzuführen (vgl. BAUMAN 1979: 109–113 zur renuntiatio amicitiae; 191–204 zur lex Cornelia de iniuriis). Siehe Cass. Dio 57,20 (bes. Cass. Dio 57,20,4 [Xiph. 137,17–140,7]); Tac. ann. 3,49–51 (bes. ann. 3,51,1f.). Dazu LEVICK 1976: 186; GARNSEY 1970: 34. Dazu FLOWER 1998: 171. Tac. ann. 3,10–15. Zum Auftreten des Tiberius insbesondere ann. 3,12,1: „die senatus Caesar orationem habuit meditato temperamento.“ / „Am Tag der Senatssitzung hielt der Kaiser eine Rede von wohlüberlegter Ausgewogenheit.“ (Übers.: HELLER). Außerdem zu dessen Besonnenheit in der aufgeheizten Atmosphäre 3,14,4: „simul populi ante curiam voces audiebantur: non temperaturos manibus, si patrum sententias evasisset. effegiesque Pisonis traxerant in Gemonias ac divellebant, ni iussu principis protectae repositaeque forent.“ / „Gleichzeitig hörte man vor der Kurie Rufe des Volkes: Man werde Tätlichkeiten nicht scheuen, wenn Piso durch die Abstimmung der Senatoren davonkäme. Und schon hatten sie Bilder Pisos zur Gemonischen Treppe geschleppt und wollten sie zertrümmern, wenn sie nicht auf Befehl des princeps davor geschützt und zurückgebracht worden wären.“ (Übers.: HELLER). Vgl. für Beispiele KOESTERMANN 1955: 88ff. MOMMSEN 1899: 591. Vgl. auch RILINGER 1988: 216.

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stellte zwar die gesetzliche Grundlage für die Prozesse dar – oft kombiniert mit anderen Anklagen, z. B. wegen Ehebruchs. Eine wirklich verlässliche Handhabung im Sinne einer eindeutigen Grundlage bot sie aber nicht. Dafür sprechen auch zahlreiche Eingriffe in die Rechtsgrundlage und die Verfahrenspraxis, die dokumentiert sind.29 Solche Präzisierungsversuche sind – auch in Bezug auf andere Anklagen – schon unter Tiberius greifbar.30 In der Praxis bestand nicht nur in Bezug auf die gesetzlichen Grundlagen erhebliche Unsicherheit. Auch sonst geltende prozessuale Regeln wurden – nicht nur in Bezug auf die Rolle des Kaisers – nicht oder nur bedingt eingehalten.31 Eine Rekonstruktion der Praxis sieht sich daher mit einigen Problemen konfrontiert, weil es keine einheitliche Praxis gab, sondern der Umgang mit den Anklagen immer situationsgebunden blieb, so dass sich mit den Worten Barbara Levicks festhalten lässt: „Maiestas […] was not straightforward. The nature of the offence made it a peculiarly flexible weapon in the political game.“32 4 DER BEFUND: MAJESTÄTSPROZESSE IN DER FRÜHEN KAISERZEIT Neben der rechtlichen Situation wurde bisher nur festgestellt, wie die kaiserzeitlichen Autoren die Majestätsprozesse und deren Ausmaß allgemein wahrgenommen haben. Es stellt sich aber die Frage, wie und ob sich das Ausmaß auch unabhängig von diesen subjektiven Eindrücken (selbst wenn sich diese ähneln) anhand der dokumentierten Fälle nachvollziehen lässt. Wenn man die literarischen Quellen zur frühen Kaiserzeit auf die namentlich dokumentierten Fälle systematisch durchgeht, um den Umfang der Majestätsprozesse zu erfassen, ergibt sich ein 29

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Vgl. Tac. ann. 3,25 für die Ehegesetzgebung. Vgl. für die augusteische Zeit: Cass. Dio 54,3,6: Regelung der Abstimmungspraxis 22 v. Chr. Für die tiberische Zeit Tac. ann. 3,51,1f.; Cass. Dio 57,20 (Xiph. 137,17–140,7): Einführung der 10-Tages-Regelung (21 n. Chr.); Tac. ann. 3,56: direkter Eingriff des Kaisers, hält accusatores zurück (22 n. Chr.); ann. 4,30: Diskussion im Senat über die Belohnung von Anklägern, Änderungen durch Einspruch des Tiberius verhindert (24 n. Chr.); Cass. Dio 58,21,5: Tiberius befiehlt die Bestrafung von Denunzianten (um 31 n. Chr.). Für die claudische Zeit: Cass. Dio 60,28 (Petr. Patr. Exc. de leg. G2 [HOESCH. P. 15 = fr. 3 Muell. Fragm. Hist. Gr. 4 p. 184 sq.]): Claudius entscheidet auch in Abwesenheit des Angeklagten. Für die Schwierigkeiten, Verbrechen de maiestate, de adulteriis oder de repetundis in der Praxis klar diesen Kategorien zuzuordnen, vgl. GARNSEY 1970: 34. Vgl. dazu LEVICK 1976: 180–200. In diesem Sinn weist RILINGER 1988: 213 darauf hin, dass Sklaven und Freigelassene ihre Herren anklagen konnten; gleiches galt auch für andere gesellschaftliche Gruppen wie Soldaten, Infamierte und Frauen. Von Seiten der Kaiser wurden diese Möglichkeiten aber immer weiter eingeengt – allerdings waren diese Entwicklungen schrittweise; für die frühe Kaiserzeit ist vor allem wichtig, dass die Möglichkeiten, die Personen niedrigen Ranges damit besaßen, als ein erheblicher Unsicherheitsfaktor wahrgenommen wurden. LEVICK 1976: 183. So auch EDWARDS 2007, 121: „[A] central characteristic of this imperial system was precisely its unpredictability.“ Das Zitat bezieht sich grundsätzlich auf das fehlende System im Umgang mit Belohnungen, lässt sich aber durchaus verallgemeinern.

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Bild, das von der Wahrnehmung der Autoren tatsächlich nicht weit entfernt ist. Erkennen lässt sich zunächst, dass die Fälle seit tiberischer Zeit sprunghaft anstiegen und oft, aber nicht ausschließlich, im Kontext von akuten politischen Krisen (wie Verschwörungen, dem Sturz einflussreicher Personen oder der offenen Nachfolgefrage33) auftraten. Ebenso auffällig wie solche Zusammenhänge ist aber auch, wie viele der Fälle mit dem Selbstmord der angeklagten Person nicht zwingend endeten, aber verbunden waren.34 Mit einer solchen Übersicht sind zunächst zahlreiche Probleme verbunden: Einerseits liegt das daran, dass die antiken Autoren in der Darstellung bereits eine Vorauswahl bzgl. besonders spektakulärer Fälle getroffen haben. Andererseits hat die Darstellung immer auch den Zweck, einzelne Herrscher anhand des Umgangs mit Majestätsprozessen moralisch zu bewerten.35 Außerdem lassen sich die Anklagen nicht immer eindeutig zuordnen: Anklagen von Delatoren konnten auf der lex maiestatis basieren, waren oft aber auch mit Repetundenprozessen oder Anklagen wegen Ehebruchs verbunden – alles Vergehen, die sich auf aristokratische Moralvorstellungen bezogen und ähnlich unpräzise in ihrem Inhalt waren.36 Dann lassen sich nur solche Fälle einbeziehen, die sich bestimmten Personen zuordnen lassen. Oft wird in den Quellen allerdings auch zusammenfassend erwähnt, dass es „viele“ gewesen seien, die Opfer der Prozesse wurden, oder dass es weitere Prozesse gegeben habe, auf die man nicht näher eingehe.37 Dazu kommt, dass 33

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Zu diesem Zusammenhang siehe FLAIG 1993: 290 – auch wenn sich die vielen Majestätsprozesse unter Tiberius sicher nicht allein damit erklären lassen, sondern auf dem Zusammenwirken vieler Faktoren beruhten. Vgl. z. B. Tac. ann. 3,15; ann. 4,30; ann. 4,35; ann. 6,18; Cass. Dio 58,24. Dazu auch EDWARDS 2007: 117. Vgl. dazu KOESTERMANN 1955: 97. Demnach habe Tacitus seine Fälle nach folgenden Kriterien ausgewählt: 1. Prozesse, „in denen das Auftreten der Delatoren und deren Individualität seine besondere Aufmerksamkeit erregte“, 2. „solche, in denen Tiberius irgendwie stärker hervortrat“. Vgl. die Versuche in tiberischer Zeit, diesem Phänomen zu begegnen: dazu gehörte die lex sumptuaria aus dem Jahr 22 n. Chr. (vgl. Tac. ann. 3,52–55). Dazu KOESTERMANN 1955: 102; LEVICK 1976: 182ff. (bes. 185). Siehe z. B. Tac. ann. 4,36: „ceterum postulandis reis tam continuus annus fuit […].“ / „Im übrigen folgten die Vorladungen in diesem Jahr so ununterbrochen […].“ (Übers.: HELLER). Tac. ann. 6,9,3: „acervatim ex eo Annius Pollio, Appius Silanus Scauro Mamerco simul ac Sabino Calvisio maiestatis postulantur et Vinicianus Pollioni patri adiciebatur […].“ / „In einem Massenverfahren wurden anschließend Annius Pollio und Appius Silanus zusammen mit Scaurus Mamercus und Sabinus Calvisius wegen Majestätsverbechens angeklagt und Vinicianus seinem Vater Pollio beigesellt […].“ (Übers.: HELLER). Cass. Dio 58,14,2: „καὶ ἐκείνων τε οἱ πλείους ἡλίσκοντο ἐφ’ οἷς πρότερον ἐφθονοῦντο, καὶ οἱ ἄλλοι κατεδίκαζόν σφων ἐφ’ οἷς πρότερον ἐψηφίσαντο. καὶ συχνοὶ καὶ τῶν κεκριµένων τε ἐπί τισι καὶ ἀφειµένων καὶ κατηγορήθησαν αὖθις καὶ ἑάλωσαν ὡς καὶ τὴν ἐκείνου χάριν τότε σωθέντες.“ / „Die Mehrzahl von ihnen wurde der Handlungen überführt, derenwegen sie zuvor beneidet worden waren, und ihre Mitbürger erklärten sie der Beschlüsse wegen für schuldig, die sie selbst ehedem getroffen hatten. Viele, die Gegenstand verschiedener Anklagen gewesen und davon freigesprochen worden waren, wurden erneut vor Gericht geladen und verurteilt, als seien sie seinerzeit dem nunmehr gestürzten Manne zu Liebe geschont worden.“ (Übers.: VEH). Cass. Dio 58,23,5: „τοσοῦτο γὰρ πλῆθος τῶν τε ἄλλων καὶ τῶν βουλευτῶν ἐξώλετο ὥστε τοὺς ἄρχοντας

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nicht alle erwähnten Verfahren in jedem Fall eindeutig als Majestätsprozesse benannt werden oder erkennbar sind – diese Fälle werden hier allerdings genau deswegen nicht berücksichtigt. Ein weiteres Problem ist die Überlieferungssituation zu den einzelnen Kaisern: Da diese nicht einheitlich bei den einzelnen Autoren behandelt, unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden bzw. nicht alles überliefert ist, stellt sich insgesamt die Frage, als wie repräsentativ der Befund auf der Grundlage der Überlieferungssituation angesehen werden kann und ob es überhaupt möglich ist, genaue Zahlen zu ermitteln. Die Fälle können damit lediglich eine erste Annäherung darstellen und sind vor allem nicht als absolute Zahlen zu verstehen. Nutzen lassen sie sich allerdings durchaus: Zum einen bestätigen sie das Bild, dass die kaiserzeitlichen Autoren immer wieder und oft nur pauschalisierend über das Ausmaß der Majestätsprozesse formulieren. Zum anderen lässt sich auf diese Weise auch erkennen, was schon für die rechtliche Situation festgestellt wurde, nämlich wie gering die Regelungsmechanismen in diesen Prozessen ausgeprägt waren. Mit Blick auf die zahlreichen Selbstmorde, soll dieser Punkt im Folgenden genauer beleuchtet werden. 5 MAJESTÄTSPROZESSE UND MORAL Selbst wenn mit der Dokumentation des Befundes zu den Majestätsprozessen zahlreiche Probleme verbunden sind, ist auffällig, dass etwa die Hälfte der in den Quellen genauer nachvollziehbaren Fälle mit Selbstmorden in Zusammenhang steht.38 Der Umstand, dass diese Selbstmorde in der Regel verübt wurden, bevor das drohende Verfahren überhaupt eröffnet wurde,39 liefert vor dem Hintergrund

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τοὺς κληρωτοὺς τοὺς µὲν ἐστρατηγηκότας ἐπὶ τρία τοὺς δ’ ὑπατευκότας ἐπὶ ἓξ ἒτη τὰς ἡγεµονίας τῶν ἐθνῶν, ἀπορίᾳ τῶν διαδεξοµένων αὐτούς, σχεῖν.“ / „[…] [D]enn neben anderen her fanden so viele Senatoren den Tod, daß in Ermangelung geeigneter Nachfolger die durchs Los bestimmten Beamten, soweit sie Expraetoren waren, drei Jahre und Exkonsuln sechs Jahre ihre Provinzen leiteten.“ (Übers.: VEH). Cass. Dio 59,13,3: „οὐδὲ γὰρ οὐδὲ τῷ πλήθει ἔτι τι ἐχαρίζετο […].“ / „Es gab in der Tat nur noch Mord […].“ (Übers.: VEH). Konkreter nachvollziehbar ist das auch hier wieder vor allem für die tiberische Zeit: Von 36 Prozessen waren 18 mit dem Selbstmord des Angeklagten verbunden; unter Caligula waren es drei von fünf namentlich bestimmbaren Fällen. Vgl. zu dem Problem, einzelne Majestätsprozesse unter Caligula klar zuzuordnen, auch KEAVENEY/MADDEN 1998: 319f. Für die claudische Zeit stellt sich das Problem, dass die Quellenlage äußerst disparat ist: Nach der Apocolocyntosis (Sen. apocol. 14,1) fanden in der fraglichen Zeit 35 Senatoren und 221 Ritter den Tod. Abgesehen von ein paar Namen, die Seneca nennt, lassen sich die genaueren Umstände damit aber nicht nachvollziehen. Darüber hinaus lassen sich genauere Zahlen nur schwer ermitteln; allerdings finden sich bei Tacitus und Cassius Dio immer wieder Formulierungen, die die Ausmaße der Prozesse illustrieren sollen. In diesem Kontext wird aber der Zusammenhang mit Selbstmorden deutlich hergestellt (siehe dazu unten). Vgl. z. B. Tac. ann. 3,15 (Cn. Piso); ann. 4,28,2 (Caecilius Cornutus); ann. 6,9 (Sex. Vistilius). Zusammenfassend auch Cass. Dio 58,15,1: „τῶν οὖν αἰτιαθέντων συχνοὶ µὲν καὶ κατηγορήθησαν παρόντες καὶ ἀπελογήσαντο, καὶ παρρηςίᾳ γε εἰσὶν οἳ µεγάλῃ ἐχρήσαντο· οἱ δὲ δὴ πλείους αὐτοὶ ἑαυτοὺς πρὶν ἁλῶναι διέφθειραν.“ /   „Viele Angeklagte waren persönlich zugegen, um die Beschuldigungen anzuhören, und führten auch ihre Verteidigung, wobei einige

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der unsicheren Rechtslage Erkenntnisse, die sich mit den kaiserzeitlichen Diskussionen über die Majestätsprozesse allgemein und über den Selbstmord an sich in Beziehung setzen lassen. Da sich die Praxis der Majestätsprozesse nicht von der spezifischen Darstellung in den Quellen trennen lässt, ist zunächst danach zu fragen, wie die Majestätsprozesse dargestellt wurden. Im Anschluss daran gilt es nach ihrer Funktion vor dem Hintergrund der kaiserzeitlichen Praxis zu fragen. Nachvollzogen werden soll das vor allem anhand der Diskussionen um den Selbstmord, da diesem in der Darstellung der Majestätsprozesse eine zentrale Bedeutung zukommt. Als Alternative zur Hinrichtung ist der Selbstmord seit dem Ende des 2. Jhs. v. Chr. in den Quellen greifbar. Als senatorisches Privileg trug er dem Status des Angeklagten Rechnung, weil die Wahl des Todes das gesellschaftliche Ansehen sicherte.40 Das lässt sich auch für die frühe Kaiserzeit nachvollziehen; im Zuge der vielen Majestätsprozesse, die die kaiserzeitlichen Autoren für diese Zeit dokumentieren, erhält der Selbstmord aber gleichzeitig eine neue Dimension. Auffällig ist allein schon der Befund, dass die meisten Selbstmorde, die für das 1. Jh. n. Chr. bekannt sind, unmittelbar mit maiestas-Anklagen zusammenhängen. Catherine Edwards unterscheidet beim Selbstmord verschiedene Kategorien:41 Selbstmord nach der Verurteilung bzw. dem Schuldspruch, der aber die Wahl des Todes lässt; Selbstmord vor der Verurteilung; Selbstmord allein auf der Grundlage von Gerüchten über die drohende Anklage – dazu zählt auch die Aufkündigung der kaiserlichen amicitia. Die meisten Selbstmorde, die im Kontext von Majestätsprozessen überliefert sind, fallen in die zweite und dritte Kategorie, was die Frage aufwirft, ob dem Selbstmord im Hinblick auf die Verurteilung im Kontext eines Majestätsprozesses eine besondere Funktion zukam. 5.1

Diskussionen über die Majestätsprozesse und aristokratische Moral

Wenn man danach fragt, wie die Majestätsprozesse der frühen Kaiserzeit dargestellt wurden, fällt zunächst auf, welche Bedeutung den Prozessen bei allen Autoren eingeräumt wird – insbesondere in den zeitgenössischen oder zeitnah entstandenen Quellen. Dominierend ist dabei, wie bereits erwähnt, der Vergleich mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen. In ihrer Studie „Death in Ancient Rome“ hat Catherine Edwards gezeigt, dass sich das Heraufbeschwören von Bürgerkriegsszenarien als Leitmotiv durch die unzähligen Darstellungen der kaiserzeitlichen Majestätsprozesse zieht. Verdeutlicht werde dadurch, wie sehr die Prozesse als

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großen Freimut an den Tag legten, die Mehrzahl freilich beging noch vor der Verurteilung Selbstmord.“ (Übers.: VEH). Vgl. dazu EDWARDS 2007: 117. Vgl. EBD.

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Perversion der Gesetzgebung und als allgemeiner Zusammenbruch moralischer Wertmaßstäbe wahrgenommen wurden.42 Wichtig ist, dass sich die Bezugnahme auf moralische Kategorien nicht in der einfachen Gegenüberstellung von Kaiser und Senat erschöpft, sondern die Anspielungen auf die Bürgerkriege komplizierter gestaltet sind. Mit den Delatoren gibt es innerhalb der Aristokratie eine weitere Gruppe, welche die Zuordnung in Kategorien unübersichtlicher, das Verhalten der Delatoren aber damit umso verwerflicher macht.43 Denn was in den Quellen ansonsten über die notwendig bivalente Differenz in der moralischen Wertung als entweder ‚gut‘ (Aristokratie) oder ‚schlecht‘ (Kaiser) Kategorien zugeordnet wird, funktioniert in solchen Kontexten nur bedingt. Indem einzelne Aristokraten zu exempla stilisiert werden, die sich in der Regel insbesondere an dem tyrannischen Verhalten des Kaisers schärfen,44 lässt sich diese „Dualisierung der moralischen Qualitäten“45 auch hier als Versuch greifen. Sobald es aber darum geht, die Delatoren in dieses Schema einzuordnen, versagt diese eindeutige Zuordnung in Kategorien. Die Stilisierung zu Bürgerkriegsszenarien trägt diesem Problem Rechnung, erleichtert aber die Zuordnung auch wieder, weil sich vor diesem Hintergrund sehr deutlich kommunizieren lässt, dass zumindest die Opfer dieses Krieges moralisch aufgewertet werden. Das gilt vor allem für jene Opfer, die sich mit ihrem Selbstmord standhaft und moralisch unantastbar gezeigt haben.46 Gleichzeitig werden die einzelnen Fälle, indem die Majestätsprozesse zu Bürgerkriegsszenarien stilisiert werden, von der persönlichen Tragik der Beispiele abstrahiert und damit strukturell vergleichbar. Mit der Praxis hatte das nichts zu tun. Es ermöglichte aber den antiken Autoren immerhin die Systematisierung als ein Phänomen der frühen Kaiserzeit, dem man sich in seiner Eigendynamik ansonsten hilflos gegenübersah. Auch der Selbstmord stellt in diesem Kontext einen Kontrast zu dieser Eigendynamik und Unübersichtlichkeit dar. Denn auf diese Weise eröffnet sich für den 42

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Vgl. EDWARDS 2007 (bes. 131). Programmatisch für die Ankündigung der Majestätsprozesse Tac. ann. 4,32 (bes. ann. 4,32,2): „nobis in arto et inglorius labor; immota quippe aut modice lacessita pax, maestae urbis res, et princeps proferendi imperi incuriosus erat. non tamen sine usu fuerit introspicere illa primo aspectu levia, ex quis magnarum saepe rerum motus oriuntur.“ / „[…] [M]eine Aufgabe ist eng begrenzt und bringt keinen Ruhm; es herrschte ja stetiger oder nur wenig gestörter Friede, traurig waren die Zustände in Rom, und der princeps war nicht auf eine Erweiterung des Reiches bedacht. Trotzdem wird es wohl nicht ohne Nutzen sein, jene auf den ersten Blick belanglosen Ereignisse genauer zu betrachten, weil sich aus ihnen oft Anstöße zu bedeutenden Vorgängen entwickelten.“ (Übers.: HELLER). Vgl. dazu RUTLEDGE 2001: 12f.; FLAIG 1992: 115f. RUTLEDGE betont aber ebenso die Funktionalität, die dem Delatorenwesen in der Praxis zugekommen sei (vgl. RUTLEDGE 2001: 16; 70). Die Funktionalität betont auch EICH 2008: 140ff. Vgl. zu dem Phänomen außerdem RIVIÈRE 2002. Vgl. zu dieser Beobachtung z. B. MEIER 2003. LUHMANN 2012: 116f. Vgl. EDWARDS 2007: 131. Weitere Beispiele dafür liefern etwa der Prozess gegen Cremutius Cordus (Tac. ann. 4,33f.; Cass. Dio 57,24 [Xiph. 140,7–142,18]), Valerius Asiaticus (Tac. ann. 11,3), und L. Iunius Silanus Torquatus (Tac. ann. 16,9). Vgl. dazu EDWARDS 2007: 140.

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Angeklagten eine Möglichkeit, sich zu bewähren und auszuzeichnen. Was zynisch klingt, erscheint damit durchaus funktional, weil der Angeklagte in dieser Hinsicht der Eigendynamik der Prozesse zumindest die Selbstkontrolle entgegensetzen konnte.47 Auf der Grundlage einer solchen Standhaftigkeit im Tod lässt sich dann auch die Erwartungshaltung an die aristokratische Moral definieren: Das Sterben wird damit in seinem gesellschaftlichen und politischen Wert geschärft. Außerdem wird der gewaltbereiten Umwelt eine Erhabenheit im Tod entgegensetzt, die mit den scheinbar unumgänglichen Spielregeln der Majestätsprozesse entscheidend bricht.48 5.2

Selbstmord und kaiserzeitliche Praxis

Es bleibt allerdings zu überprüfen, inwieweit sich solche Konzeptionen in der Praxis greifen lassen. Dass der Selbstmord gesellschaftlich nicht nur akzeptiert war, sondern Ansehen verschaffte, findet auch Parallelen darin, wie er rechtlich eingeordnet wurde. Die Quellen bestätigen wiederholt, dass Selbstmord auf juristischer Ebene nicht in erster Linie als Eingeständnis der Schuld gewertet wurde, sondern die Voraussetzungen schaffen konnte, Ehre und Besitz für die übrigen Familienangehörigen zu wahren. Beispielsweise tötete sich C. Piso im Jahr 65 n. Chr. selbst, um seine Frau zu schützen.49 Tacitus vermittelt darüber hinaus ein Bild, demzufolge solche Mechanismen in tiberischer Zeit allgemein gegolten hätten, wenn er im Zusammenhang mit dem Selbstmord des Pomponius Labeo im Jahr 34 n. Chr. davon berichtet, dass dieser aus Angst vor einer drohenden Verurteilung verübt wurde. Darüber hinaus berichtet Tacitus auch, Labeo habe damit 47

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So beispielsweise Plin. epist. 3,9,5: „nam fuit mors eius infamis, ambigua tamen; ut enim credibile videbatur voluisse exire de vita, cum defendi non posset, ita mirum pudorem damnationis morte fugisse, quem non puduisset damnanda committere.“ / „Sein Tod [gem.: Caecilius Classicus] wurde nämlich zwar viel beredet, blieb aber doch umstritten; zwar erschien es glaubhaft, daß er habe aus dem Leben scheiden wollen, weil er sich nicht verteidigen konnte; andererseits war es doch sonderbar, daß er sich der Beschämung einer Verurteilung durch den Tod entzogen haben sollte, wo er sich doch nicht geschämt habe, verurteilungswürdige Dinge zu begehen.“ (Übers.: KASTEN). Vgl. die oben genannten Beispiele sowie Cass. Dio 60,16,7; Sen. tranq. 14,4–6 (bes. tranq. 14,6): „dicet aliquis: potuit post hoc iubere illum Gaius vivere. non timuit hoc Canus: nota erat Gaii in talibus imperiis fides. credisne illum decem medios usque ad supplicium dies sine ulla sollicitudine exegisse? verisimile non est quae vir ille dixerit, quae fecerit, quam in tranquillo fuerit.“ / „Nun mag jemand einwenden: Daraufhin hätte Gaius ihn [gem.: Iulius Canus] am Leben lassen können. Das brauchte Canus nicht zu befürchten. Man wusste: bei solchen Befehlen war auf Gaius Verlass! Kannst du es glauben, dass Canus die zehn Tage bis zu seiner Hinrichtung ohne jedes Zeichen von Unruhe verbrachte? Kaum glaublich ist, was dieser Mann aussprach, was er tat, wie gelassen er war.“ (Übers.: FINK). Zur Wirkmächtigkeit des Selbstmordes von Cato Uticensis für solche Darstellungen vgl. insbesondere EDWARDS 2005; GEIGER 1979; GOAR 1987; GRIFFIN 1986: 64–77, 192–202. Zum performativen Charakter der Schilderungen siehe EDWARDS 2007: 144f. Vgl. zu auch z. B. Epikt. 1,27. Zur Vorstellung der constantia, die am Stoizismus geschärft ist, siehe EDWARDS 2007: 133. Vgl. Tac. ann. 15,59,5.

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das Vermögen wahren und eine Bestattung sicherstellen können – „zum Lohn für ihre Eile“, wie Tacitus sarkastisch hinzufügt. Im Fall einer Verurteilung wäre ihm beides verwehrt gewesen.50 Ähnliches ist auch für den Prozess gegen Cn. Piso im Jahr 20 n. Chr. belegt. Der Prozess ist für den hier zu untersuchenden Zusammenhang besonders aufschlussreich, weil er mit dem inschriftlich überlieferten Senatus consultum de Cn. Pisone Patre über die literarischen Quellen hinaus Einblicke in die Praxis der Majestätsprozesse und den Umgang mit Selbstmord in solchen Zusammenhängen ermöglicht. Von den harten Strafen, die der Senat über den Konsular verhängte, wurde dessen Familie weitgehend ausgenommen. Die im Senatus consultum de Cn. Pisone Patre inschriftlich überlieferten Senatsbeschlüsse stellten nachträglich noch einmal klar, dass Piso mit seinem Selbstmord der Strafe entging, die für seine Vergehen eigentlich gerechtfertigt gewesen sei: „Aus diesen Gründen glaube der Senat, er habe nicht etwa die angemessene Strafe an sich vollzogen, sich vielmehr einer schwereren, die ihm, wie er erkannte, von dem Pflichtgefühl und der Strenge derjenigen drohte, die über ihn zu Gericht saßen, entzogen.“51

Um zu verdeutlichen, wie schwer Pisos Vergehen war, verhängten die Senatoren unter anderem noch die damnatio memoriae über ihn.52 Seine Söhne wurden aber im Wesentlichen – und seine Frau ausdrücklich – von einer Mitschuld freigesprochen. Damit konnte zumindest ein Teil des vorher beschlagnahmten Vermögens zurückgegeben werden.53

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Tac. ann. 6,29,1.: „nam promptas eius modi mortes metus carnificis faciebat, et quia damnati publicatis bonis sepultura prohibebantur, eorum qui de se statuebant humabantur corpora, manebant testamenta, pretium festinandi.“ / „Denn solche Todesarten legte die Furcht vor dem Henker ebenso nahe wie die Tatsache, daß bei einer Verurteilung das Vermögen eingezogen und die Bestattung verweigert wurde, während diejenigen, die Selbstmord begingen, beerdigt wurden, zum Lohn für ihre Eile.“ (Übers.: HELLER). Vgl. Cass. Dio 58,24,3; außerdem Tac. ann. 4,21 für die Beendigung des maiestas-Prozesses nach dem (natürlichen) Tod des angeklagten Lucius Piso während des Prozesses. SCPP, Z. 71–73: „quas ob res arbitrari senatum non optulisse eum se de[b]itae poenae, sed maiori et quam inmin[e]re sibi ab pietate et severitate iudicantium intellegeba{n}t subtraxisse.“ (Übers.: ECK/CABALLOS). Vgl. FLOWER 1998: 179f.: Jegliche Erinnerung an den Verurteilten auszulöschen, so betont HARRIET FLOWER, habe im Fall Pisos zwei zentrale Funktionen erfüllt: Zum einen habe es als Bestrafung Pisos den Umfang der Trauer reflektiert, die Germanicus nach seinem Tod demonstriert wurde (zu den Reaktionen auf den Tod des Germanicus vgl. Tac. ann. 2,82; Cass. Dio 57,18 [Xiph. 136,29–137,17/Exc. Vales. 189, p. 666] und den umfangreichen Ehrungen, welche die Tabula Hebana und die Tabula Siarensis zeigen) und welche Piso diesem verweigert hatte. Zum anderen habe die Auslöschung der Erinnerung aber auch die Weiterexistenz seiner Familie und der Bestätigung ihrer Position innerhalb der Gemeinschaft ermöglicht, weil die bewusste Lösung von der Tradition reinigend gewirkt habe. Vgl. dazu auch ausführlich FLOWER 2006: 132–138 (bes. 134f.). Weil im Prozess allerdings zumindest für den älteren Sohn die Beteiligung an den Straftaten des Vaters festgestellt wurde, wurde die Rückzahlung im Senatsbeschluss nicht als Rückgabe, sondern als Geschenk (donari: SCPP, Z. 97) von princeps und Senat, also als beneficium, bezeichnet. Diese Rückzahlung war mit konkreten Auflagen verbunden, wozu unter anderem

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Der Befund scheint also insgesamt ein recht eindeutiges Bild zu zeichnen. Allerdings sollte man vorsichtig sein, aus solchen Beispielen eine Regelmäßigkeit und Planbarkeit im Umgang mit Anklagen wegen Majestätsverbrechens zu schließen. Sie suggerieren, dass der Umgang sowohl mit dem Strafmaß als auch mit dem Selbstmord konsequent und unabhängig von der jeweiligen Situation war. Die Praxis spiegelte das aber nur teilweise wider. Denn diese war wesentlich stärker an situationsabhängige Bewertungen der Fälle gebunden. Der Unberechenbarkeit, die sich damit für die Akteure ergab, wird ein solch eindeutiges Bild daher nicht vollständig gerecht. Wenn man sich die zeitgenössischen Diskussionen genauer ansieht, ergibt sich ein durchaus ambivalentes Bild: Tacitus liefert auch Beispiele dafür, dass der Selbstmord des Angeklagten den Besitz nicht retten konnte und der Prozess damit nicht beendet wurde. Das gilt für den Fall des M. Scribonius Libo Drusus, der sich während des laufenden Prozesses umbrachte, dessen Vermögen aber unter den Anklägern aufgeteilt wurde.54 Ähnliches gilt auch für den Fall des Piso pater. Cassius Dio berichtet außerdem davon, dass Tiberius im Jahr 23 n. Chr. für Verurteilte explizit ein Verbot aussprach, ein Testament zu machen.55 Konkrete Versuche, die angewandte Praxis anhand klarer Kriterien zu regeln und damit kontrollierbarer zu gestalten, finden sich auch hier wieder erst deutlich später in den Digesten. Sie fassen allerdings historisch gewachsene Regelungen zusammen und spiegeln auch eher anhaltende Diskussionen wider, als dass sie Klarheit herstellten. In Bezug auf den Selbstmord blieb die Frage, wann der Selbstmord eines Angeklagten dessen Vermögen wahren könne, weiter ein juristisches Problem. Spätestens seit Antoninus Pius jedoch wurde der Selbstmord mit einem Schuldeingeständnis gleichgesetzt. Auch hier gilt also, was vorher bereits für die Majestätsprozesse allgemein festgehalten wurde: dass es keine einheitlichen Regeln gab, die völlige Sicherheit vermitteln konnten, und dass ein Gefühl auszumachen ist, dass an diesem Punkt Regelungsbedarf bestand.56

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gehörte, das praenomen des Vaters abzulegen (Z. 99f.) (vgl. dazu ECK/CABALLOS 1996: 214f., 218). Vgl. neben SCPP (bes. Z. 101–120) auch Tac. ann. 3,7–19. Tac. ann. 2,31f.: „accusatio tamen apud patres adseveratione eadem peracta, iuravitque Tiberius petiturum se vitam quamvis nocenti, nisi voluntariam mortem properavisset. bona inter accusatores dividuntur, et praeturae extra ordinem datae iis qui senatorii ordinis erant. […].“ / „Die Anklage wurde trotzdem vor dem Senat mit dem gleichen Ernst zu Ende geführt, und Tiberius schwor, er hätte für Libos Leben, wie schuldig er auch war, gebeten, wenn dieser nicht voreilig Selbstmord begangen hätte. Sein Vermögen wurde unter die Ankläger verteilt und die Prätur außerhalb der Reihe denen verliehen, die dem Senatorenstand angehörten.“ (Übers.: HELLER). Vgl. Cass. Dio 57,22,5. So auch in Dig. 28,1,8; Dig. 48,19,17,1. Vgl. MOMMSEN 1899: 986; FLOWER 1998: 166, Anm. 62. Für die rechtlichen Regelungen im 2. Jh. n. Chr. als Ergebnis eines sich über lange Zeit hinziehenden Aushandlungsprozesses siehe van HOOFF 1990: 169–171. Vgl. Dig. 49,14,45,2; Dig. 48,21,13,1. Vgl. außerdem EDWARDS 2007: 120f.; GRIFFIN 1997: 262. Nach ECK/CABALLOS 1996: 190f. habe die kaiserzeitliche Praxis darin bestanden, den Prozess mit dem Selbstmord des Angeklagten für beendet zu erklären. Dass die Quellen in dieser Hinsicht nicht so eindeutig waren, wie es zunächst scheint, ist bereits diskutiert worden. Die in den

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5.3

Selbstmord und aristokratische Moral

Im Umgang mit Selbstmorden war, wie schon allgemein beim Recht zu beobachten, die Praxis also nicht einheitlich geregelt. Klare Kriterien, die den Umgang mit Situationen, wie sie oben geschildert wurden, hätten plan- und beherrschbar machen können, gab es offenbar nicht. Wie bereits der umstrittene Umgang in den einzelnen Prozessen mit dem Selbstmord des Angeklagten vermuten lässt, passt dazu, dass auch solche positiven Wertungen des Selbstmordes, wie sie sich in den kaiserzeitlichen Diskussionen finden lassen, im Verlauf oder sogar schon im Vorfeld eines Prozesses in der Praxis keineswegs unproblematisch waren. So lassen sich in den kaiserzeitlichen Diskussionen Hinweise dafür finden, dass auch die moralische Bewertung des Selbstmordes im Kontext von Majestätsprozessen in ihrer Eindeutigkeit nicht unumstritten war. Cassius Dio schreibt zum Selbstmord des Caecina Paetus und seiner Frau Arria im Jahr 42 n. Chr.: „Beiden erwarb dies allgemeines Lob; denn die lange Leidensfolge hatte die Dinge dahin gebracht, daß nichts anderes mehr für Tugend galt, als anständig zu sterben […].“57

Noch deutlicher ist an diesem Punkt Tacitus, wenn er im Agricola formuliert: „Wissen sollen die Leute, deren Art es ist, das Unerlaubte zu bewundern, daß es sogar unter schlechten Kaisern bedeutende Männer geben kann und daß Loyalität und Zurückhaltung, falls sie von Beharrlichkeit und Tatkraft begleitet werden, zu solchem Ruhm führen, wie ihn viele durch ihr unnachgiebiges, jedoch für das Gemeinwesen unnützes Verhalten und durch einen aufsehenerregenden Tod erworben haben.“58

Die moralische Überhöhung des Selbstmordes, die gerade auch bei Tacitus in seinen Werken ansonsten so eindeutig erscheint, wird hier gebrochen und durch eine deutlich kritischere Bewertung ersetzt. Die Kritik richtet sich dabei vor allem dagegen, dass Selbstmord auch eine Flucht vor der Verantwortung bedeute. Bei Cassius Dio verleiht ein solcher Tod zwar immer noch Achtung, wenn er als „tugendhaftes Verhalten“ eingeordnet wird. Dass er den Selbstmord aber als einzigen

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Digesten (Dig. 48,4,11) kodifizierte Praxis jedoch als Beleg dafür anzuführen, erscheint meines Erachtens problematisch, weil sich kaum noch nachvollziehen lässt, wie sich die Praxis zwischen dem 1. und 3. Jh. n. Chr. gewandelt hatte und möglicherweise eher spätere Entwicklungen darin festgehalten wurden. Dass die Praxis im 1. Jh. n. Chr. offenbar kaum klare Kriterien für den Umgang mit dem Selbstmord eines Angeklagten bereitstellte, diskutieren die Digesten eher am Rande. Vgl. darüber hinausgehend die Diskussion dieses Problems bei GRIFFIN 1997: 261–263, deren These, dass die im Prozess gegen Piso belegte Praxis jene des 2. Jhs. n. Chr. antizipierte, wohl zu weit geht, weil sie eine stringente Entwicklung suggeriert, die die Unsicherheit, die die Praxis des 1. Jhs. n. Chr. generierte, nur unzureichend widerspiegelt. Cass. Dio 60,16,7: „καὶ οἱ µὲν ἐπῃνοῦτο· ἤδη γὰρ ὑπὸ τῆς συνεχείας τῶν κακῶν ἐς τοῦτο τὰ πράγµατα προεληλύθει ὥστ’ ἀρετὴν µηκέτ’ ἄλλο µηδὲν ἢ τὸ γενναίως ἀποθανεῖν νοµίζεσθαι […].“ (Übers.: VEH). Tac. Agr. 42,4: „sciant, quibus moris est inlicita mirari, posse etiam sub malis principibus magnos viros esse, obsequiumque ac modestiam, si industria ac vigor adsint, eo laudis excedere, quo plerique per abrupta, sed in nullum rei publicae usum ambitiosa morte inclaruerunt.“ (Übers.: STÄDELE).

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Ausweg bezeichnet, den man in solchen Situationen gesehen habe, artikuliert gleichzeitig ein Unbehagen gegenüber den (fehlenden) Alternativen, Ansehen zu erwerben, vor allem aber auch, mit den Majestätsprozessen umzugehen. Gerade in seiner Endgültigkeit offenbart der Selbstmord dann auch die Hilflosigkeit gegenüber solchen Situationen. Tacitus spitzt dieses Unbehagen noch weiter zu. Bei ihm bleibt die Entscheidung für den Selbstmord eine individuelle, der jegliche Bezogenheit auf das Gemeinwohl fehlt.59 Die Kritik – bei Cassius Dio weniger pointiert formuliert – richtet sich vor allem gegen diesen Sachverhalt, denn mit der Endgültigkeit des Selbstmordes, der stets eine persönliche Entscheidung und individuelle Lösung bleibt, entfällt auch die Notwendigkeit, nach alternativen Lösungen zu suchen, die das strukturelle Problem, dass weder Verfahren noch Recht die nötige Sicherheit bei den Majestätsprozessen vermitteln konnten, angehen. 6 FAZIT Dass die Majestätsprozesse in der frühen Kaiserzeit Dimensionen annehmen konnten, welche die antiken Autoren dazu veranlassten, sie mit der das Gemeinwesen zerstörenden Kraft von Bürgerkriegen zu vergleichen, ist komplexen Zusammenhängen geschuldet. Zum einen gewannen die Majestätsprozesse diese Eigendynamik, weil die Gerichtstätigkeit den Senat strukturell überforderte, indem sie inneraristokratische Konfliktlinien schuf und derart perpetuierte, dass dadurch der Zusammenhalt als Gruppe gefährdet war. Zum anderen wurde gezeigt, dass das Recht diesen Strukturen genauso wenig wie die Verfahrensabläufe die benötigte Sicherheit für die Konfliktsituationen gewährleisten konnte, weil die Rechtspraxis zwar einen gewissen Orientierungsrahmen bot, letztlich aber nicht umfassend und vor allem nicht eindeutig geregelt war, sondern immer situativ blieb. Davon, dass „im Konfliktfalle nur noch das Recht zählt“, kann hier also nicht gesprochen werden.60 Die moralischen Reflexionen, die sich besonders gut anhand des Umgangs mit Selbstmorden nachvollziehen lassen, können damit als Versuch verstanden werden, diese Sicherheit herzustellen, indem man nach der Deutungshoheit in Form von eindeutigen moralischen Bewertungen sucht. Was das Recht nicht leistet, nämlich eine eindeutige Bewertung der Konfliktsituation, leistet hier die Moral – oder zumindest soll sie es. Moral ist damit, wie theoretisch beschrieben, funktional äquivalent zum Recht angelegt. Ihr wird die gleiche Funktion zugewiesen: die Unübersichtlichkeit und Unsicherheit, also die erfahrene Komplexität, zu reduzieren, und konkret die unsicheren Strukturen zu stabilisieren und die strukturell bedingten Konfliktsituationen aufzulösen.

59 60

In diesem Sinn auch EDWARDS 2007: 131ff.; allgemein zum Selbstmord als Dienst am Gemeinwesen van HOOFF 1990: 185–188. LUHMANN 2012: 128.

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„Mit entblößter Brust in gezückte Schwerter“ hätten sich die exempla Cato und Thrasea Paetus in den Tod gestürzt, so schreibt es Martial.61 Ihr Selbstmord entspricht damit dem moralisch vorbildhaften Verhalten eines Aristokraten, wie es sich auch in den kaiserzeitlichen Quellen findet. Auf das Recht ist jemand, der so tugendhaft ist, nicht mehr angewiesen, weil er mit seinem Wissen um das moralisch Richtige über ihm steht. Allerdings bricht auch Martial – ähnlich wie Cassius Dio und Tacitus – diese eindeutige Einordnung des Verhaltens in klare Kategorien: „Nicht schätze ich einen Mann, der mit leichtfertig vergossenem Blut sich Ruhm erkauft, / wohl aber den, der Anerkennung finden kann auch ohne zu sterben.“62

Wenn er der moralischen Überhöhung des Selbstmordes eine deutlich kritischere Haltung entgegensetzt und die Eindeutigkeit, welche die bivalente Differenz einfordert, in der moralischen Wertung auflöst, stellen solche Überlegungen nicht das Verhältnis von Moral und Recht als funktionale Äquivalente in Frage, machen aber sehr deutlich, dass auch die Moral in Konfliktsituationen, welche die Majestätsprozesse heraufbeschwören, versagt. Letztlich können also weder Moral noch Recht wirklich zuverlässige Mechanismen zur Stabilisierung im Umgang mit Majestätsprozessen bereitstellen. BIBLIOGRAPHIE Bauman, Richard A. (1979): Impietas in principem. A Study of Treason against the Roman Emperors with Special Reference to the First Century A.D. München: C.H. Beck 1979. Eck, Werner / Caballos, Antonio (Hrsg.) (1996): Das senatus consultum de Cn. Pisone patre. München: C.H. Beck 1996. Edwards, Catharine (2007): Death in Ancient Rome. New Haven/Conn.: Yale University Press 2007. Dies. (2005): Modelling Roman Suicide? The Afterlife of Cato – In: Economy and Society 34 (2005), S. 200–222. Eich, Peter (2008): Aristokratie und Monarchie im kaiserzeitlichen Rom – In: Beck, Hans / Scholz, Peter / Walter, Uwe (Hrsg.): Die Macht der Wenigen. Aristokratische Herrschaftspraxis, Kommunikation und ‚edler‘ Lebensstil in Antike und Früher Neuzeit. München: Oldenbourg 2008, S. 125–151. Flaig, Egon (1992): Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich. Frankfurt am Main: Campus 1992. Ders. (1993): Loyalität ist keine Gefälligkeit. Zum Majestätsprozeß gegen C. Silius 24 n. Chr. – In: Klio 75 (1992), S. 289–305. Flower, Harriet I. (1998): Rethinking ‚Damnatio Memoriae‘. The Case of Cn. Calpurnius Piso Pater in AD 20 – In: CA 17 (1998), S. 155–185. Dies. (2006): The Art of Forgetting. Disgrace and Oblivion in Roman Political Culture. Chapel Hill: University of North Carolina Press 2006.

61 62

Mart. 1,8: „pectore nec nudo strictos incurris in ensis“ (Übers.: BARIÉ/SCHINDLER). Mart. 1,8: „nolo virum facile redimit qui sanguine famam, / hunc volo, laudari qui sine morte potest.“ (Übers.: BARIÉ/SCHINDLER). Siehe auch Mart. 1,78.

„Mit entblößter Brust in gezückte Schwerter“

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DIE MORALISCHE HYPOTHEK DES TOTEN TYRANNEN Plinius, Tacitus und die Diskussion über die Führungselite der post-domitianischen Ära1 Johannes M. Geisthardt Kurze Zeit nachdem er aus seiner unter Domitian verhängten und vier Jahre währenden Verbannung zurückgekehrt war, fand sich Iunius Mauricus in kleiner und illustrer Runde zur cena bei dem neuen princeps Nerva ein. Im Laufe der Konversation wurden Catullus Messalinus sowie seine Rolle als Handlanger und Instrument des Tyrannen zum Thema, wobei sich alle bei Tisch über dessen moralische Verworfenheit und deren unheilvolle Auswirkung auf seine Standesgenossen einig waren, bis Nerva fragte: „ ‚Was würde wohl mit ihm geschehen, wenn er noch lebte?‘ Und Mauricus sagte: ‚Er würde mit uns speisen.‘ “2 Den anderen Teilnehmern dürfte bei dieser unverhohlenen Antwort von Mauricus wahrscheinlich der Bissen im Halse stecken geblieben sein. Denn dieser verweist mit ihr auf den Konstruktionscharakter des Sprechens über die domitianische Vergangenheit und stellt damit den Konsens über die Unterschiedlichkeit zwischen Domitians und Nervas Herrschaft sowie die Legitimität der nervanischen Führungselite in Frage. Bis zur Antwort von Mauricus herrschte Einigkeit in der Beschreibung der domitianischen Herrschaft als Tyrannis und in der moralischen Bewertung des Catullus Messalinus, des Schergen des Tyrannen. Der zweimalige Konsul, so der grundlegende Konsens, hätte nichts in der Nähe des neuen princeps zu suchen gehabt. Als offensichtlicher Freund des Tyrannen, der diese besondere Nahbeziehung immer wieder durch Schandtaten an seinen Standesgenossen unter Beweis gestellt habe, wäre seine unter den Flaviern erworbene hohe gesellschaftliche Stellung, wenn er nicht bereits unter den Toten weilen würde, hinfällig gewesen und selbstverständlich wäre er kein Mitglied der aktuellen Führungselite und kein Gast an Nervas Tisch. Aus diesem Konsens ergeben sich für die Mitglieder der Speisegemeinschaft aber zwei Konsequenzen. Erstens beweisen sie performativ ihre Distanz zu dem diskreditierten toten Tyrannen und zweitens wird ihre eigene rezente soziopolitische Stellung nicht in Frage gestellt, da sie in offensichtlichem Gegensatz zu einem der Schergen des Tyrannen stehen.

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Sehr dankbar bin ich CHRISTIAN SEEBACHER und WOLFGANG HAVENER für ihre wertvollen Kommentare, die dem vorliegenden Text zugute kamen. Vgl. Plin. epist. 4,22,4–6 (dort die zitierte Stelle): „ ‚quid putamus passurum fuisse, si viveret?‘ et Mauricus: ‚nobiscum cenaret.‘ “ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. zu Mauricus: BIRLEY 2000a: 67; WHITTON 2013: 256.

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Mauricus hingegen legt mit seiner dreisten Antwort den Konstruktionscharakter des Konsenses über die Vergangenheit offen und zieht damit sowohl das Prinzipat Nervas und dessen Führungselite als auch die soziopolitische Stellung eines jeden einzelnen der Anwesenden in Zweifel.3 Wie der Schurke von damals mit ihnen speisen würde, wäre er noch am Leben, so gibt es nach Mauricus’ Meinung auch jetzt noch Senatoren in ihrer Tischgemeinschaft, deren aktuelle gesellschaftliche Position auf einem guten Verhältnis zu und Leistungen respektive Schurkereien für den Tyrannen beruht. Damit zielt er – zumindest ist das von Plinius in dieser Epistel seiner Briefsammlung so konstruiert – auf die Anwesenheit des Fabricius Veiento.4 Denn während Iunius Mauricus dem Tyrannen tatsächlich Widerstand geleistet hatte, wofür die am eigenen Leib erfahrene Verbannung (relegatio) sowie die Hinrichtung seines Bruders Arulenus Rusticus den untrüglichen Beweis lieferten, war Fabricius Veiento als dreifacher Konsular Mitglied des engsten Beraterkreises um Domitian.5 Fabricius Veiento, dessen Sozialprestige sich in erster Linie aus seiner Nähe zu dem damnierten princeps speist (so impliziert die Antwort von Mauricus), dürfte sich im Gegensatz zu ihm nicht in der Nähe von Nerva aufhalten. Während sich alle Anwesenden der Tischgemeinschaft darüber einig sind, dass die domitianische Herrschaft eine Tyrannis voller Schrecken für die senatorische Führungsschicht war, wirft ein tatsächliches senatorisches Opfer Domitians die Frage nach den Konsequenzen der Damnierung des letzten Flaviers für die unter ihm erbrachten Leistungen und die Zusammensetzung der aktuellen Führungsschicht auf. Der grundlegende Konsens auf einen sozial desintegrierten, weil toten, Sündenbock, wird von Maurius negiert und stattdessen fordert er von Nerva die Neukonstituierung der Führungsschicht, in der die soziale Stellung des einzelnen sich aus seinem moralisch integren Verhalten unter dem Tyrannen ergeben sollte.6 3

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Da es hier um die plinianische Darstellung geht, ist es nicht von Belang, ob Nerva mit seiner Frage naiv oder subtil war (also ob er diese Antwort von Mauricus unbewusst oder bewusst provozierte, im letzteren Fall, um das Gesprächsthema zu beenden; vgl. SYME 1958: 6 sowie GRIFFIN 1999: 154), da Mauricus’ Antwort als mutig bezeichnet wird, was letzteres ausschließt. SYMES Hypothese könnte man entgegenhalten, dass die Frage auch dahingehend zu verstehen sei, dass Nerva sich mit einem konstruierten Fall des Konsenses über seinen Umgang mit der Vergangenheit versichern wollte, da er Prozesse untersagt hatte (vgl. Cass. Dio 68,1,3) bzw. im Senat angestoßene Debatten im Sande verlaufen ließ (vgl. Plin. epist. 9,13,22). Plin. epist. 4,22,4: „cenabat Nerva cum paucis; Veiento proximus atque etiam in sinu recumbebat: dixi omnia, cum hominem nominavi.“ / „Nerva speiste mit wenigen Leuten. Veiento saß in seiner Nähe, sogar ganz dicht bei ihm: ich habe alles gesagt, wenn ich den Menschen beim Namen nenne.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. zu dieser Briefstelle auch SYME 1958: 6; SHERWIN-WHITE 1966: 300f.; COLEMAN 1999: 27; VÖSSING 2004: 488f.; STROBEL 2010: 151; ROCHE 2011: 45f.; GEISTHARDT 2015: 66–68. Zu Fabricius Veiento vgl. Plin. epist. 9,13,13.19f.; Iuv. 4,123–129; Tac. ann. 14,50. Vgl. auch SHERWIN-WHITE 1966: 495f.; JONES 1992: 53f. sowie STROBEL 2010: 151, Anm. 32. Moralisch (Moral) wird hier wie im Folgenden in seiner weitesten begrifflichen Fassung als ‚normenkonform‘ verstanden und spiegelt damit die Bewertung des Verhaltens von Standes-

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Sowohl in dem Konsens der Speisenden als auch der Negierung desselben durch Mauricus wird letztendlich die Frage verhandelt, welche Konsequenz aus der Damnierung Domitians für die senatorische Hierarchie gezogen werden sollte, da sich die soziopolitische Stellung des Einzelnen respektive seine senatorische dignitas im System der Alleinherrschaft letztendlich aus den Leistungen für und der Nähe zum princeps ergibt.7 Wer, so könnte die Frage lauten, hat seine senatorische dignitas unter dem Tyrannen nicht kompromittiert, um eine hohe Stellung im hierarchischen Gefüge der senatorischen Aristokratie auf illegitime (man könnte auch sagen, unmoralische) Art und Weise zu erreichen und kann deshalb auch unter dem neuen princeps seine gesellschaftliche Position bewahren? Wer, auf der anderen Seite, darf als Handlanger des Tyrannen im neuen Herrschaftssystem, so es sich denn von dem Prinzipat des letzten Flaviers unterscheiden soll, keine Rolle spielen? Und wer kann eigentlich beurteilen, wer sich unter dem Tyrannen kompromittiert hat und wer nicht? Im Folgenden sollen neben der deutlichen Forderung des Mauricus die alternativen Antworten von Plinius und Tacitus genauer auf die Frage hin untersucht werden, inwiefern das moralische Verhalten unter dem Tyrannen als soziales Kapital im zeitgenössischen (trajanischen) Konkurrenzkampf um Sozialprestige nutzbar gemacht werden konnte. Die Beantwortung der oben angeführten Fragen hatte nicht nur grundlegende Konsequenzen für die soziopolitische Stellung jedes einzelnen Senators, sondern auch für die Zusammensetzung der Führungselite insgesamt. Wie virulent diese Fragen für die nervanische und frühtrajanische Senatorenschaft waren und wie unterschiedlich sie beantwortet werden konnten, soll im Folgenden anhand der Briefsammlung von Plinius dem Jüngeren und dem Agricola des Tacitus gezeigt werden.8 Für beide Senatoren hatten diese Fragen auch eine persönliche Relevanz, da sie beide auf eine sehr erfolgreiche Karriere unter dem letzten Flavier zurückblicken konnten.9 Der jüngere der beiden zumindest steht voll und ganz hinter den Forderungen des Mauricus nach einer neuen Führungselite; was man unschwer an dessen positiver Bewertung innerhalb des Briefes als „constanter […] et fortiter“ erkennen kann, womit Plinius auch der wenig schmeichelhaften Beurteilung der bei Kaiser Nerva speisenden Gesellschaft zustimmt, in der es nicht weiter auffallen würde,

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genossen in den antiken Schriften wider (vgl. ‚Schlechtigkeit‘ des Messalinus). Das unmoralische Verhalten verstößt also gegen den senatorischen Wertekanon, birgt Schaden für das Gruppeninteresse, ist aber juristisch gesehen nicht relevant. Zum Begriff Moral vgl. BISCHOF 2012: 13–28. Vgl. SALLER 1982 und WALLACE-HADRILL 1989. Vgl. FLAIG 2003: 26f. Zum Charakter der selbst edierten Briefsammlung Plinius des Jüngeren: SHERWIN-WHITE 1966: 1–20; LUDOLPH 1997: 37, 56–59; BEUTEL 2000: 129–137; GIBSON/MORELLO 2012: 10–19; WHITTON 2013: 11–20; GEISTHARDT 2015: 177–188; PAGE 2015: 51–62. Zum Agricola siehe unten. Vgl. zu dieser Gegenüberstellung relativ lakonisch WHITTON 2012: 353f. Doch aufgrund eines wenige Jahre betragenden Altersunterschieds erklomm Tacitus bereits noch unter Nerva (und nach eventueller Designation durch Domitian) die hierarchische Stufe des Konsulars, während Plinius ihm diesen Schritt erst drei Jahre später unter Trajan nachmachen sollte. Vgl. zur Karriere von Plinius: STROBEL 1983, zu derjenigen von Tacitus: BIRLEY 2000b.

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wenn selbst Catullus Messalinus teilnähme.10 Dies spiegelt sich auch in seiner Indignation über die Anwesenheit des Fabricius Veiento sowie über dessen physische Nähe zu Nerva deutlich wider. Der narrative Bruch in der Darstellung dieser Episode, die in ihrem unerhörten Höhepunkt, der Antwort des Mauricus, endet und nicht auf die Folgen eingeht, impliziert die Schwäche und Durchsetzungsunfähigkeit der nervanischen Herrschaft.11 Iunius Mauricus wird selbst mit dem Minimalziel, der Entfernung des Fabricius Veiento aus der Nähe Nervas, keinen Erfolg gehabt haben, da Nerva diese Attacke wohl genauso wie diejenige des Plinius im Senat gegen Publicius Certus im Sande verlaufen ließ.12 Langfristig scheint Iunius Mauricus jedoch nicht nur für sich, sondern in der plinianischen Diskursivierung der trajanischen Herrschaft auch in Bezug auf die Zusammensetzung der den Kaiser umgebenden senatorischen Führungselite erfolgreich gewesen zu sein. Immerhin ist er – wie man der brieflichen Rahmung der oben erzählten Anekdote entnehmen kann – ungefähr acht Jahre später im consilium des Kaisers Trajan anzutreffen, während sich die Spuren des Fabricius Veiento nach dem Jahre 98 n. Chr. verlieren; was allerdings auch dessen hohem Alter geschuldet sein mag.13 Aber nicht nur Mauricus, sondern auch der ihn bewundernde Plinius ist Mitglied des kaiserlichen Konsiliums unter Trajan anlässlich dessen Beschreibung er sich der cena-Anekdote erinnert und sie seinem Briefpartner prätorischen Ranges, Sempronius Rufus, erzählt. Die Rahmenepisode unterscheidet sich von der Binnenerzählung in mehreren Punkten und führt durch ihren Kontrast zu einem deutlicheren Bild der von Plinius dargestellten Prinzipate von Nerva und Trajan;14 wobei letzterer wie üblich in der plinianischen Briefsammlung nicht mit Namen genannt wird. So trägt sich das erzählenswerte Ereignis unter Trajan in einem ernsthaften und zur Regierungshandlung zu zählenden Kontext, dem consilium, zu, während die cena Nervas deutlich otiösen Charakter aufweist.15 In dieser geselligen Situation unterhält man

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Plin. epist. 4,22,4. Von Plinius auch virtuos in Plin. paneg. 6,3f.; paneg. 8,3f.; paneg. 10,1.4 dargestellt; vgl. CHRIST 2009: 285. Zu letzterem vgl. Plin. epist. 9,13,22; vgl. HOFFER 1999: 9; GRIFFIN 2000: 87–89; GRAINGER 2003: 45; STROBEL 2010: 150f.; GIBSON/MORELLO 2012: 28f.; WHITTON 2013: 60. Plin. epist. 4,22,1–3.7. Vgl. SHERWIN-WHITE 1966: 299: „The contrast with Nerva […] shows that this must be Trajan“. Plin. epist. 4,22,1–3.7: Plinius schildert, wie vor Trajan der Fall behandelt wird, dass der mit ihm befreundete Duumvir Trebonius Rufinus in Vienna einen gymnicus agon abschaffen lässt, der aufgrund irgendeines Testamentes abgehalten wurde. Die Viennenser beschweren sich vor dem Kaiser und Trebonius verteidigt seine Sache nach plinianischer Beurteilung sehr gut. In der abschließenden Beratung spricht sich Mauricus dafür aus, dass der Agon nicht wieder eingeführt werden dürfe und er es gerne sähe, wenn man ihn auch in Rom abschaffte. Wie mutig und konsequent das von Mauricus gefordert wird, sei nichts Neues, sondern habe sich eben auch schon in seinem Verhalten bei Nervas cena gezeigt. Im Unterschied zu dieser kommt das consilium aber zu einem Beschluss, der darin besteht, dass die Wettkämpfe der Viennenser abzuschaffen seien, was natürlich von Plinius für gut befunden wird, der aber

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sich ungezwungen über die Vergangenheit und übergeht dabei geflissentlich die aktuellen Missstände (dass es nämlich immer noch Vertraute des Tyrannen in unmittelbarer Umgebung des neuen princeps gibt). Im consilium hingegen wird die Beseitigung eines ‚unrömischen’ Relikts aus der Vergangenheit, das durch seine griechische Kennzeichnung (gymnicus agon) auch assoziativ auf Domitian verweist, beschlossen.16 Darüber hinaus ist auch die Rolle von Mauricus sehr bedeutungsvoll aufgeladen. Zwar agiert er in beiden Situationen auf die gleiche Art und Weise („constanter […] et fortiter“),17 aber während er im trajanischen Gremium von Plinius exemplarisch hervorgehobener Teil des Konsenses ist, und somit zur Lösung des Problems beiträgt, kündigt er in der nervanischen Gesellschaft einen moralisch fragwürdigen Konsens auf. Daraufhin bleibt das durch ihn erzeugte Problem jedoch ohne weitere Folgen im Raum stehen und sein Antagonist Veiento am Tische liegen.18 Iunius Mauricus, der Protagonist des Briefes, und die Folgen seines Agierens werden von Plinius zum Lackmustest für die Bewertung der jeweiligen Prinzipate genutzt: Unter dem Tyrannen Domitian wurde er relegiert. Demgegenüber findet er sich während Nervas prekärer Herrschaft zwar in unmittelbarer Nähe des Kaisers als Gast bei dessen intimer cena wieder, eckt aber nicht nur mit seiner Offenheit an, sondern diese bleibt auch noch folgenlos (sowohl für Veiento als auch für ihn). Im trajanischen Prinzipat jedoch wird sein Rat im consilium umgesetzt. Daraus wiederum ergibt sich, dass sich unter Trajan nun tatsächlich so etwas wie eine neue, vorbildliche Führungsschicht gebildet hat, die in diesem Fall hinter dem charakterfesten Iunius Mauricus zu einem ehrenvollen Konsens gelangt, zu dem im Übrigen auch der Bewunderer des Mauricus, Plinius, sowie dessen als tadellos stilisierter Freund Trebonius Rufinus beitragen. Im Fahrwasser des vorbildlichen Standesgenossen, dessen moralische Integrität durch den Widerstand gegen den Tyrannen und seine anschließende Relegation bewiesen ist, suggeriert Plinius für sich als moralisch Bewertenden ebenfalls die Rolle eines Senators, der unter dem Tyrannen seine senatorische dignitas bewahrte und nun zurecht im kaiserlichen Konsilium des optimus princeps mitwirkt. Im Gegensatz zu Mauricus wurde Plinius unter Domitian jedoch nicht nur nicht verbannt, sondern sogar gefördert, weshalb Plinius angesichts seiner senato-

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darüber hinaus klagt, dass das weiterhin in Rom bestehende Laster sich auch künftig im Imperium ausbreiten werde. Zu den agonalen Wettkämpfen nach griechischem Vorbild, die Domitian anlässlich der Kapitolinischen Spiele einführen und bei den in seiner Albaner Villa abgehaltenen Quinquatria abhalten ließ, siehe Suet. Dom. 4,4; Cass. Dio 67,1,2. Vgl. SHERWIN-WHITE 1966: 299 sowie NEWLANDS 2014: 322f. Plin. epist. 4,22,4. Plin. epist. 4,22,3.7. Auf rein narrativer Ebene betrachtet, ist es sogar Mauricus, der den Konsens herstellt, da er der einzige ist, dessen Meinung wiedergegeben wird (was zur deutlicheren Hervorhebung auch in direkter Rede geschieht), und auf seine Äußerung und den folgenden Einschub der cena-Episode der Beschluss zur Abschaffung folgt. Jedoch ist auch in der trajanischen Welt nicht alles zum Besten bestellt, schließlich bleiben die Wettkämpfe in Rom bestehen.

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rischen Karriere unter dem Tyrannen ein wenig unter Plausibilisierungsdruck steht, wenn er behauptet, kein Freund des letzten Flaviers gewesen zu sein.19 Einen ersten Schritt unternimmt er in dem besprochenen Brief, indem er Mauricus zustimmt, was er, so die implizite Logik, ja nicht tun würde, wenn er wie Veiento zu den Vertrauten Domitians gehört hätte. Doch im Rahmen seiner Briefsammlung geht Plinius in diesem Punkt noch wesentlich weiter und ergreift vielfach die Gelegenheit, seine enge freundschaftliche Verbundenheit mit den Opfern Domitians und ihren Familien darzustellen. Dieser Punkt ist ihm so wichtig, dass er ihn bereits sehr früh, im fünften Brief des ersten Buches, sehr ausführlich aufgreift, wo er sehr ungeduldig auf die Rückkehr des Mauricus wartet und seine Entscheidung, ob er seinen Antagonisten Regulus juristisch verfolgen soll, allein von dessen Rat abhängig machen möchte.20 Allgemein stilisiert er Mauricus und dessen Bruder Arulenus Rusticus als seine senatorischen Vorbilder, denen er nacheifert. Sein Verhältnis zu Mauricus schließlich ist so eng, dass dieser ihn nach seiner Rückkehr aus der Verbannung bittet, ihm bei der Suche nach einem geeigneten Ehemann für seine Nichte behilflich zu sein. Des Weiteren nimmt Plinius in seinen Briefen offen Anteil an den Schicksalsschlägen der domitianfeindlichen Familien, zeigt sich besorgt um ihre gesundheitliche Situation, betrauert die Todesfälle in ihren Reihen und hält das Andenken der Ermordeten in Ehren.21 Aber bereits zu Zeiten Domitians, so zumindest in der plinianischen Darstellung der Vergangenheit, konnte man seine prinzipiell opponierende Haltung dem Tyrannen und seinen Schergen gegenüber erkennen, auch wenn er sich nicht zur offenen Opposition hinreißen ließ, die für ihn die sichere Verurteilung bedeutet hätte.22 Nur mit Glück habe er die letzten Schreckensjahre des Tyrannen heil überstanden, habe doch bei dessen Tod bereits eine Anklageschrift gegen ihn in der Schublade gelegen.23 In dieser Zeit habe er auch keine Förderung von Domitian mehr erfahren – eine Behauptung, die ihn an den Rand der Glaubwürdigkeit bringt, da er in den letzten Jahren Domitians Präfekt des aerarium militaris war.24 Kurz nach dem Tod Domitians bekannte Plinius auch öffentlich Farbe und rächte die den Opfern des Tyrannen von ihren Standesgenossen angetanen Ungerechtigkeiten. In Folge dieser Unternehmung zog er als Sieger einer hitzigen Debatte im Senat von dannen, bei der ein alter Bekannter auf der Gegenseite die Freveltaten 19

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Zur Karriere des Plinius siehe STROBEL 1983. Zur Selbstdarstellung als Domitiangegner im inneren Widerstand siehe beispielsweise HOFFER 1999: 5–9, 55–91, 141–159, 211–221; BEUTEL 2000: 185–237; GAULY 2008 (bes. 196–200); GIBSON/MORELLO 2012: 24–26; WHITTON 2013: 6f. Vgl. Plin. epist. 1,5. Siehe dazu LUDOLPH 1997: 142–166; HOFFER 1999: 55–91; LEFÈVRE 2009: 50–60. Mauricus und Rustiucs als Vorbilder: vgl. Plin. epist. 1,14,3; Ehemann für Mauricus Nichte: vgl. epist. 1,14; Sorge um Gesundheit der Fannia: vgl. epist. 7,19; Trauer um Todesfall: vgl. epist. 4,21; Andenken: vgl. epist. 4,21,3; epist. 9,13,2; epist. 7,19,9. Vgl. Plin. epist. 1,5,5–7; epist. 7,33,4–9; als Geldleiher eines verbannten Philosophen: vgl. epist. 3,11. Vgl. Plin. epist. 7,27,14. Vgl. Plin. paneg. 95,3f.; epist. 4,24,5. Vgl. SYME 1991: 564f.; GIBSON/MORELLO 2012: 34f.

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des Publicius Certus zu verteidigen suchte, schließlich aber müde und geschlagen zurückblieb: Fabricius Veiento;25 jener Fabricius Veiento, der nach der einhelligen Auffassung von Plinius und Mauricus nach dem Tod Domitians nichts mehr in Kaisernähe verloren hatte. Plinius zeigt in dem wahrscheinlich nicht vor 105 n. Chr. veröffentlichten Brief also nicht nur deutlich seine Distanz zu Domitian und dessen Schergen, indem er sich als ein Freund der Opposition in Szene setzt, sondern er tut dies in seiner gesamten unter Trajan veröffentlichten Briefsammlung durch die inszenierte Nähe zu Mauricus und den oppositionellen Familien. Auch wenn man es an seiner senatorischen Karriere vielleicht nicht direkt ablesen kann, aber seine Freundschaft mit den Opfern und sein innerer Widerstand gegen den Tyrannen sowie seine Feindschaft zu dessen Schergen beweisen, dass auch er seine moralische Integrität unter Domitian bewahren konnte, weshalb seine senatorische Karriere unter Trajan ihre logische Fortsetzung findet. Weder er noch seine Freunde schweben im Gegensatz zum domitianischen Prinzipat unter Trajan in Lebensgefahr, sondern ernten jetzt die verdienten Früchte der Bewahrung ihrer moralischen Integrität. Diese hat sie daran gehindert, Handlanger des Tyrannen zu werden (und in die höchsten Stellungen aufzusteigen), und ist nun der Grund, weshalb sie in unmittelbarer Nähe zum besten aller Kaiser, zu Trajan, stehen und Mitglieder in dessen consilium sind – so zumindest die plinianische Selbstdarstellung.26 Weshalb Plinius selbst neun Jahre nach Domitians Tod immer noch auf seine Distanz zu dem Tyrannen und seiner Freundschaft mit den Oppositionellen hinweist (oder hinweisen muss), ist nicht eindeutig zu beantworten.27 Ob dieser Teil seiner Selbstdarstellung in dieser Zeit dazu diente, sich gegenüber entsprechenden Vorwürfen jüngerer Senatoren, die in die Reihen der Konsulare aufgestiegen waren, zu verteidigen oder ob er selbst die Initiative gegen noch domitianische Konsulare ergriff, um seine moralische Überlegenheit diesen gegenüber zu behaupten, lässt sich dank fehlender Kontexte schwerlich beantworten. Allerdings tragen die immer wiederkehrenden, zum Teil impliziten Diskreditierungen der domitianischen Herrschaft und seine Freundschaft zu den Opfern des Tyrannen eine gewisse Konstanz im plinianischen Charakter zur Schau, die deshalb auch auf Vergangenheit und Zukunft extrapolierbar scheint (Plinius war immer ein moralisch vorbildlich agierender Senator, ist dies und wird es auch immer sein).28 Darüber hinaus nimmt der Brief 4,22 auch die Funktion ein, einmal mehr die Differenz zwischen Domitian und Trajan zu verdeutlichen, hat also in gewisser Weise auch eine panegyrische Dimension.29 Durch diese wiederum wird auch verdeutlicht, dass der vorbildliche Senator Plinius eben nur unter einem Kaiser wie Trajan dem 25 26 27 28 29

Vgl. Plin. epist. 9,13. Vgl. zu diesem vieldiskutierten Brief GIBSON/MORELLO 2012: 27–35; WHITTON 2013: 56–60. Zu deren Divergenz zu den Informationen der historischen Forschung über die plinianische Karriere vgl. STROBEL 1983; SYME 1991: 564f.; STROBEL 2003 sowie DERS. 2010: 124f. Zu dieser möglichen Datierung, die aber in jedem Fall einen terminus post quem darstellt, vgl. SHERWIN-WHITE 1966: 32–34. Vgl. HOFFER 1999: 24–26 sowie PAGE 2015: 117–120. Vgl. zur panegyrischen Dimension der Briefe HOFFER 1999: 5, 17–27.

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inneren Herrschaftszirkel angehören kann – das unter Domitian nie tat und auch nie getan hätte. Es ist zwar schwer zu sagen, wie erfolgreich sich die weitere Karriere für Iunius Mauricus gestaltete, da die Erwähnung in dem besprochenen Brief das letzte Zeugnis über dessen soziopolitische Stellung als Mitglied des consilium principis darstellt. Plinius immerhin scheint mit seiner Strategie, sich in die Nähe der Opposition gegen Domitian zu stellen, in der Legitimation seiner soziopolitischen Stellung nicht schlecht gefahren zu sein, blieb er doch, soweit wir wissen, bis zu seinem Tod in der Gunst Trajans.30 Sich selbst und seinen Freund Mauricus stellt er als Teil der neuen Elite dar, die ihre Legitimation neben dem Durchlaufen des cursus honorum und dem Erbringen von Leistungen für die res publica nicht zuletzt daraus zieht, dass sie sich unter dem Tyrannen nicht kompromittierte. In der plinianischen Welt gibt es ganz klare Kategorien von Senatoren und deren Verhalten unter Domitian, die sich auf und zwischen den im Folgenden exemplarisch genannten Positionen einordnen lassen: Die Schurken und Handlanger des Tyrannen (wie Catullus Messalinus), diejenigen, denen zwar keine direkten Schurkereien nachzusagen waren, die aber zum innersten Führungszirkel Domitians gehörten (wie Fabricius Veiento), diejenigen, die nicht offen gegen den princeps aufbegehrten, sich aber im inneren Widerstand befanden (wie Plinius selbst) und diejenigen, die wie Mauricus ihre Opposition zum Despoten dadurch bewiesen, dass sie aufgrund ihres subversiven Agierens zu Opfern des Tyrannen wurden. Aus dieser Kategorisierung ergibt sich für Plinius die hierarchische Logik der neuen Führungsschicht unter dem optimus princeps, wie sie auch in Brief 4,22 dem Leser exemplarisch vor Augen geführt wird.31 Plinius kann mit Stolz erzählen, wie sein Freund und Mentor einen moralisch einwandfreien Konsens herstellte und wird dadurch selbst zum Vorbild für seinen jüngeren Briefpartner. Einen ganz anderen Umgang mit der domitianischen Vergangenheit hingegen propagiert ein Zeitgenosse des Plinius, der Konsular Tacitus, mit einer aller Wahrscheinlichkeit nach im Laufe des Jahres 98 n. Chr. auf seinen unter dem letzten Flavier verstorbenen Schwiegervater Agricola verfassten, gleichnamigen Memorialschrift.32 In diesem Werk, das in der vor allem für die Senatorenschaft kritischen Transitionszeit zwischen der domitianischen und trajanischen Regierung verfasst und verbreitet wurde,33 thematisiert Tacitus neben den Leistungen seines Schwiegervaters für die res publica und das Imperium Romanum ebenfalls die Schreckensherrschaft Domitians und das Verhalten der Senatoren unter dem Tyrannen. An erster Stelle steht natürlich die Vorbildhaftigkeit des Protagonisten 30 31

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Siehe hierzu die große Comum-Inschrift CIL V,5262, behandelt bei ALFÖLDY 1999; ECK 2001. Es ist an dieser Stelle wichtig zwischen der trajanischen Führungsschicht, über die sich aus nachvollziehbaren Gründen nichts Negatives in der Briefsammlung finden lässt, und den zeitgenössischen Senatoren zu unterscheiden, die doch immer wieder beweisen, dass sie nicht so charakterlich gefestigt sind, wie Plinius und seine Freunde. Vgl. zur Zeitkritik: BÜTLER 1970: 142–145; LEFÈVRE 2009: 93–102. Vgl. zu diesem Werk SCHWARTE 1979; SAILOR 2008: 51–118; GEISTHARDT 2015: 39–82. Zum Distinktionsmerkmal der Kaisernähe siehe FLAIG 1992: 114f.

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unter einem schlechten princeps. Agricola stellt das Ideal eines sich für die res publica einsetzenden Senators dar, dessen Karriere im militärischen wie zivilen Bereich tadellos verläuft und in seiner erfolgreichen Statthalterschaft in Britannien kulminiert. Dort agiert er als der vollkommene Konsular der durch seine militärischen Leistungen zur dauerhaften Expansion des Imperiums beiträgt und seine Statthalterschaft in der Art und Weise eines idealen princeps versieht.34 Doch im Anschluss an seine großen Taten treffen ihn der Neid und der Hass Domitians. Trotz aller möglichen Anfeindungen durch den Kaiser bewahrt Agricola äußerste Zurückhaltung und Gehorsam gegenüber dem princeps, pflegt eine einfache Lebensweise und begegnet dem Herrscher mit Klugheit, Selbstbescheidung und Loyalität, ohne jedoch seine dignitas und seine persönliche Autonomie dabei aufs Spiel zu setzen.35 Durch diese kluge Lebensführung entgeht er nicht nur dem Schicksal, ein Opfer des Tyrannen zu werden, sondern seine selbstsichere Gelassenheit dreht die äußere Hierarchie um und stellt Domitian aufgrund seiner emotionalen Affekte in eine gewisse Abhängigkeit zu sich. Denn nur durch den militärischen Ruhm Agricolas und den daraus resultierenden Neid angestachelt erwägt der letzte Flavier immer wieder dessen Verderben, versucht diesen durch Demütigungen und Ungerechtigkeiten zu provozieren und ist sogar über dessen Tod erfreut und erleichtert. Am Ende der Schrift wird die prinzipielle Überlegenheit Agricolas gegenüber Domitian vollends offenbar, denn es ist die memoria von Tacitus’ Schwiegervater, die diejenige des Tyrannen und diesen selbst überlebt, wodurch die Vorbildlichkeit Agricolas nicht nur für dessen Familie, sondern für die gesamte res publica eine überzeitliche Tragweite in sich birgt und Agricola quasi den Status eines exemplum erhält.36 Ein Senator, der auf den ersten Blick als Günstling des letzten Flaviers hätte gelten können, wird durch seine Leistungen für die res publica respektive das Imperium Romanum (nicht für den Kaiser wohlgemerkt) und seine kluge Selbstbescheidung zum Paradebeispiel für senatorisches Verhalten unter einem schlechten princeps erhoben – ein Senator, der in Hinblick auf seine Karriere bis zu seinem Tod im Jahre 93 n. Chr. durchaus zur Führungselite Domitians zu zählen war und damit eine Nähe zu dem Tyrannen aufwies, die für viele seiner hochrangigen Standesgenossen nach der Ermordung und Damnierung Domitians zur legitimatorischen Hypothek ihres Sozialprestiges wurde.37 Tacitus steigert das Identifikationspotential seines Protagonisten für seine zeitgenössischen Leser noch dadurch, dass er sein quasi-exemplum situativ beschränkt und somit für seine Peers, von denen viele Agricola persönlich gekannt haben dürften, erträglich macht.

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Tac. Agr. 18–38. Vgl. SCHWARTE 1979: 162–165; PETERSMANN 1991: 1804; BECK 1998: 66f.; EVANS 2003: 259–261; ASH 2006: 21f.; SAILOR 2008: 78f. Tac. Agr. 39–42. Vgl. HARRISON 2007: 310–319; SAILOR 2008: 111. Wobei damit nicht gesagt sein soll, dass der Agricola deshalb eine apologetische Schrift sei. Vgl. aber: HOFFMANN 1870: 271–273; SYME 1958: 25; SCHWARTE 1979, 141; BIRLEY 2009: 47–58; STROBEL 2010: 102f.; WOODMAN 2014: 8f. Zur Karriere Agricolas vgl. OGILVIE/RICHMOND 1967: 317–320.

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Die Vorbildlichkeit Agricolas gründet nicht allein auf seiner makellosen Tugendhaftigkeit und seiner Tatkraft, sondern ihre Bewahrung wird vor allem wegen seines rechtzeitigen Todes ermöglicht. Mit der Apostrophe „tu vero felix, Agricola“ beschließt Tacitus seinen dramatischen Bericht über die Schrecken der letzten Jahre unter Domitian.38 Erst nach dem Tod Agricolas laufen die domitianischen Schergen als Ankläger zu ihrer Hochform auf, lädt die gesamte Senatorenschaft kollektiv Schuld auf sich (zu der sich auch der Autor bekennt), indem sie die eigenen Standesgenossen aufgrund ihrer Schriften hinrichten und verbannen lässt. Erst nach Agricolas Tod schließlich wird der gesamte ordo senatorius zum Opfer des permanent wütenden und in seiner Grausamkeit kaum zu übertreffenden Tyrannen und verharrt in einer Schockstarre.39 Damit aber legt Tacitus nahe, dass selbst Agricola, das ideale Vorbild eines jeden Senators, die letzte Zeit unter Domitian nicht unversehrt überstanden hätte, sondern dasselbe hätte erleiden müssen wie der Autor und seine Standesgenossen.40 Aus der Perspektive der Rezipienten betrachtet, bedeutet das aber auch, dass man viel leichter zu der behaupteten kollektiven Schuld, die man unter dem Tyrannen auf sich zog, stehen kann, da sie unvermeidbar war. Tacitus steigert auf diese Weise aber nicht nur die Akzeptanz seines Helden bei seinen Lesern, sondern auch die Bereitschaft zur Annahme seines Narrativs von der Kollektivschuld der Senatorenschaft. Dieses Narrativ birgt in sich noch zwei weitere Elemente, die es für diejenigen seiner Standesgenossen, die sich auf der gleichen hierarchischen Ebene wie Tacitus befanden (also konsularen Status haben), noch attraktiver machten. Das erste Element wird auch von Plinius in dem oben besprochenen Brief verwendet und stützt die These, dass es sich dabei um einen zeitgenössischen Code handelt, in dem über die domitianische Vergangenheit gesprochen wird, um Konsens zu erzeugen: die Einigung auf Sündenböcke. Massa Baebius, Carus Mettius und der von allen an Nervas Tisch verabscheute Catullus Messalinus werden als Handlanger des Tyrannen denunziert. Ein Freigelassener Neros, ein verurteilter Erpresser und ein toter Konsular legen darüber hinaus auch die Vermutung nahe, dass die Einigung auf diese konkreten Sündenböcke nicht gerade zu schwerwiegenden Friktionen und Spannungen in der nervanischen Führungsschicht führte.41 Das zweite Element, welches das taciteische Narrativ für die Zeitgenossen noch attraktiver machte, bedarf einer etwas breiteren Ausführung und hat die von Tacitus genannten Opfer zum Gegenstand, die auf den ersten Blick die einzigen zu sein scheinen, die unschuldig an den Missständen und dem begangenen Unrecht unter dem Tyrannen sind. Es sind dies namentlich der jüngere Helvidius Priscus, Iunius Mauricus, der einzige Überlebende in dieser Reihe und das große moralische Vorbild für Plinius, dessen Bruder Arulenus Rusticus sowie Herennius 38 39 40 41

Tac. Agr. 45,3. Tac. Agr. 45,1f. Vgl. ASH 2006: 28; HAYNES 2006: 167f. Vgl. RUTLEDGE 2001: 202–204, 245f., 274f.; WHITTON 2012: 354; WOODMAN 2014: 316f.

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Senecio. Die beiden letztgenannten spielen bereits im Proömium des Agricola eine wichtige Rolle. Dort berichtet Tacitus, dass ihre beiden Lobschriften auf Paetus Thrasea und Priscus Helvidius als todeswürdiges Verbrechen angesehen worden seien und man nicht nur gegen die Autoren, sondern sogar gegen ihre Schriften gewütet habe, indem man letztere öffentlich verbrannt habe.42 Immerhin blieb dem Autor des Agricola das Schicksal seiner Vorgänger erspart, wenn er im ersten Kapitel auch über den Neid und die Leistungsfeindlichkeit der Zeiten klagt.43 Doch die unglücklichen Autoren Rusticus und Senecio, die im Grunde das gleiche taten wie Tacitus – eine Lobschrift auf einen bereits Verstorbenen zu veröffentlichen – sind nicht seine Vorbilder. Auf seine Vorbilder verweist er anonym im ersten Kapitel. Es sind dies die großen Politiker und Autoren einer idealen Republik vor der Bürgerkriegszeit. 44 Die namentlich genannten und später schreibenden Konsulare Rutilius und Scaurus hingegen können ebenfalls keine direkten Vorbilder für Tacitus sein, da sie den Extremfall versinnbildlichen, insofern als sie nicht das Leben eines anderen, sondern ihr eigenes darstellten und dennoch weder Missgunst erfahren hätten noch ihnen Unaufrichtigkeit unterstellt worden sei.45 Die Distanz zwischen dem Autor des Agricola und seinen beiden domitianischen Vorgängern Rusticus und Senecio wird einmal dadurch erzeugt, dass das Thema des ersten Kapitels, das Vorhaben des Autors und dessen Verankerung in den mores maiorum – mit denen es in der eigenen Zeit und der jüngeren Vergangenheit nicht immer zum besten bestellt war –, mit dem bewusst zeitlich ambigue gehaltenen Seufzer „tam saeva et infesta virtutibus tempora“ zu einem Ende gebracht wird.46 Verstärkt wird diese Distanz des Weiteren durch das enigmatische legimus, mit dem das zweite Kapitel beginnt.47 Zum einen greift es die zeitliche Ambiguität des letzten Satzes des ersten Kapitels auf, zum anderen erweitert es die Klage Tacitus’ um eine gemeinsame Tätigkeit von Autor und Leser. Beide lesen (und/oder haben gelesen), womöglich in den acta senatus, dass die Vergehen von Rusticus und Senecio todeswürdig gewesen seien, wodurch aber nicht die traurige Berühmtheit und Allbekanntheit des Schicksals dieser beiden Autoren

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Tac. Agr. 2,1. Tac. Agr. 1,1.4. Tac. Agr. 1,2. Vgl. SAILOR 2008: 54–59. Tac. Agr. 1,3. Tac. Agr. 1,4.: „So schrecklich und den Tugenden feind die Zeiten.“ (Übers.: GEISTHARDT nach STÄDELE) Der Satz kann sich sowohl auf die erzählerische Gegenwart beziehen, womit er wahrscheinlich auf den vorherigen Satz aufbaut und in Tac. Agr. 3 erklärt wird, da er auf den Schatten Domitians in der Gegenwart rekurriert, als auch auf die jüngere domitianische Vergangenheit und damit womöglich ebenfalls den vorhergehenden Satz aufgreift, der selbst zeitlich nicht ganz klar einzuordnen ist, und auf das zweite wiederum mit einem zeitlich ambiguen Satz beginnende Kapitel hinführt. Vgl. zur meines Erachtens problematischen Zwanghaftigkeit, die bewusste ambigue Zeitlichkeit der taciteischen Sätze unbedingt eindeutig machen zu wollen, zuletzt WOODMAN 2014: 75f. Vgl. OGILVIE/RICHMOND 1967: 131f.; HEUBNER 1994: 8; SAILOR 2004: 150f.; WOODMAN 2014: 76f.

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negiert wird – wie Woodman und Kraus annehmen.48 Vielmehr wird die gemeinsame Distanz von Tacitus und den Lesern des Agricola zu diesen Ereignissen dargestellt, die so schrecklich und unvorstellbar sind, dass man sie eigentlich nicht wahrhaben möchte. Diese Gemeinschaft von Autor und Lesern wird, wie oben geschildert, dann an der Stelle verdeutlicht, in der die Schreckenszeit der letzten Jahre Domitians nach dem Tod Agricolas dargestellt wird. Während dort das Schuldbekenntnis eindeutig ist und (mit Ausnahme der Opfer) die komplette Senatorenschicht umfasst, kann diese Schuldhaftigkeit im Proöm noch nicht ausgesprochen, sondern nur angedeutet werden und gleichzeitig ist sie unumstößlich, da schriftlich (in den acta senatus?) festgehalten. Doch im taciteischen Narrativ steht dieses furchtbare Ereignis nur am Anfang der immer düsterer werdenden domitianischen Tyrannis, die in ihrer Austilgung des moralisch Guten und der Unterwerfung eines jeden einzelnen immer totaler wird und schließlich in der absoluten Passivität aller, dem Schweigen, endet.49 Worin jedoch liegt die Intention des Tacitus, eine so große Distanz zwischen sich und seinen Lesern einerseits und seinen domitianischen Vorgängern andererseits herzustellen? Eine erste Antwort auf diese Frage ist sicherlich in der Unterschiedlichkeit der Protagonisten der veröffentlichten Werke zu sehen. Rusticus und Senecio verfassten Lobschriften auf senatorische ‚Märtyrer‘, die in ihrer erfolgreichen Selbstdarstellung als Anhänger der stoischen Philosophie in Erscheinung traten und im Widerstand gegen despotische Alleinherrscher (Nero und Vespasian) einen ruhmvollen Tod durch die Hand tyrannischer principes erduldeten – von denen einer im übrigen der Vater Domitians war.50 Tacitus hingegen schrieb über seinen Schwiegervater und dessen handfeste Verdienste um die res publica (die propagatio imperii) sowie seine Selbstbescheidung unter dem Tyrannen Domitian, durch die er es zu vermeiden verstand, zum ‚Märtyrer‘ zu werden.51 Ein zweiter und entscheidender Unterschied zwischen Tacitus und den domitianischen Autoren besteht im Zeitpunkt der Veröffentlichung ihrer Schriften und 48

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WOODMAN 2014: 76f., 317f. Die Schlussfolgerung, die sie daraus ziehen – dass nämlich Tacitus auf die Tätigkeit des Lesens verweist, weil er während dieser Prozesse und Verurteilungen abwesend von Rom war und Person wie auch Numerus des Verbs ein auktorialer Plural sei – kann nicht überzeugen. Erstens kann die Abwesenheit von Tacitus keineswegs als gesichert gelten, da man a) nicht genau weiß, ob Tacitus zu den spät im Jahre 93 n. Chr. stattfindenden Prozessen nicht doch wieder in Rom weilte, auch wenn er am 23. August (Agricolas Tod) noch nicht wieder zurück war, b) Plin. epist. 7,33,3 nicht als Beweis dienen kann, dass Tacitus bei Prozessende gegen Massa Baebius noch abwesend war, da Plinius hier eine Episode erzählt, die sich eben nur bei einer konsularen Audienz zutrug und kein offizielles und von Tacitus bei seiner Anwesenheit unweigerlich zu bezeugendes Ereignis darstellt. Ein auktorialer Plural wäre meines Erachtens ein zu großer Bruch zur vom Autor im ersten Kapitel verwendeten 1. Person Singular. Vgl. außerdem im Folgenden eine alternative literarische Funktionalisierung. Tac. Agr. 2,2f. Vgl. SAILOR 2008: 60–64. Erfolgreich war ihre Selbstdarstellung als stoische Philosophen insofern, als ihnen diese Rolle auch von anderen zuerkannt wurde. Vgl. SAILOR 2008: 114–116.

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der daraus resultierenden Konsequenzen für die Autoren und für ihre Standesgenossen. Rusticus und Senecio veröffentlichten in der Herrschaft Domitians ihre Schriften über stoische Märtyrer unter früheren principes und erhielten dadurch den gleichen (traurigen) Ruhm wie ihre Vorbilder, da die einzige Reaktion des Tyrannen auf diese Schriften (die für sich selbst einen Akt des Widerstands darstellten) nur darin bestehen konnte, den Autoren ihren Wunsch zu erfüllen und sie zu Märtyrern zu machen.52 Dadurch reizten sie Domitian aber nicht nur, sich an ihnen zu vergreifen, sondern sie waren dadurch sowohl Symbol als auch Auslöser für die totale Passivität ihrer Standesgenossen, die in der Folge selbst zu Opfern des Tyrannen wurden. Nicht umsonst werden sie zu Beginn des zweiten Proömienkapitels eingeführt, in dem die zunehmende Verschlechterung senatorischen Seins unter Domitian bis zum Schweigen als letzter möglicher (Nicht-)Tätigkeit dargestellt wird. Sie haben es also mit ihren veröffentlichten Schriften nicht nur dazu gebracht, dass sie selbst verurteilt, ihre Schriften verbrannt und ihre Standesgenossen an ihnen schuldig wurden,53 sondern sie waren, wie der weitere Verlauf des zweiten Kapitels zeigt, der Auslöser dafür, dass Domitian seiner Grausamkeit freien Lauf ließ und ihre Standesgenossen in totale Servilität zwang. Tacitus hingegen veröffentlichte seine Lobschrift erst nach dem Tod Domitians, zu Beginn der neuen Zeit unter den principes Nerva und Trajan, die zwar aufgrund des auf seinen Standesgenossen lastenden Schattens des Tyrannen noch alles andere als perfekt dargestellt wird, zu deren Verbesserung jedoch der Autor des Agricola selbst beiträgt, da er die Zeichen der Zeit verstanden hat, das zur Gewohnheit gewordene Schweigen bricht und die neue Freiheit wahrnimmt und dies durch die Veröffentlichung seines Werkes beweist.54 Dadurch erreicht Tacitus als Autor (abgesehen von der Memorialfunktion für seinen zu den Märtyrern so entgegengesetzten Protagonisten) aber das genaue Gegenteil seiner domitianischen Vorgänger: Er erfährt eine erfolgreiche Karriere, nützt der res publica sowie seinen Standesgenossen und tut dies alles im Einvernehmen mit den neuen principes. Wie sein Protagonist legt auch Tacitus es nicht darauf an, zum Märtyrer unter Domitian zu werden, und schweigt, denn wie seinem literarischen Helden ist dem Autor des Agricola das Wohl der res publica das oberste Gebot, abhängig von welchem das Agieren unter dem Alleinherrscher gestaltet werden muss: Man schweigt sich unter dem Tyrannen aus über einen idealen Senator und Schwiegervater, verfasst aber unter den neuen principes eine Memorialschrift auf diesen. Man erweitert das Imperium Romanum, verzichtet aber auf die entsprechende Selbstdarstellung.

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Vgl. ASH 2006: 27f.; WHITMARSH 2006: 308f. Tac. Agr. 45,1. Zur kollektiven Schuld und der zunehmenden Passivität der Senatoren gerade bei diesen schuldbeladenen Handlungen vgl. GEISTHARDT 2015: 69–72. Das „unschuldige Blut“ des Senecio muss einer negativen Bewertung der Märtyrer übrigens nicht widersprechen. Denn in dem, was ihm vorgeworfen wurde, hätte er unter jedem anderen princeps nichts zu befürchten gehabt, nur ein Tyrann bestraft bloße Worte; dennoch reizte Senecio ihn damit. Vgl. SCHWARTE 1979: 173f.; SAILOR 2008: 65–67.

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Johannes M. Geisthardt „Wissen sollen die Leute, deren Art es ist, das Unerlaubte zu bewundern, dass es sogar unter schlechten Kaisern bedeutende Männer geben kann und dass Loyalität und Zurückhaltung, falls sie von Beharrlichkeit und Tatkraft begleitet werden, zu solchem Ruhm führen, wie ihn viele durch ihr unnachgiebiges, jedoch für das Gemeinwesen unnützes Verhalten und durch einen aufsehenerregenden Tod erworben haben.“55

Unstrittig, dass Agricola einer dieser bedeutenden Männer ist, die es auch unter schlechten principes geben kann. Die ambitiosa mors, mit der sich viele selbstsüchtigen und für die res publica nutzlosen – und wenn man den Bezug zum Proömium herstellt sogar schädlichen – Ruhm erwerben, ist nicht nur ein Vorwurf an die Protagonisten der Schriften von Rusticus und Senecio, sondern auch an diese literarischen Vorgänger aus domitianischer Zeit selbst.56 Wer unter dem Deckmantel der Philosophie in Opposition zum princeps geht und diesen so lange reizt, bis er durch diesen den Tod findet (wobei in diesem Punkt irrelevant ist, ob das nun durch mehr oder weniger erzwungenen Selbstmord oder Hinrichtung geschieht), schadet nicht nur der res publica, sondern bringt sich darüber hinaus in die Abhängigkeit vom Tyrannen. Denn das Ziel des Widerstands, an dem das Handeln ausgerichtet wird, ist allein der Monarch, dessen Reaktion es erst bedarf, um die Oppositionellen zu Märtyrern zu machen. Die Leistungen Agricolas hingegen, auch wenn sie bislang nicht angemessen gewürdigt wurden, sollten noch sehr lange Bestand für das Imperium Romanum haben.57 Doch auch der ideale Protagonist des Tacitus wäre in seiner Jugend beinahe den Verführungen der Philosophie, nämlich durch sie zu großer Berühmtheit zu gelangen, erlegen und räumte der Beschäftigung mit ihr mehr Zeit ein, als dies für einen Senator adäquat gewesen wäre, bis er auf seine Mutter hörend sich auf einen schwierigeren und nützlicheren Weg zum Ruhm konzentrierte.58 Mag die stoischen, oppositionellen Senatoren bewundern, wer möchte (z. B. Plinius), Tacitus tut es nicht.59 Aus diesem Grund findet sich auch die inhaltlich und sprachlich ausgedrückte große Distanz zu seinen domitianischen Vorgängern 55

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Tac. Agr. 42,4: „sciant quibus moris est inlicita mirari, posse etiam sub malis principibus magnos viros esse obsequiumque ac modestiam, si industria ac vigor adsint, eo laudis excedere, quo plerique per abrupta sed in nullum rei publicae usum ambitiosa morte inclaruerunt.“ (Übers.: STÄDELE). Vgl. zu diesem Satz und möglichen Deutungen: DOREY 1960: 71; PETERSMANN 1991: 1803; BECK 1998: 95f. Zu vorsichtig bezüglich des angeblichen Prestiges der Märtyrer sind TSCHERNIAK 2005: 109; SAILOR 2008: 114f. Anderer Ansicht ist WOODMAN 2014: 302f., der sich bei seiner Argumentation aber auf das Thrasea-Bild in den Annalen (einem Werk, das ca. 20 Jahre später entstand und folglich wenig über die tagespolitisch aktuelle Intention aussagen kann) berufen muss; außerdem kann ich die Auffassung nicht teilen, dass mit ambitiosa mors in jedem Fall ein Selbstmord gemeint sein müsse. Klar zu erkennen an der taciteischen Betonung der Nachhaltigkeit der britannischen Eroberungen Agricolas (vgl. Tac. Agr. 19,1; Agr. 20,2f.; Agr. 22,3; Agr. 35,2). Vgl. PETERSMANN 1991: 1804; BECK 1998: 66f.; EVANS 2003: 259–261; BIRLEY 2009: 52–58; WOODMAN 2014: 16–18. Tac. Agr. 4,2f. Vgl. SAILOR 2008: 73f. Zumindest nicht im Agricola.

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im Proömium. Er spricht ihren Schicksalen nicht ihre Tragik und ihre traurige Berühmtheit ab, aber bewundernden Ruhm haben sie in seinen Augen nicht verdient (zumindest nicht mehr als Agricola und alle anderen, die unter dem Tyrannen gute Arbeit für die res publica geleistet haben und sich nicht zu Märtyrern gemacht haben). Mit dem Vorwurf der ambitiosa mors wird sogar die Unschuld der Opfer des Tyrannen relativiert und ihre moralische Überlegenheit respektive diejenige ihrer relegierten Verwandten in Frage gestellt. Keinem, so der Kern des taciteischen Narrativs, sei es gelungen, seine moralische Integrität unter dem Tyrannen zu bewahren. Alle haben in seiner Darstellung in gleicher Weise Schuld und sind in ähnlicher Weise Opfer des Tyrannen geworden, mit Ausnahme der oben genannten Schurken, weshalb die soziale Position des Einzelnen und die sich in ihr ausdrückende dignitas nicht hinterfragt werden kann. Und dies ist das zweite Element, mit dem Tacitus seinen Zeitgenossen das Narrativ von seinem exemplum-gleichen Schwiegervater unter Domitian attraktiver macht. Denn die Konsequenz für den Autor und seine Leser, wenn sie die taciteische Darstellung akzeptieren, besteht darin, dass es keinen Grund gibt, die aktuelle senatorische Hierarchie zugunsten der aus der Verbannung Zurückkehrenden zu verändern, da diese eben nicht die Karte der moralischen Überlegenheit, dass sie als einzige dem Tyrannen trotz persönlicher Nachteile (nämlich bis zur Todesgefahr) Widerstand geleistet hätten, spielen können, da dieser Widerstand aus eigennütziger Ruhmsucht und zum Schaden der res publica erfolgte. Die aktuelle Führungselite, zu der man nun auch den frischgebackenen Konsular Tacitus zählen kann, hat sich aus moralischer Sicht unter dem Tyrannen nicht mehr zu Schulden kommen lassen, als alle andern auch – die Opfer miteingeschlossen. Die einzige Ausnahme stellen die oben genannten Sündenböcke dar, weshalb die rezente senatorische Führungselite keiner neuen Zusammensetzung bedarf und erst recht keiner, die auf den Ansichten eines Mauricus beruht. Die taciteische Antwort auf die Frage, welche Konsequenz die Damnierung Domitians für die unter dessen Herrschaft akkumulierte senatorische dignitas respektive die soziopolitische Stellung des Einzelnen unter den neuen principes Nerva und Trajan haben sollte, ist gleichermaßen schlicht wie eindeutig: keine.60 Denn bei genauerer Betrachtung ist die senatorische dignitas eines jeden Mitglieds der aristokratischen Elite durch die Herrschaft des Tyrannen prekär, weshalb als alter und neuer Maßstab nicht das Verhältnis des Einzelnen zu diesem und die von diesem erhaltenen Ehren (respektive der diesem gegenüber geleistete Widerstand), sondern die Dienste für die res publica angeführt werden. Diese müssen gemäß der taciteischen Erzählung unabhängig vom jeweiligen Kaiser gesehen werden und orientieren sich an den Interessen des und dem Nutzen für das 60

dignitas meint in diesem Zusammenhang den sehr klar bestimmbaren sozialen Rang eines einzelnen Senators, der diesem nach meritokratischem Prinzip, entsprechend seines senatorischen Ranges und der binnenhierarchisierenden Größe der Seniorität im politischen und sozialen Raum zusteht. Die fama hingegen ist ein weicher Parameter, der zur Bestimmung des Sozialprestiges eines Einzelnen über dessen dignitas hinaus beiträgt, und beruht auf Zuschreibungen durch andere, vgl. den Beitrag von MEISTER in diesem Band.

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gesamte Imperium sowie der senatorischen Elite. Die Differenz zwischen dem Leben unter dem Tyrannen und der allerglücklichsten Zeit unter den neuen principes definiert sich dann nicht dadurch, dass man dem einen Widerstand leistet und den anderen nicht, sondern dadurch, dass während die Dienste für den Kaiser und diejenigen für die res publica unter einem Tyrannen wie Domitian zwei ganz unterschiedliche Dinge sind, sie unter den guten Kaisern Nerva und Trajan zur Deckung gebracht werden.61 So ist auch zu erklären, dass die Bewahrung der memoria Agricolas, eines verdienten Konsulars, unter den neuen principes ein Mitwirken an der Konstituierung der neuen Zeit und kein todeswürdiges Verbrechen darstellt. Die senatorische dignitas ist also in der taciteischen Darstellung, wenn man sich nicht gerade unter einem schlechten Kaiser vollständig kompromittiert hatte, eine vom Herrscher relativ unabhängige Größe, weshalb sie auch nach einer Tyrannis wie derjenigen Domitians nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden kann und die soziopolitische Stellung der Mitglieder der Führungsschicht grundsätzlich beizubehalten ist. Iunius Mauricus hingegen vertritt das andere Extrem, da er – überspitzt formuliert – eine neue Hierarchie unter den neuen principes fordert. In seinen Augen ist die dignitas des einzelnen Senators mit dem maßgeblichen Kriterium der Kaisernähe durch die Damnierung des entsprechenden Herrschers erodiert. Dignitas, die unter dem Tyrannen erworben wurde und sich durch dessen Gunst in dem entsprechenden Sozialprestige und dem sich daraus ergebenden sozialen Status niederschlug, muss sich in seiner Logik in ihr Gegenteil verwandeln. Dabei führt er neue Kriterien der dignitas-Zuweisung ein, die sich aus dem Verhältnis der Führungsschicht zum Tyrannen ergeben. Diese Kriterien lassen sich in den Begriffen Opposition und Freundschaft wiedergeben. Während die oberste Führungsschicht unter Domitian nachweislich zu dessen Freunden zu zählen war und sich ihre dignitas somit aus ihrer Nähe zu einem Tyrannen speiste, ist in seinen Augen die einzige Möglichkeit, wirkliche dignitas zu bewahren, die den Tod des Tyrannen überdauert, die Opposition zu diesem.62 Plinius hingegen nimmt in gewisser Weise eine Position zwischen den beiden Extremen Mauricus und Tacitus ein. Prinzipiell steht er zwar auf der Seite des Mauricus, was sich in dessen positiver Bewertung in den Briefen, aber auch seiner Selbstzuschreibung eines wenigstens inneren Widerstands gegen den Tyrannen niederschlägt.63 Dadurch versucht er, die Pauschalisierung aller Nichtverurteilten 61 62

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Vgl. zu dieser Konzeption des Prinzipats WINTERLING 2004: 19. Es ist durchaus möglich, dass in dieser Position eine gewisse philosophisch basierte Ethisierung aristokratischen Verhaltens in der Alleinherrschaft implementiert ist, die mit den tatsächlichen dignitas-Zuweisungen innerhalb der römischen Gesellschaft relativ wenig zu tun haben; aber das kann an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Vgl. zum inneren Widerstand von Plinius auch BEUTEL 2000: 222–234; GAULY 2008: 196f.; SHELTON 2013: 10–12. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Karriere von Veiento doch erstaunliche Parallelen zu derjenigen von Mauricus hat (relegiert für Schriften, die Nero und dessen Führungselite beleidigten, Rückkehr unter Flaviern nach sieben Jahren und anschließend drei Konsulate; vgl. SHERWIN-WHITE 1966: 300) und sich dadurch die Frage stellt, inwiefern Plinius an dieser Stelle zwar auf Seiten des Mauricus steht, aber andererseits dessen

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zu Helfern des Tyrannen zu durchbrechen und weist auf die Notwendigkeit hin, den Individualfall zu betrachten, wobei die Stufe des Konsulats bei ihm prinzipiell entscheidend für zu kompromittierende Nähe zum Tyrannen zu sein scheint. Dieser Diskurs bietet ihm natürlich den Vorteil, dass er einer der ersten Konsulare unter Trajan war und auf diese Art und Weise die fama und damit das Sozialprestige seiner älteren Standesgenossen beschädigen konnte.64 Alle drei senatorischen Äußerungen zielen aber auf die Bewertung der unter dem Tyrannen erworbenen senatorischen Stellung und der dabei gewahrten moralischen Integrität des Einzelnen. Betrachtet man den Kontext dieser Äußerungen (eine cena beim Kaiser, ein Jahre später veröffentlichter Privatbrief und eine Memorialschrift für den eigenen Schwiegervater) fällt auf, dass dieser Diskurs mit all den Attacken auf die moralische Integrität Einzelner vor allem im Kreis der Standesgenossen und vor dem Kaiser geführt wird. Im Unterschied zur Republik, in der die öffentliche fama erhebliche Bedeutung für die soziopolitische Stellung des einzelnen Senators haben konnte,65 ist in der Kaiserzeit die Ebene der Aushandlung auf die Standesgenossen und vor allem den princeps beschränkt. Doch weder Nerva noch Trajan ließen sich auf diese Diskussionen ein, weshalb diese Debatte nur im Bereich der senatorischen Binnenhierarchisierung Relevanz besaß und allenfalls sekundär zum Statusmarker der Senatoren schlechthin – zur Kaisernähe – geführt wurde. Denn Nerva schob einer anfänglichen Prozessflut nach dem Hinscheiden des Tyrannen einen Riegel vor und die trajanische Führungsschicht wies mit wenigen Ausnahmen (wie bspw. der des Nigrinus) keine großen Unterschiede zu derjenigen Domitians auf.66 Der Extremfall des senatorischen Machtkampfes, ein Bürgerkrieg, wie er sich im Jahre 69 n. Chr. ereignet hatte und der nun von Nerva und Trajan verhindert wurde, was zu einem sehr positiven öffentlichen Echo in der Reichselite führte, bot für die Senatoren unheimliche Aufstiegsmöglichkeiten, bedeutete aber auch eine extreme Fallhöhe.67 Die Auseinandersetzungen der Jahre 96–99 n. Chr. führten nie zur extremen Form der Machtfrage – wer wie viele Standesgenossen mit militärischem Oberkommando und den entsprechenden schlagkräftigen Truppen hinter sich versammeln konnte – und boten dementsprechend auf der realen Ebene wesentlich weniger Chancen zum

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moralische Überlegenheit durch seine Tat (bzw. die seines Bruders) unter Domitian sehr subtil relativiert. Tacitus, der in der noch defizitären Welt Nervas Konsul wurde (und möglicherweise noch von Domitian designiert worden war), wird in der plinianischen Selbstdarstellung der Briefe jedoch dem Verdacht der Kollaboration entzogen, da er als enger Freund des Plinius dargestellt wird, was immer mit einer gewissen Vorbildlichkeit verbunden ist; vgl. HOFFER 1999: 10–12. Vgl. erneut den Beitrag von MEISTER in diesem Band. Zur Amnestie-Politik Nervas vgl. CHRIST 1988: 285; GRIFFIN 2000, 87–89; GRAINGER 2003: 45 sowie STROBEL 2010: 150f. Zur gleichen Herrschaftspraxis des letzten Flaviers und Trajans siehe Waters 1969 und in personeller Hinsicht Jones 1992: 163–165 sowie STROBEL 2010: 64–70, 139–171. Zum Fall des Statthalters Nigrinus siehe ALFÖLDY/HALFMANN 1973: 331–373; SCHWARTE 1979: 146–149; STROBEL 1985: 41–44 und STROBEL 2010: 157–169. Zu den Aufstiegsmöglichkeiten vgl. die Bürgerkriegskarriere des Caecina in den Historien des Tacitus, für mögliche soziale Abstiege oben angeführten Fall des Nigrinus.

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Aufstieg (sowie Risiken des sozialen Abstiegs). Umso größer scheint im Anschluss daran der diskursive Aufwand der Senatoren gewesen zu sein, das Sozialprestige der Standesgenossen zu untergraben, indem sie deren Sozialprestige mithilfe der Denunziation ihres moralischen Fehlverhaltens unter dem Tyrannen, vor dem neuen Kaiser und den übrigen Standesgenossen beschädigten und das eigene zu bewahren trachteten. Dabei wurde das moralische Verhalten unter Domitian mit dessen Damnierung unweigerlich zum Kapital für die Legitimation der aktuellen soziopolitischen Stellung.68 Die Bewertung von Domitians Herrschaft blieb unter den Senatoren unumstritten, aber die Frage nach der Beurteilung des moralischen Verhaltens des Einzelnen war alles andere als geklärt. War nun der Widerstand gegen den Tyrannen maßgeblich oder die Leistung für die res publica oder jene die Opposition präferierende, diese aber auf die Kategorie des inneren Widerstands erweiternde Position des Plinius? Alle drei Senatoren scheinen unter Trajan eine erfolgreiche Karriere absolviert zu haben, was für Tacitus und Plinius eine Weiterführung ihres cursus honorum, für Mauricus eine Veränderung seines sozialen Status gegenüber der domitianischen Herrschaft bedeutete. Hier könnte möglicherweise der kleinste gemeinsame Nenner, die Diskreditierung Domitians, eine Rolle gespielt haben.69 Inwiefern die moralische Integrität des eigenen Verhaltens unter dem Tyrannen bei ihrem weiteren Aufstieg unter Nerva und Trajan von Bedeutung war, ist leider nicht zu beantworten; aber dass mithilfe dieser Frage um Sozialprestige in senatorischen Reihen nach dem Tod Domitians gekämpft wurde, ist offensichtlich. Dabei war die Frage nach moralischem Verhalten jedoch eine der Perspektive und konnte sowohl durch die plinianische als auch die taciteische Variante sehr kreativ beantwortet werden. Die plinianische Version war aber keineswegs so exklusiv, wie auf den ersten Blick zu vermuten ist, denn immerhin widerlegte eine erfolgreiche Karriere unter Domitian nicht den eigenen Widerstand gegen den Tyrannen. Interessant scheint an dieser Stelle, dass für Plinius und Mauricus der Kaiser die Referenz für die Bewertung moralischen Verhaltens darstellt: ist dieser schlecht, muss man ihm Widerstand leisten oder darf zumindest nicht sein Handlanger sein, ist er gut, bringt man sich in seine Herrschaft ein. Sie vertreten bemerkenswerterweise einen sehr monarchischen Standpunkt.70 Tacitus hingegen führt mit seinem Bezugspunkt für die Bewertung moralischen Verhaltens das Wohl der res publica und damit eine wesentlich traditionellere Argumentation an, auf deren Grundlage man den Prinzipat als Dyarchie verstehen könnte.71 Dennoch ist für alle drei Senatoren das Verhalten unter dem Tyrannen eine Hypothek auf die soziopolitische Position des Einzelnen (aus taciteischer Sicht nämlich auch auf die des Mauricus). Wie bereits erwähnt, scheinen alle drei eine 68 69 70 71

Zum Begriff des Kapitals siehe BOURDIEU 1992: 49–79. Vgl. zu diesem und weiteren Punkten der Ähnlichkeit zwischen Tacitus und Plinius GRIFFIN 1999: 152f. Vgl. zur modernen Auffassung des Prinzipats als Monarchie beispielsweise FLAIG 1992. Vgl. zur modernen Auffassung des Prinzipats als Dyarchie beispielsweise WINTERLING 2005.

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erfolgreiche Karriere unter Trajan gehabt zu haben, wobei Tacitus und Plinius, wie die meisten ihrer Standesgenossen, im Rückblick betrachtet wie auf einer Welle über den anscheinend so tiefen Bruch zwischen der domitianischen und trajanischen Zeit hinübergetragen wurden. Was wohl mit Catullus Messalinus geschehen wäre, wenn er noch am Leben gewesen wäre? Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte er tatsächlich bei Nerva zu Tische gelegen und mit Veiento und Mauricus gespeist. Allerdings wäre er zuvor nicht das Thema des Tischgesprächs gewesen und seine moralische Integrität unter dem Tyrannen wäre wahrscheinlich weder von Plinius noch von Tacitus in Zweifel gezogen worden. Möglicherweise hätte Plinius dennoch von dem Mut des Mauricus bei der cena Nervas berichtet und das Ziel seines Angriffes wäre möglicherweise Messalinus anstelle von Veiento geworden – aber das wäre wohl stark von dessen Nähe zu Trajan in der Zeit um 104/5 n. Chr. abhängig gewesen. BIBLIOGRAPHIE Alföldy, Géza (1999): Städte, Eliten und Gesellschaften in der Gallia Cisalpina. Epigraphischhistorische Untersuchungen. Stuttgart: Steiner 1999. Ders. / Halfmann, Helmut (1973): M. Cornelius Nigrinus Curiatius Maternus, General Domitians und Rivale Trajans – In: Chiron 3 (1973), S. 331–373. Ash, Rhiannon (2006): Tacitus. London: Bristol Classical 2006. Beck, Jan-Wilhelm (1998): „Germania“ – „Agricola“. Zwei Kapitel zu Tacitus’ zwei kleinen Schriften; Untersuchungen zu ihrer Intention und Datierung sowie zur Entwicklung ihres Verfassers. Hildesheim: Olms 1998. Beutel, Frank (2000): Vergangenheit als Politik. Neue Aspekte im Werk des jüngeren Plinius. Frankfurt am Main: Peter Lang 2000. Birley, Anthony Richard (2000a): Onomasticon to the Younger Pliny. Letters and Panegyric. München: Saur 2000a. Birley, Anthony Richard (2000b): The Live and Death of Cornelius Tacitus – In: Historia 49 (2000), S. 230–247. Ders. (2009): The Agricola – In: Woodman, Anthony J. (Hrsg.): The Cambridge Companion to Tacitus. Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 47–58. Bischof, Norbert (2012): Moral. Ihre Natur, ihre Dynamik und ihre Schatten. Köln: Böhlau 2012. Bourdieu, Pierre (1992): Ökonomisches Kapital, Kulturelles Kapital, Soziales Kapital – In: Steinrücke, Margareta (Hrsg.): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA 1992, S. 49–79. Bütler, Hans-Peter (1970): Die geistige Welt des jüngeren Plinius. Studien zur Thematik seiner Briefe: Heidelberg: Winter 1970. Christ, Karl (1978): Tacitus und der Principat – In: Historia 27 (1978), S. 449–487. Ders. (2009): Geschichte der Römischen Kaiserzeit. München: C.H. Beck 62009. Coleman, Kathleen M. (1999): Latin Literature after AD 96. Change or Continuity – In: AJAH 15 (2000), S. 19–39. Dorey, Thomas Alan: (1969): Agricola and Domitian – In: G&R 7.1 (1969), S. 66–71. Eck, Werner (2001): Die große Pliniusinschrift aus Comum. Funktion und Monument – In: Angeli Bertinelli, Maria Gabriella / Donati, Angela (Hrsg.): Varia Epigraphica. Atti del Colloquio Internazionale di Epigrafia, Bertinoro, 8–10 giugno 2000. Faenza: Fratelli Lega 2001, S. 225– 235.

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II. DISKURSE ÜBER MORAL

DAS ‚RECHT DES STÄRKEREN‘ IN DEN ATHENERREDEN BEI THUKYDIDES Thomas Gärtner Die wohl denkbar unmoralischste Vorstellung liegt in dem Theorem, dass zwischen zwei Individuen das ‚Recht des Stärkeren‘ gilt, d. h. dass derjenige von beiden Recht hat, der über die Machtmittel verfügt, sein Recht durchzusetzen. Diese Vorstellung wurde in Bezug auf den zwischenmenschlichen Bereich entwickelt von einer aufklärerischen Bewegung im Griechenland des 5. Jhs. v. Chr., von den sog. Sophisten, die uns insbesondere durch die von Sokrates geübte und von Plato vermittelte Kritik kenntlich werden. Diese Richtung hat unverkennbare Spuren hinterlassen bei Thukydides, dem Geschichtsschreiber des Peloponnesischen Kriegs. Thukydides hat das Theorem, dass der jeweils Stärkere im Recht ist, vom zwischenmenschlichen auf den zwischenstaatlichen Bereich übertragen: Mehrere athenische Redner berufen sich darauf, dass der militärisch stärkere Staat, d. h. Athen, naturgemäß seine Macht gegenüber dem schwächeren bis zur Unterjochung des letzteren ausübt – was im folgenden als ‚Recht des Stärkeren‘ bezeichnet wird, auch wenn solche Verhaltensweisen bei Thukydides nur als naturgemäß erwiesen werden und nicht zu einer formalen Neudefinition des Begriffs ‚Gerechtigkeit‘ herangezogen werden.1 Es ist das Ziel des folgenden Beitrags, die drei zentralen Manifestationen dieses Theorems in den thukydideischen Reden vorzustellen, jeweils in ihrer textuellen Umgebung einzuordnen und miteinander in Bezug zu setzen. Auf diese Weise wird sich hoffentlich auch Licht auf die umstrittene Frage werfen lassen, ob es eine erkennbare Entwicklung des athenischen Machtdenkens im Verlauf des Peloponnesischen Kriegs bei Thukydides gibt – wobei hier keinerlei eigene Rekonstruktion historischer Wirklichkeit angestrebt wird, sondern nur die Geschichtsdeutung des Thukydides nachvollzogen werden soll. Die drei im Mittelpunkt stehenden Textstellen sind 1. die Rede der athenischen Gesandten auf der spartanischen Tagsatzung vor Kriegsbeginn, 2. der berüchtigte Melierdialog und 3. die Rede eines athenischen Gesandten namens Euphemos in der sizilischen Stadt Kamarina nach Beginn der athenischen Invasion in Sizilien.

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Zu diesem Unterschied zwischen Thukydides und den Sophisten vgl. ERBSE 1989: 113; ORWIN: 1994: 46; HAGMAIER 2008: 105, Anm. 251; MEISTER 2011: 266f.

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1 DIE REDE DER ATHENISCHEN GESANDTEN AUF DER SPARTANISCHEN TAGSATZUNG VOR KRIEGSBEGINN Die Rede der athenischen Gesandten auf der spartanischen Tagsatzung kommt dadurch zustande, dass auf einer von den Spartanern veranstalteten Versammlung den Vertretern griechischer Städte die Möglichkeit geboten wird, ihre Vorwürfe gegen Athen zu äußern.2 Nachdem eine Reihe von Städten dieser Aufforderung nachgekommen ist, melden sich die Korinther zu Wort, deren Rede als erste von Thukydides im Wortlaut mitgeteilt wird: Sie kritisieren die Nachlässigkeit der Spartaner, die in ihrer konservativen Trägheit dem – breit und geradezu enkomiastisch ausgemalten – vordrängenden und zupackenden Wesen der Athener nichts entgegenzusetzen haben. Von athenischer Seite hielt sich zu dieser Zeit eine Gesandtschaft in Sparta auf – „in anderen Angelegenheiten“, wie es lapidar und nicht näher ausgeführt heißt.3 Diese Gesandten hören von den Vorwürfen gegen Athen, begeben sich zu der öffentlich stattfindenden Versammlung und bitten darum, vor der versammelten Menge, dem πλῆθος, sprechen zu dürfen.4 Das Ziel der Rede wird im Vorspann wie im Prooemium so klar formuliert, dass man hieraus bereits die Disposition der ganzen Rede entnehmen kann. Die Athener sagen, sie wollten nicht etwa den Vorwürfen der spartanischen Bundesgenossen erwidern, da sie ja schließlich nicht vor Gericht stünden; sie wollten vielmehr den Spartanern den Rat geben, sich keinesfalls übereilt auf einen Krieg gegen Athen einzulassen, und zugleich auch die Größe ihrer eigenen Stadt darlegen sowie vor allem, dass die athenische Herrschaftsausübung im Attischen Seebund „nicht widernatürlich“ (οὔτε ἀπεικότως) zustande komme.5 In dieser Propositio sind interessanterweise die drei Redegattungen, welche Aristoteles im nächsten Jahrhundert in seiner Rhetorik entwickeln wird, bereits vorhanden und säuberlich voneinander geschieden: Eine Gerichtsrede wird abgelehnt, statt dessen soll den Spartanern eine politische Beratungsrede geboten werden, und in dieser soll zugleich auch der epideiktische Nachweis der Größe Athens erfolgen. Die Ablehnung einer Gerichtsrede (in der – zumindest nach aristotelischer Theorie – Gerechtigkeitsargumente vorgebracht werden müsste) hat an exponierter Stelle eine Parallele bei Thukydides:6 In der Mytilene-Debatte (im dritten Buch des Thukydides) hatte der radikale Demokrat Kleon eine kollektive Abstra2 3 4 5 6

Zu den Reden der Tagsatzung vgl. HAGMAIER 2008: 77ff.; zu dieser auch RAUBITSCHEK 1973: 32–48. Zu Spekulationen über den hier verschwiegenen historischen Anlass vgl. RAUBITSCHEK 1973: 33. Vgl. Thuk. 1,72,1f. Vgl. Thuk. 1,73,1. HEATH 1990: 385–400 argumentiert sehr überzeugend, dass die programmatische Zurückdrängung von Gerechtigkeitsargumenten in mehreren athenischen Reden bei Thukydides als thukydideisches Kompositionsprinzip und nicht etwa als Charakteristikum der – fast vollständig verlorenen – realen athenischen Rhetorik des 5. Jhs. v. Chr. zu betrachten ist.

Das ‚Recht des Stärkeren‘ in den Athenerreden bei Thukydides

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fung der vom Attischen Seebund abgefallenen Mytilenäer gefordert; Diodotos, der eine verhältnismäßige Milde bei der Bestrafung empfiehlt, weist Kleon nach, dass er in seiner Rede in methodisch bedenklicher Weise Gerechtigkeits- und Nützlichkeitserwägungen vermische und damit den Anforderungen einer echten Beratungsrede, die sich ausschließlich auf die Nützlichkeit des Empfohlenen konzentrieren müsse, nicht gerecht werde.7 Die eigene Rede des Diodotos ist mit einer geradezu schockierenden Stringenz auf den Nachweis des Nützlichen ausgerichtet. In dieser Antilogie liegt jedoch eine etwas andere Konstellation als in der Athener-Rede im ersten Buch vor (auch deswegen bleibt hier die MytileneDebatte etwas an den Rand gestellt): Hier setzen sich zwei athenische Sprecher in einem innerathenischen Bezugsrahmen, nämlich in der ἐκκλησία, auseinander, und der zweite hat objektiv recht damit, dass er nicht vor einem Gericht, sondern in einer beratenden Volksversammlung spricht. Im Falle der Athenerrede im ersten Buch liegt dagegen in der Ablehnung der Gerichtsrede eine subjektive Einschätzung einer diplomatischen Situation vor: Der athenische Redner empfindet es als unangemessen, im Rahmen der spartanischen Tagsatzung auf die seiner Vaterstadt gemachten Vorwürfe erwidern zu müssen. Grundverschieden ist auch die jeweilige literarische Funktion der Abweisung gerichtlichen Argumentierens: Diodotos geht es darum, die rhetorische Vorgehensweise seines Opponenten Kleon, der eben die richtige Methodik einer Beratungsrede nicht beherrscht, als fehlerhaft zu erweisen und im Kontext der gesamten Antilogie dient dieser Nachweis dazu, Kleons Argumentation bereits rhetorisch ins Unrecht zu setzen. In der Athenerrede hat die Ablehnung gerichtlichen Argumentierens dagegen kompositionell die Funktion, zu begründen, dass die Athener nicht auf die gegen sie zuvor geäußerten Vorwürfe antworten müssen; dies ist im Rahmen der thukydideischen Gestaltung der Tagsatzung, wo die Beschwerdereden gegen Athen – abgesehen von den Korinthern, die sich ja eher gegen Sparta als gegen Athen richten – lediglich summarisch erwähnt werden, nur konsequent: Denn die Athener können sich ja kaum gegen bestimmte Vorwürfe äußern, die bei Thukydides von keiner Gegenpartei formuliert worden sind. Im Rahmen der Gesamtkomposition des ersten thukydideischen Buches dient dieses Verfahren natürlich dem Zweck, dass die Athener sich zum wahren Kriegsgrund, zur ἀληθεστάτη πρόφασις, und nicht zu den ephemeren Streitpunkten äußern sollen.8 7 8

Vgl. GÄRTNER 2004: 225–245; SCHMITZ 2010: 45–65. GOMME zu Thuk. 1,75 (HCT 1: 236) nimmt an, dass die Athener doch (entgegen ihrer Ankündigung) den ἐγκλήµατα der Städte erwidern: „It will be observed that the speaker is now answering the complaints made by Sparta’s allies, though not those made by the Corinthians“; ferner zu Thuk. 1,77 (HCT 1: 243): „We may note that the Athenian speaker is here answering a particular charge, though he has said he will do no such thing“. Doch nach der Einleitung der Tetralogie in Thuk. 1,67 ist es klar, daß sich die gegen Athen vorgetragenen ἐγκλήµατα auf die aktuellen militärischen und politischen Streitpunkte, etwa die Belagerung von Poteidaia und das megarische Psephisma, bezogen haben müssen, nicht aber auf die Art, wie die Athener ihre Bundesgenossen behandelten. Auch Stheneladas hebt in seiner kurzen

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Kommen wir zur konkreten Disposition der Athenerrede: Hier ist der epideiktische Teil, das Athenlob, dem symbuleutischen, der Warnung Spartas vor einem übereilten Kriegseintritt funktional untergeordnet. Die ‚Beratung‘ erfolgt ausschließlich im Schlusskapitel der Rede (1,78) und sie reduziert sich genaugenommen auf die Aufforderung: „Überlegt es euch gut, bevor ihr Krieg beginnt gegen eine Stadt wie Athen, deren Wesen wir zuvor geschildert haben.“9 Der Löwenanteil der Rede, die Kapitel 1,73–77, sind der Darstellung athenischer Größe vorbehalten; wir haben also im Prinzip eine Lobrede auf Athen vor uns, die in verhältnismäßig knapper Weise am Schluss in den Dienst einer Warnung an Sparta genommen wird.10 Diese Lobrede beginnt mit den Perserkriegen, in denen sich die Athener immense Verdienste um ganz Griechenland erworben haben. Der Attische Seebund entstand nach dieser Darstellung aus dem freien Willen der Bündner heraus und in dem Bemühen, die Griechen gegen Persien zu verteidigen11 – die Spartaner wollten eine vergleichbare Führungsrolle nicht übernehmen, wie es ausdrücklich heißt.12 Mit der Zeit wurde diese Vereinigung jedoch drückend für die Bundesgenossen Athens, aber in Anbetracht der zunehmenden Spannungen zu Sparta war es für Athen nicht mehr ohne Gefahr möglich, diese zwischenstaatliche Führungsposition gefahrlos aufzugeben. In diesem Zusammenhang nehmen die Athener dann das ‚Recht des Stärkeren‘ in Anspruch:

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Erwiderung (Thuk. 1,86,1) hervor, dass die Athener in keiner Weise auf die Beschwerden der spartanischen Bundesgenossen eingegangen sind. Insofern das Athenlob sowohl an der Leistungsfähigkeit Athens als auch an der Bereitschaft Athens, seinen Nutzen auch gegen erhebliche Widerstände zu wahren, keinen Zweifel lässt, ordnet sich der enkomiastische Teil dem symbuleutischen meines Erachtens ohne Schwierigkeit unter. Dagegen glaubt GOMME (HCT 1: 253), dass die Gestaltung der Athenerrede passender wäre, wenn die Athener nicht etwa vom Krieg abraten wollten, sondern geradezu eine Kriegserklärung Spartas erstrebten. Die Einschätzung von RAUBITSCHEK 1973: 36, „The first and main theme of the speech of the Athenians ist the Justification of their Empire“, trifft also nicht die Disposition der Rede und könnte allenfalls eine latente Wirkungsabsicht bezeichnen. Zu Recht räumt die Deutung von STAHL 1966: 43ff. mit der Annahme einer solchen moralischen ‚justification‘ auf, vermag aber andererseits nichts anderes als „eine mit Arroganz vorgetragene Darstellung athenischer Macht“ (EBD.: 53) zu erkennen, deren Arroganz nach STAHLS Deutung den warnenden Tonfall des symbuleutischen Teils (Thuk. 1,78) auf die Athener selbst zurückschlagen ließe (EBD.: 54); ganz ähnlich FLASHAR, 1969: 47ff., der zuvor (EBD.: 45) die Athenerrede richtig als „eine Demonstration (nicht Rechtfertigung) ihrer Macht“ beschrieben hat. Die Möglichkeit, dass der epideiktische Teil der Athenerrede zwar keine ‚justification‘, aber eine ernstgemeinte lobende Selbstdarstellung Athens enthält, die vom Motiv des ‚Rechtes des Stärkeren‘ wertneutralen Gebrauch macht, wird nicht erwogen. Ebenso urteilt die moderne historische Forschung, vgl. SMARCZYK 1990: 435: „Die politische Zielsetzung des […] Seebundes […] bestand primär in der Sicherung der Freiheit der Bundesmitglieder gegen achämenidische Herrschaftsansprüche und Revanchegelüste bzw. zunächst in der Befreiung der noch unter persischer Kontrolle stehenden ostgriechischen Poleis.“ Bestätigt wird diese Version durch die Pentekontaetie, Thuk. 1,95f. Der Unwille der Spartaner, die Führungsrolle zu übernehmen, wird dort konkretisiert durch die schlechten Erfahrungen der Spartaner mit Pausanias.

Das ‚Recht des Stärkeren‘ in den Athenerreden bei Thukydides

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„So haben auch wir nichts Erstaunliches getan und auch nicht in Widerspruch zur menschlichen Art, wenn wir eine Herrschaft, die uns geboten wurde, annahmen und diese nicht mehr losließen […], wobei wir auch nicht als erste mit solchem Tun begannen, sondern es sich schon immer etabliert hatte, dass der Schwächere vom Stärkeren zurückgedrängt wird.“13

Das letzte Kapitel vor dem symbuleutischen Abschluss der Rede ist dem Nachweis gewidmet, dass die Athener ihre Herrschaft in Relation zu den ihnen zu Gebot stehenden Machtmitteln weitestgehend mäßigten (das griechische Stichwort ist µετριάζειν); dies zeigt sich insbesondere daran, dass innerhalb des Attischen Seebundes gerichtliche Maßnahmen stattfanden, bei welchen die Athener gelegentlich auch den Kürzeren zogen.14 Es wird jedoch beklagt, dass diese relative Mäßigung von den Abhängigen nicht gewürdigt wird, und es werden Vergleiche in der Form von Gedankenexperimenten angestellt, dass wohl die Spartaner, erst recht aber die Perser bei vergleichbarer Machtüberlegenheit weniger Mäßigung gegenüber ihren Untergebenen üben würden, als es jetzt de facto die Athener tun.15 2 DER MELIERDIALOG Kommen wir nun zum Melierdialog. Im zweiten Kriegsabschnitt, nach dem vergeblichen Nikiasfrieden, landen die Athener mit beträchtlicher militärischer Übermacht auf der politisch neutralen Insel Melos.16 Bevor es zu Kampfhandlun13

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Thuk. 1,76,2: „οὕτως οὐδ' ἡµεῖς θαυµαστὸν οὐδὲν πεποιήκαµεν οὐδ' ἀπὸ τοῦ ἀνθρωπείου τρόπου, εἰ ἀρχήν τε διδοµένην ἐδεξάµεθα καὶ ταύτην µὴ ἀνεῖµεν […] οὐδ' αὖ πρῶτοι τοῦ τοιούτου ὑπάρξαντες, ἀλλ' αἰεὶ καθεστῶτος τὸν ἥσσω ὑπὸ τοῦ δυνατωτέρου κατείργεσθαι.“ (Übers.: GÄRTNER). Auf die konkret-historische Ausdeutung dieser strittigen Stelle kann hier nicht im Einzelnen eingegangen werden, vgl. die knappe Doxographie bei HAGMAIER 2008: 109f., Anm. 279. WILL 2003: 42, sieht den wirklichen Bezugspunkt dieser Partie in der spartanischen Herrschaftsausübung nach Kriegsende 404. Voraussetzung dieser Deutung (wie auch der entsprechenden des Melierdialogs, vgl. EBD.: Anm. 52) ist die Spätdatierung dieser Reden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich, wie anfangs angekündigt, auf die Deutung der Thukydidesreden und lassen verschiedene historische Zweifel an der melischen Neutralität beiseite. Hierzu vgl. TREU 1954: 253–273; dagegen bereits schlüssig EBERHARDT 1959: 284–314; weitere historische Literatur bei GOMME/ANDREWES HCT 4: 156. MEISTER 2011: 250f. lehnt TREUS Argumentation ab, bestreitet aber die allgemein angenommene Neutralität von Melos mithilfe der thukydideischen Hinführung zum Melierdialog, wo es heißt (Thuk. 5,84,2), die Melier hätten anfangs (τὸ µὲν πρῶτον) neutral sein wollen, seien aber dann (ἔπειτα), als die Athener sie durch Verwüstung ihres Landes gezwungen hätten, in einen offenen Kriegszustand eingetreten (ἐς πόλεµον φανερὸν κατέστησαν). Da es später (Thuk. 5,84,3) ausdrücklich heißt, die Athener schickten Gesandte nach Melos, bevor sie das Land plünderten, folgert MEISTER (in Übereinstimmung mit ANDREWES HCT 4: 156 und HORNBLOWER z.St. Commentary on Thucydides: Volume 3. Oxford 2008), der Ausdruck beziehe sich auf den früheren misslungenen Angriffsversuch der Athener auf Melos im Jahr 426 v. Chr. (Thuk. 3,91,1f.), so dass sich die Melier demnach – formal betrachtet – seit zehn Jahren im offenen Kriegszustand mit Athen befänden (hierzu HORNBLOWER: „[…] although a period of fully ten years of ‚open war‘ seems historically difficult“). Man wundert sich jedoch, warum

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gen kommt, schicken die Athener Gesandte. Doch diese werden – anders als die Athener auf der spartanischen Tagsatzung – nicht vor die Volksmenge, das πλῆθος, gelassen, sondern dürfen sich nur vor den Behörden der Melier äußern.17 Die Athener zeigen sich hierüber nicht verärgert, sondern haben geradezu Verständnis dafür, dass die Melier es nicht zulassen wollen, dass die Athener mit einer „zusammenhängenden Rede“ (einer ξυνεχὴς ῥῆσις) möglicherweise das Volk verführen wollen.18 Mit diesem Einverständnis der Athener ist zugleich auch die Rechtfertigung des kompositionell ungewöhnlichen Verfahrens, einen Dialog anstelle einer klassischen Antilogie in ein Geschichtswerk einzulegen, gegeben. Wenig später erklären sich die Athener bereit, nicht nur auf die etablierte Form der zusammenhängenden Rede zu verzichten, sondern auch auf die in solchen Gesandtschaftsreden üblich gewordenen ‚schönen Worte‘ über die gewaltigen geschichtlichen Leistungen der eigenen Stadt. So will man bereitwillig davon absehen, nachzuweisen, dass die athenische Herrschaft gerecht sei wegen der Besiegung der Barbaren.19 Die Athener erlegen den Meliern als methodische Bedingung auf, mit dem Nutzen argumentieren zu müssen. Das versuchen die Melier zunächst, indem sie den Athenern z. B. nahelegen, dass es für sie selbst nützlich sei, gegen Neutrale, wie die Melier, schonend zu verfahren. Im Verlauf des Gespräches verlassen sie jedoch, offenkundig verzweifelnd wegen der Erfolglosigkeit ihrer rhetorischen Bemühungen, zunehmend die vorgeschriebene Argumentationsbasis des Nutzens

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diese Tatsache weder von den Athenern noch von den Meliern im Dialog in irgendeiner Weise berührt wird; wenn es einen solchen zehnjährigen ‚offenen Kriegszustand‘ gab, so kann er nur durch eine sehr formale Betrachtungsweise zustandekommen; vor allem können die Melier in dieser Zeit kaum ihrerseits etwas gegen Athen unternommen haben, so daß sie mindestens ‚faktisch neutral‘ waren. Es dürfte aber auch nicht auszuschließen sein, dass das Satzgefüge in Thuk. 5,84,2 mit ἔπειτα über die momentan geschilderte Situation hinausgreift, dass sich also ἔπειτα („dann erst später“) auf die Zeit nach dem Dialog bezieht, wo die Melier tatsächlich zwei kriegerische Erfolge gegen die Befestigungsanlagen der Athener verbuchen konnten (Thuk. 5,115f.). Wenn dies zuträfe, hätte Thukydides im fünften Buch jeglichen Rückbezug auf die frühere athenische Unternehmung gegen Melos vermieden. – WILL 2006: 27, sucht die von Treu forcierte Tatsache, dass sich Melos auf der athenischen Tributliste von 425/4 v. Chr. findet, mit der früheren erfolglosen athenischen Expedition gegen Melos aus dem Jahr 426 v. Chr., folgendermaßen zusammenzubringen: „Da sie [die Athener] die Insel nicht erobern konnten, wollten sie sie zumindest für erobert erklären.“ WILLS Schlussfolgerung, „Das einzige, was die [erste] Expedition bewirkt hatte, war das Ende der melischen Neutralität“, gilt wieder nur, sofern man „Neutralität“ im formal-staatsrechtlichen Sinne versteht. Thuk. 5,84,3. Thuk. 5,85. Thuk. 5,89. ANDREWES (HCT 4: 161) hierzu richtig: „The speakers do not renounce in principle the claim arising from Athens’ conduct in the Persian Wars; they only exclude it from the present discussion.“ Vielleicht zu weitgehend formuliert WILL 2006: 102: „Was in der Kriegssitzung in Sparta vor Beginn des Krieges ihr Hauptthema war, die großen Verdienste Athens beim Sieg über die Perser und der Rettung Griechenlands vor der persischen Gefahr, ist den Athenern buchstäblich nicht mehr der Rede wert.“

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und berufen sich auf andere Instanzen, insbesondere auch auf die Götter. Dem halten die Athener folgendes entgegen: „Wir nehmen vermutungsweise von den Göttern und sicher von den Menschen an, dass sie aufgrund ihrer unausweichlichen Natur stets über alles gebieten, dessen sie Herr werden. Und wir haben dieses Gesetz weder geschaffen noch bedienen wir uns des existierenden Gesetzes als erste, sondern wir übernehmen es als bestehendes und werden es auch als künftig für immer fortbestehendes zurücklassen und bedienen uns nun seiner, wobei wir wissen, daß sowohl ihr als auch andere, wenn sie in die gleiche Machtposition wie wir kämen, das gleiche tun würden.“20

Trotz dieser kruden Eröffnung stellen die Athener den Meliern am Ende, nachdem die Unterhandlungen bereits gescheitert sind, noch ein zumindest relative Mäßigung verheißendes politisches Menschenideal vor Augen: Den meisten Erfolg haben diejenigen, „die den ihnen gleichen nicht nachgeben, sich gegenüber den Stärkeren ‚gut betragen‘ [wohl ein Euphemismus für ‚gehorchen‘] und gegenüber den Schwächeren maßvoll sind“ („πρὸς δὲ τοὺς ἥσσους µέτριοί εἰσι“).21 Vergleichen wir nun mit der Athenerrede im ersten Buch. Am auffälligsten ist, dass das lange Athenlob, welches nahezu die gesamte Athenerrede okkupierte, verschwunden ist und dass die Athener sogar explizit bekunden, auf ein solches ‚Schönreden‘ ihrer eigenen Vergangenheit verzichten zu wollen. Dieser Verzicht scheint jedoch auch bedingt durch die dialogische, nicht zusammenhängende Form der rhetorischen Auseinandersetzung: Das Lob der großen Leistungen Athens in den Perserkriegen gehört nun einmal in die Form einer zusammenhängenden Lobrede, nicht aber in einen Dialog. Was die wesentlichen Komponenten im Umgang mit den Untergebenen anbelangt, so scheint prinzipiell alles unverändert: auf der einen Seite das Recht des Stärkeren, welches dauerhaft besteht und nicht nur von den Athenern in Anspruch genommen wird, und auf der anderen Seite die Einschränkung durch das Ideal des µετριάζειν, das immer etwas fragwürdig bleibt, weil es von den Herrschenden eben nach Gutdünken dosiert werden kann. In der Athenerrede wird näher ausgeführt, worin diese maßvolle Behandlung besteht (nämlich in der Aufrechterhaltung juristischer Formen, welche Gleichheit implizieren), im Melierdialog wird keine genauere Aufklärung über den Inhalt des µετριάζειν gegeben.22 20

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Thuk. 5,105,2: „ἡγούµεθα γὰρ τό τε θεῖον δόξῃ τὸ ἀνθρώπειόν τε σαφῶς διὰ παντὸς ὑπὸ φύσεως ἀναγκαίας, οὗ ἂν κρατῇ, ἄρχειν: καὶ ἡµεῖς οὔτε θέντες τὸν νόµον οὔτε κειµένῳ πρῶτοι χρησάµενοι, ὄντα δὲ παραλαβόντες καὶ ἐσόµενον ἐς αἰεὶ καταλείψοντες χρώµεθα αὐτῷ, εἰδότες καὶ ὑµᾶς ἂν καὶ ἄλλους ἐν τῇ αὐτῇ δυνάµει ἡµῖν γενοµένους δρῶντας ἂν ταὐτό.“ (Übers.: GÄRTNER). Thuk. 5,111,4. RENGAKOS 1984: 100f. deutet die Stelle als „ironisch gemeinte Wiederaufnahme“ von Thuk. 1,76,3–5: „Die Mäßigung ist zum leeren Schlagwort geworden“ (ähnlich sieht STAHL 1966: 49 ab Thuk. 1,76,3 „schneidenden Hohn“ am Werke). Jedoch zeigt sich meines Erachtens im gesamten Melierdialog kein sicheres Indiz einer solchen zynischen Ironie in dem Sinne, dass die Schwächeren, d. h. die Melier, durch das Recht des Stärkeren verhöhnt werden sollen. Ferner würde wohl eine der Athenerrede entsprechende nähere Ausführung der Mäßigung (Aufrechterhaltung juristischer Formen trotz politischer Ausübung der Arche) das Bild der

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Man könnte daher zu der Auffassung kommen, dass der Melierdialog nichts anderes ist als die Umsetzung des Programms der Athenerrede, freilich in einer sehr pragmatisierten Form, die sich nur zur Kommunikation im esoterischen Gespräch, nicht zur öffentlichen Darstellung als Rede eignet.23 Auf das Lob der athenischen Verdienste in den Perserkriegen wird verzichtet, ebenso auf eine Ausführung, wie sich das maßvolle Verhalten der Athener bekundet – doch für die Unterworfenen bleibt eigentlich alles beim Alten: ihre Unterdrückung wird rechtfertigt durch das Recht des Stärkeren24 – welchen Unterschied macht es für sie, ob dieses historisch an einem Perserkrieg festgemacht wird –, andererseits wird ihnen Mäßigung zugesagt, deren Dosierung im Ermessen der Athener liegt. Eine solche Interpretation, welche Athener-Rede und Melierdialog prinzipiell in eins setzt,25 ist besonders in den 50er, 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts oft versucht worden.26 Ihr steht jedoch das Bedenken entgegen, das Thukydides sich insofern zu Perikles bekennt, als er glaubt, dass dessen Kriegsplan die athenische Katastrophe hätte verhindern können.27 Es ist aber nicht zu bestreiten, dass die Athener, die im ersten Buch auf der spartanischen Tagsatzung sprechen, Vertreter des perikleischen Athens sind. Wenn das von ihnen propagierte Athenbild nun sachlich letztlich völlig mit dem Athenbild des Melierdialogs kongruiert, so wird man zumindest in dieser Hinsicht keine scharfe Trennungslinie zwischen Perikles und seinen gescholtenen Nachfolgern ziehen können. Sehen wir also genauer zu, ob nicht doch eine Differenzierung zwischen dem Athenerbild im ersten und im fünften Buch aufgrund der besprochenen Reden möglich ist. Der Unterschied in der Darbietung des Rechts des Stärkeren besteht darin, dass dieses im ersten Buch im Kontext der historischen Entwicklung des Attischen Seebunds von den Perserkriegen bis zur Gegenwart entwickelt wird. Eine solche historische Kontextualisierung wird im Melierdialog geradezu ostentativ gemieden; das zeigt nicht nur der programmatische Verzicht auf die Darstellung der Perserkriege, sondern auch der Rekurs auf die bei Thukydides nur höchst selten bemühten Götter. Wenn das Recht des Stärkeren tatsächlich, wie die Athe-

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Athener in der politisch-militärischen Entscheidungssituation des Melierdialogs, wo es um die σωτηρία der Melier geht, kaum wesentlich verbessern. FLASHAR 1969: 47 spricht von „verschiedenen, situationsbedingten Ebenen“. Nicht am Text der Athenerrede nachzuvollziehen ist die Auffassung von BAYER 1968: 201, wonach in der Athenerrede ein „Standort bezogen“ wird, „von dem aus sich die beiden Begriffe decken, Macht ist Recht und Recht ist Macht“, wohingegen im Melierdialog „allein die Sphäre der Macht übrigbleibt“. Am deutlichsten: FLASHAR 1969: 44ff. Vgl. hierzu den kritischen Forschungsbericht von HAGMAIER 2008: 105f., der zu Recht mit ERBSE 1989: 127 gegen STAHL 1966: 46ff. auf die unterschiedliche Realisierung des Rechts des Stärkeren in den verschiedenen Phasen des Peloponnesischen Krieges verweist (ERBSES Auffassung wird durch die ganze Untersuchung von MEISTER 2011 erhärtet). Generell zu derjenigen Forschungsrichtung, welche Thukydides eine durchweg ideologiekritische Haltung gegenüber dem athenischen Imperialismus zuschreibt, vgl. NICOLAI 1996: 268ff., der selbst den kritischen Historiker und den auf der Seite des Perikles stehenden Politiker als zwei im Geschichtswerk nebeneinanderstehende Facetten unterscheiden will. Thuk. 2,65.

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ner vermuten, von den Göttern herstammt, so legitimiert es sich gewiss nicht durch die Transformation eines bestimmten menschlichen Bündnissystems. Gerade in dieser radikalen historischen Dekontextualisierung des Rechts des Stärkeren dürfte aber ein über den bloßen esoterischen Präsentationsmodus hinausgehender Unterschied zwischen Melierdialog und Athenerrede liegen. Denn im ersten Buch ist das Recht des Stärkeren eben nicht absolut formuliert, sondern in einem historischen Kontext – oder, wenn man eher philologisch-grammatisch argumentiert (anhand von Thuk. 1,76,2): Der Partizipialausdruck, in welchem die Athener das etablierte Recht des Stärkeren konstatieren (καθεστῶτος) ist einem Hauptsatz subordiniert, welcher die Annahme und Bewahrung einer Herrschaft beschreibt („ἀρχήν τε διδοµένην ἐδεξάµεθα καὶ ταύτην µὴ ἀνεῖµεν“ / „wir nahmen die uns angebotene Herrschaft an und ließen sie nicht los“); das Recht des Stärkeren wird also nach dieser Rede nur in Zusammenhang mit dem notwendigen Festhalten an einer einst freiwillig übertragenen Herrschaft beansprucht. Damit ergibt sich exakte Kongruenz zu den Kriegsplänen des Perikles, gemäß denen die Athener ihre Herrschaft nicht weiter ausdehnen sollten.28 Aus moderner humanitärer Sicht mag man einwenden, dass es, wenn man fremde Staaten im Sinne eines imperialen Bündnissystems versklavt, gleichgültig ist, ob diese dem System schon von vorneherein angehören oder ihm erst einverleibt werden; diese moderne Beurteilungsweise wird aber dem griechischem Empfinden kaum gerecht, welches es verlangt, das von den Vätern Ererbte zu erhalten – nicht aber, es um jeden Preis zu vermehren. Solche Auffassung zeigt sich auch im Epitaphios des Perikles, wonach die Leistung der Väter darin bestand, die athenische Herrschaft in ihrem jetzigen Umfang den Nachkommen zu hinterlassen, diejenige der aktuellen Generation dagegen nicht in weiterer Expansion, sondern in der Ausgestaltung der polis zur ‚Autarkie‘ in Krieg und Frieden.29 Aus diesem Blickwinkel wird es sehr verständlich, dass ein Loslassen der Herrschaft einem Verrat am Erbe der Väter gleichkäme.30 Der ‚Fehler‘ der Athener im Melierdialog scheint also darin zu liegen, dass sie das – gemäß dem ersten Buch – nur zum Zweck des Festhaltens an einer Herrschaft gebotene Recht des Stärkeren durch die spekulative Ableitung von den Göttern historisch dekontextualisieren und einen Staat, der nicht zu ihrem Seebund gehört, unter Inanspruchnahme dieses Rechtes angreifen. Genaugenommen wird ihnen diese Inkongruenz auch innerhalb des Dialogs von den Meliern entgegengehalten. Als die Athener sich darauf berufen, auf die Unterwerfung der Melier als Beweis ihrer Macht in der öffentlichen politischen Meinung angewiesen zu sein, fragen die Melier, ob die Untertanen der Athener denn nicht unterscheiden könnten zwischen Kolonisten der Athener und abgefallenen Bündern und

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Thuk. 2,65,7. Thuk. 2,36,2f. Perikles sagt in seiner letzten Rede (Thuk. 2,62,3): „es sei schändlicher, die einmal erworbene Herrschaft aufzugeben als bei ihrer Erwerbung zu scheitern“ / „αἴσχιον δὲ ἔχοντας ἀφαιρεθῆναι ἢ κτωµένους ἀτυχῆσαι“. (Übers.: GÄRTNER).

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andererseits Staaten, die – wie Melos – Athen eigentlich „nichts angehen“, „τούς τε µὴ προσήκοντας“.31 Der eskalative Schritt, von der Züchtigung abgefallener Bündner überzugehen zur expansiven Unterwerfung von Fremdstaaten, wird in der Komposition des thukydideischen Gesamtwerks realisiert durch die Aufeinanderfolge von Mytilenedebatte und Melierdialog. In diesen beiden großen athenischen Antilogien werden prinzipiell analoge Verfahrens- und Verhaltensweisen diskutiert: Kleon empfiehlt Strenge gegen die Mytilenäer zum Zweck paradigmatischer Abschreckung künftiger Übeltäter („παράδειγµα σαφὲς καταστήσατε“ / „statuiert ein klares Exempel“);32 ebenso berufen sich die Athener drauf, dass sie auf die Unterwerfung von Melos als παράδειγµα angewiesen sind.33 Andererseits empfiehlt Diodotos Milde, um nicht die noch ruhigen anderen Bündnerstädte bzw. die Athen wohlgesinnten Populationsteile in diesen gegen Athen aufzubringen;34 ganz ähnlich empfehlen die Melier Milde gegen sie selbst, damit die Athener nicht andere neutrale Städte gegen sich aufbringen.35 Und schließlich sind die irrationalen Antriebe, welche Bündner nach der Diodotosrede antreiben, die eigentlich hoffnungslose Rebellion gegen Athen zu versuchen, durchaus den Motiven zu vergleichen, welche die Melier im zweiten Teil des Dialogs geltend machen, als sie aus der von den Athenern vorgegebenen Argumentation mit dem Nützlichen ausbrechen: Eine zentrale Rolle spielt jeweils die verführerische Wirkung der Hoffnung (der ἐλπίς)36 und des Glücks (der τύχη).37 Doch all diese Parallelitäten forcieren letztlich noch den bedeutenden Unterschied, dass es in der Mytilenedebatte um abgefallene Bündner Athens geht, im Melierdialog dagegen um einen Staat, der Athen eigentlich „nichts angeht“, „οὐδὲν προσήκει“.38

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Thuk. 5,96. Thuk. 3,40,7. Thuk. 5,95. Thuk. 3,46f. Thuk. 5,98. Thuk. 3,45,5, vgl. Thuk. 5,102f. Die Hoffnungen der Melier auf die Spartaner als ihre Bundesgenossen (Thuk. 5,104–107) entsprechen der Formulierung des Diodotos in Thuk. 3,45,2, wo mit der Möglichkeit gerechnet wird, daß eine Stadt sich im Vertrauen auf ein Bündnis mit anderen („ἄλλων ξυµµαχίᾳ“) zum Abfall entschließt. Thuk. 3,45,6; vgl. Thuk. 5,104. STAHL 1966: 166 sieht die Gemeinsamkeiten zwischen Melierdialog und Diodotosrede, findet aber im Verhältnis beider Reden nur eine Steigerung der ‚Intensität der Aussage‘, insofern Diodotos nur die menschliche Natur analysiere, im Melierdialog jedoch der Vorgang selbst vor Augen geführt werde. Dass zwischen der Abstrafung abgefallener Bündner und dem Überfall auf einen (zumindest faktisch) neutralen Staat ein bedeutender sachlicher Unterschied besteht, bleibt unberücksichtigt.

Das ‚Recht des Stärkeren‘ in den Athenerreden bei Thukydides

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3 DIE EUPHEMOS-REDE IN KAMARINA Mit einem solchen Fremdstaat haben es die Athener auch im sechsten Buch zu tun:39 Nach den ersten Kampfhandlungen auf Sizilien versucht zunächst Hermokrates, die neutrale Stadt Kamarina auf die Seite der mit den Peloponnesiern verbündeten Syrakusaner zu ziehen, welche Sizilien gegen die athenischen Invasoren zu verteidigen streben. Dann will der athenische Redner Euphemos seiner Stadt den Beistand der Kamarinäer sichern.40 Der Auftakt der Euphemosrede gestaltet sich in auffälliger Parallelität zur Athener-Rede im ersten Buch. Euphemos befindet sich eigentlich zum Zweck der Erneuerung eines Bündnisses in Kamarina, doch da sich der Syrakusaner Hermokrates in seiner vorausgegangenen Rede abfällig über seine Vaterstadt Athen geäußert hat, sieht er sich genötigt, den Nachweis zu führen, dass Athen seine Herrschaft nicht „widernatürlich“ innehat („εἰκότως ἔχοµεν“)41 – genau das war der Programmsatz des epideiktischen Teils der Athener-Rede im ersten Buch. Und genauso wie im ersten Buch gibt auch Euphemos einen Abriss über die Entwicklung der athenischen Herrschaft im Anschluss an die Perserkriege, freilich etwas kürzer: So wird etwa die Zusammenfassung der drei wichtigsten Beiträge Athens zu den Perserkriegen (der größten Schiffszahl, des bedeutendsten Feldherrn Themistokles und der größten Kampfbereitschaft) auf den ersten und dritten Faktor gekürzt.42 Trotzdem ist es evident, dass in der thukydideischen Gesamtkomposition dieser Abschnitt auf das erste Buch zurückverweist.43 Eine weitere 39

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Allerdings hatte Kamarina bereits bei der sog. Ersten Sizilischen Expedition (Thuk. 3,86) im Jahr 427 v. Chr. auf athenischer Seite gestanden, was Euphemos im Sinne seiner Sache so verwendet, daß die Kamarinäer Athen einst mit ähnlichen Argumenten zu Hilfe riefen, wie sie die Athener jetzt selbst vorbringen; Thuk. 6,86,1f. Allgemein zur Euphemosrede vgl. BAYER 1985: 61ff., der sophistische Züge nicht bestreitet (EBD.: 65). Thuk. 6,82,1. Weder εἰκότως hier noch die Litotes οὔτε ἀπεικότως in Thuk. 1,73,1 sollte in dem Sinne ‚gerecht‘ gedeutet werden, wie RENGAKOS 1984: 114 will, der den Reden in Buch 1 und 6 meines Erachtens zu Unrecht – wie RAUBITSCHEK 1973 der Athenerrede – Rechtfertigungscharakter zuschreibt (richtig dagegen in dieser Hinsicht STAHL 1966: 45 und FLASHAR 1969: 45, Anm. 86). Denn es kommt den Athenern nicht darauf an, ihrer Herrschaft ein moralisches Prädikat zu verleihen, sondern es soll nur gezeigt werden, dass ihre Herrschaft im Sinne des vorausgesetzten Weltbilds natürlich bzw. folgerichtig ist. Ein Gerechtigkeitsanspruch begegnet bezeichnenderweise nur im Melierdialog, und zwar dort in negierter Form (Thuk. 5,89). Ebenfalls negiert – und wegen des mit µόνοι berührten Alleinanspruchs anders (vgl. Anm. 43) – ist in der Euphemosrede die Stelle Thuk. 6,83,2. Thuk. 1,74,1. Vgl. Thuk. 6,83,1. In der Athenerrede wird auf die Ehrungen des Themistokles von spartanischer Seite verwiesen, so dass er auf der spartanischen Tagsatzung von den Athenern bewusst als ein athenischer Sympathieträger erwähnt wird – da ein ähnlicher rhetorischer Effekt in Kamarina nicht zu erreichen war, ist die Weglassung dieses Faktors durch Euphemos nachvollziehbar. CONNOR 1984: 183f. sieht – etwas forciert – in dem Argument, dass die Ionier Athen in den Perserkriegen verrieten und daher zu Recht ‚versklavt‘ wurden, einen Ersatz („replaced“) für den in der Euphemosrede fehlenden dritten Faktor. Zu den Anklängen – deren Bedeutung von HORNBLOWER (3: 502) minimalisiert wird – vgl. HAGMAIER 2008: 97, Anm. 221 (hinzu kommt noch der signifikant parallele Satzanfang mit

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auffällige Gemeinsamkeit besteht darin, dass auch Euphemos – wie die Athener im ersten Buch – sich gegen die Vorstellung verwahrt, in den Kamarinäern Richter vor sich zu haben.44 Ganz anders als die Athener im ersten Buch ist jedoch Euphemos nicht in der Lage, eine freie Lobrede Athens vortragen zu können, ohne auf eine Gegenrede Rücksicht nehmen zu müssen. Im Gegenteil sind seine Ausführungen gleich von Anfang an deutlich geprägt von der Auseinandersetzung mit den Argumenten seines Opponenten Hermokrates. Hier liegt eben – anders als in der Tagsatzung im ersten Buch – die typische Zweitrede in einer paarigen Antilogie vor. Euphemos wehrt sich nach Kräften gegen die von Hermokrates nachdrücklich ausgesprochene Warnung, die Athener wollten ganz Sizilien unterwerfen. Darüber, dass dies tatsächlich das Ziel der Athener war, kann nach dem Auftakt des sechsten Buches45 und spätestens nach der Alkibiades-Rede vor dem Aufbruch46 eigentlich kein Zweifel bestehen. Euphemos argumentiert jedoch, dass die Athe-

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„πᾶσι δὲ ἀνεπίφθονον“ in Thuk. 1,75,5 und Thuk. 6,83,2, vgl. Dover HCT 4: 354) und ausführlich HOGAN 1989: 243ff., der zu folgender Auswertung gelangt: „The λόγος of the Athenian empire has lost its power to articulate Athens’ virtues and direct the energy of her people“ (253). – RAUBITSCHEK 1973: 37f., sucht den Unterschied zwischen beiden Reden klar zu formulieren: In der Athenerrede „the claim (sc. of the Athenians to be entitled to rule) is based on virtuous conduct“, in der Euphemosrede „on power“. Diesem Urteil liegt jedoch eine falsche Aufassung über den vermeintlichen Rechtfertigungscharakter der Athenerrede zugrunde (vgl. oben Anm. 10). Auch die Formulierung von ORWIN 1994: 130, „Euphemus lacks he boldness of earlier Athenian apologists“ (speziell der Athener im ersten Buch), trifft nicht Entscheidendes; genau umgekehrt sieht HORNBLOWER (3: 501) es als communis opinio der bisherigen Forschung an, „that Euphemos punches much harder“. DOVER (HCT 4: 353) betrachtet die Athenerrede in Thuk. 1 ebenfalls als „essentially apologetic“ (hiergegen vgl. oben Anm. 10) und sieht den Unterschied zur Euphemosrede vor allem darin, dass die Athener in Thuk. 1 eine Handlung (die Kriegserklärung der Spartaner) zu verhindern suchen, während Euphemos eine Handlung (den Bündnisschluß Kamarinas mit Athen) herbeiführen will. Dovers Auffassung, daß Euphemos (im Gegensatz zu den Athenern in Thuk. 1) „declares that he will not expatiate on the services which Athens gave to Greece in the Persian Wars“, beruht auf einem Missverständnis von Thuk. 6,83,2, wo die Athener nur darauf verzichten, aus einem angeblich von ihnen allein (µόνοι) errungenen Sieg über die Perser eine Herrschaftsrechtfertigung abzuleiten; auf ihre Verdienste im Perserkrieg berufen sie sich sehr wohl, so kurz zuvor auf die größte Schiffszahl und die höchste Bereitschaft (vgl. Anm. 42). Im ganzen beurteilt Dover die Argumentationsweise des Euphemos (im Vergleich zu derjenigen der Athener in Buch 1) als „realistic“. RAWLINGS 1981 betrachtet im Rahmen seiner Strukturanalyse die Euphemosrede als Pendant zur Athenerrede im ersten Buch; daher vergleicht er beide Reden ausführlich (117–122); im Gegensatz zu DOVER bestreitet er – meines Erachtens zurecht – den ‚Realismus‘ der Euphemusrede (121: „this is not realism, it is pure deceit“); das Ergebnis seines Vergleichs lautet (122): „The Athenians in Book I are on the defensive … In Book VI the Athenians are plainly the aggressors“. Dies trifft zu in Bezug auf die äußere militärische Situation (in Buch 6 suchen die Athener ihre Arche zu erweitern, in Buch 1 reden sie von der Zusammenhaltung des bestehenden Systems), nicht jedoch, wenn man „on the defensive“ rhetorisch im Sinne von DOVERS (siehe oben) Auffassung versteht, die Athenerrede sei „apologetic“ (RAWLINGS 1981: 121). Thuk. 6,87,3. Thuk. 6,1. Thuk. 6,18,4.

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ner Kamarina nicht etwa unterwerfen, sondern gegenüber Syrakus stärken wollen. Um diesem Argument Plausibilität zu verschaffen, gestaltet er im ersten Teil seiner Rede die gesamte athenische Geschichte im Anschluss an den Perserkrieg dementsprechend um. Die Aufrüstung der athenischen Seemacht und die Einrichtung des Attischen Seebunds geschah nach dieser Version nicht zum Schutz gegen die Perser, sondern um den Athenern Schutz gegen die Vormacht Spartas zu schaffen47 (dagegen hieß es in der Athener-Rede im ersten Buch, die Spartaner hätten unmittelbar nach den Perserkriegen keine Führungsfunktion übernehmen wollen). Nach Euphemos war der gesamte Attische Seebund von Anfang an nur als ein Schutzinstrument Athens gegen Sparta – und dasselbe Sicherheitsbedürfnis führt jetzt die Athener nach Sizilien und veranlasst sie, dort die Feinde von Syrakus (und damit auch von Sparta) stärken zu wollen. Und in diesem Zusammenhang kommt Euphemos auf das Recht der Athener, ihren Nutzen zu wahren, zu sprechen: „Für einen Mann, der Tyrann ist, oder eine Stadt, die eine Herrschaft unterhält, ist nichts vernunftwidrig, das nützlich ist … in jedem einzelnen Fall müssen sie im passenden Moment Feind oder Freund werden“.48

Das bedeutet konkret, dass es unter dem dominierenden Gesichtspunkt von Athens Nutzen keinen Widerspruch bedeutet, wenn man einerseits im Mutterland Städte versklavt, weil diese in unterworfener Position (d. h. als Beiträger von Tributzahlungen) nützlicher sind, dagegen andererseits in Sizilien verbündete Städte wie Kamarina in ihrer Autonomie stützt, weil diese als Gegengewicht zu Syrakus nützlich sind.

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SMARCZYK 1990: 400, spricht in Bezug auf die Euphemosrede von einem „extrem zugespitzten Muster einer politischen Rhetorik, die von den Möglichkeiten einer historischen Begründung der Arché in einer eigenartig einseitigen und mit anderen Stellungnahmen athenischer Redner bei Thukydides unvereinbaren Weise Gebrauch machte“. SMARCZYK hat insbesondere die Behandlung der Ionier im Auge, doch von der Vorstellung, dass der Seebund sich primär aus der Feindschaft zu Sparta heraus entwickelte, gilt dasselbe. Die Einseitigkeit zeigt sich insbesondere darin, daß anstelle der drei Motive der Athener gemäß Thuk. 1,75,3 („δέος“, „τιµή“ und „ὠφελία“ / „Furcht“, „Ehre“ und „Nutzen“) in der Euphemosrede nur der Selbstschutz gegen die feindlichen Spartaner tritt (also das δέος isoliert wird; MEISTER 2011: 271 spricht von einer „Präventivtheorie“), ferner aber auch insofern, als bei Euphemos eine zeitliche Entwicklung des Attischen Seebundes, wie sie im ersten Buch ohne weiteres zugegegeben wird (die athenische Arche zunehmend beschwerlich für die Bünder), keine Erwähnung findet. Auch gemäß SCARDINO 2007: 581f. ist die Darstellung der Geschichte des Attischen Seebundes in der Euphemosrede „in einseitiger Reduktion gegenüber dem auktorialen Bericht subjektiv interpretiert“. Meines Erachtens verfehlt ist die Deutung von FORDE 1989: 61–67, der, den Trugcharakter der Euphemosrede missachtend, in der Verabsolutierung des defensiven Motivs der furchtsamen Verteidigung Athens (δέος), welches bei Euphemos sowohl die Gründung des Attischen Seebunds als auch das Ausgreifen nach Sizilien bestimmt, den mäßigenden Einfluss der Politik des Nikias auf die aggressive Richtung des Alkibiades wirksam sieht. Thuk. 6,85,1: „ἀνδρὶ δὲ τυράννῳ ἢ πόλει ἀρχὴν ἐχούσῃ οὐδὲν ἄλογον ὅτι ξυµφέρον … πρὸς ἕκαστα δὲ δεῖ ἢ ἐχθρὸν ἢ φίλον µετὰ καιροῦ γίγνεσθαι.“ (Übers.: GÄRTNER).

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Die Fadenscheinigkeit dieser Argumentation ist mit Händen zu greifen. Entscheidend zum Verständnis der Argumentationsweise des Euphemos ist die Erkenntnis, dass er die gesamte Geschichte des Attischen Seebundes zu einer einzigen Absicherungsmaßnahme gegen die vermeintliche spartanische Hegemonie umdeutet, um auch das Ausgreifen Athens nach Sizilien als eine hierzu widerspruchsfreie Vorsorgemaßnahme verkaufen zu können.49 Vergleicht man diese Argumentationsweise mit derjenigen der Athener im Melierdialog, so kommt man zu dem Ergebnis, dass der dort beobachteten historischen Dekontextualisierung des athenischen Rechtes, den eigenen Nutzen durchzusetzen, hier eine handgreiflich manipulierte und völlig einseitige Kontextualisierung entspricht. Die Geschichte des Attischen Seebunds wird derart neukonstruiert und umgedeutet, dass man das Eingreifen Athens in Sizilien scheinbar rechtfertigen kann: Wenn die Athener mit ihrer Herrschaft immer nur das Ziel der Absicherung gegen Sparta verfolgten (der im ersten Buch zugelassene Entwicklungsaspekt, dass die Herrschaft ihren Charakter veränderte, fehlt hier völlig), dann ist es jetzt auch konsequent, dass sie fremde Städte in Sizilien angreifen, wenn das ebenfalls ihrem Schutz gegen Sparta dient. Auch das im Sinne des ursprünglichen athenischen Programms aus dem ersten Buch zu erhebende Gegenargument, dass die sizilischen Städte Athen „nichts angehen“, bleibt von Euphemos nicht unerwähnt. Zunächst formuliert er im Sinne einer rhetorischen Occupatio selbst ein entsprechendes Gegenargument: „und keiner soll annehmen, daß wir uns um euch bekümmern, obwohl es uns nichts angeht“50

und kurz danach resümiert er: „und in dieser Hinsicht [sc. im Sinne der ‚Gefahrenprävention‘ gegen Sparta] geht ihr uns nunmehr in höchstem Maße an“.51

Wir haben also im Melierdialog und in der Euphemosrede zwei alternative athenische Versuche vor uns, den bereits vor Kriegsbeginn auf der spartanischen Tag49

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RENGAKOS 1984: 117 erkennt den Trugcharakter des auf die aktuelle Gegenwart bezüglichen Teils der Euphemosrede, welcher die Absicht der Athener zur Unterwerfung Siziliens verschleiert, beurteilt aber den auf den Attischen Seebund bezüglichen Teil als „keineswegs betrügerisch“ (EBD.: 117, Anm. 236), sondern als Rückprojektion der radikalen Vorstellungen des Euphemos in die eigene Vergangenheit (EBD. 115; ähnlich MEISTER 2011: 269). Meines Erachtens liegt es wesentlich näher anzunehmen, dass Euphemos sich die athenische Vergangenheit absichtsvoll so zurechtlegt, dass sie zu seiner Verschleierung der tatsächlichen Absichten Athens passt. Prinzipiell richtig CONNOR 1984: 183: „The speech adapts a very succinct version of the usual account of the growth of Athenian power to the newly emphasized thesis of inveterate enmity between Ionians and Dorians“. CRANE 1998: 285 spricht der Trugrede des Euphemos sogar im weiteren Zusammenhang des Werkganzen eine Art ironischer Prophetie zu: „In manipulating the facts, this crafty Athenian unwittingly speaks the truth and in so doing foreshadows […] the Athenian disaster to come“; „the Athenians would have been much better off if they had in fact the limited goals that Euphemos ascribes to them“ (CRANE 1998: 288; gemeint ist wohl das begrenzte Ziel des Selbstschutzes gegen Sparta). Thuk. 6,84,1: „οὐδὲν προσῆκον ὑµῶν κηδόµεθα“ (Übers.: GÄRTNER). Thuk. 6,84,2: „προσήκετε ἤδη ἡµῖν τὰ µέγιστα“ (Übers.: GÄRTNER).

Das ‚Recht des Stärkeren‘ in den Athenerreden bei Thukydides

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satzung propagierten Anspruch auf ein Recht des Stärkeren, der dort nur für die Bewahrung der bestehenden athenischen Herrschaft galt, auf einen aggressiven Expansionskrieg zu übertragen – eher sollte man formulieren: so zu manipulieren, dass er sich zur Rechtfertigung dieses Expansionskriegs eignet. Im Melierdialog zeigt der athenische Imperialismus sicherlich seine hässlichste Fratze:52 Der Anspruch, das Recht des Stärkeren durchzusetzen, wird von jeder historischen Bedingtheit getrennt und absolut gesetzt, den Zuhörern, die gegenüber dem athenischen Invasionscorps militärisch hilflos sind, wird die Pistole gnadenlos und unverhohlen auf die Brust gesetzt. Dagegen in der Euphemosrede, wo man es mit einem Auditorium zu tun hat, welches der athenischen Macht noch nicht hilflos ausgesetzt ist, sondern zur Kollaboration gewonnen werden soll, verlarvt sich derselbe Imperialismus schlau und manipuliert seine eigene Geschichte, um sich in einem vergleichsweise harmlosen Licht zeigen zu können: Die athenische Macht handelt zwar zu ihrem eignen Nutzen, konkret gesagt, um sich selbst gegen Sparta zu schützen, aber selbst die aggressiven Facetten dieses Handelns können für eventuelle Partner, die gleiche Interessen haben, durchaus nützlich sein. Daher wird in dieser Nützlichkeitsargumentation der Gedanke, dass der Stärkere naturgemäß immer über den Schwächeren herrscht, geschickt umgangen: Die athenische πολυπραγµοσύνη kann zwar unterjochend wirken (wie im griechischen Mutterland), sie kann aber auch Freunde mit gleichem Interesse stärken (wie angeblich die Kamarinäer in Sizilien).53 Es ist wohl nicht ohne kompositionelle Absicht geschehen, dass Thukydides die athenische Expansionspropaganda zuerst kurz vor dem Beginn der Darstellung der Sizilischen Expedition im Melierdialog bereits vollends entlarvt und erst danach, im Verlauf der Expedition, in der Euphemosrede ihre sich verlarvende Spielform vorführt.54 Beide Spielformen verhalten sich komplementär zueinander, und beide knüpfen ihrerseits an der Athener-Rede im ersten Buch an, die innerhalb der Tetralogie der spartanischen Tagsatzung keine Gegenrede hat und so gewissermaßen das außenpolitische Selbstbild des perikleischen Athens in Reinkul-

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So wird die Darstellung der Athener in der communis opinio gewertet. Vereinzelte Ausnahmen von dieser Bewertung begegnen zuweilen, vgl. SCHWARTZ 1919: 139f., der die „rückständige Verbohrtheit“ der Melier hervorhebt, und neuerdings WILL 2003: 46f., der den Schwerpunkt auf die schließliche historische Bewahrheitung des ungünstigen athenischen Urteils über die Spartaner als erhoffte Bundesgenossen der Melier (Thuk. 5,105.107.109 drei Kapitel, jeweils nicht weiter unterteilt) legt und insofern ebenfalls die Athener im Recht sieht. Später betont WILL 2006: 113 den „janusköpfigen“ Charakter des Melierdialogs „als Rechtfertigung und Kritik des attischen Imperialismus“ (EBD.: 112), hebt dabei aber auch wieder die Spartakritik im Melierdialog hervor. Thuk. 6,87,3. STRASBURGER 1958: 521 sieht – etwas gekünstelt – in der Euphemosrede die Demaskierung wieder zur Maske erhoben: „Sollen die Athenerrede in Sparta und der Melierdialog [die Strasburger meines Erachtens zu Unrecht auf eine Stufe stellt] Athens politische Leitgedanken ohne Maske zeigen, so die Rede des Euphemos, wie eine Demaskierung dieser Art in viel gefährlicherer Weise als die übliche Propaganda als Maske angenommen werden könnte.“

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tur zeichnen kann.55 Die eine Verfallsform (im Melierdialog) gibt sich als offenherzig-esoterisches Supplement zu dieser Grundform, die andere (die Euphemosrede) als ein ihr zum Verwechseln ähnliches Duplikat. Dennoch verlassen, wenn man genauer hinsieht, beide die im ersten Buch noch unerschütterte Grundlage des perikleischen Kriegsplans, der darauf beruht, dass die Stärke Athens geschichtlich aus seiner Leistung in den Perserkriegen hervorgeht und das Recht des Stärkeren nur gegen ausscherende Angehörige des Attischen Seebunds (wie es schließlich auch unter Perikles geschehen ist), nicht aber unterschiedslos gegen neutrale Staaten zu Expansionszwecken in Anspruch genommen werden kann. Andererseits zeigen die großen inhaltlichen Ähnlichkeiten zwischen der Athener-Rede in Buch 1 und den späteren Reden in den Büchern 5 und 6 natürlich auch, wie nahe ein solcher expansiver Missbrauch dieses – schon an sich nicht unproblematischen – Rechts des Stärkeren lag. Um ihn zu verhindern, hätte es eben des Fortbestehens der den athenischen demos zügelnden Kraft eines Perikles gebraucht. Für das unmoralische Recht des Stärkeren ergibt sich die Erkenntnis, dass dieses Theorem für Thukydides offenbar weniger abstoßend war, als es uns heute erscheint, und von ihm geradezu wertneutral gebraucht wird: Er verwendet es sowohl in der von ihm gutgeheißenen perikleischen Ideologie als auch in verschiedenen Spielformen ihrer Entstellung unter den kritisierten Nachfolgern des Perikles und überlässt es seinen Lesern, die einzelnen Stellen richtig zu deuten. Offenbar ist das Recht des Stärkeren akzeptabel, um die Festhaltung einer ererbten und etablierten Herrschaft zu rechtfertigen, nicht aber im Zusammenhang mit einem expansiven Ausgreifen auf Städte, welche Athen „nichts angehen“. Eine per se disqualifizierende Wirkung hat dieses Theorem bei Thukydides genauso wenig wie bei den Sophisten: sie ergibt sich erst für ein durch Plato und Christentum gründlich vorgebildetes Publikum – wie den modernen Leser. BIBLIOGRAPHIE Bayer, Karl (1985): Athenische Realpolitik. Zu Thuk. VI 76–88 – In: Suerbaum, Werner / Maier, Friedrich (Hrsg.): Festschrift für Franz Egermann zu seinem 80. Geburtstag am 13. Februar 1985. München: Insitut für Klassische Philologie 1985, S. 57–65. Bayer, Erich (1949): Thukydides und Perikles – In: Herter, Hans (Hrsg.): Thukydides. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1968, S. 171–259. Connor, Walter R. (1984): Thucydides. Princeton: Princeton University Press 1984. Crane, Gregory R. (1998) Thucydides and the Ancient Simplicity. The limits of political realism. Berkeley: University of California Press 1998. Eberhardt, Walter (1959): Der Melierdialog und die Inschriften ATL A 9 (IG I² 63+) und IG I² 97 – In: Historia 8 (1959), S. 284–314. Erbse, Hartmut (1989): Thukydides Interpretationen. Berlin: de Gruyter 1989. Flashar, Hellmut (1969): Der Epitaphios des Perikles. Seine Funktion im Geschichtswerk des Thukydides. Heidelberg: Winter 1969. 55

SMARCZYK 1990: 628 bezeichnet diese Rede meines Erachtens zu Recht als „ein realitätsnahes Bild einiger Aspekte der Selbstdarstellung athenischer Großmacht- und Bündnerpolitik“.

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DIE KRIEGER-ETHIK DES ‚SCHIFFSPÖBELS‘ VON ATHEN Elke Hartmann „[…] der Schiffspöbel, der den Seedienst versah, kräftigte, als er den Sieg bei Salamis und 1 damit für Athen die Hegemonie zur See herbeigeführt hatte, die Volksherrschaft.“

Diese Bemerkung des Aristoteles stellt einen Zusammenhang zwischen Seeherrschaft und Demokratie her, der auch in der Forschung oft gesehen wurde:   erst der Seebund habe „als letzter Faktor die Demokratie zum Durchbruch“ gebracht.2 Konkret hatte sich die Demokratie im Laufe des 5. Jhs. v. Chr. aus dem Bedeutungszuwachs ergeben, den die Volksversammlung erhielt; dieser war mit den Erfolgen Athens ‚nach außen‘ verbunden, also mit der erfolgreichen Abwehr der persischen Invasionen und dem Ausbau des (ursprünglich gegen Persien gerichteten) Bündnissystems im Ägäisraum unter athenischer Führung, dem sog. Attischen Seebund.3 Denn um das Bündnis- bzw. Herrschaftssystems zu organisieren, waren zahlreiche administrative, diplomatische und militärische Maßnahmen erforderlich, die nur von einer breiten Bürgerschaft bewerkstelligt werden konnten: So wurde ein komplexes Ensemble von Ämtern4 mit definierten Kompetenzen geschaffen, es mussten zahlreiche Entscheidungen getroffen werden, wobei sich das Mehrheitsprinzip als akzeptables Verfahren der Beschlussfindung durchsetzte; und nicht zuletzt mussten auch viele Menschen mobilisiert werden, um die Schiffe zu bemannen. Dass die Ruderer – in der oben zitierten Quelle als „Schiffspöbel“ bezeichnet – an der Herausbildung der Demokratie ihren Anteil hatten, darf als

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Aristot. Pol. 1304a22: „καὶ πάλιν ὁ ναυτικὸς ὄχλος γενόµενος αἴτιος τῆς περὶ Σαλαµῖνα νίκης καὶ διὰ ταύτης τῆς ἡγεµονίας διὰ τὴν κατὰ θάλατταν δύναµιν τὴν δηµοκρατίαν ἰσχυροτέραν ἐποίησεν […].“ (Übers.: ROLFES). Vgl. auch Ath. pol. 27,1. So SCHULLER 1991: 32. FINLEY 1987 betont die ökonomischen Zusammenhänge. Allein die im Rahmen des Seebundes von den Bündnern erhoben Tribute hätten den enorm gewachsenen staatlichen Finanzbedarf decken können. Kosten verursachten z. B. der Bau und die Wartung der Kriegsschiffe, Soldzahlungen für Mannschaften, Diätenzahlungen für Richter und Ratsmitglieder und nicht zuletzt durch den Ausbau zahlreicher Tempel und Kultstätten. Die unmittelbare Abhängigkeit der Demokratie von den Tributzahlungen ist in der Forschung allerdings umstritten: Dass der Ekklesiastensold ausgerechnet zu einem Zeitpunkt außenpolitischer Schwäche eingeführt wurde, spricht eher dagegen. Es waren zahlreiche Führungsrollen in Militär und Diplomatie (als Gesandte) zu besetzen und ebenso zahllose kleinere Ämter (etwa Marktaufseher, Bewacher der Schiffshäuser, Kultverwalter etc.), auf deren Besetzung aber dennoch das Funktionieren des ökonomischen und kulturellen Zentrums des Seebunds, nämlich der Stadt Athen, basierte.

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unstrittig gelten; wie aber sah das Verhältnis der Demokratie zu ihren Ruderern aus?5 Wie wurden die Ruderer, auf deren Armen das Seereich sinnbildlich ruhte,6 in der Gesellschaft, insbesondere im Vergleich mit anderen Truppenteilen wahrgenommen? Stimmt es, dass die Schlacht von Salamis „das Ansehen des Ruderers so weit [hob], daß man in ihm einen Kämpfer zu sehen vermochte“, wie JOCHEN BLEICKEN annimmt? Dass die Ruderer als „vollwertige Kämpfer“ angesehen wurden?7 Dass sie – wie CHRISTIAN MEIER postuliert – sich ganz besonders mit der Stadt identifizierten, besonders stark deren „Krieger-Ideal samt der Haltung zum Tod“ übernahmen?8 Um diese gängigen Annahmen zu überprüfen, stelle ich die Krieger-Ethik der Ruderer ins Zentrum meiner Überlegungen. Unter Krieger-Ethik verstehe ich ein Ensemble von seitens des Gemeinwesens geprägten Identifikationsangeboten, die den Zusammenhalt der Truppe stärken, die Integration des Einzelnen bekräftigen, kollektive Ziele und Sinngehalte formulieren, welche die Opferbereitschaft des Einzelnen erhöhen und entsprechend Desintegration oder gar Desertion verhindern sollen. Es handelt sich um ein Set von Identifikationsangeboten, welche die Kriegsmoral ausmachten, also bestimmten, warum, für wen und für was der einzelne Krieger sein Leben im Kriegsdienst zu geben bereit war. Gibt es in den literarischen, epigraphischen und bildlichen Quellen Hinweise darauf, dass den Ruderern Athens eine Kriegerehre und eine Loyalität zur polis Athen nahegelegt wurden? Um diesen Fragen nachgehen zu können, sind zunächst einige basale Vorklärungen vonnöten. Bekanntlich war die Triere (griechisch: triéres; wörtlich übersetzt: „Dreiruderer“) ein langes, leichtes, von 170 Ruderern bewegtes Kriegsschiff, das am Bug mit einem metallenen Rammsporn versehen war.9 Die Triere konnte sehr schnell hohe Geschwindigkeiten aufbringen und lange Distanzen überbrücken.10 Seit etwa 490 v. Chr. erfolgte der systematische Ausbau und Unterhalt einer Flotte von über hundert Schiffen. Solche Schiffe wurde hauptsächlich als Waffe eingesetzt: Durch rasche Wendungen galt es, die Ruderreihen der Gegner im Vorbeifahren abzurasieren oder ein gegnerisches Schiff durch den Rammstoß zu zerstören.11 200 Männer bildeten die Besatzung einer Triere; sie mussten 5

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Dabei beschränke ich mich zeitlich auf das 5. Jh. v. Chr., in dem der Seebund als Herrschaftsinstrument ausgebaut wurde, bevor er mit der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg in den letzten Jahren des 5. Jhs. v. Chr. aufgelöst werden musste. BLEICKEN 1995: 61. NIPPEL 2008: 29. MEIER 1990: 584, 595. Eine Triere war ca. 35m lang, weniger als 6m breit und nur 3m hoch: MORRISON 1990. Die moderne, rekonstruierte Triere erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 7 Knoten, also 13 km/h; möglicherweise waren die Trieren in der Antike aber schneller, dazu WEES 2004: 206. Die Triere diente auch dazu, Seeblockaden zu errichten und schließlich als Transportmittel, denn außer den Ruderern befanden sich noch 30 Kämpfer an Bord. Die Vorteile dieses Schiffstyps lagen in der Wendigkeit, Beschleunigungsfähigkeit und Geschwindigkeit; von

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in einem extrem engen Raum agieren, auch gab es keinen Stauraum für Verpflegung etc. Wer ruderte die Trieren? Sucht man auf diese schlichte Frage eine Antwort, fällt eine eigentümliche Akzentuierung der Forschung auf: Studien, die sich mit der Entstehung der Demokratie befassen, gehen davon aus, dass die Rudermannschaften sich maßgeblich aus den armen Bürgern Athens rekrutierten, aus den Theten,12 die sich nicht selbst ausrüsten, demzufolge auch nicht als Fußsoldaten dienen konnten. Durch ihren Ruderdienst hätten die Theten eine enorme gesellschaftliche Aufwertung erfahren, sie hätten sich als Krieger und damit auch als Bürger qualifiziert. In militärgeschichtlichen Studien zur Flotte hingegen werden differenziertere Angaben gemacht, welche auch die schiffsinternen Hierarchien einbeziehen. Demzufolge wird für die Offiziere der Bürgerstatus angenommen,13 die übrige Mannschaft setzte sich aus Bürgern, Metöken und Fremden zusammen,14 auch Sklaven seien zum Einsatz gekommen, vor allem auf den unteren Bänken.15 Die militärgeschichtliche Forschung hat deutlich gemacht, dass die Mannschaft aus drei Gruppen bestand: Die erste und ranghöchste Gruppe bildete die Deckmannschaft, d. h. das seemännische Hilfspersonal (hyperesía = „Unteroffi-

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Nachteil war, dass die Triere wegen des niedrigen Freibordes und dem hoch über dem Wasserspiegel liegenden Schwerpunkt anfällig für unruhige See und Stürme war. So etwa HANSEN 1995: 45; BLEICKEN 1995: 61: „Flottengeschwader […] zu 90 % aus Theten“. BLEICKEN 1995: 50: Theten stellten während des Peloponnesischen Krieges den Hauptteil der Flottenmannschaft; so auch BURCKHARDT 1996: 96 mit weiterer Literatur und Quellenbelegen, die nicht den behaupteten Sachverhalt stützen. STRAUSS 1996: 316: „Citizen thetes nontheless made up a significiant proportion of the oarsmen and the petty officers.“. Thukydides lässt Perikles explizit den Bürgerstatus der Offiziere betonen, ansonsten bestehe die Flotte Athens aus „fremden Matrosen“ („die Fremden [xenoi] der Schiffe“), die gegen Bezahlung anheuerten; im Falle von Desertion könne man diese durch Metöken ersetzen. Vgl. Thuk. 1,143,1: „Die Steuermänner, die wir in der Flotte haben, sind Bürger von Athen, und auch die hyperesiai, die wir beschäftigen, sind zahlreicher und von besserer Qualität als im ganzen übrigen Griechenland.“ / „‘εἴ τε καὶ κινήσαντες τῶν Ὀλυµπίασιν ἢ Δελφοῖς χρηµάτων µισθῷ µείζονι πειρῷντο ἡµῶν ὑπολαβεῖν τοὺς ξένους τῶν ναυτῶν, µὴ ὄντων µὲν ἡµῶν ἀντιπάλων ἐσβάντων αὐτῶν τε καὶ τῶν µετοίκων δεινὸν ἂν ἦν: νῦν δὲ τόδε τε ὑπάρχει, καί, ὅπερ κράτιστον, κυβερνήτας ἔχοµεν πολίτας καὶ τὴν ἄλλην ὑπηρεσίαν πλείους καὶ ἀµείνους ἢ ἅπασα ἡ ἄλλη Ἑλλάς.“ (Übers.: LANDWEHR). Als explizite Ausnahme erwähnt Thukydides, dass die Athener im Jahr 428 v. Chr., um die Gegner von ihrer vermeintlichen Stärke zu überzeugen, „hundert Schiffe mit ihren eigenen Leuten (außer Rittern und Fünfhundertschefflern) und mit Metöken bemannt, und an der Landenge entlangfahrend ließen sie ihre Macht sehen […]“ (Thuk. 3,16,1). Den Nutzen gerade der Metöken für die Schiffsdinge (dia to nautikon) betont nicht nur der Alte Oligarch: Ps.-Xen. Ath. pol. 1,12. Auch Aristoteles hält eine soziale Mischung der Schiffsmannschaften für ideal und setzt gerade auf Metöken als Ruderer: Allein die Deckmannschaft sollte aus freien Leuten (ihrem Status nach Hopliten) bestehen, Matrosen aber sollten am besten Metöken oder hörige Bauern sein, sie dürften aber keinesfalls Teil der Bürgerschaft sein. Vgl. Aristot. Pol. 1327b5. Mit der größten Wahrscheinlichkeit waren die thranitai hauptsächlich Bürger und die thalamioi hauptsächlich Sklaven, so WEES 2004: 230.

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ziere“).16 Zur zweiten Gruppe zählten 14 bewaffnete Soldaten (Hopliten bzw. Bogenschützen), die epibátai („Dazugestiegene“) genannt wurden.17 Die dritte und größte Gruppe (nämlich 85 % der gesamten Besatzung) bestand aus 170 Ruderern (naútai, pleroma), unter denen es eine interne Hierarchie gab, die wahrscheinlich der gestaffelten Sitzordnung entsprach.18 Auf dem höchsten Niveau ruderten die 62 sog. thranitai19 über den 54 in mittlerer Lage platzierten zygioi und den 54 zuunterst sitzenden thalamioi.20 Diese hatten es am schwersten: sie konnten nicht hinausschauen, bekamen den Schweiß (etc.!) der über ihnen platzierten Ruderer ab,21 sie waren am meisten durch die Rammstöße der gegnerischen Schiffe gefährdet.22 Wenn also hier über die identifikatorischen Angebote gegenüber den Ruderern nachgedacht werden soll, ist zu berücksichtigen, dass sich nur ein Teil der Belegschaft aus Bürgern rekrutierte. Sämtliche Ruderer wurden aus Freiwilligen angeworben23 und erhielten einen einheitlichen Sold.24 Der erwartete Sold war das zentrale Motivationskriterium; entsprechend trieb die verantwortlichen Trierarchen und Kommandeure der Schiffe immer wieder die Sorge um, dass Mannschaften in Teilen oder in Gänze desertieren könnten, weil ihnen woanders ein besserer Lohn in Aussicht gestellt werde.25 Im Folgenden soll gezeigt werden, dass in den literarischen, inschriftlichen und bildlichen Quellen fast bis zum Ende des 5. Jhs. v. Chr. die militärischen 16

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Sie umfasste ca. 16 Personen, darunter den Steuermann, einen Windprüfer, einen Zahlmeister, einen Zimmermann, einen Flötenspieler, einen Rudermeister (der Befehle vom Steuermann bei den Ruderern durchsetzte) und zehn weitere Matrosen, die unter anderem auch die Segel bedienten, die auf langen Strecken genutzt werden konnten. Diese Deckmannschaft wird bei Xen. Ath. pol. 1,2 recht differenziert dargestellt. Gemeinsam mit dem demos, der die Schiffe treibt, seien sie für Machtstellung Athens verantwortlich. Nach Aristot. Pol. 7,57,1237b lag ihre Funktion darin, das Schiff „in Zucht zu halten“, d. h. wohl auch Meutereien und Desertionen zu verhindern. Diese galten als Elitetruppe (Thuk. 3,94–98) und brachten gemeinsam mit Trierarchen die Trankspende vor der Ausfahrt dar (Thuk. 6,32,1). Dazu ROSIVACH 1985: 51–53, der die Auffassung vertritt, dass die mit Bürgern besetzten Schiffe während der Sommermonate fuhren, die anderen die weiteren Fahrten machten und auch in Herbst und Frühjahr fuhren. Es gibt auch Überlegungen zur Hierarchisierung der Ebenen, vgl. zur Diskussion GABRIELSEN 1994: 109, 249, Anm. 10. Zum hohen Selbstbewusstsein der thranitai vgl. Aristoph. Ach. 162. Dazu WEES 2004: 211. MORRISON geht davon aus, dass jeder Ruderer einen festen Platz hatte, da nur unter dieser Maßgabe ein zügiges Ein- und Aussteigen ermöglichte, vergleichbar zum heutigen Boarden eines Passagierflugzeuges, MORRISON/COATES 2000: 236. BAKEWELL 2008: 153. Bei der modern rekonstruierten Triere Olympias musste das Schiff wenigstens einmal in vier Tagen mit Meerwasser gespült werden, um überhaupt erträglich zu sein: WEES 2004. VAN WEES 2004: 230. So ROSIVACH 1985: 56f.; GABRIELSEN 1994: 105–108. Dagegen nimmt HANSEN wenig überzeugend eine Wehrpflicht für den Ruderdienst an: HANSEN 1985: 22f. Die Einheitlichkeit des Soldes für den Ruderdienst wird auch im antiken Schrifttum verschiedentlich betont. So z. B. bei Thuk. 3,17,1–4, wo für den Beginn des Krieges von einer Drachme pro Tag ausgegangen wird. Vgl. dazu auch MORRISON 1990: 134f.

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Leistungen der Ruderer kaum als solche wahrgenommen und gewürdigt werden, während die Tugenden der Hoplitenkampfweise immer wieder betont und als Kontrastbild aufgerufen werden. Erst für das letzte Jahrzehnt des 5. Jhs. v. Chr. lassen sich Zeugnisse nachweisen, welche die Ruderer aufwerten. 1 DIE DOMINANZ DES HOPLITENIDEALS Werfen wir als erstes einen Blick auf den idealisierten Kampf der Hopliten. Dabei stand die Zurschaustellung männlicher Tapferkeit, nicht das Töten der Feinde im Vordergrund.26 Dem entsprechend ist in der Bildkunst des 5. Jhs. v. Chr. – wie HÖLSCHER herausgearbeitet hat – stets der Kampf Mann gegen Mann ins Bild gesetzt, wobei auch Mitglieder insgesamt siegreicher Gruppen unterlegen und sterbend abgebildet werden können.27 Man bediente sich durchaus archaisierender Bildformeln, welche weniger auf die reale Kampfpraxis Bezug nahmen, als vielmehr die Krieger den Heroen anglich. Andreia, Tapferkeit, erwarb der Krieger nicht erst im Tod, sondern bereits durch seine Bereitschaft zu kämpfen; auch hilfreiches Verhalten gegenüber Kombattanten galt als Ausdruck der areté, weswegen die Bergung eines verletzten Mitkämpfers ein sehr beliebtes Motiv im Bildschmuck der Tempel darstellt. Bilder von Kämpfen zivilisierter Griechen gegen wilde Kreaturen (z. B. Amazonen oder Kentauren) schärften solche Verhaltensweisen ein. Der Hoplitenkampf wurde als agon, Wettkampf, verstanden, bei dem es eher um das Kräftemessen, denn um das Niederringen oder gar die Auslöschung des Gegners ging. Zu den ungeschriebenen Regeln gehörte es, eine Feldschlacht zu veranstalten, auf Hinterhalte und Nachtangriffe zu verzichten, Fliehende nicht zu verfolgen, sondern mit der Abwendung des Gegners zur Flucht die Schlacht als entschieden anzusehen, was durch die Errichtung eines Tropaions auch markiert wurde.28 Mit der Bitte um die Herausgabe der Leichen war der Wettkampf abgeschlossen.29 Nach Schlachten wurde dem jeweils besten Kämpfer, der sich etwa durch besonderen Mut, besonderen Einsatz für einen Kombattanten 26 27

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CONNOR 1988. Bilder von Kriegern der archaischen und klassischen Zeit fokussieren den persönlichen Mut im Kampf und den Wert der Mannhaftigkeit. Nicht der ruhmreiche Sieg des Kriegers ist das Thema auf Vasen, sondern z. B. liegt nach HÖLSCHER in den Szenen von ‚Kriegers Abschied‘ der Fokus auf der Bereitschaft des jungen Menschen, sich zu opfern. Fazit HÖLSCHER 2003: 14: „Warrior arete was therefore not represented in any fixed scheme. It appears in different, complementary forms, according to the particular social situations in which warrior virtues were celebrated.“. OBER 1996. Nun hat KRENTZ 2002 gegen OBER argumentiert, dass sich diese Regeln der ‚agonalen‘ Kriegsführung erst in Quellen seit der 2. Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. nachweisen ließen und folglich keine alte Tradition gehabt hätten, sondern als eine recht junge Erfindung zu verstehen seien, doch kann dies auch der Quellenlage geschuldet sein; gleichfalls zu bedenken ist die Möglichkeit, dass die Werte und Ideale einer alten Tradition – gerade in Abgrenzung zu neueren Erfahrungen (nicht zuletzt mit dem Seekrieg) im 5. Jh. v. Chr. expliziter ausformuliert worden sein könnten.

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oder ähnliches ausgezeichnet hatte, als Preis (möglicherweise in Form eines Kranzes) die sog. aristie verliehen.30 Wie anders nimmt sich im Vergleich mit dieser Tradition der Kampf der Seeleute aus: der einzelne Ruderer konnte in einer Seeschlacht keine aristie erwerben, weil er gar nicht als Individuum in Erscheinung trat, sondern der Erfolg vom Kollektiv abhing.31 Betrachten wir dies zunächst im Spiegel des ältesten Zeugnisses über die im Jahr 480 v. Chr. gewonnene Seeschlacht bei Salamis, im Spiegel der kurze Zeit später aufgeführten Tragödie des Aischylos Die Perser. Das Stück ist in der Forschung überwiegend als ein Zeugnis für die Wertschätzung der Ruderer wahrgenommen worden. Ich vertrete eine gegensätzliche Position: aus meiner Sicht werden die Ruderer hier gegenüber den Hopliten abgewertet.32 Kurz zum Stück: Die Handlung spielt am Hof des persischen Großkönigs; die Mutter des Xerxes hofft auf die siegreiche Rückkehr ihres Sohnes und der persischen Streitkräfte, doch ein 30

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Dazu PRITCHETT (2) 1971-1991: 276ff.; Herodot berichtet von mehreren Tapferkeitsauszeichnungen für die Lakedaimonier, die an den Thermopylen gekämpft hätten, ein gewisser Dienekes habe den Preis dafür bekommen, dass er das Wort vom „im Schatten Kämpfen“ geprägt habe (Hdt. 7,227); nach der Schlacht bei Plataiai sei eine Person aufgrund ihrer Schönheit ausgezeichnet worden (Hdt. 9,71); Kranz- und Rüstungsverleihung bezogen auf eine Aktion im Jahr 439 v. Chr. bei Isokr. 16,29 erwähnt; auf zwei Schlachten im 4. Jh. v. Chr. bezogen bei Aischin. 2,169. Aufgrund einer Passage in Platons Symposion, in der Alkibiades von dem ihm verliehenen Aristie-Preis berichtet, der eigentlich dem Sokrates gebühre, da dieser ihn verwundet vom Schlachtfeld gerettet habe (Plat. symp. 220), ist zu schließen, dass solche Ehrenpreise im 5. Jh. v. Chr. vornehmlich und fast automatisch an Personen hohen gesellschaftlichen Ranges vergeben wurden und gleichzeitig bezeugt der Absatz eine vermutlich ältere Tradition, dass der Liebhaber eines Knaben auch in der Schlacht eine besondere Fürsorge für den Jüngeren übernahm und dafür beim Gelage mit lobpreisenden Versen bedacht wurde. Es gibt aber noch Hinweise auf Würdigungen einzelner Leistungen: Plat. Pol. 2,368a erwähnt die elegische Dichtung eines erastes (= evtl. sein Onkel Kriton?) seines Bruders Glaukon, der die Tapferkeit der Brüder Glaukon und Adeimantos im Gefecht (mache) von Megara (409 v. Chr.) besingt. Alkibiades rühmt bei Plat. symp. 219–221 die Verdienste des Sokrates, insbesondere im Rahmen seiner Hilfestellung des Alkibiades bei der Schlacht von Poteideia 432 v. Chr. und des geordneten Rückzugs. Plat. nom. 707ab. Aristie konnten nur Schiffseigner und Kapitäne erwerben: Herodot erwähnt im Kontext der Schlacht von Salamis drei Aristie-Verleihungen: an einen Athener (vermutlich den Kapitän), der das erste feindliche Schiff versenkt habe (Hdt. 8,11), dann der (vermutliche) Großvater des Alkibiades, der auf eigene Kosten ein Schiff gestellt habe (Hdt. 8,17), weiterhin seien auch an die Verbündeten Siegespreise vergeben worden (Hdt. 8,121ff.). Platon legt im 4. Jh. v. Chr. einem alten Athener die Auffassung in den Mund, dass gerade die Vielzahl der Personen auf dem Schiff die aristie der einzelnen zu erkennen verhindere: Da so viele unterschiedliche soziale Gruppen und Funktionsstufen auf einem Schiff vertreten seien und der Erfolg mithin „durch die Geschicklichkeit im Rudern und durch allerlei nicht besonders treffliche Leute“ zustande komme, falle es schwer „den einzelnen Leuten die Ehrenauszeichnungen in rechter Weise zuzuteilen“ („tas timas hekastois ouk an dunaito orthos“). Das Stück wird in der Forschung überwiegend als entscheidendes Dokument für die Wertschätzung der Flotte in Athen angesehen, aufgrund derer denn auch in der Folgezeit den Theten, aus denen sich die Ruderer rekrutiert hätten, mehr politisches Gewicht zugestanden worden sei.

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Bote überbringt ihr die schreckliche Nachricht vom Untergang der persischen Flotte. Der griechische Sieg wird also als Niederlage der Perser inszeniert. Im Sinne meiner These möchte ich vier Argumente anführen: Zunächst fällt auf, dass von athenischen Seeleuten, Matrosen, Ruderern im Stück kaum die Rede ist;33 die Akteure, die den Sieg erzielen, sind vielmehr die Schiffe, deren Schnabelstöße den Untergang der Gegner herbeiführen.34 2. Wo die Ruderer erwähnt werden, wird deren Verhalten nicht ruhmreich dargestellt: Unmittelbar nach der Seeschlacht hätten sie „– wie beim Thunfisch- oder andrer Fische Fang – mit Ruderstücken, Splittern von der Schiffe Wrack“ die Perser geschlagen und aufgespießt.35 Niemand unter der Zuschauern wird diese Kampfweise, die ganz und gar nicht dem Ehrenkodex des Hoplitenkampfes entsprach, für vorbildlich gehalten haben. 3. Es werden durchweg sehr unästhetische Bilder von ertrunkenen Seeleuten aufgerufen; zwar beziehen sich diese Schilderungen auf die Feinde, die Aufmerksamkeit der Zuschauer wurde dennoch auf das elende Schicksal aller Matrosen gerichtet, unbestattet sterben zu müssen.36 Besonders deutlich wird dies im Klagelied des Chores: „Gräßlich zerwalkt von dem Wasser – hu! / Wurden Fraß sie der stummen – wehweh! / Brut der heiligen Meerflut! – o ah!“37

Unbestattet zu sterben, galt in Athen als sehr schlimmes Schicksal und es entsprach der Ehre des Hoplitenkriegers, dass man seine Überreste barg und bestattete, wenn er gefallen war. 4. Aischylos lenkt im Stück die Aufmerksamkeit der Zuschauer geschickt von der Seeschlacht zu der Leistung der Schwerbewaffneten.38 Immer wieder ist im Stück von Kämpfen zu Lande die Rede,39 die Seeschlacht kulminiert schließlich „in einem Angriffssturm“ der erzbewehrten Land-

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Man könnte nun das geradezu auffällige Fehlen von speziellen Termini zur Bezeichnung der Ruderer mit den Besonderheiten der Tragödiensprache zu erklären versuchen; doch finden die Matrosen der Perser durchaus Erwähnung – sie werden „Seeleute“ (thalassioi) genannt: Aischyl. Pers. 962ff. Aischyl. Pers. 278; Pers. 335; Pers. 408 (das Schiff als erzbewehrter Kämpfer); Pers. 413f.; Pers. 562. Vgl. den Kampfappell Pers. 402 (auch hier Schiffe und Hopliten als Akteure). Aischyl. Pers. 424 Für seine Fixierung auf die Klage war das Stück noch zum Ende des Jahrhunderts bekannt, vgl. die Parodie auf das Stück in den 405 v. Chr. aufgeführten Fröschen des Aristophanes (Aristoph. Ran. 1026ff.). Aischyl. Pers. 576-578: „γναπτόµενοι δὲ δίνᾳ, φεῦ, / σκύλλονται πρὸς ἀναύδων, ἠέ, / παίδων τᾶς ἀµιάντου, ὀᾶ.“ (Übers.: WERNER). Weiterhin finden die Schiffsleute der Barbaren als „Leichen an Salamis’ Strand“ (Aischyl. Pers. 272f.), vgl. ähnlich auch Aischyl. Pers. 420: „Mit Toten füllten Küsten, Klippen füllten sich.“ / „ναυαγίων πλήθουσα καὶ φόνου βροτῶν.“ (Übers.: WERNER). Vgl. auch Aischyl. Pers. 962ff. (Klage des Xerxes über die von der Insel Gestürzten aber auch das „Seemannsvolk“). Deren Beitrag zum Sieg war zwar auch nach Ausweis der Schlachtenschilderung Herodots nicht unbedeutend, zweifellos jedoch von geringerer Bedeutung war als das Gefecht zu Wasser. Die Perser seien – laut Atossa – ausgerückt zum wilden Speerkampf („ton aichmeénta thouron“, Aischyl. Pers. 138).

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kämpfer.40 In einer Passage, in der die persische Königin vom Boten Auskunft über das Wesen und die militärische Stärke Athens verlangt und erfragt, ob auch die Athener (wie die Perser) über geübte Bogenschützen verfügten, erhält sie zur Antwort: „Nein, durchaus nicht. Nahkampfspeere, Rüstung führen sie und Schild“, von den Schiffen ist keine Rede.41 Es zeigt sich also, dass Aischylos in dem Stück keineswegs die Ruderer verherrlicht, sondern im Gegenteil die Leistungen der Hopliten besonders herausstreicht, ja sie als die eigentlichen Sieger in den Vordergrund stellt. Möglicherweise bezog Aischylos damit eine Position in einer damals aktuellen Debatte, wer den größeren Ruhm bei der Perserabwehr zu verzeichnen hatte: Das Landheer oder die Flotte?42 Unterzieht man den gesamten Überlieferungsbefund des 5. Jhs. v. Chr. einer Bilanz, dann haben die Hopliten diesen Wettkampf um den Ruhm gewonnen. Der marathonomachos (Marathon-Kämpfer) avancierte auf lange Sicht zum idealen Krieger;43 das Pendent eines ‚Salamis-Kämpfers‘ gab es hingegen nicht. Allein den Gefallenen von Marathon wurde unmittelbar nach der Schlacht direkt vor Ort ein Grabtumulus errichtet, eine Stele listete die Namen Gefallenen.44 Diese Erinnerungskultur ist später weiter ausgebaut worden und wurde bis in die römische Kaiserzeit gepflegt; demgegenüber ist keine Gedenkstätte für die Salamiskämpfer bezeugt.

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Aischyl. Pers. 458ff. Aischyl. Pers. 240. Noch Platon rekurriert auf diese, offenbar alte Streitfrage: In Platons Nomoi behauptet ein Kreter, die bei Salamis ausgefochtene Seeschlacht habe Hellas gerettet; sein athenischer Gesprächspartner hingegen meint, „dass von den Landschlachten bei Marathon und Plataiai die eine die Rettung der Hellenen begonnen, die andere sie vollendet hat“ (Plat. nom. 707bc). Eine andere Stellung zur Frage der Aristie der Perserkriege bezieht Sokrates/Aspasia im ironischen Epitaphios, der in Platons Menexenos zitiert wird: Der erste Preis käme den Marathonkämpfern zu, der zweite denen, die bei Salamis und Artemision zur See gefochten hätten, der dritte aber den Helden von Platäa: Plat. Menex. 241a–c. In der Rhetorik des 4. Jhs. v. Chr. werden beide Siege bei Marathon und Salamis immer wieder aufgerufen und je nach aktueller Argumentationslage stärker oder schwächer gewichtet. Dazu ZAHRNT 2010: 122. Hinter der Frage um den größten Ruhm verbirgt sich freilich auch die Frage nach dem Anteil der Athener oder der Verbündeten an der Perserabwehr. These VIDAL-NAQUET 1989. Die Identität der Hopliten mit den Polisbürgern wurde eigentlich nur in der Schlacht von Marathon verwirklicht, danach sei der Status der Hopliten als bestimmender Schicht in der Gesellschaft und als Krieger immer mehr in Frage gestellt worden; erst mit der neuen Auffassung der Ephebie im 4. Jh. v. Chr. habe man auf die Identität der Hopliten mit dem Bürger bewusst zurückgegriffen und den Status der polis als Gemeinschaft der Krieger wieder aufleben lassen wollen. Pausanias sah diese Stele im 2. Jh. n. Chr. noch. Dazu ZAHRNT 2010: 116. Später hat dann der Militiades-Sohn Kimon erheblich an der Fortschreibung des Ruhmes der Marathonkämpfer und seiner eigenen Familie beigetragen: Nicht nur durch die Schlachtengemälde der bunten Säulenhalle, sondern auch durch die Monumentalisierung der Gedenkstätte am Schlachtort sowie eine im Apollonheiligtum in Delphi aufgestellte Statuengruppe. Vgl. ZAHRNT 2010 (bes. 116f.).

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Nun ist auf die zweite Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. einzugehen, jenem Zeitraum, in dem die faktische Relevanz der Ruderer für den militärischen Erfolg Athens noch deutlicher hervortritt. Mit dem Ausbau des Seebunds nach der erfolgreichen Perserabwehr erfolgte ein massiver Ausbau der Flotte in Athen. Dennoch blieb in der Bildkunst die Inszenierung der Hoplitenwehrkraft vorherrschend:45 Im gesamten Bildprogramm der seit der Jahrhundertmitte entstandenen ‚Neubauten‘ auf der Akropolis, werden wiederholt Hopliten im Kampf gezeigt: z. B. auf dem Schild der Athener Parthenos sowie im Fries des Nike-Tempels; nirgends war auf der Akropolis zu dieser Zeit auch nur ein Kriegsschiff zu sehen.46 Zu Beginn des Peloponnesischen Krieges verfügte Athen über 300 fahrbereite Kriegsschiffe, man darf also von 60.000 Seesoldaten ausgehen; die Zahl der Hopliten gibt Thukydides mit 13.000 an.47 Dass die Stärke Athens auf der Flotte lag, war evident und veranlasste den tonangebenden Politiker Perikles zu der Strategie, die Landbevölkerung Attikas innerhalb der Stadtbefestigung zu versammeln, sich der Landschlacht der anrückenden Peloponnesier zu verweigern und diese stattdessen mit den Schiffen in ihrer Heimat anzugreifen. Allerdings wurde diese Strategie in Athen stark kritisiert,48 die Vorbehalte entsprachen den Interessen insbesondere der Aristokraten und der Landbevölkerung, die weder ihre Tapferkeit beweisen noch ihr Land schützen konnten, während das Stadtvolk, aus dem 45

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Z. B. wurde auf der Akropolis eine vom Bildhauer Phidias geschaffene, 9m hohe Bronzefigur einer (entsprechend der Fußtruppen) bewaffneten Athena gestiftet, deren goldglänzende Speerspitze über die Akropolismauer hinausragte und weithin sichtbar die Wehrhaftigkeit der Athener bezeugte, laut Paus. 1,28,2 wurde auch diese Figur aus der Kriegsbeute von Marathon finanziert. Laut Demosthenes (19,272) handelt es sich um „Ehrendenkmal des Krieges gegen die Barbaren“. ZAHRNT 2010: 119 vermutet, dass es zum Zeitpunkt der Aufstellung kaum noch Mittel der Kriegsbeute verfügbar gewesen seien dürften, sondern eher an Einnahmen des Seebundes zu denken ist. Im 4. Jh. v. Chr. entwickelte sich eine regelrechte Erinnerungskultur zu Ehren der Marathonkämpfer, welche im Hellenismus fortgesetzt wurde: Die Grabhügel in Marathon und Plataiai waren bis in die Kaiserzeit hinein wichtige Erinnerungsorte. Ob es zu einer regelrechten kultischen Heroisierung der Gefallenen kam, bleibt laut HARTMANN 2010 unklar. Inschriftlich ist bezeugt, dass die jungen Athener im Wehrdienst einmal im Jahr nach Marathon zogen und dort das Massengrab der Gefallenen bekränzten und zu ihrem Gedächtnis ein Trankopfer darbrachten: Dazu ZAHRNT 2010: 124 unter anderem mit Hinweis auf IG II2 1006,26f. Von ähnlichen Praktiken zu Gunsten der Salamis-Helden finden sich kaum Spuren. Dazu: BECK 2009. Die Abwesenheit von Schiffen und Ruderern in der attischen Bilderwelt ist in der Forschung häufiger bemerkt worden. Vgl. STRAUSS 1996: 313. Zur Abwesenheit der Schiffe und Ruderer in der Vasenmalerei: OSBORNE 2010: 246. Der Versuch von BARRY S. STRAUSS, das Bilderrepertoire durch die vermeintliche visuelle Omnipräsenz von Schiffszeichen zu erhöhen, vermag kaum zu überzeugen – trotz der sicherlich richtigen Bemerkung, dass die Ruderer größtenteils illiterate und einfache Leute waren, die kein Geld für Kunstwerke übrig hatten: STRAUSS 1996: 321. Zu dem sog. Lenormant-Relief aus dem ausgehenden 5. Jh. v. Chr. vgl. unten. Thuk. 2,13. Thukydides berichtet von Empörung in der Stadt, von verstörenden Weissagungen, von allgemeiner Erregung und von Vorwürfen, der Feldherr werde seinem Amt nicht gerecht. Thuk. 2,21. Plutarch erwähnt daraus resultierende Spottlieder über Perikles und verweist auch auf den zeitgenössischen Komödienspott: Plut. Per. 33.

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sich die Rudermannschaften maßgeblich rekrutierte, nichts zu verlieren hatte.49 Im ersten Jahr des Krieges wurden 100 Schiffe losgeschickt,50 denen es zwar gelang, kurz einen strategisch wichtigen Hafen (Pheia) zu besetzen, als die lokalen Hopliten zur Gegenwehr schritten, mussten sie diesen jedoch rasch wieder aufgeben.51 Gerade eine solche Taktik galt aus traditioneller Sicht als besonders ehrlos: die Verweigerung des Nahkampfes und die hektische Flucht waren seit Jahrhunderten als Inbegriff von Feigheit und damit als Gegenteil von Mannesmut bewertet worden!52 Der Partisanenkampf, den Seesoldaten und Ruderer leisteten, wenn sie an Land gingen, war nicht geeignet, Kriegsruhm und ein vortreffliches Ansehen (kalokagathia) zu erwerben.53 Auch der Befund der in Form von Inschriften erhaltenen Gefallenenlisten macht dies deutlich. Aus dem 5. Jh. v. Chr. haben sich rund 50 Exemplare fragmentarisch erhalten, die jeweils bis zu 140 Namen auflisten und teilweise auch die militärischen Funktionen der Gefallenen benennen. Schiffsbesatzungen wurden dabei offenbar nicht verzeichnet.54 Diejenigen Hopliten aber, die z. B. bei der Stadtbelagerung von Poteidaia im Jahr 432 v. Chr. verstarben, wurden besonders mit einem Epigramm geehrt.55 Die Inschrift gibt Aufschluss über wichtige Aspekte der Kriegsmoral der Hopliten: 1) Den Kriegern wird Unsterblichkeit zugesprochen, die sich aus der Erinnerung ergibt, welche das Grabmal durch die Nennung der Namen garantiert. 49 50 51 52

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Ps.-Xen. Ath. pol. 2,14 führt aus, dass gerade die Armen diese Strategie nicht zu befürchten haben, weil sie nichts zu verlieren haben; die Reichen und die Bauern jedoch schon. Zum Problem, dass eine Triere entweder sinnvoll zur Seeschlacht oder zum Truppentransport eingesetzt werden konnte, siehe WEES 2004: 222. Thuk. 2,23; Thuk. 2,25; Thuk. 2,30 und WEES 2004: 222. Diese Vorbehalte finden in unterschiedlichen Quellen ihren Ausdruck: Ein alter Athener empört sich in Platons Nomoi (Plat. nom. 706c) darüber, dass die Seesoldaten daran gewöhnt seien „häufig ans Land zu springen und sich dann im Laufschritt schnell wieder auf die Schiffe zurückzuziehen und kein schimpfliches Verhalten darin zu sehen, nicht den Mut zu haben, vor dem Ansturm der Feinde standhaltend zu sterben.“ / „πυκνὰ ἀποπηδῶντας, δροµικῶς εἰς τὰς ναῦς ταχὺ πάλιν ἀποχωρεῖν, καὶ δοκεῖν µηδὲν αἰσχρὸν ποιεῖν µὴ τολµῶντας ἀποθνῄσκειν µένοντας ἐπιφεροµένων πολεµίων“ (Übers.: SCHADEWALDT). In eben dieser Taktik lägen die Vorteile der Seeherrschaft bekundet der Zynist Ps.-Xen. Ath. pol. 2,4: Allein der Schiffskrieg erlaube es, das Land des Gegners zu verheeren, was einer Landarmee nicht möglich sei. Vgl. auch Xen. mem. 3,5,18, wo sogar Perikles sagt, dass die Schwerbewaffneten und Reiter gegenüber den anderen Bürgern (!) an Tüchtigkeit den Vorrang haben. Die Auffassung ist in der Forschung umstritten. Zur Diskussion RAAFLAUB 1996. Folgende Argumente sprechen gegen eine Auflistung der Ruderer: Erstens sind die Gefallenenlisten entsprechend der Gliederung der Landarmee jeweils nach Phylen geordnet; da für die Ruderer (wie oben ausgeführt wurde) nicht von einer Demen- respektive Phylenzugehörigkeit ausgegangen werden kann und Trieren auch nicht nach Phylen rekrutiert wurden, ist es unwahrscheinlich, dass die Ruderer überhaupt erfasst werden konnten. Zweitens: Wären auch die Ruderer verzeichnet gewesen, müssten die Listen viel umfangreicher sein, d. h. die geringe Zahl der jeweils Gefallenen spricht dafür, dass nur die Landarmee gelistet wurde. Drittens: Zwar werden mehrfach Trierarchen (z. B. IG I3 1166), häufiger auch „Fremde“ (xenoi) oder gar „barbarische Bogenschützen“ erwähnt, ansonsten finden sich keine Termini, die auf die Spezialisten der Deckmannschaft oder gar auf die Ruderer Bezug nehmen. IG I3 1179.

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2) Weiterhin wird in der Inschrift der Verstorbenen besonders betont, dass ihre Körper „in dieser Erde hier“ (Z. 7) lägen. Dabei ging es nicht nur um eine emotional aufgeladene Heimatverbundenheit, sondern die Rückführung in Attikas Erde symbolisierte die permanente Integration in den Kreis der autochthonen Bürgerschaft. 3) Es wird der Mannesmut der Gefallenen betont, die allesamt als Vorkämpfer (Z. 11: promachoi) apostrophiert werden, und ihre arete (Z. 13) unter Beweis gestellt hätten.56 4) Und schließlich haben die Gefallenen zum Ruhm, zum guten Ruf ihrer Heimat beigetragen (Z. 13). Dass es kein Denkmal gibt, welches solche Aspekte mit den Ruderern verbindet, lässt sich nicht dem Zufall der Überlieferung zuschreiben, sondern ist letztlich den Sachzwängen des Seekampfes geschuldet. Dass die Schiffsleute mit der Partisanentaktik beim Angriff keine Tapferkeit erwerben konnten, wurde bereits ausgeführt; als ein weiteres Hemmnis für den Ruhmerwerb erwies sich der Umgang mit der Besatzung besiegter oder zerstörter Schiffe. Während eines Gefechts konnte man sich nicht um Schiffbrüchige kümmern, sondern sie mussten sich selbst zu retten versuchen. Wer den Gegnern lebend in die Hände fiel, wurde entweder umgebracht,57 verstümmelt und somit „unbrauchbar gemacht“,58 oder übernommen (sofern keine Bedenken im Hinblick auf die Loyalität bestanden).59 Die Bergung von Leichen nach einer Seeschlacht wird im antiken Schrifttum kaum thematisiert, daher darf man bezweifeln, dass sie ein fester Bestandteil im Ablauf 56 57

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Implizit verweist auch die Feigheit der Feinde, die Schutz hinter den Mauern gesucht hätten (Z. 8f.), auf den vergleichsweise größeren Heldenmut der Gefallenen. Thuk. 2,67,4. Am Anfang des Krieges hätten laut Thukydides die Spartaner „ziemlich alle, die sie auf dem Meer ergriffen, als Feinde umgebracht [d. h. in den Abgrund gestoßen], sowohl Bündner der Athener als auch unabhängige.“ Plut. Alk. 37,2f.: Nach einem überraschenden Angriff der Spartaner unter Lysander auf die attische Flotte bei Aigospotamoi entkamen nur acht Trieren, während fast 200 in die Hände der Spartaner fielen; „von der Mannschaft ließ Lysandros dreitausend, die lebend gefangen worden waren, hinrichten.“ / „τῶν δ᾽ ἀνθρώπων τρισχιλίους ἑλὼν ζῶντας ἀπέσφαξεν ὁ Λύσανδρος.“ (Übers.: ZIEGLER); also etwa ¾ der ursprünglichen Besatzung. Zur Brandmarkung von Überlebenden siehe Plut. Per. 26. Zur Verstümmelung und Ermordung Xen. hell. 2,1,31: „Hierauf berief Lysandros eine Versammlung der Bundesgenossen, in der er diese aufforderte, über das Schicksal der Kriegsgefangenen zu beraten. Da wurden dann viele Anschuldigungen gegen die Athener laut, was sie bereits für Rechtsbrüche begangen und was sie für den Fall eines Seesieges beschlossen hätten, nämlich allen lebendig Gefangenen die rechte Hand abzuhauen; und dass sie nach der Erbeutung zweier Trieren […] deren Besatzung sämtlich über Bord gestürzt hätten […].“ / „µετὰ δὲ ταῦτα Λύσανδρος ἁθροίσας τοὺς συµµάχους ἐκέλευσε βουλεύεσθαι περὶ τῶν αἰχµαλώτων. ἐνταῦθα δὴ κατηγορίαι ἐγίγνοντο πολλαὶ τῶν Ἀθηναίων, ἅ τε ἤδη παρενενοµήκεσαν καὶ ἃ ἐψηφισµένοι ἦσαν ποιεῖν, εἰ κρατήσειαν τῇ ναυµαχίᾳ, τὴν δεξιὰν χεῖρα ἀποκόπτειν τῶν ζωγρηθέντων πάντων, καὶ ὅτι λαβόντες δύο τριήρεις […] τοὺς ἄνδρας ἐξ αὐτῶν πάντας κατακρηµνίσειαν […].“ (Übers: STRASBURGER). Für die überlegene Partei wäre es leichtfertig gewesen, die gut ausgebildeten Kräfte nicht zu übernehmen, sofern dem nicht eine ungebrochene Loyalität entgegenstand: vgl. z. B. Thuk. 2,84. Die Loyalität war oft mit der Ankündigung von fortgesetztem bzw. höherem Sold leicht herzustellen. Andernfalls wurden Teile der Mannschaft getötet und die übrigen übernommen (Thuk. 2,92). Die Möglichkeit des Abwerbens der Söldner wird auch bei Thuk. 1,120–124 aus der Perspektive der Korinther thematisiert.

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von Seeschlachten war, so wie es die ungeschriebenen Regeln bei Landschlachten vorsahen.60 Grablegen für Seeleute am Schlachtort oder Rückführungen von Gebeinen finden bei den Geschichtsschreibern Herodot und Thukydides keine Erwähnung.61 Es ist also zu bezweifeln, ob den Ruderern jemals eine Bestattung wie den Hopliten – nach den üblichen Riten in der attischen Erde – zugekommen ist. Halten wir bisher fest, dass weder in der Geschichtsschreibung noch in der Tragödie, weder in der Bildkunst noch in den Inschriften die Verdienste der Ruderer gewürdigt werden, oder ihnen Tapferkeit zugesprochen und Nachruhm in Aussicht gestellt wird. Als Erklärung für diesen auffälligen Befund ist in Betracht zu ziehen, dass die Kampfweise der Seesoldaten mit dem traditionellen Kriegerethos unvereinbar war: da die Schiffe in Schlachten als Kampfmaschinen fungierten, konnte die kriegerische Leistung des einzelnen Ruderers nicht gewürdigt werden; die Partisanentaktik gelandeter Schiffstruppen entsprach nicht dem Ehrenkodex der Hopliten, galt als feige und verlieh demzufolge auch keine arete. Insbesondere die potentielle Übernahme von Mannschaften seitens der Gegner war mit dem Prinzip einer ehrenhaften Niederlage unvereinbar. Während man darauf bedacht war, Hopliten mit großer Sorgfalt und einem Denkmal für den Nachruhm in der heimischen Erde zu bestatten, fehlen Hinweise darauf, dass auch den Ruderern dies gewährt wurde. Allein der Sold wurde für die Loyalität der Ruderer als ausschlaggebend angesehen und es ist daher nicht verwunderlich, dass Höhe und Zeitpunkt der Soldzahlungen in den literarischen Quellen stets als besonders brisant thematisiert werden. Dies muss freilich nicht bedeuten, dass die Ruderer selbst nicht stolz auf ihre Leistungen waren und sich mit der Stadt identifizierten, aber handfeste Belege dafür gibt es nicht.62 2 EIN NEUES SELBSTBEWUSSTSEIN DER FLOTTE Es ist nun besonders interessant zu beobachten, dass es einige Hinweise darauf gibt, dass sich diese Wahrnehmung der Ruderer im Laufe des Peloponnesischen Krieges und vor allem zum Ende des 5. Jhs. v. Chr. änderte, was vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen zu erklären ist. In den Komödien des Aristophanes kommen die Ruderer immer wieder vor, die Befehle zum Rudern im strikten Gleichtakt, aufgenommen vom rhythmischen Rufen der Ruderer, überhaupt die schlichte Kommunikation und die Plackerei an 60

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Einige Passagen bei Thukydides deuten darauf hin, dass die Bergung den Sitten entsprach, die Umstände dies aber untersagten: Vgl. Thuk. 7,72. Thuk. 2,92,5 berichtet von der Aufnahme von Leichen am Strand, wo man ohnehin die noch nutzbaren Schiffstrümmer zu bergen versuchte. STUPPERICH 1994: 97 betont das Fehlen von Bildzeugnissen mit Flottenbezug im Kontext mit Staatsbegräbnissen: „It is interesting to note that the navy, despite its importance for Athenian democracy, does not play a role in the iconography of the state burial.“ Bei Aristoph. Ach. 162–163 wird – wenn auch nicht ohne Ironie – von dem „thranitos leos ho sosipolis“ (dem „stadtrettenden Thranitenvolk“) gesprochen. Die Bemerkung nimmt eher den Dünkel der Thraniten gegenüber den übrigen Chargen von Ruderern aufs Korn.

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Bord63 gaben Anlass für allerlei Witze über das „Hoiho“-Volk, das aufgrund des doppelt gebackenem Schiffszwiebacks auch doppelt so schnell rudern kann.64 Allerdings dominiert auch hier überwiegend die verklärende Sicht auf den Marathonkämpfer.65 Gilt auch Athen als der Ort, „aus dem die stolze Flotte kommt“,66 wird nicht thematisiert, dass die Athener gerade den Ruderern zu Dank verpflichtet seien.67 Nach dem katastrophalen Ausgang der Sizilienexpedition kam es in Athen zu zwei oligarchischen Umstürzen: 411 v. Chr. wurde die Demokratie abgeschafft und eine Regierung der Vierhundert implementiert, die sich nur vier Monate behaupten konnten. Es war erstmalig die auf Samos stationierte Flotte, die das Regime stürzte: Die Flotte erklärte sich selbst zur polis, hielt entsprechend Volksversammlungen ab und betrachtete das übrige Athen als die Abtrünnigen.68 Noch im Herbst desselben Jahres 411 v. Chr. gelang den sog. gemäßigten Oligarchen eine weitere Verfassungsänderung: Die volle politische Berechtigung sollte nur denen verliehen werden, die sich eine Hoplitenrüstung leisten konnten.69Aber auch dieses Regime hielt sich nur wenige Monate; nach einem lang erwarteten Seesieg der Athener wurde im Frühling 410 v. Chr. die Demokratie wieder eingeführt.70 Genau seit diesem Zeitpunkt lässt sich nachweisen, dass die Mitglieder der Flotte Athens sich nachdrücklich in die politischen Belange einbrachten und in zunehmendem Maße ihren Anteil an der Wertschätzung und Selbstdarstellung Athens einforderten. Drei Quellenkomplexe unterschiedlicher Art können hier als Indizien dafür angesprochen werden. Literarisch dokumentiert ist der sog. Arginusenprozess, dessen Resultat die kollektive Verurteilung und Hinrichtung eines Kollegiums athenischer Militärführer war.71 Diese hatten zwar im Jahr 406 v. Chr. einen großen Seesieg über die 63

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Der Gott Dionysos wird in den Fröschen (aufgeführt 405 v. Chr.) vom Totenfährmann zum Rudern gezwungen: Er beklagt, als „alte Landratte“ nicht mit der Technik vertraut zu sein; er stöhnt über die Strapazen des Ruderns, die zu Blasen an den Händen und einem brennenden Hintern führen: Aristoph. Ran. 203ff. Vgl. Aristoph. Vesp. 909; Equ. 1186: Zwieback für doppeltes Tempo. Verballhornung des Ruderkommandos: Ran. 180. Vgl. EHRENBERG 1968: 302: „Sie [die Komödiendichter] waren sich der großen Bedeutung der Flotte in ihrer eigenen Zeit […] zwar bewußt, aber da ihre komische Welt auf einer im wesentlichen konservativen und romantischen Weltanschauung beruhte, wurden die BürgerSoldaten von Marathon als das Produkt der alten Tüchtigkeit und Erziehung zum eigentlichen Ideal.“ Allerdings verkörpert der alte Vater in den 422 v. Chr. aufgeführten Wespen den Typus des alten Kriegsveterans allgemein; auch wenn hier Anspielungen auf die Landarmee überwiegen, gibt es auch Verweise auf den Einsatz zur See. Vgl. z. B. Aristoph. Vesp. 1097f. Aristoph. Av. 108. Geld für die Flotte (anstatt für Diäten) ist ein Thema in den Rittern aus dem Jahr 424 v. Chr. Vgl. Aristoph. Eq. 602; Eq. 830. Nach Vesp. 1115ff. sollten Diätenzahlungen nur denjenigen zukommen, die der Stadt schon militärisch als Hopliten oder Ruderer gedient hatten. Thuk. 8,75f. Dazu MOSSÉ 1964. Thuk. 8,97,1f.; Ath. pol. 29,4f. Ath. pol. 34,1. Ein weiteres literarisches Zeugnis, das in diesem Kontext aufschlussreich ist, ist die Komödie die Frösche des Aristophanes aus dem Jahr 405 v. Chr. Besonders interessant ist die Parabase des Chores 674ff., in der der Dichter sich als Lehrer der polis in erzieherischem Auftrag an

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Spartaner bei den Arginusen (in der Nähe von Lesbos) errungen, wobei die Athener allerdings selbst 5000 Gefallene zu beklagen hatten. In einem vor der Volksversammlung geführten Hochverratsprozess warf man den Strategen vor, die Schiffbrüchigen nicht gerettet bzw. ihre Leichen nicht geborgen zu haben.72 Dieser Prozess ist nicht nur der erste Fall einer Verurteilung und Hinrichtung athenischer Generäle, sondern auch das erste Beispiel dafür, dass in der athenischen Öffentlichkeit der Umgang mit über Bord gegangenen Ruderern ein Thema wird.73 Die Situation war auch aus dem Grund besonders heikel, da man in dieser Phase des Krieges bereits mit dem ‚letzten Aufgebot‘ kämpfte und sich keine Menschenverluste mehr leisten konnte. Offensichtlich gelang es den Wortführern in diesem Prozess, das Volk hinsichtlich der vermeintlichen Unrechtmäßigkeit der unterlassenen Hilfeleistung der Strategen nach der Schlacht aufzuputschen. Erstmalig wird in diesem Zusammenhang die Aristie der Ruderer thematisiert: Xenophon berichtet in seiner allerdings tendenziös-volksfeindlichen Darstellung, dass ein Überlebender vor der Versammlung als Zeuge auftrat, der bekundete, sich selbst mit Hilfe eines Mehlfasses gerettet zu haben; dieser bezeugte, dass die Generäle die Leute nicht gerettet hätten, die sich als „äußerst tapfer im Dienst für Land“ („tous aristous hyper tes patridos genomenos“) erwiesen hätten.74 Absolut exzeptionell war auch, dass nach der Arginusenschlacht den Ruderern mit Sklavenstatus das Bürgerrecht verliehen wurde.75 Das zweite Zeugnis, das für eine öffentliche Würdigung von Ruderern spricht, ist der sog. Athenische Schiffskatalog IG I3 1032, bestehend aus 11 Fragmenten pentelischen Marmors, die auf der Akropolis im Umfeld des sog. Erechtheions76 gefunden und von Laing rekonstruiert worden sind: Demnach handelte es sich ursprünglich um eine gut 2 m hohe und ca. 1 m breite Inschrift, welche die Besatzung von acht Trieren in zehn Spalten listete, insgesamt rund 1600 Männer, jeweils mit individuellen Namen. Es werden Bürger, Metöken und Sklaven genannt. Die erhaltenen Teile geben Aufschluss über vier Trieren, von denen 60–70 % mit

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das Publikum wendet. Dabei werden hier drei Punkte angesprochen: 1. Forderung der Amnestie für die Anhänger des oligarchischem Regimes; 2. Lob des Beschlusses, den Sklaven, (die in der Arginusenschlacht mitgekämpft haben), das Bürgerrecht zu verleihen. 3. Forderung, allen gedienten Ruderern das Bürgerrecht zu verleihen. Dazu von MÖLLENDORFF 2002: 13, 157ff. ZIMMERMANN 1998: 170 verkennt das Revolutionäre dieser Forderungen. Zum Prozess, zu möglichen Verfahrensfehlern im Sinne des attischen Rechtsverständnisses und zur späteren Wahrnehmung des Prozesses als Justizskandal in der Forschung: NIPPEL 2008 (bes. 232f.). Laut BURCKHARDT 2000: 139 „wurde die Bergung der Schiffbrüchigen nach einer Seeschlacht – ob tot oder noch lebendig – in der Zeit vor 406 nie zu einem Thema in Athen, das in einem Prozess, geschweige denn in der Geschichtsschreibung abgehandelt wurde.“ Xen. hell. 1,7,11. Dazu WELWEI 1974: 4ff., 65ff.; GRAHAM 1992. Der Name „Erechtheion“ taucht für das Bauwerk erst spät auf. Ältere Zeugnisse sprechen von „dem Tempel auf der Akropolis, in dem sich das alte Athenabild befindet“. Die Fertigstellung des Baus erfolgte nach einer Unterbrechung der Bauarbeiten zwischen 409 und 406 v. Chr. Vgl. GÖTTE-HAMMERSTAEDT 2004: 47. Laut CLAIRMONT ist es denkbar, dass im ausgehenden 5. Jh. v. Chr. dort hauptsächlich Erechtheus verehrt wurde CLAIRMONT 1971: 488.

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Nicht-Bürgern bestückt waren. Die Inschrift stammt aus dem ausgehenden 5. Jh. v. Chr.77 Die Deutung des Stückes ist in der Forschung umstritten:78 Überzeugend argumentiert BAKEWELL, dass die Liste in ihrer Dichte und Höhe gar nicht zum genauen Lesen geeignet sei; daher müsse es sich um ein öffentliches statement im Sinne einer Würdigung der Gesamtbelegschaft handeln, inklusive der Fremden und Sklaven.79 Dies scheint mir durchweg überzeugend, ergänzend kann man postulieren, dass es sich wahrscheinlich um eine Weihung an eine in der Nähe der Fundstellen nachweislich verehrte Gottheit handeln muss, wobei aufgrund des Fundortes insbesondere der Heros/Gott Erechtheus bzw. Poseidon in Frage kommt.80 Dieses Dokument ist absolut einzigartig und hat keine Nachahmung gefunden, es ist jedoch zu betonen, dass gleichfalls die Lohnkostenabrechnungen der Bauarbeiter, die am sog. Erechtheion gearbeitet haben, Sklaven, freie Bürger und Fremde nebeneinander verzeichnen und (gleichfalls völlig exzeptionell)81 belegen, dass sie alle den gleichen Tagessatz für ihre Arbeit bekommen haben, nämlich 1 Drachme pro Tag.82 Das dritte Zeugnis, das zeitlich ähnlich wie die zuvor genannten Zeugnisse zu datieren ist, ist gleichfalls singulär. Es handelt sich um das Bruchstück eines monumentalen Weihreliefs von der Athener Akropolis (das sog. Lenormant-Relief), das einen Teil einer Triere abbildet. Trotz verlorener Bemalung und korrodierter Oberfläche sind auf dem größten Bruchstück neun an den Rudern sitzende thranites zu erkennen, von den unteren Reihen sind nur die runden Ruderpforten und Riemen sichtbar. Entscheidende Ergänzungen konnten aufgrund einer Zeichnung aus dem 17. Jahrhundert und zwei kleinerer Bruchstücke vorgenommen werden. Demnach waren auf dem Oberdeck mindestens zwei gelagerte Männer in Mänteln

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Von Epigraphikern wird das Stück aufgrund der Schrift ins ausgehende 5. oder frühe 4. Jh. v. Chr. datiert. Dieses Stück ist absolut einzigartig, es stellt einen Bruch mit der Konvention dar, eine solche Liste hat keine Nachfolger gefunden und keine Erwähnung bei Pausanias: BAKEWELL 2008: 157. Während LAING 1965: 50 es für das seltene Exemplar eines administrativen Dokuments hält, wurde das Stück verschiedentlich für eine Gefallenenliste gehalten. Dagegen führt BAKEWELL Argumente für eine repräsentative Aufstellung mit Ehrencharakter an: Der Fundort auf der Akropolis spreche gegen ein rein administratives Dokument. Da die Listen komplette Besatzungen verzeichneten und es unwahrscheinlich sei, dass die genannten Personen alle gleichzeitig gefallen seien, scheide die Deutung als Gefallenenliste aus (so BAKEWELL 2008: 154). EBD.: 155: „The Naval Catalogue emphasizes the contributions of non-Athenians to the fleet and to the city. Each heading of xenoi and therapontes, and very ethnikon, deme of residence, and master’s name underscores the city’s reliance on its non-citizens.“. Laut Pausanias befanden sich vor dem Eingang des Gebäudes, das später Erechtheion genannt wurde, auch ein Altar „des Poseidon, auf dem man nach Anweisung des Orakels auch dem Erechtheus opfert […]“ (Paus. 1,26,5). Poseidon und Erechtheus erhielten also gemeinsame Opfer und Inschriften sprechen von einem Poseidon Erechtheus (IG I3 873). Dazu vgl. BURKERT 1972: 166–168. Vgl. LOOMIS 1998 und SEG 48,23. Vgl. z. B. IG I3 476,192–201 aus dem Jahr 408/07 v. Chr.

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dargestellt, von denen einer einen Piloshelm auf dem Kopf trug.83 Nach der aktuellen Rekonstruktion im Athener Akropolismuseum füllte das Schiff nur die untere Hälfte des Bildes, das oben mindestens eine großformatigere Figur zeigte: Einen sitzenden Mann mit nacktem Oberkörper, der sich mit der rechten Hand auf ein Szepter (?) stützt, neben ihm kauert ein Jagdhund. Aufgrund des von Götterund Heroenbildern bekannten Sitzschemas und in Analogie zu bekannten Weihreliefs schließe ich darauf, dass es sich bei der Figur rechts um den Empfänger einer Weihgabe handelt, welche allerdings nicht rekonstruiert werden kann. Auch in diesem Fall könnte Poseidon/Erechtheus als Empfänger gemeint sein.84 Wenn auch der für die beiden zuletzt genannten Zeugnisse hier postulierte religiöse Kontext noch präzisiert werden müsste, so lässt sich dennoch bereits jetzt festhalten, dass beide Objekte in der Hinsicht singulär sind, dass sie erstmalig die Schiffsbesatzungen in Gänze zum Gegenstand machen: Die Schiffsliste behandelt alle Insassen gleich, indem sie jeden einzelnen mit seinem Namen auflistet; die Nennung des jeweiligen Status wertet die genannten Sklaven nicht ab, sondern auf und integriert sie in die Mannschaft. Das Weihrelief ist das erste und einzige Bilddokument, das eine Triere abbildet. Da alle zuletzt behandelten Zeugnisse aus dem letzten Jahrzehnt des 5. Jhs. v. Chr. stammen, liegt es nahe, einen Zusammenhang mit dem Sturz des oligarchischen Regimes im Juli 410 v. Chr. herzustel-

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Der Vorschlag, von diesen an Deck liegenden Figuren darauf zu schließen, dass es sich bei der dargestellten Triere um das insbesondere für Gesandtschaften genutzte Staatsschiff Paralos handelt, weil die Passagiere so entspannt aussähen (vgl. SCHOLL 2002: 263), kann meines Erachtens nicht überzeugen, zumal der eine gelagerte einen Helm trägt. Die Zeichnung wird VINCENZO LEONARDI zugeschrieben und befindet sich heute im British Museum. Zur Zeichnung HOFTER 2002: 695–696 (mit Abb. S. 696). Aufgrund der übereinstimmenden Maßverhältnisse ist anzunehmen, dass der Zeichner die Technik des Durchpausens anwendete, wobei einige Details (wie die Wellen unter dem Schiff und die Unterschiede in den Barttrachten und Kopfbewegungen der Ruderer) entweder als Zutat des Zeichners zu interpretieren sind oder auf heute nicht mehr nachvollziehbare Farbspuren am Original bzw. dessen besseren Erhaltungszustand im 17. Jh. zurückgehen. HOFTER vermutet ersteres, während das kleine Fragment aus dem Akropolismuseum (Inv. 16479) darauf hinweist, dass die Ruderer tatsächlich individualisiert dargestellt worden sind. Die zweite und dritte Riemenreihe hat der Zeichner nicht identifiziert und als Schatten der ersten Reihe bzw. als Verstrebungen des Auslegers interpretiert, was wahrscheinlich auf die Anschauung barocker Galeeren zurückgeht, die nur eine Reihe von Ruderern aufwiesen. So HOFTER 2002: 696. Besonders aufschlussreich für die Rekonstruktion ist die Zeichnung, weil sie den rechten Abschluss des Reliefs abbildet und dessen Fortsetzung nach oben andeutet, so dass inzwischen zwei weitere Fragmente mit dem Relief in Verbindung gesetzt werden konnten und auch der obere Abschluss der Platte nun bekannt ist. Vgl. SCHOLL 2002: 263. Anders der Vorschlag von HOFTER, der in der männlichen Figur den Dedikanten erkennen möchte und von zu ergänzenden Empfängern der Weihung links im Bild ausgeht. Zur Komplexität des Erechtheus, dessen Zuschreibungen sich im Laufe der Geschichte stark veränderten, zuletzt SOURVINOU-INWOOD 2011, die für das 5. Jh. v. Chr. von einer starken Schutzfunktion des Erechtheus für Athen ausgeht. Zum möglichen Zusammenhang von der Neugestaltung des sog. Erechtheions und Euripides’ nur in Fragmenten erhaltener Tragödie Erechtheus aus dem Jahr 422 v. Chr.: CLAIRMONT 1971.

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len. Erst seit diesem Zeitpunkt lässt sich also nachweisen, dass den Ruderern eine gewisse Würdigung zugesprochen wurde.85 3 FAZIT Die in der Forschung immer wieder geäußerte Ansicht, die Schlacht von Salamis habe zur Aufwertung der armen Bürger Athens und damit zur Vollendung der Demokratie geführt, muss in mehrerlei Hinsicht modifiziert werden: Das Rudervolk rekrutierte sich nur zu einem geringen Anteil aus Theten, diese wurden jedoch nicht als gleichwertige Mitglieder der autochthonen Bürgergemeinschaft wahrgenommen. Die Flottensiege wurden zunächst ausschließlich als Erfolge der Generäle wahrgenommen, es dominierte im öffentlichen Diskurs die Idealisierung der Landkämpfer. Erst siebzig Jahre nach der Schlacht von Salamis können die ersten Zeugnisse verzeichnet werden, welche belegen, dass die Rudermannschaften in Gänze für ihre Leistung eine Anerkennung bekamen, die über den empfangenen Sold hinausging. Erst in der Folge der niedergeschlagenen oligarchischen Umsturzversuche im Jahr 411 v. Chr. erlangten die Ruderer das Selbstbewusstsein von gleichberechtigten polis-Bürgern und es wurde ihnen der Status von Kriegern zugesprochen. BIBLIOGRAPHIE Arrington, Nathan T. (2015): Ashes, images, and memories. The presence of the war dead in fifthcentury Athens. New York: Oxford University Press 2015. Bakewell, Geoffey W. (2008): Trierarchs’ Records and the Athenian Naval Cataloguue (IG I3 1032) – In: Mackay, Anne (Hrsg.): Orality, Literacy, Memory in the Ancient Greek and Roman World. Leiden, Boston: Brill 2008, S. 143–162. Beck, Hans (2009): Ephebie, Ritual, Geschichte. Polisfest und historische Erinnerung im klassischen Griechenland – In: Ders. / Wiemer, Hans-Ulrich (Hrsg.): Feiern und Erinnern. Geschichtsbilder im Spiegel antiker Feste. Berlin: Verlag Antike 2009, S. 55–82. Bleicken, Jochen (1995): Die athenische Demokratie. Paderborn: Schöningh 1995. Burckhardt, Leonhard (1996): Bürger und Soldaten. Aspekte der politischen und militärischen Rolle athenischer Bürger im Kriegswesen des 4. Jahrhunderts v. Chr. Stuttgart: Steiner 1996. Ders. (2000): Eine Demokratie wohl, aber kein Rechtsstaat? Der Arginusenprozeß des Jahres 406 v. Chr. – In: Ders. / von Ungern-Sternberg, Jürgen (Hrsg.): Große Prozesse im antiken Athen. München: C.H. Beck 2000, S. 128–143. Burkert, Walter (1972): Homo necans. Inerpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin, New York: De Gruyter 1972. Clairmont, Christoph W. (1971): Euripides’ Erechtheus and the Erechtheion – In: GRBS 12.4 (1971), S. 485–495. Connor, W. Robert (1988): Early Greek Land Warfare as Symbolic Expression – In: P&P 119 (1988), S. 3–29. 85

In der letzten Phase des Peloponnesischen Krieges weichte man in Athen (vermutlich aufgrund der hohen Kriegsverluste) das geltende Bürgerrecht auf, erst 403 v. Chr. wurde das Bürgerrechtsgesetz des Perikles wieder hergestellt.

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ADMETS KAMPF UM DIE EHRE Gastfreundschaft in der Alkestis des Euripides Anabelle Thurn „Was tust du? Obwohl solch ein Unglück vorliegt, / Admet, scheust du dich nicht, Gäste auf1 zunehmen? Warum bist du so töricht?“

Obwohl er einen Trauerfall zu beklagen hat, nimmt Admet einen Gast in seinen Haushalt auf. Euripides lässt den Chor in seiner Bearbeitung des Alkestisstoffes auf dieses Verhalten des Admet echauffiert reagieren. Die Fragen „Was tust du?“ und „Warum bist du so töricht?“ drücken gänzliches Unverständnis aus. Der Chor verurteilt Admet, der trotz der Trauer um seine Gattin Alkestis einen Gast bewirtet, nicht nur als töricht (µῶρος), sondern lässt durch die ‒ eine bloße Feststellung übersteigende ‒ Frage, warum er so töricht sei, seine regelrechte Erschütterung über Admets Entscheidung erkennen. Versteht man den Chor mit ZIMMERMANN als personifizierten Gedanken über die dargestellte Handlung und als idealisierten Zuschauer,2 so kann man von der hier vorliegenden Beurteilung über das Verhalten des Admet auf die moralische Haltung des athenischen Publikums im 5. Jh. v. Chr. rückschließen. Denn wie ein Seismograph drücke die Komödie zu dieser Zeit die Stimmung in der athenischen Bürgerschaft aus.3 Wenn dies auch für die Tragödie allgemein und im Besonderen für die euripideische Aufführung der Alkestis bei den Großen Dionysien des Jahres 438 v. Chr. gelten kann,4 so repräsentiert die Haltung des Chores die im Publikum vorherrschende Meinung in Fragen des rechten gastfreundschaftlichen Verhaltens. Auch aus moderner Perspektive erscheint die Situation skurril: ein Hausherr (Admet) zwingt trotz seiner Trauer um die eigene Gattin (Alkestis) einen Fremden (Herakles), sein Gast zu sein, obwohl der es selbst ablehnt in ein trauerndes Haus einzukehren. Was bewegt den Admet zu diesem Beharren auf der Einkehr des Herakles? Zur Klärung dieser Frage ist es notwendig, die antiken Regeln der Gastfreundschaft zu berücksichtigen. Daher wird im Folgenden zunächst die Institution der Gastfreundschaft im Hinblick auf Charakteristika, Zweck und Stellenwert innerhalb der Gesellschaft vorgestellt, bevor die Alkestis im Hinblick auf die Thematisierung der Gastfreundschaft analysiert wird. Dabei sollen sowohl das 1 2 3 4

Eur. Alc. 551f.: „τί δρᾷς; τοιαύτης συµφορᾶς προκειµένης, / Ἄδµητε, τολµᾷς ξενοδοκεῖν; τί µῶρος εἶ;“ (Übers.: PARKER modifiziert durch THURN). Vgl. ZIMMERMANN 2005a: 27. Vgl. DERS. 2005b: 150. Vgl. DERS. 2005a: 96.

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Verhalten des Gastgebers als auch des Gastes eingehend betrachtet werden, um beurteilen zu können, inwiefern hier ethische Aspekte für aristoi verhandelt werden. Denn sowohl Admet als auch Herakles – die Akteure, die beide in dieser die Gastfreundschaft thematisierenden Szene in der Alkestis beteiligt sind – können als aristoi, als Repräsentanten der Elite ihrer Zeit, angesehen werden. Herakles als Heros,5 Admet als König von Thessalien in Pherai.6 1 GASTFREUNDSCHAFT ALS SOZIALES KAPITAL Die Gastfreundschaft ist seit ihrer frühesten Thematisierung in den homerischen Epen im gesamten Altertum allgegenwärtig und hat sowohl in griechischen als auch lateinischen Quellen den Charakter einer etablierten sozialen Institution.7 So stellt HERMAN fest, dass in der klassischen und hellenistischen Welt die Gastfreundschaft schließlich zur wichtigsten Bündnismöglichkeit wurde,8 die ein exklusiv elitäres Phänomen darstellt.9 Heirat und die Gastfreundschaft bieten der Elite10 Möglichkeiten, friedliche Verbindungen, ja Bündnisse zwischen Individuen bzw. einzelnen Haushalten herzustellen.11 Im Unterschied zur Heirat bietet die Gastfreundschaft die Möglichkeit einer stärker frequentierten Vernetzung, da sie wesentlich häufiger eingegangen werden kann. In klassischer Zeit kann zwischen xenia (ξενία) und proxenia (προξενία) unterschieden werden. Während unter ξενία die Gastfreundschaft zwischen Einzelnen zu verstehen ist, wie sie bereits für die homerische Zeit belegt ist, steht die προξενία für die in klassischer Zeit stattfindende Ausweitung der Institution auf Gemeinschaften.12 Die Begegnung zwischen Admet und Herakles, die Euripides in der Alkestis beschreibt, ist der Institution der ξενία zuzuordnen. Die Attraktivität der Gastfreundschaft ist in den Leistungen begründet, zu denen sie unbedingt verpflichtet.   Gastfreundschaft hatte in den Gesellschaften der griechischen Antike eine hohe Verbindlichkeit.13 Zum einen garantierte das Bündnis die gegenseitige Unterstützung im Fall eines Angriffs.14 Darüber hinaus konnte ein Gastfreund auch militärische Unterstützung gegen eine dritte Partei erwarten.15 Eines der bekanntes5 6 7 8 9 10 11 12 13

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Vgl. GRAF 1996: 387. Vgl. SCHEER 1998: 118. Vgl. HERMAN 1996: 612. Vgl. DERS. 1987: 164. Zur ritualisierten Form der Gastfreundschaft vgl. DERS. 1996: 611–613. Zur „upper-class institution“ vgl. DERS. 1987: 34. Vgl. FINLEY 2005: 107; HILTBRUNNER 2005: 27; HERMAN 1987: 36. Zur Institution der Proxenie vgl. MAREK 1984; WALBANK 1978; GEROLYMATOS 1986; ADCOCK/MOSLEY 1975: 11. Es ist freilich davon auszugehen, dass die Darstellungen, die wir aus den in Athen aufgeführten Tragödien kennenlernen, in erster Linie athenische Wert- und Moralvorstellungen wiedergeben. Vgl. FINLEY 1981: 221. FINLEY 2005: 106 spricht von Männer- und Waffenkraft, die bei Bedarf zur Verfügung gestellt wird.

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ten Beispiele für eine solche Mobilisierung eines Netzwerkes von untereinander verbundenen Aristokraten ist im Zug des Menelaos gegen Troja in der Ilias zu erkennen.16 Gastfreundschaft steht gleichsam als Synonym für militärischen Schutz und Verteidigung. Zum anderen gewährte der Gastfreund einem Fliehenden einen Zufluchtsort. Und schließlich bedeutete ein befreundeter Haushalt, so FINLEY, ein Vorratshaus auf Reisen.17 Nicht nur Unterkunft und Verpflegung des Reisenden wurden gewährt, sondern auch die Ausstattung mit Gewändern und die Versorgung der Tiere. Der Gastgeber war für das Wohlbefinden des Gastes verantwortlich.18 Diese Verpflichtung zur Beherbergung von reisenden Gastfreunden will Herakles in der Alkestis in Anspruch nehmen, wenn er in Thessalien ankommt und nach dem Hausherrn, Admet, fragt.19 Da es in der Antike kaum Herbergen gab,20 mussten ranghohe Reisende auf der Suche nach Unterkunft regelmäßig auf die Gastfreundschaft zurückgreifen.21 Das göttliche Gebot der Gastlichkeit garantierte, dass sowohl ein bekannter Gastfreund als auch ein Fremder – beides beinhaltet die griechische Bezeichnung xenos (ξένος) – Aufnahme finden konnten.22 Allgemein gibt es im Umgang der Menschen mit Fremden zwei Grundhaltungen. Auf der einen Seite ist das die Philoxenie, auf der anderen Seite die Xenophobie.23 Für das fremdenfreundliche Verhalten ist vorauszusetzen, dass im Unbekannten ein Stück anverwandtes Wesen vermutet wird, zu dem man in friedlich-freundschaftliche Verbindung treten kann. Der Fremdenphobie hingegen liegt eine Angst zugrunde, die dazu anhält, einen potentiell gefährlichen Eindringling abzuwehren.24 Da eine Ambivalenz zwischen Philoxenie und Xenophobie als anthropologische Konstante gelten kann, ist es bemerkenswert, dass der Schutz des Fremden im antiken Griechenland als göttliches Gebot gilt.25 So wird die Verletzung der Gastfreundschaft von den Göttern und nicht von „einem von Menschen eingeführten Gesetz“ bestraft. Laut HILTBRUNNER ist es eine „verabscheu-

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Auch Aischylos bezieht sich auf die Verpflichtung der Gastfreundschaft, wenn er von Zeus Xenios spricht, der die Atreiden ausschickt, um den Raub des Paris zu rächen: vgl. Aischyl. Ag. 60ff. Vgl. FINLEy 2005: 106. Die Prozedur der Aufnahme eines Gastes kann in sechs Schritte eingeteilt werden: Von der Versorgung der Tiere, über das Baden, Salben und festliche Einkleiden des Gastes und die Handwaschung bis hin zur Verköstigung, vgl. HILTBRUNNER 2005: 26. Eur. Alc. 476f.: „Freunde, Bewohner des Landes von Pherai, treffe ich Admet im Hause an?“ / „ξένοι, Φεραίας τῆσδε κωµῆται χθονός, / Ἄδµητον ἐν δόµοισιν ἆρα κιγχάνω;“ (Übers.: SEECK). Vgl. WAGNER-HASEL 1998: 795. Vgl. EBD. Vgl. ADCOCK und MOSLEY führen die Religion als Grundlage aller gesellschaftlichen Verpflichtungen und Verträge an. So steht auch das Gebot, einen Fremden aufzunehmen unter göttlichem Schutz, vgl. ADCOCK/MOSLEY 1975: 11. Vgl. HILTBRUNNER 2005: 9. Vgl. EBD. Zum Verhalten gegenüber Fremden vgl. WAGNER-HASEL 2000: 80f. Vgl. DIES. 1998: 795.

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ungswerte Verfehlung gegen ein für alle Menschen bindendes Gebot.“26 Der Schutz des Gastes trägt den verpflichtenden Charakter der Themis,27 über ihn wacht bei den Griechen Zeus Xenios.28 Dieser ist bereits bei Homer bezeugt,29 auch die griechische Tragödie liefert etwa im Agamemnon des Aischylos einen eindrücklichen Beleg.30 Es ist also davon auszugehen, dass dieser göttliche Schutz der Gastfreundschaft von Euripides rezipiert wird, wenn er der Gastfreundschaft zwischen Admet und Herakles in der Alkestis einen hohen Stellenwert einräumt. Bevor nun das Augenmerk auf die Ereignisse in der Alkestis gerichtet werden kann, muss zur Beurteilung des Verhaltens des Admet und des Herakles geklärt werden, welche Bedeutung die Gastfreundschaft zum einen in der Gesellschaft, zum anderen für das Ansehen eines Aristokraten spielt. HILTBRUNNER erkennt in der Gastfreundschaft ein Hauptthema der Sozialethik des klassischen Athen.31 Die Gastfreundschaft sei nämlich als das entscheidende Kennzeichen zu verstehen, welches einen Menschen als zivilisiert charakterisiert. Ähnlich definiert auch WAGNER-HASEL die Gastfreundschaft als „Ausdruck der Zivilisiertheit schlechthin“.32 Welchen Stellenwert die Gastfreundschaft in der Gesellschaft einnimmt, lässt sich darüber hinaus an der moralischen Verurteilung desjenigen erkennen, der gegen die Regel der Gastfreundschaft verstößt. So stellt HILTBRUNNER fest, dass schon Hesiod „denjenigen, der einen Schutzflehenden oder einen Fremden übel behandelt, auf dieselbe Stufe [stellt] wie den, der sich durch Raub und Betrug bereichert, der das Weib seines Bruders schändet, Waisen übervorteilt, den alten Vater beschimpft.“33 Noch etwas deutlicher und zudem etwas zeitnäher an der Alkestis nimmt auch der Komödiendichter Aristophanes in den Fröschen Stellung zum Grad der Schande, die sich ein Mann, der gegen die Gastfreundschaft verstößt, auflädt. Denjenigen, der dem Gastfreund Schaden zufügt, zählt zum Beispiel Aristophanes an erster Stelle der Verdammten auf, noch vor denen, die sich an Knaben vergehen oder denen, die ihren Eltern Schaden zufügen.34 HERMAN bezeichnet den Besitz von ξένοι als ‚Statussymbol‘ und misst ihm einen hohen gesellschaftlichen Wert bei.35 An der Anzahl der Gastfreunde können geradezu der Wert und die Macht eines Mannes innerhalb der Gemeinschaft, der er selbst angehört, sowie außerhalb dieser abgelesen werden. Die Zahl der Gastfreunde stehe, so HERMAN, in direkter Proportion zum öffentlichen Ansehen.36 In 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

HILTBRUNNER 2005: 40. Vgl. KÄPPEL 2002: 301. Vgl. WAGNER-HASEL 1998: 795. Beispielsweise Hom. Od. 6,207; Od. 9,270. Vgl. Aischyl. Ag. 61f.: Zeus als Hüter des Gastrechts. Vgl. HILTBRUNNER 2005: 34. WAGNER-HASEL 1998: 794. HILTBRUNNER 2005: 34 in Bezugnahme auf Hes. erg. 327ff. Vgl. Aristoph. Ran. 145–151. Vgl. HERMAN 1987: 36. Vgl. EBD.; siehe auch HILTBRUNNER 2005: 36.

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einer solchen Beurteilung kann der soziale und gesellschaftliche Wert der Gastfreundschaft als ‚soziales Kapital‘ verstanden werden. Pindar liefert beispielsweise in den Nemeischen Oden einen eindrücklichen Beleg für die Assoziation eines guten Rufes mit der häufigen Beherbergung und guter Behandlung Fremder.37 Auch die politische Reputation wird stark vom Umgang mit ξένοι bestimmt. Der Unterhalt vieler Gastfreunde in einem offenen Haus ist so untrennbar mit einem guten Ruf verbunden.38 Xenophon zählt in seiner Schrift von der Haushaltslehre die Standespflichten eines Mannes nach ihrer Bedeutung gewichtet auf:39 So muss erstens den Göttern reichlich geopfert werden. Als zweiten Punkt benennt er bereits die Aufnahme vieler Gäste und deren prächtige Bewirtung und Unterbringung.40 Zwar misst Xenophon den höchsten Stellenwert den Göttern bei, doch die Benennung der Gastfreunde erfolgt bereits an zweiter Stelle, sogar noch vor den Leistungen gegenüber der Stadt und den Mitbürgern. Da der Fremde und Gastfreund zudem unter dem Schutz des Zeus Xenios steht, ist der Übergang zwischen den Stellenwerten, die Xenophon der Ehre der Götter und der Gastfreundschaft zugesteht, gleichsam fließend. Erfüllt ein aristos durch die Bewirtung eines Gastfreundes seine Standespflicht zweiter Ordnung, so wird er gleichzeitig auch seiner Standespflicht erster Ordnung gerecht, indem er dem göttlichen Gebot des Zeus Xenios folgt.41 Ein wahrer aristos zeichnete sich im klassischen Griechenland also in besonderem Maße durch die Bereitschaft aus, Gastfreunde in seinen Haushalt aufzunehmen. Sein Wert und seine Macht standen in einem proportionalen Verhältnis zur Anzahl der Gastfreunde, die er unterhielt. Konnte somit der außerordentlich hohe Stellenwert der Gastfreundschaft geklärt werden, ist nun das Verhalten Admets in der euripideischen Alkestis und dessen unbedingte Rücksichtnahme auf die Erhaltung seines sozialen Kapitals der Gastfreundschaft zu beurteilen. 2 HERAKLES ZU GAST BEI ADMET Das Thema Gastfreundschaft verknüpft in der Alkestis die Behandlung der Aufopferung und des Todes der Alkestis für ihren Gatten und die Rückkehr der Alkestis aus der Unterwelt, die Merkmale des Satyrspiels aufweist.42 Der Streit um die Gastfreundschaft und die dann stattfindende Bewirtung füllt gleichsam die Lücke 37 38 39 40 41

42

Pind. N. 1,22–24,33f. Vgl. WAGNER-HASEL 1998: 796. Vgl. HILTBRUNNER 2005: 36; WAGNER-HASEL 1998: 796. Xen. oik. 2,5. Besonders deutlich wird die schwierige Trennung von der Sorge um die Götter und die Gastfreunde im Phänomen der theoxenia (θεοξένια), der Götter- und Heroenbewirtung, bei der den göttlichen Gästen Klinen und Tische mit Gaben aufgestellt werden. Diese Praxis stellt gleichsam eine Synopse aus dem Opfer für die Götter und der großzügigen Gastfreundschaft dar. Vgl. hierzu WAGNER-HASEL 1998: 795. Vgl. ZIMMERMANN 2005a: 98. In ihrem Aufführungsjahr 438 v. Chr. tritt die Alkestis in den Großen Dionysien an die Stelle des Satyrspiels.

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zwischen der Trauer des Anfangs und der Erlösung des Endes. Es ist gleichwohl ein Schlüsselthema, denn es bietet die Rahmenbedingungen für die Rettung der Alkestis: der Gastfreund Herakles bringt sie gewissermaßen als Gastgeschenk dem Admet zurück. Ob die Rückholung der Alkestis dem Herakles als Dank an Admet oder lediglich zur Reinigung seines eigenen schlechten Gewissens dient, soll ebenso geklärt werden wie auch die zentrale Frage nach einer möglichen Rechtfertigung des Verhaltens Admets. 2.1

Admet und die persönliche Verpflichtung der ξενία

Die ritualisierte Gastfreundschaft ist als ein auf gegenseitiger Solidarität basierendes Bündnis zu verstehen und nimmt, so HERMAN, im Austausch bestimmter Leistungen Gestalt an.43 Die Erteilung dieser freundschaftlichen Leistung gewährleistet eine mit der Gastfreundschaft einhergehende persönliche Verpflichtung.44 Auf eben diese Verpflichtung zu einer ‚gastfreundschaftlichen Dienstleistung‘ bezieht sich Herakles sogleich nach seinem Auftritt mit den Worten: „Fremde, Bewohner des Landes von Pherai, treffe ich Admet im Hause an?“45 Aus der Frage des Herakles wird deutlich, dass er nicht aus Pherai stammt. Die Kenntnis des Namens Admets und seine Frage nach ihm geben bereits den ersten Hinweis, welche Bedeutung seine Frage hat. Nämlich die Suche nach einer Unterkunft. Das handlungserklärende Nachhaken des Chores offenbart, dass Herakles auf der Durchreise nach Pherai gelangte.46 Als Admet in Trauerschur auftritt, verweigert dieser die Auskunft über die zu betrauernde Person. Somit nimmt das Missverständnis seinen Lauf, da Herakles nicht ahnt, dass die Herrin des Hauses zu Grabe getragen werden muss. Unmissverständlich klargestellt wird die Absicht des Herakles schließlich in den Versen 536 bis 538: „He. Ach, Admet, hätte ich dich doch ohne diesen Kummer angetroffen. Ad. Was willst du damit sagen? Was hast du vor? He. Ich werde einen anderen gastlichen Herd aufsuchen.“47

Mit dieser ersten Äußerung zur Gastfreundschaft stellt Euripides den ehrempfindlichen Admet also sogleich auf die Probe. Denn, wie bereits erläutert wurde, ist die Gastfreundschaft für einen König wie Admet eine Standespflicht oberster Ordnung. Beinahe erscheint die Formulierung, die Euripides für die Aussprache des Anliegens des Herakles wählt, pikiert. Man kann geradezu einen beleidigten Ton darin erkennen, muss sich Herakles – der sich in einer wichtigen Aufgabe auf 43 44 45 46 47

Vgl. HERMAN 1987: 10. Vgl. FINLEY 1981: 221: „personal obligation of service“. Eur. Alc. 476f.: „ξένοι, Φεραίας τῆσδε κωµῆται χθονός, / Ἄδµητον ἐν δόµοισιν ἆρα κιγχάνω;“ (Übers.: SEECK modifiziert durch THURN). Eur. Alc. 478–506. Eur. Alc. 536–538: „Ἡρ. φεῦ. εἴθ᾽ ηὕροµέν σ᾽, Ἄδµητε, µὴ λυπούµενον. / Ἄδ. ὡς δὴ τί δράσων τόνδ᾽ ὑπορράπτεις λόγον; / Ἡρ. ξένων πρὸς ἄλλων ἑστίαν πορεύσοµαι.“ (Übers.: SEECK).

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der Durchreise befindet – nun auf die Suche nach einer anderen Herberge begeben, scheint er doch bei seiner ersten Wahl das Pech zu haben, auf einen trauernden Haushalt gestoßen zu sein. Da Herakles als Heros über viel Prestige verfügt, muss seine Beherbergung eine besondere Ehre darstellen. Es ist also überraschend, dass er sich in dieser konkreten Situation umorientieren muss. Dass Admet diese Ehre und den potentiellen Ehrverlust, den das Abweisen dieses ehrbaren Gastes bedeutete, erkennt, macht er in seiner Antwort nur allzu deutlich: „Das kann ich nicht zulassen, Herr, ein solches Unglück sei fern!“48 Und noch deutlicher wird er einige Verse später durch den beinahe verzweifelten Ausruf: „Auf keinen Fall lasse ich dich zum Herd eines anderen gehen.“49 Mit diesen beiden Versen ist die Position, die Admet vertritt, geklärt. Er ist auf seine Ehre als Edelmann bedacht und sieht diese durch die Ankunft des Gastes Herakles auf die Probe gestellt. Dass Herakles in einen anderen Haushalt einkehren könnte, empfindet er als größtes Übel (κακόν). Der in beiden Fällen durch οὐκ ἔστιν gleich gestaltete Auftakt seiner Aussagen macht deutlich, dass es ein und dieselbe Position ist, die Admet vertritt. Der Gleichklang impliziert sein Beharren in dieser Angelegenheit. Beide Male ist die Formulierung außerdem negativ gestaltet. Euripides lässt Admet nicht sagen, was sein soll, nämlich dass Herakles bleiben soll, sondern dass es eben nicht passieren darf, dass Herakles einen anderen Edelmann mit seinem Aufenthalt beehrt. Dass Admet an diesen elementaren Stellen sein Augenmerk ausschließlich auf das drohende κακόν richtet, soll ihm entgegen der später gegen ihn ausgesprochenen Vorwürfe zugutegehalten werden. Es ist ja doch nicht so, dass sich Admet in dieser Zeit der Trauer auf die Suche nach neuer Ehrsteigerung begeben hätte. Er bemüht sich lediglich darum, der Gefährdung eines Ehrverlusts, wie sie durch das Auftreten des Herakles und dessen angekündigter Suche nach einem anderen Gastgeber nun einmal eingetreten ist, entgegenzuwirken. Doch Herakles macht erneut denselben Einwand geltend, auf den bereits die erste Erwähnung des fremden Gastes in Vers 539 anspielte, nämlich: „Es gehört sich nicht, daß Gäste speisen, während andere weinen.“50 Er verstärkt sein Verlangen, nicht in ein trauerndes Haus einzukehren, indem er gar von Dankbarkeit spricht, die er Admet entgegenbrächte, sollte dieser ihn ziehen lassen: „ich werde dir unendlich dankbar sein.“51 Herakles gibt schließlich nach und kehrt trotz der vorherrschenden Trauer in das Haus des Admet ein. Euripides lässt keinen Zweifel daran, dass Admet sich als angemessener Gastgeber bewähren kann. Denn dieser ordnet sogleich Nahrung in Fülle an und gibt Anweisung, sich darum zu bemühen, dass jeglicher Kummer vom Gast ferngehalten werde.52 Das Urteil über Admet und sein Verhalten in dieser Situation der Aufnahme eines Gastes in sein trauerndes Haus wird durch den Chor gesprochen: „Was tust 48 49 50 51 52

Eur. Alc. 539: „οὐκ ἔστιν, ὦναξ: µὴ τοσόνδ᾽ ἔλθοι κακόν.“ (Übers.: SEECK). Eur. Alc. 545: „οὐκ ἔστιν ἄλλου σ᾽ ἀνδρὸς ἑστίαν µολεῖν.“ (Übers.: SEECK). Eur. Alc. 542: „αἰσχρὸν παρὰ κλαίουσι θοινᾶσθαι ξένους.“ (Übers.: SEECK). Eur. Alc. 544: „[…] µυρίαν ἕξω χάριν.“ (Übers.: SEECK). Vgl. Eur. Alc. 546–550.

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du? Bei einem solchen Schicksalsschlag lädst du dir einen Gast auf? Das ist nicht klug.“53 Sowohl das zeitgenössische Publikum, wiedergegeben durch den Chor, als auch moderne Leser können dieses kritische Urteil über Admet nachvollziehen. Die Trauer ist mit dem unbedingten Aufrechterhalten des Ehrenkodex schwer zu vereinen. An späterer Stelle äußert sich im Gespräch mit Herakles außerdem ein Diener kritisch gegenüber Admets Verhalten: „Er ist wirklich zu gastfreundlich.“54 Im dritten Stasimon jedoch tritt der Chor als rationalere Instanz auf. Das Chorlied ist hierbei der Gastfreundschaft des Hauses Admets gewidmet. Der erste Vers spricht im Grunde das größte Lob aus, das einem aristos im Sinne der ξενία zugesprochen werden kann: „O immer schon gastliches und großzügiges Haus des Mannes […]“.55 Admets Haus ist demnach immer von vielen Gastfreunden besucht und er selbst ist ein freigiebiger Gastgeber. Seinen Standespflichten wird Admet also überaus gerecht. Dass ihm dieses Lob zusteht, zeugt gewiss von seiner Ambition, ein guter Gastfreund zu sein, und somit auch von seinem Verlangen nach durch Gastfreundschaft zu gewinnender Ehre, nach der Mehrung seines sozialen Kapitals. Dass Admet auch in Trauer um die Gattin sein Haus geöffnet hat, erklärt der Chor an dieser Stelle wie folgt: „die eben im Haus gestorben ist, beweint er; denn seine Vornehmheit ist allzu groß, fast schon bedenklich.“56 Der wahre Edelmann von edler Gesinnung und edler Abstammung neigt also dazu, die Standespflichten zu achten und einzuhalten. Der Grund, den der Chor für die Handlung des Admet erkennt, liegt in dessen Stellung als Aristokrat (εὐγενές). Und eben diese gesellschaftliche Stellung ist es, die ihn zu Ehrfurcht, Achtung und Rücksichtnahme antreibt. Als Edelmann und ohne das Risiko einzugehen, sein soziales Kapital zu reduzieren, wäre es dem Admet daher nicht möglich gewesen, den Gastfreund Herakles abzuweisen.57 Der Chor, der eben noch das Unverständnis und die menschliche Erschütterung des Publikums erkannt und wiedergegeben hat, erkennt rational betrachtend in Admet nun ein ehrenwertes, standesgemäßes Verhalten, das ihn zwingt, seinen eigenen Kummer hintanzustellen. Der Erklärung des Chors im dritten Stasimon vorangegangen ist die Rechtfertigung seines Verhaltens durch Admet selbst. Der Chor greift im Chorlied im Grunde lediglich die Argumentation des Admet auf und versucht sie dem Publikum nahezubringen. Bereits in Vers 555 erklärt sich Admet selbst: Admet führt an, dass sein gastlicher Ruf unter der Abweisung des Herakles erheblichen Schaden genommen hätte und dies lediglich ein weiteres Unglück für sein Haus bedeuten, das bereits erlittene also noch zusätzlich steigern würde – „Zu meinem Un53 54 55 56 57

Eur. Alc. 551f.: „τί δρᾷς; τοιαύτης συµφορᾶς προκειµένης, / Ἄδµητε, τολµᾷς ξενοδοκεῖν; τί µῶρος εἶ;“ (Übers.: SEECK). Eur. Alc. 809: „ἄγαν ἐκεῖνός ἐστ᾽ ἄγαν φιλόξενος.“ (Übers.: SEECK). Eur. Alc. 569: „ὦ πολυξείνου καὶ ἐλευθέρου ἀνδρὸς ἀεί ποτ᾽ οἶκος, […].“ (Übers.: SEECK). Eur. Alc. 600: „τὸ γὰρ εὐγενὲς ἐκφέρεται πρὸς αἰδῶ.“ (Übers.: SEECK). Dass der Chor den Wechsel zwischen Verurteilung und Akzeptanz von Admets Verhalten vollzieht, zeigt die moralische Funktion des Chors – stellverstretend für das Publikum und damit die Gesellschaft ‒ auf; vgl. dazu die gesellschaftliche Rolle von Moral nach LUHMANN 1978: 43‒51.

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glück wäre ein zweites hinzugekommen, nämlich daß man mein Haus gastfeindlich genannt hätte“.58 Für den Aristokraten ist das Attribut gastfeindlich (ἐχθροχένος) gleich nach ‚gottlos‘ anzusiedeln, also von desaströser Bedeutung. Admet ist, da er Herakles aufgenommen hat, seiner aristokratischen Pflicht nachgekommen, nicht zuletzt, um weiteres Leid von seinem Haushalt abzuwenden. 2.2

Herakles und die persönliche Verpflichtung der ξενία

Auch das Verhalten des Gastes soll kurz analysiert werden, um später einen Rückschluss von dessen Gastgeschenk für Admet auf seine Beurteilung des Verhaltens des Gastgebers ziehen zu können. Herakles ist auf der Durchreise nach Thessalien gekommen und möchte das Gastrecht im Hause König Admets in Anspruch nehmen. Nachdem er erfahren hat, dass sich Admets Haus in Trauer befindet, weigert er sich zunächst einzukehren. Ohne zu wissen, wer dort betrauert wird und in der Annahme, es sein kein engstes Familienmitglied Admets, lässt er sich schließlich doch in die Gastgemächer führen. Obwohl in der Institution der Gastfreundschaft auch der Gast an die Verhaltensregeln eines Aristokraten beim Gastmahl gebunden ist und sich generell seines Standes angemessen zu verhalten hat,59 lässt sich Herakles geradezu gehen. Keineswegs bescheiden bedient er sich an den dargebotenen Speisen,60 treibt das Personal ungeziemend an61 und verhält sich in aller Einsamkeit wie als Teilnehmer an einem Symposion, da er aus einem Humpen aus Efeu ungemischten Wein trinkt bis er betrunken ist, sich das Haupt mit Myrtezweigen bekränzt und singt.62 Von einem standesgemäßen Verhalten kann also nicht die Rede sein. Eine detaillierte Bewertung des Herakles kann an dieser Stelle vernachlässigt werden, da vielmehr die Reaktion des Heroen auf die Auflösung des Missverständnisses durch den Diener für eine angestrebte Bewertung des Admet von Bedeutung ist. Das Verhalten des Herakles beim Gastmahl wird durch den Diener scharf kritisiert. Er beklagt sich über die Schamlosigkeit des Gastes. Da er dabei angibt, schon viele Gäste des Admet bewirtet zu haben,63 gewinnt die Beurteilung an Glaubwürdigkeit. Das Urteil fällt dabei vernichtend aus: „[…] ich habe noch keinen schlimmeren Gast an unserm Herd empfangen.“64 Der Diener führt erstens an, dass Herakles, obwohl er gesehen hat, dass sich das Haus in Trauer befindet, überhaupt eingetreten ist. Zweitens kritisiert er das maßlose Verhalten des Herak58 59 60 61 62

63 64

Eur. Alc. 557f.: „καὶ πρὸς κακοῖσιν ἄλλο τοῦτ᾽ ἂν ἦν κακόν, / δόµους καλεῖσθαι τοὺς ἐµοὺς ἐχθροξένους.“ (Übers.: SEECK). Zum Gastmahl vgl. SCHMITT-PANTEL 1998: 797–803. Vgl. Eur. Alc. 753f. Vgl. Eur. Alc. 755. Vgl. Eur. Alc. 756–760. Ein Symposion, das per definitionem als eine ‚Triebfeder der Geselligkeit‘ bezeichnet werden muss, alleine abzuhalten, ist als höchst anstößig zu beurteilen; vgl. SCHMITT-PANTEL 1998: 802. Vgl. Eur. Alc. 747–749. Eur. Alc. 749f.: „[…] τοῦδ᾽ οὔπω ξένον / κακίον᾽ ἐς τήνδ᾽ ἑστίαν ἐδεξάµην.“ (Übers.: SEECK).

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les beim Mahl. Er erkennt in Herakles nichts weiter als irgendeinen „üblen Dieb und Straßenräuber.“65 Auf die Lösung des Missverständnisses durch den Diener, der Herakles darauf hinweist, dass Alkestis, die Gattin des Admet gestorben sei, reagiert der Heros schockiert: „Da hat mir mein Gastgeber offenbar einen schlimmen Streich gespielt?“66 Herakles wundert sich, dass er bewirtet wurde, obwohl es die Herrin des Hauses ist, die betrauert wird.67 In den Versen 829 bis 832 erkennt Herakles schließlich die volle Tragweite seiner misslichen Situation: „Gegen mein Gefühl setzte ich mich über den Todesfall hinweg und trank im Haus des gastfreundlichen Mannes, der sich in dieser Lage befand. Und da feiere ich, das Haupt bekränzt!“68 Es ist in erster Linie Reue, die aus diesen Versen spricht. Einerseits die Reue, dass er die Situation verkannte und sich hat überreden lassen in das Haus des Admet einzutreten. Andererseits Reue über sein so unangemessenes Verhalten als Gast beim Gastmahl. Die Reaktion des Herakles auf diese Einsicht wird seinem „Charakter als Nothelfer“ gerecht,69 wenn er sich entschließt, Alkestis zurückzuholen, um sie in die Arme des Admet zu legen.70 Herakles’ Motivation zu seiner Entscheidung, dem Gastgeber ein Gastgeschenk zu bereiten, wird durch sein Resümee über das Verhalten des Gastgebers als gastfreundlichster aller Bewohner Thessaliens deutlich: „[…] der mich in sein Haus aufnahm und nicht abwies, obwohl von einem schweren Schicksalsschlag getroffen. Vornehm verbarg er ihn, aus Achtung vor mir. Welcher Thessaler ist gastfreundlicher als er? Wer in ganz Griechenland? Er soll nicht sagen können, er habe einem Unwürdigen wohlgetan, der edle Mann.“71

HILTBRUNNER stellt in seiner Interpretation dieser Passage fest, dass Herakles in Admets Verhalten Edelmut und Rücksicht erkennt, eben jene Charakteristika, die einen Aristokraten auszeichnen.72 Herakles spricht zwar von einer Zumutung, die Admet ihm zugefügt habe, da er ihn in dem Glauben belassend, eine fremde Tote sei zu beklagen, in sein Haus aufgenommen habe – „ich tadle zwar, ja, tadle, was mir da angetan worden ist“.73 Unter dieser Zumutung ist allerdings eher die Situation zu verstehen, in die Admet den Herakles, der sich doch so unedel verhalten hat, durch die Vergleichsvorlage seiner eigenen Edelmütigkeit bringt, als die Tat65 66 67 68 69 70 71

72 73

Eur. Alc. 766: „[…] πανοῦργον κλῶπα καὶ λῃστήν τινα.“ (Übers.: SEECK). Eur. Alc. 816: „ἀλλ᾽ ἦ πέπονθα δείν᾽ ὑπὸ ξένων ἐµῶν;“ (Übers.: SEECK). Vgl. Eur. Alc. 823. Eur. Alc. 829–832: „βίᾳ δὲ θυµοῦ τάσδ᾽ ὑπερβαλὼν πύλας / ἔπινον ἀνδρὸς ἐν φιλοξένου δόµοις / πράσσοντος οὕτω. κᾆτα κωµάζω κάρα / στεφάνοις πυκασθείς; […].“ (Übers.: SEECK). ZIMMERMANN 2005a: 98. Vgl. Eur. Alc. 854. Eur. Alc. 855–860: „ὅς µ᾽ ἐς δόµους ἐδέξατ᾽ οὐδ᾽ ἀπήλασεν, / καίπερ βαρείᾳ συµφορᾷ πεπληγµένος, / ἔκρυπτε δ᾽ ὢν γενναῖος, αἰδεσθεὶς ἐµέ. / τίς τοῦδε µᾶλλον Θεσσαλῶν φιλόξενος, / τίς Ἑλλάδ᾽ οἰκῶν; τοιγὰρ οὐκ ἐρεῖ κακὸν / εὐεργετῆσαι φῶτα γενναῖος γεγώς.“ (Übers.: SEECK). Vgl. HILTBRUNNER 2005: 39. Eur. Alc. 1017: „καὶ µέµφοµαι µέν, µέµφοµαι, παθὼν τάδε.“ (Übers.: SEECK).

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sache, dass Admet einen Gast aufgenommen hat. Dass Herakles in Admet und auch in dessen Verhalten Ehrenhaftigkeit erkennt, wird schließlich dadurch manifestiert, dass er sich auf Grund dieser Erkenntnis dazu angehalten sieht, sich selbst in ein ehrenhafteres Licht rücken zu müssen. „[…] und du wirst einst sagen, daß der Sohn des Zeus ein edler Gast war.“74 Hätte Herakles in Admet nicht einen edlen Gastgeber erkannt, müsste er nun nicht ‚nachziehen‘ und dem Admet und sich selbst beweisen, dass auch er ein edler Gast ist. Sowohl der Gastgeber Admet als auch der Gast Herakles werden in dieser Episode für ihr Verhalten kritisiert. Admet für die Aufnahme eines Gastes in sein Haus, obwohl er sich in Trauer befindet – für die scheinbare Herzlosigkeit sich in dieser Situation, da das eigene Leid doch gerade so groß ist, der Gastfreundschaft zu widmen. Herakles für sein unangemessenes Verhalten als Gast im Hause seines Gastfreundes. Letztlich legt aber die ausgesprochene Beurteilung des Admet durch Herakles als γενναῖος und vor allem das Verhalten des Heroen, das jene ausgesprochen Beurteilung tatsächlich verifiziert, das eindrücklichste Zeugnis für eine zeitgenössische Beurteilung des Verhaltens des Admet ab. Dass Admet in seiner Trauer Herakles als Gastfreund aufnimmt, erscheint ungewöhnlich. Es wurde jedoch gezeigt, dass dieses eher unerwartete Verhalten nicht als Herzlosigkeit oder Überheblichkeit zu beurteilen ist, sondern vielmehr als Pflicht- sowie Standesbewusstsein und Edelmut. 3 RESÜMEE Die Vorwürfe des Chors und eines Dieners gegen Admet, die gänzliches Unverständnis für dessen Entscheidung ausdrücken, trotz der Trauer um seine Gemahlin einen Gast in sein Haus aufzunehmen, konnten als emotional evoziert entlarvt werden. Der Chor in seiner Rolle als Meinungsbarometer des Publikums, das gerade durch den ersten Teil der Tragödie tief bewegt und selbst in Trauer gefangen ist, kann ob dieses Unglücksfalles nicht nachvollziehen, wie Admet dazu im Stande sein kann, seinem sozialen Kapital Tribut zu zollen. Ebenso ergeht es dem Diener, der – gefangen in seiner eigenen persönlichen Trauer um die Hausherrin – nicht den Edelmut seines Herren besitzt und der nicht durch die Institution der Gastfreundschaft, zu der sein Herr aufgrund seiner gesellschaftlichen Position verpflichtet ist, gezwungen ist, sein Ansehen zu wahren. Von diesen Institutionen der Elite, die den aristoi die unbedingte Aufrechterhaltung der eigenen Ehre, die Pflege des sozialen Kapitals, und zu diesem Zweck auch ein Hintenanstellen der eigenen Emotionen abverlangen, ahnen der Diener und der Chor in ihren emotional geprägten Rollen nichts. Auf diese Weise muss das Paradoxon erklärt werden, dass der Chor, der zunächst eben auch emotional argumentiert, kurz darauf die Lage des Admet sowie dessen durch seine Stellung auferlegten Rahmenbedingungen durchschaut und nun versucht, sie dem Publi74

Eur. Alc. 1119f.: „[…] καὶ τὸν Διὸς / φήσεις ποτ᾽ εἶναι παῖδα γενναῖον ξένον.“ (Übers.: SEECK).

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kum auf rationale Weise nahezubringen. Der Chor vermag den Wechsel zwischen dem Verständnis für das Publikum und dem Verständnis für Admet zu vollziehen. Der Diener bleibt unverständig. Herakles, der seinerseits durchaus mit den Pflichten und Obligationen der Elite vertraut ist, erkennt nach der Aufklärung des Missverständnisses den wahren Edelmut in Admets Verhalten, gegen das er sich zuvor noch durch seine eigene Maßlosigkeit aufgelehnt hatte. Zum einen liegt also im Chor, der im Stasimon seine Verständigkeit für gesellschaftliche Normen offenbart,75 zum anderen in Herakles in seiner Rolle als Heros der Schlüssel zu einer angemessenen Beurteilung von Admets Verhalten verborgen. Zweifellos ist Admet als ein Edelmann einzuschätzen, der sich tatkräftig um sein Ansehen und die Erfüllung seiner Standespflichten bemüht. Nur so kann er es zu vielen Gastfreunden und wohl auch zu der Ehre gebracht haben, dass die erste Wahl des Heroen Herakles auf der Suche nach einer Unterkunft in Thessalien – wo er doch so viele Gastfreunde besitzt76 – tatsächlich auf Admet fällt. Admet ist ein auf seine politische Reputation und öffentliches Ansehen bedachter aristos, der unentwegt am Erhalt und der Mehrung seines sozialen Kapitals arbeitet. Durch die Gestalt einer Gesellschaft, die sich über Ehre, γενναιότης, definiert und deren Netzwerk auf dem Einhalten von Standespflichten basiert, wird das herzlos und kalt anmutende Verhalten jedoch relativiert. Berücksichtigt man darüber hinaus, dass gerade der Gastfreundschaft in ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung der höchste Stellenwert zukommt, und ihre Erfüllung eine Standespflicht oberster Ordnung – gleich nach der Ehrung der Götter – ist, so kann ihre Einhaltung kaum überbewertet werden. Admets Gewähren der Gastfreundschaft soll auch in Zeiten größter Trauer nach den Normen und Moralvorstellungen, die uns in der Gesamtschau der zeitgenössischen Quellen entgegentreten, keineswegs verurteilt werden und gereicht ihm letztlich sogar zu der Ehre, von einem Heros als γενναῖος77 bezeichnet zu werden. Am Ende hat Admets hohes soziales Kapital dazu geführt, dass Herakles ihn als Gastgeber gewählt hat, und Herakles’ Gastaufenthalt hat Admets soziales Kapital im Gegenzug sogar noch weiter erhöht. BIBLIOGRAPHIE Adcock, Frank / Mosley, Derek J. (1975): Diplomacy in ancient Greece. London: Thames & Hudson 1975. Andrewes, Antony (1967): The Greeks. London: Hutchinson 1967. Dihle, Albrecht (1967): Griechische Literaturgeschichte. Stuttgart: Kröner 1967. Ders. (1994): Die Griechen und die Fremden. München: C.H. Beck 1994. Finley, Moses I. (1981): Economy and Society in ancient Greece. London: Chatto Windus 1981. Ders. (2005): Die Welt des Odysseus. Frankfurt am Main: Campus-Verlag 2005. Gerolymatos, André (1986): Espionage and Treason. A Study of the Proxenia in political and military Intelligence Gathering in Classical Greece. Amsterdam: Gieben 1986.

75 76 77

Eur. Alc. 600–602. Eur. Alc. 1044f. Eur. Alc. 857; Alc. 860.

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DIE FORDERUNG NACH VERSORGUNG UND EHRUNG DER ALTEN ALS WERTVOLLES GUT IN DER GRIECHISCHEN ANTIKE Kornelia Kressirer 1 GRUNDSÄTZLICHES ZUR LAGE ALTER MENSCHEN Die Versorgung der Alten stellt für jede Gesellschaft eine Aufgabe dar, für die eine Lösung gefunden werden muss. Auch wenn aufgrund einer deutlich geringeren durchschnittlichen Lebenserwartung in der griechischen Antike weniger Menschen als heute das Greisenalter erreicht haben, wurden damals schätzungsweise 5–10 % der Bevölkerung älter als 60 Jahre.1 Diese Personen mussten früher oder später versorgt werden.2 Von Natur aus ist die Lage der Alten von Unsicherheit geprägt. Ab einem gewissen Stadium der Altersschwäche sind sie zu einer ausreichenden eigenen Versorgung nicht mehr fähig und somit ohne fremde Hilfe leicht von Hunger und Elend bedroht. Besonders Alten, die auf kein eigenes Vermögen zurückgreifen konnten, droht größte Not, sobald sie nicht mehr tagtäglich ihren Lebensunterhalt selbst erarbeiten konnten und falls keine Angehörigen ihre Fürsorge übernahmen.3 Außerdem sind Alte stärker als Menschen, die sich im vollen Besitz ihrer physischen und psychischen Leistungskraft befinden, von Benachteiligung, Unterdrückung, Misshandlung und Verdrängung aus ihrer bisherigen Stellung bedroht. 2 DIE GEFÄHRDUNG DER ALTEN IN DER ANTIKE Diese Gefährdungen der Alten waren den Menschen in der griechischen Antike stets bewusst. Davon zeugen entsprechende Aussagen in den antiken Schriftquellen der archaischen und klassischen Zeit, die hier im Mittelpunkt des Interesses stehen. Ein frühes Beispiel ist die in Homers Ilias geschilderte Sorge um Peleus. Während dessen einziger Sohn Achilleus am trojanischen Krieg teilnimmt, weilt der greise König alleine und ohne Unterstützung in der Heimat. Über sein gefährdetes Dasein schreibt Homer:

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Vgl. BRANDT 2002: 42; SCHMITZ 2007: 3; TIMMER 2008: 117–121; SCHMITZ 2009a: 15. Die Lage der Alten in archaischer und klassischer Zeit war grundsätzlich vergleichbar, so dass dieser Zeitraum in der vorliegenden Untersuchung gemeinsam betrachtet werden kann. Vgl. dazu SCHMITZ 2004: 94–98; TIMMER 2008: 184–199, 205f.; SCHMITZ 2009a: 19; WAGNER-HASEL 2012: 156f.

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Kornelia Kressirer „Schon muss ich fürchten, dass Peleus […] / […] nur kümmerlich noch das Leben fristet, gequält von / leidigem Alter […]“4 „Er […] steht […] an der Schwelle des leidigen Alters, / ihn auch bedrängen vielleicht die benachbarten Völker, und keiner / zeigt sich bereit, ihm Schutz vor Fluch und Verderben zu bieten.“5 „[…] Er hatte / keinen männlichen Erben der Herrschaft im Hause, nur einen / Sohn, dem ein kurzes Leben bestimmt ist. Ich [Achilleus] werde ihn niemals / pflegen im Alter, da ich, entfernt von der Heimat, in Troja / sitze […].“6

Das Bild, das sich Achilleus vom Dasein seines verlassenen Vaters macht, ist eindeutig: Peleus leidet an den Folgen des Greisenalters und dabei wird ihm keine Erleichterung zuteil, da ihm sein Sohn nicht zur Seite stehen kann. Auch Hesiod schildert in der Theogonie das erschreckende Schicksal von familienlosen Greisen, die unabhängig von Wohlstand im Alter pflegender Hilfe entbehren und ihr Erbe Fremden überlassen müssen.7 Als Beispiel aus klassischer Zeit ist ein Ausschnitt aus der Euripides-Tragödie Die Bakchen anzuführen. Kadmos besaß keine Söhne, hatte aber einen Enkelsohn, der sich um den Greis kümmerte. Als dieser Enkel stirbt, klagt Kadmos: „[…] du, lieber Junge, / der meinen Stamm du stütztest […] / und hochgeachtet warst beim Volke! Niemand wagte / den Greis zu kränken, weil er dich vor Augen hatte; / denn die gerechte Strafe hätte ihn ereilt. / Jetzt wird man schmachvoll mich aus meinem Hause weisen, / den großen Kadmos […].“8

Selbst der berühmte und verdienstvolle Kadmos kann im Alter seine Stellung und den Besitz seines oikos nicht sichern, als die Unterstützung durch seinen Enkel und letzten männlichen Nachkommen verloren geht. Wie diese Beispiele zeigen, waren auf sich gestellt die Alten und ihr Gut stark gefährdet. Problematisch konnten neben der schwierigen persönlichen Lage auch die Verteidigung von Besitz und oikos werden, sollten Fremde den gealterten Vorstand des oikos zu verdrängen suchen. Ohne Beistand durch jüngere, tatkräftige männliche Verwandte gingen im schlimmsten Fall der Haushalt und die Ansprüche der eigenen Familie verloren. Dieses Schicksal droht Peleus und Kadmos und es wird Laërtes zuteil, als er der Übermacht der Freier weichen muss und den Familiensitz verlässt.9 Die Versorgung und der Schutz durch Angehörige oder 4 5 6 7 8

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Hom. Il. 19,334–336: „ἤδη γὰρ Πηλῆά γ᾽ ὀΐοµαι […] / […] που τυτθὸν ἔτι ζώοντ᾽ ἀκάχησθαι γήραΐ τε στυγερῷ […]“. (Übers.: EBENER). Hom. Il. 24,487–489: „τηλίκου […], ὀλοῷ ἐπὶ γήραος οὐδῷ: / καὶ µέν που κεῖνον περιναιέται ἀµφὶς ἐόντες / τείρουσ᾽, οὐδέ τίς ἐστιν ἀρὴν καὶ λοιγὸν ἀµῦναι.“ (Übers.: EBENER). Hom. Il. 24,538–542: „[…] ὅττί οἱ οὔ τι / παίδων ἐν µεγάροισι γονὴ γένετο / κρειόντων, ἀλλ᾽ ἕνα παῖδα τέκεν παναώριον: οὐδέ νυ τόν γε / γηράσκοντα κοµίζω, ἐπεὶ µάλα τηλόθι πάτρης / ἧµαι ἐνὶ Τροίῃ, σέ τε κήδων ἠδὲ σὰ τέκνα.“ (Übers.: EBENER). Hes. theog. 602–607. Eur. Bacch. 1308–1314: „[…] ὦ τέκνον, / τοὐµὸν µέλαθρον, παιδὸς ἐξ ἐµῆς γεγώς, / πόλει τε τάρβος ἦσθα: τὸν γέροντα δὲ / οὐδεὶς ὑβρίζειν ἤθελ᾽ εἰσορῶν τὸ σὸν / κάρα: δίκην γὰρ ἀξίαν ἐλάµβανες. / νῦν δ᾽ ἐκ δόµων ἄτιµος ἐκβεβλήσοµαι / ὁ Κάδµος ὁ µέγας […].“ (Übers.: EBENER). Zu Laërtes’ Schicksal siehe Hom. Il. 2,225–227; Il. 11,187–196; Il. 24,206–212.

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Dritte waren also dringend notwendig, um ein erträgliches Leben im Alter und die Stabilität in der Oikosführung zu gewährleisten. 3 MISSHANDLUNG DER ALTEN ALS KENNZEICHEN EINER VERROHTEN GESELLSCHAFT Mangelnde Versorgung der Alten und Rohheit gegenüber diesen betreffen nicht nur die Einzelpersonen. Wie andere Arten von Fehlverhalten und Gewalttaten schaden sie letztendlich dem Gemeinwesen. Durch Verrohung der Gesellschaft kommen die Grundlagen eines guten gemeinsamen Lebens in Gefahr. Dies veranschaulicht Hesiod in seiner Lehre von den fünf Zeitaltern.10 In der Epoche des fünften Geschlechts gilt alleine das Faustrecht, und die Sitten eines geregelten, rücksichtsvollen Zusammenlebens werden nicht beachtet. So werden die Wohnstätten anderer zerstört und es besteht keine Beziehung zwischen Familienangehörigen, Gastfreunden und Partnern. Verhaltensweisen wie Dankbarkeit, Gerechtigkeit, Treue und Wohltätigkeit besitzen keinen Wert mehr. Vielmehr bestimmen die boshaften, rücksichtslosen, betrügerischen, gewalttätigen Menschen die Welt. Typisch für diese unmoralische, geradezu unmenschliche Gesellschaft ist auch der Umgang mit den Alten. So schreibt Hesiod: „Eilig entziehen sie sich der Pflicht für die alternden Eltern, / tadeln sie heftig und fahren sie an mit verletzenden Worten, / Frevler, die Strafe der Götter missachtend! So werden sie schwerlich / auch ihren alternden Eltern die sorgende Liebe entgelten.“11

Der schlechte Umgang mit den Alten und die Verweigerung der Unterhaltspflicht sind als Frevel und schweres Unrecht bewertet und somit klare Kennzeichen einer verrohten, zerstörerischen Welt, deren Sinnbild Hesiods fünftes Zeitalter ist. Als Vertreter der klassischen Zeit entwirft Aischylos in seiner Tragödie Die Eumeniden das Schreckensbild einer Gesellschaft, in der das Recht sogar eine Mordtat nicht mehr verurteilt. In der Folge bleiben nicht nur Morde unbestraft. Alle Menschen sind, so Aischylos, Verbrechen gegenüber abgestumpft und die Geschädigten bleiben folglich ohne Hilfe. Dabei ist wiederum ausdrücklich die Misshandlung der Eltern ein Merkmal für eine solche Gesellschaft, die durch Missachtung der gängigen Regeln ihre Rechtsordnung und Humanität verliert.12

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Hes. erg. 173–201 (zu Zuständen im fünften Zeitalter). Hes. erg. 185–188: „αἶψα δὲ γηράσκοντας ἀτιµήσουσι τοκῆας: / µέµψονται δ᾽ ἄρα τοὺς χαλεποῖς βάζοντες ἔπεσσι / σχέτλιοι οὐδὲ θεῶν ὄπιν εἰδότες: οὐδέ κεν οἵ γε / γηράντεσσι τοκεῦσιν ἀπὸ θρεπτήρια δοῖεν.“ (Übers.: K. HALLOF/E. HALLOF). Aischyl. Eum. 490–525.

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4 AUSPRÄGUNG VERBINDLICHER MORALVORSTELLUNGEN ZUM SCHUTZ DER ALTEN UND DER GESELLSCHAFTLICHEN ORDNUNG Die eben vorgestellten Textstellen veranschaulichen die Ausprägung bestimmter Moralvorstellungen. Es werden grundlegende Normen hinsichtlich der Definition von guten und schlechten Verhaltensweisen erkennbar. Diesen entsprechend werden für ein gutes Zusammenleben konkrete Verhaltensregeln aufgestellt und ihre Beachtung eingefordert. Auf diese Weise soll die Ordnung innerhalb der Gesellschaft sichergestellt werden. Es ist beachtenswert, das gezielt auch hinsichtlich des Umgangs mit den Alten eine Moralvorstellung und entsprechende Verhaltensnormen entwickelt wurden. Die wesentlichen Forderungen waren dabei einerseits der Schutz und die gute Behandlung der Alten und andererseits die Gewährleistung ihrer Versorgung. Darüber hinaus werden in den Quellen immer wieder die Ehrerbietung gegenüber den Alten und die Wertschätzung der verdienten Eltern verlangt. Zu nennen sind etwa mehrere Passagen bei Hesiod, in denen der Schutz und die Achtung der Eltern gefordert werden. Darüber hinaus werden dort Respekt und Rücksichtslosigkeit gegenüber diesen mit anderen unethischen Schandtaten und frevelhaftem Verhalten den Göttern gegenüber gleichgesetzt und moralisch verurteilt. Neben der bereits vorgestellten Stelle aus den Erga sei beispielhaft folgender Abschnitt angeführt: „Wer mit den Händen gewaltsam sich riesigen Reichtum genommen […] / mühelos löschen die Götter ihn aus […] / So auch ein Mann, der übel behandelt, wer fremd und um Schutz fleht; / so auch, wer steigt in das Ehelager des eigenen Bruders, […] / wer sich gewissenlos gegen verwaiste Kinder versündigt; / wer an der traurigen Schwelle des Alters den greisen Erzeuger / immerfort kränkt und mit schweren, beschimpfenden Worten ihn anfährt. / Ja, über den gerät Zeus selber in Zorn, und am Ende / bürdet für unrechtes Tun er ihm auf die schwerste Vergeltung.“13

Unrecht gegen die Alten zählt also ebenso als schweres Fehlverhalten wie Raub, Gewalt gegen Hilflose, Flüchtlinge und Weisenkinder oder Ehebruch. Schutz erhalten die Wehrlosen, indem den Missetätern göttliche Rache und moralische Verurteilung drohen. In gleicher Weise äußert sich im 6. Jh. v. Chr. Theognis, der mahnt: „Schmähe nicht […] skrupellos spottend, die Eltern, die teuren!“14

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Hes. erg. 321–334: „εἰ γάρ τις καὶ χερσὶ βίῃ µέγαν ὄλβον ἕληται, / ἢ ὅ γ᾽ ἀπὸ γλώσσης ληίσσεται, οἷά τε πολλὰ / γίγνεται, εὖτ᾽ ἂν δὴ κέρδος νόον ἐξαπατήσῃ / ἀνθρώπων, αἰδῶ δέ τ᾽ ἀναιδείη κατοπάζῃ: / ῥεῖα δέ µιν µαυροῦσι θεοί, µινύθουσι δὲ οἶκον / ἀνέρι τῷ, παῦρον δέ τ᾽ ἐπὶ χρόνον ὄλβος ὀπηδεῖ. / ἶσον δ᾽ ὅς θ᾽ ἱκέτην ὅς τε ξεῖνον κακὸν ἔρξῃ, / ὅς τε κασιγνήτοιο ἑοῦ ἀνὰ δέµνια βαίνῃ / κρυπταδίης εὐνῆς ἀλόχου, παρακαίρια ῥέζων, / ὅς τέ τευ ἀφραδίῃς ἀλιταίνεται ὀρφανὰ τέκνα, / ὅς τε γονῆα γέροντα κακῷ ἐπὶ γήραος οὐδῷ / νεικείῃ χαλεποῖσι καθαπτόµενος ἐπέεσσιν: / τῷ δ᾽ ἦ τοι Ζεὺς αὐτὸς ἀγαίεται, ἐς δὲ τελευτὴν / ἔργων ἀντ᾽ ἀδίκων χαλεπὴν ἐπέθηκεν ἀµοιβήν.“ (Übers.: HALLOF/HALLOF). Thgn. 1211f.: „µή µ᾽ ἀφελῶς παίζουσα φίλους δένναζε τοκῆας.“ (Übers.: EBENER).

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Als positives Beispiel ist hingegen das Verhalten des Odysseus zu nennen, der sich in vorbildlicher Weise seines alten Vaters annimmt und diesem die ihm zustehende Fürsorge zuteilwerden lässt, so wie es laut der Odyssee den Alten gebührt.15 Wie die archaischen Dichter nennt auch Aischylos die Achtung der Eltern als heilige Pflicht der Menschen, die wie der Schutz Fremder und Hilfloser sowie die Ehrung der Götter zu erfüllen ist und bei Zuwiderhandlung Strafen nach sich zieht.16 Sophokles und Euripides bezeugen gleichfalls die allgemeingültige Pflicht der Kinder, sich ein Leben lang um ihre Eltern zu kümmern und diese zu ehren.17 Ebenso überliefert Aristophanes die gängige Forderung, die Eltern nicht zu kränken, zu beleidigen oder körperlich zu verletzen.18 Der rechte Umgang mit den schwächeren, auf Unterstützung angewiesenen Alten wurde somit seit archaischer Zeit als moralische Pflicht empfunden. Die Absicherung und Ehrung der Alten galten als hohes Gut, das wie die Ehrfurcht den Göttern gegenüber besonders schützenswert war, da daran die grundsätzliche, allgemeine moralische Verfassung der Gesellschaft abzulesen war. Laut Hesiod und Aischylos war diese Pflicht sogar göttlich sanktioniert, so dass frevelhaftes Verhalten gegenüber den Eltern direkt von den Göttern bestraft wurde.19 5 GESETZLICHE FESTSCHREIBUNG, ÜBERPRÜFUNG UND AHNDUNG BEI MISSACHTUNG DER VERPFLICHTUNG ZUR ALTENFÜRSORGE Seit Solon wurde die moralische Norm, sich der Alten anzunehmen, sie zu versorgen und vor Misshandlung und Not zu schützen, in verschiedenen poleis als Gesetz festgeschrieben und somit rechtlich verbindlich.20 Als Beispiele sind entsprechende Gesetzgebungen in Athen und Delphi zu nennen.21 Bezüglich Athen ist festzuhalten, dass Solons Gesetzgebung viele bereits länger gültige, normative Moralvorstellungen, Regelungen und Bräuche rechtlich fixierte.22 Wie wir im Fall der Dichtung bereits gesehen haben, war die Forderung nach Versorgung und Achtung der Alten bereits länger bekannt. Nun gewann diese moralisch wün15 16 17 18 19 20

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Hom. Od. 24,253–255. Aischyl. Suppl. 698–709; Eum. 269–274; Eum. 538–549. Eur. Heraclid. 584; Hipp. 1080–1081; Suppl. 361–364; Soph. Oid. K. 507–509; Oid. K. 1375–1379. Aristoph. Nub. 990–999. Hes. erg. 321–335; Aischyl. Eum. 269–274. Vgl. GSCHNITZER 1981: 79; LACEY 1983: 118f.; FINLEY 1989: 13f.; SCHMITZ 2004: 206–209, 231f., 354, Anm. 105; HÜBNER 2005: 36–38; SCHMITZ 2007: 35f.; TIMMER 2008: 152, 157; BALTRUSCH 2009: 81–83; SCHMITZ 2009b: 90 mit Anm. 13; WAGNER-HASEL 2012: 91. Das Gesetz in Delphi, das die Versorgung der Eltern einfordert und bei Missachtung schwere Bestrafung vorsieht, wurde auf Beschluss der Volksversammlung inschriftlich an der Außenmauer des Apollonheiligtums angebracht (vgl. dazu LERAT 1943: 62–86). SCHMITZ 2007: 92.

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schenswerte und das Sozialgefüge regelnde Verhaltensweise größere Gültigkeit, indem sie von den Gesetzgebern festgeschrieben, von den Volksversammlungen bekräftigt, öffentlich bekannt gegeben und durch die Androhung schwerer Strafen abgesichert wurde. Die Gesetzgebung und die Bürgerschaft unterstrichen damit den allgemeinen Willen, die Alten versorgt, geschützt und geehrt zu wissen.23 Neben der gesetzlichen Festlegung hielten weitere Bräuche dazu an, der Versorgungspflicht für die Eltern nachzukommen. Beispielsweise wurden vor der Wahl hoher Amtsträger die Kandidaten nach ihrem Verhalten den Eltern gegenüber befragt.24 Eine solche öffentliche Überprüfung des angemessenen Umgangs mit den Eltern bekräftigte den hohen Stellenwert des Schutzes und der Ehrung der Alten als Merkmal moralischer Vorbildhaftigkeit. 23

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Anstelle dieser positiven Wirkung der Gesetzgebung wird in ihr mitunter die Reaktion auf verbreitete Vernachlässigung und Misshandlung alter Eltern sowie ein Zeugnis für das geringe Ansehen der Alten in der griechischen Antike gesehen (BALTRUSCH 2009: 61f., 81f.; SCHMITZ 2007: 14; DERS. 2009: 26; DERS. 2009a: 16f., 23f.; DERS. 2009b: 90). Grundsätzlich zeugt die Verpflichtung zum Schutz und zur Versorgung der Eltern jedoch davon, dass nach Gesetz und Moral gute Behandlung und Wertschätzung der Alten einzufordern waren und auch eingefordert wurden. Solon legte für viele Bereiche Bestimmungen fest (DERS. 2007: 92), so es sich um kein alleinstehendes Dekret handelt, das auf einen dringlichen Grund zurückzuführen wäre (so auch DERS. 2004: 230: „verbietet es sich also, das [solonische] Gesetz als Reaktion auf einen akuten Missstand zu interpretieren“). Solons Gesetz über die Unterhaltspflicht der Eltern entspricht „dem generell seinem Reformwerk zu entnehmenden Bestreben, den Einzelnen in die bürgerliche Pflicht zu nehmen“ (BRANDT 2002: 41). Die geforderte Versorgung der Alten gewann durch gesetzliche Regelung größere Gültigkeit und ist nicht als gezielter Hiweis auf eine Unterdrückung der Alten zu werten (vgl. dazu auch Hübner 2005: 36–38). Allerdings rückt sie ins Bewusstsein, dass die Gruppe der Alten generell aufgrund ihrer zunehmenden Schwäche und ihrer abnehmenden Produktivität besonderen Schutzes bedurfte, um vor Unsicherheit, Armut, Not und Unterdrückung bewahrt zu bleiben. Im Übrigen sprechen zahlreiche antike Quellen dafür, dass Misshandlung, Vernachlässigung und unterlassene Versorgung durch die eigenen Kinder nicht die Regel waren. Anzuführen sind einerseits Quellen, in denen die Hoffnung und der Wunsch geäußert werden, dass im Alter Nachkommen verfügbar sind, die sich der Alten annehmen würden (z. B. Hom. Od. 24,253– 254; Od. 24,364–366; Eur. Alc. 653–668; Med. 1090–1115; Suppl. 361–364). Andererseits sind Schriften zu nennen, in denen Bedauern und Verzweiflung darüber zum Ausdruck gebracht werden, dass im Alter keine Nachkommen vorhanden sind (z. B. Hom. Il. 19,334–339; Il. 24,485–492; Il. 24,538–542; Hes. theog. 604–607; Eur. Med. 1032–1037; Med. 1395– 1396; Andr. 1200–1225). Dies wäre nicht der Fall, sollte es üblich sein, dass Greise von ihren Angehörigen misshandelt und dem Hunger ausgeliefert werden würden. Dann müssten sie sich nicht erst die Mühe machen, Kinder in der Familie großzuziehen. Wie die Quellen jedoch zeigen, war mit eigenen Nachkommen die begründete Hoffnung auf eine bessere und sicherere Lage im Alter verbunden und es wurde als schlimmes Schicksal angesehen, im Alter einer Familie zu entbehren. Der Grundtenor ist also, dass von Nachkommen nicht Misshandlung, Unterdrückung und Schrecken ausgingen – auch wenn dies sicherlich vorkam –, sondern vielmehr Unterstützung. Außerdem bewahrten sich die Alten vor völliger Schutzlosigkeit und Abhängigkeit von ihren Kindern, indem sie ihren Besitz nicht vollständig aus der Hand gaben (vgl. dazu HÜBNER 2005: 44f.; SCHMITZ 2007: 36; WAGNER-HASEL 2012: 156). Vgl. Aristot. Ath. pol. 55,2f.; SCHMITZ 2004: 231; HÜBNER 2005: 37f.; BALTRUSCH 2009: 82. Wie Hübner darlegt, gab es entsprechende Gesetze und Regelungen in unterschiedlichen poleis.

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Um diese moralische Norm zu verteidigen und die Ansprüche der Alten durchzusetzen, wurden neben den erwarteten Verhaltensweisen und zu erbringenden Leistungen auch die Strafen und Sanktionen festgeschrieben, die bei Missachtung bzw. Zuwiderhandlung der Forderungen drohten. Wie gesehen, konnte es sich um göttliche Strafen handeln, auf die man vertraute.25 Daneben waren die Nichtversorgung und die Misshandlung der Eltern Vergehen, gegen die vor Gericht Anklage erhoben werden konnte.26 Als Bestrafung drohten der Entzug des Rederechtes in der Volksversammlung, der Ausschluss vom Versammlungsplatz, Enterbung, Verbannung oder der Verlust der bürgerlichen Rechte. Bei Misshandlung des Vaters wurde sogar die Todesstrafe gefordert.27 Die rechtliche Festschreibung der Fürsorgepflicht, die öffentliche Überprüfung und die Verhängung öffentlich wahrnehmbarer Strafen zeigen, dass man sich in der griechischen Gesellschaft aktiv für die Achtung und Versorgung der Alten einsetzte.28 Bezeichnenderweise konnte daher auch nicht nur ein geschädigter Greis Anklage erheben, sondern jeder Bürger, der Zeuge eines entsprechenden Vergehens wurde. 6 FAMILIÄRE ALTENFÜRSORGE ALS WERTVOLLES KAPITAL Die Fürsorge für die Alten wurde derart vehement eingefordert, da sie ein wertvolles Kapital darstellte, das nicht nur für die einzelnen Alten, sondern für die gesamte Gesellschaft gewinnbringend war. Es gab nämlich in der griechischen Antike bis auf wenige Ausnahmefälle keine staatliche oder karitative Versorgung bedürftiger Alter. Der Staat kam nur im Falle besonders verdienter Persönlichkeiten und anstelle im Krieg verletzter oder gefallener Bürger für das Auskommen auf.29 Grundsätzlich hatte sich jede Oikosgemeinschaft selbst um ihre Mitglieder zu kümmern, was den Unterhalt der Alten mit einschloss.30 Wurde dies wie gefor25 26 27 28

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Vgl. Hes. erg. 321–335; Aischyl. Eum. 269–274. Vgl. dazu BRANDT 2002: 43; HÜBNER 2005: 37; BALTRUSCH 2009: 79f. 81–83; WAGNERHASEL 2012: 91f. 125–127. Übersichten über die entsprechenden Quellen haben ERNST BALTRUSCH und BEATE WAGNER-HASEL zusammengestellt (BALTRUSCH 2009: 82; WAGNER-HASEL 2012: 91f., 125–127). Gesetze über Ausnahmeregelungen (vgl. Plut. Solon 22,1.4; BALTRUSCH 2009: 82; WAGNERHASEL 2012: 91) verdeutlichen, dass Kinder grundsätzlich als Gegenleistung zur Versorgung ihrer Eltern verpflichtet waren. Vgl. dazu HÜBNER 2005: 37; SCHMITZ 2007: 106; BALTRUSCH 2009: 82f. Vgl. dazu HÜBNER 2005: 37; SCHMITZ 2004: 231: „Die Verpflichtungen gegenüber den Eltern umfassten im Einzelnen die Ernährung […], eine gute Behandlung […], ein Dach über dem Kopf […], die Sorge für die Bestattung […], die Totenopfer […] und die Weiterführung der sacra“. Weitere, jedoch seltener praktizierte Möglichkeiten waren eine Versorgung durch Diener (ein Beispiel dafür ist der alte Laërtes in Abwesenheit seines Sohnes Odysseus, vgl. Hom. Od. 24,205–212), durch eine befreundete Familie (ein Beispiel dafür ist die Hoffnung des Phoinix, dass sich Achilleus im Alter seiner annehmen würde, vgl. Hom. Il. 9,494f.), oder durch Fremde, wie dies in Euripides’ Alkestis zur Sprache kommt (vgl. Eur. Alc. 666–668). In der Regel war die Altenversorgung jedoch Aufgabe der Familien.

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dert erfüllt, war es für die Alten von Vorteil, da sie versorgt und geschützt waren.31 Darüber hinaus konnte die gesamte Gemeinschaft daraus Nutzen ziehen: Indem die Aufgabe auf alle Haushalte verteilt wurde, war eine Lösung für die Problematik der Verpflegung der schwachen, nicht mehr voll einsatzfähigen Alten gefunden. Jede Familie hatte für ihre Alten Sorge zu tragen und damit einen Teil der Last zu schultern.32 Für diese normative Altenfürsorge durch die Angehörigen finden sich zahlreiche Beispiele in der antiken Literatur, wobei die Konstellationen, die Art der Beziehungen und die Lebenssituation unterschiedlich sind. Als Sohn, der sich um seinen alten Vater kümmert, ist z. B. Odysseus zu nennen, der sich nach seiner Heimkehr des greisen Laërtes annimmt.33 In der Odyssee wird ebenso vom greisen Aigyptios berichtet, der von zwei Söhnen tatkräftig unterstützt wird.34 Möglich ist es auch, wie im Falle des Kadmos, dass sich ein Enkelsohn um seinen Großvater kümmert.35 Ein Beispiel dafür, dass auch unter schwierigen Bedingungen und trotz Armut die Fürsorgepflicht für die gealterten Eltern erfüllt wird, ist Antigones und Ismenes aufopferungsvolle Pflege des greisen, hilflosen Ödipus in Sophokles’ Tragödie Ödipus in Kolonos.36 Selbst für Antikleon in Aristophanes’ Komödie Die Wespen, der seinen zu umtriebigen alten Vater einsperrt, steht außer Frage, dass er für dessen Versorgung aufkommt.37 Trotz aller Unterschiede wird in all diesen Fällen die von Moral und Gesetzgebung geforderte Unterhaltspflicht für die alten Angehörigen pflichtgemäß erfüllt. 7 FESTE VERANKERUNG DES ‚GENERATIONENVERTRAGS‘ Die Erhebung der Forderung nach Versorgung und Ehrung der Alten zur moralischen Norm, ihre gesetzliche Festschreibung, die Androhung von Strafen sowie die öffentliche Überprüfung des Wohlverhaltens den alten Eltern gegenüber – all dies trug dazu bei, dass sich die Bürger im Alter als Gegenleistung für die Übernahme der Elternpflichten wertgeschätzt und versorgt wissen konnten. Wie Hartwin Brandt darlegt, war dies von archaischer bis in hellenistische Zeit von grund-

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Unabhängig vom Vermögen war es von großer Bedeutung, im Alter über Verwandte und Nachkommen zu verfügen, welche die Versorgung und Pflege übernehmen, Zuneigung schenken, die Familienlinie und das familiäre Erbe sichern und den Totenkult übernehmen konnten; vgl. dazu Hes. theog. 602–607. Ausgespart bleiben die Alten, die in keiner Familiengemeinschaft – sei es der eigenen oder einer befreundeten – Aufnahme fanden. Bei ausreichenden finanziellen Mitteln konnten sie durch Diener versorgt werden. Doch dies traf auf die Mehrheit der Bevölkerung nicht zu. Hom. Od. 24,254–255; Od. 24,365–386. Hom. Od. 2,15–23. Eur. Bacch. 1308–1323. Soph. Oid. K. 1–22; Oid. K. 138–203; Oid. K. 445–447; Oid. K. 745–752; Oid. K. 1104– 1114; Oid. K. 1613–1615 et passim. Aristoph. Vesp. 737–741; Vesp. 1003–1008; Vesp. 1129–1130.

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legender Bedeutung für die Menschen und die Gesellschaft.38 Dies konnte schließlich ein wichtiger Ansporn dafür sein, Nachkommen zu zeugen, sie in der Familiengemeinschaft aufzunehmen, zu versorgen und zu erziehen. Im Gegenzug waren die eigene Versorgung und der Schutz im Alter zu erwarten.39 Auf diese Weise wurde der Fortbestand der oikoi und damit der Gemeinden gesichert.40 Die Sicherung der oikoi war ein wichtiges Anliegen in der griechischen Gesellschaft. Dies belegen zahlreiche Quellen von Homer über Aischylos und Euripides bis Thukydides.41 Die Angst vor dem Aussterben des Hauses wohnte dem einzelnen Bürger ebenso inne wie der gesamten Gemeinde, deren Existenz, Versorgung und Wehrfähigkeit auf einer ausreichenden Anzahl von Vollbürger-oikoi basierte. Daher sollte eine umfangreiche Gesetzgebung deren Erhalt sichern.42 Diese umfasste gesetzliche Bestimmungen bezüglich des Erb- und Adoptionsrechtes sowie die Einrichtung und den Schutz eines ‚Generationenvertrags‘, der nicht nur dem individuellen, sondern auch dem allgemeinen Interesse diente.43 Indem sich die Bürger für ihre Altersfürsorge um Nachkommen bemühten, trugen sie zur Stabilität der Gemeinden bei. Wie gesehen, war die gute Behandlung der Alten ein moralischer Grundsatz, den es grundsätzlich anzustreben galt und dessen Umsetzung ausdrücklich eingefordert wurde.44 Selbstverständlich gab es Fälle, in denen alte Eltern entgegen des moralischen Anspruchs geschmäht, vernachlässigt oder sogar misshandelt wurden,45 doch kann dies aufgrund der Quellenlage nicht als übliches Verhalten gelten.46 Vielmehr wurden die Verweigerung der normativen Fürsorgepflicht und die 38

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BRANDT 2002: 54. 90: „Die Klein- bzw. Kernfamilie blieb die dominierende Lebensform, und damit bestand auch weiterhin die (moralische, bisweilen sogar rechtlich fixierte) Pflicht der Kinder, gegebenenfalls für ihre alten Eltern zu sorgen.“. Dazu auch HÜBNER 2005: 37: „Die Unterstützung der alten Eltern wurde als Kindespflicht angesehen, die auch gerichtlich eingeklagt werden konnte. Kinder aufzuziehen war daher bei den Athenern die wichtigste Altersvorsorge.“. Dazu auch HÜBNER 2005: 37f.: „Der athenischen Gesellschaft war also sehr daran gelegen, dass den alten Eltern eine angemessene Behandlung zukam, die auf Hochachtung und materieller Versorgung basierte.“; WAGNER-HASEL 2012: 92f. Hom. Il. 5,152–158; Aischyl. Choeph. 503–507; Eur. Alc. 653–657; Thuk. 2, 44, 3; vgl. dazu auch BLANCK 1976: 88. Vgl. LACEY 1983: 119f.; CARTLEDGE 1998: 69f.; SCHMITZ 2007: 34f.; SEIFERT 2011: 263f. Den Begriff ‚Generationenvertrag‘ verwendet bereits BRANDT 2002: 28. Dies gilt auch noch im klassischen Athen, vgl. dazu HÜBNER 2005: 37f.; SCHMITZ 2009b: 87; WAGNER-HASEL 2012: 66, 91, 118–120. Vgl. hierzu mit entsprechenden Nachweisen SCHMITZ 2005: 104; DERS. 2009b: 87f. HÜBNER 2005: 31–57; SCHMITZ 2005: 104 („Belege für Gewalt gegen alte Menschen sind zu gering, als dass sich ein einigermaßen befriedigendes Bild zeichnen ließe.“). In der Altersklagendichtung, die SCHMITZ in diesem Zusammenhang anführt (SCHMITZ 2009a: 17; DERS. 2009b: 91), wird in der Regel der eigene Verfall im Alter beklagt (so auch BYL 1996: 261– 269) und es geht nicht um die Schmähung anderer Greise. Der Spott, den die Alten in den Komödien ertragen müssen (SCHMITZ 2009b: 87f., 91), ist nicht mit körperlicher Gewalt und Vertreibung gleichzusetzen. Außerdem ist er der Gattung entsprechend extrem zugespitzt und kein Abbild der regulären Wirklichkeit (BRANDT 2002: 64–66; KRUMEICH 2009: 39–50). Im Übrigen hatte in den Komödien jede Personengruppe mit beißendem Spott zu rechnen.

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schlechte Behandlung von Alten als bewusster Bruch der Regel aufgefasst, als schwere Verfehlung verurteilt und mit Strafen und Ächtung geahndet. Diese klare Vorstellung fand sich bereits in der vorgestellten Zeitalter-Erzählung Hesiods. Wie sehr die Verweigerung der familiären Altenversorgung von der üblichen und selbstverständlich zu erwarteten Sitte abwich, führt auch eine Passage aus Euripides’ Tragödie Alkestis vor Augen. Dort kommt es zum schweren Zerwürfnis zwischen Admetos und seinem alten Vater Pheres. Als Vergeltung für das Fehlverhalten des Vaters kündigt der Sohn den ‚Generationenvertrag‘ auf. Verbittert spricht er: „[…] Was ein Mensch genießen soll im Glück, / genossest du; […] / in mir erstand ein Sohn und Erbe deiner Macht, / so dass du nicht, gestorben kinderlos, für andre / das Haus verwaist zum Raub zurückzulassen brauchtest. / Du kannst nicht sagen, dass du mich, weil ich dein Alter / geschmäht, dem Tode preisgabst, mich, der ehrfurchtsvoll / sich gegen dich verhielt in höchstem Maß. Und das / ist nun der Dank, den ich von dir und Mutter ernte! / So zeuge denn beschleunigt Kinder dir, die dich / im Alter pflegen und nach deinem Tode dich / als Leichnam schmücken und zur Schau gebührend stellen! / Nicht will ich dich mit meiner Hand bestatten. Tot / bin ich, soweit es dich angeht. Schau ich das Licht, / weil einen andren Retter ich gewann, so nenne / ich dessen Sohn und treuen Alterspfleger mich.“47

Pheres hatte alle Voraussetzungen für einen glücklichen Lebensabend geschaffen. Er verfügte über einen wohlhabende, stabilen oikos und einen Sohn, der den Vater versorgt und ehrt, der die Familie und deren Herrschaft weiterführen und der die Totenriten übernehmen kann. Für Admetos hatte es nie in Frage gestanden, seine Pflichten zu erfüllen und seinen Vater ehrenvoll zu behandeln. Erst als Pheres sein Leben nicht für das seines Sohnes geben will, fühlt sich auch Admetos nicht mehr für das Wohlergehen seines Vaters verantwortlich. Er sieht das Band zwischen ihnen zerrissen, so dass er im Groll dem Greis die erwartete Unterstützung entzieht. Der Entzug der Altersversorgung durch den Sohn war ein klarer Bruch mit der Sitte und ein schwerer Schicksalsschlag für den betroffenen Alten. Die klar definierten Strafen, die bei Fehlverhalten gegenüber den Alten drohten, unterstreichen nicht nur die Einschätzung der Erfüllung dieser Aufgabe als zu verteidigendes Gut. Sie verweisen auch darauf, dass dieser Schutz notwendig war. Die Versorgung der Alten war eine nicht zu vernachlässigende Last und der Umgang mit den nicht immer einfachen Eltern – sie werden von den Dichtern mitunter als eigensinnig, stur, nicht belehrbar, schwatzhaft, schwierig im Umgang, an-

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Eur. Alc. 653–668: „[…] ὅσ᾽ ἄνδρα χρὴ παθεῖν εὐδαίµονα / πέπονθας: […], / παῖς δ᾽ ἦν ἐγώ σοι τῶνδε διάδοχος δόµων, / ὥστ᾽ οὐκ ἄτεκνος κατθανὼν ἄλλοις δόµον / λείψειν ἔµελλες ὀρφανὸν διαρπάσαι. / οὐ µὴν ἐρεῖς γέ µ᾽ ὡς ἀτιµάζοντα σὸν / γῆρας θανεῖν προύδωκας, ὅστις αἰδόφρων / 660πρὸς σ᾽ ἦ µάλιστα: κἀντὶ τῶνδέ µοι χάριν / τοιάνδε καὶ σὺ χἠ τεκοῦσ᾽ ἠλλαξάτην. / τοιγὰρ φυτεύων παῖδας οὐκέτ᾽ ἂν φθάνοις, / οἳ γηροβοσκήσουσι καὶ θανόντα σε / περιστελοῦσι καὶ προθήσονται νεκρόν. / οὐ γάρ σ᾽ ἔγωγε τῇδ᾽ ἐµῇ θάψω χερί: / τέθνηκα γὰρ δὴ τοὐπὶ σ᾽. εἰ δ᾽ ἄλλου τυχὼν / σωτῆρος αὐγὰς εἰσορῶ, κείνου λέγω / καὶ παῖδά µ᾽ εἶναι καὶ φίλον γηροτρόφον.“ (Übers.: EBENER).

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strengend, tobsüchtig, verabscheuungswürdig und belastend beschrieben48 – blieb stets eine Herausforderung. Gerade in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen war die Verpflegung der Alten fraglos problematisch. In der Tragödie Ödipus in Kolonos ist eindrücklich geschildert, wie schwierig die Versorgung des alten Vaters in einem Leben in Armut und ohne festen Wohnsitz ist.49 Allerdings zog dies nicht zwangsläufig eine schlechte Behandlung der Alten nach sich.50 Wirtschaftliche Gegebenheiten und persönliche Umstände konnten ihre Stellung jedoch verschlechtern. Unabhängig davon war die gute Behandlung der Alten allgemeiner moralischer Grundsatz, den es anzustreben galt und dessen Umsetzung ausdrücklich eingefordert wurde. Auf diese Weise blieben die Greise und Greisinnen in ihren Gemeinschaften integriert und im Idealfall durch ihre Angehörigen versorgt.51 Die Fürsorge der alten Angehörigen war fester Bestandteil der Aufgaben einer Oikosgemeinschaft, die sich um alle ihre Mitglieder zu sorgen hatte. Darüber hinaus ist zu betonen, dass sie als Gegenleistung für die Verdienste der Alten um die Familie angemessen und verdientermaßen einzufordern war.52 Durch ihre Lebensleistung haben die Alten selbst die Grundlage dafür erarbeitet, dass die Oikosgemeinschaft und ihre Angehörigen versorgt sind. Die Elterngeneration hat mehrere Jahrzehnte lang die oikoi geführt, die Felder bestellt, Nahrung und Vermögen erwirtschaftet, das Familienvermögen verwaltet und im Idealfall vermehrt, die Familie im Kriegsfall verteidigt, die Kinder erzogen und ihnen eine Ausbildung zukommen lassen sowie sich um eine gute Stellung der Familie in der Gesellschaft bemüht. Die Alten haben also die Voraussetzung dafür geschaffen, dass ihre Söhne in der Folgezeit den oikos leiten und die Familie ernähren können. Die Fürsorge für die alten Eltern war somit keine karitative Wohltat. Sie war gerechtfertigte und begründete Vergeltung ihrer lebenslangen Leistung und ihrer Verdienste für die Familiengemeinschaft und die Gesellschaft, die eben auf der Stabilität der oikoi gründete. Es handelte sich um den Lohn für das Großziehen und die Ausbildung der Kinder, dessen Gewährung nicht nur moralisch vorbildlich, sondern als fester Bestandteil des ‚Generationenvertrages‘ zu Recht zu erwarten und einzufordern war. Dieses generationsübergreifende Prinzip bezeugen

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Vgl. unter anderem Hom. Il. 10,164–167; Od. 2,177–202; Hom. h. auf Aphrodite 233–246; Aischyl. Ag. 1619–1623; Soph. Ai. 1017–1018; Eur. Andr. 527–528; Philokleon in Aristoph. Vesp. Soph. Oid. K. 1–22; Oid. K. 138–203; Oid. K. 445–447; Oid. K. 745–752; Oid. K. 1104– 1114; Oid. K. 1613–1615 et passim. Nur mit Mühe sind tägliches Brot zum Überleben und ein Ruheplatz zu beschaffen. Auch in wirtschaftlicher Not wird ein Kind die alten Eltern, von denen es immer gut behandelt wurde, nicht einfach misshandeln und dem Hungertod überlassen. Entsprechend stehen Antigone und Iseme ihrem alten Vater selbst in großer Not zur Seite (vgl. Soph. Oid. K. 1– 22; Oid. K. 138–203; Oid. K. 445–447; Oid. K. 745–752; Oid. K. 1104–1114; Oid. K. 1613– 1615 et passim). Dazu ist anzumerken, dass die Grundversorgung einfachsten Ansprüchen genügte (Schlafstelle und Versorgung mit Brot oder Getreidebrei). Vgl. dazu auch Brandt 2002: 54.

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Autoren wie Homer, Theognis, Euripides, Aristophanes, Sophokles oder Aristoteles.53 So schreibt etwa Euripides: „[…] Ein schlechter Sohn, / der nicht den Eltern ihre Mühen treu vergilt, / als schönsten Liebesdienst! Wer ihn erfüllt, gewinnt, / was er den Eltern gab, zurück von seinen Kindern.“54

Welchen Stellenwert dieser ‚Generationenvertrag‘ für das Leben der Menschen besaß, zeigt sich auch daran, dass sogar für Sonderfälle klare Regeln festgelegt wurden. Solche Ausnahmeregelungen überliefert Plutarch bereits für die solonische Gesetzgebung. So wurden Söhne von ihrer Unterhaltspflicht befreit, wenn ihre Väter ihnen keine Ausbildung gewährt hatten oder wenn unehelichen Söhnen die Vorteile als Angehörige der Familiengemeinschaft vorenthalten waren.55 Den Charakter der Versorgung im Alter als Belohnung für erbrachte Verdienste zeigt sich auch in den erwähnten Ausnahmen öffentlicher Altenversorgung, mit der die Leistungen verdienter Persönlichkeiten, Kriegshelden und Veteranen honoriert wurden.56 Wie hinsichtlich der Motivation, sich für die Altersversorgung im Familienkreis um Nachkommen zu bemühen, kann in diesen Fällen die Aussicht auf Absicherung im Alter Ansporn zu vorbildlichem, der Gemeinschaft Nutzen bringendem Einsatz sein. 8 NUTZEN FÜR DIE JUNGEN DURCH DIE VERSORGUNG UND EHRUNG DER ALTEN Wie bereits gezeigt wurde, war ein guter Umgang mit den Alten sowohl für die Greise als auch für die Gesellschaft von Vorteil. Doch auch die Jungen konnten davon profitieren. Im Gegenzug für ihr Bemühen um das Wohlergehen der Alten wurden den Nachkommen, die sich ihrer alten Eltern und Verwandten annahmen, diese versorgten sowie ehrten und die damit die gesetzlichen wie auch moralischen Anforderungen erfüllten, Achtung und Ansehen zuteil. Sie wurden als vorbildlich mit Lob und Bewunderung bedacht. Dies überliefert beispielsweise Tyrtaios, der schildert, dass Krieger, die bedrohten Greise nicht im Stich ließen, sondern tapfer und bis zum Tod verteidigten, große Bewunderung und ewigen Ruhm errangen.57 Ebenso besingt Pindar Antilochos’ Errettung seines alten Vaters als edle, für alle späteren Generationen vorbildhafte Heldentat.58 Erinnert sei auch an 53

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Vgl. z. B. Hom. Il. 4,477–479; Il. 9,494–495; Il. 17,310–303; Il. 24,538–542; Od. 24,254– 255; Thgn. 273–279; Eur. Alc. 653–668; Med. 1029–1035; Med. 1090–1115; Suppl. 361– 364; Aristoph. Nub. 993–995; Nub. 998–999; Soph. Oid. K. 507–509; Oid. K. 1375–1379; Aristot. Ath. pol. 55,3. Eur. Suppl. 361–364: „[…] τοῖς τεκοῦσι γὰρ / δύστηνος ὅστις µὴ ἀντιδουλεύει τέκνων ‒ / κάλλιστον ἔρανον: δοὺς γὰρ ἀντιλάζυται / παίδων παρ᾽ αὑτοῦ τοιάδ᾽ ἃν τοκεῦσι δῷ.“ (Übers.: EBENER). Plut. Solon 22,1.4; vgl. dazu auch WAGNER-HASEL 2012: 91, 96. Vgl. dazu HÜBNER 2005: 37; SCHMITZ 2007: 106; BALTRUSCH 2009: 82f. Tyrtaios Kampfaufrufe 19–20.93–114. Pind. P. 6,30–41.

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die hingebungsvolle Fürsorge von Kadmos’ Enkelsohn sowie der Ödipustöchter, die in den Tragödien für ihre Verdienste bewundert und gelobt werden.59 Im Alltag wurde Bürgern, die bei ihrer Wahl zu hohen Beamten einen vorbildlichen Umgang mit ihren Eltern bestätigen konnten, öffentliche Ehrung für ihr pflichtbewusstes Verhalten zuteil.60 In gleicher Weise konnten öffentlich aufgestellte Denkmäler das Ansehen verbreiten, das sich Jüngere erwarben, wenn sie für Alte, die auf ihre Unterstützung angewiesen waren, Fürsorge leisteten. Beispiele sind das Grabmal und -epigramm, die ein gewisser Mikkos für seine verdienstvolle Amme stiftete: In der Inschrift rühmt er die Greisin, doch zeigt er auch sich selbst in gutem Licht, indem er beschreibt, dass er seiner Amme „Pflege im Alter – im Tod dieses Grabmal“ gewährt hat.61 Ein solches Denkmal war öffentlich zu sehen und bezeugte somit Zeitgenossen und Nachwelt, dass der Stifter seine Pflicht vorbildlich erfüllt hat, für die Mitglieder seines oikos im Alter und im Tod zu sorgen.62 Das Epigramm stammt bereits aus dem 3. Jh. v. Chr., doch war dies mit dem Umgang mit den Alten auch in anderen Epochen der griechischen Antike vergleichbar.63 Die gleiche öffentliche Demonstration vorbildlichen Verhaltens ist von attischen Grabdenkmälern bekannt, mit denen Kinder ihre alten Väter und Verwandten ehren.64 Auch die jüngeren Angehörigen der Gesellschaft konnten also Nutzen aus diesem ‚Kapital‘ des rechten Umgangs mit den Alten schlagen, indem sie gesellschaftliche Wertschätzung erlangten, wenn sie sich durch eine gute Versorgung der Eltern als würdiges Mitglied der Gesellschaft auszeichneten. 9 VORBILDLICHER UMGANG MIT DEN ALTEN ALS THEMA IN DEN SAGEN, IN DER BILDKUNST UND IN DER EIGENEN FAMILIE Mehrere Sagen berichten von Helden, die sich pflichtbewusst ihrer alten Angehörigen annehmen. Wie die Dichter schildern, wurden die Heroen den Zeitgenossen für diese Tat als nachahmenswerte Vorbilder gefeiert, wobei ihnen Ruhm und Anerkennung zuteil wurde. Bereits vorgestellt wurde der Fall des Antilochos, der sich für die Rettung seines Vaters Nestor sogar opferte und dafür von Pindar als

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Eur. Bacch. 1308–1323; Soph. Oid. K. 1–22; Oid. K. 138–203; Oid. K. 445–447; Oid. K. 745–752; Oid. K. 1104–1114; Oid. K. 1613–1615 et passim. Aristot. Ath. pol. 55,2f.; SCHMITZ 2004: 231; HÜBNER 2005: 37f.; BALTRUSCH 2009: 82. Kall. epigr. 50 Pfeiffer/49 Asper. Die Versorgung im und nach dem Tod einschließlich der Pflege der Grabriten war ebenso wichtig, wie die gute Behandlung und Versorgung im Greisenalter, vgl. LACEY 1983: 138– 140; HÜBNER 2005: 37; BALTRUSCH 2009: 81f.; WAGNER-HASEL 2012: 144f. TIMMER 2008: 149. Außerdem zeigt TIMMER auf, dass auch außerhalb der Familie ehrerbietiges Verhalten den alten Mitbürgern gegenüber eine allgemeingültige Konvention war, auch wenn sie im Alltag nicht immer umgesetzt wurde, vgl. EBD.: 142f. Vgl. dazu HÜBNER 2005: 37.

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moralisches Vorbild gerühmt wird.65 Manche Erzählungen wurden auch in der Bildkunst wiedergegeben. Ein prominentes, vielfach dargestelltes Beispiel ist die Sage um den greisen Anchises, den sein Sohn, der mächtige Krieger Aineias, nicht im untergehenden Troja ließ, sondern rettete.66 In ähnlicher Weise zeigten seit Beginn des 5. Jhs. v. Chr. Vasenbilder, wie Aithra durch ihre Enkel aus dem umkämpften Troja gerettet wird.67 In beiden Fällen handelt es sich um schwache Alte, die ohne die Hilfe ihrer Angehörigen hoffnungslos verloren gewesen wären. Solche Sagen und Bilder konnten zusätzlicher Ansporn dafür sein, sich in Nachfolge dieser berühmten Vorbilder um moralisch richtiges Verhalten im Umgang mit den schwächeren Alten zu bemühen. Genauso wie anhand solcher Heldenfiguren konnte in der Realität in den Familien fürsorgliches und ehrerbietiges Verhalten den Alten gegenüber Vorbild für die eigenen Nachkommen sein, damit sich jene später ebenso hilfsbereit und respektvoll ihrer alten Eltern annehmen würden.68 Im Idealfall wurden so in immer weiter fortschreitender Generationenabfolge die Sorge um die Alten als Wert vermittelt und die generationsübergreifende Solidarität zum Nutzen von Familie und Gesellschaft erfüllt. 10

ZUSAMMENFASSUNG

In der griechischen Antike wurde die Sorge um die Alten und speziell um die Eltern seit früher Zeit als Ideal, anstrebenswerte Tugend und als göttliche Pflicht angesehen.69 Die moralische Norm, sich der Alten anzunehmen, sie zu versorgen sowie vor Misshandlung und Not zu schützen, wurde seit Solon zudem rechtlich verbindlich, von Gesetzgebern und Volksversammlungen bekräftigt und durch Androhung von Strafen abgesichert. Daneben hielten weitere Bräuche dazu an, der Versorgungspflicht für die Eltern nachzukommen. Diese offiziellen Maßnahmen bekräftigten den hohen Stellenwert des Schutzes und der Ehrung der Alten als Merkmal moralischer Vorbildhaftigkeit. Indem durch diese Maßnahmen darauf hingewirkt wurde, dass sich die Bürger im Alter als Gegenleistung für die Übernahme der Elternpflichten wertgeschätzt und versorgt wussten, verhalfen sie

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Pind. P. 6,30–41. Vgl. dazu CANCIANI 1981: 386–388, 394f.; HATZIVASSILIOU 2010: 34, 144 (mit Bibliographie). Vgl. dazu KRON 1981: 420, 425–431; HATZIVASSILIOU 2010: 34, 144 (mit Bibliographie). Eltern, die sich gewissenhaft und liebevoll um ihre Kinder gekümmert haben, können im Alter denselben Dienst von diesen erwarten, vgl. z. B. Hom. Il. 4,477–479; Il. 17,298–303; Eur. Alc. 653–668; Eur. Suppl. 361–364. Zur Vorbildfunktion der Väter und Vorfahren für das Verhalten der nachfolgenden Generationen vgl. SPIEß 1992: 96, 125f.; CHRISTES 1998: 111. Vgl. auch HÜBNER 2005: 36–38; WAGNER-HASEL 2012: 66, 91: „Die Sorge für die Alten gehörte in der Antike zu den grundlegenden Verhaltensanforderungen an die nachfolgende Generation“.

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außerdem dazu, den Fortbestand der oikoi und damit der Gemeinden zu sichern, was Familie und Gesellschaft Stabilität verlieh. Die Forderung und Durchsetzung der Fürsorgepflicht und Ehrerbietung den Alten gegenüber war ein wertvolles Kapital, das dem Gemeinwohl ebenso wie dem Einzelnen Nutzen brachte. Es war für die Gesellschaft gewinnbringend, die dadurch eine wichtige soziale Aufgabe löste, die auf viele Schultern verteilt wurde, und die darüber hinaus Stabilität gewann. Es war gewinnbringend für die Alten, die im Idealfall für ihre erbrachten Leistungen gemäß des ‚Generationenvertrages‘ versorgt und geehrt wurden. Und es war vorteilhaft für die Jüngeren, die für ihr Wohlverhalten geachtet wurden, sich öffentlich ihrer Tugendhaftigkeit rühmen und die gemäß ihres Vorbilds auf ebensolche Altenpflege durch ihre eigenen Nachkommen hoffen konnten. Die in der Antike so bedeutsame Fürsorge für die Alten wurde in unterschiedlichen Medien und zu unterschiedlichen Anlässen als Tugendhaftigkeit propagiert. Auch wenn es im Alltag sicherlich nicht immer zu einem guten Umgang mit den Alten kam, so belegen die Quellen doch, dass die Forderung nach Versorgung und Ehrung der Alten in archaischer und klassischer Zeit als moralischer Anspruch wohlbekannt war und aufgrund ihres Wertes geschätzt und verteidigt wurde. BIBLIOGRAPHIE Baltrusch, Ernst (2009): An den Rand gedrängt. Altersbilder im Klassischen Athen – In: Gutsfeld, Andreas / Schmitz, Winfried (Hrsg.): Altersbilder in der Antike. Am schlimmen Rand des Lebens? Bonn: University Press 22009, S. 57–86. Blanck, Horst (1976): Einführung in das Privatleben der Griechen und Römer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976. Brandt, Hartwin (2002): Wird auch silbern mein Haar. Eine Geschichte des Alterns in der Antike. München: Verlag C.H. Beck 2002. Byl, Simon (1996): Vieillir et être vieux dans l’Antiquité – In: EtCl 64 (1996), S. 261–271. Canciani, Fulvio (1981): s.v. Aineias – In: LIMC I (1981), S. 381–396. Christes, Johannes (1998): s. v. Erziehung – In: DNP 4 (1998), Sp. 110–120. Finley, Moses I. (1989): The Elderly in Classical Antiquity – In: Falkner, Thomas M. / de Luce, Judith (Hrsg.): Old Age in Greek and Latin Literature. New York: State of New York Press, S. 1–20. Gollan, Bruce (2000): Personnages du passé héroïque de la Grèce et de la guerre de Troie – In: Chamay, Jacques (Hrsg.) : Homère chez Calvin. Figures de l’hellénisme à Genève. Ausstellungskatalog Genf. Genf: Association Hellas et Roma, S. 115–182. 254–266. Gschnitzer, Fritz (1981): Griechische Sozialgeschichte von der mykenischen bis zum Ausgang der klassischen Zeit. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag 1981. Hatzivassiliou, Eleni (2010): Athenian Black Figure Iconography between 510 and 475 B.C. Rahden: Verlag Marie Leidorf 2010. Hübner, Sabine R. (2005): Alte Männer im Klassischen Athen (5. Jh. v. Chr.). An den Rand gedrängt? – In: GFA 8 (2005), S. 31–57. Kron, Uta (1981): s.v. Aithra I – In: LIMC I (1981), S. 420–431. Krumeich, Ralf (2009): Würdevolle Greise und alte Geizkragen. Zur Bewertung des Alters im antiken Theater – In: Landschaftsverband Rheinland (2009), S. 39–50. Lacey, Walter K. (1983): Die Familie im antiken Griechenland. Mainz: Verlag Philipp von Zabern 1983.

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CLEMENTIA ALS POLITISCHES KAPITAL Thomas Baier In Lucans Epos über den Bürgerkrieg begnadigt Caesar kurz nach der Überschreitung des Rubikon Domitius, den Verteidiger von Corfinium, mit den Worten: „Lebe, auch wenn du es gar nicht willst, und schaue das Tageslicht, weil ich es dir schenke! Mach deiner Partei, die besiegt ist, dadurch Hoffnung und sei ein lebendes Beispiel für meine Wesensart! Meinetwegen kannst du auch wieder zu den Waffen greifen, und, solltest du siegen, werde ich mich auf diesen Gnadenerweis nicht berufen!“1

Der neronische Autor lässt Caesar zum Zyniker werden, der die Milde des Siegers jedes moralischen Wertes entkleidet und ausschließlich als Mittel zum Zweck einsetzt.2 Der ausdrückliche Verzicht auf Reziprozität macht deutlich, dass clementia für ihn keine zwischenmenschliche Tugend, sondern eine taktische Vorgehensweise ist.3 Aristoteles unterscheidet am Beginn der Nikomachischen Ethik zwischen Tätigkeiten, die auf ein Ziel gerichtet sind, also poietischem Handeln, das ein Produkt hervorbringt, und Tätigkeiten, die ihr ergon in sich tragen, d. h. die um ihrer selbst willen ausgeübt werden – diese heißen praktisch. In diese Kategorie fallen eigentlich die Tugenden. Sie tragen ihren Zweck in sich und sind letztlich deontologisch begründet. Tugenden sind nicht auf ein äußeres Ziel ausgerichtet, sondern setzen menschlichem Handeln Grenzen oder Gebote, die unabhängig von den Umständen gelten. Sobald man Tugenden konsequentialistisch begründet, verlieren sie ihre absolute Geltung und werden einem Zweck unterworfen, der außer1

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Lucan. 2,512–515: „ ‚vive, licet nolis, et nostro munere‘ dixit / ‚cerne diem. victis iam spes bona partibus esto / exemplumque mei. vel, si libet, arma retempta, / et nihil hac venia, si viceris, ipse paciscor.‘ “ (Übers.: BAIER). Corfinium ist gewissermaßen der historische Moment, in dem „die clementia die libertas ausgeschaltet [hat] – zuerst nur metaphorisch und propagandistisch, aber später, so folgerte wenigstens Cato, auch in Wirklichkeit. In dem Mythos, der ihn bald umgab, zog Cato den Tod in Freiheit der Gnade des Tyrannen vor“, RAAFLAUB 2007: 248f. Lucan hat durch die Domitius-Geschichte ex post die Richtigkeit von Catos Entscheidung und die Triftigkeit seiner Motive bestätigt. Angelegt ist diese Haltung allerdings in mancher Selbstbeschreibung Caesars, vgl. z. B. Caesars Brief in Cic. Att. 9,7C: „misericordia et liberalitate nos muniamus“. Zur clementia Caesaris vgl. DAHLMANN 1934; WICKERT 1937; TREU 1948; WINKLER 1957; WEINSTOCK 1971: 237–243; BRAUND 2009: 34–36. Es sei darauf hingewiesen, dass Caesar selbst unseres Wissens niemals von clementia sprach, ihm diese also von anderen als Signet aufgeprägt wurde, vgl. TREU 1948: 200. Andererseits war Caesar nach Corfinium natürlich darauf bedacht, sich seine Sympathien bei den Römern und der italischen Landbevölkerung nicht zu verscherzen, vgl. JEHNE 2009: 101–102 sowie MEIER 2001: 29–32. Augustus scheint es ähnlich gehalten zu haben; er übernahm das Konzept der clementia von seinem Adoptivvater (vgl. KIENAST 2009: 74), scheint den Begriff aber eher gemieden zu haben.

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halb ihrer selbst liegt. Ihre Beurteilung richtet sich dann danach, ob sie zielführend sind und als Mittel zum Zweck taugen. Genau das tut Caesar, jedenfalls in den Augen Lucans. Wir dürfen vermuten, dass Livius, Lucans Hauptquelle, das in den verlorenen Caesar-Büchern genauso gesehen hat,4 und wir wissen, dass Cicero aus eben diesen Gründen Caesars Milde verabscheute. Insbesondere in der Rede Pro Deiotaro rege tritt die Demütigung, die Cicero empfand, als er an Caesars Milde appellieren musste, zwischen den Zeilen zutage. Doch er versuchte in dieser Rede gleichsam, den Spieß umzudrehen, indem er den Diktator auf Milde festlegte, den Gnadenerweis mithin zur Norm erheben wollte. Die Ambivalenz der Milde zwischen Tugend und Herrschaftsmittel wurde immer schon erkannt. Ursprünglich dem Umgang mit besiegten Feinden vorbehalten, hatte die clementia in der Innenpolitik der res publica keinen Platz, setzte sie doch ein Verhältnis von Über- und Unterordnung voraus und war damit Ausdruck mehr oder weniger subtiler Machtausübung. Bis heute liegen Wohlfahrt und Unterdrückung nicht ohne Grund eng beisammen. Tugend kann in Terror umschlagen. Tugendstolz kann die unerfreulichste Form der Selbstgerechtigkeit sein. Setzt man jedoch die Tugend stets unter Generalverdacht, nur Mittel zum Zweck zu sein, wird man selbst zum Zyniker und ruiniert von vornherein jede Möglichkeit einer guten Absicht. 1 CICERO Bevor nun Seneca in den Blick genommen wird, soll noch einmal Cicero zu Wort kommen. Für eine kurze Zeit konnte sich sogar Cicero dem Charisma Caesars nicht entziehen. Diese Phase erstreckte sich von der Begnadigung des CaesarGegners Marcellus im September 46 v. Chr., die Cicero in der Dankesrede Pro Marcello würdigt,5 bis zu der rund zwei Monate später gehaltenen Rede Pro Ligario. Die kurz aufflammende Begeisterung für Caesar dürften vor allem die in diesen Zeitraum fallenden wahnwitzigen Siegesfeiern gedämpft haben, deren pompösen Aufwand angesichts der Verluste im Bürgerkrieg nicht nur feinsinnige Naturen als geschmacklos empfanden.6 In De officiis äußert sich Cicero explizit zum Problem des Tyrannen: Am Beginn des dritten Buches bestimmt er das Verhältnis von utile und honestum. Zunächst wendet er sich dem oben angesprochenen Problem der Bewertung von Tugenden zu. Er unterscheidet zwischen dem honestum quod proprie vereque dicitur,7 sozusagen dem perfectum honestum und den similitudines honesti. Ersteres bezieht sich auf das officium rectum, letzteres auf die officia media. Die griechische Stoa trifft hier die Unterscheidung zwischen κατορθώµατα (katorthomata) und καθήκοντα (kathekonta). Man könnte von hohen moralischen Pflichten und einfachen Obliegenheiten sprechen. Der Unter4 5 6 7

Vgl. STRASBURGER 1983: 268–271. Sie ist vielleicht die einzige echte Sympathiebekundung Ciceros gegenüber Caesar. STRASBURGER 1990: 32f. Cic. off. 3,13.

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schied zwischen beiden ist auf Anhieb nicht erkennbar. Und Cicero selbst räumt ein, dass Ungeschulte sich leicht täuschen: vulgus, quid absit a perfecto, non fere intellegit.8 Wie Laien, imperiti, bei der Bewertung eines Kunstwerkes oder eines Gedichts mangels klarer Kriterien oft danebenlägen und etwas schon als gut erachteten, nur weil es nicht ganz schlecht sei bzw. weil es neben Schlechtem auch aliquid probi habe, so komme es auch in der Ethik zu Fehlurteilen und bedürfe folglich eines geübten Auges. Zwar habe jeder eine indoles virtutis, eine angeborene Ahnung von ‚richtig‘ und ‚falsch‘, doch blicke nur der sapiens hinter die äußere Fassade. Um zu verstehen, was Cicero meint, ist ein Blick in die wenig früher verfasste Schrift De finibus vonnöten, wo dasselbe Problem etwas systematischer abgehandelt wird. Cicero erläutert es an dem in der antiken Philosophie geläufigen Beispiel des depositum reddere / παρακαταθήκην ἀποδιδόναι (parakatatheken apodidonai): „Beispielsweise ist es eine im vollen Sinne sittlich richtige Handlung, wenn jemand ein ihm anvertrautes Gut um der Gerechtigkeit willen zurückgibt, das Zurückgeben fällt an sich nur in den Bereich des pflichtmäßigen Handelns [= officium medium / καθῆκον (kathekon)]. Denn erst wenn die Rückgabe unter Einbeziehung des Gebotes der Gerechtigkeit erfolgt, wird sie zu einer sittlich vollkommenen Handlung [= perfectum officium / κατόρθωµα (katorthoma)], während die bloße Rückerstattung an sich nur eine Obliegenheit ist.“9

Das ist keine Gesinnungsethik, der es nur auf die rechte Intention ankäme. Das iuste fieri, das Handeln oder vielmehr ‚Geschehen‘ unter dem Gebot der Gerechtigkeit, setzt zusätzlich Einsicht in die Konsequenzen des Handelns voraus. Der Weise weiß, was er tut, und tut es mit Bedacht, weil er alles seinem Urteil unterwirft: iudicat igitur, cum agit, officium illud esse.10 Die Beurteilung einer Handlung ist demnach nur aus ihrem jeweiligen Kontext heraus möglich. Hilfsweise sei das entsprechende Beispiel aus Platons erstem Buch Der Staat herangezogen. Sokrates schlägt dort im Gespräch mit dem greisen Kephalos vor, die Gerechtigkeit vorläufig als „ἀποδιδόναι ἄν τίς τι παρά του λάβῃ“ zu definieren,11 um diese Formel dann aber sofort in Frage zu stellen und anhand eines Fallbeispiels zu modifizieren: Wenn man von einem Gesunden eine Waffe ausgeliehen habe, dürfe man sie ihm auch dann zurückgeben, wenn er in der Zwischenzeit dem Wahnsinn verfallen sei? An dieser Einzelfallprobe wird deutlich, dass der Weise eine Pflicht immer im Kontext der jeweiligen Situation zu bewerten hat. Vor diesem sokratisch-platonischen Hintergrund will auch Cicero die stoische Unterteilung in officia media und officia recta verstanden wissen. Der Umweg über De finibus und der Rückgriff auf Platon zeigen, dass es um ein recht geläufiges Problem antiker Ethik geht. In De officiis erhält es jedoch erhebliche Brisanz, und zwar vor allem durch die dort gewählten Beispiele. Der 8 9 10 11

Cic. off. 3,15. Cic. fin. 3,59 (Übers.: ATZERT). Vgl. off. 3,14–18, wo die Unterscheidung zwischen kathekon und katorthoma ausführlich erläutert wird. Cic. fin. 3,59. Plat. rep. 331c3: „Wenn man von jemandem etwas genommen hat, es zurückzuerstatten“. (Übers.: BAIER).

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Unterschied zwischen der inneren und der äußeren Beurteilung einer Handlung tritt besonders deutlich am Beispiel des Tyrannenmords zutage.12 Cicero führt in De officiis dazu aus: „Was kann es für ein größeres Verbrechen geben, als nicht nur einen Menschen, sondern sogar einen vertrauten Freund zu töten? Hat jemand also etwa ein Verbrechen begangen, wenn er einen Tyrannen tötete, der ihm noch so vertraut sein mag? Das römische Volk jedenfalls ist nicht der Meinung, denn unter allen glanzvollen Taten hält es die für die herrlichste. Hat also der Nutzen über die Sittlichkeit gesiegt? Nein, vielmehr hat die Sittlichkeit gesiegt und in ihrer Folge stellte sich der Nutzen ein.“13

Festzuhalten ist, dass die officia recta nicht allein als Tatbestand zu erfassen, sondern hinsichtlich der Tatmotive, der Tatumstände und der Konsequenzen aus denselben zu bewerten sind. Eine schlimme Tat wie ein Mord kann unter bestimmten Umständen gut sein. Cicero geht es im Gesamtzusammenhang des dritten Buches von De officiis darum, zu beweisen, dass zwischen honestum und utile keine repugnantia herrscht. Im vorliegenden Fall stehen beide tatsächlich im Einklang: honestatem utilitas secuta est.14 GRIFFIN/ATKINS bemerken: „Tyrannicide is Cicero’s favourite example of a duty in particular circumstances […]. The allusion is clearly to Caesar’s murder, for many of those involved had been ‚close friends‘.“15

Aus diesem einen, zur Abfassungszeit der Schrift hochaktuellen Beispiel will Cicero nun eine allgemeine formula gewinnen, eine Norm, nach der die Vereinbarkeit von honestum und utile zu beurteilen sei. Panaitios habe nämlich festgestellt, die Menschen pflegten bei der Abwägung zwischen beiden Gütern zu schwanken (homines solere in hac comparatione dubitare), und zugleich beklagt, dass eben dieses Schwanken zwar üblich sei, aber im Grunde nicht sein dürfe (solere modo, non etiam oportere).16 Die nach Panaitios unstatthafte dubitatio ist nach Cicero keineswegs selten und gegebenenfalls einer inneren Prüfung zu unterwerfen, bei der der Konflikt zwischen Ehrenhaftigkeit und Nutzen entweder als Scheinkonflikt enttarnt wird, oder aber die in Rede stehende Handlung verworfen werden muss. Die Entscheidung hat κατὰ περίστασιν (kata peristasin), gemäß den Umständen, tempore, zu erfolgen.17 An welchem Maßstab aber ist sie zu messen? Cicero definiert die Norm in Anlehnung an die Stoiker. Diese erkannten nämlich

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Cicero greift in gewisser Weise wieder seine kaum versteckte Tyrannenschelte aus den Tusculanen – vor allem Buch 5 – auf, vgl. dazu LEFÈVRE 2008: 225–238. Cic. off. 3,19: „Quod potest maius scelus quam non modo hominem, sed etiam familiarem hominem occidere? Num igitur se adstrinxit scelere, si qui tyrannum occidit quamvis familiarem? Populo quidem Romano non videtur, qui ex omnibus praeclaris factis illud pulcherrimum existimat. Vicit ergo utilitas honestatem? Immo vero honestas utilitatem secuta est.“ (Übers.: MERKLIN). Text nach WINTERBOTTOM 1994. Zur Diskussion vgl. LEFÈVRE 2001: 142, Anm. 30. GRIFFIN/ATKINS 1991: 107, Anm. 2. Cic. off. 3,18. Cic. off. 3,19.

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im Gegensatz zu Akademikern und Skeptikern dem utile und dem honestum den gleichen Rang zu. Das Ausschlusskriterium, das der Weise anzulegen hat, lautet: „Dem anderen etwas wegzunehmen und als Mensch den eigenen Vorteil durch den Nachteil eines anderen Menschen zu vergrößern, ist also widernatürlicher als Tod, Armut, Schmerz und alles andere, was dem Menschen in körperlicher oder äußerlicher Hinsicht zustoßen kann.“18

Wer sich auf Kosten eines anderen einen Vorteil verschaffe, handle ehrlos. Der Grund dafür ist einfach: „Denn solches Tun vernichtet schon im Ansatz die menschliche Lebensgemeinschaft und die Gesellschaft“ („nam principio tollit convictum humanum et societatem“). Dieser Gedanke, der im Übrigen eng mit Ciceros Definition des Staates in De re publica zusammenhängt,19 wird im Folgenden entfaltet und sowohl auf das innerstaatliche wie auf das Völkerrecht ausgedehnt. Somit wird deutlich, dass der Bewertungsmaßstab immer das Wohl des Staates zu sein hat. Cicero hat das ethische Problem des Panaitios auf staatliches Handeln zugespitzt, wie es in einem Handbuch an einen angehenden Politiker auch zu erwarten war. Für Cicero ist ein Leben ohne staatliche Gemeinschaft nicht denkbar; deshalb ist deren Erhalt das Maß aller Dinge. Dyck hält die gesamte Diskussion der entsprechenden Paragraphen für eine „justification of tyrannicide“.20 In der Tat folgt in De officiis 3,29 ein weiteres, wenn auch sehr allgemein gefasstes Tyrannenexempel: Dürfte ein Ehrenmann den Tyrannen Phalaris eines Gewandes berauben, um selbst nicht zu erfrieren? Zu dieser Anthypophora führt Cicero aus: „Diese Fragen sind sehr einfach zu entscheiden. Denn wenn man einem Menschen, der in keiner Hinsicht nützlich ist, um seines eigenen Nutzens etwas nähme, so würde man unmenschlich handeln und gegen das Naturgesetz verstoßen; wäre man jedoch jemand, der dem Staat und der menschlichen Gesellschaft, falls er am Leben bliebe, großen Nutzen bringen könnte, so wäre es nicht zu tadeln, wenn man aus diesem Grund dem anderen etwas nähme.“21

All das klingt sehr nach einer Rechtfertigung der kurz zurückliegenden Ereignisse an den Iden des März und zielt darauf ab, den Tyrannen nicht nur aus der staatlichen, sondern sogar aus der menschlichen Gesellschaft auszuschließen.22 Was macht den Tyrannen so unmenschlich? Er nimmt sich Freiheiten auf Kosten anderer Bürger. Cicero bemüht eine beliebte Parabel zur Veranschaulichung, indem er auf den menschlichen Körper verweist:

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19 20 21 22

Cic. off. 3,21: „detrahere igitur alteri aliquid et hominem hominis incommodo suum commodum augere magis est contra naturam quam mors, quam paupertas, quam dolor, quam cetera quae possunt aut corpori accidere aut rebus externis.“ (Übers.: MERKLIN). Vgl. BAIER 2002. DYCK 1996: 519–520 über Cic. off. 3,21ff. Cic. off. 3,30. Cicero pries die Ermordung Caesars als „iustus interitus tyranni“ (Cic. Att. 14,14,4), war aber skeptisch hinsichtlich des Nutzens: „sublato enim tyranno tyrannida manere video“ (Cic. Att. 14,14,2).

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Nach recht weitschweifigen Ausführungen zum Thema kommt er zu dem Schluss: „Denn es gibt für uns keinerlei Gemeinschaft mit Tyrannen“ („Nulla est enim nobis societas cum tyrannis“).24 Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Cicero eine Tugendlehre entwickelt, die alles am Nutzen für den Staat bemisst. Die Erfüllung der traditionellen Gebote entspricht den officia media; ihre Ausrichtung am Staatswohl macht sie zu officia perfecta. Er hat gewissermaßen die Tugendlehre der Philosophen konsequentialistisch erweitert. Es stellt sich die Frage, weshalb Caesar überhaupt noch in De officiis erwähnt wird, und vor allem, woher die Gehässigkeit rührt, mit der Cicero dem Getöteten nachtritt. In De officiis 2,23–32 wird die Tyrannentopik skrupellos an Caesar abgearbeitet, ohne dass auch nur das geringste Verständnis für dessen Maßnahmen, die keineswegs alle in Bausch und Bogen zu verdammen waren, erkennbar wäre.25 Man kann das mit Hermann Strasburger wohl nur so erklären, dass es hier nicht mehr um die Person Caesar, sondern „um das Prinzip Caesar und seine zwangsläufigen Auswirkungen“ geht.26 Zugleich wird man Cicero zugutehalten, dass er kompromisslos die Moral gegen die Macht auf den Thron erhebt. Und doch: De officiis ist, anders als Panaitios’ Περὶ τοῦ καθήκοντος (Peri tou kathekontos), kein moralphilosophischer Traktat, sondern das Karrierehandbuch für einen angehenden Politiker, nämlich für Ciceros Sohn Quintus. Daher wendet der Vater solche Energie auf, dem Sohn klarzumachen, dass Moral nicht nur edel ist, sondern sich auch auszahlt, dass das utile dem honestum auf dem Fuße folgt. Der Tod des Gerechten nach sokratischem Vorbild scheint für die Römer kein Modell zu sein. 2 SENECA Dem Utilitätsgedanken ist auch Senecas Schrift De clementia verpflichtet.27 Auch er ‚verkauft‘ seinem Zögling Nero Moral als Investition in seine Herrschaft bzw. unternimmt eine zweckgerichtete Begründung von Moral. Dieser Umgang mit einem philosophischen Sujet erklärt sich schon aus dem Entstehungszusammenhang der Schrift. So umstritten deren Datierung auch sein mag, kann sich eine 23 24 25

26 27

Cic. off. 3,22. Cic. off. 3,32. Vgl. MERKLIN 1991: 359, Anm. 12: „Ciceros Urteil über Caesar dokumentiert […] völlige Blindheit gegenüber historischen und politischen Notwendigkeiten, die Caesars Gesetzgebung zum großen Teil bestimmten.“ STRASBURGER 1990: 92. Die ältere Forschung ist aufgearbeitet bei MORTUREUX 1989.

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nüchterne Betrachtung nicht der Erkenntnis verschließen, dass die Schrift zwischen dem 15. Dezember 55 und dem 14. Dezember 56 n. Chr. geschrieben sein muss. Das ergibt sich zweifelsfrei aus der Altersangabe des jugendlichen Nero in De clementia 1,9,1, von dem es heißt, er habe das 18. Lebensjahr vollendet: duodevicensimum egressus annum.28 Damit ist die Spanne zwischen dem 18. und dem 19. Geburtstag des princeps eindeutig bezeichnet. Die Schrift ist also nach dem Britannicus-Mord des Jahres 55 n. Chr. verfasst. Steine des Anstoßes sind die im Lichte dieser Datierung offenkundige Lüge in 1,1,5, wo Seneca Nero innocentia bescheinigt, und die zynische Behauptung in 1,11,3, Nero habe noch nie Bürgerblut vergossen – ein Vorzug, der ihn sogar von Augustus positiv abhebe. Am Ende des ersten Buches wird es als höchstes Glück ausgegeben, „vielen Rettung zu bringen und sie vom Tod selbst in das Leben zurückzurufen“: „multis salutem dare et ad vitam ab ipsa morte revocare.“29 Diese Unschuld hatte Nero nach dem Britannicus-Mord aber verloren. Eine Vordatierung des Traktats scheitert jedoch daran, dass Seneca Nero in 1,14,2 als pater patriae anspricht; dieser Ehrentitel wurde ihm Ende 55 n. Chr. verliehen. Gerade der Umstand, dass der Philosoph so dreistes ‚corriger la verité‘ betreibt, belegt die beiden Absichten der Schrift, Nero vor der Öffentlichkeit festzulegen und dadurch sein künftiges Verhalten zu beeinflussen. Nero erhielt nach dem ersten Regierungsmord eine zweite Chance. Die offizielle Diagnose des Britannicus-Todes lautete auf Epilepsie, morbus comitialis.30 Die Wenigen, die die Hintergründe durchschauten, waren so verunsichert, dass sie schwiegen. In Tacitus’ Schilderung der Vorfälle lässt sich die Atmosphäre von Terror und Einschüchterung mit Händen greifen. Er stellt die Reaktionen, als Britannicus während des Essens vergiftet zusammenbricht, folgendermaßen dar: „Wer in der unmittelbaren Umgebung saß, zitterte; die Unbeherrschten flohen in Panik; wer aber einen tieferen Durchblick hatte, hielt still und fixierte Nero mit Blicken.“31

Bevor eine offizielle Version nur verkündet zu werden brauchte, hielt sich der Hof bereits daran. So war man konditioniert. Eben dieser offiziellen Version folgt auch Seneca, und man darf vermuten, dass er andernfalls jeden Einfluss auf Nero verloren hätte. Ähnlich hat sich Seneca nach dem Zeugnis des Tacitus auch nach dem Mord an Agrippina verhalten, indem er die Tat aktiv deckte, obwohl in diesem Fall die amtliche Verlautbarung noch viel unglaubwürdiger war, wie Tacitus andeutet: „Wer hätte sich als so tumb erwiesen, dass er das geglaubt hätte?“ (quis adeo hebes inveniretur ut crederet?).32 Halten wir also fest, dass Seneca moralische Prinzipien in politische Taktik umzusetzen vermochte, und zwar umso geschmeidiger, je mehr die Staatsräson danach verlangte.

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Vgl. BRAUND 2009: 16f. Sen. clem. 1,26,5. Nach Jos. Ant. 20,153 gab es nur wenige in die wahren Hintergründe Eingeweihte. Tac. ann. 13,16: „trepidatur a circumsedentibus, diffugiunt imprudentes; at quibus altior intellectus, resistunt defixi et Neronem intuentes.“ (Übers.: BAIER). Tac. ann. 14,10f.

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Wie geht er in De clementia vor? Seneca liefert zunächst eine Gliederung,33 die auf eine ursprüngliche Anlage in drei Bücher schließen lässt.34 Unter anderem daran, dass das letztgenannte Thema, wie man zur clementia gelange, nicht bearbeitet ist, zeigt sich der unvollendete Zustand der Schrift. Das erste Buch hat – wie bei Seneca oft – den Charakter eines Brainstormings: Er nähert sich dem Thema unter unterschiedlichen Aspekten. Doch der erste Akzent ist sogleich der Nutzen des Herrschers: „Dessen Größe schließlich ist fest gegründet, den alle ebenso über sich wie auf ihrer Seite wissen. […] Tritt er hervor, so fliehen sie nicht, wie wenn ein bösartiges oder gefährliches Tier aus seinem Lager hervorspringt, sondern eilen um die Wette herbei wie im Angesicht eines strahlenden und wohltätigen Gestirns.“35

Wie Cicero kommt er auf den Körper des Staates zu sprechen, wobei er freilich mit Blick auf den Bienenstaat den monarchischen Aspekt stärker betont.36 Er schließt diesen ersten Gedanken ab, indem er zusammenfasst: „Wenn du nämlich, wie sich bis zu diesem Punkt ergibt, das Herz deines Staates bist, jener aber dein Körper, dann erkennst du, denke ich, wie nötig Milde ist; du schonst nämlich dich, wenn du einen anderen zu schonen scheinst.“37

Es klingt vielleicht eine Anspielung auf den Britannicus-Mord an, wenn er fortfährt: Man müsse auch missliebige Bürger schützen, so wie man auch eingeschränkt funktionsfähige Körperteile mit Nachsicht behandle, und bedürfe es doch einmal eines Aderlasses (si quando misso sanguine opus est),38 habe dieser innerhalb des Notwendigen zu erfolgen. Seneca spitzt die Rolle des princeps derart zu, dass er „als der einzige Unfreie im Staat [erscheint], da er zu keinem Zeitpunkt unüberlegt und ohne Blick auf die Folgen handeln und sich aus der Verantwortung fortstehlen darf.“39

In der Figurenrede lässt er Nero empört ausrufen: Ista […] servitus est, non imperium. In einer fiktiven Antwort hält er dagegen, es handle sich um eine nobilis servitus, zumindest wenn man der allgemein akzeptierten Konjektur von Wila33 34

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Sen. clem. 1,3. Prima pars: manumissionis < humanae condicionis? > humanissimi Neronis?; secunda pars: natura et habitus clementiae; tertia pars: quomodo ad hanc virtutem perducatur animus. Der erste Teil ist nicht zu definieren, der zweite entspricht dem Inhalt des zweiten Buches, der dritte fehlt. Sen. clem. 1,3,3: „Illius demum magnitudo stabilis fundataque est, quem omnes tam supra se esse quam pro se sciunt […], quo procedente non, tamquam malum aliquod aut noxium animal e cubili prosilierit, diffugiunt, sed, tamquam ad clarum ac beneficum sidus, certatim advolant.“ (Übers.: BAIER). In Sen. clem. 4,1 zitiert er Verg. georg. 4,212f. Sen. clem. 1,5,1: „Nam si, quod adhuc colligitur, tu animus rei publicae tuae es, illa corpus tuum, vides, ut puto, quam necessaria sit clementia; tibi enim parcis cum videris alteri parcere.“ (Übers.: BAIER). Der staatstragende Ton dieser Sätze kommt auch dadurch zum Tragen, dass Seneca auffällige ‚ciceronische‘ Klauseln verwendet, wie etwa hier den Dicreticus. Sen. clem. 1,5,1. BLÄNSDORF 1983: 123.

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mowitz folgt.40 Es ist ein häufig wiederholter Topos, dass der König in Wahrheit unfrei und von Zwängen umgeben sei.41 Wilamowitz gründete seine Konjektur (nobilis) auf eine Erzählung bei Aelian,42 nach welcher der Makedonenkönig Antigonos II. seinen Sohn ermahnt habe, das Amt des Königs sei eine ἔνδοξος δουλεία (endoxos douleia), ein edler Dienst. Antigonos hatte sich den Stoiker Persaeus von Kition, einen Schüler des Schulgründers Zenon, an seinen Hof geholt, so dass hier offenkundig ein Philosophenherrscher spricht. Braund bemerkt zu Recht: „If so, Seneca seems to be replicating the relationship between Stoic adviser and ruler in the guidance he offers Nero here.“43 Doch auch an diesem Punkt der höchstmöglichen Idealisierung des Herrschers lässt Seneca der Selbstlosigkeit den Nutzen folgen: „Größere Sicherheit erwächst Königen aus der Sanftheit; denn häufige Strafe unterdrückt den Hass von wenigen, stachelt aber den Hass von allen an.“44

Die Verbindung von honestum und utile unterstreicht Seneca sofort durch ein domesticum exemplum, ein römisches Beispiel, und sogar eines aus der julischclaudischen Dynastie: Augustus wurden Hinweise auf eine gegen ihn gerichtete Verschwörung eines gewissen L. Cinna gemeldet. Er quält sich, wie zu verfahren sei, und die eigentlich erforderliche Rache hinterlässt bei ihm einen immer schaleren Geschmack. Wie einst der Etruskerkönig Porsenna vom Mut des römischen Attentäters Scaevola beeindruckt war, als dieser ungerührt seine Hand in das Feuer hielt und den König wissen ließ, dass, wenn er scheitere, andere tapfere Römer bereitstünden, den etruskischen Usurpator zu ermorden, so lässt nun Augustus vor dem inneren Auge die Reihe seiner Gegner passieren und kapituliert schon vor dem Gedanken, sie alle zur Rechenschaft ziehen zu müssen. Er weicht schließlich vor der Bestrafung zurück, nicht aus Feigheit, sondern er betrachtet das Ringen mit seinen Gegnern eher sub specie aeternitatis bzw. aus einer olympischen, übergeordneten Perspektive: „so viel ist das Leben doch gar nicht wert, wenn so vieles vernichtet werden muss, damit ich nicht zugrunde gehe“ („non est tanti vita, si ut ego non peream, tam multa perdenda sunt“).45 Aus diesen etwas morosen Betrachtungen holt ihn seine Gattin Livia, die ganz pragmatisch vorschlägt, er solle doch, nachdem seinen Gegnern bislang mit severitas nicht beizukommen war, es einmal mit Milde versuchen. Schließlich probiere man auch in der Medi-

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Überliefert ist „istud [sc. imperium] nobis esse, tibi servitutem“, was gedanklich zwar zum Folgenden passt, aber die Emphase des Ausrufs zerstörte; vgl. dazu BRAUND 2009: 246 zu Sen. clem. 1,8,1. So beneidet etwa Shakespeares Henry V. die Fußsoldaten vor der Schlacht von Azincourt, weil diese ruhig schlafen könnten, er aber von Verantwortung niedergedrückt sei. Var. hist. 2,20. BRAUND 2009: 246. Sen. clem. 1,8,6: „regibus certior est ex mansuetudine securitas, quia frequens vindicta paucorum odium opprimit, omnium irritat.“ (Übers.: BAIER). Sen. clem. 1,9,5.

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zin mitunter das Gegenteil, wenn Bewährtes nicht mehr helfe.46 So philosophisch sich Augustus in Senecas Darstellung auch gibt, was ihn überzeugt, ist das prodesse.47 Es ließen sich aus dem ersten Buch von De clementia weitere Beispiele für die Verbindung von Moral und Nutzen anführen. Gleichwohl hat dieses Buch nur den Sinn, Nero gewogen zu machen, ihn einzustimmen auf einen systematischen Traktat zur Herrschermilde. Das Konzept der monarchischen Regierung durch Milde hatte in Rom nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es nicht nur dem princeps einleuchtete, sondern mit der römischen Tradition verknüpft werden konnte. 3 CLEMENTIA UND RÖMISCHE TRADITION Es ist aus dem bisher Gesagten deutlich geworden, dass das erste Buch einen Panegyrikos auf die clementia darstellt, wobei Seneca großen Wert darauf legt, den konkreten Nutzen dieser Tugend nachzuweisen. Vermutlich schien es ihm zu unsicher, sich allein auf die philosophische Anlage seines Zöglings zu verlassen. Die Begriffe clementia, misericordia, venia sowie ignoscere werden synonym gebraucht, was sich im zweiten Buch ändert.48 Nun wird die Begrifflichkeit schärfer gefasst. In Kapitel 2,3 und 2,4 ist die clementia immer noch eine Tugend, sie wird aber abgegrenzt gegenüber der crudelitas und der feritas auf der einen, gegenüber der misericordia und der miseria auf der anderen Seite. Die Milde liegt nunmehr, aristotelisch gesprochen, in der Mitte zwischen elleipsis und hyperbole. Den crudelis, den Grausamen, kennzeichnet ein zu geringes Maß an Milde, er kennt keine Grenzen bei der Bestrafung. Der ferus schließlich empfindet eine schon krankhaft zu nennende Lust an der Grausamkeit. Das andere Extrem kennt die misericordia, die Barmherzigkeit, die zwar schätzenswert ist, aber dennoch zu den Affekten zählt. Denn sie dosiert die Milde nicht mit Plan und Überlegung, sondern überwältigt den Betroffenen. Die miseria schließlich als ihre Steigerung bezeichnet das Zerfließen vor Mitleid und ist vor allem Ausdruck von Hilflosigkeit angesichts der Not eines anderen. Die severitas dagegen, die im ersten Buch einen negativen Beigeschmack hatte, wird nun in die Nähe der clementia gerückt, ist jedenfalls wie diese eine Vertreterin des Maßes und eindeutig positiv konnotiert. Seneca lässt das genaue Verhältnis von severitas zu clementia offen. Man kann es aber wohl ungefähr so verstehen, dass clementia die severitas moderiert, sie mit Augenmaß einsetzt. Ein orthodoxer Stoiker würde niemals von der Strenge ab46

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Sen clem. 1,9,6: „Verzeih dem Lucius Cinna! Er wurde ertappt; schaden kann er dir nicht mehr, deinem Ruhm kann er noch nutzen.“ / „Ignosce L. Cinnae. Deprensus est; iam nocere tibi non potest, prodesse famae tuae potest“. (Übers.: BAIER). Das fünfte Buch der Politik des Aristoteles (bes. Aristot. Pol. 1311a9–1313a18) liefert, wenn es um die Entstehung von Aufständen und vor allem um taugliche Mittel zu deren Verhütung geht, vergleichbare Ratschläge. Doch fehlt bei ihm die Emphase, die aus dem taktischen Vorgehen den Gestus einer philosophischen Überzeugung macht. Zu Aristoteles’ Beurteilung der Tyrannis vgl. Pol. 1295a22–1295b26 sowie KAMP 1985. Vgl. GRIFFIN 2003: 171–172.

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weichen. Nur das unerbittliche Festhalten an seiner Ethik sichert ihm die Tugend als höchstes Gut. Bei den Verfechtern der clementia stehen die Stoiker deshalb, und das bestätigt Seneca ausdrücklich, als Sturköpfe in schlechtem Ruf.49 Seneca lässt mit Hilfe der clementia aus dem iustum nunmehr ein iustissimum werden. Während die venia eine poenae meritae remissio darstellt, also ein Abweichen vom strengen Recht, ist die clementia eine Anpassung an den Einzelfall.50 Seneca definiert: „Milde ist im Urteil frei, sie richtet nicht nach einer starren Formel, sondern nach Recht und Billigkeit“ („Clementia liberum arbitrium habet, non sub formula, sed ex aequo et bono iudicat“).51 Sie erinnert ein wenig an die aristotelische φρόνησις (phronesis), die, ihrerseits den praktischen Tugenden zugehörig, die ethischen Tugenden moderiert, an der richtigen Stelle einsetzt. Manfred Fuhrmann hat auf eine juristische Parallele aufmerksam gemacht, nämlich dass mit dem aequum bzw. der aequitas eine alte Vorstellung des römischen Rechts in die Definition eingeschwärzt wird. Aequitas ist Billigkeit oder Gerechtigkeit im Einzelfall. Billigkeit (ἐπιείκεια, epieikeia) ist notwendig, um das Gesetz (νόµος, nomos) zu korrigieren. Aristoteles bestimmt das Verhältnis von δίκαιον (dikaion) und ἐπιεικές (epieikes) folgendermaßen: „Die Billigkeit erscheint als Gerechtigkeit; sie ist das, was ohne gesetzliche Grundlage gerecht ist.“52

An anderer Stelle führt er aus: „Das aber ist die Natur der Billigkeit, dass sie eine Begradigung des Gesetzes darstellt, wo dieses zu kurz greift aufgrund seiner Allgemeingültigkeit. Daran liegt es auch, dass nicht alles gesetzmäßig ist, weil man über manche Dinge kein Gesetz erlassen kann und es der Abwägung bedarf.“53

In der Rhetorik ist dieser Fall als controversia ex scripto et sententia bekannt. Cicero erklärt: „Eine Kontroverse zwischen Buchstaben und Geist des Gesetzes entsteht dann, wenn der eine sich an den Wortlaut klammert, der andere aber dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers folgt.“54 Der Sache nach geht es Cicero in dem zitierten Abschnitt um das Problem der Billigkeit, der aequitas.55 Die aequitas-Forderung, wie der Rhetor Cicero sie erhebt, ist zunächst an den Gesetzgeber gerichtet und hatte für die Gesetze selbst zu gelten. Im nächsten 49 50 51 52 53

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Sen. clem. 2,5,2. Sen. clem. 2,7,1. Sen. clem. 2,7,3. Aristot. rhet. 1374a13: „τὸ γὰρ ἐπιεικὲς δοκεῖ δίκαιον εἶναι, ἔστιν δὲ ἐπιεικὲς τὸ παρὰ τὸν γεγραµµένον νόµον δίκαιον.“ (Übers.: BAIER). Aristot. eth. Nic. 1137b26–29: „καὶ ἔστιν αὕτη ἡ φύσις ἡ τοῦ ἐπιεικοῦς, ἐπανόρθωµα νόµου, ᾗ ἐλλείπει διὰ τὸ καθόλου. τοῦτο γὰρ αἴτιον καὶ τοῦ µὴ πάντα κατὰ νόµον εἶναι, ὅτι περὶ ἐνίων ἀδύνατον θέσθαι νόµον, ὥστε ψηφίσµατος δεῖ.“ (Übers.: BAIER). Cic. inv. 2,121: „Ex scripto et sententia controversia consistit, cum alter verbis ipsis quae scripta sunt utitur, alter ad id quod scriptorem sensisse dicet omnem adiungit dictionem.“ (Übers.: BAIER). Der Begriff begegnet in Cic. inv. 2,136: „quod semper is, qui contra scriptum dicet, aequitatis aliquid afferat oportet.“ Vgl. BÜCHNER 1957: 87–89; FUHRMANN 1971: 70.

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Schritt bezieht sie sich aber auch auf deren Auslegung vor Gericht. Entsprechend hat Pringsheim ihr zwei Funktionen zugewiesen: Auf der Ebene des Gesetzgebers bringe sie neue Rechtsgrundsätze hervor oder beziehe ethische, religiöse und politische Normen in die Rechtsordnung mit ein; auf der Ebene der Rechtsauslegung vermittle sie zwischen der abstrakten Regel und dem besonderen Fall.56 Kaser deutet sie als „abwägende, Gleiches mit Gleichem vergeltende Gerechtigkeit“,57 Wieacker, dessen Urteil in der Perspektive der hellenistischen Philosophie steht, sieht in ihr zunächst „quantitative Gleichheit, also Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa), sodann Verhältnismäßigkeit von Tat und Vergeltung […], allgemeiner von Grund und Folge rechtlicher Verhältnisse, also iustitia distributiva, und endlich ganz allgemein Billigkeit schlechthin. Mit alldem ist aequitas ebenso Anforderung an das Verhalten der Rechtsgenossen wie an Gesetzgebung, Jurisdiktion und Urteilertätigkeit.“58

Die Auslegungslehre im Sinne Ciceros weist der Billigkeit die Aufgabe zu, gegen den Wortlaut des Gesetzes durch Berücksichtigung des Sachverhaltes eine gerechte Entscheidung herbeizuführen. Dies setzt keineswegs einen radikalen Zweifel an der Sinnhaftigkeit des positiven Rechts voraus. Im Gegenteil: Aequitas ist als Teil der iustitia die Weiterführung des Rechts und seine Anpassung an den speziellen Fall.59 Eben diesen ‒ gut eingeführten ‒ aequitas-Begriff scheint Seneca nun zu gebrauchen, um die Milde theoretisch zu begründen.60 So kann er, kurz bevor die Schrift abbricht, formulieren: „Güte (clementia) leistet vor allem dies: Sie erklärt, dass diejenigen, die sie entlässt, nichts anderes hätten erleiden dürfen. Sie ist ehrenhafter und vollständiger als Gnade (venia).“61

Vermutlich sollte dieses Vorgehen die misstrauische Öffentlichkeit beruhigen, blieb doch scheinbar alles beim Alten. In Wahrheit enthüllt Seneca einen wesentlichen Zug des Prinzipats. Unter dem Anschein der Restitution wurde die Ordnung auf den Kopf gestellt. War die epieikeia bzw. aequitas vorher ein Ermessensspielraum, der im Ringen um die angemessene Beurteilung bald mehr, bald weniger ausgeschöpft wurde, bleibt diese Einschätzung nun dem princeps vorbehalten. Die Einkleidung in ein altes Gewand lässt das Neue vertraut erscheinen und verbirgt dessen Sprengkraft. Insofern kann man das zweite Buch von De clementia auch als Prinzipats-Propaganda lesen. Der Herrscher ist nicht mehr an das Gesetz gebunden, sondern er wird, gemäß einer Prägung des Diotogenes, selbst zum Gesetz – zum νόµος ἔµψυχος (nomos empsychos), zu einem belebten Gesetz, das den Einzelfall immer schon mitbedenkt. Hier ist nun der Milde ebenso wie der Willkür Tür und Tor geöffnet. Den 56 57 58 59 60 61

PRINGSHEIM 1961: 160–162 und FUHRMANN 1971: 71. KASER 1971: 194. WIEACKER 1988: 507. Vgl. FUHRMANN 1971: 75–76. Ausführlich dazu ADAM 1970: 45–48, 82, 101. Sen. clem. 2,7,3: „clementia hoc primum praestat, ut quos dimittit nihil aliud illos pati debuisse pronuntiet: plenior est quam venia, honestior est.“ (Übers.: BAIER).

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Schlüssel hatte Cicero geliefert: In seiner am Ende des Lebens sicher idealistisch gemeinten Handreichung für angehende Politiker hatte er emphatisch honestum und utile vereint, allerdings in der Weise, dass man das honestum erstreben müsse, das utile stelle sich dann ein. Seneca macht Nero klar, dass das utile nur im Kleide des honestum zu erlangen ist. Die Gewichtung hat sich deutlich verschoben: Cicero hatte den Blick auf das honestum gelenkt, Seneca auf das utile. Clementia ist ursprünglich eine Tugend, die im Umgang mit äußeren Feinden eine Rolle spielte. Einem unterlegenen Gegner gegenüber konnte man Milde walten lassen oder eben nicht. Die Ausübung von Nachsicht lag im Ermessen des Siegers. Cicero zählt eine finstere Galerie berüchtigter Tyrannen auf – nicht ohne einen gehörigen Seitenhieb auf Caesar – und kommt dann ziemlich unvermittelt auf die Außenpolitik zu sprechen: „externa libentius in tali re quam domestica recordor“; sodann legt er dar, dass die Römer sich nach Möglichkeit als milde Sieger erwiesen hätten: „exitus erant bellorum aut mites aut necessarii“.62 Stets hätten die Römer aequitas und fides gegenüber Bündnern walten lassen. Der Tenor der Stelle ist: Was in den Außenbeziehungen üblich war, gehört mittlerweile nicht einmal mehr im Inneren zum guten Ton. Damit hat er aber bereits die getrennten Bereiche zusammengebracht und die Vorlage für Senecas Argumentation geliefert. 4 SALLUST Mit ähnlichen Worten wie Cicero äußert sich Sallust im Rom-Exkurs, der gewissermaßen eine laus temporis acti ist: Als Merkmal des Zusammenlebens im Frieden führt Sallust an: „dass sie mehr durch Wohltaten als durch die Verbreitung von Angst die Herrschaft ausüben und, war ihnen Unrecht geschehen, es lieber verziehen als unnachsichtig zu verfolgen.“63

Hier erregt zunächst die Alternative beneficium oder metus Verwunderung. Beneficium ist ein Fachbegriff der Rechtssprache.64 Er bezeichnet eine Sonderregelung im Sinne eines Privilegs und kann Einzelpersonen durch einen Magistrat ‒ oder den König ‒ gewährt werden. Das beneficium hat den Status eines ius singulare, stellt mithin eine Ausnahme dar, unterläuft die leges oder steht neben ihnen. Dazu passt nicht zuletzt der ebenfalls im Rom-Exkurs geäußerte Gedanke, „nach Erleiden eines Unrechts lieber Verzeihung als Rache üben zu wollen“ („accepta iniuria ignoscere quam persequi malle“).65 Ignoscere erfordert wie das beneficium ein Abweichen vom Gesetz und steht im Widerspruch zur severitas, der strengen Auslegung der Gesetze, die für alle gleich sein sollen. Doch ist nicht diese der Gegenbegriff, den Sallust ihr entgegenhält, sondern der metus. Wieder wird ein 62 63 64 65

Cic. off. 2,26. Sall. Catil. 9,5: „quod beneficiis magis quam metu imperium agitabant et accepta iniuria ignoscere quam persequi malebant.“ (Übers.: BAIER). KASER 1971: 211–212. Sall. Catil. 9,5. (Übers.: BAIER).

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zumindest ambivalentes Konzept – ignoscere – durch die Juxtaposition mit einem eindeutig negativen Begriff aufgehellt. Was bedeutet metus, der in Parallele zu persequi steht, in der Sphäre des Rechts, um die es hier augenscheinlich geht? Persequi heißt, eine Anklage im Sinne und nach den Regeln des Rechts durchführen und zu Ende bringen. Lucilius verwendet persequi in einem Hendiadyoin mit nomen deferre.66 Cicero bezeichnet sein Vorgehen gegen Verres in der zweiten Verrine als „legibus aut iudiciali iure persequi“.67 Er betont damit die unbedingte Gesetz- und Rechtmäßigkeit dieser Anklage und stellt an der zitierten Stelle sein legales Vorgehen der unerhörten Rücksichtslosigkeit des Angeklagten gegenüber. An anderer Stelle dient derselbe Begriff dazu, das Verfahren dem Stigma eines persönlichen Rachefeldzuges zu entziehen.68 Sallusts Alternative wertet auch hier ein weiteres Mal die Legalität, die in persequi zum Ausdruck kommt, gegenüber einer mit dem Markenzeichen des ignoscere versehenen Kadi-Justiz ab. Denn metus, Angst, sei die Alternative zur Verzeihung. Die Furcht vor Strafe, wie sie einer funktionierenden Rechtsordnung entspringt, wird diffamiert als ein Zustand allgemeiner Angst. Sallust vermischt in unzulässiger Weise unterschiedliche Konzepte, indem er das strenge Verfahren (persequi) mit Gnadenlosigkeit oder Unbarmherzigkeit gleichsetzt. Dazu passt es vorzüglich, dass er den ‚Muster-Römern‘ der Vergangenheit ein Rechtsempfinden zuspricht, das genau dem von Seneca propagierten entspricht: „ius bonumque apud eos non legibus magis quam natura valebat“: „Was recht und gut ist, galt bei ihnen nicht durch Gesetze, sondern von Natur aus.“69 Hier wird ein Gegensatz konstruiert zwischen positivem Gesetz und natürlichem Rechtsempfinden, wobei letzteres als überlegen erscheint. Die gesetzte Rechtsordnung dagegen ist ein Merkmal der Gegenwart und wird gleichsam zum Symptom des Sittenverfalls. Die kontrastierende Gegenüberstellung von natura und lex lässt den Vertrauensverlust erkennen, den die herkömmlichen Regeln erlitten haben. Caesar selbst argumentiert bei Sallust in seiner großen Rede im Senat, man sei gegen äußere Feinde nie so weit gegangen, wie es rechtlich möglich gewesen wäre („quid […] iure fieri posset“),70 das heißt, man habe zugunsten der Besiegten stets Ausnahmen vom Recht gemacht.

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Lucil. 920 Marx. Cic. Verr. 2,4,47. Cic. Verr. 2,15. Sall. Catil. 9,1. (Übers.: BAIER). Sall. Catil. 51,6. Dass dieses Verhalten dem des historischen Caesar genau entsprach, zeigt sich an mancher von dessen Äußerung, z. B. Sall. Catil. 1,23,3 (nach der Einnahme von Corfinium). Wie herablassend Cicero in dieser Lage Caesars Milde empfand, belegt Cic. Att. 9,2a,1: „Supplicandum igitur? Miserum.“.

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5 FAZIT Der eingangs zitierte Lucan hatte wie später Tacitus die Angewohnheit, vor allem das Schlechte im Menschen zu sehen und Caesars sprichwörtliche Milde entsprechend entlarvt. Er dokumentiert damit eine Entwicklung, die sich bereits bei Cicero andeutet. Dieser hatte in De officiis versucht, durch Charakterbildung des Politikers zu ersetzen, was die staatliche Ordnung nicht mehr garantieren konnte, in den Caesarischen Reden wollte er den Diktator zur Milde verpflichten. Er sah sehr deutlich, dass Milde, so erfreulich sie im Einzelfall sein kann, dennoch Willkür bedeutet. Sallust spielte ebenfalls beneficium und ignoscere gegen strenge Rechtlichkeit aus und wollte darin bereits einen Zug der Frühzeit erkennen. Seneca schließlich überhöhte die Milde philosophisch und versuchte, sie aus der römischen Rechtstradition, mithin dem Konzept der aequitas, zu erklären.71 Was war damit gewonnen? Erstens wollte er Nero erziehen und zweitens, sollte er scheitern, der Öffentlichkeit zeigen, dass es nicht am Lehrer liegen konnte. Alle Autoren verfolgen aber einen Gedanken: gute Herrschaft als eine gute Investition zu ‚verkaufen‘. Die Ausführungen sollten verdeutlicht haben, dass die zeitgenössische Debatte über die Milde des Herrschers stets im Lichte der römischen Tradition geführt wurde: Die Gegner empfanden clementia als unerhört und ‚unrömisch‘, die Befürworter suchten sie in vorhandenen Konzepten zu verankern und in einen bestehenden Ordnungsrahmen einzufügen. Ist also clementia Teil eines ‚großen Trends zur Monarchie‘?72 Oder handelt es sich vielmehr um einen Wertbegriff, der eigentlich den Handlungsrahmen eines Einzelherrschers vorgibt, von seinen Verteidigern aber in einen republikanischen Diskurs eingeordnet wurde?73 Ich vermute letzteres: „Handlungsrahmen und Diskurs“ waren dabei „weitgehend entkoppelt“,74 bzw. die Tugend der Milde wurde von den Akteuren jeweils in ein Narrativ eingebunden, das ihrer Argumentation diente. Dies beförderte die Neigung, aus clementia politisches Kapital zu schlagen.

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Dieser von FUHRMANN 1963 erstmals dargelegte Gedanke darf heute als herrschende Meinung gelten, vgl. z. B. GRIFFIN 2003: 182, die ihre Betrachtung über die ‚Milde nach Caesar‘ mit dem Ergebnis abschließt: „Seneca sought increasingly to transform the concept [sc. of clementia] into an ideal of rational benevolence to be exercised by the whole ruling class in which the Princeps was firmly included.“. Vgl. JEHNE 2009: 11f.: „Jede Handlung hat also Folgen, aber nicht notwendig Folgen für den großen Trend. Wenn ein Zustand erreicht ist, in dem der große Trend in seiner Entwicklungsrichtung überhaupt […] nicht mehr beeinflusst werden kann, sprechen die Historiker von einem autonomen Prozess.“ Vgl. MEIER 2014: 13: „Ich gehe davon aus, dass sich in Rom bereits zur Zeit Caesars eine monarchische Ordnung zu etablieren begonnen hatte […]: Während der Handlungsrahmen entsprechend der Transformation der übergreifenden Ordnung zunehmend durch monarchische Elemente angereichert wurde, blieb der Diskurs […] an einem Punkt stehen, der weiterhin die Republik als Ausgangsbasis, Hintergrund und Möglichkeit voraussetzte.“ EBD.: 14.

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OPORTET EX FIDE BONA Moral als Kategorie römischer Rechtsprechung Christian Rollinger „In der Tat, beim Herkules, wessen Vermögen nach dem Edikt der Beschlagnahme verfällt, dessen Ruf und Ansehen wird insgesamt zugleich mit dem Vermögen beschlagnahmt; über wen man an den belebtesten Orten Bekanntmachungen anbringt, dem ist nicht einmal erlaubt, still und verborgen zu sterben; wenn man Konkursverwalter gibt und Gebieter bestimmt, die über Gesetz und Bedingung seines Untergangs befinden sollen, wen die Stimme des Ausrufers ankündigt und für wen sie einen Kaufpreis bestimmt, dem wird, einem Lebenden und Sehenden, ein bitterböses Leichenbegräbnis angezeigt, wenn man das für ein Leichenbegräbnis halten darf, wozu nicht die Freunde sich versammeln, um dem Trauerzug Ehre zu erweisen, sondern die Aufkäufer der Konkursmasse, um Henkersknechten gleich die Überbleibsel des Lebens zu zerteilen und Stück für Stück zu liquidieren.“1

Mit diesen Worten wollte ein ehrgeiziger junger Advokat – Cicero – im Jahre 81 v. Chr. seinen Mandanten vor einer Verurteilung in einem zivilrechtlichen Prozess bewahren. Es ist für einen privatrechtlichen Vermögensstreit eine drastische Sprache, selbst wenn man die unvermeidliche Polemik von Ciceros Gerichtsreden in Rechnung stellt. Die dramatischen Formulierungen hängen aber direkt mit der Natur des Rechtsstreits und der Grundlage der Auseinandersetzung zusammen, denn er redet hier von einer Strafe – der Infamierung –, die typisch für eine spezifische Kategorie des römischen Zivilrechts ist: die iudicia bonae fidei. Bevor im Folgenden die Spezifika dieser Prozessform, die nur bei ganz bestimmten Tatbeständen von Zivilrechtsklagen zur Anwendung kam und eine sehr besondere Form der Sanktion zur Folge hatte, kurz erläutert werden, ist es angebracht, noch einige allgemeine Worte zu verlieren. Die iudicia bonae fidei sind eine von der Romanistik wiederholt und mit großem Eifer untersuchte Prozessform, deren Entstehung und Entwicklung aber weiterhin ebenso umstritten sind wie einzelne, im Detail streng legalistische, Fragen zu ihrem Wesen und ihrer Anwendung. Dies gilt im Besonderen für die Zeit der Republik, da sich hier nur wenige und verstreute Hinweise in den Quellen finden. Dagegen ist die spätere Überlieferung in den Rechtslehrbüchern der klassischen Zeit und den spätantiken 1

Cic. Quinct. 50: „Ergo hercule, cuius bona ex edicto possidentur, huius omnis fama et existimatio cum bonis simul possidetur; de quo libelli in celeberrimis locis proponuntur, huic ne perire quidem tacite obscureque condeditur; cui magistri fiunt et domini constituuntur, qui qua lege et qua condicione pereat pronuntient, de quo homine praeconis vox praedicat et pretium conficit, huic acerbissimum vivo videntique funus indicitur, si funus id habendum est quo non amici conveniunt ad exsequias cohonestandas, sed bonorum emptores ut carnifices ad reliquias vitae lacerandas et distrahendas.“ (Übers.: FUHRMANN).

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Rechtskodifikationen deutlich gehaltvoller und so beschäftigen sich viele Studien zum Thema auch eher mit den iudicia bonae fidei in nachrepublikanischer Zeit. Uns soll im Folgenden aber genau die Zeit der späten Republik interessieren, da wir in den verschiedenen Schriften Ciceros einen ganz eigenen Zugang zur Thematik finden. Es sollte weiterhin betont werden, dass es sich bei den iudicia bonae fidei nur scheinbar um ein rein juristisches Problem handelt, wiewohl sie von der althistorischen Forschung bislang so gut wie überhaupt nicht thematisiert wurden. Man mag darin eine Folge der von WOLFGANG SCHULLER vielleicht etwas scharf konstatierten „generelle[n] Rechtsfremdheit“ der neueren Alten Geschichte sehen, die die Problematisierung der römischen Rechtsgeschichte gerne den Rechtshistorikern überlässt.2 Aber das römische Recht ist durchaus eng mit der Geschichte des römischen Staates verbunden und es mag uns bisweilen dabei helfen, bestimmte Zusammenhänge genauer zu sehen, als dies bislang der Fall war. Wenn also im Folgenden ein Althistoriker auf dem Feld der Romanisten zu dilettieren scheint, dann nicht im Bestreben, die mittlerweile Jahrhunderte alte Beschäftigung mit den iudicia bonae fidei aus rechtshistorischer Sicht zu revolutionieren. Vielmehr sollen ihre Besonderheiten aus sozial- und kulturhistorischer Perspektive betrachtet werden: Denn es handelte sich bei ihnen keinesfalls um rein legale Handlungen, ihre Bedeutung blieb nicht auf den rein juristischen Bereich beschränkt. Die Konsequenzen einer Verurteilung in einem iudicium bonae fidei waren weit mehr als nur rechtlicher Natur – es war auch eine explizit moralische Verurteilung des Angeklagten mit gesellschaftlichen Konsequenzen. Wer die bona fides verletzte, beging einen eklatanten Normenverstoß, welcher für den Schuldigen sozial exkludierend wirkte, und es sind eben jene gesellschaftlichen Folgen, die Cicero in dem oben Zitierten so eindringlich schildert. Die empfundene Schärfe der öffentlichen Demütigung resultierte aus der besonderen Bedeutung und den spezifischen Konnotationen, welche die römische Gesellschaft dem Prinzip der fides bzw. ihrer legalistisch definierten Verwandten, der bona fides, attestierte. Sie war weit mehr als die heute noch im Rechtsumgang gebräuchliche Floskel ‚Treu und Glauben‘ auszudrücken vermag. Die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und legalen Entwicklungen zu betrachten, ist aber eindeutig (auch) Aufgabe des Historikers. 1 FIDES Fides war, obwohl man sie auch als völkerübergreifend verstand, ein spezifisch römisches Konzept. Als Kardinalnorm der römischen Gesellschaft – als Teil der römischen ‚Moral‘ – war ihre Bedeutung immens und ihr Wirken beschränkte sich nicht auf einzelne Bereiche, sondern durchzog praktisch alle Bereiche römischen Zusammenlebens und stand „im Zentrum der politischen, sozialen und 2

SCHULLER 2002: 90. Dies freilich in einem Beitrag zur Festschrift für JOCHEN BLEICKEN, der sich um die Verbindung von Rechts- und Alter Geschichte verdient gemacht hat, wie auch SCHULLER ausdrücklich zugesteht (siehe EBD.: Anm. 1).

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rechtlichen Ordnung Roms.“3 Sie wirkte besonders in Bindungsverhältnissen, in durch Loyalität und Gegenseitigkeit geprägten Beziehungen, sowohl ‚privat‘ als auch ‚öffentlich‘, vereinzelt oder verallgemeinert.4 Sie war das Fundament aller römischen Nahbeziehungen, vom Gastrecht über das Patronageverhältnis von patronus und cliens, bis hin zu den amicitiae der Oberschicht. Gerade bei Letzteren spielte sie eine besondere Bedeutung, ermöglichte sie doch erst die spezifisch aristokratische Beziehungsart, die den Römern als amicitia bekannt war, und die mit ‚Freundschaft‘ zu übersetzen ihrer eigentlichen Gestalt nur unzureichend Genüge tut. Ohne fides gab es keine menschliche Gemeinschaft und, wie Cicero in einem in diesem Kontext häufig zitierten Satz sagt, genau wie eine Stadt ohne Hafen keine Schiffe aufnehmen kann, so kann auch ein Mensch ohne Treue kein zuverlässiger Freund sein.5 Die fides bildet das Fundament der Festigkeit (stabilitas) und Unwandelbarkeit (constantia), die in einer Freundschaft zu suchen seien.6 Es ist dies aber nicht mehr als die erneute Bestätigung eines schon durch sein Alter geheiligten Prinzips. Auch in früheren Jahrhunderten war in Rom die passendste Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit eines guten Freundes stets, er solle tüchtig, rechtschaffen, zuverlässig und mit viel Treue ausgestattet sein („probus et fidelis et fidus et cum magna fide“). 7 In Ciceros Pflichten- und Freundschaftslehre kommt der fides dann auch wenig überraschend eine entscheidende Stellung zu. Sie wird hier aber gleichsam von einer passiven Charaktereigenschaft zu einer aktiven Tugend: Sie zeigt sich in der Tat des handelnden Menschen, sie muss geleistet, gezeigt und – nicht zuletzt – bezeugt werden. Diese erwartete Zuverlässigkeit bildete auch den Grundstock für die spezifisch rechtlich bedeutsame bona fides, die sich als ‚Treu und Glauben‘ wohl im Laufe des 3. und 2. Jhs. v. Chr. aus der moralisch-ethisch begründeten fides entwickelte. Dies soll keineswegs so verstanden werden, dass das Konzept vor diesem Zeitpunkt keinen Einfluss in der römischen Rechtsgeschichte gehabt hätte. Denn bewahrte sich die Erwartungshaltung nämlich nicht, wurden Verstöße gegen die fides bereits in früher Zeit auch per Gesetz schwer sanktioniert. So fin3

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PÖSCHL 1980: 3; vgl. aber leicht warnend HÖLKESKAMP 2004: 107: „Dieses Wort ist das wahrscheinlich am häufigsten gebrauchte und sicherlich am meisten strapazierte Konzept der moralischen und politisch-sozialen Begriffswelt der Römer.“ Es ist hier nicht der Platz, die Gesamtheit der althistorischen Forschung zur fides zu resümieren; die wichtigsten Beiträge sind OTTO 1909; FRAENKEL 1916; DERS. 1926; HEINZE 1929; PÖSCHL 1980; FREYBURGER 1986; HÖLKESKAMP 2004. Vgl. auch HELLEGOUARC’H 1963: 23–40 sowie ROLLINGER 2014: 101–121. Jüngst hat HARDERS 2014: 92 geschlechtsspezifische Probleme bei der Anwendbarkeit der fides herausgearbeitet, ein Konzept welches „unter anderem die Wertigkeit von politisch agierenden Bürgern beschreibt“. Cic. inv. 1,47: „Denn wie ein Ort ohne Hafen für Schiffe nicht sicher sein kann, so kann auch ein Herz ohne Treue Freunden keinen festen Halt bieten.“ / „nam ut locus sine portu navibus esse non potest tutus, sic animus sine fide stabilis amicis non potest esse.“ (Übers.: NÜßLEIN). Cic. Lael. 65: „Stütze der Unwandelbarkeit und Festigkeit, die wir in der Freundschaft suchen, ist die Treue; denn wo die Treue fehlt, kann es keine Festigkeit geben.“ / „Firmamentum autem stabilitatis constantiaeque est eius, quam in amicitia quaerimus, fides; nihil est enim stabile, quod infidum est.“ (Übers.: FALTNER). Plaut. Trin. 1096.

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den sich bereits in dem ältesten erhaltenen Rechtstext der römischen Geschichte, dem Zwölftafelgesetz, explizite Hinweise auf die Bedeutung der fides, wenn nämlich die Treuverletzung oder der Betrug (fraus) eines patronus gegenüber eines cliens pönalisiert wird („patronus si clienti fraudem fecerit, sacer esto“). 8 Fides, in ihrer archaischen Form als ‚potestative fides‘, war die Grundlage der Patronatsbeziehung, die darauf basierte, dass sich der cliens der potestas und fides des patronus unterwarf.9 Wie HÖLKESKAMP in einem Beitrag zur Historisierung der fides-Beziehungen dargelegt hat, war es ein inhärentes Charakteristikum der für das Patronat grundlegenden und von Manfred Fuhrmann so genannten ‚postestativen fides‘, dass diese im Kern asymmetrisch war und immer bleiben musste. Das hierarchische Machtgefälle war deutlich: „Der patronus ist der Träger der fides, der Client begibt sich nur in dieselbe (in fidem se dare; in fidem venire)“.10 In dieser Selbstübergabe in die fides eines Patrons war ein nahezu vollkommener rechtlicher und sozialer Machtverlust impliziert, wenngleich der Unterlegene diesen Machtverlust durch seine eigene Unterwerfung erst begründen musste.11 Die Wirkungsmacht des mos maiorum und die Allgegenwärtigkeit fideshaltiger Beziehungen führte allerdings dazu, dass die zwar asymmetrische, aber immer reziproke Beziehung zwischen Klient und Patron gesellschaftlich reglementiert wurde. Die fides – ursprünglich ein Ausdruck von Machtverhältnissen – wurde so durch etablierte Verhaltenshorizonte und gesamtgesellschaftliche Erwartungen moralisiert, wurde zu einem ethisch-moralischen Konzept: „Fides als Pflicht, ja Last, des Mächtigen, als Privileg des zu Schützenden, verdrängte fides als Macht und Gewalt.“12 Gleichsam am Beginn dieser Entwicklung, bevor ein solcher Bedeutungswandel einsetzte, standen allerdings die dominierende Macht des Patrons und ein deutliches Sanktionsunvermögen bei fides-Verletzungen durch diesen. An eine 8

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Bei Vergil (Serv. Verg. Aen. 6,608‒14) leiden treulose Patrone gemeinsam mit Vatermördern in der Unterwelt; das fides-Verhältnis zwischen Patron und Klient wird als der Verwandtschaft ebenbürtig oder gar höherwertig gesehen und daraus erklärt sich die Schwere der Strafe. Bei seinem Kommentar zu dieser Vergil-Stelle geht Servius dann auf die viel ältere Rechtstradition der Zwölf Tafeln ein. Zur Gleichstellung des Patronats mit Familienbanden vgl. auch Gell. 5,13,6; Gell. 20,1,40; ORF4 Nr. 8, frg. 200 (Cato maior). Auch bei Dion. Hal. ant. 2,10,3 wird die Sakration (hier anachronistisch schon für romulische Zeit als Weihe an den erst für das 3. Jh. v. Chr. belegten Kult des Zeus Katachthonios/Dis Pater konkretisiert) als Strafe für den Treuebruch innerhalb einer Patronatsbeziehung angeführt – bemerkenswerterweise galt diese Strafe allerdings für beide Seiten und in beide Richtungen. Der Begriff der ‚potestativen fides‘ geht auf FUHRMANN 1963 zurück, seine Rezension der grundlegenden Untersuchung des Romanisten LOMBARDI 1961 zur Entwicklung des fidesKonzepts. EBD.: 47 selbst sprach von „‚fides‘ come potere“. HÖLKESKAMP 2004b: 115. DERS. 2004a: 40f. deutet fides-haltige Treu- und Nahbeziehungen daher als „machtgesättigt“ und die fides selbst als ein Konzept, „das vor allem Macht und Gewalt des Übergeordneten, Überlegenen über einen Untergeordneten, Schwächeren bezeichnete“ (HÖLKESKAMP 2011: 213). LOMBARDI 1961: 62 geht sogar so weit, die semantischen Ursprünge der fides als Synonym von Begriffen wie dicio oder potestas zu sehen. HÖLKESKAMP 2004b: 116. EBD.: 117.

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juristische Einklagbarkeit der fides war zu diesem frühen Zeitpunkt nicht zu denken, im Gegenteil: Dionysios von Halikarnassos berichtet ausdrücklich, dass der Rechtsweg für beide Seiten ausgeschlossen war, und zwar sowohl durch Herkommen als auch durch ein gesetzliches Verbot.13 Da es also kein direktes Vorbild für eine juristische Belangung eines fides-Bruchs gab, musste Recht neu geschöpft werden. Darauf deutet nicht zuletzt die ursprünglich religiöse Natur der in den Zwölf Tafeln vorgeschriebenen Strafe – die ‚Weihung‘ des Schuldigen an die Götter, der damit vogelfrei wird – hin. Wir gehen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht fehl darin, in der Sakration des betrügerischen Patrons den ersten Schritt der Verrechtlichung der fides zu sehen. Die von den Zwölf Tafeln sanktionierte fraus wäre somit, wenn wir der traditionellen Datierung der römischen Annalistik folgen, ab etwa der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. das erste justiziable Vergehen, welches als Grund der Bestrafung den Bruch der fides impliziert – denn nichts anderes ist der Betrug des Klienten durch den Patron, da schließlich ihr gesamtes Verhältnis auf der fides beruhte.14 Ohne juristische Tradition, an der man sich hätte orientieren können, und eingedenk der Schwere des zu bestrafenden Vergehens, welches gegen das Herkommen verstieß und mit der fides eine der Grundfesten der römischen Gesellschaft mit Füßen trat, wussten sich die Zwölf Tafeln nur durch die ultima ratio der Sakration zu helfen. Damit hatte freilich eine Entwicklung eingesetzt, an deren Ende die fides als regelrechte juristische Kategorie wohl im Laufe des 3. und 2. Jhs. v. Chr. ihren Eingang in die römische Jurisprudenz fand. Als verrechtlichte und justiziable bona fides wurde sie zur einklagbaren Grundlage persönlicher Geschäftsbeziehungen und zum Merkmal einer eigenen Kategorie von Klagen im Rahmen des römischen Obligationsrechts: den iudicia bonae fidei.15 Diese Entwicklung lässt sich nur sehr schwer und in keinem Fall detailliert rechtshistorisch nachvollziehen

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Dion. Hal. ant. 2,10,3: „Κοινῇ δ᾿ ἀµφοτέροις οὔτε ὅσιον οὔτε θέµις ἦν κατηγορεῖν ἀλλήλων ἐπί δίκαις ἢ καταµαρτυρεῖν ἢ ψῆφον ἐναντίαν ἐπιφέρειν ἢ µετὰ τῶν ἐχθρῶν ἐξετάζεσθαι.“ / „Beiden gleichermaßen war es nach religiösem Recht ebenso wie per Gesetz untersagt, einander in Prozessen anzuklagen, gegeneinander auszusagen, gegeneinander zu stimmen oder unter den Feinden des jeweils anderen erwischt zu werden.“ (Übers.: WIATER). Zu der problematischen Darstellung früher fides-Verhältnisse (insbesondere der Klientel) bei Dionysios von Halikarnassos vgl. jetzt aber GANTER 2015. Liv. 3,33f. Etwas gänzlich anderes ist indes die Frage nach der Umsetzung dieser gesetzlichen Vorschrift: Dass mächtige Patrone für eventuelle Treueverstöße gegenüber ihren (im Vergleich) unbedeutenden Klienten allerdings jemals derart bestraft worden sein sollen, ist mehr als fraglich; vgl. WELWEI 2001: 222; DRUMMOND 1989: 90; ROLLINGER 2014: 25f. Inwiefern man auch schon für die (spät-)republikanische Zeit von einer eigenständigen Kategorie der iudicia bonae fidei sprechen sollte, ist unklar. Der Begriff selbst stammt erst aus klassischer Zeit; zur Zeit des Q. Mucius Scaevola und Ciceros scheint man sich mit Umschreibungen wie [iudicia] in quibus adderetur ex fide bona oder ähnlichem (Cic. off. 3,70; vgl. top. 66) beholfen zu haben. Vgl. dazu NAUMOWICZ 2009: 61: „Si les actions de bonne foie ne représentent pas encore une catégorie bien réfléchie de la procédure formulaire à l’époque républicaine, c’est sans doute avant tout parce que la systématisation générale du ius ciuile est encore faiblement avancée“.

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und soll daher hier nur kurz anschließend skizziert werden;16 da sie zudem wahrscheinlich eng mit der Genese der angesprochenen iudicia bonae fidei verbunden ist, sollen beide Aspekte kurz gemeinsam besprochen werden. Es überrascht indes nicht – schon alleine aufgrund der komplexen juristischen Sachverhalte –, dass sich bisher vor allem die romanistische Rechtsgeschichte mit den iudiciae bonae fidei befasst hat, während sie von historischer oder sozialhistorischer Seite aus weitgehend unbeachtet blieb.17 2 BONA FIDES UND DIE IUDICIA BONAE FIDEI Als iudicia bonae fidei werden all jene Fälle des Zivilrechts bezeichnet, deren Klageformeln die floskelhafte Wendung ex bona fide beinhalteten, wobei die Formulierung gewissen Variationen unterworfen ist.18 In den iudicia bonae fidei wurden konkret Fälle verhandelt, in denen es der Beklagte unterlassen hatte, das zu leisten, was er – in heutigem Sprachgebrauch19 – ‚nach Treu und Glauben‘ zu leisten schuldig gewesen wäre („quidquid dare facere oporteret ex fide bona“).20 Von Cicero, der wiederum den Rechtsgelehrten Quintus Scaevola zitiert, liegt in de officiis der zeitlich früheste Hinweis auf die juristische Wirksamkeit der bona 16

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Die grundlegende rechtshistorische Arbeit von LOMBARDI 1961 zu eben diesem Thema kommt zu keiner tragbaren Rekonstruktion des historischen Wandels der fides von gesellschaftlicher Norm hin zum juristischen Begriff; vgl. dazu NÖRR 1991: 43. Es sollen kurz die wichtigsten Beiträge aufgeführt werden: Trotz seines hohen Alters grundlegend bleibt weiterhin KRÜGER 1890. Zum Ursprung der iudicia siehe WIEACKER 1963; TURPIN 1965; PLATSCHEK 2010; PARICIO 2011. Vor allem rechtshistorisch relevant und weniger mit der Frage nach der Genese beschäftigt sind Detailuntersuchungen von DAJCZAK 1996; DERS. 1997; DERS. 1999; DERS. 2000; FIORI 1998/1999; DERS. 2011; FACCO 2013. Einen wenigstens teilweise sozialhistorischen Einschlag hat ferner FIORI 2008. NÖRR 1993 geht nicht hauptsächlich auf die iudicia ein, streift sie aber im Rahmen genereller Überlegungen zum Zusammenhang des mandatum (welches wohlgemerkt unter die iudicia bonae fidei fällt) mit fides und amicitia. So etwa Cic. top. 66 („eis iudiciis, in quibus ex fide bona est additum“); Cic. off. 1,61 und Val. Max. 8,2,1 geben eine identische Formel wieder („quidquid sibi dare facere oporteret ex fide bona“). Bei den klassischen Juristen findet sich schließlich die genaue, ‚rechtswissenschaftliche‘ Formel wieder: Gai. inst. 4,47 („quidquid ob eam rem […] dare facere oportet ex fide bona“); Dig. 44,7,2,3 (Gaius) („quod alterum alteri ex bona fide praestare oportet“). KRÜGER 1890: 172–178 gibt eine Auflistung aller Fundstellen vor allem in den Rechtsquellen. Auch die epigraphisch überlieferte lex Rubria de Gallia Cisalpina gibt den Gebrauch einer solchen Formel in einem beispielhaft angeführtem Rechsstreit wieder (cap. 20,27f., der Edition von BRUNA 1972 folgend: „tum quicquid eum Q. Licinium ex ea stipulatione L. Seio dare facere oporteret ex fide bona“). Vgl. aber Cic. nat. deor. 3,74, wo von „iudicia de fide mala“ die Rede ist. ‚Heutig‘ deshalb, weil die bona fides als ‚Treu und Glauben‘ auch in modernen Rechtssystemen immer noch eine große Bedeutung im Zivilrecht beansprucht, so etwa im Bürgerlichen Gesetzbuch, am augenfälligsten bei §242: „Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“ Vgl. aber unter anderem auch §§135f., 161, 172, 932 sowie dazu systematisch CARDILLI 1997. Für einen ebenso fundierten wie knappen Überblick siehe KASER/KNÜTTEL 2014: 192–194.

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fides vor, die vor allem in denjenigen Geschäfts- oder Personenbeziehungen, die im Kern auf dem Konzept der fides beruhten und ex bona fide geschlossen wurden, zur Anwendung kam.21 In späterer Zeit erwähnt Gaius in seinen Institutionen weiterhin die Klage auf Herausgabe der dos (actio rei uxoriae) als iudicium bonae fidei.22 Den genauen Ursprung dieser iudicia bonae fidei zu bestimmen, gestaltet sich als nahezu unmöglich. Sie sind aber in jedem Fall mit der Entwicklung des Formularprozesses verbunden, der sich spätestens im Laufe des 2. Jhs. v. Chr. endgültig in der römischen Rechtspraxis etabliert hat. Daher müssen wir auch über die generelle Entwicklung römischer Rechtsprechung von den Zwölf Tafeln bis in die Zeit der späten Republik einleitend ein paar Worte verlieren. Im Bereich des Zivilrechts fanden die Verhandlungen nicht vor den großen Geschworenengerichten, sondern in zwei Stufen zuerst vor dem zuständigen Prätor (in iure) und anschließend vor einem eigens bestimmten Richter (apud iudicem) statt.23 Im Laufe des 2. Jhs. v. Chr. wurden die bewährten, auf die Zwölf Tafeln zurückgehenden, aber umständlichen und unhandlichen Legisaktionen zunehmend durch die weitaus bequemer und flexibler zu handhabenden Formularprozesse ergänzt und schließlich weitgehend abgelöst.24 Dieser Prozess gipfelte in der lex Aebutia de formulis aus der Mitte des 2. Jhs. v. Chr., von der wir allerdings weder das genaue Datum noch den Verfasser kennen.25 Der Formularprozess 21

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Cic. off. 3,70: „in tutelis, societatibus, fiduciis, mandatis, rebus emptis, venditis, conductis, locatis, quibus vitae societas contineretur.“ Eine grundlegende Schwierigkeit bei der Einschätzung der iudicia bonae fidei aus historischer Sichtweise besteht darin, dass die uns zur Verfügung stehenden Quellen aus mehreren Jahrhunderten stammen, vom frühesten Hinweis bei Cicero, über die klassischen Juristen bis hin zu den spätantiken Rechtskodifikationen des Corpus Iuris Civilis. Zumindest an der Essenz der iudicia ändert sich indes nichts, wie ein Vergleich der zwei anderen uns hauptsächlich erhaltenen Auflistungen (Gai. inst. 4,60 und Inst. Iust. 4,6,28) zeigt. Sie geben im Kern die gleichen Fälle wieder wie Cicero, in den spätantiken Institutionen des Justinian wird die Aufzählung allerdings noch erweitert. Gai. inst. 4,60. Zum Zivilrecht (ius civile) allgemein siehe KASER 1971: 198–202 sowie WIEACKER 1988: 236–310. Zum Ablauf des Zivilprozesses siehe KASER 1966: 107–235 (in iure), 268–296 (apud iudicem). Zum Wesen des Legisaktionsprozesses siehe KASER 1966: 24–94. Vgl. dazu ELSTER 2003: 454–457 (Nr. 220). In der Tat wissen wir von der lex Aebutia lediglich durch die Testimonien des Aulus Gellius (Gel. 16,10,8) und des Gaius (Gai. inst. 4,30f.), welcher auch die Hintergründe des Reformprozesses schildert: „Sed istae omnes legis actiones paulatim in odium venerunt, namque ex nimia subtilitate veterum, qui tunc iura condiderunt, eo res perducta est, ut vel, qui minimum errasset, litem perderet.“ / „Aber all diese Spruchformelklagen wurden allmählich äußerst unbeliebt; denn aufgrund der übergroßen Spitzfindigkeit derer, die damals an der Rechtsbildung teilnahmen, kam es dahin, dass sogar jemand, der nur einen winzigen Fehler machte, den Prozess verlor.“ (Übers.: MANTHE). Gänzlich aufgehoben werden sollten die Legisaktionen freilich erst unter Augustus durch dessen wohl auf das Jahr 17 n. Chr. zu datierenden leges Iuliae iudiciorum publicorum et privatorum; vgl. ELSTER 2002: 455f. Weitgehend einig ist sich die Forschung aber darin, dass der Formularprozess durch die lex nicht erfunden, sondern lediglich nachträglich legitimiert, also schon vorher angewendet wurde. Vgl. z. B. KUNKEL 1939; TURPIN 1965; KASER 1966: 108.

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(agere per formulam) wurde vor seiner weiteren Verbreitung immer dort eingesetzt, wo eine oder beide der klagenden Parteien nicht über das römische Bürgerrecht verfügten, da in diesem Fall die Bestimmungen des schriftlich fixierten ius civile nicht greifen konnten.26 Speziell für solche Fälle hatte man das Amt des praetor peregrinus geschaffen, der sich aller Rechtsstreitigkeiten annahm, die Peregrine, also Nicht-Bürger umfasst, wohingegen sich der praetor urbanus um die Anwendung des ius civile in Form von Legisaktionen zu sorgen hatte. Die prätorische Rechtsschöpfung erfolgte auf Grundlage des den Prätoren (und kurulischen Ädilen) gegebenen Rechts, Verfügungen zu erlassen, nach denen sie ihre Rechtspflege zu gestalten dachten (ius edicendi)27: Der sein Amt neu antretende praetor definierte daher in einem Edikt jährlich Klagegründe und Klageformen, die er zum Prozess zuzulassen gedachte. „Aus der Notwendigkeit heraus, Fälle entscheiden zu müssen, für die es kein vorgeschriebenes Verfahren gab, ging er mit seiner Rechtsprechung neue Wege“28 und daraus entwickelte sich eine magistratische rechtsschöpferische Macht, deren Resultat das ius honorarium war.29 In der Theorie hatte zwar jeder neue Amtsinhaber die Möglichkeit, die im prätorischen Edikt versammelten Formeln zu verändern, neue zu schaffen oder alte zu verwerfen. Doch in der Praxis hatte sich das Edikt in spätrepublikanischer Zeit bereits weitgehend als edictum tralaticium verfestigt, bis es in klassischer Zeit unter Kaiser Hadrian als edictum perpetuum schließlich gänzlich unwandelbar wurde.30 Von Gaius wissen wir, dass sich der Formularprozess schnell großer Beliebtheit erfreute und rasch auch im Bereich der Bürgerprozesse Eingang gefunden hat. Damit geriet der Formularprozess aber auch unvermeidbar in den Amtsbereich des praetor urbanus, der rechtschöpferisch tätig werden musste, um entsprechende Klageformeln für Bürgerprozesse nach dem Formularverfahren bereitzustellen. Diese Formeln gingen auf unterschiedliche Quellen zurück, nicht zuletzt auf juristische Maßstäbe und Prinzipien des ius civile. War der praetor peregrinus an das Zivilrecht naturgemäß nicht im engeren Sinn gebunden, so galt dies zunehmend auch für den Formularprozess im Allgemeinen: Die Klagen konnten sich zwar auf das ius civile berufen, wenn nämlich aus Gründen der Vereinfachung formulae für auch zivilrechtlich einklagbare Tat-

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Vgl. TURPIN 1965; KASER 1966: 109–112; DERS. 1971: 447–462; WIEACKER 1988: 448–450. Siehe Gai. inst. 1,6, der das prätorische ius edicendi im Gegensatz zu demjenigen der Ädilen ausdrücklich als ius amplissimum bezeichnet. ELSTER 2003: 456. Vgl. dazu die spätere Definition durch Papinian (Pap. Dig. 1,1,7,1): „Prätorisches Recht ist das Recht, das die Prätoren im öffentlichen Interesse eingeführt haben, um das Zivilrecht zu unterstützen, zu ergänzen oder zu verbessern. Es wird auch als Amtsrecht [Honorarrecht] bezeichnet und ist nach dem Ehrenamt der Prätoren so genannt worden.“ / „Ius praetorium est quod praetores introduxerunt adiuvandi vel supplendi vel corrigendi iuris civilis gratia propter utilitatem publicam; quod et honorarium dicitur ab honore praetorum.“ (Übers.: BEHRENDS/KNÜTEL/KUPISCH/SEILER). Siehe dazu den Bericht in der justinianischen Const. Tanta 18. Immer noch grundlegend für das edictum perpetuum ist die Wiederherstellung von LENEL 1927.

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bestände geschaffen wurden (die sog. formulae in ius conceptae).31 Diese Kategorie nannte man in späterer Zeit actiones civiles, sie zeichnete sich durch die in der demonstratio enthaltene Klausel des dare oportere aus.32 Andere Formeln waren aber in factum conceptae, d. h. sie beinhalteten einen Tatbestand, der nach dem ius civile nicht justiziabel wäre.33 Den Sondercharakter der iudicia bonae fidei verdeutlicht ein dem Rechtslehrbuch des Gaius entnommenes Beispiel. Die individuelle formula, die im Formularprozess als Klagegrund fungierte, war eine durch den Prätor ausgestellte Vollmacht an den oder die Richter, einen Angeklagten zu verurteilen oder freizusprechen, je nachdem, ob der in der Formel erklärte Tatbestand erfüllt war oder nicht. Die inhärente Flexibilität des Formularverfahrens lag in der Befugnis des Prätors, die Formel nach seinem eigenen Gutdünken gestalten zu können. Die Besonderheit des Formularprozesses besteht darin, dass die formulae selbst wandelbar waren und auf den spezifischen Fall angepasst werden konnten – ganz im Gegenteil zu den älteren Legisaktionen. Der Magistrat war nicht mehr auf die sklavische Wiedergabe des geschriebenen Gesetzes beschränkt, sondern konnte in seinen formulae rezente Entwicklungen und praktische Realitäten berücksichtigen. Aus den gaianischen Institutionen wissen wir von der Idealgestalt einer solchen Formel.34 Wie im Falle der actiones civiles (zu denen die iudicia bonae fidei in späterer Zeit von den zur Systematisierung und Klassifizierung neigenden Juristen der 31

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Zu Klagen (actiones) nach diesen Formeln hatten aber entscheidenderweise auch Peregrine Zugang; sie leiteten sich zwar vom ius civile ab, mussten aber auf deren Unzulänglichkeiten keine Rücksicht nehmen. Jede Prozessformel besteht üblicherweise aus zumindest drei distinkten Teilen: der intentio, die das erwünschte Resultat des Klägers ausdrückt, der demonstratio, welche den konkreten Sachverhalt benennt, und der condemnatio, welche die Anweisung enthält, wann der Beschuldigte freizusprechen oder zu verurteilen ist (siehe dazu und zu weiteren, exzeptionellen Bestandteilen KASER 1966: 238–249). Erst das oportere (ob mit dem Zusatz ex fide bona oder nicht) begründet dabei in den formulae in ius conceptae die zivilrechtliche Haftung. Zu den unterschiedlichen Formeln in factum conceptae siehe WIEACKER 1988: 454–459. Gai. inst. 4,47: „Denn die folgendermaßen formulierte Klagformel ist auf die Rechtslage hin formuliert: ‚Der und der soll Richter sein. Da Aulus Agerius bei Numerius Negidius einen silbernen Tisch in Verwahrung gegeben hat, auf den geklagt wird, zu allem, was deswegen Numerius Negidius gegenüber dem Aulus Agerius geben oder tun muss nach Treu und Glauben, sollst Du, Richter, den Numerius Negidius dem Aulus Agerius verurteilen [, wenn er nicht herausgibt]; wenn es sich nicht erweist, sollst Du freisprechen.‘ “ / „Illa enim formula, quae ita concepta est: ‚Iudex esto. Quod Aulus Agerius mensam argenteam apud Numerium Negidium deposuit, qua de re agitur, quidquid ob eam rem Numerium Negidium Aulo Agerio dare facere oportet ex fide bona, eius C. Aquilius iudex N. Negidium A. Agerio condemnato. Si non paret absolvito, in ius concepta est.‘ “ (Übers.: MANTHE). Numerius Negidius bzw. Aulus Agerius sind Blankettnamen, die für die jeweiligen Parteien des Prozesses stehen sollen. In juristischen Schriften werden sie häufig abgekürzt und ebenso auch in der von Otto Lenel unternommenen Wiederherstellung des edictum perpetuum in Bezug auf die actio tutelae: Quod Ns Ns Ai Ai tutelam gessit, quidquid ob eam rem Nm Nm Ao Ao dare facere oportet ex fide bona, eius iudex Nm Nm Ao Ao c[ondemnato]. S[i] n[on] p[aret] a[bsolvito]. Auf diesen Brauch bzw. die einleitende Abkürzung von Numerius Negidius zu „N N“ geht wohl auch das heute noch geläufige „N.N.“ (nomen nominandum/nomen nescio) zurück.

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klassischen und nachklassischen Zeit gezählt wurden) resultiert auch bei dieser Formel die Rechtsverpflichtung erst aus der Klausel des dare facere oportet und sie gehörte damit zu den formulae in ius conceptae.35 Das oportet bezieht seine Kraft hier explizit nicht aus dem ius civile, denn die iudicia bonae fidei waren iudicia sine lege.36 Daher führt eine früher umstrittene, heute aber weitgehend akzeptierte These die Entstehung der iudicia bonae fidei in die Zeit des 3./2. Jhs. v. Chr. und auf prätorische Rechtsschöpfung zurück.37 Unzweifelhaft ist jedenfalls, dass sie ursprünglich Teil des ius honorarium, des Magistratsrechts, waren und damit keine Grundlage in den Zwölf Tafeln oder einer subsequenten lex hatten, denn Cicero bezeichnet sie, wie eben gesagt, ausdrücklich als iudicia sine lege.38 Das ius honorarium agierte hierin als Ergänzung und bisweilen als Korrektiv des recht schwerfälligen ius civile, also des förmlich fixierten römischen Bürgerrechts im Wortsinne. Indem der Prätor, wie oben erwähnt, neue Klagegründe und -formeln aufnahm, alte korrigierte oder verwarf, schöpfte er Recht, welches nicht auf konkreter Gesetzgebung, sondern auf der Validierung vorangegangener prätorischer Entscheidungen beruht. Die vorherrschende rechtshistorische Meinung sieht in den iudicia dementsprechend die durch prätorische Amtsgewalt und letztendlich durch den praktischen Gebrauch sanktionierte Jurifizierung einer sozialen Norm: Ein sich aus den Verpflichtungen von fides und gratia ergebender moralischer Imperativ wurde durch die potestas des Prätors gedeckt, der ihm schließlich in einer Klageformel durch die Formulierung als moralisch-juristische Notwendig-

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Im Gegensatz zu den formulae in factum conceptae, für die Gaius ebenfalls ein Beispiel anführt (Gai. inst. 4,47): „Aber die folgendermaßen formulierte Klagformel ist auf das Geschehene hin formuliert: ‚Der und der soll Richter sein. Wenn es sich erweist, dass Aulus Agerius bei Numerius Negidius einen silbernen Tisch in Verwahrung gegeben hat und dieser Tisch aufgrund von Arglist des Numerius Negidius dem Aulus Agerius nicht zurückgegeben worden ist, wie viel die Sache wert sein wird, zu so viel Geld sollst Du, Richter, den Numerius Negidius gegenüber dem Aulus Agerius verurteilen; wenn es sich nicht erweist, sollst Du freisprechen.‘ “ / „At illa formula, quae ita concepta est: ‚Iudex esto. Si paret Aulum Agerium apud Numerium Negidium mensam argenteam deposuisse eamque dolo malo Numerii Negidii Aulo Agerio redditam non esse, quanti ea res erit, tantam pecuniam, iudex, Numerium Negidium Aulo Agerio condemnateo; si non paret, absolvito, in factum concepta est.‘ “ (Übers.: MANTHE). Von beiden Alternativen ist die erstere diejenige, die dem Richter größeren Bewegungsraum lässt: Indem sie den Streitwert nicht definiert, überlässt sie es dem iudex, festzustellen, was nach ‚Treu und Glauben‘ zu leisten gewesen wäre und daran die Größenordnung der Bußgeldzahlung auszurichten. Die formula in factum concepta setzt dagegen den Streitwert fest und überlässt dem iudex nur die Frage nach Schuld oder Unschuld – die Interpretation der Klausel ex fide bona bleibt ihm verwehrt. Cic. off. 3,61. Eine nützliche Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsmeinungen findet sich bei NAUMOWICZ 2009: 28–32. Siehe oben Anm. 36. Dies, obwohl sie später in klassischer und nachklassischer Zeit, wie erwähnt, von systematisierenden Juristen zum ius civile (als actiones civiles) gezählt wurden. Ursprünglich waren sie es nicht.

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keit (ein oportere ex fide bona anstelle eines opertere ex lege) quasi-rechtliche Kraft verlieh.39 Man hat versucht, den Ursprung der bonae fidei iudicia weiter zu spezifizieren und hat bisweilen ihre Genese darin begründet gesehen, dass der praetor peregrinus mit entsprechenden Klageformeln eine ebenso flexible wie verlässliche Rechtsgrundlage für Streitigkeiten zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern schaffen wollte, die naturgemäß nicht vom alten ius civile abgedeckt wurden. Als Grundlage sowohl für Rechte und Pflichten, die sich etwa aus einer geschäftlichen Beziehung zwischen Römern und Nicht-Römern ergaben, als auch für die juristische Beurteilung im Klagefall, musste ein Konzept dienen, das als „source of obligation“ angesehen wurde – die fides.40 Ein solcher Ursprung klingt a priori überzeugend, ist aber letztlich nicht notwendig, da er nicht die gesamte Bandbreite der iudicia bonae fidei erklären kann, weil diese nicht nur Teile des Obligationsrechts (mandatum, negotium gestorum, societas, depositum, emptio venditio, locatio, conductio), sondern ebenfalls des Personen- und Familienrechts, und vor allem die Bereiche der Vormundschaft (tutela), Treuhand (fiducia) und Mitgift (dos), umfassten. Zu diesen rechtlichen Kategorien hatten Nicht-Bürger weder in früherer noch in spätrepublikanischer Zeit Zugang und die Anwendung der Formel ex bona fide auf diese Bereiche muss demnach innerrömische Wurzeln gehabt haben, konnte mithin nicht auf die Weisungen des praetor peregrinus zurückgehen.41 In der Tat kennen schon die Zwölf 39 40

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Diese These geht grundlegend auf KUNKEL 1939: 5 zurück und wird heute weitgehend akzeptiert. TURPIN 1965: 262. Es ist dabei unerheblich, ob man fides als spezifisch römisches Konzept versteht oder als anthropologische Konstante. In der Tat gibt es auch namhafte Romanisten, die den starken moralischen Imperativ der fides bzw. bona fides zum Anlass nehmen, die iudicia bonae fidei überhaupt nicht auf das ius honorarium zurückzuführen, sondern stattdessen als zivilrechtlich, also als Teil des ius civile anzusehen – nicht etwa aufgrund einer heute verlorenen lex rogata, sondern wegen der inhärenten Kraft der normativen Erwartungen, die mit dem Begriff fides verbunden waren. Vgl. KRUEGER 1890; PARICIO 2011 sowie besonders MAGDELAIN 1991: 256 („Ces actions ne sont pas, non plus, de celles quae ex propria praetoris iurisdictione pendent. Leur propre vis ac potestas suffit.“), der damit seine frühere Position (MAGDELAIN 1954; DERS. 1958) widerrief. Dagegen sieht WIEACKER 1963 in den Klageformeln ex fide bona vor allem eine von den Prätoren initiierte „procedural reform“ (TURPIN 1965: 264f.; siehe EBD. für die Argumente gegen WIEACKER), die auf das ius honorarium zurückgeht. Er wehrt sich vor allem gegen die These, die iudicia bonae fidei schöpften ihre Autorität aus ihrem Bezug auf das auch außerhalb Roms wirksame Konzept der fides, aus dem ius gentium. Eine noch schärfere Position WIEACKERs, dass nämlich der Zusatz ex fide bona in den Klageformeln nur die Ermessungsgrundlage des Richters bezeichnete und die fides nicht der eigentliche Rechtsquell sei, teilen in jüngerer Zeit nur LOMBARDI 1961, CARCATERRA 1964 sowie GALLO 2003 und stehen damit gegen den überwiegenden Teil der Forschung. Besonders CARCATERRA 1964 geht in seiner Ablehnung der fides als Rechtsquelle sehr weit; vgl. dazu die Rezension von KASER 1965. Vgl. WIEACKER 1963: 28: „Ein großer Teil der mit solchen iudicia [bonae fidei] geschützten Rechtsverhältnissen und Absprachen wurzelt tief in altrömischen Fidesverhältnissen, die längst ins ius civile rezipiert waren und deren zivilrechtlicher Schutz kaum zweifelhaft ist; hierhin rechnen Tutel, Mandat, ältere societas, wohl auch fiducia und dos.“.

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Tafeln Rechtsmittel, die z. B. ein Mündel gegen den tutor einlegen konnte (die accusatio suspecti tutoris bzw. die actio rationibus distrahendis), bevor im Formularprozess die actio tutelae zur Anwendung kam.42 Frühe zivilrechtliche Äquivalente zu den actiones mandati, fiduciae oder pro socio sind zwar nicht eindeutig belegt, werden aber von der Mehrheit der Forschung angenommen.43 Ebenso wie die Formularklagen aufgrund ihrer Flexibilität die schwerfälligen Legisaktionen ablösten, so ergänzten die iudiciae bonae fidei ältere Klageformen, die im ius civile vertreten waren – und schufen neue rechtliche Grundlagen, wo keine juristische Basis bestand.44 In den iudicia bonae fidei liegt also eine sich im Laufe des 3. und 2. Jhs. v. Chr. entwickelnde Prozessform vor, die darauf abzielte, gewisse Arten von Rechtsbeziehungen durch die Jurifizierung eines gesamtgesellschaftlich akzeptierten, ursprünglich sakralen, immer noch sakral konnotierten, mittlerweile aber durchaus säkularisierten normativen Verhaltensideals zu schützen.45 Aus diesem Grund sind die korrespondierenden Prozessformeln weder in ius noch in factum conceptae – sondern in fidem.46 3 DER BONUS VIR VOR GERICHT Aus der altrömischen fides war so über die Jahrhunderte die jurifizierte bona fides geworden und die drastische Strafe der Sakration bei Verstößen gegen die fides (zumindest bei Klientelverhältnissen) war von den iudicia bonae fidei abgelöst worden, die eine genau umrissene Gruppe von fides-Delikten weniger drastisch ahndete. Zur Zeit des Q. Mucius Scaevola (cos. 95 v. Chr.), des berühmten Rechtsgelehrten und Lehrers Ciceros, gab es schließlich eine Klagegruppe, deren augenscheinlichste Gemeinsamkeit die Präsenz der Klausel ex fide bona in den Klageformeln war.47 Cicero rückt sie eindeutig in den Kontext der Bekämpfung arglistiger Täuschung, des sog. dolus malus. Das ist insofern bemerkenswert, als dass Täuschung 42 43

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Zu den Rechtsinstrumenten siehe KASER/KNÜTEL 2014: 367f. für Belege und Literatur. Vgl. allgemein WIEACKER 1963: 33, der von der Wirkung einer „seit alter altrömische[n], und zwar längst dem ius civile angehörige, nicht mehr ‚außerrechtliche‘ fides“ ausgeht, „bei der Tutel nach ausdrücklichem Quellenzeugnis, bei der societas iure proprio Romanorum [der sog. ‚älteren‘ societas] kraft brüderlichen oder wahlbrüderlichen Zusammenschlusses, beim Mandat als typisches Vertrauensverhältnis der altrömischen Lebensordnung und bei der fiducia nach Name […] und den ältesten, freilich umstrittenen Formelspuren.“ Zur fiducia vgl. speziell NOORDRAVEN 1999; zum mandatum WATSON 1961. KASER 1971: 486. So auch SCHULLER 2002: 96: „Es war dann die Leistung des Prätors, diesen ursprünglich rein gesellschaftlichen Begriff aristokratischen Ursprungs durch die Schaffung der bonae fidei iudicia […] unmittelbar, als reines Amtsrecht in das Privatrecht hineingeholt zu haben.“. Vgl. WIEACKER 1988: 458, der freilich die These von der fides als Rechtsgrundlage verwirft und die ex bona fide-Klausel als Instrument ansieht, dem Richter größeren Ermessensspielraum bei der Festlegung der Strafhöhe zu geben. Cic. off. 3,61; off. 70; top. 66.

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auch schon vorher – im ius civile – unter Strafe stand und als taterschwerendes Merkmal, sozusagen als niederer Beweggrund, eigens verdammt wurde.48 Die prätorische Rechtsprechung in den iudicia bonae fidei hat aber eine neue Bewertungsgrundlage für die Bestrafung des dolus geschaffen, indem sie der fides, als Grundlage jeder Sozial- und Rechtsbeziehung, zu legaler Kraft verhalf und sie in den in ius konzipierten Klageformeln mit der Wendung ex fide bona zur alleinigen Entscheidungsgrundlage der Urteilsfindung und der Strafbemessung machten. Die normative Vorgabe für ein Verhalten nach ‚Treu und Glauben‘ findet sich bei Cicero an anderer Stelle auch in der Formulierung „ut inter bonos bene agier oportet et sine fraudatione wieder“ – „wie es unter anständigen Menschen anständig und ohne Hinterlist zugehen soll“.49 Geahndet werden sollte alles, was dieser Norm widersprach. Ähnlich, aber deutlicher, sagte es später Proculus, der kommentierte, es solle dem Maßstab des bonus vir gefolgt werden.50 Dass dies schon in spätrepublikanischer Zeit keine Neuerung mehr war, zeigt eine in diesem Zusammenhang bedeutsame Anekdote bei Aulus Gellius:51 In jungen Jahren wurde Gellius vom zuständigen Prätor zum iudex in einem privatrechtlichen Prozess ernannt, dessen Streitparteien uns namentlich nicht bekannt sind. Es ging um einen Geldbetrag, der entweder verliehen oder vorgestreckt, aber nicht zurückgezahlt wurde. Der Geschädigte klagte nun auf Rückgabe, konnte aber weder Rechnungen noch Zeugen vorweisen, da es sich offensichtlich um ein formloses Geschäft gehandelt hatte. Gellius betont aber ausdrücklich den tadellosen Lebenswandel des Klägers; beide Male geht es um die bonitas des Betroffenen.52 Die Verteidiger des Beklagten wollten solch generellen Erwägungen nicht als Basis für einen Schuldspruch akzeptieren und argumentierten, dass der Mangel an prüfbaren Beweisen zu einem Freispruch führen müsse, da es sich um einen privaten Rechtsstreit vor dem Richter handele und nicht um ein Sittenverfahren vor den Zensoren.53 Gellius suchte Rat bei Freunden und Rechtsgelehrten, die ihn drängten, den Beklagten aus Mangel an Beweisen freizusprechen. Dazu wollte er sich indes aufgrund des moralischen verwerflichen Charakters des Mannes nicht einlassen und so bat er den Philosophen Favorinus, mit dem er freundschaftlichen Umgang pflegte, um Rat. Dieser empfahl ihm, dem Beispiel Catos des Zensors zu folgen und dem Kläger Glauben zu schenken, da er dem Beklagten moralisch überlegen sei (melior est).54 Er berief sich dabei auf einen überlieferten Fall, den Cato der Ältere als Anwalt plädierte und dessen Verteidigungsrede Gellius unmittelbar darauf zitiert:

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Cic. off. 3,61. Cic. off. 70. Dig. 17,2,78: arbitrium viri boni existimo sequendum esse. Gell. 14,2. Gell. 14,2,4–6. Gell. 14,2,8. Gell. 14,2,23.

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Christian Rollinger „Dies habe ich ebenso von den Vorfahren gelernt: Dass man, wenn einer von einem anderem etwas fordert, wenn beide gleich sind, entweder gleich gut oder gleich schlecht, als beide das Geschäft abschlossen, keine Zeugen anwesend waren, eher dem glauben muss, der beklagt wird.“55

Demnach war der Standard der bonitas nicht nur in Catos eigenen Zeiten durchaus bei der Urteilsfindung zu berücksichtigen, sondern bereits sehr viel früher ‒ schließlich führt Cato dieses Vorgehen auf die Vorfahren zurück (a maioribus memoria sic accepi) –, zumindest dann, wenn keine Zeugen zur Verfügung standen. Dass dabei ausdrücklich zwischen Kläger und Beklagtem abgewogen wurde, zeigen wiederkehrende Begriffspaarungen wie bonus/malus oder auch der Komparativ melior.56 Sie beziehen sich auf die schon erwähnte normative Vorgabe des bonus vir.57 Noch viel eindeutiger ist allerdings der Hinweis bei Cato auf eine mögliche Form der sponsio, die den moralischen ‚Wert‘ der Streitparteien explizit berücksichtigt.58 Die operative Klausel dieser sponsio, im Grunde eine Art ‚Gerichtswette‘, durch die die Parteien sich verpflichten, im Falle einer Niederlage die verhängte Geldbuße zu bezahlen, wird von Cato folgendermaßen wiedergegeben: „si sponsionem fecissent Gellius cum Turio: ‚Ni vir melior esset Gellius quam Turius‘.“59 Die Klausel kann als eine Art ‚Versprechen‘ verstanden werden: „Ich, Gellius, verspreche dem Turius eine Summe Geld zu überlassen, es sei denn, es stellt sich heraus, dass ich, Gellius, ein besserer Mann bin, als Turius.“ Gellius schreckt in seiner Verantwortung als iudex am Ende davor zurück, sich eindeutig festzulegen und ein Urteil alleine aufgrund der probitas der Streitparteien zu treffen: „Aber dies hielt ich für bedeutender und höher, als was meinem Alter und meiner geringen Bedeutung angemessen gewesen wäre, dass ich über den Lebenswandel geurteilt und verur55

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Gell. 14,2,26: „Atque ego a maioribus memoria sic accepi: si quis quid alter ab altero peterent, si ambo pares essent, sive boni sive mali essent, quod duo res gessissent uti testes non iteressent, illi unde petitur, ei potius credendum esse.“ (Übers.: MANTHE). Das bei Gellius zitierte Redefragment ist hier besonders sinnfällig, wie FIORI 2014: 194 unterstreicht: „[…] prior to the defendant’s release due to the absence of evidence, the judge should verify the quality of boni or mali of the parties, including the different grades within each qualification. There could be at least five cases: that both the parties were boni but one melior; that both were boni, and in that pares; that one was bonus and the other malus; that both were mali, but one melior; that both were mali, and in that pares.“ Vgl. FIORI 2013. Zur Begriffsgeschichte von bonus und verwandten Bezeichnungen gerade in Rechtstexten siehe FIORI 2014: 190–197. Nach FALCONE 2010/2011: 67–84 ist das Begriffspaar eindeutig moralisch konnotiert, er führt Beispiele unter anderem aus Ennius (Tel. 270–272) und Plautus (Rud. 1–29; Men. 571–579; Men. 580–584; Trin. 281–298; Bacch. 399–401; Bacch. 654– 660; Mil. 1364f.; Pseud. 1128f.) an. Ein Verweis auf die ausschlaggebende Arbeit von HELLEGOUARC’H 1963 findet sich bei ihm allerdings nicht. Dass sich bonus bzw. malus dabei auf die moralische Wertigkeit, den Charakter – heute würde man vielleicht sagen: den Leumund – der Streitparteien beziehen, und nicht etwa sozioökonomische Gruppenzugehörigkeiten in Analogie zu den Spätantiken honestiores und humiliores bezeichnen, wird hier, anlehnend an FALCONE 2013, vorausgesetzt. Die Zweifel FIORIS 2014: 194, in den Bezeichnungen bonus/malus ein moralisches Urteil zu sehen, teile ich nicht. Gell. 14,2,26.

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teilt hätte, und nicht über die Beweislage der Sache. Doch mich zu einem Freispruch durchzuringen vermochte ich nicht, und daher schwor ich, dass mir die Sache nicht klar ist, und wurde so vom Richteramt befreit.“60

Gellius stand mit dieser Entscheidung keineswegs allein. Bereits Cicero hatte eingestanden, dass die Frage nach dem Maßstab eines in diesem Sinne ‚guten‘ Mannes im Rechtskontext nicht leicht zu beantworten ist: „qui sint boni et quid sit bene agi, magna quaestio est.“61 Des Weiteren ist es, wie ROBERTO FIORI kürzlich festgestellt hat, schwierig, den bonus vir der Moralphilosophie von den tagespolitisch oder philosophisch konnotierten boni bzw. boni viri der republikanischen Politszene zu differenzieren.62 In seinen eigenen philosophischen Schriften geht Cicero auf die Problematik ein und illustriert sie mit einer passenden Anekdote über C. Fimbria (cos. 104 v. Chr.), der als Richter einem Fall vorsaß, der einen M. Lutatius Pinthia, eques Romanus sanus honestus, involvierte. Dieser hatte sich in der dem Prozess vorangehenden sponsio ebenfalls verpflichtet, eine festgelegte Summe zu zahlen, ni vir bonus esset. Ebenso wie später Aulus Gellius wollte auch der Richter C. Fimbria kein Urteil fällen: „Deshalb habe ihm Fimbria gesagt, er werde in der Sache keine Entscheidung fällen, um nicht den guten Ruf eines bewährten Mannes zu zerstören, wenn er gegen ihn entscheide, oder den Anschein zu erwecken, er habe festgestellt, jemand sei ein anständiger Mann, obwohl dieses Ideal doch die Erfüllung unzähliger Pflichten und guter Eigenschaften umfasse.“63

Dem antiken Dilemma haben sich moderne Romanisten wie Giuseppe Falcone angeschlossen: „non è facile trovare un autentico vir bonus.“64 Die unzähligen officia des bonus vir sind freilich genau Ciceros Thema in seinem de officiis und der explizite Bezug auf sie verdeutlicht noch einmal, dass der rechtsrelevante bonus vir „dovette connotarsi direttamente ed esclusivamente in senso etico60

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Gell. 14,2,25: „Sed maius ego altiusque id esse existimavi quam quod meae aetati et mediocritati conveniret, ut cognovisse et condemnasse de moribus, non de probationibus rei gestae viderer; ut absolverem tamen inducere in animum non quivi et propterea iuravi mihi non liquere atque ita iudicatu illo solutus sum.“ (Übers.: MANTHE). Es ist zu bedenken, dass Gellius offenkundig keine grundsätzliche Problematik darin sieht, ein Urteil aufgrund einer relativen moralischen Wertung auszusprechen. Lediglich sein junges Alter und mangelnde Erfahrung halten ihn davon ab. Cic. off. 3,70: „Was Gute [Menschen] sind und was gutes Handeln ist, das ist eine große Frage.“ (Übers.: ROLLINGER). FIORI 2014: 191. Siehe dazu auch HELLEGOUARC’H 1963: 484–506; LACEY 1970; ACHARD 1973. Cic. off. 3,77: „Itaque ei dixisse Fimbriam se illam rem numquam iudicaturum, ne aut spoliaret fama probatum hominem, si contra iudicavisset, aut statuisse videretur virum bonum esse aliquem, cum ea res innumerabilibus officiis et laudibus contineretur.“ (Übers.: FUHRMANN). Es sei aber auch auf die Unterschiede bei beiden Prozessen hingewiesen: Die sponsio bei Gellius lautete nur auf ni vir melior esset, gab also eine relative Hierarchie wieder. Hingegen war die sponsio des M. Lutatius Pinthia anders formuliert – ni vir bonus esset – und hätte eine absolute Wertung nach sich gezogen, nämlich im Grunde nichts anderes als eine faktische Infamierung. Vgl. FIORI 2013 (bes. 246–249). FALCONE 2010/2011: 89.

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comportamentale.“65 Der bonus vir, wie er uns in den einschlägigen Texten entgegentritt, verfügt über positive aktive Charaktereigenschaften und einen tadellosen Lebenswandel – offensichtlich gemessen am Habitus der römischen Oberschicht –, der sich aber nicht auf die rein philosophischen Vorstellungen der Akademie oder Stoa beschränkt. Vielmehr soll er nach Maßgabe Ciceros die Tugenden des praktischen Lebens hochhalten: modestia, temperantia, iustitia sowie integritas, aequitas, liberalitas – und eben fides. Der bonus vir ist nicht nur ein philosophischer ‚Weiser‘ (sapiens), sondern ein rundum ‚guter‘ Mensch, ein guter Bürger, der die Regeln der res publica verinnerlicht hat und sich im Einklang mit den Regeln des ius gentium und des ius naturale weiß.66 Wie aber war nun der magna quaestio beizukommen, die schließlich auch C. Fimbria vor ein unlösbares Dilemma gestellt hatte? Wie war der bonus vir zu beurteilen und durch wen? Laut Cicero hatte schon der berühmte Rechtsgelehrte Quintus Mucius Scaevola Augur betont, dass die Bedeutung der bona fides sehr weitreichend ist und daher ein magnus iudex nötig sei, um in solchen Fällen zu gerechten Urteilen zu gelangen.67 Dieser magnus iudex musste notwendigerweise selbst alle Qualitäten eines bonus vir aufweisen. Auch dies hatte bereits Cato der Ältere erkannt, der in seiner Schrift zur Landwirtschaft Vorlagen und Muster für Kauf- und Mietverträge mit einschloss. Von besonderem Interesse sind hier für uns die Fälle, in denen es zur Beschädigung von geliehenem Werkzeug kommt; um es nicht zu einem förmlichen Prozess kommen zu lassen, schlägt Cato ein von einem ‚redlichen Mann‘ geleitetes Schlichtungsverfahren vor (viri boni arbitratu).68 Dass nun aber für einen römischen iudex die gleichen Qualifikationen gelten sollten wie für die Schlichter in Catos Vorstellung, leuchtet ein. Magnus, ein ‚großer‘, also fähiger Richter musste er deshalb sein, weil er in seiner Entscheidung weitgehend frei war. Er gab nicht nur sein Urteil über einen juristischen Sachverhalt und die damit einhergehend zu veranschlagende Höhe der Strafzahlung ab, sondern urteilte gleichsam auch über die moralische Eignung des Angeklagten: war er ein bonus vir oder nicht? Wie bedeutsam diese Urteile sein konnten, wird deutlich, wenn wir uns noch einmal die eingangs zitierte Aussage Ciceros vor Augen führen. Konkret geht es in dieser Passage um eine missio in bona, eine Zwangskonfiskation und anschließende Versteigerung von Privatgütern – nicht um ein iudicium bonae fidei im eigentlichen Sinne. Doch stand neben der Strafe, die in Privatprozessen immer die Form einer Geldbuße annahm, noch die zusätzliche Folge der Infamierung des Verurteilten im Raum. Ebenso bei den iudicia bonae fidei: „une condamnation revient à le [sc. le condamné] déclasser des boni uiri, sa fides étant jugée comme

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EBD.: 90. Zu Ciceros Konzeption des bonus vir siehe allgemein FIORI 2011; DERS. 2014: 197–202. Cic. off. 3,70. Cato agr. 143,3: „Wenn durch Schuld des Unternehmers dem Besitzer irgendein Schaden zugefügt worden ist, soll jener dafür zahlen; das wird nach dem Ermessen eines rechtschaffenen Mannes abgezogen.“ / „Si quid redemptoris opera domino damni datum erit, viri boni arbitratu deductur.“ (Übers.: SCHÖNBERGER).

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non conforme à celle des boni.“69 Letztlich läuft dies auf eine faktische Infamierung hinaus, die sich zumindest anfangs noch in erster Linie auf das Ansehen (fama oder existimatio) des Beschuldigten und damit auf eine a priori rein soziale Komponente bezog. Nach Max Kaser bezeichnet infamia ursprünglich „den schlechten Ruf eines Menschen, seine auf verwerflichem Verhalten beruhende geringe Einschätzung bei der Allgemeinheit“.70 Die Infamie zerstörte Ansehen (fama) und Würde (dignitas) des Betroffenen, hatte aber auch rechtliche Folgen; es stand, wie Cicero es wiederum formuliert, das Ansehen und die gesamte Existenz auf dem Spiel.71 Die möglichen Folgen reichten von Strafzahlungen (anlässlich einer zensorischen nota72) bis zu drastischeren Strafen wie Exil, Ausschluss aus dem jeweiligen Stand oder gar aus den Bürgerlisten. Soweit musste es aber nicht in jedem Fall kommen. Bei spezifischen Delikten in republikanischer Zeit waren vielmehr individuelle rechtliche Benachteiligungen vorgesehen, die bisweilen noch vor einem vollkommenen Verlust der Bürgerrechte zurückschreckten: 1. Die Bestimmungen der sog. Tabulae Heracleenses hielten fest, dass Infamierte keinen Zugang zu Munizipalämtern oder zum Dekurionenstand haben sollten.73 2. Das sullanische ambitus-Gesetz sah eine auf zehn Jahre beschränkte Teilinfamierung vor, die den Verurteilten davon abhielt, sich um ein Staatsamt zu bewerben.74 3. Ein anderes nicht näher bestimmbares Gesetz verbot es den in iudicia publica Verurteilten, öffentlich in einer contio zu reden.75 4. Spätestens seit der lex Iulia de repetundis von 59 v. Chr. wurden Verurteilte in solchen Verfahren aus dem Senat und von den Geschworenenlisten ausgeschlossen, ebenso von allen Ämtern sowie Priestertümern, und durften auch nicht mehr als Zeugen auftreten.76 5. Ähnliche Bestimmungen galten möglicherweise schon für die frühere lex Acilia repetundarum, die in jedem Fall mit Sicherheit dem Verurteilten schon das Agieren als Anwalt verboten hat. Die spätere lex Iulia de vi von 17 v. Chr. 69 70 71 72

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74 75 76

NAUMOWICZ 2009: 111. KASER 1956: 230. Cic. Rosc. com. 16. Die schriftliche Rüge des Zensorenpaares aufgrund eines moralisch fragwürdigen Lebenswandels. Zur Infamie allgemein und zu ihren unterschiedlichen Spielarten siehe KASER 1956 und WOLF 2010; in GREENIDGE 1894 liegt noch immer die umfassendste Analyse des Gesamtphänomens vor. Tab. Heracl. Z. 108–125 (CRAWFORD 1996 [1]: 355–391, Nr. 24). Es handelt sich hierbei um zwei auf Bronzetafeln festgehaltene Regelungen der süditalischen Stadt Heraclea Lucania, von denen der spätere, aus dem 1. Jh. v. Chr. stammende Text möglicherweise Teil einer umfassenderen lex Iulia municipalis sein mag; dies ist allerdings umstritten. Vgl. z. B. HARDY 1914; dagegen aber FREDERIKSEN 1965. Schol. Bob. Cic. Sull. 17. Rhet. Her. 1,11,20. Zum Senatsausschluss vgl. Ascon. in Corn. 78C. Dig. 1,9,2; Dig. 48,11,6,1; Suet. Div. Iul. 43; Plin. ep. 2,11,12.

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umfasst den gleichen Katalog an Einschränkungen.77 Bei Gaius finden wir schließlich die Bestätigung, dass diese Einzelsanktionen im Umkehrschluss wiederum als Zeichen der Infamie angesehen wurden („qui prohibitor […] pro alio postulare […] ignominiosus esse dicitur“).78 Aus einer Vielzahl von Quellen wissen wir, dass bei einer Verurteilung in einem iudicium bonae fidei in den meisten Fällen eine automatische Infamierung erfolgte. Cicero selbst spricht nicht nur in seiner Rede für Quinctius von den horrenden Folgen einer Infamierung, auch im Fall des Q. Roscius aus Ameria betont er, dass Schuldige in Mandatsklagen „das entehrendste Urteil“ (turpissimo iudicio) erwartet.79 Und bei seiner Verteidigung des Schauspielers Q. Roscius Gallus kommt er schließlich ebenfalls darauf zu sprechen, dass die Gesellschafterklage (actio pro socio) – um die es ihm freilich nicht hauptsächlich geht, denn Roscius wurde in einer actio certae creditae pecuniae verklagt –, die zu den iudicia bonae fidei zählt, eine jener Prozessformen sei, bei denen „der gute Name im ganzen und fast […] die Existenz auf dem Spiel steht“.80 Er nennt anschließend die actiones fiduciae, tutelae, pro socio. Diese Klageformen bezeichnet er auch in den Topica als iudicia privata maximarum rerum und hier folgte auf eine Verurteilung die Infamierung:81 So finden sich etwa in den maßgeblichen Infamenkatalogen des Gaius und der Digesten die actiones pro socio, fiduciae, tutelae, mandati, und depositi wieder, wobei letztere, die Verwahrungsklage, wohl erst im 1. Jh. n. Chr. zu den infamierenden Klagen gezählt wurde.82 Auch die schon erwähnten Tabulae Heracleenses decken sich damit; in ihnen wird ein langer Infamenkatalog aufgestellt. Er umfasst insgesamt 25 Zeilen und benennt als infam unter anderem die ‚üblichen Verdächtigen‘: Prostituierte, Zuhälter, Schauspieler, lanistae, Gladiatoren und Diebe,83 aber auch alle diejenigen, die in Rom oder in ihrem jeweiligen Heimatort in einem öffentlichen Strafprozess verurteilt wurden; die vor dem Magistraten Meineid leisteten, indem 77 78 79 80 81 82

83

FIRA 1 nr. 7, Z. 11f. Zur lex Iulia Dig. 48,7,1 pr. sowie Dig. 22,5,3,5. Gai. inst. 4,182: Gaius verwendet hier den Begriff der ignominia, die allerdings von Bedeutung und Rechtskraft mit der Infamie identisch ist. Cic. Rosc. Am. 113. Vgl. Flacc. 42. Den selben Begriff (turpi … iudicio) erwähnt er auch in Zusammenhang mit der Tutelklage in de orat. 1,166. Cic. Rosc. com. 16: „iudicia summae existimationis et paene dicam capitis.“ (Übers: FUHRMANN). Cic. Top. 66. Gai. inst. 4,182. Der Katalog in Gai. Dig. 3,2,1 führt ebenfalls diejenigen als infam an, qui pro socio, tutelae, mandati, depositi suo nomine damnatus erit. Die actio depositi wurde in republikanischer Zeit noch mit einer formula in factum concepta verhandelt, erst in der Klassik wird sie zu einer Zivilklage mit dem Zusatz ex fide bona (Gai. inst. 4,47; dazu passt auch, dass Tab. Heracl. Z. 110 sie ebenfalls noch nicht unter die infamierenden Klagen zählt); Cicero kennt sie noch nicht als iudicium bonae fidei. Gaius spricht noch von der ignominia, die aber dasselbe meint. Erst mit Papinian beginnt sich der Begriff der infamia, anfangs als Synonym, später als Ersatz für ignominia, durchzusetzen; vgl. Gai. inst. 2,154; inst. 4,60; inst. 182; Dig. 3,2,20; Dig. 4,8,7; Clem. Dig. 23,2,48,1; Pap. Dig. 50,1,15; Dig. 50,2,5. Dig. 3,2,1.

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sie eine Schuld leugneten oder Solvenz vortäuschten; die mit betrügerischer Absicht ihren Bürgen und Schuldnern erklärten, sie seien insolvent (se soldum solvere non posse); deren Schulden von Bürgen übernommen werden mussten; deren Güter beschlagnahmt und zwangsversteigert wurden; und schließlich ausdrücklich auch jene, die aufgrund einer actio fiduciae, tutelae, pro socio oder mandati verurteilt wurden.84 Alle erhaltenen juristischen Quellen sind sich darin einig, nur die erwähnten Klagearten (fiduciae, tutelae, societatis, mandati, mit dem erwähnten späteren Zusatz der a. depositi) unter die infamierenden Urteile zu zählen. Dagegen tauchen in keinem der Infamenkataloge die actiones empti, venditi, locati und conducti auf, die ebenfalls zu den iudicia bonae fidei gehörten. Wie ist dieser Wiederspruch zu erklären? Pascal Naumowicz bringt die grundsätzliche Unterscheidung zwischen infamierenden und nicht-infamierenden bona fides-Klagen in Bezug zu der historischen Entwicklung der juristischen fides. Verstöße gegen Treuhands-, Tutel-, Gesellschafts- und Mandatsrecht werden in dieser Sicht deshalb so scharf geahndet, weil sich diese Rechtsbeziehungen auf den Bereich der ‚potestativen‘ fides zurückführen lassen, die auch die asymmetrischen Beziehungen zwischen Patron und Klienten regelten:85 Bei Verletzungen der bona fides in solchen Fällen wurde nicht nur ein auf der Treue basierender ‚Vertrag‘ gebrochen, wie es im Sachrecht, bei einer actio empti, geschehen mochte. Vielmehr handelte es sich um einen Verstoß gegen eine archaische Form der Verpflichtung, die auch schon in den Zwölf Tafeln unter einen besonderen Schutz gestellt wurde: Der Mächtigere verletzte hier seine Schutzpflicht gegenüber dem Schwächeren – denn nichts anderes als eine solche war die fides des Patrons.86 Wie gesehen, wurde ein solcher Verstoß in früherer Zeit angeblich durch die Sakration des Schuldigen geahndet. In der republikanischen Infamierung kann möglicherweise eine Weiterentwicklung dieser archaischen Strafe erkannt werden: Anstatt des physischen Lebens sollte nun die gesellschaftliche Stellung zerstört werden. Auch in späterer Zeit, als Aspekte des Sachrechts – Kauf-, Miet-, Pacht- oder Pfandrecht – ebenfalls zu Klagen ex bona fide erhoben wurden, gestand man diesen keine infamierende Wirkung zu.87 Interessant ist auch eine bei Cicero überlieferte Aussage des Q. Mucius Scaevola, der zufolge höchste Kraft (summa vis) in all jenen Urteilen liege, denen die Formel ‚auf Treu und Glauben‘ beigefügt werde.88 Unter summa vis kann nicht nur die infamierende Wirkung verstanden werden, denn dann müsste sie sich auf alle iudicia bonae fidei beziehen. Selbst wenn die Infamierung keine konkreten rechtlichen Folgen nach sich zog, konnte der schiere Ansehensverlust enorme

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Tab. Heracl. Z. 111–118. NAUMOWICZ 2009: 66–71. Dazu HELLEGOUARC’H 1963: 28–32. Vgl. NAUMOWICZ 2009: 67f. Cic. off. 3,70.

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Konsequenzen mit sich bringen.89 Scaevola selbst scheint dies anzudeuten, wenn er meint, dem Begriff der bona fides komme eine besonders weitgefasste Bedeutung zu (fideique bonae nomen existimabat manare latissime);90 er spricht den negativen Folgen einer Verurteilung ex fidei bonae größeren Wirkungsraum zu, auch wenn nur auf einer rein gesellschaftlichen Ebene.91 4 DIE ABSOLUTIERUNG ARISTOKRATISCHER NORMEN Gerade diese primär soziale oder soziopolitische Ebene ist entscheidend. Wenn die Infamierung als Konsequenz einer Verurteilung in einem iudicium bonae fidei der durch das Urteil festgestellten moralischen Unzulänglichkeit des Verurteilten Genüge tat und ihn aus der Mitte der Gesellschaft ausschloss, erscheinen die konkreten Rechtsnachteile, die, wie oben geschildert, mit bestimmten Gesetzen und Sachverhalten verbunden waren, dagegen bemerkenswert spezifisch. Das Redeund Auftrittsverbot in einer contio oder vor Gericht wird nicht alle Verurteilten in gleichen Maßen betroffen haben. P. Quinctius konnte es egal sein, ob er nun in der Volksversammlung reden durfte oder nicht – für Cicero selbst, oder seinen Bruder, hat das gewiss nicht gegolten. Bezeichnenderweise hören wir nirgends von privatrechtlichen Konsequenzen der Infamie – etwa einer eingeschränkten Geschäftsfähigkeit. Vielmehr richtete sich die ‚Zusatzstrafe‘ in Form der Infamie implizit an Vertreter der Oberschicht, für die eine solche Sanktion gravierende Konsequenzen hatte und einem Spezifikum gerade der aristokratischen Gesellschaft Rechnung trug: Sie wirkten sich nämlich konkret auf die Fähigkeit des Verurteilten aus, sich im aristokratischen Freundschafts- und Verbindlichkeitengeflecht zu positionieren. Denn indem man dem Verurteilten die Möglichkeit nahm, sich als Politiker an das Volk zu wenden, verhinderte man eine öffentliche Tätigkeit. Und indem man ihm verbot, als Anwalt für Freunde und Abhängige vor Gericht aufzutreten, nahm man ihm die Möglichkeit, sich am informellen Gabentausch innerhalb der Aristokratie zu beteiligen – und schloss ihn damit aus seiner Statusgruppe aus. Die Verurteilung erlangte dadurch neben der legalen auch eine sozial exkludierende Macht. Denn der Auftritt als patronus (im Sinne von ‚Anwalt‘) gehörte nicht nur zu den wichtigsten Möglichkeiten des römischen Aristokraten, durch forensische Brillanz zu 89

90 91

NAUMOWICZ 2009: 67f. „Condamner quelqu’un sur le fondement d’une de ces formules, c’est, nonobstant l’absence de peine complémentaire infamante, l’exclure de la communauté des boni uiri en refusant de lui reconnaître de la fides bona.“. Cic. off. 3,70. NAUMOWICZ 2009: 113: „Dès lors, le propos de Mucius est original en ce qu’il dépasse ce cadre. Pour lui, il y a une summa vis dans tous les iudicia in quibus additur ex fide bona, non uniquement dans ceux qui sont considérés explicitement infamants à cause des peines complémentaires attachées par le préteur à une condamnation. […] il voulait peut-être simplement dire que le terme, revoyant au bon crédit social d’un bonus vir avait un champ opératoire qui dépassait la simple liste des actions infamantes […] et que toute condamnation […] avait donc une summa uis, une portée implicite extrêmement forte“.

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Ruhm und Ansehen zu gelangen. Vielmehr diente die Advokatentätigkeit auch dazu, ein Netz aus wechselseitigen Schuld- und Dankverhältnissen zu weben, das bei der eigenen Karriere und allgemein im Leben nützlich sein konnte. Der Dienst als Anwalt eines Standesgenossen war ein officium und es erforderte von Seiten des Angeklagten gratia. Beides waren, gemeinsam mit der fides, Kernbegriffe vor allem des aristokratischen Lebens und regelten den Umgang miteinander, indem sie einen Katalog an Handlungsmaximen im Rahmen derjenigen Beziehungen boten, die die Römer als amicitiae bezeichneten. Amicitia weist zwar auf vielen Ebenen Überschneidungen mit dem traditionellen Klientelwesen der römischen Gesellschaft auf, unterscheidet sich aber von diesem in wesentlichen Aspekten. Auch wenn für Einzelheiten hier kein Raum ist, lohnt es, festzuhalten, dass amicitia keineswegs nur ein Euphemismus für Klientel- oder Patronagebeziehungen waren, wie das die ältere Forschung behauptete. Vielmehr war es eine spezifische Denk- und Handlungskategorie, die vorrangig auf der ostentativ betonten Gleichheit der amici basierte, die auf Dauerhaftigkeit und gegenseitigen Austausch von materiellen Werten und Diensten beruhte.92 Eine solche Beziehung folgte eigenen Regeln: Zum einen wurde ein beträchtlicher Aufwand betrieben, um Freundschaft durch aktiven, regelmäßigen und persönlichen Umgang (in festgelegten Zusammenhängen) zu betonen und jeweils neu zu konstruieren, zum anderen äußerte sich diese Freundschaft vor allem in konkreten Unterstützungsformen, die ostentativ als beneficia, als Wohltaten, geleistet wurden. Die stets und überall wirkenden Konzepte der fides und gratia stellten sicher, dass es nicht bei einer einmaligen oder einseitigen Zuwendung blieb, sondern dass beneficia und officia erwidert und damit ein Kreislauf in Gang gesetzt wurde, der die freundschaftlichen Beziehungen jedes Mal erneut bestätigte und festigte.93 Daraus soll freilich kein stumpfer Automatismus abgeleitet werden, der dafür gesorgt hätte, dass ein einmal in dieses System eingebundener Aristokrat ohne weiteres Zutun immer weiter dort verortet geblieben wäre. Es galt, die Beziehungen zu pflegen, zu intensivieren und zu betonen. Die Qualität einer Beziehung konnte man daran ablesen, ob und wie sich potentielle Ressourcen aktivieren ließen. Denn die moral-philosophisch durchdrungene, ethisch-normative Seite von amicitia-Beziehungen war das eine. Etwas gänzlich anderes war aber die von Konkurrenz und Eifersucht, von multipolaren, sich teilweise widerstrebenden Beziehungen, von Freundschaften wie Feindschaften in gleichem Maße beherrschte aristokratische Realität. Kollidierten Verpflichtungen, musste abgewogen, verhandelt, ausgeglichen werden – wenngleich dies nicht immer möglich war. Der Kreislauf an gegenseitigen Freundschaftsdiensten bildete ein Netzwerk, an dem alle Aristokraten teilhaben konnten: Wellenartig breiteten sich die Verpflichtungen und Gegenverpflichtungen aus und berührten andere Beziehungen. Die untereinander geleisteten und empfangenen Aktionen – wie etwa der Dienst als Anwalt, die Vergabe von Krediten und Darlehen, von lukrativen Funktionsstellen im militärischen Dienst oder im Gefolge eines Statthalters – verliehen der 92 93

Dazu ausführlich ROLLINGER 2014: 17–52, 79–132. ROLLINGER 2014: 101–121.

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von fides und gratia, von officium und beneficium bestimmten Beziehung mit der Zeit einen sehr reellen Unterbau.94 Die Summe dieser durch konkrete Handlungen manifestierten Beziehungen bildete das soziale Kapital eines einzelnen Senatoren oder Ritters, das als potentieller Ertrag der Aktivierung seiner Beziehungen im aristokratischen Netzwerk definiert werden kann. 5 SCHLUSSBETRACHTUNGEN In den iudicia bonae fidei spiegelt sich die konsequente Umsetzung aristokratischer Wertvorstellungen wider – sie waren die Recht gewordene moralische Ordnung der römischen Oberschicht. Die fides, die Teil eines Verhaltens- und Ehrenkodexes war, den wir als typisch vor allem für die römische Aristokratie ansehen können, wurde zum Ursprung und Bewertungsmaßstab einer eigenen Prozesskategorie. Gerade für einen Vertreter der Oberschicht war es wohl nicht die Geldstrafe, die das zentrale Übel einer Verurteilung ex bona fide darstellte, sondern die öffentliche Aberkennung der bona fides, die im Grunde nichts anderes war als die staatlich legitimierte Bekanntmachung, dass er gravierend gegen den Habitus seines Standes verstoßen hatte. Die öffentliche Demütigung, gemeinsam mit den spezifischen rechtlichen Behinderungen – Verlust des Rederechts, des passiven Wahlrechts, der Postulationsfähigkeit –, wirkte sich verheerend auf seine Fähigkeit zu ‚netzwerken‘ aus. In den Quellen ist geradezu ein metus infamiae greifbar, eine tiefe Angst vor eben den Konsequenzen eines verlorenen Rechtsstreites, die sich darin niederschlägt, dass sich bemerkenswert selten ein Hinweis auf einen privaten Rechtsstreit unter Senatoren findet. So hat Dieter Nörr festgestellt, dass „im Briefwechsel Ciceros ständig von Beziehungen die Rede ist, die dem mandatum zuzuordnen wären, nirgends aber von Mandatsprozessen. Hätten wir aus dieser Zeit nur den Briefwechsel Ciceros, so könnte man an der Klagbarkeit des Mandats zweifeln.“95 94 95

Zu den unterschiedlichen Arten von officia siehe EBD.: 247–352. NÖRR 1993: 25. Dies gilt im übrigen nicht nur für die Mandatsprozesse: Von den 391 Gerichtsprozessen, die ALEXANDER 1990 für die republikanische Zeit zusammengetragen hat, lassen sich nicht mehr als seine Handvoll als mit iudicia bonae fidei zusammenhängend identifizieren, und dies nicht immer eindeutig. Unzweifelhaft sind lediglich die Fälle Nr. 22 (eine actio tutelae) und 73 (die besprochene sponsio ni vir bonus esset des M. Lutatius Pinthia). Ein weiterer Prozess (Nr. 26) aufgrund einer actio rei uxoriae ist wohl auch den iudicia bonae fidei zuzuordnen. Val. Max. 8,2,1 berichtet zudem von einer Klage des Calpurnius Lanarius gegen Claudius Centumalus und schreibt ausdrücklich, dieser habe jenen nach der Klageformel ‚quidquid sibi dare facere oporteret ex fide bona‘ belangt (arbitrum […] adduxit). Dieser Fall ist bei ALEXANDER 1990, soweit ich dies sehe, nicht aufgenommen, wohl aber ein ähnlich gelagerter Fall (Nr. 362), den man vielleicht ebenso als ex fide bona geführt betrachten kann. Die Prozesse Nr. 126 (P. Quinctius) und 134 sind dagegen zwar keine iudicia bonae fidei im engeren Sinne; da aber jeweils entweder die missio in bona oder die bonorum possessio gegen den Angeklagten im Raum stehen, haben wir es hier zumindest mit potentiell infamierenden Klagen zu tun, wie es auch die Nr. 208 war (res dolo malo mancipio acceptae). Selbst bei einer denkbar flexiblen Auslegung des Begriffes, sind weniger als 2 % aller bezeugten Gerichtsprozesse iudicia bonae fidei.

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Ein Beispiel vermag dies zu illustrieren: Anfang April des Jahres 49 v. Chr. – mitten im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius –, schreibt Cicero an seinen wohlhabenden Freund M. Fabius Gallus.96 Gallus hatte im Auftrag Ciceros einige Kunstobjekte, darunter Skulpturen von Bacchanten und des Mars, gekauft, stieß aber mit seiner Auswahl bei dem Freund auf wenig Gefallen, weder was die thematische Auswahl noch was den Preis anbelangte.97 Rechtlich gesehen haben wir es hier mit einem Mandat zu tun, das Cicero dem Gallus übertragen hatte, um in seinem Namen ein Geschäft abzuschließen. Der Ausgang des Geschäfts missfiel ihm aber und Cicero wäre in der Tat berechtigt gewesen, in einer actio mandati den übereifrigen Beauftragten zu belangen, denn er hatte dem Gallus eine genaue Summe festgesetzt, die dieser beim Kauf der Kunstwerke überschritten hatte.98 Cicero denkt indes gar nicht daran – stattdessen gibt er die Schuld seinem eigenen Freigelassenen und einem Iunius, über den außer seiner Freundschaft zu Avianius Evander, dem Verkäufer, nichts bekannt ist. Dies mag erstaunen, wenn man sich seine Worte aus der früheren Rede für Sex. Roscius aus Ameria in Erinnerung ruft. Hier hatte er noch die reine Nachlässigkeit bei der Ausübung des mandatum als höchste Schändlichkeit (summum dedecus) bezeichnet und der actio mandati attestiert, sie bringe nicht weniger Schande als Diebstahl (non minus turpe quam furti). An die Stelle der eigenen Sorgfalt trete nämlich die Treue der Freunde (operae nostrae vicaria fides amicorum sopponitur) und so würden bei Verstößen zwei ‚hochheilige‘ Grundsätze (duas res sanctissimas) verletzt: amicitiam et fidem.99 Gallus’ Nachlässigkeit ließe sich ohne Weiteres in dieser Beschreibung wiederfinden; so weist auch der Brief an Gallus eine Spur der Empörung des jungen Cicero auf – die eleganten Euphemismen und die halb gespielte, halb aufrichtige Bestürzung über die Mars-Skulptur („Martis vero signum quo mihi pacis auctori?“) verdecken seinen Ärger nur mühsam.100 Dennoch verzichtet er darauf, seinen Freund zu verklagen – und dieser Verzicht sollte uns nicht überraschen. Denn im Angesicht der empfindlichen Konsequenzen, die eine Verurteilung ‒ schon der Prozess – mit sich gebracht hätte, ist eine gerichtliche Auseinandersetzung unter Freunden schwer, um nicht zu sagen: unmöglich vorstellbar. Offensichtlich hat Ciceros Ärger nur kurz gewährt; jedenfalls wurde die Beziehung nur wenig beeinträchtigt.101 Ein Prozess wäre dagegen nur denkbar gewesen, wenn er in Gallus’ Fehlverhalten die vollständige Auflösung ihrer amicitia und Von M. Fabius Gallus, an den auch die Briefe Cic. fam. 7,24–26 adressiert sind, wissen wir wenig. Von seinem Wohlstand und seinen vielfältigen Verbindungen in die Oberschicht zeugen aber z. B. ein Empfehlungsschreiben Ciceros an Curtius Peducaeanus (fam. 13,59), ein ähnliches, von C. Cassius Longinus an Cicero gerichtetes Schreiben (fam. 13,15) und schließlich der Hinweis darauf, dass er plante, Ciceros Nachbarhaus auf dem Palatin zu erwerben (fam. 7,26,4). 97 Cic. fam. 7,23,2f. 98 Cic. fam. 7,23,1. 99 Rosc. Am. 111f. Vgl. Am. 113 (turpissimo iudicio). 100 Cic. fam. 7,23,1: „Aber eine Mars-Statue, was soll mir, dem Friedensstifter, die?“ (Übers.: FUHRMANN). 101 Vgl. nur etwa die warmen Worte in Cic. fam. 7,24.

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noch dazu deren Umkehr in das negative Zerrbild ihrer selbst – die inimicitia – gesehen oder dies in Kauf genommen hätte.102 Dann allerdings wurden regelmäßig alle Skrupel vergessen und die inimici mit Klagen aller Art überzogen;103 in diesem Kontext muss auch der Missbrauch der iudicia publica für persönliche Fehden gesehen werden, denn natürlich beschränkten sich verfeindete Parteien nicht auf Zivilklagen. Als deutlichster Beleg für diese aristokratische Zurückhaltung lässt sich ein anderer Fall anführen: Der lange Streit mit P. Cornelius Dolabella, dem ehemaligen Ehemann seiner Tochter Tullia. Es ging um die Rückgabe der dos, also potentiell um eine actio rei uxoriae, von der Gaius zumindest für die klassische Zeit bezeugt, dass sie zu den iudicia bonae fidei gehörte.104 Ob das auch schon für die späte Republik gegolten hat, wissen wir nicht. Jedenfalls hatte Cicero eine Engelsgeduld bewiesen und lässt seine Zweifel bezeichnenderweise erst im Dezember 44 v. Chr. hinter sich, da er ihn et mea et rei publicae causa hassen kann.105 Was war passiert? Dolabella hatte sich M. Antonius angeschlossen und neben seine privaten Verwerfungen mit dem ehemaligen Schwiegervater traten jetzt auch noch unüberbrückbare politische Differenzen. Erst in diesem Moment, da aus einer sehr strapazierten amicitia eine inimicitia geworden war, dachte er daran, summo iure gegen ihn vorzugehen. Seine lange Zurückhaltung ergab sich sicherlich aus der beschriebenen Verschränkung von rechtlichen und gesellschaftlichen Folgen und Gefahren, die mit einem Gerichtsprozess verbunden waren. Hier, vor dem Tribunal des Prätoren, wurde nämlich der Maßstab der bona fides und des bonus vir als juristisches Kriterium angelegt, und so musste jede rechtliche Belangung automatisch auch ein Urteil über die gesellschaftliche – und für einen Aristokraten: ‚öffentliche‘, d. h. politische – Zukunft sein. BIBLIOGRAPHIE Achard, Guy (1973): L’emploi de boni, boni viri, boni cives et de leurs formes superlatives dans l’action politique de Cicéron – In: Les Etudes Classiques 41 (1973), S. 207–221. Alexander, Michael C. (1990): Trials in the Late Roman Republic, 149 BC to 50 BC. Toronto: University of Toronto Press 1990. Bürge, Alfons (1999): Römisches Privatrecht. Rechtsdenken und gesellschaftliche Verankerung. Eine Einführung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990. Carcaterra, Antonio (1964): Intorno ai bonae fidei iudicia. Neapel: Jovene 1964. Cardilli, Riccardo (1997): ‚Bona Fides‘ tra storia e sistema. Turin: G. Giappichelli 21997. Ders. (2013): ‚Vir bonus‘ e ‚bona fides‘ – In: Lovato (2013), S. 179–208. 102 Siehe dazu ROLLINGER 2014: 122–132 mit weiterführender Literatur. 103 Siehe Val. Max. 7,8,7, der von der Feindschaft zwischen L. Valerius Flaccus (pr. 63 v. Chr.) und L. Cornelius Balbus (cos. suff. 40 v. Chr.), dem früheren praefectus fabrum Caesars, berichtet: und Valerius als von einer Vielzahl von Klagen gepeinigt (compluribus privatis litibus vexatus) beschreibt. 104 Gai. inst. 4,60. 105 Cic. Att. 16,15,1.

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DIE STADTRÖMISCHE PLEBS IN DEN ZEITGESCHICHTLICHEN BÜCHERN CASSIUS DIOS Katja Kröss In Cassius Dios Maecenas- und Livia-Rede findet sich die einzige konzeptionelle Überlegung der kaiserzeitlichen Literatur zu Platz und Rolle der stadtrömischen plebs innerhalb des politischen Gefüges Roms. Maecenas stellt die Forderung, dass demoi im Allgemeinen und der demos Roms im Speziellen von jeglicher institutionellen Beteiligung auszuschließen seien: Weder zu Gerichtssitzungen noch zu Ämterwahlen oder beratenden Versammlungen sollten sie zusammenkommen dürfen.1 Dass andernfalls ständige Unruhen zu erwarten seien, da Angehörige des Volkes der Fähigkeit zu vernünftigem Denken entbehrten,2 findet sich sinngemäß in der Warnung des Maecenas und der Livia wiederholt, dass strenge Bestrafung von Majestätsverbrechern Hass errege: Die Menge (πολλοί) sei unfähig, eine solche Maßnahme als notwendig und gerecht zu erkennen.3 Nimmt man die Eigenschaften hinzu, die der plebs in diesen beiden Reden als Konstante bescheinigt werden – erneut Unvernunft und Unruhestiftung, außerdem Unverschämtheit und Lasterhaftigkeit4 –, lässt sich die hier offenbarte Einstellung Dios5 in eine klare Formel kleiden, die mit jener der anderen kaiserzeitlichen Autoren konform geht: Die stadtrömische plebs ist der Teilnahme am politischen Leben unwürdig, da sie der hierfür benötigten intellektuellen wie moralischen Fähigkeiten entbehrt.6 Dios Version der Ereignisgeschichte von Republik und Prinzipat scheint dieses Verdikt über weite Teile zu bestätigen: Das Volk freut sich etwa an den Grausamkeiten und Verrücktheiten ‚schlechter‘ Kaiser, zeigt sich opportunistisch, wankelmütig und schmeichlerisch, vergnügungssüchtig und pöbelhaft, fordert,

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Cass. Dio 52,30,2; vgl. Cass. Dio 52,14,2–15,4. – Ich danke Agnes Luk, M.A. für die wie stets kritische Lektüre und sorgfältige Korrektur des Textes. Cass. Dio 52,30,2. Cass. Dio 52,31,9f.; Cass. Dio 55,19,5f. Cass. Dio 52,14,2; Cass. Dio 52,15,3; Cass. Dio 52,14,3; Cass. Dio 55,16,3; vgl. Cass. Dio 52,14,5. Ungeachtet der Frage des Standpunkts Dios in der Verfassungsdebatte des 52. Buches (vgl. den Forschungsüberblick bei HORST 2010: 193f.) überzeugt die Interpretation der MaecenasRede als pragmatischer Fürstenspiegel auch zeitgeschichtlicher Relevanz: vgl. KUHLMANN 2010 (bes. 117f.); außerdem etwa HORST 2010: 206; HOSE 1994: 399; anders etwa SCHMIDT 1999: 104–117. Dasselbe gilt für die sich auf clementia konzentrierende Livia-Rede: vgl. ADLER 2011: 149–154; GIUA 1981: 322–326. Vgl. zur Kaiserzeit bis zum beginnenden 2. Jh. n. Chr. hier wie im Folgenden KRÖSS 2017.

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was es nicht fordern sollte, ist immer wieder in Unruhen verwickelt.7 Dass die plebs punktuell durchaus ‚richtig‘ handelt, indem sie sich etwa gegen die Launen Caligulas empört, ein Opfer Domitians demonstrativ betrauert, sich gegen Seian stellt oder sich nach dem Ableben Caligulas und Neros der Freude der Senatoren anschließt,8 geht demgegenüber beinahe unter – zumal (ganz in Linie mit ihrem topischen ‚Wesen‘) nicht selten die Beschreibung der Art und Weise der Ausführung, deren ‚Nachwehen‘ oder die Zuschreibung einer egoistischen Handlungsmotivation einen positiven Eindruck vernichten. Letzteres trifft auf die Episode rund um die Steuergesetze Caligulas zu: Im Paragraphen zuvor freut sich die Masse noch an der gegen die Senatoren gerichteten Willkür des Kaisers.9 Beim betrauerten Opfer Domitians handelt es sich ‚nur‘ um einen Schauspieler,10 auf die – zumindest literarisch wohl akzeptierte – Schändung des Leichnams Seians folgt eine undifferenzierte Lynchjustiz,11 nach Caligulas Tod ergreifen die Konsuln Präventionsmaßnahmen gegen befürchtete Plünderungen seitens des Volkes.12 Die ungetrübte ‚gute‘ Tat, wie die friedliche Demonstration der plebs für Iulia,13 erscheint mithin kontingent. Es überrascht daher kaum, dass die Forschung Dio keinerlei Sympathien gegenüber der plebs attestiert: „Dio [war] kein Freund des römischen Stadtvolkes“, und: Was er an Positivem über es berichtet, nämlich „daß [es] regelmäßig über politische Fragen und das Verhalten der Machthaber seine Meinung äußerte, also nicht nur über Brot und Spiele“, das „konnte er nicht verhehlen“, schreibt etwa Lukas de Blois im einzigen einschlägigen Beitrag zu Dio und der plebs.14 Nicht verhehlen konnte Dio, in Diskrepanz zu seiner konzeptionellen Überlegung zu Wesen und Rolle der plebs, insbesondere deren Aktionen zu seiner eigenen Zeit. Dabei wurde bisher weniger übersehen, dass das Volk immer wieder – und beina7

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Exemplarisch sei auf Cass. Dio 59,28,10 (Xiph.; Exc. Val.); Cass. Dio 64(65),1,1 (Xiph.); Cass. Dio 69,6,1 (Xiph.; Exc. Val.); Cass. Dio 54,1,3 verwiesen. Zur Republik vgl. SIMONS 2009: 54f. Vgl. etwa Cass. Dio 59,28,11 (Xiph.; Exc. Val.); Cass. Dio 67,3,1 (Xiph.; Zon.); Cass. Dio 58,9,1; Cass. Dio 59,30,1a (Joann. Antioch.); Cass. Dio 63,29,1 (Xiph.). Cass. Dio 59,28,10 (Xiph.; Exc. Val.); dies wird verstärkt durch das den nächsten Paragraphen einleitende µέντοι. Die Episode mag freilich in einer gekürzten Version vorliegen: zur Arbeitsweise der Epitomare und Exzerptoren vgl. MILLAR 1964: 1–4. Cass. Dio 57,3,1 (Xiph.; Zon.). Zur Stellung der Schauspieler in Rom vgl. LEPPIN 2011: 670– 675. Cass. Dio 58,12,1. Vgl. die Reaktionen auf Neros Tod im Ergänzungsbericht Zon. 11,13, p. 42,10–20D zu Cass. Dio 63,29,1 (Xiph.). Zur Deutung der fließenden Grenzen zwischen literarischem und historischem Phänomen, „zwischen Dichtung und Wahrheit“ (97), von Todesdarstellungen von Kaisern vgl. ROHMANN 2006: 94–97. Cass. Dio 59,30,3 (Joann. Antioch.). Cass. Dio 55,13,1 (Xiph.). DE BLOIS 1997: 2659. Ähnlich YAVETZ 1969: 5f.; vgl. außerdem etwa MILLAR 1964: 76, 109; SIMONS 2009 (bes. 54). Obwohl FECHNER 1986: 205 auf das Fehlen einer „generelle[n] Verachtung des Volkes“ bei „Distanziertheit Dios zur Volksmasse“ verweist, scheint sich, wo er in seiner Analyse der Volksterminologie (200 mit Anm. 19, 202–205) zwischen der plebs in ihren institutionalisierten Formen einerseits und als lose Gruppierung in ihren außerinstitutionellen Aktionen andererseits differenziert, Dios Abneigung gegen letztere zu bestätigen.

Die stadtrömische plebs in den zeitgeschichtlichen Büchern Cassius Dios

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he ausschließlich – zu Fragen der hohen Politik Stellung bezieht,15 sondern dass es dies in einer in der politischen Literatur zumindest der Kaiserzeit singulären Weise tut: Die plebs agiert (selbst-)kontrolliert, reflektiert – und vor allem moralisch. Sie handelt ‚richtig‘ und bestätigt entweder die – von Dio als solche dargestellte16 – senatorische Haltung oder fungiert sogar als Korrektiv derselben. Wenngleich den entsprechenden Stellen auch historische Implikationen zu entnehmen sind, erfüllen sie entgegen der bisherigen Forschung, die dazu tendiert, sowohl Dio als „Träger ungetrübter Informationen“17 zu lesen als auch die wenigen Nachrichten über die plebs in unseren literarischen Quellen als ebenso ungetrübt aufzufassen,18 eine primär literarische Funktion. Dies zeigt sich besonders eindrücklich in der Darstellung der Herrschaft des Macrinus. Die wenigen Stellen, die sich nicht mit der Kategorie der Moral beschreiben lassen, stärken diesen Befund und führen außerdem zu einer neuen Betrachtung der zeitgeschichtlichen Bücher Cassius Dios, die über die hier verfolgte Fragestellung hinaus von Relevanz sein dürfte. 1 MORALISCHE STÜTZE UND MORALISCHES KORREKTIV In der Darstellung der knapp fünfzig Jahre, die die zeitgeschichtlichen Bücher Dios abdecken, wird die stadtrömische plebs achtzehn Mal in einer aktiven Rolle erwähnt. Der Großteil der geschilderten Ereignisse, nämlich vierzehn, tangiert unmittelbar die Frage der Zustimmung oder Ablehnung des (zukünftigen, aktuellen oder verstorbenen) Kaisers. Einheitlich Ablehnung erfahren – ganz anders präsentiert sich der Sachverhalt in der Geschichtsschreibung zur frühen Kaiserzeit! – die ‚schlechten‘ Kaiser: die ‚verrückten‘, Commodus und Elagabal, der so gut wie ‚verrückte‘, Caracalla, schließlich der sich eingekaufte, Didius Iulianus. Die Spiele des Commodus 192 n. Chr. werden zwar teils aus Furcht und damit aus niederen Beweggründen, aber auch aus Fremdscham boykottiert, das Publikum besteht nur noch aus Senatoren und Rittern.19 Nach seinem Tod schimpfen Senat und Volk gemeinsam auf ihn, und diejenigen Senatoren, die unter ihm gelitten haben, erfahren besonderen Zuspruch.20 Als Didius Iulianus am Morgen nach seiner Akklamation, und nachdem 15

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Die Unterscheidung zwischen einer in Hinblick auf die plebs passiveren ersten und einer aktiveren zweiten Phase der Kaiserzeit wird seit den Anfängen der Forschung zur plebs vorgenommen: HAHN 1969: 41f.; YAVETZ 1969: 5; vgl. zuletzt SÜNSKES THOMPSON 1993 (bes. 36, 50); implizit durch die Wahl der Beispiele wiederum DE BLOIS 1997: 2657–2660. Auf diese entscheidende Differenzierung verweist DAVENPORT 2012 am Beispiel der Herrschaftszeit Caracallas. So erst jüngst die Kritik von HOSE 2011: 115 an der althistorischen Forschung. So etwa SÜNSKES THOMPSON 1990: 95–134 und BERING-STASCHEWSKI 1981. Vgl. jedoch, mit problematischer Umsetzung, FLAIG 1992: 23–25; zuletzt prägnant DERS. 2010: 283, Anm. 9 sowie SÜNSKES THOMPSON 1993: 74 ohne Berücksichtigung in ihrer Analyse. Cass. Dio 73(72),20,1–3 (Xiph.; Exc. Val.). Cass. Dio 74(73),2,1–3 (Xiph.).

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die Senatoren ihm bereits ihre Aufwartung gemacht haben, zur curia eilt, wartet bereits eine protestierende Volksmenge auf ihn, die auf sein (Kauf-)Angebot, ein congiarium, mit Empörung reagiert, es zu einer zum Teil tödlichen Auseinandersetzung mit den Soldaten kommen lässt und schließlich einen 24 Stunden andauernden Hunger- und Durststreik im Circus antritt, während dessen sie Pescennius Niger herbeiruft, um sich dann in Ruhe wieder aufzulösen.21 Nach Caracallas Ermordung finden sich Volk und Senat in Hass vereint,22 Elagabal zieht sich den von Volk und Soldaten zu.23 Drei Kaisern spricht die plebs – punktuell – Zustimmung aus. Pertinax wird in zwei Episoden, die seine Kaiserwerdung ankündigen, herbeigewünscht;24 Septimius Severus im Rahmen seines Adventus zugejubelt.25 Macrinus’ Herrschaft wird mit Freude angenommen, ihr Ende betrauert26 – obwohl in der Zeit dazwischen die Stimmung bald zu kippen beginnt und schließlich im September 217 n. Chr. in einer Gegendemonstration im Circus gipfelt.27 Zwei Ereignisse, beide unter Severus, tangieren die Frage der Zustimmung oder besser: der Ablehnung des Kaisers schließlich mittelbar. 196 n. Chr., kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs zwischen Severus und Clodius Albinus und in einer Situation, in der sich die Senatoren mit wenigen Ausnahmen in vornehmer Zurückhaltung üben, verweigert das Publikum im Circus die Partizipation am Geschehen, um plötzlich gemeinsam in Rufe für das Wohlergehen des Volkes und für Rom auszubrechen und über den Bürgerkrieg zu klagen.28 Vor dem Sturz des Plautianus, Prätorianerpräfekt und Schwiegervater Caracallas, 205 n. Chr. datiert die zweite Episode, in der Severus ebenfalls mittelbar Zustimmung versagt wird: Wiederum im Circus spielt das Publikum in lauten Zurufen damit, dass Plautianus’ Macht größer sei als jene des ‚Herrschertrios‘ Severus, Caracalla und Geta.29 In all diesen Episoden bestätigt die plebs entweder das Urteil der Senatoren ‒ auf Macrinus wird noch zurückzukommen sein – oder aber wächst über diese hinaus. Dabei ist ein klares Muster erkennbar. Während die plebs nach dem Ableben der Kaiser weitgehend ‚nur‘ Emotionen zeigt und diese mit den Senatoren teilt,30 läuft sie zu deren Lebzeiten geradezu zu Höchstform auf: Sie zögert nicht, ihre oppositionelle Haltung durch konkrete Aktionen, teils unter Einsatz ihres Lebens und unbeirrt zu zeigen – während die Senatoren nicht nur kuschen, sondern zur öffentlichen Demonstration princeps-konformen Verhaltens gezwungen sind. Ein andersgeartetes Benehmen hätte sie freilich mit guter Wahrschein21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Cass. Dio 74(73),13,2–5 (Xiph.). Cass. Dio 79(78),9,1; Cass. Dio 79(78),15,2. Cass. Dio 80(79),17,1 (Xiph.). Cass. Dio 74(73),4,1f. (Xiph.; undatiert); Cass. Dio 74(73),4,3f. (Xiph.; 192 n. Chr.). Cass. Dio 75(74),1,4f. (Xiph.). Cass. Dio 79(78),15,2; Cass. Dio 79(78),39,4. Cass. Dio 79(78),19,3f.; Cass. Dio 79(78),20,1–3. Cass. Dio 76(75),4,2–6 (Xiph.). Cass. Dio 77(76),2,2f. (Xiph.; Exc. Val.). Als eine „proseverische Demonstration“ interpretiert diese Aktion wenig überzeugend SÜNSKES THOMPSON 1990: 110. Eine Ausnahme bilden die Emotionen nach dem Tode Elagabals: vgl. dazu unten.

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lichkeit ihr politisches und/oder physisches Leben gekostet:31 durchaus nicht nur unter den ‚schlechten‘ Kaisern, ist ‚schlecht‘ doch, liest man zwischen den Zeilen selbst vermeintlicher Lichtblicke an Kaisern oder zumindest Regierungsphasen, relativ – keiner der acht plus der zwei ‚halben‘ Kaiser (Pescennius Niger und Clodius Albinus) seiner Zeit ist für Dio ein bonus princeps. Dio, selbst Senator, ist sich dieses Verhaltens bewusst, ohne jedoch, anders als etwa Tacitus, damit zu hadern: Er konstatiert es nur. Als Geschichtsschreiber, der sich im Dienste der Bildung eines historischen Urteils über den Kaiser und der moralischen Belehrung, des Aufzeigens, was gutes und was schlechtes Handeln ist, sieht, lässt er es gleichwohl nicht dabei bewenden – zumal er sich für seine Zeit besonders in der Verantwortung sieht, attestiert er sich selbst doch das Alleinstellungsmerkmal ‚Detailwissen‘.32 Beides, Urteil und Belehrung, leistet nun die Darstellung der Aktionen und Emotionen der plebs: Während Emotionen – nach dem Ableben der Kaiser – das senatorische Urteil stützen, stellen Aktionen eine Korrektur des Verhaltens der Senatoren dar, die in foro externo nicht zeigen können, was sie in foro interno – denn an der inneren Opposition lässt Dio keinen Zweifel – denken. Nicht die Senatoren sind moralisches Vorbild, die plebs ist es. Der Boykott der Spiele des Commodus ist die angemessene Antwort auf dessen Grenzüberschreitung; die Anspielungen auf den zukünftigen Kaiser Pertinax verweisen, wie seine positive Darstellung per se,33 darauf, was vom letzten Antoninen zu halten ist – die Szenen nach der Ermordung, endlich unter Beteiligung des nun gefahrlos auf diese Weise handelnden Senats, zementieren dieses Urteil lediglich. Die Demonstration gegen Didius Iulianus, vor allem das Detail der Verweigerung des congiarium, ist nicht nur mutige Stellungnahme gegen den sich mit Waffen behauptenden Kaiser, sondern zeigt ganz klar, was vom ‚Kauf‘ der Herrschaft und damit vom Käufer zu halten ist. Weniger scharf fällt die Kritik gegen Severus aus, wenngleich auch sie nicht zu überlesen ist: In den Protesten gegen den Bürgerkrieg sind die fehlende Schuldzuweisung an und die ebenso fehlende Diskreditierung des vermeintlichen Feindes, Clodius Albinus, der Rom von außen bedroht, auch – möglicherweise vor allem – eine Stellungnahme gegen Severus,34 und dasselbe gilt für die vom Volk hervorgehobene Schwäche im Vergleich zu Plautianus sowie die Beeinflussbarkeit desselben Kaisers.

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Vgl. den Kommentar Dios (76[75],4,2 [Xiph.]) zu den wenigen offenen Stellungnahmen von Senatoren für Severus oder Albinus, wonach diese „Hoffnungen wie Gefahren der beiden Nebenbuhler teilten“. Cass. Dio 73(72),18,3f. (Xiph.; Exc. Val.). Vgl. etwa BERING-STASCHEWSKI 1981: 38f. Ebenso verhält es sich mit der Darstellung des Endes der Entscheidungsschlacht und des Todes des Albinus, in der Dio Severus die Qualitäten eines αὐτοκράτωρ ἁγαθός expressis verbis abspricht (Cass. Dio 76[75],7,1–4 [Xiph.]): vgl. BERING-STASCHEWSKI 1981: 55f.

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2 DAS FALLBEISPIEL MACRINUS Neben dem singulären Befund der durchgehenden (moralischen) Positivität der Aktionen der plebs und dem auffälligen Muster ihrer Funktion als Stütze des offen gelebten Urteils der Senatoren nach dem Tod des Kaisers und als Korrektiv des nur empfundenen Urteils während dessen Lebzeiten lässt sich als drittes Argument für und gleichzeitig als Fallbeispiel der literarischen Verfügbarkeit der plebs Dios Darstellung der kurzen Herrschaft des Macrinus anführen. Dieser Abschnitt bietet sich nicht zuletzt deshalb zur Detailanalyse an, weil er zwar lückenhaft, aber im Original überliefert ist, so dass gegebenenfalls beeinträchtigende Kürzungen ausgeschlossen werden können. Drei Passagen beschäftigen sich mit der Haltung der plebs zu Macrinus. Am Anfang und Ende des entsprechenden Abschnitts, im Kontext von Macrinus’ Kaiserwerdung am 11. April 217 n. Chr. respektive seiner Niederlage gegen Elagabal am 8. Juni 218 n. Chr.,35 konstatiert Dio ungetrübte Zustimmung des Volkes: „[…] die meisten einfachen Bürger dagegen hatten angesichts der Tatsache, daß sie so schnell und unverhofft Tarautas losgebracht hatten und daß der neue Herrscher auf Grund seiner Erklärungen in allen sonstigen Beziehungen eine ähnliche Staatsführung erwarten ließ, gar keine Möglichkeit, ihn während einer so kurzen Zeitspanne zu verurteilen. Und daher betrauerten sie lebhaft diesen Mann nach seinem Hinscheiden, der im Falle eines längeren Lebens ihnen ganz bestimmt zum Gegenstand des Hasses geworden wäre.“36 „Seine [Macrinus’] Absicht war, eilends nach Rom zurückzukehren und sich dort bei Senat und Volk irgendwelche Hilfe zu verschaffen, und sicherlich hätte er etwas erreicht, wenn er dorthin entflohen wäre; denn die Einstellung der Stadtbevölkerung war ihm angesichts der Anmaßung der Syrer, der Jugend des Falschen Antoninus und des willkürlichen Vorgehens des Gannys und Komazon entschieden günstiger, so daß selbst die Soldaten entweder freiwillig ihre Haltung geändert hätten oder andernfalls überwältigt worden wären.“37

Im Widerspruch zu den Aussagen, dass die plebs aufgrund von Macrinus’ kurzer Herrschaftszeit gar keine Möglichkeit gehabt habe, ihn zu verurteilen, sondern dies nur – dann aber sicher! – im Falle eines längeren Lebens getan hätte, wendet sich die plebs im mittleren Teil der Darstellung zuerst allmählich, schließlich, mit der Episode im Circus bereits im September 217 n. Chr., komplett von Macrinus ab: 35 36

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Datierung nach KIENAST 2004: 169. Cass. Dio 79(78),15,2: „[…] οἱ δὲ δὴ πλείους τῶν ἰδιωτῶν πρός τε τὴν διὰ βραχέος παρ’ ἐλπίδα τοῦ Ταραύτου ἀπαλλαγὴν καὶ πρὸς τὴν ἐκείνου παραπλησίαν, ἐξ ὧν ὑπεδεδείχει σφίσιν, πρὸς πάντα καὶ τὰ λοιπὰ προσδοκίαν οὐκ ἔσχον καιρὸν δι’ ὀλίγου οὕτως αὐτοῦ καταγνῶναι, καὶ διὰ τοῦτ’ ἰσχυρῶς ἀποθανόντα ἐπόθησαν ὃν πάντως ἄν, εἴπερ ἐπὶ πλεῖον ἐβεβιώκει, διὰ µίσους ἐσχήκεσαν.“ (Übers.: VEH). Cass. Dio 79(78),39,3f.: „[…] γνώµην ἔχων ἐς τὴν Ῥώµην ἀναδραµεῖν ὡς καὶ ἐκεῖ παρά τε τῆς βουλῆς καὶ παρὰ τοῦ δήµου βοηθείας τινὸς τευξόµενος. καὶ εἴπερ ἐπεφεύγει, παρὰ τοῦ δήµου βοηθείας τινὸς τευξόµενος. καὶ εἴπερ ἐπεφεύγει, πάντως ἄν τι κατείργαστο· ἡ γὰρ εὔνοιά σφων παρὰ πολὺ ἐς αὐτόν, πρός τε τὸ τῶν Σύρων τόλµηµα καὶ πρὸς τὴν τοῦ Ψευδαντωνίνου ἡλικίαν τό τε τοῦ Γάννυ καὶ τοῦ Κωµάζοντος αὐτεπίτακτον σκοπούντων, ἐποίει, ὥστε καὶ τοὺς στρατιώτας ἂν ἢ ἑκόντας µετανοῆσαι ἢ καὶ ἄκοντας καταδαµασθῆναι.“ (Übers.: VEH).

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„Das Volk aber begann seine Einstellung zu Macrinus zu ändern, die Leute bedachten vielmehr, daß sie zuvor schon nichts von ihm gehalten hatten […] und ganz und gar änderte sich die Einstellung der gesamten Bevölkerung Roms […]. Das Volk aber, das sich bei dem Wettkampf einer Entdeckung leicht entziehen konnte und durch seine große Menge ermutigt fühlte, brach bei dem Pferderennen anläßlich des Geburtstages des Diadumenianus ‒ es war der 14. September – in lautes Geschrei aus; neben vielen anderen Klagen machten die Leute geltend, sie allein von allen Menschen seien ohne Führer und Kaiser. Und so riefen sie Iuppiter an, er allein solle sie führen, und fügten noch wörtlich hinzu: ‚Wie ein Herr hast du gezürnt, wie ein Vater erbarme dich unser!‘ Sie wollten sich zuerst auch nicht um den Ritter- oder Senatorenstand kümmern, die […] den Augustus und den Caesar priesen […]. Auch die anderen sollten sich zu ihnen bekennen, doch die Masse hob die Hände zum Himmel und schrie: ‚Dieser da ist der Augustus der Römer! Haben wir ihn, so haben wir alles!‘ […] Und das Volk betrachtete daher sowohl Macrinus wie auch Diadumenianus als gar nicht mehr vorhanden und zertrat sie wie bereits Tote unter seinen Füßen.“38

Der Widerspruch ist mithin ein textimmanenter: Mit dem Topos der Wankelmütigkeit, immerhin einem der gängigsten in Bezug auf die plebs, den man hier auf den ersten, flüchtigen Blick annehmen könnte, lässt er sich nicht erklären. Doch nicht nur das Verhalten der plebs – oder besser: die Beschreibung desselben – ist unstimmig, es ist dies das gesamte Bild des Macrinus bei Dio. Besonders eindrücklich offenbaren dies die beiden Charakterporträts zu Beginn und am Ende des Abschnitts: Hier treffen ‚sein anständiges Wesen‘, seine tadellose bisherige Laufbahn und selbst positive Maßnahmen während seiner Herrschaft auf deren Kontingenz und seine Unkenntnis („was Recht und Herkommen betraf, wußte er darin nicht so genau Bescheid, wie er sie getreulich einhielt“); hier wird die vormalig und wiederholt geäußerte Würdigung des Attentats gegen Caracalla zum ‚Tadel‘, und der anfänglich guten Aussicht (neben den Soldaten ließ er „auch den übrigen Menschen eine Fülle des Guten erhoffen“) steht sein seit Beginn angelegtes Scheitern gegenüber („Macrinus’ Lob hätte das aller Menschen übertroffen, wenn er nicht selbst hätte Herrscher werden wollen“).39 Der gravierende ‚Mangel‘ 38

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Cass. Dio 79(78),19,3–20,3: „οὐκέτ’ ὁµοίως φρονεῖν ἤρξαντο, ἀλλ’ ἐνθυµούµενοι ὅτι πρότερον ἐν οὐδενὶ λόγῳ ἐπεποίηντο […] καὶ παντάπασιν αἱ γνῶµαι πάντων ἀνθρώπων τῶν ἐν τῇ Ῥώµῃ […]. ὁ δὲ δῆµος, ἅτε καὶ ἐν τῇ ἀγωνίᾳ λανθάνων καὶ ὑπὸ τοῦ πλήθους σφῶν µᾶλλον θρασυνόµενος, µέγα ἀνεβόησεν ἐν τῇ τῶν τοῦ Διαδουµενιανοῦ γενεθλίων ἱπποδροµίᾳ, ἣ τῇ τετάρτῃ καὶ δεκάτῃ τοῦ Σεπτεµβρίου ἡµέρᾳ ἐγίγνετο, ἄλλα τε πολλὰ ὀδυρόµενος καὶ λέγων µόνους τῶν πάντων ἀνθρώπων ἑαυτοὺς δὴ ἀπροστάτους ἀβασιλεύτους εἶναι· τόν τε Δία ἀνεκάλουν ὡς δὴ καὶ µόνον σφῶν ἡγησόµενον, καὶ δὴ καὶ αὐτὸ τοῦτο εἶπον ὅτι ‚ὡς κύριος ὠργίσθης, ὡς πατὴρ ἐλέησον ἡµᾶς‘. οὐδὲ ἐφρόντισαν οὐδὲν τὴν πρώτην οὔτε τοῦ ἱππικοῦ οὔτε τοῦ βουλευτικοῦ τε [ … ] τόν τε αὐτοκράτορα καὶ τὸν Καίσαρα ἐπαινούντων […] κἀκείνους καὶ ὁµοφρονεῖν σφισιν ἐθελόντων· ἀλλ’ ἔς τε τὸν οὐρανὸν τὰς χεῖρας ἀνέτεινον καὶ ἐβόων ‚οὗτός ἐστιν ὁ Ῥωµαίων Αὔγουστος· τοῦτον ἔχοντες πάντα ἔχοµεν‘. […] ὥστε καὶ ἐκείνους µηδ’ἀρχὴν ἔτι εἶναι τόν τε Μακρῖνον καὶ τὸν Διαδουµενιανὸν νοµίζειν, ἀλλ’ ὡς καὶ τεθνηκότας αὐτοὺς ἤδη καταπατεῖν.“ (Übers.: VEH). Charakterporträts: Cass. Dio 79(78),11,1–12,3; Cass. Dio 79(78),40,3–41,4. Einzelzitate: Cass. Dio 79(78),11,2 (Wesen, Unkenntnis): „τά τε νόµιµα οὐχ οὕτως ἀκριβῶς ἠπίστατο ὡς πιστῶς µετεχειρίζετο“ (Übers.: VEH); Cass. Dio 79(78),12,1 (Hoffnung): „πολλὰ δὲ καὶ ἀγαθὰ τοῖς ἄλλοις ἀνθρώποις ὑπετείνατο“ (Übers.: VEH); Cass. Dio 79(78),41,2 (Herrscher): „καὶ ὁ µὲν ἐπαινεθεὶς ἂν ὑπὲρ πάντας ἀνθρώπους, εἴ γε µὴ αὐτὸς αὐταρχῆσαι ἐπετεθυµήκει“ (Übers.: VEH).

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aus Sicht (zumindest) der Senatoren, von dem es im Anfangsporträt noch heißt, dass sein Wesen ihn habe vergessen lassen,40 konnte spätestens in dem Moment nicht mehr vergessen werden,41 als Macrinus Kaiser wurde: Macrinus war Ritter („ganz passend kann man ihn daher mit jenem Esel vergleichen, der von dem Geist zum Kaiserpalast hinaufgeführt wurde“42) – der erste Ritter auf dem Kaiserstuhl. Folgerichtig lautet die Fortsetzung von „wenn er nicht selbst hätte Herrscher werden wollen“: „sondern ein Mitglied des Senats zum Gebieter über das Römerreich ausgewählt und zum Kaiser erhoben hätte.“43 Das zentrale Hindernis für eine klare Verurteilung des Macrinus entstand Dio als senatorischem Geschichtsschreiber nun dadurch, dass dieser klar nicht akzeptierbare Kaiser, da gerade nicht primus inter pares, mit zwei entscheidenden Vorteilen aufwartete, die außerhalb von seiner Person zu finden sind: seinem Vorgänger Caracalla und seinem Nachfolger Elagabal.44 Sie werden explizit als Grund für die positive Haltung der plebs in den beiden oben zitierten Passagen genannt: Ihre anfängliche Zustimmung verdanke er unter anderem dem Umstand, dass sie „so schnell und unverhofft Tarautas losgebracht hatten“, die Zustimmung noch am Ende „der Anmaßung der Syrer, der Jugend des Falschen Antoninus“.45 Dass Macrinus es dieser historischen Stellung zwischen zwei ‚schlechten‘ Kaisern verdankt, dass Dio zumindest einige gute Haare an ihm lässt, zeigt sich nicht nur an der Konzession, dass dieser „im Falle eines längeren Lebens […] ganz bestimmt zum Gegenstand des Hasses geworden wäre“ – wobei Dio auch damit der plebs zumindest relative politische Klugheit zugesteht! Es zeigt sich auch und insbesondere an der Circus-Episode, deren Widersprüchlichkeit sich erst unter diesem Blickwinkel erklärt: Denn dort, in der Mitte der Narrative zu Macrinus und gleichzeitig der mittleren der drei Passagen zur plebs, dort, wo ausschließlich und isoliert Macrinus im Mittelpunkt steht, wo das historische Urteil über Caracalla und über Elagabal nicht der Aufwertung von Macrinus’ Herrschaft bedarf, genau dort muss Dio nicht mehr dessen Akzeptanz betonen und kann (s)ein ungeschminktes Urteil über Macrinus fällen. Er fällt es (auch), wie in den beiden anderen Passagen, indem er die plebs um eine klare Stellungnahme bemüht – eine Stellungnahme, die die Senatoren nicht erbringen: Diese sind im Gegenteil gemeinsam mit den Rittern damit beschäftigt, den abwesenden Macrinus zu bejubeln, und damit alles andere als ein moralisches Vorbild.46 Lediglich in die 40 41 42 43

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Cass. Dio 79(78),11,2. Anders BERING-STASCHEWSKI 1981: 94f. in unkritischer Lesung Dios. Cass. Dio 79(78),11,1: „[...] ὥστε καὶ σφόδρα εἰκότως αὐτὸν τῷ ὄνῳ ἐς τὸ παλάτιον ὑπὸ τοῦ δαιµονίου ἐσαχθέντι εἰκασθῆναι.“ (Übers.: VEH). Cass. Dio 79(78),41,2: „[...] εἴ γε µὴ αὐτὸς αὐταρχῆσαι ἐπετεθυµήκει, ἀλλ’ ἐπιλεξάµενός τινα τῶν ἔς γε τὴν γερουσίαν τελούντων τῆς τῶν Ῥωµαίων ἀρχῆς προστατῆσαι, αὐτοκράτορα αὐτὸν ἀπεδεδείχει.“ (Übers.: VEH). Vorwurf und Forderung finden sich mehrfach wiederholt. Ähnlich funktioniert auch die Konstruktion des Bildes Othos in den Quellen: KRÖSS 2012: 249f. Siehe erneut Anm. 36 und Anm. 37. Die in diesem Kontext erfolgende, in den zeitgeschichtlichen Büchern singuläre und an Tacitus’ vulgum, cui minor sapientia ex mediocritate fortunae pauciora pericula sunt (ann.

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erste Passage schmuggelt Dio den senatorischen Vorbehalt ein. Denn zwar begrüßen die meisten einfachen Bürger (ἰδιῶται) aufgrund des Endes der Herrschaft Caracallas dessen Nachfolger Macrinus mit Begeisterung, wenige (ὀλίγοι) aber machen sich durchaus über dessen negative Maßnahmen Gedanken.47 Taten folgen diesen freilich auch an dieser Stelle nicht. 3 GELEBTE UND ERLEBTE ZEITGESCHICHTE   Vier Episoden der Zeitgeschichte fallen insofern aus dem Rahmen, als sie sich einerseits nicht bzw. nicht direkt auf den Kaiser beziehen, sondern auf ‚Nebendarsteller‘ der Kaisergeschichte, andererseits sich nicht mit dem Begriff der Moral oder Amoral beschreiben lassen. Sie verweisen auf die Sonderstellung und Geschlossenheit der vierzehn anderen Episoden, auf die sich die Analyse bisher konzentrierte, und liefern damit das vierte Argument für die Zentralität der literarischen Funktion der plebs in diesen Passagen. Es handelt sich erstens um die Papirius-Dionysios-Affäre 189 oder 190 n. Chr.,48 zweitens um die auf den Sturz Elagabals folgenden Ermordungen weiterer Personen, unter anderem des procurator summarum rationum Aurelius Eubulus, dessen Auslieferung drittens noch zu Elagabals Lebzeiten gefordert worden war,49 viertens schließlich, zwischen 222 und 223 n. Chr., um eine Auseinandersetzung des Volkes mit den Prätorianern.50 Trotz der Außergewöhnlichkeit der ersten Episode mit dem Sturz einer hochgestellten Persönlichkeit51 erinnern sie insgesamt an Aktionen, wie sie auch in der Ereignisgeschichte der ersten eineinhalb Jahrhunderte des Prinzipats begegnen. Dies ist kaum ein Zufall. Eine dritte Gemeinsamkeit verbindet die vier Episoden: Sie sind an den beiden Rändern von Dios Zeitgeschichte angesiedelt, die man üblicherweise 182 n. Chr. mit „den Beobachtungen des jungen Dio im Commodianischen Rom“ beginnen und mit „seinem Konsulat als betagter Kollege Severus Alexanders“ 229 n. Chr. enden lässt.52 Eine Differenzierung, die bisher noch nicht vorgenommen wurde, ist jedoch angebracht: jene zwischen einer lediglich gelebten Zeitgeschichte, in der Dio emotional kaum involvierter Zeitgenosse war, und einer erlebten Zeitgeschichte, in der er politisch aktiver und emotional involvier-

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14,60,5; Klagen über die Verstoßung der Octavia) erinnernde, aber gerade nicht derart abwertende Apologie, dass der δῆµος (nicht πλῆθος!) sich einer Entdeckung eher entziehen könne und durch seine große Menge ermutigt fühle, wertet die moralische Leistung der plebs demgegenüber kaum ab – zumal sie, selbst als mit dem uterque ordo „[a]uch die anderen […] sich zu ihnen bekennen [sollten]“ (Cass. Dio 79[78],20,1), sich in ihren Protesten nicht beirren lässt. Cass. Dio 79(78),15,2. Cass. Dio 73(72),13,1–6 (Xiph.; Exc. Val.). Vgl. hierzu WHITTAKER 1964; ALFÖLDY 1989. Die Datierung ist umstritten. Beide Cass. Dio 80(79),21,1 (Xiph.; Exc. Val.). Cass. Dio 80,2,3 (Xiph.; Exc. Val.). Vgl. dazu unten. SCHMIDT 1997: 2592; vgl. MILLAR 1964: 14.

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ter Zeitzeuge der Geschehnisse in Rom war und die einen kürzeren Zeitraum umfasst als erstere, nämlich von 192 bis 217/218 n. Chr. Dass das Ende der erlebten Zeitgeschichte mit 217/218 n. Chr. angegeben werden kann, dürfte unstrittig sein: Dio war, wie er selbst mehrfach bestätigt, nach dieser Zeit beinahe permanent von Rom und aus Italien abwesend.53 Davon zeugt auch die Qualität der Abschnitte zu Elagabal und Severus Alexander: Der anekdotische Charakter der Elagabal-Vita – Vita durchaus im Stile der Biographie54 – ist nicht nur im Vergleich zu den anderen Büchern evident, während, worin Manfred Schmidt zu folgen ist, Dio den nur wenige Kapitel umfassenden Teil zu Severus Alexander lediglich als Appendix seiner Römischen Geschichte begreift.55 Schließlich ist selbst bei Berücksichtigung der gekürzten Überlieferung in Exzerpten augenfällig, dass die Senatoren in der Darstellung dieser beiden Kaiser so gut wie keine Rolle mehr spielen – ein Indiz der emotionalen Distanziertheit Dios, die sich nicht allein durch dessen Angewiesenheit auf Vorlagen erklären lässt. Bezeichnend ist, dass die Beschreibung einer senatorischen Stellungnahme zum Ende Elagabals unterbleibt: Lediglich vom Hass seitens des Volkes und der Soldaten, der ihm schließlich den Untergang bereitet hätte, ist die Rede; lediglich diese beiden bringen auch seinem Umfeld den Tod.56 In der knappen Darstellung des Severus Alexander fehlen die Senatoren ganz. So, wie das Ende der erlebten Zeitgeschichte trotz Aussage Dios am Beginn des Alexander-Abschnitts, bis dahin ausführlich berichtet zu haben,57 nach vorne korrigiert werden muss, verhält es sich auch mit dem Anfang derselben, allerdings nach hinten. Dio konstatiert zwar zum Jahr 182 n. Chr., „[d]iese und die folgenden Tatsachen […] nicht mehr gestützt auf fremde Überlieferung, vielmehr aufgrund eigener Beobachtung“ zu berichten,58 doch war er, um 164 n. Chr. geboren, zu diesem Zeitpunkt wohl erst achtzehn Jahre alt, und über die folgenden Jahre wissen wir nur, dass er seinen Vater, als dieser um diese Zeit Statthalter von Kilikien war, dorthin begleitete59 – mithin zusätzlich gerade zu einer Zeit fern von Rom weilte, für die er sich selbst als Beobachter und zentrale Referenz angibt. In der Tat lässt sich eine solche Beobachterrolle im Narrativ der nächsten zehn Jahre nicht feststellen, auch nicht in der lebhaften Darstellung der Papirius-DionysiosAffäre.60 Dio als am Geschehen partizipierender Zeitzeuge setzt in dem Moment

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Cass. Dio 80(79),7,4; Cass. Dio 80,1,2f. (Xiph.; Exc. Val.); vgl. Cass. Dio 80(79),18,3 (Xiph.). Die Diskrepanz zwischen Dios Abwesenheit aus Rom und Italien und dem Umstand, dass er dennoch bis zum Ende Elagabals „ausführlich berichten konnte“, ist durchaus bekannt: SCHMIDT 1997: 2634–2638 mit weiterer Literatur. Vgl. SCHMIDT 1997: 2635. SCHMIDT 1997: 2625–2634; vgl. MILLAR 1964: 38f. Cass. Dio 80(79),17,1 (Xiph.); Cass. Dio 80(79),21,1 (Xiph.; Exc. Val.). Cass. Dio 80,1,2 (Xiph.; Exc. Val.); vgl. Cass. Dio 80,2,2 (Xiph.; Exc. Val.). Vgl. zur Korrektur der Gliederung des letzten Abschnitts der Römischen Geschichte SCHMIDT 1997: 2633f. Cass. Dio 73(72),4,2 (Xiph.). Cass. Dio 73(72),7,1f. (Xiph.; Exc. Val.). Möglicherweise datiert dies in das Jahr 182 n. Chr. Cass. Dio 73(72),13,1–6 (Xiph.; Exc. Val.).

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ein, in dem ‚die Senatoren‘ zum „wir“ (ἡµεῖς) werden: 192 n. Chr.61 Kaum zufällig unterbricht er nur zwei Kapitel später, in der direkt daran anschließenden Beschreibung der Commodianischen Spiele, die Ereignisgeschichte für einen historiographisch-methodischen Exkurs, der eine Apologie seines von nun an ausführlichen Berichts darstellt: „Und keiner möge glauben, daß ich die Würde der Geschichtsschreibung durch die Erwähnung solcher Dinge in den Schmutz trete! Ich hätte sie ja gewiß überhaupt nicht berichtet, doch da der Kaiser es war, der diese Vorstellung gab, und ich selbst, persönlich zugegen, an jeder Einzelheit sehend, hörend und sprechend Anteil nahm, hielt ich es für angezeigt, nichts davon zu unterdrücken, vielmehr die Vorgänge wie sonst ein Ereignis von höchster Wichtigkeit und Bedeutung dem Gedächtnis der späteren Geschlechter zu überliefern. Und ich will in der Tat auch die anderen Geschehnisse alle, die zu meinen Lebzeiten spielten, eingehender und detaillierter schildern als frühere Ereignisse, weil ich ja selbst dabei anwesend war und im Kreise jener, die eine angemessene Beschreibung der Begebenheiten liefern können, sonst niemanden kenne, der über solch genaues Einzelwissen wie ich verfügt.“62

Dadurch, dass Dio diesen Exkurs nicht etwa im Anschluss an den ersten Hinweis auf seinen (vermeintlichen) Zeitzeugenbericht im Jahr 182 n. Chr., sondern an dieser Stelle, in der Berichterstattung zum Jahr 192 n. Chr., einfließen lässt, verweist er selbst auf die von nun an andersgeartete Qualität seiner Darstellung. Diese unterscheidet sich deutlich von der Berichterstattung vor 192 n. Chr. und nach 217/218 n. Chr. Und es differiert auch die Rolle, die die stadtrömische plebs spielt: Exakt in dem Moment, in dem Dio als Senator mitten drin statt nur dabei und dadurch (auch) emotional involviert ist, mit der Überleitung zu den Spielen des Commodus, beginnen die großen Auftritte der plebs als zentraler moralischer Instanz, um 217/218 n. Chr. mit den Pferderennen anlässlich des Geburtstages des Diadumenianus und dem Hinweis auf die Macrinus favorisierende Haltung zu enden. 4 FAZIT: DIE PLEBS ZWISCHEN LITERARISCHEM MEDIUM UND HISTORISCHER ROLLE Die plebs als literarische Verfügungsmasse – das ist freilich nur eine Seite der Medaille. Oder anders: Nein, Dio schrieb keinen Historienroman. Dass er in sei61

62

Cass. Dio 73(72),16,3 (Xiph.; Exc. Val.; Suidas: Befehl des Commodus 192 n. Chr., ihm zu seinem Geburtstag zwei Goldstücke zu schenken); dann Cass. Dio 73(72),18,2 (Xiph.; Exc. Val.; Suidas: Spiele des Commodus) und passim. Vgl. Cass. Dio 73(72)15,5 (Xiph.; Exc. Val.; Suidas) noch „die Botschaften an den Senat“. Cass. Dio 73(72),18,3f. (Xiph.; Exc. Val.): „καὶ µή µέ τις κηλιδοῦν τὸν τῆς ἱστορίας ὄγκον, ὅτι καὶ τὰ τοιαῦτα συγγράφω, νοµίσῃ. ἄλλως µὲν γὰρ οὐκ ἂν εἶπον αὐτά· ἐπειδὴ δὲ πρός τε τοῦ αὐτοκράτορος ἐγένετο καὶ παρὼν αὐτὸς ἐγὼ καὶ εἶδον ἕκαστα καὶ ἤκουσα καὶ ἐλάλησα, δίκαιον ἡγησάµην µηδὲν αὐτῶν ἀποκρύψασθαι, ἀλλὰ καὶ αὐτά, ὥσπερ τι ἄλλο τῶν µεγίστων καὶ ἀναγκαιοτάτων, τῇ µνήµῃ τῶν ἐσέπειτα ἐσοµένων παραδοῦναι. καὶ µέντοι καὶ τἆλλα πάντα τὰ ἐπ’ ἐµοῦ πραχθέντα καὶ λεπτουργήσω καὶ λεπτολογήσω µᾶλλον ἢ τὰ πρότερα, ὅτι τε συνεγενόµην αὐτοῖς, καὶ ὅτι µηδένα ἄλλον οἶδα τῶν τι δυναµένων ἐς συγγραφὴν ἀξίαν λόγου καταθέσθαι διηκριβωκότα αὐτὰ ὁµοίως ἐµοί.“ (Übers.: VEH).

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ner Römischen (Zeit-)Geschichte nicht die Senatoren die zentrale moralische Instanz spielen lässt, dürfte schlicht darin begründet liegen, dass seiner zeitgenössischen Leserschaft die politischen Spielregeln ebenso klar waren wie ihm, er dies gleichermaßen für die späteren Rezipienten annehmen konnte und schließlich die Schilderung eines andersgearteten, nämlich gegen den Kaiser opponierenden Verhaltens der Senatorenschaft seine Geschichte wohl wirklich zum Roman gemacht hätte. Dasselbe gilt auch für die Aktionen, wenngleich nicht zwingend für die schwerer verifizierbaren Emotionen der plebs: Sie können nur dann Argument in Darstellung und Urteil Dios sein, wenn sie – im Kern – zutreffen. Mit gebotener Vorsicht, da unabhängige und weitgehend zuverlässige Parallelquellen fehlen,63 können deshalb Aussagen über die historische Rolle des stadtrömischen Volkes getroffen werden. Dieser Kern betrifft die Instrumentalisierung der plebs durch Mitglieder der Oberschicht. Über Aktionen der plebs wie die oben beschriebenen konnte nicht nur Dio literarisch, sondern konnten auch oppositionelle (senatorische, ritterliche) Gruppierungen, denen selbst die Hände gebunden waren, ihr Urteil mittelbar und buchstäblich visualisieren. Drei Beobachtungen führen zu dieser These. Erstens: Finden sich bereits in der Literatur zu den ersten 150 Jahren des Prinzipats etliche, wenngleich zerstreute und oftmals isolierte Hinweise auf eine Lenkung der plebs, begegnen sie in den zeitgeschichtlichen Büchern geballt.64 Augenfällig ist die häufige, durch Partikel der Analogie verschleierte Terminologie von ‚Lenkung‘, wobei die zwei hierfür zentralen Episoden die Proteste gegen Didius Iulianus und gegen den Bürgerkrieg 196 n. Chr. sind: „wie auf Verabredung“, „wie aus einem Munde“, „plötzlich insgesamt gleichzeitig“, „wie ein sorgfältig eingeübter Chor“, „als hätten sie [die Worte] einstudiert“.65 Augenfällig ist auch der oftmals seltsam geordnete Ablauf: unter Iulianus der Gang von der Kurie in den Circus, der 24 Stunden später, ohne Resultat, ruhig verlassen wird, die offensichtlich wohl überlegte Abfolge der Sprüche bei den Spielen anlässlich des Geburtstages des Diadumenianus wie auch am Vorabend des Bürgerkriegs, bei letzteren zudem die perfekte Abstimmung von nonverbaler und verbaler Kommunikation. Einige Aktionen verlangten ein Insiderwissen, das in der plebs nicht vorausgesetzt werden darf: etwa die Forderung nach Pertinax unter Commodus oder nach Pescennius Niger unter Iulianus. Ähnlich der Verschleierung durch Partikel der Analogie, die suggerieren sollen, dass es genau so eben nicht war, finden sich schließlich etliche ungewöhnliche Verhaltensweisen: Verweist Dio selbst auf die „ganz gegen die Gewohnheit“ sich ereignende Verweigerung des Applauses bei den Spielen von 196 n. Chr.,66 ist dem Leser auch ohne entsprechenden Hinweis 63 64

65 66

Maßgeblich KOLB 1972; vgl. zuletzt DERS. 1995; zu Herodian vgl. außerdem ZIMMERMANN 1999a und, spezifisch zur plebs, DERS. 1999b. Für Ereignisse der Zeitgeschichte Dios wird deshalb Lenkung durch senatorische Gruppierungen zumindest als Möglichkeit in Betracht gezogen: vgl. etwa SÜNSKES THOMPSON 1993: 54, Anm. 146; vgl. DIES. 1990 (bes. 129f.). Cass. Dio 74(73),13,3 (Xiph.); Cass. Dio 76(75),4,4 (Xiph.); Cass. Dio 76(75),4,6 (Xiph.). Cass. Dio 76(75),4,3 (Xiph.).

Die stadtrömische plebs in den zeitgeschichtlichen Büchern Cassius Dios

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klar, dass der Boykott der Spiele des Commodus am besten mit der taciteischen Phrase „nihil tale viderant, nihil audierant“67 zu beschreiben und die Verweigerung des congiarium unter Iulianus ebenso ungesehen und ungehört ist. Zweitens: Noch in der gelebten Zeitgeschichte vor 192 n. Chr. benennt Dio in der Affäre rund um den Sturz des Cleander mit Papirius Dionysios gar einen Hintermann. Die Art und Weise, wie er die entsprechende Aktion des Volkes und ihre Vorgeschichte beschreibt, legt unmissverständlich offen, dass in antikem – oder zumindest: dionischem – Verständnis die Zuschreibung einer Handlung an das Volk keineswegs bedeutet, dass diese spontan, sprich unbeeinflusst, erfolgte.68 Denn wenngleich es „das Volk tat“ – nämlich Cleander zu stürzen –, war es Papirius Dionysios, der die Missstimmung gegen Cleander für seine Zwecke instrumentalisierte und in seiner Handlung, „den Haß der Römer […] auf diesen Mann zu lenken und so seinen Untergang herbeizuführen“, den Stein ins Rollen brachte – es folgt mit dem das Publikum aufpeitschenden Kinderchor die sehr konkrete ‚Anleitung‘.69 Drittens: Kaum zufällig dürften die Spielstätten eine zentrale Rolle bei derartigen Aktionen gespielt haben. Sie waren nicht nur wichtiger Ort der Interaktion zwischen Kaiser und plebs, sondern in diesem geschlossenen, von Emotionen bereits aufgeladenen Raum konnte, wie unter anderem die letztgenannte Episode zeigt, auch eine bequemerweise bereits versammelte, große Menge von im Vergleich wenigen Eingeweihten bei vorhandener Grund- oder Missstimmung zu Aktionen gebracht werden. Die Größe der agierenden Masse ist grundsätzlich freilich mit Vorsicht zu genießen: Dass die von Dio beschriebenen Aktionen der plebs im Kern zutreffen müssen, bedeutet nicht, dass wir ihnen etwas über Quantität und Qualität – sprich Zusammensetzung – der Beteiligten entnehmen können. Commodus mit (euphemistisch) wenigen tausend Leuten in der Arena? Wohl kaum. Dennoch ist es, muss es ‚der‘ – suggeriert: ganze – demos sein, der die Spiele boykottiert, gegen Iulianus und den Bürgerkrieg demonstriert oder Macrinus seine Verachtung ausspricht: Der Verweis auf lediglich eine Teilmenge wie auch auf die Lenkung per se ist selbstredend nicht im Interesse eines Autors, der ein historisches Urteil begründen will. Dio will genau das: Auch wenn es höchst plausibel ist, dass die plebs als Instrument der Visualisierung aristokratischen Protests eingesetzt wurde, ist es die literarische Funktion des auf diese Weise agierenden Volkes, die für ihn wesentlich war. Wer in Bezug auf zentrale Ereignisse seiner zeitgeschichtlichen Bücher, präzisiert: seiner erlebten Zeitgeschichte, wissen will, was ‚richtiges‘, ‚gutes‘, sprich moralisches Handeln ist, muss in erster Linie auf die plebs schauen. Sie kompensiert das tatsächliche Verhalten des Senats, fungiert mithin als dessen (moralischer) Stellvertreter, und zeigt damit dem Leser gleichzeitig die Amo67 68 69

Tac. hist. 3,68,1 (versuchter Rücktritt des Vitellius). Eine solche Lenkung ist in der Bewertung der politischen Rolle der plebs selbstverständlich zu berücksichtigen: vgl. bereits ZIMMERMANN 1999b: 138–141. Cass. Dio 73(72),13,1–4 (Xiph.); beide Zitate Cass. Dio 73(72),13,1 (Xiph.): „[...] ὁ δῆµος [ἀπέκτεινε]. [...] καὶ µισήσωσιν οἱ Ῥωµαῖοι καὶ διαφθείρωσι.“ (Übers.: VEH).

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ralität der Kaiser auf. Dabei handelt sie durchgehend bewusst, als politisch reflektierendes oder zumindest intuitiv moralisches Subjekt. In der Darstellung Dios ist, ganz ungeachtet konkreter Ergebnisse, das stadtrömische Volk der moralische Gewinner unter den Akteuren seiner Zeit. BIBLIOGRAPHIE Adler, Eric (2011): Cassius Dio’s Livia and the Conspiracy of Cinna Magnus – In: GRBS 51 (2011), S. 133–154. Alföldy, Géza (1989): Cleanders Sturz und die antike Überlieferung – In: Ders.: Die Krise des Römischen Reiches. Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsbetrachtung. Stuttgart: Steiner 1989, S. 81–126. Bering-Staschewski, Rosemarie (1981): Römische Zeitgeschichte bei Cassius Dio. Bochum: Brockmeyer 1981. de Blois, Lukas (1997): Volk und Soldaten bei Cassius Dio – In: ANRW II.34.3 (1997), S. 2650– 2676. Davenport, Caillan (2012): Cassius Dio and Caracalla – In: CQ 62 (2012), S. 796–815. Fechner, Detlef (1986): Untersuchungen zu Cassius Dios Sicht der Römischen Republik. Hildesheim: Olms 1986. Flaig, Egon (1992): Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich. Frankfurt am Main / New York: Campus 1992. Ders. (2010): How the Emperor Nero Lost Acceptance in Rome – In: Ewald, Björn C. / Noreña, Carlos F. (Hrsg.): The Emperor and Rome. Space, Representation, and Ritual. Cambridge: University Press 2010, S. 275–288. Giua, Maria Antonietta (1981): Clemenza del sovrano e monarchia illuminata in Cassio Dione 55,14–22 – In: Athenaeum 59 (1981), S. 317–337. Hahn, István (1969): Zur politischen Rolle der stadtrömischen Plebs unter dem Prinzipat – In: Beševliev, Veselin / Seyfarth, Wolfgang (Hrsg.): Die Rolle der Plebs im Spätrömischen Reich. Görlitzer Eirene-Tagung 10.–14.10.1967, Bd. 2. Berlin: Akademie-Verlag 1969, S. 39–54. Horst, Claudia (2010): Zur politischen Funktion des Demokratiebegriffes in der Kaiserzeit. Eine Interpretation der Reden des Agrippa und Maecenas (Cassius Dio 52,1–41) – In: Dement’eva, Vera V. / Schmitt, Tassilo (Hrsg.): Volk und Demokratie im Altertum. Göttingen: Edition Ruprecht 2010, S. 189–208. Hose, Martin (1994): Erneuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio. Stuttgart, Leipzig: Teubner 1994. Hose, Martin (2011): Der Kaiser und seine Begrenzung durch die antike Literatur. Betrachtungen zu Cassius Dio – In: Winterling, Aloys (Hrsg.): Zwischen Strukturgeschichte und Biographie. Probleme und Perspektiven einer neuen Römischen Kaisergeschichte 31 v. Chr. – 192 n. Chr. München: Oldenbourg 2011, S. 113–124. Kienast, Dietmar (2004): Römische Kaisertabelle. Grundzüge einer römischen Kaiserchronologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 32004. Kolb, Frank (1972): Literarische Beziehungen zwischen Cassius Dio, Herodian und der Historia Augusta. Bonn: Rudolf Habelt 1972. Ders. (1995): Cassius Dio, Herodian und die Quellen der Historia Augusta – In: Bonamente, Giorgio / Paci, Gianfranco (Hrsg.): Historiae Augustae Colloquium Maceratense. Bari: Edipuglia 1995, S. 179–191. Kröss, Katja (2012): Macht und Image. Zur Bedeutung von Ansehen im Vierkaiserjahr – In: Christiansen, Birgit / Thaler, Ulrich (Hrsg.): Ansehenssache. Formen von Prestige in Kulturen des Altertums. München: Herbert Utz 2012, S. 211–261.

Die stadtrömische plebs in den zeitgeschichtlichen Büchern Cassius Dios

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ZWISCHEN GEMEINDEORIENTIERUNG UND GOTTESBEZUG Verhaltenserwartungen an Bischöfe in der Regula Pastoralis Gregors des Großen Karen Piepenbrink 1 EINLEITUNG Die Regula pastoralis Gregors I., die gemeinhin in die Anfangsphase seines Pontifikats (590–604 n. Chr.) datiert wird, zählt zu den wirkmächtigsten Schriften spätantiker christlicher Autoren, die nicht nur von den Zeitgenossen im lateinischen Westen wie auch griechischen Osten eingehend studiert,1 sondern bis ins Mittelalter – mit einem Schwerpunkt in der Karolingerzeit – intensiv rezipiert wurde.2 Das Werk steht in einer langen Tradition innerkirchlicher Reformschriften zum Bischofsamt,3 auf die der Verfasser zum Teil explizit Bezug nimmt: Zuvorderst sind die Apologia de fuga sua des Gregor von Nazianz und die Schrift De sacerdotio des Johannes Chrysostomos aus dem späten 4. Jh. n. Chr. zu nennen,4 von denen der Papst zumindest erstere in lateinischer Übersetzung mit Akribie gelesen hat.5 In gleicher Manier wie seine Vorläufer wählt er einen autobiographischen Ansatz, artikuliert seine eigene anfängliche Scheu vor dem Episkopat, bedient sich dazu des Motivs der recusatio respektive cunctatio und thematisiert zur Begründung seiner Haltung die exorbitanten Anforderungen, welche das Amt an seinen Träger stelle.6 Ausgehend von diesen Bemerkungen wirft er die grundle1 2 3

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Zur Übersetzung des Textes ins Griechische LIZZI 1991: 46. Zur Rezeption der Schrift im Frühmittelalter HÜRTEN 1962 (bes. 16–20); FLORYSZCZAK 2005: 277–399. Üblicherweise wird in diesen Schriften terminologisch nicht strikt zwischen dem Amt des Bischofs und jenem des Presbyters geschieden. Allerdings ist aufgrund der Tatsache, dass fast ausschließlich von Klerikern gehandelt wird, die über umfangreiche Entscheidungskompetenzen verfügen und vielfach auch anderen Geistlichen gegenüber weisungsberechtigt sind, evident, dass primär an Inhaber des Bischofsamtes gedacht ist. Seine Überlegungen zur Unterweisung der Gemeinde und deren sprachlicher Umsetzung sind darüber hinaus stark geprägt von Augustins Schrift De catechizandis rudibus sowie dem vierten Buch von dessen De doctrina christiana; hierzu PARONETTO 1986. Zur Diskussion über die Frage, inwieweit Gregor des Griechischen mächtig und in welchem Maße er bei griechischen Texten auf Übersetzungen angewiesen war, vgl. BARTELINK 1995: 129. So im Widmungsschreiben an den ‚Mitbischof‘ (coepiscopus) Johannes (Greg. past. epist. praef. [SC 381,124]), hinter dem sich höchstwahrscheinlich der Bischof von Ravenna verbirgt; zur Kontroverse um die Adressatenfrage SPEIGL 1993: 64f.; FLORYSZCZSAK 2005: 70– 82; MÜLLER 2009: 120–123.

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gende Frage auf, durch welche Eigenschaften sich ein für das Bischofsamt geeigneter Kandidat auszeichnen müsse.7 Dabei gilt sein Interesse weder der theologischen noch der administrativen Kompetenz der Betreffenden, sondern vorrangig ihren ethischen Qualitäten, d. h. ihren Charaktereigenschaften und den Wertmaßstäben, welche ihr Denken und Handeln – so sein Verständnis – maßgeblich prägen. Übereinstimmend mit seinen Vorgängern diagnostiziert er grundsätzliche Probleme beim Episkopat nicht im organisatorisch-institutionellen Bereich, sondern auf der personalen Ebene, konkret in dem Umstand, dass viele Amtsträger eine inadäquate Einstellung zum Bischofsamt aufwiesen, insbesondere da sie sich der fundamentalen Differenzen zwischen einer solchen Funktion und einer weltlichen Ehrenstellung nicht hinreichend bewusst seien.8 Dies konkretisiere sich bereits in einer fragwürdigen Motivation bei der Kandidatur, die Gregor vornehmlich im Streben nach sozialer Reputation sieht, wie auch hernach in einem unangemessenen Auftreten als Bischof.9 Unser Autor rekurriert hier auf ein Spannungsverhältnis zwischen ‚Dienen‘ und ‚Herrschen‘, Gottesbezug und weltlicher Orientierung bei kirchlichen Funktionsträgern, das sich bereits in vorkonstantinischer Zeit andeutet und sich in der Spätantike im Zuge der Kompetenzerweiterung des Episkopats sowie der ‚Aristokratisierung‘ des höheren Klerus noch verstärkt.10 Der ‚Aufstieg‘ des Bischofsamtes mit seinen vielfältigen Konsequenzen erreicht einen Höhepunkt in der Völkerwanderungszeit, als die imperialen und munizipalen Strukturen in einigen Regionen des westlichen Reichsteils nahezu vollständig kollabieren und die Kirche an deren Stelle tritt, indem Bischöfe – in ihren Städten und teils auch darüber hinaus – die Verantwortung für die zivile Administration sowie die Organisation der Verteidigung übernehmen. In Italien begegnet dieses Phänomen infolge der Invasion der Langobarden und bestimmt auch den Pontifikat Gregors.11 7 8 9

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Greg. past. epist. praef. (SC 381,124.126). Hierzu Greg. past. epist. praef. (SC 381,124.126); past. 1,1 (SC 381,130). Greg. past. 1,1.8 (SC 381,130.154.156). Entsprechend plädiert er bei Neubesetzungen vakanter Bischofsstühle besonders auf dem Gebiet der Italia suburbicaria, auf die er als Papst unmittelbaren Einfluss hat, aber auch im nördlichen Italien für die Wahl moralisch integrer Geistlicher, vielfach Asketen aus seinem eigenen monasterium, die ihm überdies persönlich vertraut sind; dazu Jenal 1984: 87f.; EVANS 1986: 126–128; PITZ 1990: 113–130; PIÉTRI/FRAISSE-COUÉ 2001: 905f.; FLORYSZCZAK 2005: 246–252; MOORHEAD 2005: 8. Zum Phänomen, dass einige Bischöfe Formen der Repräsentation wählen, die sich an jenen weltlicher Magistrate orientieren, und entsprechenden Klagen bereits in konstantinischer Zeit HAENSCH 2003. Diese Problematik wird bereits vor der Herausbildung des Amtspriestertums und des monarchischen Episkopats im Ersten Timotheusbrief (1 Tim 3) thematisiert, der in der Folgezeit zu einem der wichtigsten Referenztexte zu diesem Sujet avanciert, auf den auch Gregor Bezug nimmt (Greg. past. 1,8 [SC 381,154.156]). Über die Kompetenzerweiterung des Bischofsamtes infolge der sog. Konstantinischen Wende wie auch die Veränderungen in der sozialen Zusammensetzung des höheren Klerus ist in den letzten vier Jahrzehnten intensiv geforscht worden; exemplarisch sei verwiesen auf HAENSCH 2007. Zur Situation in Italien BROWN 1984; GASPARRI 1991; speziell zu den Verhältnissen in der Stadt Rom PIÉTRI 1991.

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Ungeachtet des hohen Christianisierungsgrades der römischen Welt im ausgehenden 6. Jh. n. Chr. – der mit einer ‚Sakralisierung‘ bzw. ‚Desäkularisierung‘ der Mehrzahl der noch bestehenden politischen, sozialen und kulturellen Einrichtungen einhergeht – sehen viele Forscher Gregor den Großen in einem Bezugskonflikt zwischen traditionell römischen und genuin christlichen Werten und Rollenmustern: Als Herr über die ausgedehnten Territorien der römischen Kirche wird von ihm ein patrimonialer Führungsstil erwartet, im Rahmen seiner jurisdiktionellen Befugnisse agiert er in einer Rolle, welche der eines herkömmlichen Magistrats ähnelt, der sich an den Prämissen des römischen Rechts zu orientieren und gegebenenfalls hart zu sanktionieren hat. Zugleich aber fungiert er als Seelsorger und ist somit gehalten, den Postulaten christlicher caritas folgend ‚Milde‘ und ‚Nachsicht‘ walten zu lassen.12 Gregor selbst sieht sich in einem Konflikt zwischen vita activa und vita contemplativa: Zum einen präferiert er als Mönch die Kontemplation, welche eine exklusive Ausrichtung auf Gott ermögliche, zum anderen reflektiert er die Verantwortung für den Nächsten, die einen Geistlichen – bei entsprechender Beauftragung durch Gott – verpflichten könne, ein Bischofsamt zu übernehmen und sich damit den Widrigkeiten der Welt auszusetzen.13 Insgesamt plädiert er mit Blick auf den Bischof für eine vita mixta, die aktives innerweltliches Tun mit regelmäßiger kontemplativer Rückversicherung verbindet, räumt jedoch ein, dass eine solche Synthese in der episkopalen Praxis nicht leicht herzustellen ist.14 Wir wollen im Folgenden untersuchen, wie Gregor jenes Problem der normativen Orientierung von Bischöfen – jenseits seiner persönlichen Biographie – konzeptionell bewältigt. Dabei soll insbesondere eruiert werden, aus welchen Gründen er die Thematik so stark prononciert, wie sich die Relation von traditionell römischen und christlichen Werthaltungen in seinen Überlegungen gestaltet und mit welchen Bezugsgrößen für das Handeln er in dem Kontext operiert. Hierbei ist speziell zu betrachten, in welchem Verhältnis die Ausrichtung auf Erwartungen der Gemeinde zur Referenz auf Gott steht. Wir werden uns dabei weitgehend auf die Regula pastoralis konzentrieren, in der das Sujet expliziter und systematischer behandelt wird als in den exegetischen Schriften Gregors.15

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Zur Gesamtcharakterisierung der Zeit MARKUS 1990 (bes. 226f.); DERS. 1997 (bes. 51–67); LIEBESCHUETZ 2001: 137–168; zum Verhältnis von christianitas und romanitas im Wirken Gregors RICHARDS 1980 (bes. 25–69). Zur Konzeption der beiden Lebensformen bei Gregor FRANK 1969. Zu Gregors Überlegungen zur vita mixta mit Quellenbelegen auch aus seinen exegetischen Schriften DAGENS 1977: 158–163; PARONETTO 1984: 325–330; FIEDROWICZ 1995: 223–230; JENAL 1995: 741–743; GRESCHAT 2005: 194–205; zur Problematik der Umsetzung vgl. etwa Greg. past. 1,4 (SC 381,140). Bei letzteren nimmt die Bischofsthematik unter anderem in seinem Kommentar zum ersten Buch Samuel (in 1 reg.) sowie seinen Moralia in Iob (moral.) einen großen Raum ein. In der Interpretation des ersteren stellt sich die Schwierigkeit des Transfers von Aussagen Gregors zu alttestamentlichen Priestern und teils auch Königen auf den christlichen Bischof, im zweiten beschäftigt er sich eingehend mit ethischen Problemen, wobei sich die Frage auftut, inwieweit diese explizit auf den Bischof zu beziehen sind.

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2 VERHALTENSERWARTUNGEN IN DER BISCHOFSKONZEPTION GREGORS IN DER REGULA PASTORALIS 2.1

Der Bischof als praedicator und exemplum

In der Regula pastoralis konzipiert Gregor den Bischof primär als praedicator, also als Seelsorger und Prediger.16 Das bedeutet nicht, dass er dessen administrative Betätigungen oder sein liturgisches Wirken ausblendet; er subsumiert solches vielmehr unter die seelsorgerische Arbeit. Neben dem Begriff des praedicator verwendet er den Terminus des ‚Hirten‘ (pastor) sowie den des ‚Lenkers‘ (rector).17 Letzteren bezieht er ausdrücklich auf die ‚Lenkung von Seelen‘ (regimen animarum) und charakterisiert das bischöfliche Tun als eine ‚Kunst‘ (ars), die eben jene Leitung der Seelen zum Gegenstand hat.18 Dem herkömmlichen Verständnis von ars folgend, geht er davon aus, dass es sich um ein Tätigkeitsfeld handelt, das einen geregelten Lernprozess voraussetzt.19 Hierbei denkt er jedoch weniger an ein Studium der Rhetorik,20 obwohl die Fähigkeit zu verbaler Kommunikation in öffentlicher Rede seiner Ansicht nach für einen Prediger obligatorisch ist, als vielmehr an eine intensive Auseinandersetzung mit den spezifischen Merkmalen, Eigenschaften und Bedürfnissen der Gemeindemitglieder, d. h. ihrem jeweiligen sozialen Status, Geschlecht, Familienstand, Bildungsgrad, ihren unterschiedlichen Lebenssituationen und charakterlichen Dispositionen.21 Er muss – in heutiger Terminologie gesprochen – eine ausgeprägte ‚soziale Kompetenz‘ wie auch ‚emotionale Intelligenz‘ entwickeln, um mit den Angehörigen der Gemeinde in Einzelgesprächen wie in der Predigt erfolgreich kommunizieren und sie ihrer jeweiligen Verfassung entsprechend im christlichen Sinne instruieren zu können.22 Dabei hat Gregor nicht eine doktrinäre Unterweisung im Blick,23 sondern allem voran die Vermittlung zentraler christlicher Werte. 16 17 18 19

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Zur Semantik dieses Begriffs in den Schriften Gregors vgl. RECCHIA 1979: 336–356; grundsätzlich zum Verständnis des praedicator bei Gregor FIEDROWICZ 1995 (bes. 146–152). Zur Wortwahl und Häufigkeit der verschiedenen Begriffe zur Bezeichnung des Bischofs in der Regula pastoralis JUDIC 1992: 63. Greg. past. 1,1 (SC 381,128). Dies bemerkt er insbesondere, um deutlich zu machen, dass Personen, die der Seelsorge unkundig sind, sich für das Bischofsamt nicht eignen. Er vergleicht dazu mit der Profession des Arztes, die keiner für sich beanspruchen würde, der die medizinische Kunst nicht studiert hätte (Greg. past. 1,1 [SC 381,128]). Entsprechend beschäftigt er sich in dem Zusammenhang im Unterschied zu vielen anderen Bischöfen auch nicht mit der Frage, inwieweit der christliche Prediger auf klassische Rhetorik rekurrieren dürfe; zu der Thematik LEPPIN 2000 (bes. 301f.). Diesem Komplex ist das dritte Buch der Regula pastoralis gewidmet; zu Aufbau und Funktionen der Schrift JUDIC 1986: 414; ein ausführliches Inhaltsreferat zum dritten Buch bietet FLORYSZCZAK 2005: 139–175. Seine Überlegungen beziehen sich in gleicher Weise auf das seelsorgerische Gespräch wie auf die Predigt vor der versammelten Gemeinde; hierzu MÜLLER 2009: 133f. Dies gilt wohl auch für seine Predigttätigkeit. Diesbezüglich differiert er von seinen Vorläufern im 4. Jh. n. Chr., die – dem Ausmaß und der Intensität der christologischen Kontroversen

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In der Tradition von Vertretern klassischer Rhetorik, welche betonen, dass ein Redner, der sich selbst zu den von ihm proklamierten Werten bekennt, größere Glaubwürdigkeit für sich reklamieren könne und somit erfolgreicher wirke als andere,24 fordert er den Prediger auf, darauf zu achten, dass seine Worte mit seinem Handeln konform gehen.25 Er solle sowohl durch seine verbalen Äußerungen wie auch seine Taten überzeugen.26 Letzteres bedeutet besonders, dass er sich von vitia wie ‚Stolz‘ oder ‚Habgier‘ distanziert und sich an der virtus der caritas orientiert. Zur Illustration bedient Gregor sich eines Bildes, das klassisch römische und christliche Aspekte verbindet: Der Geistliche solle als exemplum fungieren und den ‚Vätern‘ (patres) folgen – letzteres aber meint nicht mehr die römischen maiores, sondern die christlichen Heiligen (sancti).27 Die Ausrichtung auf die caritas ist dabei Gregors Verständnis nach essentiell: Auf diese Weise signalisiert der Prediger seine Empathie mit den Sorgen und Nöten der Gemeindeangehörigen und evoziert im Gegenzug deren Sympathie und Bereitschaft, seinen Worten Aufmerksamkeit zu schenken.28 Konkret meint dies, dass der Bischof sich im umfassenden Sinne als patronus betätigt, der auf materielle Sorgen wie auf emotionale Bedürfnisse der ihm Anvertrauten reagiert.29 Auch seine Sprache ist in dem Zusammenhang von Belang: So solle er sich in seiner Wortwahl in der Predigt an der Sprachpraxis seines Auditoriums orientieren und Formulierungen vermeiden, durch die er sich von seinen Hören dissoziiert, sie irritieren und bei ihnen so ein Abwehrverhalten provozieren könne.30 Entscheidend sei, dass der Bischof sich durch Wort und Tat um ein Nahverhältnis zur Gemeinde bemüht, so dass sie ihn wertschätzt und ihm mit Freude lauscht.31 Von zentraler Bedeutung ist jene ‚mitfühlende Hinwendung‘ des episcopus laut Gregor auch deshalb,32 weil seine Sor-

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ihrer Zeit entsprechend – dogmatischen Fragen auch in der Kommunikation mit der Gemeinde große Aufmerksamkeit geschenkt haben; dazu mit Bezug auf Johannes Chrysostomos LOCHBRUNNER 1993: 91–104. Hierzu speziell am Beispiel von Aristoteles, Cicero und Quintilian CLASSEN (2010): 87–106; 261–269. Greg. past. 1,1f. (SC 381,130.136). Zu der Überlegung mit zahlreichen Belegen auch aus anderen Schriften Gregors FIEDROWICZ 1995: 147–150; RAPP 2005: 54f. Grundsätzlich zu Gregors diesbezüglichen Reflexionen MÜLLER 2009: 131f. Greg. past. 2,2 (SC 381,178); zur Forderung nach exemplarischem Verhalten past. 2,3 (SC 381,180–186). Greg. past. 2,5.8 (SC 381,196.198.234.236). In dem Zusammenhang misst er auch der ‚Milde‘ zentrale Bedeutung bei. Er verwendet hier nahezu unterschiedslos die Termini clementia, lenitas und misericordia – vielfach in Kontrast zur ‚Strenge‘ des Urteils, wie sie von einem staatlichen Richter erwartet werde; siehe etwa Greg. past. 2,6 (SC 381,214–218); vgl. STRAW 1991: 50f. Greg. past. 2,4 (SC 381,192.194). Greg. past. 2,8 (SC 381,234.236). Gregor verwendet hierzu verschiedene Begriffe, so spricht er von compassio (z. B. Greg. past. 2,1.5 [SC 381,174.196]) oder auch von condescensio (past. 2,5 [SC 381,196–200], zu entsprechenden Belegen aus anderen Schriften Gregors GRESCHAT 2005: 190–193). Der Terminus condescensio impliziert ein ‚Herabsteigen‘ aus dem himmlischen Bereich der contemplatio in irdische Lebenszusammenhänge, wobei diese jedoch nicht desavouiert, sondern

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ge sich nicht zuletzt auf intime Lebensbereiche erstreckt, zu denen die Gemeindemitglieder sich ihm gegenüber im Regelfall nur dann freimütig äußern, wenn ein Vertrauensverhältnis besteht.33 Unser Autor nimmt an, dass ein Prediger, der die Bedürfnisse der Gemeinde im Wesentlichen erfüllt, auf positive Resonanz rechnen kann, die am Offenkundigsten im Applaus und affirmierenden Akklamationen in der Predigt zum Ausdruck kommt. Allerdings ist ihm auch das Phänomen der Kritik nicht unbekannt – speziell seitens gebildeter Personen, die den theologischen Disput suchen; jedoch sieht er den Episkopen dadurch nicht massiv herausgefordert oder gar in seiner Position bedroht. Problematischer scheint ihm eher, dass ein Bischof, der seitens seiner Umwelt große Zustimmung erhält, selbst bei deviantem Verhalten keinerlei Korrektiv erfährt.34 Wenn Gregor reflektiert, dass ein Bischof der Akzeptanz der Gemeinde bedarf, so geht es ihm nicht um dessen Legitimation – diese leitet er dezidiert von Gott her –, sondern um den Umstand, dass er auf deren Zustimmung und Kooperationsbereitschaft angewiesen ist, um seine psychagogische Aufgabe zu erfüllen.35 Gelingt ihm letzteres nicht, so stellt dies nach Gregor ein Versagen gegenüber Gott dar, der ihm die Sorge über die Gemeinde anvertraut habe. Der Bezug auf die Gemeinde und die Referenz auf Gott koinzidieren an der Stelle. Orientierung an der Gemeinde und Bezugnahme auf Gott können laut Gregor bei einem Bischof jedoch auch in Konflikt geraten. Dies gilt nachgerade für Episkopen, welche den Erwartungen der Gemeinde vollumfänglich entsprechen, dies aber in einer Weise praktizieren, die christlichen Prämissen zuwiderläuft, etwa indem sie sich zwar erfolgreich als patroni betätigen, das aber primär mit Blick auf das persönliche Prestige tun. Angesichts dieser Erscheinung betont Gregor, dass es aus christlicher Perspektive nicht allein auf den äußeren Vollzug von Handlungen ankomme, sondern auch auf Motivation und Intention des Akteurs.36 Dies sei den fraglichen Bischöfen nicht bewusst und noch weniger deren Gemeinden. Solche Geistliche zielen – so Gregor – bevorzugt auf das Wohlwollen der Gemeinde, reklamieren Erfolge in ihrer Tätigkeit für ihre eigene Person und reagieren hierauf mit ‚Stolz‘.37 Durch das Lob der Gemeinde werden sie in ihrer Fehlhaltung noch bestärkt.38 Zugleich gerät das eigene Gewissen als Referenz-

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respektvoll gezeichnet werden. Gleichwohl ist ein hierarchisches Gefälle hier zweifelsohne vorausgesetzt; dazu auch BROWN 1996: 167f. Greg. past. 2,5 (SC 381,196.198); vgl. past. 2,10 (SC 381,242). Greg. past. 2,6 (SC 381,206). Bei aller Zurückweisung unangemessener Kritik am Prediger führt er aus, dass korrigierende Bemerkungen seitens der Gemeinde, die aus der Nächstenliebe resultierten, angemessen und für alle Beteiligten von Vorteil sein könnten; hierzu mit Belegen aus verschiedenen Schriften Gregors FIEDROWICZ 1995: 195. Greg. past. 2,8 (SC 381,230–236). Dies korrespondiert mit der Vorstellung, dass nach christlichem Verständnis nicht nur im Handeln, sondern auch im Denken gesündigt werden könne; hierzu im Hinblick auf den Prediger Greg. past. 1,11 (SC 381,170–172). Zur intensiven Auseinandersetzung mit dem Sujet des ‚Stolzes‘ bei Gregor vgl. BAASTEN 1986: 27–51. Greg. past. 2,3.6.8 (SC 381,184.206.234).

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punkt des Handelns aus dem Blick.39 Dies hat seiner Ansicht nach zur Konsequenz, dass die Betreffenden den Bezug zu Gott verlieren und damit ihr eigenes Seelenheil wie auch das der Gemeindemitglieder gefährden. Derartige Episkopen setzt er mit ‚weltlichen‘ Amtsträgern gleich, die für ‚irdische‘ Geschäfte sorgen, ohne zugleich einen seelsorgerischen Auftrag zu verfolgen.40 Daneben konstatiert der Papst das Problem, dass viele Prediger sich aus Sorge um das eigene Ansehen scheuen, den Gemeindemitgliedern gegenüber notwendige Kritik zu äußern.41 Hier sieht er sie in einem in der Praxis nur schwer zu lösenden Dilemma, denn grundsätzlich hält er Zurückhaltung bei Kritik in vielen Fällen für geboten, und dies nicht allein im Interesse der Wahrung der Sympathie der Gemeinde für den Geistlichen, sondern auch mit Blick auf die seelsorgerische Arbeit. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass harsche Kritik demotivieren, wenn nicht gar verprellen könne.42 Insgesamt macht Gregor – über das bereits Erwähnte hinaus – nur wenig präzise Angaben, auf welche virtutes sich ein Bischof zu beziehen hat.43 Ihm geht es in dem Zusammenhang nicht so sehr um inhaltliche Aspekte als vielmehr um eine relationale respektive formale Betrachtung: Entscheidend ist seiner Auffassung nach der prioritäre Bezug auf Gott und auf den Nächsten,44 die Präferenz ‚himmlischer‘ gegenüber ‚irdischen‘ Gütern, gerade solchen, die für die eigene Person begehrt werden, sowie – eng damit verbunden – die Überwindung von voluptates bzw. passiones, die eigensüchtiges Verhalten provozieren, und schließlich die Differenzierung zwischen virtutes und vitia.45 Hinzu kommt, dass der episcopus all dies in signifikant höherem Maße zu realisieren hat als seine Gemeinde.46

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Siehe insbesondere Greg. past. 2,6 (SC 381,206). Greg. past. 2,7 (SC 381,220). Greg. past. 2,4.8. (SC 381,188.232.234). Zu dem Komplex Greg. past. 2,10 (SC 381.238–252). Ähnlich HÜRTEN 1962: 28, der die Unschärfe der Äußerungen auf Gregors Vorliebe für allegorische Schilderungen zurückführt. Zudem lässt sich anführen, dass Gregor hinsichtlich der virtutes keine für die spätantike christliche Literatur ungewöhnliche Position vertritt, die weitergehende Ausführungen erfordert hätten. Um anzumerken, dass der Bischof sich aber nicht allein auf seine Mitmenschen, sondern zugleich auf Gott zu beziehen habe, rekurriert Gregor bevorzugt auf die Sentenz des Paulus (Gal. 1,10): „Predige ich denn jetzt Menschen oder Gott zu Dienst? Oder gedenke ich, Menschen gefällig zu sein? Wenn ich den Menschen noch gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht.“ (Übers.: LUTHER); vgl. Greg. 1 reg. 2,51.86 (SC 391,70.122–126); zur Orientierung am Nächsten etwa Greg. past. 1,5 (SC 381,148). Zur Problematik der Differenzierung zwischen virtutes und vitia Greg. past. 2,9 (SC 381,236); zur Distanzierung von sog. opera terrena past. 2,3 (SC 381,182). Vgl. Greg. past. 2,1 (SC 381,174).

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2.2

Der Bischof als rector

Wie schon angedeutet, tituliert Gregor den Bischof vielfach als rector und bedient sich damit eines Terminus, der gewöhnlich eher zur Bezeichnung weltlicher Herrschaftsträger verwendet wird. ROBERT A. MARKUS hat gezeigt, dass er sich in seiner Wortwahl an Rufinus’ Übersetzung zu Gregor von Nazianz orientiert, der die bereits in den Apostelbriefen angesprochene ‚Leitungsfunktion‘ eines ‚Aufsehers‘ in einer christlichen Gemeinde in dieser Weise beschreibt.47 Auch wenn der Papst hier primär an die Leitung der Seelen denkt, attestiert er dem episcopus offenkundig eine Herrschaftsfunktion.48 Dies resultiert zum einen aus dessen Zuständigkeit für administrative Angelegenheiten, die ihm vielfältige strategische und operative Entscheidungen sowie Sanktionierungen abverlangen, hat zum anderen aber auch einen theologischen Hintergrund: Unser Verfasser geht davon aus, dass die ursprüngliche Egalität innerhalb des Menschengeschlechts infolge des Sündenfalls verloren gegangen sei.49 Seither müssten die Menschen sich dezidiert um die Vermeidung von vitia wie auch die Ausrichtung auf Gott bemühen. Einigen gelingt dies – so Gregor – aus eigener Kraft bzw. mit nur geringer Unterstützung durch Geistliche, andere bedürfen dazu einer rigiden Führung, zu der er vorrangig die Bischöfe berufen sieht. Diese haben für die Instruktion letzterer zu sorgen, müssen dazu mit Strafandrohungen, wenn nicht gar realen disziplinarischen Maßnahmen operieren, was mit einem machtvollen Auftreten einhergeht.50 Speziell jene, denen der Respekt gegenüber Gott nicht hinreichend vermittelbar ist, sollten auf diese Weise veranlasst werden, (zumindest) den Episkopen zu fürchten.51 Das tangiert nicht allein Personen, die nur rudimentär christianisiert sind, sondern auch solche, die mit der doctrina christiana vergleichsweise gut vertraut sind, die aber mit dem Bischof in einer aus Gregors Sicht inakzeptablen Manier zu disputieren suchen und ihm so den Gehorsam verweigern.52 47

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MARKUS 1986 (bes. 139–142). Generell geht er von einer Vorrangstellung des Bischofs aus, die er gern mit dem christlichen Motiv des Verhältnisses von Hirten und Herde illustriert (z. B. Greg. past. 2,3 [SC 381,180]), aber auch mit Begriffen aus der Herrschaftsterminologie umreißt: Zur Bezeichnung der Stellung des Bischofs bedient er sich mehrfach der Vokabel principatus (past. 1,1.9; past. 2,3.6 [SC 381,132.158.184.208]) und spricht wiederholt von der potestas des Bischofs (past. 1,4.9; past. 2,6 [SC 381,142.144.160.204–210]). Das Verhältnis zwischen Bischof und Gemeinde zeichnet er meist als ein hierarchisches, was unter anderem in der Begriffswahl praepositus (z. B. past. 2,6 [SC 381,204]) für den Bischof und subiecti respektive subditi für die Laien in der Gemeinde (past. 1,2.4; past. 2,2–10; past. 3 prol.; past. 3,4.17 [SC 381,134.142.178–240; SC 382,258.274–282.364]) zum Ausdruck kommt. So verwendet er den Terminus regimen auch ganz allgemein zur Bezeichnung der bischöflichen Tätigkeit; vgl. Greg. past. 1,1–5.9.11 (SC 381,130.132.136.138.144.158.164). Zu dem Gedanken mit Belegen aus zahlreichen Schriften Gregors FIEDROWICZ 1995: 196f.; GRESCHAT 2005: 97–99. Dies gilt Gregor gemäß ganz besonders für seine eigene Zeit, was er vor allem eschatologisch mit Blick auf das bevorstehende Weltende interpretiert; hierzu KISIĆ 2011 (bes. 53–61). Greg. past. 2,6 (SC 381,204). Jenes Problem unzureichenden Gehorsams gegenüber dem Prediger gerade bei in der christlichen Doktrin fortgeschrittenen Personen reflektiert Gregor ebenfalls in seinem Kommentar

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Gregor nähert sich in seinen Überlegungen zum rector offenkundig dem traditionell römischen Amtsverständnis an, rekurriert auf gängige Vorstellungen, läuft damit aber zugleich Gefahr, falsche Assoziationen zu wecken und Missverständnisse zu provozieren, was ihm zweifelsohne bewusst ist. Das betrifft zunächst einmal den Bischof selbst, der angesichts seiner exponierten Stellung und exorbitanten Machtmittel in ‚Hochmut‘ (superbia bzw. elatio) verfallen könne,53 gerade wenn er die spezifischen Differenzen zwischen einem Bischofsamt und einer staatlichen Magistratur nicht realisiert.54 Erschwerend kommt nach Gregor hinzu, dass nicht wenige Gemeindemitglieder einen derartigen Bischof aufgrund seiner Tatkraft in weltlichen Lebenszusammenhängen sehr ästimieren und in seiner Haltung noch bestärken.55 Daneben aber antizipiert er das Problem, dass bestimmte Angehörige der Gemeinde – namentlich solche, welche die christliche Doktrin bereits internalisiert haben – auf den Habitus des Bischofs irritiert reagierten. Um dem entgegenzuwirken, soll der episcopus sich bemühen, diesen zu kommunizieren, dass nicht sie die Adressaten seiner machtvollen Inszenierung sind, sondern allein jene, welche einer Bestrafung bedürfen.56 Zudem soll er diesem Personenkreis gegenüber explizieren, dass er sein Amt mit ‚Demut‘ (humilitas) ausübe und sich so von weltlichen Regenten unterscheide.57 2.3

Spirituelle Qualitäten des Bischofs

Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur ‚Leitung der Seelen‘ wird deutlich, dass der Bischof den Gemeindemitgliedern nicht nur im Sinne eines ‚Lehrers‘ den Weg zu Gott weist,58 sondern auch unmittelbar als Mediator zwischen ihnen und Gott fungiert, also interzessorisch wirkt.59 Der Bischof nimmt somit nicht zuletzt jene Funktion wahr, die seit dem 3. Jh. n. Chr. dem Typus des holy

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zum ersten Buch Samuel und in den Moralia in Iob; grundsätzlich zu Gregors Überlegungen zur Notwendigkeit von Subordination, Gehorsam und Demut der Laien in einer hierarchisch zu organisierenden Kirche mit zahlreichen Quellenbelegen FIEDROWICZ 1995: 193–231. Diese Problematik bringt Gregor vielfach zur Sprache; siehe etwa Greg. past. 1,1.4.8f.; past. 2,6.8 (SC 381,130.142.156.158.204–216.234). Einigen Bischöfen seien diese von Beginn ihrer Tätigkeit an nicht bewusst, andere verlören sie im Verlaufe ihrer Amtszeit aus dem Blick; vgl. besonders Greg. past. 2,6 (SC 381,208). Diese Problematik erörtert Gregor auch im fünften Buch seines Kommentars zum ersten Buch Samuel; hierzu mit Quellenbelegen VOGÜÉ 2003 (bes. 17). Zum komplexen Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit im Umgang des Bischofs mit den verschiedenen Personengruppen im Verständnis Gregors MEYVAERT 1966: 6–10; BROUWER 1994: 112–121; GRESCHAT 2005: 129–137. Zum Postulat der humilitas an den Bischof Greg. past. epist. praef.; past. 1,6.8f.; past. 2,1.6.8 (SC 381,124.148.150.156.158.174.202–216.234). Gregor spricht im Hinblick auf den praedicator mehrfach explizit von einem ‚Lehramt‘ (magisterium); so etwa Greg. past. 1,1.9.11 (SC 381,128.130.156.172). Vgl. insbesondere Greg. past. 1,10 (SC 381,162); zu den spirituellen Momenten in Gregors Bischofskonzeption DAGENS 1975: 1061–1063; zu der Thematik unter Bezug auf die Biographie unseres Autors DERS. 1991: 33–35.

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man zugeschrieben wird.60 Dazu ist unverzichtbar, dass er sich neben seinem aktiven Tun um contemplatio bemüht, um Inspiration durch Gott respektive den Heiligen Geist zu empfangen.61 Hieraus resultieren weitere spezifische Anforderungen an den Episkopen, insbesondere das Postulat der ‚Reinheit‘ (castitas) in Taten, Worten und Gedanken, was Gregor nicht allein mit Blick auf die liturgische Ebene, sondern grundsätzlich formuliert.62 Entscheidend ist weiterhin die Überzeugung, dass er von Gott mit seinem Amt betraut worden sei, es stellvertretend für Gott ausübe und auch sämtliche dazu erforderliche Qualitäten von Gott empfange.63 Das bedeutet gleichwohl nicht, dass er lediglich als Medium fungiert, durch das Gott direkt wirkt. Der Bischof wird, wie wir bereits gesehen haben, vielmehr als selbstständiger, eigenverantwortlicher Akteur begriffen, der nicht zuletzt ein hohes Maß an Selbstkontrolle benötigt. Dies manifestiert sich unter anderem in asketischen Bestrebungen, durch die er seine Distanz zu irdischen Gütern und physischen Gelüsten dokumentiert.64 Die Autorität, die er auf die Weise gewinnt, reicht wesentlich über seine ‚Amtsautorität‘ hinaus. Unser Autor operiert somit auch nicht mit einem Amtscharisma, sondern einem persönlichen Charisma des Bischofs, das zwar eine Gnadengabe Gottes darstellt, aber dennoch nicht unabhängig von der persönlichen Qualifikation des Betreffenden zu verstehen ist.65 Gregor geht davon aus, dass ein Bischof, der sich in dieser Weise präsentiert, seitens seiner Gemeinde sogar größeren Respekt erfährt, als wenn er sich auf die ‚irdischen‘ Geschäfte konzentrierte und sich lediglich in der Manier herkömm-

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Dass Gregor mit diesem Typus sympathisiert, wird namentlich in seinen Dialogi deutlich, in denen er vor allem italische Heilige porträtiert, denen es gelungen sei, sich eingehend der contemplatio zu widmen, sich von profanen Tätigkeitsfeldern fernzuhalten, die aber zugleich in hohem Maße im Interesse der Mitmenschen gewirkt hätten – insbesondere indem sie Wunder vollbracht hätten. Solche hätten eine außerordentliche Popularität genossen, die sie jedoch nicht für sich selbst reklamiert, sondern im Interesse der intensiveren Verbreitung der christlichen Botschaft eingesetzt hätten (Greg. dial. 1, prol. [SC 260,10–18]). Der Bischof, den er in der Regula pastoralis skizziert, unterscheidet sich von derartigen Persönlichkeiten, indem er sich intensiver der vita activa widmet und überdies gewöhnlich nicht durch Wunder, sondern vorrangig durch caritative Maßnahmen wirkt; dazu STRAW 1988: 94. Zu letztgenanntem Aspekt DAGENS 1977: 316. Greg. past. 1,5; past. 2,2 (SC 381,144.176–180); zu dem Gesichtspunkt SCHAMBECK 1999: 272. Das gilt auch für die virtutes, die er mehrfach als ‚Geistesgaben‘ tituliert; hierzu mit Belegen SCHAMBECK 1999: 268–278. Eine solche Verbindung von charismatischen, asketischen und pragmatischen Momenten im bischöflichen Wirken sowie in der Konzeption bischöflicher Autorität ist bei spätantiken Bischöfen nicht ungewöhnlich; hierzu grundlegend RAPP 2005: 23–152. Dies hat insbesondere damit zu tun, dass er den Bischof primär als Seelsorger versteht, weniger als Spender von Sakramenten, deren Gültigkeit die moralische Integrität des Spenders nicht zwingend voraussetzt. Augustinus hat letzteres im Kontext des Donatistenstreites deutlich gemacht und dabei mit Vorstellungen operiert, die später als ‚Amtscharisma‘ interpretiert worden sind; zu dem Themenkomplex und seiner kirchenhistorischen Relevanz BIENFAIT 2008: 190–192.

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licher Amtsträger gerierte.66 Aus diesem Grund kann es seinem Verständnis nach für einen Bischof sogar sinnvoll sein, ‚weltliche‘ Tätigkeiten, etwa jurisdiktionelle Zuständigkeiten nicht persönlich wahrzunehmen, sondern sie zu delegieren.67 Andererseits reflektiert er, dass gerade ein solcher episcopus ausgesprochen kompetent zu richten vermag – und dies nicht nur in der mutmaßlichen Wahrnehmung Gottes, sondern auch in der Perzeption der Gemeinde: Bei ihm mische sich keine menschliche Unzulänglichkeit bei, er lasse sich also weder von äußeren Erscheinungsbildern lenken, noch verfolge er persönliche Motive.68 Gregor vertritt die Auffassung, dass Geistliche mit asketischer Orientierung hinsichtlich ihrer moralischen Disposition für ein Bischofsamt ausnehmend gut geeignet seien.69 Im Unterschied etwa zu Johannes Chrysostomos hegt er auch keine Bedenken gegenüber der Ordination von Mönchen.70 Anders als im griechischen Osten des 4. Jhs. n. Chr. sind Mönche im lateinischen Westen zur Zeit Gregors in die Organisation der Kirche integriert und stellen keine Bedrohung für Kleriker dar. Viele von ihnen stammen zudem aus der sozialen Elite und verfügen über einen hohen Bildungsgrad. Er sieht sich eher mit dem Problem konfrontiert, dass diese Personen schwer zu motivieren sind, die Bürde eines solchen Amtes auf sich zu nehmen, da sie – so seine Beobachtung – vielfach ein kontemplatives Leben, losgelöst von weltlichem Treiben präferieren.71 Wie die Mehrzahl der früheren christlichen Autoren zeigt Gregor sich überzeugt, dass das Bischofsamt mit weitaus größerer Macht verbunden ist als ein weltliches Amt. Dies begründet sich vor allem durch die Tatsache, dass seine Strafkompetenz raumzeitlich unbegrenzt ist.72 Gerade dieser Umstand macht es – scheinbar paradox – unabdingbar, dass ein Bischof persönliche ‚Demut‘ (humilitas) dokumentiert und herausstreicht, dass er tatsächlich eine dienende Funktion im Auftrag Gottes wahrnimmt.73 Dies ist sowohl auf Gott bezogen wie auch an die Gemeinde adressiert. Mit Blick auf die Gemeinde reflektiert Gregor jedoch, dass eine starke Akzentuierung der ‚Demut‘ die auctoritas eines Episkopen unterminieren und ihn in seinem disziplinarischen Wirken beeinträchtigen könne. Er stellt hierzu verschiedene Überlegungen an: Zum einen betont er, dass die humilitas eines Bischofs sich vorrangig in dessen persönlicher Einstellung und damit gegenüber Gott manifestieren solle, weniger im Auftreten vor der Gemeinde,74 66 67 68 69 70 71

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Greg. past. 2,7 (SC 381,224). Greg. past. 2,7 (SC 381,222). Greg. past. 2,2 (SC 381,178). Siehe etwa Greg. past. 1,5 (SC 381,144–148). Vgl. LEYSER 1995: 44; zur Position des Johannes Chrysostomos LOCHBRUNNER 1993: 77–82. Auch ein solches Verhalten charakterisiert Gregor als ‚hochmütig‘: Die Betreffenden verweigerten ihren Dienst am Nächsten und verhielten sich überdies ungehorsam gegenüber Gott, falls er sie in ein solches Amt berufe; Greg. past. 1,5 (SC 381,144.146). Diese Vorstellung ist z. B. bei Johannes Chrysostomos prominent; vgl. etwa Joh. Chrys. hom. de stat. 3,4. 6; Joh. Chrys. sac. 3,4f. Zu jenem scheinbaren Paradox im Hinblick auf Gregor EVANS 1986: 85; grundsätzlich auch LEYSER 2000: 160–187. Greg. past. 2,6 (SC 381,212).

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zum anderen aber gibt er zu bedenken, dass die Gemeinde auch mit dieser virtus konfrontiert werden, der Bischof sie daher in adäquater Weise exemplifizieren müsse. Aufgrund der geschilderten Problematik dürfe dies jedoch nur dezent geschehen: „Die Untergebenen sollen an gewissen, in geeigneter Weise hervortretenden Anzeichen erkennen können, dass sie [die rectores] innerlich demütig sind“ – so seine Formulierung.75 Konkrete Umsetzungsvorschläge dazu präsentiert er gleichwohl nicht.76 3 ZUSAMMENFASSUNG In der Bischofskonzeption Gregors sind die normative Orientierung der Betreffenden und deren Würdigung durch die Gemeinde von fundamentaler Bedeutung. Dies hat insbesondere damit zu tun, dass er den episcopus vorrangig als praedicator begreift, der christliche Werte und daraus resultierende Verhaltenserwartungen zu vermitteln hat. In traditionell römischer Manier soll jener in der Predigt mit exempla argumentieren und zugleich selbst in Wort und Tat als Paradigma fungieren. Die Gemeinde perzipiert den Bischof vornehmlich als einen patronus, der in umfassendem Sinne für die civitas sorgt. Im Italien der Zeit Gregors impliziert dies auch die Übernahme von Herrschaftskompetenzen, die bis dato in der Zuständigkeit staatlicher Funktionsträger lagen. Dabei können traditionell römische und genuin christliche Verhaltensmuster koinzidieren, aber auch konfligieren: Nach Gregor hat ein episcopus unter den gegebenen historischen Umständen all diese Aufgabenbereiche wahrzunehmen, jedoch nicht als Träger einer der herkömmlichen sozialen Rollen, sondern als Seelsorger, der namentlich der virtus der caritas verpflichtet ist. Die Differenzen zwischen den traditionellen Rollenmustern und der Rolle des Bischofs macht er weniger auf der Sachebene, als in der Motivation und Intention des Handelns aus. Hierzu gehört auch die Wahl korrekter Referenzpunkte für das eigene Tun, wobei zum einen die Gemeinde, zum anderen Gott respektive das persönliche, als christlich geprägt gedachte Gewissen im Vordergrund rangiert. Diese Größen müssen überdies in eine adäquate Relation gebracht werden. All das zu bewerkstelligen, erfordert vom Bischof ausgeprägte Selbstreflexion wie auch hohe Sensibilität im Umgang mit der Gemeinde. Letzterer ist gekennzeichnet durch ein Changieren zwischen Nähe und Distanz – eine Nahbeziehung ist speziell im vertrauensvollen seelsorgerischen Gespräch erforderlich, aber auch in der Predigt, die pastorale Fragen lebensweltlich orientiert thematisiert; Distanz geht einher mit der außergewöhnlichen, göttlich legitimierten Machtstellung des Episkopen wie auch seiner besonderen Orientierung auf Gott. Nähe wie Distanz sind hier stärker ausgeprägt als in den herkömmlichen 75 76

Greg. past. 2,6 (SC 381,212): „Quibusdam signis decenter erumpentibus eos apud se esse humiles etiam subiecti deprehendant“ (Übers.: FUNK). Möglicherweise hat er auch an dieser Stelle im Hinterkopf, dass nur über christliche Werte gut informierte Personen für derartige Zeichen überhaupt sensibilisiert sind; vgl. hierzu die Belege in Anm. 57.

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öffentlichen Kommunikationssituationen der griechisch-römischen Antike. Die massivsten Probleme antizipiert Gregor bei der humilitas, die ihm für den Bischof essentiell scheint, die aber stärker als alle anderen Wertbegriffe, mit denen er operiert, von traditionell römischen virtutes abweicht und nur in einem spezifisch christlichen Begründungszusammenhang verstanden werden kann, der sich aber sowohl den Gemeinden wie auch vielen Bischöfen selbst offenbar nicht ohne Weiteres erschließt. BIBLIOGRAPHIE Baasten, Matthew (1986): Pride according to Gregory the Great. A Study of the ‚Moralia‘. Lewiston: Mellen 1986. Bartelink, Gerard J.M. (1995): Pope Gregory the Great’s Knowledge of Greek – In: Cavadini, John C. (Hrsg.): Gregory the Great. A Symposium. Notre Dame: University of Notre Dame Press 1995, S. 117–136. Bienfait, Agathe (2008): Heilige in der katholischen Kirche. Eine an Max Weber orientierte Studie über das Zusammenspiel zwischen Personalcharisma und Amtscharisma – In: Rychterová, Pavlína / Seit, Stefan / Veit, Raphaela (Hrsg.): Das Charisma. Funktionen und symbolische Repräsentationen. Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 187–200. Brouwer, Christian (1994): Égalité et pouvoir dans les ‚Morales‘ de Grégoire le Grand – In: Rech. Aug. 27 (1994), S. 97–129. Brown, Peter (1996): Die Entstehung des christlichen Europa. München: C.H. Beck (engl. 11995) 1996. Brown, Truesdell S. (1984): Gentlemen and Officers. Imperial Administration and Aristocratic Power in Byzantine Italy A.D. 554–800. Rom: British School at Rome 1984. Classen, Carl Joachim (2010): Aretai und Virtutes. Untersuchungen zu den Wertvorstellungen der Griechen und Römer. Berlin: De Gruyter 2010. Dagens, Claude (1975): Grégoire le Grand et le ministère de la parole. Les notions d’ordo praedicatorum et d’officium praedicationis – In: Forma futuri. Studi in onore del Cardinale Michele Pellegrino. Turin: Bottega d’Erasmo 1975, S. 1054–1073. Ders. (1977): Saint Grégoire le Grand. Culture et expérience chrétiennes. Paris: Études Augustiniennes 1977. Ders. (1991): Saint Grégoire le Grand, Consul Dei. La mission prophétique d’un pasteur – In: Gregorio Magno e il suo tempo. Vol. I. Rom: Institutum Patristicum ‚Augustinianum‘ 1991, S. 33–45. Evans, Gillian R. (1986): The Thought of Gregory the Great. Cambridge: Cambridge University Press 1986. Fiedrowicz, Michael (1995): Das Kirchenverständnis Gregors des Großen. Eine Untersuchung seiner exegetischen und homiletischen Werke. Freiburg: Herder 1995. Floryszczak, Silke (2005): Die ‚Regula Pastoralis‘ Gregors des Großen. Studien zu Text, kirchenpolitischer Bedeutung und Rezeption in der Karolingerzeit. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. Frank, Karl Suso (1969): Actio und Contemplatio bei Gregor dem Großen – In: TThZ 78 (1969), S. 283–295. Gasparri, Stefano (1991): Gregorio e l’Italia meridionale – In: Gregorio Magno e il suo tempo. Vol. I. Rom: Institutum Patristicum ‚Augustinianum‘ 1991, S. 77–101. Greschat, Katharina (2005): Die ‚Moralia in Job‘ Gregors des Großen. Ein christologischekklesiologischer Kommentar. Tübingen: Mohr Siebeck 2005. Haensch, Rudolf (2003): Römische Amtsinhaber als Vorbilder für die Bischöfe des 4. Jahrhunderts? – In: de Blois, Luc / Erdkamp, Paul / Hekster, Olivier / de Kleijn, Gerda / Mols, Ste-

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Karen Piepenbrink

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PRESTIGE- ODER GESCHMACKSFRAGEN? Plinius der Jüngere und die senatorische Reputation im otium Isabelle Künzer Im Jahre 1979 stellte GÉZA ALFÖLDY in einem Vortrag fest: „Natürlich konnte man sich privat, im otium, rein persönlichen Interessen widmen – aber aus der Sicht der Gemeinschaft war dies eben unwichtig und irrelevant.“1 Nicht nur bei ALFÖLDY, sondern in der Forschung insgesamt wird das otium gerne als eine Lebenswelt der römischen Senatorenschaft beschrieben, die außerhalb jeglicher gesellschaftlicher Beziehungen und Bindungen stand. Im otium gab es nach dieser Vorstellung keinerlei Kontrolle, so dass in einer solchen Sphäre ein selbstbestimmtes Leben möglich gewesen sei.2 Besaßen aber die Beschäftigungen, denen sich die Angehörigen der senatorischen Elite im otium hingaben, keinerlei gesellschaftlich relevante Dimension? Galten im otium keine gemeinhin als verbindlich erachteten Wertmaßstäbe und moralischen Kategorien? War das otium der Senatorenschaft ein Raum, in dem der persönliche Geschmack allein richtungsweisend war und das standesspezifische Prestige sowie die senatorische Reputation keine oder kaum eine Rolle spielten? Die Person des jüngeren Plinius und sein umfangreiches Briefcorpus bieten sich in diesem Zusammenhang besonders an, einen kritischen Blick auf die Einstellungen zu werfen, welche die Senatoren am Übergang vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert dem otium gegenüber besaßen. Dabei werden in der Folge nicht konkrete Formen der Gestaltung des otium durch die Senatorenschaft im Vordergrund stehen; ebenso wenig sollen Prioritäten zwischen otium und negotium in senatorischen Kreisen Beachtung finden. Vielmehr werden die Frage nach den inhärent mit dem otium-Diskurs transportierten Wert- und Moralvorstellungen sowie deren Bedeutung für das senatorische Selbstverständnis und die senatorische Binnendifferenzierung am Beispiel des jüngeren Plinius im Mittelpunkt stehen. Damit soll also eine ganz bestimmte Metaebene des otium-Diskurses betrachtet werden.

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ALFÖLDY 1980: 41. Vgl. EBD.; GIBSON/MORELLO 2012: 174; FECHNER/SCHOLZ 2002: 144; NEWSOME 2013: 4728; SCAGLIARINI 2008: 34; DEWAR 2014: 66; immanent bei MÉTHY 2007: 329, 357, Anm. 159, 361, 364; PANI 1993: 182; zu einer gegenteiligen Auffassung gelangt ANDRÉ 1966: 399– 403, 531–541.

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I Plinius der Jüngere nimmt in epist. 3,12 eine Einladung des Catilius Severus, eines senatorischen Standeskollegen prätorischen Ranges, zu einem Abendessen in dessen Haus an. Dieser Vorgang ist für sich genommen kaum erstaunlich. Ebenso wenig dürfte überraschen, dass der jüngere Plinius das Schreiben, mit dem er dem Einladenden seine Zusage mitteilt, in seine Briefsammlung aufgenommen hat. Gegenseitige Einladungen waren unter den Angehörigen der senatorischen Elite üblich und selbstverständlicher Bestandteil römischer Elitenkultur. Bemerkenswert wird diese Tatsache aber durch die folgende Aussage des Plinius: „Doch für unser Essen soll wie bei Vorbereitung und Aufwand, so auch bei der Zeit ein bestimmtes Maß gelten.“3 Plinius bittet also seinen Gastgeber bereits vorab, gewisse Vorkehrungen zu treffen. Er legt Wert auf begrenzten Aufwand und eine zeitlich bemessene Ausdehnung des Essens. Für diesen Wunsch gibt er folgenden Grund an: „Denn wir sind doch nicht so gestellt, dass uns nicht einmal unsere Feinde tadeln können, ohne uns zugleich zu loben.“4 Mit dieser Wendung erhält die gesamte Angelegenheit eine gänzlich andere Dimension. Nicht die Vorliebe des Plinius für eine gewisse Maßhaltung und einen beschränkten Tafelluxus ist hier für den Gestaltungsrahmen einer abendlichen Zusammenkunft bestimmend, sondern die mögliche Reaktion anderer (inimici), die Plinius und seinem Gastgeber nicht sonderlich wohlgesonnen sind. Impliziert ist, dass diese inimici zum einen von dem Treffen sowie von dessen Ablauf erfahren. Zum anderen lässt sich der Formulierung des Plinius entnehmen, dass diesen Personen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Plinius und Catilius Severus zur Verfügung stehen. Damit ist aber auch deutlich, dass die mit einem gemeinsamen Gastmahl verbundenen freizeitlichen Aktivitäten alles andere als ein privates Ereignis waren, sondern dass eine cena unter Senatoren einen geradezu öffentlichen Charakter annahm und hierbei bestimmte Regeln einzuhalten waren. In diesem Bereich lösten sich häusliche und öffentliche Sphären auf und gingen ineinander über.5 Plinius äußert direkt und unumwunden seine Befürchtung, ein zu opulent ausgestattetes Mahl könne Kritik nach sich ziehen. Er weiß um die Gemengelage, muss sich aber auch sicher sein können, dass Catilius Severus seine Mitteilung versteht, zugleich seine Bedenken teilt und daher ein Abendprogramm konzipiert, das keinen Anstoß erregen wird. Dementsprechend scheint Plinius also in seinem Schreiben an Catilius 3

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Plin. epist. 3,12,4: „Nostrae tamen cenae, ut adparatus et impendii, sic temporis modus constet.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Die Übersetzung der lateinischen Zitate folgt im Wesentlichen der von H. PHILIPS und M. GIEBEL vorgelegten Ausgabe der Plinius-Briefe, wurde jedoch von der Verfasserin in einzelnen Passagen überarbeitet. Die Übertragung von Zitaten ins Deutsche aus dem Panegyricus des Plinius richten sich nach der Übersetzung von W. KÜHN. An Stellen, an denen es geboten erschien, wurden auch hier Veränderungen durch die Verfasserin vorgenommen. Plin. epist. 3,12,4: „Neque enim ii sumus quos vituperare ne inimici quidem possint, nisi ut simul laudent.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. SCHNURBUSCH 2011: 13–16, 21f., 177–179, 214–216, 219–222, 224, 226–228, 251; VÖSSING 2004: 234–240, 261–263.

Prestige- oder Geschmacksfragen?

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Severus nicht über ein einmaliges Problem und dessen mögliche Auswirkungen zu reflektieren, sondern auf Grundprinzipien zu rekurrieren, denen sich die Angehörigen der senatorischen Elite verpflichtet fühlen mussten und die daher auf einen gewissen Verbreitungsgrad in senatorischen Kreisen schließen lassen.6 Für Plinius ist es entscheidend, dieser Verhaltensrichtlinie gerecht zu werden. Er weiß darum, dass er in den Kreisen der römischen Senatorenschaft keinen Rang einnimmt, der ihn über jeden Zweifel erhaben sein lässt. Ihm können demnach Personen, die ein Fehlverhalten seinerseits registrieren, mit ihrem Tadel (vituperare) durchaus schaden. Als Gegenbeispiel führt Plinius in dieser Passage eine Anekdote über den jüngeren Cato aus Caesars Anticato an. Cato sei in seiner freien Zeit in der Öffentlichkeit sogar im betrunkenen Zustand eine gemeinhin akzeptierte und verehrungswürdige Persönlichkeit geblieben.7 Er kann mithin als eine Person gelten, für die selbst Verfehlungen nicht mit Prestigeeinbußen größeren Ausmaßes einhergingen, sondern die allenfalls die Gunst einzelner verlor. Mit diesem Exempel erhärtet Plinius zudem die Institutionalisierung des Prinzips, das er im Zusammenhang mit seiner Einladung zu Catilius Severus behandelt. In den Kreisen der Senatorenschaft schien es gängige Praxis gewesen zu sein, auf Aktivitäten der Standesgenossen im otium, in der freien Zeit, genau zu achten und sie regelrecht auf ihre Normenkonformität hin zu kontrollieren.8 Anders als der jüngere Cato muss Plinius aber mit gravierenderen Konsequenzen rechnen, wenn er sich zu einer Normentransgression hinreißen ließe. Welche Sanktionen Plinius seinerseits zu erwarten hatte, wird ebenfalls anhand des Cato-Beispiels und einer rhetorischen Frage deutlich, die Plinius in diesem Zusammenhang stellt: „Könnte man Cato mehr auctoritas zuerkennen, als dass er auch betrunken noch verehrungswürdig war?“9 Das vituperare,10 dem sich Plinius ausgesetzt sehen mochte, bedeutete einen Verlust an auctoritas. 6

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Zur Repräsentativität eines Ensembles an Vorstellungen, denen die Angehörigen der römischen Aristokratie bei Banketten gerecht werden mussten, vgl. STEIN-HÖLKESKAMP 2002: 485. Vgl. Plin. epist. 3,12,2f. Vgl. BARGHOP 1994: 150–159, 208f.; HALTENHOFF 2011b: 176f.; BALSDON 2002: 187. MÉTHY 2007: 373 hebt hervor, dass die Senatoren Einschätzungen über den Habitus ihrer Zeitgenossen anhand der Gestaltung des otium vornahmen. Zudem weist sie darauf hin, dass im negotium und im otium identische Wert- und Moralmaßstäbe galten und dem otium gleichsam der Rang einer moralischen Bewertungskategorie zuwuchs (EBD.: 356, 373). Mit dieser Feststellung steht sie allerdings im Gegensatz zu ihren sonstigen Äußerungen, in denen sie das otium zu einem Raum frei von sozialen Bezügen und Vorgaben erklärt; vgl. beispielsweise EBD.: 329, 357, Anm. 159, 361, 364. Diese Diskrepanz zwischen dem Postulat eines selbstbestimmten otium einerseits und der gleichzeitigen Feststellung von mit der Gestaltung des otium verbundenen Verhaltenserwartungen und Wertmaßstäben andererseits durchzieht MÉTHYs gesamte Studie. Zurückzuführen sein dürfte diese Problematik auf die Trennung zwischen einem individuellen und einem gesamtgesellschaftlichen Werte- und Moralkonzept, die MÉTHYs Ausführungen zugrunde liegt; so EBD.: 131, 139–141, 270–272, 447. Plin. epist. 3,12,3: „Potuitne plus auctoritatis tribui Catoni, quam si ebrius quoque tam venerabilis erat?“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. Plin. epist. 3,12,4.

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Diese auctoritas wurde von den Standeskollegen in Form des Ausdrucks der Anerkennung zugesprochen und gegebenenfalls für Verhalten, das auf Missbilligung stieß, wieder entzogen.11 Auctoritas, Prestige oder Ansehen ist folglich mit dem symbolischen Kapital nach BOURDIEU vergleichbar. BOURDIEU wertet Eigenschaften als Kapital, die einer Person Macht, Stärke und damit letzten Endes Gewinn verschaffen.12 Unter diese offene Begriffsdefinition lassen sich sämtliche Ressourcen subsumieren, die für das Handeln in Gesellschaften relevant sind. Voraussetzung für die Anhäufung des symbolischen Kapitals ist in jedem Fall die Wahrnehmung und Anerkennung der jeweils als Kapital definierten Eigenschaften durch die soziale Referenzgruppe.13 Auf diese Weise kann jede Form von institutionalisierter oder nichtinstitutionalisierter Anerkennung durch eine gesellschaftliche Gruppe als prestigegenerierendes Merkmal fungieren. Der Status einer Person wird demnach nicht zuletzt von dem durch sie erworbenen und angehäuften Ansehen bestimmt, mithin also von der Anerkennung, die ihr durch die jeweilige Rezipientengruppe zugesprochen wird.14 Das angesammelte Prestige wiederum bestimmt die Position eines Akteurs innerhalb der jeweiligen Gesellschaftschicht. Dies hat zur Konsequenz, dass bereits erlangtes Ansehen keineswegs als eine feste Größe gelten kann, die dem Inhaber permanent zur Verfügung steht, sondern dass Anerkennung ständig neu erworben und immer wieder bestätigt werden muss. Vor diesem Hintergrund ist für die Wahrung oder Verbesserung des eigenen Status dauerhafte Kommunikation und Interaktion mit der eigenen Referenzgruppe erforderlich, durch die die gegenseitige Anerkennung immer wieder bekräftigt wird. Folglich war ebenso der Verlust des eigenen Status möglich, sofern man sich nicht in der Lage befand, Verhaltenserwartungen gerecht zu werden, die an den eigenen Stand gestellt wurden. Das erworbene Ansehen ermöglichte es einer Person zum einen, andere Personen zu beeinflussen, zum anderen gewährleistete es unter bestimmten Bedingungen sogar die Vorrangstellung einer Person, die über Prestige verfügte, gegenüber denjenigen, die ihr ihre Anerkennung ausdrückten. Bereitwillig wurde daher unter Umständen Fehlverhalten von den eigenen Standesgenossen registriert, damit es regelrecht als negatives Kapital gegen 11

Vgl. Plin. epist. 2,10,2–4; epist. 3,4,6; MÉTHY 2007: 60–66, 274; PAGE 2009: 46f.; HALF2002: 227; FLAIG 1992: 108; FLAIG 2003: 238; RIGGSBY 1998: 83; BARGHOP 1994: 153, 208; HÖLKESKAMP 2011: 19; MAYER 2003: 227; ELIAS 1983: 147; anders STEINHÖLKESKAMP 2003: 318, die zwischen der Zeit der römischen Republik und dem Prinzipat differenziert. Lediglich in republikanischer Zeit seien die Standesgenossen für den Ausdruck der Anerkennung die maßgebliche Instanz gewesen. Prestige habe man demgegenüber in Zeiten des Prinzipats über die „Gunst und Gnade von oben“ (EBD.) erlangt; ähnlich DIES. 2005: 267. Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass einerseits auch in der römischen Kaiserzeit die Bedeutung der innersenatorischen Konkurrenz und des Gunsterwerbs bei den Standesgenossen ungebrochen blieb, andererseits der Kaiser nicht zum alleinigen Referenzpunkt der senatorischen Elite aufstieg. Vgl. zu den Stratifikationsprinzipien der römischen Gesellschaft des Prinzipats WINTERLING 2001: 111; zu einseitig im Hinblick auf die Hierarchisierungspraktiken zur Zeit des Prinzipats demgegenüber FLAIG 1992: 104f.; BARGHOP 1994: 71f., 157. Vgl. BOURDIEU 1997: 107. Vgl. DERS. 1992: 152. Vgl. DERS. 1990: 51, 72; DERS. 1985: 23; ELIAS 1983: 147. MANN

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die betreffende Person ins Feld geführt werden konnte. Infolgedessen büßte ein Senator zwar nicht seinen senatorischen Rang ein, aber er verlor an Ansehen innerhalb der senatorischen Elite und gab damit entscheidende Machtmittel aus der Hand. Der gegenseitige Zuspruch war daher ebenso wie der Entzug von Anerkennung immer wieder ein Mittel, das in der innersenatorischen Konkurrenz und den damit verbundenen Positionierungsbestrebungen zum Einsatz kam.15 Nun ist evident, welche Brisanz ein Gastmahl in senatorischen Kreisen entwickeln konnte und welche Bedenken Plinius im Hinblick auf die Gestaltung des Abendprogramms im Hause des Catilius Severus trägt. Er rechnet damit, dass der Besuch der cena bei Catilius Severus, sollte diese unter falschen Voraussetzungen stattfinden, womöglich negative Auswirkungen auf seinen Status nach sich ziehen könnte, indem das Bankett als negatives Kapital von Standeskollegen instrumentalisiert würde.16 Diese Problematik war für einen Senator, der sein otium in Übereinstimmung mit standesspezifischen Wert- und Moralvorstellungen gestalten wollte, allgegenwärtig. II In einem anderen Fall wurde Plinius mit der Kritik durch seine Zeitgenossen unmittelbar konfrontiert. Titius Aristo hatte Plinius von Reaktionen auf dessen Gedichte in Kenntnis gesetzt. In einem Antwortschreiben reflektiert Plinius nun über die mit den Versen verbundene Problematik und rechtfertigt sich. Mit seinem

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MÉTHY 2007: 60–66, 275 schätzt zwar die Sorgen um das eigene Ansehen in ihrer Bedeutung korrekt ein. Gleichzeitig urteilt sie aber zu einseitig, wie dieser Beitrag zeigen wird, wenn sie dignitas – in ihrer Auffassung basierend auf der Zugehörigkeit zum Senatorenstand und der Ausübung von Magistraturen – zum alleinigen Faktor für das Prestige eines Senators erklärt (vgl. EBD.: 61, 274). Die Anerkennung durch die Standeskollegen wiederum bemisst sich nach MÉTHY 2007: 74, 85 einzig am Kriterium der dignitas. FLAIG 1993: 198 hebt wohl zu Unrecht hervor, in differenzierten Adelsgesellschaften spiele Prestige keine Rolle, da in rangmäßig klassifizierten aristokratischen Gesellschaften die Felder der Konkurrenz beschränkt seien. Dieser Anschauung ist allerdings die Diversifizierung der senatorischen Bewährungsfelder im Zuge der Institutionalisierung des Prinzipats entgegenzuhalten: In vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wurde um Prestige gerungen und senatorische Binnendifferenzierung betrieben. Die Felder der Konkurrenz waren dabei gewiss begrenzt. Ansonsten wäre in diesen Bereichen eine Hierarchie- und Elitenbildung der Senatorenschaft nicht möglich gewesen. Es hätten sich vielmehr voneinander autonome Eliten auf den jeweiligen Feldern entwickelt. Allerdings kam es im Zuge der Etablierung der Alleinherrschaft zu einer Vervielfältigung der Aufgabengebiete. In diesem Zusammenhang wurden nicht genuin neue Betätigungsbereiche von den Senatoren erschlossen, sondern altbekannte Tätigkeitsfelder um neue Bewährungsmöglichkeiten zum Prestigeerwerb ergänzt. Vgl. STEIN-HÖLKESKAMP 2008: 147; DIES. 2005: 116, 254–258; SCHNURBUSCH 2008: 131; DERS. 2011: 177f., der Gerichtsverhandlungen als Anlass thematisiert, zu dem Verstöße gegen die Regeln der Bankettkultur von Anklägern instrumentalisiert wurden bzw. zu dem Beklagte mit solchen Verfehlungen konfrontiert wurden; vgl. dazu auch STEIN-HÖLKESKAMP 2008: 149.

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Eingeständnis, „ich mache bisweilen Verse, die nicht sehr ernst sind“,17 werden die Voraussetzungen deutlich, unter denen es zu einer Resonanz durch die Gesprächspartner des Titius Aristo gekommen war. In seiner Mitteilung hatte Titius Aristo offensichtlich erkennen lassen, dass man in der Diskussion der Dichtung des Plinius mit durchaus divergierenden Ansichten begegnet sei. Aus dieser Quelle weiß Plinius auch, dass selbst Personen, deren Wohlwollen er genoss, ihn kritisierten.18 Maßgeblich ist der Anlass für die Missbilligung dieser Personen, nämlich dass er etwas Derartiges verfasse und rezitiere.19 Für die Art dessen, was er geschrieben hatte, und vor allen Dingen dafür, dass er diese literarischen Ergüsse vortrug, wurde er getadelt.20 In der Kritik durch die Zeitgenossen und der Reaktion des Plinius darauf eröffnen sich mehrere unterschiedliche Wahrnehmungsebenen des standesspezifischen Selbstverständnisses sowie von dessen Relevanz in der Öffentlichkeit des antiken Rom. Das Verfassen von Gedichten für sich allein genommen ist auf den privaten Raum beschränkt.21 Eine gesamtgesellschaftliche und damit einhergehende, noch kritikwürdigere Dimension erhält diese Dichtung offenbar durch ihren Vortrag. Die Kritiker lehnen allerdings bereits ab, dass Plinius, unter welchen Umständen auch immer, überhaupt derartige Verse komponiert.22 Aus der weiteren Argumentation des Plinius ist zu entnehmen, was seine Zeitgenossen zu diesen Aversionen veranlasste. Plinius beruft sich auf „höchst gelehrte, ernsthafte und unbescholtene Männer“,23 die ebenfalls anstößige Gedichte verfasst hätten, und führt sodann Beispiele an.24 Sämtliche aufgezählten Personen, die – von Cicero über Varro bis zu Verginius Rufus und einigen Kaisern – einen zeitlichen Rahmen von der römischen Republik über die Epoche der iulisch-claudischen Dynastie bis in die Jahre der flavischen Herrscher abdecken, sind Angehörige des Senatorenstands, die nicht in erster Linie für ihre Dichtung, sondern primär für ihre rhetorischen Fähigkeiten bekannt waren.25 Was sich für diese Senatoren gebührte, möchte Plinius seinerseits in Anspruch nehmen. Wenn die Komposition anzüglicher Gedichte diesen bedeutenden Persönlichkeiten nicht vorgeworfen wurde, dürfe dies in seinem Fall ebenfalls nicht kritisch vermerkt werden.26

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Plin. epist. 5,3,2: „facio non numquam versiculos severos parum.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. Plin. epist. 5,3,1. Vgl. Plin. epist. 5,3,1. Für die Wertung von literarischen Werken als Spiegel der Tugendhaltung ihres Verfassers vgl. MÉTHY 2007: 86, 88–91. Vgl. Plin. epist. 4,3; epist. 4,14,1f.; epist. 7,4,4.6f.; epist. 7,9,9f.12f. Vgl. Plin. epist. 5,3,1; dazu AUHAGEN 2003: 8. Plin. epist. 5,3,3: „doctissimos gravissimos sanctissimos homines“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL); vgl. dazu auch Plin. epist. 4,14,4. Vgl. Plin. epist. 5,3,5. Vgl. SHERWIN-WHITE 1966: 317. Vgl. Plin. epist. 5,3,5: „Oder sollte ich mich etwa fürchten […], sollte ich mich fürchten, es schicke sich nicht recht für mich, was sich für einen M. Tullius schickte, […]?“ / „an ego verear […], sed ego verear ne me non satis deceat, quod decuit M. Tullium […]?“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. dazu auch AUHAGEN 2003: 12; MARCHESI 2008: 74–76.

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Es ist also eine in dem Verfassen als unschicklich geltender Verse liegende Kollision mit dem standesspezifischen Selbstverständnis, die für den Tadel gegenüber Plinius Anlass gab.27 Sowohl im privaten Umfeld als auch bei ihrer öffentlichen Rezitation sind solche Gedichte nach Ansicht bestimmter Zeitgenossen kritikwürdig. Hinter diesen Aversionen steckt die Überlegung, eine Person, die in ihrem otium anzügliche Verse schreibe, könne ihr negotium kaum mit dem nötigen Ernst und der erforderlichen Disziplin versehen. Auch wenn Plinius ansonsten von einem nahtlosen Übergang dieser Sphären überzeugt ist, bemüht er sich in der Verteidigung seiner Dichtung immer wieder, die Entstehung seiner Verse im otium zu verorten, um so Rückschlüssen von der Gestaltung seines otium auf seine Haltung gegenüber den ihm obliegenden officia vorzubeugen.28 Die Kritiker des Plinius differenzieren jedoch nicht zwischen dem privaten und dem öffentlichen Lebensraum des römischen Senators. Sie registrieren und monieren auch private Verfehlungen. Für sie ist es eine Frage des senatorischen Habitus und des Prestiges, zu jeder Zeit und in jedem Rahmen eine standesspezifische Wertehaltung zu wahren und zu kultivieren. Plinius selbst möchte mit dem Hinweis auf bekannte Dichter aus dem Senatorenstand seinem eigenen Verhalten die Exzeptionalität nehmen und die Form seiner Dichtung gerade als eine in senatorischen Kreisen durchaus verbreitete Beschäftigung darstellen.29 So konfrontiert er seine Verse indirekt regelrecht mit Bewertungs- und Anerkennungsinstanzen, die aus den von ihm angeführten maiores bestehen. Auf diese Weise glaubt Plinius, Schaden von seiner eigenen fama und Reputation abzuwenden.30 In seinen Augen verstößt er ja gerade nicht gegen die Standesmoral, wenn sogar Personen wie Caesar, Varro oder auch Nerva ebenfalls anzügliche Verse verfasst hätten. Plinius selbst betreibt sozusagen eine imita27 28

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Vgl. Plin. epist. 4,14,8; epist. 7,4,1; SHERWIN-WHITE 1966: 316; ROLLER 1998: 273f., 278f., 288f. Vgl. Plin. epist. 4,14,2; epist. 5,3,4; epist. 7,4,4.6; epist. 7,9,9f.12f.; ROLLER 1998: 277, 279, 283–285, 288f.; AUHAGEN 2003: 5–8, 12; GAMBERINI 1983: 103–110; MARCHESI 2008: 58, 73, 76f. So ist die Aussage des Plinius über die von ihm aufgelisteten exempla, zu denen er in epist. 5,3,6 mit Vergil, Ennius und Cornelius Nepos weitere Angehörige der römischen Oberschicht zählt, nur konsequent: „aber hinsichtlich der Sittlichkeit gibt es keinen Unterschied zwischen den Ständen.“ / „sed sanctitas morum non distat ordinibus.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Plinius glaubt sich also vollkommen in Übereinstimmung mit den moralischen Vorstellungen der römischen Elite. Aus diesem Grund kann er auch selbstbewusst behaupten, diejenigen, die wüssten, auf welche auctores – die etymologische Verwandtschaft zu auctoritas ist evident – er sich berufen könne, seien in der Lage zu erkennen, dass seine Dichtung in Übereinstimmung mit diesen Vorbildern laudabile est (vgl. epist. 5,3,4); vgl. dazu auch AUHAGEN 2003: 9, 12. Vgl. dazu auch Plin. epist. 4,14,4. RIGGSBY 1998: 81; AUHAGEN 2003: 7. HERSHKOWITZ 1995: 175 berücksichtigt die gesellschaftliche Dimension der Dichtung des Plinius nicht hinreichend, wenn sie davon ausgeht, Plinius habe die Kritik seiner Zeitgenossen nicht beunruhigt und sei vielmehr über die Debatte im Hause des Titius Aristo erfreut gewesen. Der Erklärungsversuch aber, mit dem Plinius auf diesen Tadel reagierte, ist ein deutliches Indiz dafür, dass Plinius sehr wohl besorgt war und sich daher zu einer Rechtfertigung genötigt sah; vgl. ROLLER 1998: 281–283; AUHAGEN 2003: 9.

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tio jener exempla.31 Auch den Kritikpunkt, dass er seine Gedichte vorgetragen habe, versucht Plinius zu entkräften. Er könne nicht bestätigen, ob dies die Vorbilder, auf die er verwiesen hatte, ebenfalls getan hätten, doch erfordere seine persönliche Bescheidenheit, dass er sich nicht allein auf sein eigenes Urteil verlasse.32 In den grundsätzlichen Auffassungen zeigen sich einige entscheidende Übereinstimmungen zwischen Plinius und seinen Kritikern. Die Transzendierung des öffentlichen und des privaten Raumes liegt auch dem Denken des Plinius zugrunde. Die Frage nach der Verbindlichkeit einer standesspezifischen Wertehaltung stellt sich für ihn ebenfalls in keiner Weise. Für Plinius sind es ja gerade bedeutende Persönlichkeiten der Vergangenheit, die er für das Argument der Vereinbarkeit seines Verhaltens mit senatorischen Moralvorstellungen heranzieht. Indem sich Plinius in diesem Fall rechtfertigt, liefert er zudem einen eindeutigen Beleg dafür, dass er um die Gefährdung seines Prestiges und die Verbindlichkeit des senatorischen Selbstverständnisses weiß. Neben den Verhaltenserwartungen, die mit einem senatorischen Habitus assoziiert wurden, gibt es aber in der Vorstellungswelt des Plinius eine weitere Ebene: Sein Kommentar, er vergrößere seine Schuld noch dadurch, dass er nicht nur unschickliche Gedichte verfasse, sondern sich auch Komödien anhöre und Lyriker lese, eben für „alle Arten unschuldiger Entspannung“33 zugänglich sei, weil er ein Mensch sei – homo sum34 –, wirkt geradezu ironisch, besonders indem Plinius diese Bemerkung mit dem Hinweis auf die Mehrung seiner Schuld einleitet.35 Vor allem scheint diese Aussage im Widerspruch zu seiner Auffassung von der Relevanz des senatorischen Werte- und Moralkanons zu stehen. Letzten Endes könnte man den Eindruck gewinnen, dass doch persönliche Geschmacksfragen entscheidender waren als obligatorische kollektive Wertmaßstäbe der Senatorenschaft.36 31 32

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35 36

Vgl. ROLLER 1998: 283. Vgl. Plin. epist. 5,3,7. Weitere Gründe für die Veranstaltung einer recitatio dieser Gedichte gibt Plinius in epist. 5,3,8–10 an. ROLLER 1998: 289–291, 297f., 300 stellt zur Diskussion, dass Plinius mit der Lesung seiner Verse ein neues Feld für den innersenatorischen Wettbewerb erschließe. Allerdings ist Plinius ja nicht der erste, der im Rahmen einer recitatio seine Gedichte vortrug. Ob in diesem Zusammenhang das jeweilige dichterische Genre dabei einen so großen Unterschied ausmachte, wie ROLLER es annimmt, ist aber anzuzweifeln. Plin. epist. 5,3,2: „omnia innoxiae remissionis genera.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Plin. epist. 5,3,2. LEACH 1990: 34 glaubt in dieser Stellungnahme des Plinius eine bewusste Reaktion zu erkennen. So wolle er in der Öffentlichkeit das von ihm etablierte Bild eines ernsten, seriösen Senators korrigieren und auf diese Weise eine andere Seite seiner Persönlichkeit präsentieren. Hiergegen ist aber einzuwenden, dass in diesem Falle die Rechtfertigung, die Plinius in epist. 5,3 für sein Benehmen betreibt, wenig plausibel wäre. Plinius strebt in seiner Darlegung schließlich an, die Vereinbarkeit seines eigenen Verhaltens mit dem senatorischen Habitus zu belegen. Dementsprechend bewegt sich die Argumentation des Plinius auf einer anderen Ebene. Er will gerade nicht seine Individualität betont wissen. Vgl. Plin. epist. 5,3,2. So SHERWIN-WHITE 1966: 316; vgl. ferner ROLLER 1998: 283f., 291, dessen Interpretation der Wunsch des Plinius zugrunde zu liegen scheint, das otium zu einem selbstbestimmten Freiraum zu deklarieren.

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Nun ist in diesem Zusammenhang aber die Situation ausschlaggebend, in der Plinius die persönliche Verhaltensdimension thematisiert. In einem Moment, in dem er bestrebt ist, seiner eigenen Handlungsweise das Besondere abzusprechen, manifestiert er mit diesem Ausweichmanöver zugleich die Verbindlichkeit der senatorischen Wertehaltung. Geradezu entwaffnend erklärt Plinius sein Menschsein, macht aber zugleich deutlich, dass es dadurch nicht zwangsläufig zu Konflikten mit dem senatorischen Habitus kommen muss: Er selbst ärgert sich nicht über den Tadel oder die Kritik seitens seiner Zeitgenossen, die ja nichts von der Vereinbarkeit anstößiger Dichtung und senatorischer Moralvorstellungen wüssten.37 Plinius erkennt infolgedessen die Bedeutung der senatorischen Moralvorstellungen nicht nur an, sondern spricht sich indirekt die Befähigung zu, allein die Interpretationsspielräume senatorischer Prestige- und Moralfragen ausloten und deuten zu können. Er widerlegt in diesem Schreiben an Titius Aristo somit mögliche Kritiker, die zwischen seiner Beschäftigung im otium und seiner senatorischen Wertehaltung einen Widerspruch erkennen wollen. III Plinius seinerseits schließt aber von den freizeitlichen Beschäftigungen seiner Zeitgenossen auf deren moralische Grundeinstellung und zieht damit, ausgehend vom Verhalten seiner Standeskollegen, Schlüsse, die er für seine eigene Person ablehnt. In einem Schreiben an Calvisius Rufus berichtet Plinius davon, er habe die letzten Tage mit studia verbracht, zu einer Zeit, in der Zirkusspiele in Rom veranstaltet worden seien. Plinius bekennt sodann, dass spectacula auf ihn keinen Reiz ausübten.38 Allerdings zeigt er sich überaus verwundert darüber, wie viele Menschen tam pueriliter die Wagenrennen zu verfolgen wünschten.39 Plinius stellt in diesem Zusammenhang fest, es seien gerade nicht die Fähigkeiten der Wagenlenker oder die Schnelligkeit der Pferde, sondern ganz andere Kriterien, nämlich die jeweiligen Farben der Zirkusparteien, welche die Begeisterung des Publikums hervorriefen. Würden dabei im Laufe eines Rennens die Farben getauscht, schwenkte auch die Gunst des Publikums um, mutmaßt Plinius.40 SHERWIN-WHITE bezieht diese Aussage auf die Wetten, die beim Wagenrennen auf die Sieger abgeschlossen wurden.41 Wahrscheinlicher ist hingegen, dass Plinius hier anhand der nur halbherzigen Identifikation mit einer Sache die unterschiedliche Wertigkeit von Beschäftigungen im otium für das Sozialprestige eines Angehörigen der senatorischen Elite vorführt. Anhänger von Zirkusparteien, welche die Pferde und die Wagenlenker 37 38

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Vgl. Plin. epist. 5,3,3. Vgl. Plin. epist. 9,6,1: „Es gibt nichts Neues, keine Abwechslung, nichts, was einmal gesehen zu haben nicht ausreichte.“ / „Nihil novum nihil varium, nihil quod non semel spectasse sufficiat.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. Plin. epist. 9,6,2. Vgl. Plin. epist. 9,6,2. Vgl. SHERWIN-WHITE 1966: 485.

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schon aus der Ferne erkennen und beim Namen nennen, entzögen diesen, wenn sie im Laufe des Rennens ins Hintertreffen gerieten, ihre Gunst und teilten sie einer anderen Gruppierung zu: „So viel Gunst, so viel Ansehen besitzt die billigste Tunika.“42 Diese Haltung macht Plinius aber nicht nur bei Angehörigen der plebs urbana aus, sondern, was für ihn maßgeblich ist, ebenfalls „bei manchen ernsthaften Menschen.“43 Deren Wankelmütigkeit und den Enthusiasmus, mit dem sie eine Faszination für Nichtigkeiten entwickeln, moniert Plinius hier: „Wenn ich überlege, dass sie bei einer so unnützen, geistlosen und eintönigen Sache so unersättlich dasitzen, dann empfinde ich einiges Vergnügen, dass mir dieses kein Vergnügen bereitet.“44

Sich selber und seine eigene Form, das otium zu gestalten, grenzt er in der Folge davon deutlich ab. Er selbst verbringt Tage, die andere „mit den müßiggängerischsten Beschäftigungen verschwenden“,45 mit ernsthafter Tätigkeit. Er wendet sich seinen studia zu. Deutlicher, als es durch das Verbum perdere angezeigt wird, könnte die Wortwahl des Plinius kaum sein. Im gezielten Kontrast zwischen eigenen, höherwertigen intellektuellen Beschäftigungen und der Betätigung anderer weist Plinius darauf hin, dass er ein standesspezifisches distinktes Selbstverständnis im otium pflegt, und zwar im Vergleich zu bestimmten seiner senatorischen Zeitgenossen, deren Habitus sich in ihrem Enthusiasmus geradezu auflöse, sich förmlich dem der breiten Masse annähere und kaum noch von dieser zu unterscheiden sei.46 Es geht Plinius in diesem Brief mithin allenfalls auf einer untergeordneten Ebene um die Wetten bei Zirkusspielen. Wesentlich stärker in den Vordergrund rückt er Fragen der standesgemäßen Freizeitbeschäftigung und der Wertvorstellungen, die mit diesen assoziiert wurden. IV Auf diese Thematik kommt Plinius in einem Brief an den römischen Rhetor Iulius Genitor zurück. Iulius Genitor hatte sich bei Plinius über ein Gastmahl beklagt, bei dem Spaßmacher, Tänzer und Narren ihm die Stimmung verleidet hätten.47 Plinius seinerseits lehnt für eigene Veranstaltungen dieser Art die Anwesenheit von Possenreißern und Tänzern ab, akzeptiert sie aber – notgedrungen – bei seinen Gastgebern.48 Nur scheinbar bringt Plinius Verständnis für eine derartige Vor42 43 44 45 46 47 48

Plin. epist. 9,6,3: „Tanta gratia tanta auctoritas in una vilissima tunica.“ (Übers.: PHILIPS/ GIEBEL). Plin. epist. 9,6,3: „apud quosdam graves homines.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Plin. epist. 9,6,3: „quos ego cum recordor, in re inani frigida adsidua, tam insatiabiliter desidere, capio aliquam voluptatem, quod hac voluptate non capior.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Plin. epist. 9,6,4: „otiosissimis occupationibus perdunt.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Zur Erwartung, das otium als Differenzierungskriterium zwischen der Elite und dem gemeinen Volk zu nutzen, vgl. TONER 1995: 27, 31f., 70. Vgl. Plin. epist. 9,17,1. Vgl. Plin. epist. 9,17,2; zu Spaßmachern als festem Bestandteil aristokratischer Bankettkultur vgl. VÖSSING 2004: 217f.; STEIN-HÖLKESKAMP 2005: 226, 231.

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liebe seiner Mitmenschen auf. In der Begründung für seine reservierte Haltung hebt er das Interesse für Schauspieler und Tänzer bei Gastmählern auf eine andere Ebene: „Weil es mich keineswegs als etwas Unerwartetes oder Heiteres erfreut, wenn etwas Anzügliches von einem Tänzer, etwas Unverschämtes von einem Spaßmacher, etwas Törichtes von einem Narren geboten wird.“49

Plinius amüsiert sich nicht bei diesen Formen der Unterhaltung. Um bei ihm Begeisterung zu wecken, bedarf es offensichtlich besonderer Darbietungen auf höherem Niveau statt solch ausschweifender Zerstreuungen. Aber bei seinen Mitmenschen finden diese Vergnügungen Zustimmung. Sie favorisieren bei ihrer freizeitlichen Beschäftigung durchaus auch Unterhaltungsangebote seichterer Art. Immanent stellt Plinius in seiner Darlegung das andere, höherwertige Niveau des Begleitprogramms seiner eigenen Gastmähler heraus. Statt Possenreißer, Tänzer und Narren lässt er zu solchen Gelegenheiten Vorleser, Komödianten oder Lyraspieler auftreten.50 Mit seiner Argumentation rückt Plinius in einen deutlichen Gegensatz zu seinen Zeitgenossen,51 von denen er sich auf diese Weise unmissverständlich distanziert. Dabei muss er allerdings darauf bedacht sein, die Kluft zu seinen Standeskollegen nicht zu groß werden zu lassen. Seine Senatskollegen sind seine Referenzebene innerhalb der römischen Elite. Einen demonstrativen Bruch mit Grundhaltungen und Beschäftigungen, die in weiten Kreisen dieser Gruppierung gebilligt werden oder sogar beliebt sind, kann und darf sich Plinius nicht leisten, wenn er seinerseits durch seine Standeskollegen Zuspruch von auctoritas, also Anerkennung, für seine eigenen Beschäftigungen im otium erlangen möchte. Aus diesem Grund nimmt Plinius seine möglicherweise zu apodiktisch wirkende Aussage in der Folge etwas zurück: „Ich spreche zu Dir nicht über meine Prinzipien, sondern über meinen Geschmack.“52 Plinius leugnet damit, zuvor über grundsätzliche Angelegenheiten reflektiert und zugleich ein Werturteil über die moralische Grundhaltung seiner Zeitgenossen gefällt zu haben. Vielmehr gibt er hier vor, es seien Geschmacksfragen, die das Rahmenprogramm bei Banketten53 und allgemein die Gestaltung des otium bestimmten. Plinius scheint also ein Plädoyer für persönliche Frei- und Gestaltungsspielräume im otium zu liefern. Danach müsste jeder nach eigenem Belieben über seine freizeitlichen Aktivitäten entscheiden können. Von besonderer Relevanz für die Gemeinschaft der senatorischen Elite scheinen diese Beschäftigungen mithin nicht zu sein. Damit ergäbe sich in dieser Passage ein eklatanter Widerspruch zu der ansonsten dem Plinius eigenen Auffassung von den intensiven Wechselwirkungen zwischen der Gestaltung des otium, 49 50 51 52 53

Plin. epist. 9,17,2: „Quia nequaquam me ut inexspectatum festivumve delectat, si quid molle a cinaedo, petulans a scurra, stultum a morione profertur.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. Plin. epist. 9,17,3. Vgl. STEIN-HÖLKESKAMP 2002: 475, 485f. Plin. epist. 9,17,3: „Non rationem sed stomachum tibi narro.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. so auch SCHNURBUSCH 2011: 173 und STEIN-HÖLKESKAMP 2002: 486. Beide gehen jedoch nicht auf die Situationsspezifik und die Argumentationsstrategie des Plinius ein.

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senatorischen Wertvorstellungen und den charakterlichen Dispositionen einer Person mit dem Ziel, im Ringen um die prestigeträchtige Anerkennung den positiven Zuspruch der Standeskollegen zu erhalten. Vollzieht Plinius also einen Paradigmenwechsel? Die weiteren Ausführungen des Plinius gegenüber Iulius Genitor versprechen in dieser Angelegenheit Aufschluss zu geben. Plinius betont, die Beschäftigungen, denen er und sein Briefpartner im otium nachgingen, stießen womöglich bei den Zeitgenossen auch auf Desinteresse und riefen Langeweile hervor. Gewiss gebe es Personen, die es missbilligten, bei einem Gastmahl einen Rezitator oder einen Komödianten auftreten zu lassen, wie es Plinius bevorzugt.54 Mit dieser Art des Rahmenprogramms erweist sich Plinius als sittenstrenger und den Erwartungen an ein standesgemäßes Verhalten eher verpflichtet als viele seiner Standeskollegen. Plinius demonstriert in auffälliger Weise seine Bescheidenheit und Übereinstimmung mit den für einen Senator angemessenen Sitten, wenn er auch bei aufwendigeren convivia in seinem Haus nur ein bescheidenes Unterhaltungsprogramm mit einem lector, Leierspieler oder Komödianten anbietet, obwohl zu einem solchen Anlass von einem Gastgeber im Hinblick auf das Begleitprogramm durchaus ein größerer Aufwand erwartet wurde.55 Prinzipiell galten hierbei Auftritte, die nicht der Bildung des Gastgebers und seiner Gäste dienten, als wenig angemessen und als moralisch nicht standesgemäß. Allerdings erfreuten sich gerade solche Darbietungen außergewöhnlicher Popularität.56 In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf die persönliche Geschmacksebene (stomachus)57 für Plinius eine Notwendigkeit, um sich die Gunst seiner Standeskollegen zu erhalten. Er dokumentiert ausdrücklich seine eigenen Vorstellungen von standesgemäßen Banketten, nimmt gleichzeitig aber auch eine ganz und gar pragmatisch orientierte Haltung gegenüber den Gestaltungsspielräumen des otium sowie den damit verbundenen Wertevorstellungen und Verhaltenserwartungen ein. Toleranz gegenüber seinen Zeitgenossen bringt Plinius deswegen noch lange nicht auf.58 Wenn er die Darbietungen von Tänzern und Narren während des Gastmahls, bei dem Iulius Genitor zugegen war, mit der Bemerkung, dieser habe Monstrositäten über sich ergehen lassen müssen,59 kommentiert, ist 54

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Vgl. Plin. epist. 9,17,3. Zu dem von Plinius favorisierten Begleitprogramm bei convivia vgl. auch epist. 3,1,9; epist. 8,21,2; epist. 9,36,4. Vgl. ferner epist. 1,15,3: Hier stellt Plinius die Darbietungen vor, die C. Septicius Clarus entgingen, als er unentschuldigt der Einladung zu einem Gastmahl im Hause des Plinius fernblieb. Zugleich moniert Plinius, Septicius Clarus ziehe dem Bankett mit einer kultivierten, feinsinnigen Untermalung des Gastmahls geistlosere Formen der Unterhaltung vor. Auf ähnliche Weise zeigt Plinius seine Sparsamkeit und Sittenstrenge in einem anderen Zusammenhang auf. Anlässlich eines Gastmahls, bei dem den Gästen – abhängig von ihrer Position in der sozialen Hierarchie – unterschiedliche Speisen und Getränke serviert wurden, moniert Plinius dieses Verhalten des Gastgebers; vgl. Plin. epist. 2,6. Vgl. SCHNURBUSCH 2011: 173, 179. Plin. epist. 9,17,3. Vgl. auch epist. 5,3,2. So jedoch STEIN-HÖLKESKAMP 2002: 467, 486; DIES. 2005: 250f. Vgl. Plin. epist. 9,17,3: „ista (sic enim adpellas) prodigia perpessus es.“ (Übers.: PHILIPS/ GIEBEL).

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seine Identifikation mit der Einstellung seines Korrespondenzpartners überaus deutlich und er kann seine eigene Abneigung gegenüber derlei Unterhaltung kaum verhehlen. Das Prädikat perpessus es spricht der Situation jede Form der Freiwilligkeit und Selbstbestimmung ab. Iulius Genitor war regelrecht gezwungen, die abendliche Zusammenkunft Haltung bewahrend hinter sich zu bringen. Er musste die geschmacklichen Vorlieben seiner Gastgeber ertragen. Plinius empfiehlt ihm in diesem Zusammenhang: „Wir wollen also gegenüber den Vergnügungen anderer Milde üben, damit wir sie auch für unsere bekommen.“60 Die vermeintliche Nachsicht des Plinius hatte also eine pragmatische Ursache. Wenn er seinerseits ein gewisses Verständnis für die Gestaltung des otium durch seine Zeitgenossen aufbringt, erwartet er im Gegenzug, dass seine Mitmenschen ihm genauso begegnen, also er selbst bei einem mutmaßlichem Verstoß gegen senatorische Verhaltenserwartungen nicht mit dem Entzug der Anerkennung seiner Standesgenossen und auf Grund dessen mit Prestigeeinbußen rechnen muss. Wenn Plinius daher die Freiräume in der Auffassung vom otium betont und dabei die Komponente des persönlichen Geschmacks thematisiert, geschieht dies vor dem Hintergrund, selbst keinen Ansehensverlust erleiden zu wollen. Plinius weiß darum, dass auch er gewisse Schwächen besitzt und hin und wieder zu Verhaltensweisen neigt, die nicht immer unmittelbar mit der senatorischen Standesmoral übereinstimmen, sondern vielmehr geradezu ein Selbstbestimmungsrecht einzufordern scheinen.61 Zusätzlich versuchte Plinius daher, durch die Konzeption eines Tauschmechanismus für künftige Gelegenheiten gewappnet zu sein, wenn ihm seitens der Zeitgenossen die Aberkennung von Prestige drohen sollte, indem er in der gegebenen Situation einer Person ebenfalls die Anerkennung nicht gleich entzog. Dementsprechend steht für Plinius, wenn er gegenüber seinen Briefpartnern für Verständnis im Hinblick auf die Vergnügungen der Zeitgenossen wirbt, kaum das Wissen darum im Vordergrund, dass er selbst ein Mensch ist, der sich zu Verfehlungen hinreißen lässt.62 Durch die öffentliche Behandlung dieser Thematik in seiner Briefsammlung bezieht Plinius eindeutig Stellung und leistet sozusagen Prophylaxe für Situationen, in denen sein eigenes Ansehen einmal gefährdet sein könnte. Der argumentative Umgang mit der Möglichkeit, das otium nach Belieben zu gestalten und bei Abweichungen von der eigenen Auffassung Milde gegenüber anderen walten zu lassen, bestätigt daher die Relevanz des Prinzips, die freizeitlichen Beschäftigungen in Vereinbarkeit mit standesspezifischen Vorstellungen zu wählen. Im Zweifelsfall konnte die Gestaltung des otium für das eigene Prestige und die eigene senatorische Reputation letzten Endes eine brisante Angelegenheit sein.

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Plin. epist. 9,17,4: „Demus igitur alienis oblectationibus veniam, ut nostris impetremus.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL). Vgl. Plin. epist. 5,3,1–3; epist. 8,22,2–4; epist. 9,12,1. So jedoch SHERWIN-WHITE 1966: 316, 490, 501.

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V Welche Einstellung oder Denkstrukturen waren nun für diese Haltung und den mit ihr verknüpften Reflexionsvorgang verantwortlich? Plinius berichtet in seinem Panegyricus auch von den freizeitlichen Aktivitäten Kaiser Trajans und kontrastiert sie mit dem otium, das Domitian praktizierte.63 Über Trajan schließt sich an die Ausführungen des Plinius folgender Gedankengang an: „Zugleich überlege ich mir: wenn dieser Mann in solcher Beschäftigung Spiel und Zerstreuung sucht, von welcher Art und wie bedeutend ist dann erst der Inhalt seiner ernsten, angestrengten Tätigkeit, aus der er sich zu dieser Form von Muße zurückzieht! Denn gerade die Vergnügungen sind es, die am besten Aufschluss geben über die Ernsthaftigkeit, moralische 64 Integrität und die Selbstzucht eines Menschen.“

Mit dieser Aussage wird die ganze Relevanz evident, die in senatorischen Kreisen mit der Gestaltung des otium verbunden war. Von den Beschäftigungen, denen ein Zeitgenosse im otium nachging, schlossen die Mitmenschen auf seine charakterlichen Qualitäten.65 Demzufolge können das senatorische otium sowie die Gestaltung dieser Zeit durch einen Senator als Analysefolie für die charakterlichen und moralischen Qualitäten einer Person im gesamten Leben angesehen werden.66 Jemand, der sein otium mit körperlicher Ertüchtigung67 oder ernsthaften literarischen Studien zubrachte, wurde für fähig gehalten, im negotium sowie bei den damit verbundenen officia seriös zu sein und in vollem Umfang seinen Aufgaben gerecht zu werden.68 Ferner galt eine solche Person als charakterlich tadellos. Sei63 64

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Vgl. Plin. paneg. 81–82,3. Plin. paneg. 82,8: „Simul cogito, cum sint ista ludus et avocamentum, quae quantaeque sint huius curae seriae et intentae, et a quibus se in tale otium recipit. Voluptates sunt enim voluptates, quibus optime de cuiusque gravitate sanctitate temperantia creditur.“ (Übers.: KÜHN). Vgl. BALSDON 2002: 187; KER 2004: 216; FAGAN 2006: 370; TONER 1995: 27, 29, der sich mit dieser Feststellung jedoch in einem gewissen Widerspruch zu seiner eigenen Definition des otium befindet, für das er als maßgeblich erklärt „to establish a feeling of freedom and pleasure by formulating a sense of choice and desire“ (EBD.: 17). Zu Rückschlüssen von dem Zeitmanagement einer Person und den studia, denen sie sich zuwendet, auf deren moralische und gesellschaftliche Redlichkeit vgl. GIBSON/MORELLO 2012: 117, 125f. Den umgekehrten Analysevorgang betreibt Plinius in epist. 4,25. Er schließt vom Benehmen bestimmter Zeitgenossen bei einer Senatssitzung auf deren Gebaren im privaten Umfeld. In diesem Brief beschreibt er das Verhalten von Mitsenatoren bei einer anonymen Abstimmung. Diese schrieben Witze oder Anzüglichkeiten auf die Stimmtafeln. Plinius sinniert (epist. 4,25,3): „Was mag wohl einer erst zu Hause tun, der bei einer so wichtigen Sache, bei einem so ernsten Zeitpunkt solche Possen treibt, ja der überhaupt im Senat als Spötter, Witzbold und Spaßvogel auftritt?“ / „Quid hunc putamus domi facere, qui in tanta re tam serio tempore tam scurriliter ludat, qui denique omnino in senatu dicax et urbanus et bellus est?“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL) – Als ein für einen Senator vollends unwürdiges Verhalten klassifiziert Plinius in der Folge das Betragen dieser Standeskollegen (epist. 4,25,5): „Daher ist dieser Spott der Bühne und dem Zirkus angemessen.“ / „Inde ista ludibria scaena et pulpito digna.“ (Übers.: PHILIPS/GIEBEL); vgl. HALTENHOFF 2011b: 191. So berichtet es Plinius für Trajan in Plin. paneg. 81. Die gegenteilige Folgerung zieht Plinius aus den Beschäftigungen, denen Domitian im otium nachging. Domitian ließ sich aus Angst vor Geräuschen einerseits und aus Furcht vor der Stil-

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ne ursprünglich nur auf den princeps bezogene Einschätzung überträgt Plinius in der Folge auf alle Römer. Bei ernsthaften Angelegenheiten neige der Mensch schließlich dazu, einen gewissen Anstand und eine gewisse Disziplin zu wahren.69 Um die wirkliche charakterliche Disposition eines Zeitgenossen zu erschließen, eignet sich das negotium deshalb nur bedingt. Konsequenterweise kulminiert die Betrachtung des Plinius in der Aussage: „Was uns verrät, ist die Gestaltung des otium.“70 Wenn eine Person mit der Gestaltung ihres otium gleichzeitig ihre charakterliche Grundstruktur offenlegt, setzt der Reflexionsvorgang, der diese Analyse vollzieht, eine Art Maßstab oder Richtschnur voraus, an der individuelles Verhalten zu bemessen ist. Dementsprechend flossen Verhaltenserwartungen, Wert- und Moralvorstellungen sowie habituelle Praktiken in diesen Kanon ein, dessen Verbindlichkeit und Vorbildlichkeit gleich einem Leitbild in denjenigen Kreisen institutionalisiert war, in denen ein derartiger Einschätzungsprozess stattfand. Wenn Plinius also entsprechende Überlegungen anstellte und diese in seinem Briefcorpus und seiner gratiarum actio sogar publizierte, ist mithin impliziert, dass er nicht als Einzelperson das Verhalten seiner Standeskollegen im otium auf Normenkonformität befragte, sondern dass in weiten Kreisen der senatorischen Elite dieser Einordnungs- und Bewertungsvorgang eine wichtige Rolle spielte. Plinius musste schließlich die Gewissheit haben, dass seine Darlegungen von seinen Rezipienten verstanden wurden und nachvollzogen werden konnten. Demnach war das otium allerdings keineswegs eine Sphäre, in der individuelle Freiräume gesucht und Selbstbestimmung ausgelebt werden konnten. Auch im otium galt es,

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le andererseits alleine in einem Boot sitzend von einem anderen Boot über den Albaner und den Lukriner See schleppen; vgl. Plin. paneg. 82,1–3. Bereits das otium mit Angst zu verbinden steht römisch-senatorischem Selbstverständnis entgegen. Domitian weicht ebenfalls von dieser Vorstellung ab, wenn er nicht imstande ist, im otium Ruhe zu ertragen. Konsequenterweise dokumentiert Plinius sodann die mangelnde Eignung Domitians für seine officia: Auch als Feldherr bei Zügen an den Rhein und die Donau reiste der Kaiser mit dem eigenen Boot im Schlepptau eines anderen Bootes; vgl. paneg. 82,4. Vgl. Plin. paneg. 82,9. Die Annahme von LEACH 1990: 31f., infolge des Domitianerlebnisses sei von Verhaltensweisen, die Menschen in der Öffentlichkeit pflegten, kaum noch auf deren Charakter zu schließen, ist problematisch. Zum einen steht einer solchen Betrachtung eindeutig der Quellenbefund entgegen, der dokumentiert, dass derartige Folgerungen in senatorischen Kreisen auch in nachdomitianischer Zeit üblich waren. Zum anderen impliziert die Deutung LEACHs, das sich die Angehörigen der senatorischen Elite im öffentlichen Leben verstellt hätten, um ihre Charakterstruktur keinesfalls offenzulegen. Eine solche kollektive dissimulatio hätte aber jede Form der Kommunikation und Interaktion unter den Senatoren immens erschwert, wenn nicht gar blockiert. Plin. paneg. 82,9: „Otio prodimur.“ (Übers.: KÜHN). MYERS 2005: 105 erkennt in der Aussage des Plinius, dass es zum Selbstverständnis eines römischen Senators gehörte, sich dem otium zu widmen. Dem ist gewiss nicht zu widersprechen, allerdings wird diese Interpretation dem Gesamtgehalt der fraglichen Passage des Panegyricus kaum gerecht. Plinius rekurriert zuvor und ebenso nach der sprichwörtlichen Aussage otio prodimur (paneg. 82,9) auf normkonformes und normtransgressives Verhalten im otium. Für Plinius ist unstrittig, dass das otium Teil des senatorischen Standesbewusstseins ist. Er weiß aber eben auch darum, dass sich anhand der Gestaltung des otium die Wesensart einer Person decodieren lässt.

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sich zu bewähren, weil es intensive Verschränkungen und Wechselwirkungen zwischen dem otium und dem gesamtgesellschaftlichen Leben gab. VI Die vielfältige Diskussion über die adäquate Gestaltung des otium, wie sie in der plinianischen Briefsammlung und im Panegyricus nachzuvollziehen ist,71 lässt erkennen, dass am Übergang vom ersten zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert in der römischen Elite eine kontroverse Debatte über normkonformes und deviantes Gebaren im otium geführt wurde.72 Allerdings dürfte eine Person wie der jüngere Plinius diese Tatsache nicht als eine Unterwerfung unter moralische Grundprinzipien erachtet haben, denen es – koste es, was es wolle – Rechnung zu tragen galt. Plinius beugte sich kaum sozialen Zwängen, wenn er sich den Anforderungen verpflichtet zeigte, die an die Senatorenschaft mit der Gestaltung des otium gestellt wurden.73 Im Gegenteil, Plinius verstand eine Denkstruktur, mit deren Hilfe aus den Beschäftigungen, denen eine Person im otium nachging, auf deren allgemeine Wertehaltung geschlossen wurde, zweifellos für eigene Zwecke zu nutzen. Da seine Zeitgenossen und Standeskollegen präzise analysierten, wie andere Angehörige der senatorischen Elite ihr otium zubrachten, und dabei scharfäugig mögliche Normenverstöße registrierten, bedeutete die Publikation seiner Briefsammlung und des Panegyricus, dass Plinius sich selbst und seinen gesamten Habitus diesen kritischen Urteilsinstanzen bewusst stellte.74 Auf diese Weise opferte Plinius keineswegs individuelle Freiräume in seiner persönlichen Vorstellungswelt, sondern inszenierte sich und sein Selbstverständ-

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Vgl. etwa Plin. epist. 1,6; epist. 2,1; epist. 2,8; epist. 3,1; epist. 3,5; epist. 3,12; epist. 4,23; epist. 5,3; epist. 5,18; epist. 9,6; epist. 9,10; epist. 9,17; epist. 9,36; epist. 9,40; ferner paneg. 79,5; paneg. 81; paneg. 82,8f. Mit Bezug auf die römische Bankettkultur vgl. STEIN-HÖLKESKAMP 2005: 251f., 269f. Anders argumentieren jedoch STEIN-HÖLKESKAMP 2003: 319; ALFÖLDY 1980: 38–42; MÉTHY 2007: 329f., 332f., 342f., 423f., 429, 448f.; PAUSCH 2004: 123; BARGHOP 1994: 150– 159, 208f. Den gesamten Habitus des Plinius deutet ANDREWS 1938: 144–147, 149f., 152– 154 als von einem Konformitätsstreben in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft gekennzeichnet. Auch Prioriäten zwischen otium und negotium werden gerne darauf zurückgeführt, Plinius habe sich sozialen Zwängen und gesellschaftlichen Determinanten nicht entgegenstellen wollen; so bei MÉTHY 2007: 329f., 332f., 342f., 423f., 429, 448f. und BÜTLER 1970: 52f., 55. Demgegenüber hebt FLAIG 1993: 207 hervor, dass eine habituelle Verpflichtung auf Normenkonformität Individualität und Gelegenheiten zur senatorischen Selbstdarstellung nicht einschränkten, sondern dass in Abhängigkeit von den Kriterien, nach denen in einer bestimmten Kultur Anerkennung zugesprochen wurde, freilich vielfältige Formen bestanden, den eigenen Individualismus zu profilieren. Eine Normenkultur sei in diesem Zusammenhang aber notwendiger Bestandteil einer sich über Konkurrenz definierenden Gesellschaft. Vgl. RIGGSBY 1998: 80, 89f., 92 und PAGE 2009: 53f. Auch LEACH 2003: 148f., 154, 161 beabsichtigt, das senatorische otium als Raum, in dem Kapital erworben werden konnte, zu betrachten. Ihre Ausführungen bleiben allerdings knapp und unzureichend.

Prestige- oder Geschmacksfragen?

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nis in Übereinstimmung mit dem Wertesystem der römischen Senatorenschaft.75 Die Artikulation von Wertmaßstäben einer die eigene Identität definierenden Standesmoral bewirkte deren Affirmation, nicht aber deren Infragestellung.76 Plinius dokumentierte allgemein sichtbar, dass er davon überzeugt war, senatorischen Verhaltenserwartungen gerecht zu werden. Gleichzeitig forderte er diese unmittelbar von anderen Angehörigen der senatorischen Elite ein und versicherte sich und seine Mitsenatoren eines gemeinsamen Standesbewusstseins.77 Von seinen Standesgenossen erwartete Plinius zugleich, dass sie ihm für seine bewusst im Einklang mit senatorischem Selbstverständnis kultivierte otium-Konzeption ihre Anerkennung ausdrückten und so positiv auf seine Reputation einwirkten. Plinius hoffte, mit Hilfe eines in senatorischen Kreisen etablierten Verfahrens die Gestaltung des otium auf Normenkonformität zu befragen, Statusdefinition betreiben und Prestige erwerben zu können.78 Wenn Plinius imstande war, mit seinen eigenen Aktivitäten im otium senatorischen Verhaltenserwartungen zu genügen, so konnte er unter Umständen auf diesem Feld kostbares symbolisches Kapital ansammeln. Auf diese Weise entfaltete das otium eine entscheidende Wirkung für die senatorische Binnendifferenzierung und als Distinktionskriterium gegenüber anderen Gesellschaftsschichten.79 Hätte Plinius allerdings in beständiger Sorge vor sozialen Zwängen und Angst vor eigenen Normentransgressionen gelebt, wäre seine willentlich vollzogene Publikationstätigkeit nicht nachvollziehbar. Infolge dieser gezielt mit Rezeptionserwartung in die elitäre Öffentlichkeit getragenen eigenen Lebens- und Vorstellungswelt erhält der Begriff ‚Veröffentlichung‘ einen geradezu wörtlichen Sinn. Plinius macht sein Leben, seine Wertehaltung und sein Selbstverständnis öffentlich. Aspekte, die gemeinhin im privaten Umfeld verortet werden, erhalten dabei eine soziale Dimension. Die Sphären ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ lösen sich dabei auf und gehen fließend ineinander über.80 75 76 77 78 79

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Weitere Beispiele für die gezielte literarische Stilisierung und Inszenierung des eigenen otium von Angehörigen der römischen Elite bei KRASSER 2011: 145–166. Vgl. STEIN-HÖLKESKAMP 2002: 487. Vgl. HALTENHOFF 2011b: 182. Vgl. RIGGSBY 1998: 77, der das Verfahren des Plinius thematisiert, vor der Referenzfolie der Gemeinschaft die eigene virtus zu konstruieren. Aus diesem Grund ist TONER 1995: 13, 22f., 26f. und MÉTHY 2007: 361 zu widersprechen. Beide unterstreichen, dass die Anerkennung durch die Standesgenossen sukzessive an Bedeutung verlor und gerade im otium soziale Hierarchien aufgelöst wurden. Dieser Auffassung stehen aber die Aussagen des jüngeren Plinius diametral entgegen, wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen konnten. Vgl. dazu RIGGSBY 1998: 77, 80, 83; TONER 1995: 27; GIBSON 2003: 252; PAGE 2009: 51f., 54; BARGHOP 1994: 152f. KRASSER 2011: 159–163 geht es bei seiner Betrachtung des otium um die Möglichkeiten eines Oberschichtsangehörigen, im otium dezidiert die Exklusivität der eigenen standesgemäßen Lebensführung zu dokumentieren und zu inszenieren. Die Bedeutung der Wertehaltung, des Prestiges und dessen Gefährdung durch deviantes Verhalten sind nicht Gegenstand seiner Untersuchung; für graduelle Übergänge zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich in republikanischer Zeit vgl. BURCKHARDT 2003: 103–110; für die römische Kaiserzeit differenziert HALTENHOFF 2011b: 187 zwischen verschiedenen „Teilöffentlichkeiten“; zu der Frage generell WINTERLING 2005: 223–244, der sich dafür ausspricht, beide Termini nicht monolithisch, sondern in einer dynamischen, flexiblen, situationsabhän-

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Das reziproke Verhältnis, in dem die soziale Stellung und die politischen Möglichkeiten eines Senators zueinander standen,81 ist in diesem Zusammenhang verantwortlich dafür, dass für die Definition des senatorischen Status und für senatorisches Konkurrenz- und Repräsentationsverhalten vielfältige gesellschaftliche Lebensbereiche Bedeutung erlangten. Auch auf dem Bewährungsfeld des senatorischen otium war es daher unabdingbar, Wert- und Moralvorstellungen des Senatorenstands gerecht zu werden. Denn ebenso wie sich mittels im otium akquirierten Kapitals die gesellschaftliche Position eines Senators zum Positiven zu verändern vermochte, konnte sein Prestige bei deviantem Verhalten eine nachhaltige und spürbare Reduktion erfahren. Gewiss gab es im otium auch individuelle Freiräume, die nach eigenem Ermessen arrangiert werden konnten. Im Zweifelsfall waren das otium und seine Gestaltung aber eben doch immer auch eine Prestigefrage.82 BIBLIOGRAPHIE Alföldy, Géza (1980): Die Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft des Römischen Kaiserreiches. Erwartungen und Wertmaßstäbe. Heidelberg: Winter 1980. André, Jean-Marie (1966): L’otium dans la vie morale et intellectuelle romaine. Des origines à l’époque augustéenne. Paris: Presses Universitaires de France 1966. Andrews, A. Carleton (1938): Pliny the Younger, Conformist – In: The CJ 34 (1938), S. 143–154. Auhagen, Ulrike (2003): Luxus und gloria. Plinius’ hendecasyllabi (Ep. 4,14; 5,3 und 7,4) – In: Castagna, Luigi / Lefèvre, Eckhard (Hrsg.): Plinius der Jüngere und seine Zeit. München, Leipzig: Saur 2003, S. 3–13. Balsdon, John P. V. D. (2002): Life and Leisure in Ancient Rome. London: Phoenix Press 2002. Barghop, Dirk (1994): Forum der Angst. Eine historisch-anthropologische Studie zu Verhaltensmustern von Senatoren im Römischen Kaiserreich. Frankfurt am Main: Campus 1994. Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und ‚Klassen‘. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. Ders. (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller 1990. Ders. (1992): Keine wirkliche Demokratie ohne wahre kritische Gegenmacht – In: Ders.: Schriften zu Politik und Kultur, Bd. 1: Die verborgenen Mechanismen der Macht (hrsg. v. Margareta Steinrücke). Hamburg: VSA 1992, S. 149–160.

81 82

gigen Wechselbeziehung zueinander zu verstehen und dabei die Muster der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung in die Betrachtung einzubeziehen. Die kategorische Trennung von privater und öffentlicher Lebenswelt, wie sie MYERS 2005: 121, LEFÈVRE 1987: 252f. sowie PANI 1993: 182, 191 zugrunde liegt, lässt sich daher schwerlich halten. Als geeignet erweist sich in diesem Zusammenhang ROLLER 1998: 296–298, der die Problematik insgesamt in das Modell einer Zwiebel mit Schichten übersetzt, die sich in einem unterschiedlichen Abstand zur Oberfläche befinden. Damit gelingt ihm nicht nur eine Veranschaulichung, sondern auch die Auflösung des Problems der absoluten Privatheit, wie es sie in der aristokratischen römischen Gesellschaft kaum gab, indem er es in unterschiedliche Grade von Öffentlichkeit und damit Sichtbarkeit überträgt. Vgl. WINTERLING 2001: 109–112. Nach Einreichen des Manuskripts im November 2014 erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden.

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AUTORENBESCHREIBUNGEN THOMAS BAIER ist Inhaber des latinistischen Lehrstuhls an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören römisches Epos und Drama, hellenistische Philosophie, besonders Seneca, sowie die neulateinische Literatur. Er hat zudem wiederholt Gastprofessuren an der École normale supériere in Paris wahrgenommen. SIMONE BLOCHMANN hat Geschichtswissenschaft, Germanistik und Sozialgeschichte in Bielefeld und Uppsala studiert und ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Alte Geschichte an der Universität Tübingen. Ihre Promotion erfolgt zum Thema „Verhandeln und Entscheiden. Politische Kultur im Senat der frühen Kaiserzeit“. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die politische Kultur der frühen Kaiserzeit und Augustinus. THOMAS GÄRTNER hat Latein, Griechisch und Mittellatein in Köln studiert, wo er auch promoviert und habilitiert wurde. Er war Stipendiat der Fritz-Thyssen-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Forschungsprojekten. Seit 2008 ist er außerplanmäßiger Professor für Klassische und Mittellateinische Philologie in Köln und wirkt zudem gegenwärtig als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Drittmittelprojekt „Osnabrücker Jesuitendichtung“ an der Universität Osnabrück. JOHANNES M. GEISTHARDT ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Konstanz. Er studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Konstanz, wo er auch promovierte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört das Herrschaftssystem des Prinzipats, vor allem in Hinblick auf die Rolle der senatorischen Elite, deren literarische Selbstdarstellung, die trajanische Epoche und nicht zuletzt Tacitus und Plinius der Jüngere; insbesondere im Zusammenhang mit den Fragestellungen nach Autor, Genre, Literaturtheorie und der Verknüpfung von Diskurs und Praxis. ELKE HARTMANN studierte Alte Geschichte und Klassische Archäologie an der Freien Universität Berlin, wo sie auch promovierte. Sie war Junior-Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Professorin für Alte Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die politische Kulturgeschichte, die Sozialgeschichte und die Geschlechtergeschichte der Antike. KORNELIA KRESSIRER studierte Klassische Archäologie, Alte Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten von Würzburg und Neapel und schloss ihre Promotion über „Das Greisenalter in der griechischen Antike. Untersuchung der Vasenbilder und Schriftquellen der archaischen und klassischen Zeit“ in Würzburg ab. Sie sammelte Erfahrungen in den Bereichen der archäologischen Ausgrabung, der Museumsarbeit, der universitären Lehre sowie als Schulreferentin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Themen Greisenalter in der Antike, antike Ikonographie und Mythologie, Kulturgeschichte, Topographie antiker Städte, Heiligtümer und Landschaften sowie die Archäologie Kampaniens. Sie ist derzeit Kustodin des Akademischen Kunstmuseums der Universität Bonn. KATJA KRÖSS ist Postdoktorandin der Graduiertenschule „Distant Worlds“ an der LMU München und leitet die Focus Area „Constructions of Elites“ an. Sie studierte Politische Wissenschaft, Alte Geschichte und Philosophie in München und wurde mit einer Arbeit über die politische Rolle der stadtrömischen plebs in der Kaiserzeit promoviert. Zu ihren aktuellen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem das Phänomen der Aufmerksamkeit im klassischen Griechenland. ISABELLE KÜNZER ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie studierte Geschichte und Kunstwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau und wurde an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn in Alter Geschichte promoviert. Zu ihren aktuellen Forschungsschwerpunkten im Bereich der römischen Geschichte gehören die Ge-

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Autorenbeschreibungen

sellschaft, Politik und Kultur im frühen Prinzipat, das Repräsentationsverhalten der senatorischen Elite sowie Fragestellungen rund um die innersenatorische Konkurrenz und den Prozess senatorischer Binnendifferenzierung. RAFAŁ MATUSZEWSKI ist Universitätsassistent für Alte Geschichte und Altertumskunde am Fachbereich Altertumswissenschaften der Universität Salzburg. Er studierte Geschichte, Klassische Philologie und Kulturwissenschaft an der Universität Warschau, Alte Geschichte und Klassische Archäologie an der Georg-August-Universität Göttingen und promovierte in Alter Geschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Sein hauptsächliches Forschungsinteresse gilt der historischen Anthropologie der griechischen Antike und der Religionsgeschichte des antiken Mittelmeerraums. JAN B. MEISTER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Alte Geschichte an der HumboldtUniversität zu Berlin. Er ist Mitglied im SFB 644 „Transformationen der Antike“ sowie Leiter des wissenschaftlichen Netzwerks „Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik“. Er studierte Alte Geschichte, Klassische Archäologie und Allgemeine Geschichte des Mittelalters an der Universität Basel. Zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten gehören die antike Körpergeschichte, die Kulturgeschichte politischer Eliten im spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom sowie die Gesellschaftsgeschichte des archaischen und frühklassischen Griechenlands. SVEN PAGE ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Alte Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt, wo er mit einer Arbeit über aristokratische Idealvorstellungen in der römischen Kaiserzeit promoviert wurde. Zuvor hat er ebendort Geschichte und Mathematik studiert. Neben der römischen Sozial- und Kulturgeschichte der Kaiserzeit sind insbesondere die politische Kommunikation im archaischen und klassischen Griechenland sowie die antike Emotionsgeschichte Schwerpunkte seiner Forschung. KAREN PIEPENBRINK ist Professorin für Alte Geschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie studierte Geschichte und Klassische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zu ihren aktuellen Arbeitsschwerpunkten zählen das klassische Griechenland, das antike Christentum sowie die Transformation des Römischen Reiches in der Spätantike. CHRISTIAN ROLLINGER ist als Akademischer Rat auf Zeit an der Universität Trier tätig und war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am rheinland-pfälzischen Forschungscluster „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“. Er wurde mit einer Arbeit zur Soziologie antiker Freundschaftsnetzwerke in der späten Römischen Republik promoviert und arbeitet momentan im Bereich des spätantiken Herrscherzeremoniells. Zu seinen übrigen Forschungsschwerpunkten zählen der Frühhellenismus und besonders die Diadochenzeit, die maritime Geschichte des mediterranen Raumes sowie die Rezeption der Antike, vor allem im Bereich der ‚Neuen‘ und Digitalen Medien. ANABELLE THURN war wissenschaftliche Mitarbeiterin und ist Lehrbeauftragte im Fachgebiet Alte Geschichte der Technischen Universität Darmstadt. Sie studierte Alte Geschichte und Lateinische Philologie an den Universitäten Freiburg und Basel. Die Promotion erfolgte an der Technischen Universität Darmstadt mit einer Arbeit zum Rufmord in der späten römischen Republik. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen politische Kommunikation der späten Republik, Sozialund Personengeschichte sowie Schulbuchforschung zur römischen Antike. Zurzeit absolviert sie das Referendariat für den Schuldienst an Gymnasien. JAN TIMMER ist Assistent am Institut für Geschichtswissenschaft/Alte Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten gehören Mechanismen der In-/Exklusion in politischen Verfahren sowie die Rolle von Vertrauen in antiken Gesellschaften.

Im antiken Athen und Rom war moralkonformes Verhalten eine Ressource von Ansehen. Aber welche konkrete Relevanz hatte Moral in diesem Sinne als soziales Kapital? Welchen Stellenwert hatte sie in den sozialen Zusammenhängen des gegenseitigen Kennens und Anerkennens? Und in welchen Foren, durch welche Medien und in welchen Textgattungen wurden Verhaltensnormen definiert oder ausgehandelt und kommuniziert? Die Autorinnen und Autoren zeigen in ihren Beiträgen die nachweisbaren sozialen Konsequenzen eines guten oder schlechten Rufes auf und stellen verschiedene Moraldiskurse vor: von Majestätsprozessen und aristokratischer Moral in der frühen Kaiserzeit über Freizeitbeschäftigungen als Spiegel moralischen Wandels im spätklassischen Athen bis hin zu Klatsch, Gerüchten und fama als moralischem Kapital im spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom.

ISBN 978-3-515-12077-7

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7835 1 5 1 207 7 7

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