Moderne Selbstbestimmtheit - Postmoderne Unbestimmtheit: Freiheit Bei Kant Und Foucault (Politika. Passauer Studien Zur Politikwissenschaft, 14) (German Edition) 3848776057, 9783848776054

Ich habe mir vorgenommen [...], den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen" (Foucault) - die

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German Pages 382 Year 2023

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Vorwort
I. Einleitung
1. Die analytisch-hermeneutische Methode
2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl
2.1 Moderne: Kant als Freiheitsdenker
2.2 Postmoderne: Foucault als Freiheitsdenker
2.3 Vergleichende Perspektiven
3. Aufbau
II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit
1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit
1.1 Erkenntnisvermögen und transzendentales Subjekt
1.1.1 Die erkenntniskonstitutive Funktion des Subjekts
1.1.2 Die erfahrungsunabhängigen Elemente der Erkenntnis
1.1.3 Das Selbstbewusstsein
1.2 Bestimmbare und unbestimmbare Gegenstände: Erscheinung und Ding an sich
1.3 Freiheit als absolute Spontanität
1.3.1 Der logische und reale Gebrauch der Vernunft
1.3.2 Die dritte Antinomie der Vernunft
1.3.2.1 Die Unmöglichkeit der theoretischen Freiheitserkenntnis
1.3.2.2 Die Denkmöglichkeit von Freiheit
1.4 Zwischenfazit
2. Moral: Praktische Freiheit
2.1 Begehrungsvermögen und Wille
2.2 Bestimmung des Willens: Objektive Prinzipien als Imperative
2.2.1 Gesetzesform und Imperativformel
2.2.2 Materie und Form von Imperativen
2.3 Freiheit als Autonomie und praktisches Selbstbewusstsein
2.4 Zwischenfazit
3. Recht: Rechtliche Freiheit
3.1 Recht als Vermögen, andere zu verpflichten
3.1.1 Positives Recht und Naturrecht
3.1.2 Rechtspflichten und ethische Pflichten
3.2 Bestimmung anderer durch Zwang
3.2.1 Allgemeines Rechtsprinzip
3.2.2 Analytizität von Recht und Zwang
3.3 Freiheit als rechtliche Unabhängigkeit und politische Autonomie
3.3.1 Freiheit als angeborenes Recht
3.3.2 Naturrechtliche Defizite des Naturzustandes
3.3.3 Der ursprüngliche Vertrag
3.4 Zwischenfazit
III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit
1. Wissen: Unbestimmte Freiheit
1.1 Wissen innerhalb einer kritischen Geschichte des Denkens
1.1.1 Denken
1.1.2 Kritik
1.2 Wissenssysteme und Dezentrierung des Subjekts
1.2.1 Episteme der Renaissance
1.2.2 Episteme der Klassik
1.2.2.1 Objektivierungsmodus: Identität und Differenz
1.2.2.2 Zeichen und Sprache: Repräsentation
1.2.2.3 Subjektivierungsmodus: Primat der Analyse
1.2.3 Episteme der Moderne
1.2.3.1 Objektivierungsmodus: Geschichtlichkeit
1.2.3.2 Subjektivierungsmodus: Endlichkeit
1.2.3.3 Zeichen und Sprache: Zerstreuung des Seins
1.2.4 Ereignis: Gegenständlichkeit ohne Gegenstand
1.3 Freiheit als Unbestimmtheit
1.3.1 Freiheit als Ereignis
1.3.2 Systemimmanenz und -transzendenz
1.4 Zwischenfazit
2. Macht: Widerständige Freiheit
2.1 Macht als handelndes Einwirken auf Handeln
2.2 Machtsysteme
2.2.1 Renaissance: Souveränitätsmacht
2.2.2 Klassik: Disziplinarmacht
2.2.3 Moderne: Biomacht und Sicherheitsdispositiv
2.3 Freiheit als Widerstand
2.4 Zwischenfazit
3. Ethik: Nicht-identitäre Freiheit
3.1 Ethik als Einwirken auf sich selbst
3.2 Ethiksysteme: Zwei Imperative der Ethik
3.2.1 Griechische Klassik: Epistrophe
3.2.2 Hellenismus und jüngere Stoa: Konversion
3.2.3 Christentum: Metanoia
3.2.4 Neuzeit: cartesianisches Moment
3.3 Freiheit als Differenz seiner selbst
3.4 Zwischenfazit
IV. Schlussfolgerungen
1. Vergleich: (Selbst-)bestimmte und unbestimmte Freiheit
2. Moderne und postmoderne Freiheit
V. Siglen
VI. Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Sekundärliteratur
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Moderne Selbstbestimmtheit - Postmoderne Unbestimmtheit: Freiheit Bei Kant Und Foucault (Politika. Passauer Studien Zur Politikwissenschaft, 14) (German Edition)
 3848776057, 9783848776054

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Politika. Passauer Studien zur Politikwissenschaft

Benjamin A. Hahn

Moderne Selbstbestimmtheit – Postmoderne Unbestimmtheit Freiheit bei Kant und Foucault

| 14

Die Reihe „Politika. Passauer Studien zur Politikwissenschaft“ wird herausgegeben von Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Oberreuter, Universität Passau Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig, Universität Passau Band 14

Benjamin A. Hahn

Moderne Selbstbestimmtheit – Postmoderne Unbestimmtheit Freiheit bei Kant und Foucault

Nomos

Veröffentlicht mit finanzieller Unterstützung der Universität Passau.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Passau, Universität, Diss., 2022 u.d.T.: Kritik der Freiheit. Ein Vergleich moderner und postmoderner Perspektiven anhand von Kant und Foucault ISBN 978-3-8487-7605-4 (Print) ISBN 978-3-7489-3739-5 (ePDF)

Onlineversion Nomos eLibrary

1. Auflage 2023 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für meinen Vater (†) Es gab noch nie etwas Unerträglicheres für den Menschen und für die menschliche Gesellschaft als die Freiheit! Fjodor Dostojewski, Der Großinquisitor

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 von der Phi­ losophischen Fakultät der Universität Passau als Dissertation im Fach Po­ litikwissenschaft angenommen. Freiheit ist nicht nur das Leitthema der Dissertation, die Arbeit soll vielmehr auch selbst als Ausdruck von Freiheit verstanden werden. Allerdings ist damit eine andere Form der Freiheit gemeint, als sie auf den folgenden Seiten dargestellt und analysiert wird. Die hier gemeinte Freiheit ist eine, die man im Denken dann gewinnen kann, wenn man weder versucht zu setzen noch versucht ausschließlich aufzulösen – sie entfaltet sich in der Suche nach Begründung. Dadurch gewinnt das Denken Unabhängigkeit gegenüber den Umständen. Das gilt selbst dann, wenn die Umstände so schwierig sind wie zu der Zeit, als diese Arbeit entstanden ist. Insofern ist die vorliegende Doktorarbeit mein ganz persönlicher Nachweis dafür, wie viel Freiheit das Denken gegenüber den Umständen haben kann. Der Weg dorthin war manchmal sehr einsam: Wenn die weiße Leere des Word-Dokuments vor einem thront, wenn sich die Gedanken nicht entwirren wollen, wenn man zwar liest, aber nicht versteht. Nachdenken bzw. Schreiben war zumindest für mich stets ein stilles und einsames Ge­ schäft. Aber ich hätte wohl nie den Mut gehabt, diesen Weg zu beschrei­ ten, wenn es nicht Menschen in meinem Leben gegeben hätte, die mich immer wieder auf ihm begleitet haben. Ihnen würde ich an dieser Stelle gerne Danke sagen. Allen voran möchte ich mich bei Melanie bedanken: Sie hat mit mir die kleinen und großen Etappenerfolge gefeiert – und mir über so manche Rückschläge hinweggeholfen. Sie war stets der Kompass, der mir die Rich­ tung gewiesen hat, wenn ich wieder drohte, zu weit vom Weg abzukom­ men. Ohne sie hätte ich das Ende des Weges nie gefunden. Dann natürlich mein treuster Weggefährte auf dieser Reise: Thomas. Wir haben diskutiert bis wir heiser waren, gelacht bis die Tränen kamen und manchmal auch geschwiegen, bis irgendwann selbst die Stille uner­ träglich wurde. Es gibt keinen Gedanken in dieser Arbeit, an dem er nicht irgendwie Anteil hat und keine Formulierung, die er nicht für gut befunden hätte. Einen Freund, der Kollege, Mitstreiter, Leidensgenosse und vieles mehr gleichzeitig ist, findet man nur einmal im Leben.

7

Vorwort

Man kann einen Weg nur beschreiten, wenn man weiß, dass es ihn überhaupt gibt. Bedanken möchte ich mich deshalb auch bei meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig. Sie hat mich stets gefördert, aber auch immer gefordert. Ohne sie wäre in mir nie der Ge­ danke gereift, eine Doktorarbeit zu schreiben. Ohne sie hätte ich wohl nie gelernt, wie ernst man das Denken nehmen muss und wie einfach das so schwer Verständliche sein kann. Mein herzlicher Dank gilt auch den weiteren Gutachtern: Frau PD Dr. Bettina Fröhlich für die Erstellung des Zweitgutachtens und Herrn Prof. Dr. Dr. Manfred Brocker für die Drittbegutachtung. Manchmal trifft man auf seinem Weg auch Menschen, die zuerst nur Fremde sind, dann zu Bekannten und schließlich sogar zu Freunden wer­ den. Dabei denke ich insbesondere an Jonas, Julian, Johannes (Hummel), Victor und Christina. Auch ihnen und vielen anderen, die ich hier nicht genannt habe, würde ich gerne Danke sagen. Mein Dank gilt auch der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) und dem Leiter der Promotionsförderung, Herrn Dr. Andreas Burtscheidt. Die HSS hat mir nicht nur die finanzielle Unabhängigkeit ermöglicht, mich voll und ganz auf die Dissertation zu konzentrieren; sie bot mir auch die Chance, Teil einer Wertegemeinschaft zu werden und Beziehungen zu knüpfen, die weit über meine Zeit als Stipendiat hinausreichen werden. Zum Schluss möchte ich noch ein letztes Mal Danke sagen: Dieser Dank gilt meiner Familie und insbesondere meiner Mutter, Theresia, und meinem Bruder, Dominick. Danke für alles! Berlin, Dezember 2022

8

Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

13

1. Die analytisch-hermeneutische Methode

22

2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl 2.1 Moderne: Kant als Freiheitsdenker 2.2 Postmoderne: Foucault als Freiheitsdenker 2.3 Vergleichende Perspektiven

26 26 34 48

3. Aufbau

51

II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

54

1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit 1.1 Erkenntnisvermögen und transzendentales Subjekt 1.1.1 Die erkenntniskonstitutive Funktion des Subjekts 1.1.2 Die erfahrungsunabhängigen Elemente der Erkenntnis 1.1.3 Das Selbstbewusstsein 1.2 Bestimmbare und unbestimmbare Gegenstände: Erscheinung und Ding an sich 1.3 Freiheit als absolute Spontanität 1.3.1 Der logische und reale Gebrauch der Vernunft 1.3.2 Die dritte Antinomie der Vernunft 1.3.2.1 Die Unmöglichkeit der theoretischen Freiheitserkenntnis 1.3.2.2 Die Denkmöglichkeit von Freiheit 1.4 Zwischenfazit

54 54 55 63 66

2. Moral: Praktische Freiheit 2.1 Begehrungsvermögen und Wille 2.2 Bestimmung des Willens: Objektive Prinzipien als Imperative 2.2.1 Gesetzesform und Imperativformel 2.2.2 Materie und Form von Imperativen 2.3 Freiheit als Autonomie und praktisches Selbstbewusstsein 2.4 Zwischenfazit

74 83 83 91 91 95 105 106 116 128 128 131 144 155

9

Inhaltsverzeichnis

3. Recht: Rechtliche Freiheit 3.1 Recht als Vermögen, andere zu verpflichten 3.1.1 Positives Recht und Naturrecht 3.1.2 Rechtspflichten und ethische Pflichten 3.2 Bestimmung anderer durch Zwang 3.2.1 Allgemeines Rechtsprinzip 3.2.2 Analytizität von Recht und Zwang 3.3 Freiheit als rechtliche Unabhängigkeit und politische Autonomie 3.3.1 Freiheit als angeborenes Recht 3.3.2 Naturrechtliche Defizite des Naturzustandes 3.3.3 Der ursprüngliche Vertrag 3.4 Zwischenfazit

190 190 193 196 201

III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

204

1. Wissen: Unbestimmte Freiheit 1.1 Wissen innerhalb einer kritischen Geschichte des Denkens 1.1.1 Denken 1.1.2 Kritik 1.2 Wissenssysteme und Dezentrierung des Subjekts 1.2.1 Episteme der Renaissance 1.2.2 Episteme der Klassik 1.2.2.1 Objektivierungsmodus: Identität und Differenz 1.2.2.2 Zeichen und Sprache: Repräsentation 1.2.2.3 Subjektivierungsmodus: Primat der Analyse 1.2.3 Episteme der Moderne 1.2.3.1 Objektivierungsmodus: Geschichtlichkeit 1.2.3.2 Subjektivierungsmodus: Endlichkeit 1.2.3.3 Zeichen und Sprache: Zerstreuung des Seins 1.2.4 Ereignis: Gegenständlichkeit ohne Gegenstand 1.3 Freiheit als Unbestimmtheit 1.3.1 Freiheit als Ereignis 1.3.2 Systemimmanenz und -transzendenz 1.4 Zwischenfazit

204 204 204 209 227 229 230 230 232 235 238 238 244 246 249 261 263 268 271

2. Macht: Widerständige Freiheit 2.1 Macht als handelndes Einwirken auf Handeln 2.2 Machtsysteme 2.2.1 Renaissance: Souveränitätsmacht 2.2.2 Klassik: Disziplinarmacht

272 273 284 286 289

10

161 165 165 166 180 180 184

Inhaltsverzeichnis

2.2.3 Moderne: Biomacht und Sicherheitsdispositiv 2.3 Freiheit als Widerstand 2.4 Zwischenfazit

294 298 306

3. Ethik: Nicht-identitäre Freiheit 3.1 Ethik als Einwirken auf sich selbst 3.2 Ethiksysteme: Zwei Imperative der Ethik 3.2.1 Griechische Klassik: Epistrophe 3.2.2 Hellenismus und jüngere Stoa: Konversion 3.2.3 Christentum: Metanoia 3.2.4 Neuzeit: cartesianisches Moment 3.3 Freiheit als Differenz seiner selbst 3.4 Zwischenfazit

307 309 315 318 320 325 329 333 341

IV. Schlussfolgerungen

342

1. Vergleich: (Selbst-)bestimmte und unbestimmte Freiheit

342

2. Moderne und postmoderne Freiheit

352

V. Siglen

357

VI. Literaturverzeichnis

361

1. Primärliteratur

361

2. Sekundärliteratur

364

11

I. Einleitung

In unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit nehmen wir einen starken Frei­ heitsbegriff in Anspruch: Ausgangspunkt ist dabei die Überzeugung, dass jeder Moment des Daseins ein unüberschaubares Feld an Möglichkeiten bietet, zwischen denen wir uns entscheiden können. Diese Entscheidung glauben wir unabhängig zu treffen, d. h. nicht etwas oder jemand anderes, sondern wir selbst sind ihr Urheber. Da die Entscheidung dem Eigenen entspringt, sind wir bereit für unsere Taten (oder deren Unterlassen) sowie für die sich daraus ergebenden Konsequenzen Verantwortung zu überneh­ men. Wir verknüpfen die Entscheidung, die entsprechende Handlung und die draus resultierenden Konsequenzen zu einer geschlossenen UrsacheWirkungs-Kette, deren Anfangspunkt bei uns liegt. Wie sich an den Prakti­ ken des Lobens und Tadelns oder des Belohnens und Strafens anschaulich zeigt, unterstellen wir den Zusammenhang von Freiheit, Zurechnung und Verantwortung auch bei unseren Mitmenschen. Die unabhängige Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten bildet dementsprechend sowohl die Grundlage für unser Selbstverständnis als auch für die Einschätzung anderer als freie und verantwortliche Personen.1 Sobald wir aber nach den Gründen für unsere Entscheidungen fragen, steht die Unabhängigkeit in Zweifel: Warum entscheiden wir so und nicht anders? Die Frage nach dem Warum weist über die Tatsache der bloßen Entscheidung hinaus. Es wird stattdessen nach deren Ursache gefragt. Wenn wir an der lebensweltlichen Vorstellung von Freiheit festhalten wollen, dürfen wir die Gründe nicht in äußeren Ursachen suchen, sondern sind wiederum auf uns selbst verwiesen. Was ist dieses ‚Selbst‘ allerdings? Und ist es wirklich unabhängig von etwas oder jemand anderem? Schon auf den ersten Blick zeigt sich, dass die Vorstellung, die wir gemeinhin von unserem Selbst haben, mit dem Körper und der sozialen Identität Elemente enthält, die wir nicht oder nur bedingt selbst gewählt haben.2 Der Körper ist Teil der Natur, die nach Gesetzen funktioniert, deren Ur­ heber wir nicht sind. Unsere soziale Identität hängt hingegen von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen ab. Diese haben wir ebenso wenig gewählt wie den Körper, vielmehr sind wir in sie hineingeboren.

1 Zu dieser lebensweltlichen Intuition: Bieri 2013, S. 19. 2 Vgl. Gerhardt 2017, S. 433.

13

I. Einleitung

Analog zur Natur folgt auch die Gesellschaft Regeln, die sich unserer unmittelbaren Verfügbarkeit entziehen. Natur- und Sozialwissenschaften nehmen die Gesetze der Natur bzw. die Regeln der Gesellschaft systema­ tisch in den Blick und veranschaulichen unsere Abhängigkeit von externen Faktoren. Entsprechend der bisherigen Gedankenführung scheinen diese Wissenschaften in Opposition zu unserem Selbstverständnis als freie und verantwortliche Personen zu stehen.3 Das lässt sich für den Bereich der Naturwissenschaften insbesondere an den Neurowissenschaften veranschaulichen. Tendenziell versuchen diese, geistige Aktivität auf biologisch-materielle Prozesse zu reduzieren und sie so messbar zu machen. In diesem Kontext erscheint der freie Wille als eine Illusion, weil sich empirisch belegen lasse, dass der materielle dem geistigen Prozess vorgängig ist. Das zeigt beispielsweise das sogenannte Li­ bet-Experiment.4 Hierbei wurde das Bereitschaftspotenzial in das zeitliche Verhältnis zur Muskelaktivierung gesetzt. Ersteres bezeichnet die für die Durchführung einer Bewegung vorbereitenden Gehirnaktivitäten. Zusätz­ lich zur Messung des Bereitschaftspotenzials und der Muskelaktivierung sollten die Probanden den Zeitpunkt angeben, an dem sie sich bewusst für die Bewegung entschieden haben. Libet kam zu dem Ergebnis, dass die als bewusst wahrgenommene Entscheidung für eine Bewegung dem Bereitschaftspotenzial nicht vorausgeht, sondern zeitlich zwischen diesem und der für die Bewegung notwendigen Muskelaktivierung liegt. Entspre­ chend der verbreiteten Lesart ist damit bewiesen, dass die Entscheidung zur Handlung Resultat unbewusster materieller Prozesse ist.5 Der bewuss­ ten Entscheidung kommt bloß eine nachgeordnete Funktion zu. Folglich geht das unbewusst Materielle dem bewusst Geistigen voraus. Diese Erkennt­ nisse haben seitens der Philosophie vehementen Widerspruch provoziert. Gesellschaftlich und politisch zeitigen sie jedoch kaum Wirkung. So wer­ den von gesellschaftlich relevanten Akteuren bisher keine konkreten poli­ tischen Forderungen aus diesen Erkenntnissen abgeleitet.6

3 Es sei darauf verwiesen, dass es sich hier natürlich um idealtypische Zuspitzungen handelt. So gibt es sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Sozialwis­ senschaften selbstverständlich nicht wenige Stimmen, die bewusst an der vorrefle­ xiven Freiheitsannahme festhalten wollen oder sie unbewusst voraussetzen. 4 Libet et al. 1983. 5 Exemplarisch Roth 2015, S. 180. 6 Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Vertreter dieser Fachrich­ tung (z. B. Roth 2009, Singer 2004) der gesellschaftlichen Implikationen ihrer Forschungen durchaus bewusst sind und daraus konkrete Forderungen wie die Reformierung des Strafrechts ableiten. Das hat zumindest in der Strafrechtslehre

14

I. Einleitung

Mit Blick auf die gesellschaftlichen Folgen scheint es sich bei den So­ zialwissenschaften gerade umgekehrt zu verhalten. Von philosophischem Widerspruch weitgehend unbehelligt, entfalten sie als zentrale Stichwort­ geber großen gesellschaftlichen und politischen Einfluss.7 Inhaltlich be­ trachtet eint sie mit den Naturwissenschaften die freiheitskritische Stoß­ richtung. Auch sie machen gegen die freiheitliche Grundintuition des Alltags eine der individuellen Entscheidung vorgängige Ebene geltend. So bringen große Teile der Sozialwissenschaften gegen das vorreflexive Freiheitsverständnis die Einbettung unseres Denkens und Handelns in einen spezifischen sozialen Kontext vor. Dadurch ist nicht nur der exter­ ne Möglichkeitsraum unseres Handelns bereits vor unserer Entscheidung abgesteckt, sondern das, was wir als unabhängige Entscheidung für eine bestimmte Handlungsoption auffassen, ist unbewusst sozial bedingt. Wäh­ rend das Soziale früher primär durch ökonomische und politische Struk­ turen theoretisch erfasst wurde, verhandelt man es beginnend mit den 1980er Jahren verstärkt in kulturellen Kategorien. Kultur wird hierbei nicht mehr als ein Überbauphänomen gegenüber dem Sozialen aufgefasst. Vielmehr ist das Soziale stets historisch-kulturell vermittelt, d. h. durch Sinn- und Bedeutungsstrukturen.8 Das unbewusst Kulturelle geht hier also dem bewusst Geistigen voraus. Wir können festhalten: Sowohl die Neuro- als auch die Sozialwissen­ schaften stehen in Opposition zu unserem lebensweltlichen Freiheitsver­ ständnis. Beide kritisieren eine starke Vorstellung von Willensfreiheit, weil sie die Unabhängigkeit der bewussten Entscheidung durch vorgängige unbewusste körperliche bzw. soziale Prozesse relativieren. Vor diesem Pro­ blemhorizont bewegt sich die vorliegende Untersuchung. Damit ist die eigentliche Problemstellung aber noch nicht benannt. Während sich die Philosophie kritisch mit den gedanklichen Grundlagen der Neurowissen­ schaften auseinandersetzt, bleibt die philosophische Basis der Freiheitskri­

dazu geführt, die Praxis des Strafens von der philosophischen Freiheitsdebatte zu trennen. Exemplarisch zur philosophischen Kritik der Neurowissenschaften: Keil 2017, S. 205ff, Nida-Rümelin 2005, Willaschek 2011. 7 Es sei nur an Schlagwörter wie ‚struktureller Rassismus‘, ‚Gender‘ usw. erinnert, die weit über den wissenschaftlichen Rahmen hinaus in den öffentlichen gesell­ schaftlichen Diskurs eingesickert sind. Wie wir im Folgenden sehen werden, liegt das Spezifikum dieser Konzepte eben darin, dass sie auf eine dem individuellen Verhalten vorgängige Struktur hinweisen, die sich dem Bewusstsein und damit der freien Entscheidung der Akteure entzieht. 8 Vgl. Moebius/Reckwitz 2013, S. 19.

15

I. Einleitung

tik der Sozialwissenschaften weitgehend unbeleuchtet.9 Eben diese philo­ sophische Basis will die vorliegende Untersuchung thematisieren. Dabei stehen wir allerdings vor der Schwierigkeit, dass man annehmen könnte, eine theoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept der Kul­ tur wäre hierfür schon hinreichend. Nicht selten wird deshalb aus der Wende der Sozialwissenschaften zum Kulturellen ein bloßer ‚cultural turn‘ gemacht. Das greift jedoch zu kurz, sofern man damit ausschließlich eine Ausweitung oder Neuausrichtung des Gegenstandsbereichs meint.10 Die Verlagerung vom Ökonomischen zum Kulturellen ist nur eine augen­ scheinliche Oberflächenwirkung einer tiefgreifenden Veränderung. Sie be­ trifft die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundlagen der Sozialwissenschaften.11 Adäquater scheint es deshalb zu sein, diese Wende von ihren ideengeschichtlichen Wurzeln her als ‚postmodern turn‘ zu erfassen.12 Mit Postmoderne ist hier nicht eine empirische Epochenbe­ schreibung der gegenwärtigen Phase der Moderne, sondern primär eine

9 Die philosophische Kritik an den Sozialwissenschaften entzündet sich weniger am Freiheitsbegriff als an dem in weiten Teilen vorherrschenden Antirealismus und Konstruktivismus. Diese Kritik wird beispielsweise prominent von Willa­ schek 2005, Boghossian 2015 oder gesammelt bei Gabriel 2015 vorgetragen. 10 Zum Verhältnis von „cultural turn“ und „postmodern turn“: Susen 2015, S. 90ff. 11 Dass sich diese Entwicklungen nicht sofort und auch nicht überall gleicherma­ ßen bemerkbar gemacht haben, ist hierbei natürlich mitgedacht. So konnte von Beyme 1989, S. 209 in Bezug auf die Postmoderne noch feststellen, dass sich ein „großer Teil der sozialwissenschaftlichen Diskussion in Deutschland […] nicht um diese Modeerscheinung“ kümmert. Gut zwanzig Jahre später kom­ men Moebius/Reckwitz 2013, S. 7 zu einer deutlich veränderten Einschätzung: „Der Poststrukturalismus ist in den Sozialwissenschaften angekommen. […] Poststrukturalistische Ansätze […] haben seit der Jahrtausendwende in der so­ zialwissenschaftlichen Forschungslandschaft des deutschsprachigen Raums eine verstärkte Aufmerksamkeit auf sich gezogen, die sie in den englischsprachigen Gesellschafts- und Kulturwissenschaften […] bereits seit den 1980er Jahren erzie­ len.“ 12 So vertritt beispielsweise Nida-Rümelin 2018, S. 11 die Auffassung, dass sich in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften „in den letzten Jahrzehnten eine philosophische Auffassung etabliert [hat], die durch und durch anti-realistisch ist. Gelegentlich stützt sie sich auf postmoderne, auch wittgensteinianische Argu­ mente, teilweise auf solche, die tatsächlich oder vermeintlich auf Immanuel Kant zurückzuführen sind.“ Susen 2015 hat eine ausführliche Untersuchung vorgelegt, die diese postmoderne Wende der Sozialwissenschaften soziologisch und ideen­ geschichtlich beleuchtet. Auch Reckwitz 2012, S. 21 betont, wie wichtig es ist, sich den philosophischen Hintergrund bei diesem Wandel zu vergegenwärtigen.

16

I. Einleitung

spezifische philosophische Strömung gemeint.13 Diese Denkrichtung for­ mierte sich in den 1960er Jahren vor allem in Frankreich, wobei ihre Wur­ zeln mit Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein und dem Strukturalismus zum Teil weit vor diese Zeit zurückreichen. Sie hat dann vermittelt über die angelsächsische Rezeption große Wirkung entfaltet.14 In welcher Hin­ sicht leitet sie die Freiheitskritik der Sozialwissenschaften nun aber an? Das Primat des kulturell-kollektiv Unbewussten gegenüber dem geistig-indivi­ duell Bewussten wird von der Postmoderne durch die Infragestellung des Subjektes und dessen erkenntnis- bzw. handlungskonstitutiver Funktion fundiert: Erkennen und Handeln kann nur im Rahmen übersubjektiver Strukturen erfolgen, so die zentrale These.15 Damit wird die Möglichkeit einer freien, d. h. bewussten und unabhängigen Entscheidung für oder gegen eine Handlung grundsätzlich in Frage gestellt.16

13 Eine solche deskriptiv-empirische Beschreibung der Postmoderne als gegenwärti­ ge Phase der Moderne findet sich z. B. bei Reckwitz 2020, S. 37. Grundlegend zu den verschiedenen Bedeutungsdimensionen der Postmoderne: Zima 2016, S. 46ff. 14 Vgl. Susen 2015, S. 24: „What is noticeable in this regard is that it is, by and large, Francophone scholars whose writings are regarded as the path-breaking works of the postmodern tradition, whereas renowned Anglophone scholars appear to have taken on the role of recyclers and creative interpreters of this intellectual current.“ Dieses Urteil teilen auch Moebius/Reckwitz 2013, S. 10f. 15 Wie Honneth 1993, S. 149f erläutert, integriert die Postmoderne die freiheitskriti­ schen Impulse der Psychoanalyse (Freud) sowie der Sprachphilosophie (Saussure, Wittgenstein). Beide Inspirationsquellen relativieren die als sakrosankt gesetzte Freiheit des Subjekts, wie sie in der Transzendentalphilosophie und der davon maßgeblich beeinflussten Philosophie der Moderne zu finden ist. Gegen die unbedingte Freiheit des Subjekts wird das Unbewusste der Psyche bzw. die Vor­ gängigkeit der sprachlichen Bedeutungssysteme geltend gemacht. 16 Wenn man grundsätzlich gewillt ist, die produktive Rolle der Postmoderne für die Sozialwissenschaften zuzugestehen, könnte man doch einwenden, dass es sich mehr um einen ‚sandigen Untergrund‘ als um ein ‚festes Fundament‘ handelt: So ist die postmoderne Denkrichtung bekanntermaßen definitorisch schwer zu greifen. Sie umfasst eine Vielzahl an heterogenen Ansätzen und Anliegen. Es werden ihr Autoren zugerechnet, die den Begriff nicht verwenden oder ihn sogar dezidiert ablehnen. Deswegen ist es wenig überraschend, dass manche Kommentatoren sogar in Abrede stellen, dass man hier überhaupt von einem einheitlichen Phänomen sprechen kann. Demgegenüber geht die vorliegende Studie davon aus, dass es so etwas wie ein spezifisch postmodernes Denken gibt und dieses Denken einer genuinen Logik entspricht. Denn, wie Goebel/ Suárez Müller 2007, S. 7f betonen, kann erst ein Denken, welches in einen stim­ migen Zusammenhang gebracht wurde, als philosophische Position gelten. Die Untersuchung folgt damit den – teilweise durch Vertreter dieser philosophischen Richtung selbst vorgenommenen – Bestrebungen, ihrer philosophischen Position

17

I. Einleitung

Der Bezug der Postmoderne auf die Freiheit ist jedoch nicht so negativ, wie es im ersten Moment den Anschein hat: Dem Zweifel am lebenswelt­ lichen Freiheitsverständnis steht ein positiver Bezug auf die Freiheit gegen­ über. Die Ambivalenz offenbart sich, wenn man die normative Dimension dieses Denkens miteinbezieht.17 Letztere manifestiert sich im Bekenntnis zu einem spezifischen philosophischen Ethos – einem Ethos der Freiheit.18 Das lässt sich an einigen Vertretern der Postmoderne gut veranschauli­ chen. So sieht beispielsweise Michel Foucault das Ziel seiner Philosophie darin, „den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen“.19 Judith Butler als weitere wichtige Vertreterin dieser Denkströmung tritt sogar mit dem expliziten Anspruch auf, eine „Philosophie der Freiheit“ zu entwickeln.20 Michael Hardt und Antonio Negri sprechen von der „Freiheit, selbst zu bestimmen, wer und was man werden kann“, die durch den Prozess der „Befreiung“ verwirklicht werden soll.21 Auch Chantal Mouffe versteht ihr Konzept der „agonalen Demokratie“ als Entwurf einer dezidiert freiheitlichen Ordnung.22 Schließlich versucht Jacques Derrida im Rahmen seiner späten politischen Schriften, das normative Potenzial seiner Dekonstruktion am Begriff der Freiheit sichtbar zu machen.23 Allen diesen Denkern ist es gemein, dass sie ihr Philosophieren unter die norma­ tive Leitidee der Freiheit stellen. Die Kluft zwischen dem freiheitlichen Ethos und der Abkehr von der konstitutiven Rolle des Subjekts scheint indes auf den ersten Blick argumentativ nur schwer überbrückbar. Umso

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18

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18

Kohärenz zu verleihen. Hier sind insbesondere Lyotard 2015, Welsch 2008, Bau­ man 2009 zu nennen. In Bezug auf eine einheitliche Strömung bejahend, aber inhaltlich kritisch setzen sich beispielsweise Zima 2016, Goebel/Suárez Müller 2007 mit der Postmoderne auseinander. Die genannten Schwierigkeiten, die sich aus dem Versuch einer Systematisierung dieser Strömung ergeben, sollen weni­ ger als Ursache, sondern mehr als spezifische Folge des postmodernen Ansatzes verstanden werden. So weist Sarasin 2019, S. 21f darauf hin, dass sich ein unumkehrbarer Übergang von der Moderne zur Postmoderne vollzogen hat, aber die Vertreter dieser Post­ moderne nicht zuletzt mit Foucault an der Freiheit des Subjekts als Zielpunkt all ihrer Projekte festhalten wollen. Für Münnix 2004 ist der Begriff des Ethos sogar titelgebend für ihre Monogra­ phie zur Postmoderne. Auch Campbell 2010, S. 213 folgt dieser Bezeichnung und rekurriert hierbei insbesondere auf die Überlegungen Foucaults (DE IV, S. 687ff) zur Aufklärung und Moderne. DE IV, S. 960, Hervorhebung B. H. Butler 2015a, S. 348. Negri/Hardt 2010, S. 339, Hervorhebung getilgt und neu gesetzt. Vgl. Mouffe 2008, S. 27. Vgl. Derrida 2006.

I. Einleitung

drängender stellt sich die Frage, was Freiheit für die Philosophie der Postmo­ derne ist. Ihre Beantwortung ist eines unserer zentralen Anliegen. Damit sind wir in Bezug auf die Struktur der vorliegenden Untersu­ chung an einem entscheidenden Punkt angelangt: Denn die obige Frage lässt sich kaum klären, ohne dass man die Postmoderne ins Verhältnis zur Moderne setzt.24 Begründet ist die Bezogenheit der Postmoderne auf die Moderne durch den spezifischen Modus, in dem sich das postmoderne Einfordern der Freiheit entfaltet. Das Präfix ‚post‘ darf in diesem Zusam­ menhang nämlich nicht wörtlich als ‚nach‘ verstanden werden. Es drückt vielmehr ein ‚gegen‘ aus – ein ‚gegen‘ die Moderne. Das heißt in Bezug auf die Freiheit, dass sie sich nicht als positives Ziel (als ein ‚für‘), sondern nur als Kritik, als Ablehnung des Bestehenden realisieren lässt. Wie Jürgen Habermas anmerkt, wird hier allerdings eine gewisse Ambivalenz deutlich: „Jedenfalls können wir nicht a priori den Verdacht von der Hand weisen, daß sich das postmoderne Denken eine transzendente Stellung bloß anmaßt, während es den […] Voraussetzungen des modernen Selbstverständnisses tatsächlich verhaftet bleibt.“25 Der Bezug der Postmoderne auf die Moderne ist demnach nicht so nega­ tiv, wie es im ersten Moment den Anschein hat. Über die bloße Negation (‚transzendente Stellung‘) hinaus, gibt es positive Anknüpfungspunkte. So ist die Fokussierung auf die Freiheit keineswegs spezifisch postmodern. Vielmehr hat gerade die philosophische Moderne die Idee der Freiheit ex­ plizit ins Zentrum des Nachdenkens gerückt.26 Von Descartes ausgehend über Kant, Fichte, Hegel bis Sartre ist das Konzept der Freiheit von zentra­ ler Bedeutung in den jeweiligen philosophischen Systemen.27 Die Moder­ ne setzt im Gegensatz zur Postmoderne aber gerade bei unserer freiheitli­ chen Intuition an. Sie versucht den starken vorreflexiven Freiheitsbegriff reflexiv einzuholen und ihm so eine philosophische Begründung zu ge­ ben. Aus welchem Prinzip werden die Unabhängigkeit der Entscheidung und die individuelle Verantwortlichkeit aber gefolgert? Sie entspringen dem Subjekt. Ihm wird die zentrale erkenntnis- und handlungskonstituti­

24 Vgl. Welsch 2008, S. 45: „Wer von Postmoderne redet, redet auch von Moderne. Und wer sinnvoll von Postmoderne sprechen will, muß angeben, gegen welche Moderne er sie absetzen möchte.“ Auch Zehnpfennig 2005, S. 109 weist darauf hin, dass der Begriff Postmoderne relational ist. 25 Habermas 1986, S. 13. Auch Münnix 2004, S. 9f macht auf diese Ambivalenz aufmerksam. 26 Diese Lesart der Moderne macht jüngst auch wieder Höffe 2015, S. 13f stark. 27 Einen guten Überblick gibt Sturma 1999.

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I. Einleitung

ve Funktion zugeschrieben. Dementsprechend soll die Moderne ebenso wie die Postmoderne in einem sehr konkreten Sinn verstanden werden; und zwar nicht als Epoche, sondern als Sammelbezeichnung für die Sub­ jektphilosophie seit Descartes.28 In diesem Sinn wird der Begriff auch üblicherweise von der postmodernen Philosophie rezipiert.29 Das begriffliche Festhalten der Postmoderne an der Freiheit und die gleichzeitige Abkehr vom zentralen Prinzip der Moderne (dem Subjekt) deuten an, dass es sich um eine Gegen-Moderne in der Moderne handeln könnte. So kommen auch Protagonisten der Postmoderne wie Welsch oder Bauman zu dem Schluss, dass die Postmoderne die spezifisch norma­ tiven Topoi der Moderne keineswegs preisgibt. Vielmehr ist sie als eine „exoterische Einlösungsform der einst esoterischen Moderne“ zu verste­ hen.30 Es geht der Postmoderne dem eigenen Anspruch nach also darum, das Emanzipationsversprechen der Moderne nicht zurückzuweisen. Das Ziel besteht vielmehr darin, die Freiheit nicht nur für wenige (‚esote­ risch‘), sondern tatsächlich für alle (‚exoterisch‘) zu verwirklichen. Damit sind wir aus der Logik des postmodernen Denkens selbst zwingend darauf verwiesen zu klären, was Freiheit für die Philosophie der Moderne bedeutet. Um den Zusammenhang von moderner und postmoderner Freiheits­ vorstellung systematisch entfalten zu können, müssen wir das formale Strukturprinzip des Denkens, das sich am konkreten Inhalt der Freiheit als modern bzw. postmodern zeigt, bereits vorab benennen. Als solches kann es ohne eingehende Begründung zunächst nur heuristischen Wert haben. Die Begründung ist erst durch den Vollzug der Analyse selbst zu er­ bringen. Allerdings deutet sich bereits mit der Negation der konstitutiven Rolle des Subjekts an, dass die Postmoderne durch die Zurückweisung der typisch modernen Umgangsweisen mit theoretischen, moralischen und gesellschaftlichen Problemen charakterisiert ist.31 Das betrifft sowohl die Problemperzeption – was wird überhaupt als philosophisches Problem wahrgenommen? – als auch die Problemlösung – wie kann man das wahr­ genommene Problem lösen?32 Perzeption und Lösung stehen bei Moderne

28 29 30 31

Vgl. Lang 2008, S. 386, Susen 2015, S. 15f. Vgl. Welsch 2008, S. 68. Ebd., S. 6. Hierzu auch Lyotard 1996, S. 26. Bauman 2009, S. 13 entwickelt diese These zwar nur in Bezug auf die Ethik, sie scheint vor dem Hintergrund der Analyse jedoch von allgemeiner Natur zu sein. 32 Zima 2016, S. 38 versteht Moderne und Postmoderne weniger als Epochen oder Ideologien, sondern als Problematiken. Die Lösungsansätze sind dabei unterschiedlich (S. 37ff). Während die Moderne darauf vertraut, Ambiguitäten auflösen zu können, versucht die Postmoderne, Unterschieden durch Indifferenz

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I. Einleitung

und Postmoderne in einem spiegelverkehrten Verhältnis zueinander. Das, was von der einen Denkrichtung als Problem wahrgenommen wird, ist für die andere die Lösung und umgekehrt. Der Ansatzpunkt der Moderne besteht darin, das Moment der Unbe­ stimmtheit, das aus ihrer Sicht jedem Problem anhaftet, zu analysieren und durch ein endgültiges Urteil aufzuheben.33 Damit wahrt sie ihren absoluten, universellen und letztbegründenden Anspruch und setzt ihre Hoffnung auf gesellschaftlicher Ebene in eine normativ fundierte Regulie­ rung des Zusammenlebens. Die Moderne zielt auf Bestimmtheit in theoreti­ scher, praktischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Die Postmoderne hingegen erblickt den Kern theoretischer, moralischer und gesellschaftlicher Probleme gerade in der von der Moderne angestreb­ ten, endgültigen Bestimmtheit. Die Lösung besteht stattdessen in der Unbe­ stimmtheit, d. h. der Koexistenz der Gegensätze, aus der dann die für die­ se Denkströmung charakteristische Pluralität erwächst.34 In theoretischer Hinsicht bedeutet dies die Negation der Suche nach dem Absoluten, nach Universalität sowie Letztbegründung und in politischer Hinsicht die Kritik an zwanghafter normativer Regulierung.35 Das Spannungsverhältnis von moderner und postmoderner Philosophie, das sich hier abzuzeichnen beginnt, möchte die vorliegende Untersuchung in Bezug auf den Begriff der Freiheit problematisieren. Wie lässt sich Frei­ heit von dem jeweiligen Standpunkt aus denken? Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Freiheitsvorstellungen für den Bereich der Ethik und des gesellschaftlichen Zusammenlebens? Sind diese Vorstellungen in sich konsistent? Stimmen Prämissen und Konsequenzen überein? Diese Fragen sollen nun nicht in ihrer Breite, sondern in ihrer Tiefendimension erschlossen werden. Dazu greifen wir auf zwei paradigmatische Positionen zurück, deren Auswahl jeweils einzeln begründet wird (2). Ausgehend von zu begegnen. Diese Lesart stützt auch Herrera 2012, S. 11, 148f. An diese Überle­ gungen soll im Folgenden angeknüpft werden. 33 Vgl. Schnädelbach 2000, S. 24f: „Wenn wir versuchen, das Spezifische des philo­ sophischen Interesses in sich modernisierenden Kulturen genauer zu bestimmen, können wir davon ausgehen, daß es jene das Ganze betreffende Nachdenklich­ keit bezeugt. Das Ganze ist interessant, weil es in der Moderne aus dem Blickfeld gerät, die Menschen aber doch wissen wollen, wie das Vielfältige, Disparate und sich häufig gegenseitig Widersprechende ihrer Lebenswelt miteinander zusam­ menhängt oder gar zusammenpaßt.“ 34 So bemerkt Lyotard 2015, S. 26 in Bezug auf das postmoderne Wissen: „Es ver­ feinert unsere Sensibilität für die Unterschiede und stärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable zu ertragen.“ 35 Vgl. Bauman 2009, S. 13.

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I. Einleitung

dieser Begründung und der Darstellung des Forschungsstandes wird der Aufbau der Untersuchung skizziert (3). Vorab ist jedoch der methodische Zugriff zu klären (1).

1. Die analytisch-hermeneutische Methode Jede wissenschaftliche Untersuchung hat zur Beantwortung ihrer For­ schungsfrage eine grundsätzliche methodische Entscheidung zu treffen. Diese Entscheidung strukturiert den konkreten Forschungsprozess hin­ sichtlich des Zugriffs auf den Forschungsgegenstand, die Art der Analyse und den Ablauf. Da unser Vorhaben theoretischer Natur ist, ist es entschei­ dend, die Art und Weise des Umgangs mit Theorien bzw. theoretischen Texten zu spezifizieren. Wir wollen uns hierbei eines analytisch-hermeneu­ tischen Verfahrens der Textinterpretation bedienen.36 Grundlegender Anspruch dieser Methode der Interpretation ist es, zu einem Verstehen anzuleiten, das „so weit wie möglich von bloß subjekti­ ven und damit kontingenten Elementen“ befreit ist. Außerdem sollen die Kriterien des eigenen Vollzugs möglichst transparent gemacht werden.37 Gegenstand des Verstehens ist der andere bzw. das Denken des anderen. Sein Denken ist uns jedoch nicht unmittelbar zugänglich, sondern aus­ schließlich über das Medium der Sprache – und im konkreten Fall fast aus­ schließlich als geschriebener Text. Das hier angestrebte Verstehen ist nicht Mittel zum Zweck. Es geht nicht darum sich bestimmte Elemente des Denkens anzueignen, sie in sein eigenes Weltbild einzufügen und andere zu vernachlässigen. Stattdessen wollen wir uns in Gänze klar machen, was der andere uns mitteilen will, was er denkt. Es soll der Zusammenhang seiner Gedanken erschlossen werden. Das Verstehen ist hier also Selbst­ zweck38 – ganz so, wie wir in unserer unmittelbaren Lebenswirklichkeit

36 Allgemeine Überlegungen zu dieser Methode: Zehnpfennig 2006, S. 32f, 2011, S. 11f, 2021. 37 Vgl. Zehnpfennig 2021, S. 172. Wie wir noch sehen werden, ist die Transparenz der Deutung umso mehr gefragt, je weiter man sich vom Text wegbewegt. Das trifft insbesondere für das Verstehen des objektiven Sinns zu, insofern sich der Interpret hier „über den Text zu stellen scheint“ (S. 192). 38 Dieser Begriff soll hier in einem kantischen Sinn verstanden werden. Die Hand­ lung des Verstehens ist an sich erstrebenswert, unabhängig von dem Zweck, den wir konkret damit verfolgen. Das bedeutet jedoch nicht, dass mit dem Verstehen kein Zweck verbunden sein darf. Vielmehr bezweckt das Verstehen des anderen gerade auch die Prüfung der eigenen Gedanken.

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1. Die analytisch-hermeneutische Methode

fortwährend darum bemüht sind, uns den anderen und sie uns verständ­ lich zu machen.39 Mit dieser Fokussierung auf das Verstehen schreibt sich die Methode in die Traditionslinie der Hermeneutik ein. Dem dominan­ ten hermeneutischen Moment wird jedoch ein analytisches an die Seite gestellt, welches eine korrektive wie systematisierende Funktion hat. Man könnte sagen, dass Ersteres eine Fokussierung auf den Inhalt, Letzteres auf die Form impliziert. Diese Trennung ist jedoch insofern künstlich, als im konkreten Verstehensprozess beides ineinanderfließt: der Inhalt erschließt sich von der Form so, wie sich die Form vom Inhalt her ergibt.40 Sowohl auf den 1) analytischen als auch auf den 2) hermeneutischen Aspekt soll zur besseren Nachvollziehbarkeit jedoch getrennt eingegangen werden. 1) Das analytische Moment der Methode liegt in der Ermittlung der gedanklichen Struktur der zur Analyse herangezogenen Texte. So lässt sich beispielsweise bereits auf einer rudimentären Analysestufe formal zwi­ schen Thesen, Folgerungen, Beispielen und Gegenthesen unterscheiden. Die Idee einer Selbstzweckhaftigkeit des Verstehens konkretisiert sich auf der analytischen Ebene – mit Quine gesprochen – als „principle of cha­ rity“41: Wenn wir den anderen verstehen wollen, so müssen wir davon ausgehen, dass dieser tatsächlich verstehbar ist. Den anderen für verstehbar zu halten, bedeutet zu unterstellen, „dass ein nachvollziehbarer Zusam­ menhang seiner Gedanken vorhanden ist, dass er sich um logische Schlüs­ sigkeit bemüht hat, dass er tatsächlich die Absicht hatte, etwas Bestimm­ tes mitzuteilen“42 – sei es auch die ‚Bestimmtheit‘ des Unbestimmten. Das impliziert eine Umkehr der gewöhnlich eingenommenen Perspektive. Die Beweislast liegt erst einmal bei uns: Wenn ein Text unverständlich erscheint, dann möglicherweise nicht deshalb, weil der Autor sich unklar bzw. unlogisch ausgedrückt hätte, sondern weil wir den Text noch nicht hinreichend erschlossen haben. Diese Herangehensweise wird dadurch erleichtert, dass wissenschaftli­ che Texte (und insbesondere philosophische) in irgendeiner Art und Weise argumentativ sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Argumente not­ wendigerweise in einer bereits systematisierten oder sogar formalisierten Form vorliegen. Sie stützen sich jedoch zwingend auf eine kleine Zahl an logischen Prinzipien wie den Satz vom Widerspruch, das Kausalitätsprin­

39 Zehnpfennig 2021, S. 183 beschreibt deshalb das Verstehen-Wollen als primär ethisches Problem. 40 Ebd., S. 184. 41 Quine 1970, S. 59. 42 Zehnpfennig 2021, S. 187.

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I. Einleitung

zip usw. Selbst wenn diese Prinzipien explizit kritisiert werden, so wird doch mit der Logik gegen die Logik argumentiert. Andernfalls wären diese Argumente innerhalb der Alltagssprache gar nicht darstellbar.43 Dieses Mindestmaß an Logik macht die zugrundeliegende Struktur rekonstruier­ bar. Entscheidend für die Deutung ist es, die grundlegenden Prämissen herauszuarbeiten und zu zeigen, wie sich die vom Autor intendierten Konsequenzen daraus ableiten lassen. Diese Rekonstruktions- und Abstrak­ tionsarbeit hat im Sinne einer wohlwollenden Deutung im ersten Schritt nicht das Ziel zu widerlegen, sondern „den Text in der Tat so stark zu machen, wie es geht.“44 Die Stärke der Argumentation liegt dabei in ihrer möglichst kohärenten und transparenten Form, in die der Interpret sie zu bringen beabsichtigt. Der Interpret nimmt dabei den mehr oder minder klaren Argumentationsgang des Autors auf, expliziert die Argumentations­ schritte und bringt sie in eine geordnete Abfolge. 2) Bei der Rekonstruktion des Argumentationsgangs kommt der herme­ neutische Aspekt der Methode zum Tragen. Ziel ist es, den Sinn des Textes zu verstehen. Allerdings muss man hier zwei Ebenen differenzieren: sub­ jektiver und objektiver Sinn. Der subjektive Sinn ist das, was der Autor konkret meint, wenn er einen bestimmten Begriff verwendet, oder auf einen bestimmten argumentati­ ven Zusammenhang verweist. Es geht darum, den vom Begriff prinzipiell unabhängigen, gemeinten Sachverhalt zu erfassen. Die Selbstzweckhaftig­ keit des Verstehens konkretisiert sich hierbei abermals, nun jedoch als spezifisch hermeneutischer Imperativ: Wir sind dazu aufgerufen, die Text­ grundlage so weit wie möglich aus der Perspektive des Verfassers zu be­ trachten. Das bedeutet konkret, Begriffe, Konzepte und Zusammenhänge aus der Immanenz der Textgrundlage heraus zu verstehen. Folglich geht dieses Einlassen auf die Perspektive des Autors wesentlich mit der Abstrak­ tion „von der eigenen Vorstellung, was bestimmte Begriffe bedeuten“, einher.45 Dies trifft natürlich in besonderem Maße auf vorgefertigte Kategorisie­ rungen (z. B. deontologisch, konstruktivistisch usw.) zu, wie sie häufig in der Sekundärliteratur Anwendung finden. Diese haben die Tendenz unterschiedliche Ansätze, Gedanken und Bedeutungen in verschiedenen Kontexten unzulässigerweise zu nivellieren. Sie können einen ersten An­ haltspunkt für die Interpretation bieten. Ihre Richtigkeit muss sich jedoch

43 Ebd., S. 186. 44 Ebd., S. 187. 45 Ebd.

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1. Die analytisch-hermeneutische Methode

erst vor dem Hintergrund der Analyse erweisen.46 Ebenso problematisch sind Alltagsbegriffe, deren Verständnis wir immer schon voraussetzen.47 Im konkreten Fall haben wir natürlich eine mehr oder weniger differen­ zierte Vorstellung, was Freiheit bedeutet. Diese Vorstellung dürfen wir jedoch nicht an den Autor herantragen, sondern der Begriffsgehalt muss sich vom Autor selbst her erschließen. Die Tragweite dieser Problematik zeigt sich jedoch erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir den zu erschließenden Begriff nur durch ebenso wenig klare Begriffe verstehen können. Wir müssen daher bereits vor jedem Verstehensvollzug vorausset­ zen, dass das Begriffsnetz, das zum Verstehen notwendig ist, sich als hinrei­ chend bestimmt erweist. Im Gegensatz zur Alltagssprache kann jedoch der eigene Selbstanspruch des Autors, eine Theorie oder zumindest eine Me­ thodologie entwickelt zu haben, als erster hinreichender Verdacht dienen, dass sich der untersuchte Begriff innerhalb der Textgrundlage klären lässt. Der objektive Sinn ist die logische Konsequenz, die aus dem vom Autor Gemeinten (subjektiver Sinn) resultiert. Diese logische Konsequenz muss allerdings im subjektiven Sinn nicht notwendigerweise reflexiv erfasst sein. Gerade durch dessen Erläuterung vollzieht sich der Übergang von der Rekonstruktion zur Kritik. So können sich z. B. Prämissen widerspre­ chen oder die Voraussetzungen stimmen nicht mit den intendierten Kon­ sequenzen überein. Ist dies der Fall, so zeigt sich ein Bruch „zwischen dem Selbstverständnis des Autors und dem, was tatsächlich aus seinen Gedanken logisch folgt.“48 Diese Brüche gilt es aufzuzeigen. Es ist aber zentral, sich zu vergegenwärtigen, dass die Kritik mithin nicht von einem Standpunkt außerhalb des Textes erfolgt – zumindest insofern man die Abstraktion und Zuspitzung von Gedanken als immanenten Prozess ver­ stehen will. Vielmehr wird der Text so weit wie möglich an seinem eigenen Anspruch gemessen. Der Maßstab ist dabei die Konsistenz des Denkens, im Sinne seiner Widerspruchsfreiheit.49

46 Das gilt ebenso für die von uns in Anspruch genommenen Begriffe von Moderne und Postmoderne. Sie haben erst einmal nur einen vorläufigen heuristischen Wert und sind als solche noch begründungsbedürftig. 47 So betont z. B. auch Bieri 2013, S. 30 die Notwendigkeit einer Verfremdung der Wörter bei einer philosophischen Betrachtung. Er sieht sich dabei maßgeblich von den platonischen Dialogen inspiriert (S. 437). 48 Zehnpfennig 2021, S. 192. 49 Dabei wird jedoch im Gegensatz zu dem Ansatz von Suárez Müller 2004, S. 27 keine „Aufhebung des behandelten Autors in das eigene Denksystem“ angestrebt. Der Ansatz verbleibt kritisch darstellend, ohne ein eigenes philosophisches Sys­

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I. Einleitung

Es sollte deutlich geworden sein, dass dieses Verfahren eine intensive Auseinandersetzung mit den Textgrundlagen erfordert und erst durch einen iterativen Prozess in Gang gesetzt werden kann.50 Folglich soll die Frage nach dem modernen und postmodernen Verständnis von Freiheit nicht anhand eines großen Autorenspektrums bearbeitet werden. Stattdes­ sen findet eine Konzentration auf jeweils eine paradigmatische Position statt.

2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl Wir wollen die abstrakten Forschungsfragen nach dem Freiheitsbegriff der Moderne und der Postmoderne anhand zweier Autoren beantworten. Die Auswahl der behandelten Denker soll im Folgenden begründet werden. Die Begründung stützt sich dabei auf die Bedeutung des Denkers für die jeweilige Denkströmung. Gleichzeitig wird versucht, Leitthesen für die In­ terpretation zu entwickeln. Diese Thesen greifen dabei den Gedanken auf, dass Moderne und Postmoderne sich geradezu in entgegengesetzter Art und Weise auf die Freiheit beziehen: als Bestimmtheit und Unbestimmtheit des Begriffs. Was das inhaltlich bedeutet, gilt es anhand der jeweiligen Denkansätze, näher zu veranschaulichen.

2.1 Moderne: Kant als Freiheitsdenker Die Klärung der modernen Perspektive auf die Freiheit soll anhand der Philosophie Immanuel Kants (1724–1804) erfolgen. Hierfür lassen sich sowohl 1) Gründe aus der Rezeptionsgeschichte anführen als auch 2) die spezifische Art und Weise, in der Kant das Freiheitsproblem thematisiert. 1) Die generelle Wichtigkeit Kants für die Moderne gilt, wie sich ex­ emplarisch im Urteil von Schnädelbach veranschaulichen lässt, als weitge­ hend unumstritten: „Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Philosophiegeschichte in die Zeit ‚vor Kant‘ und ‚nach Kant‘ einzuteilen, und wir denken alle

tem zu präsentieren. Der Maßstab für die Kritik bleibt der Selbstanspruch des Autors. 50 Hierbei handelt es sich um den bekannten hermeneutischen Zirkel. Zur Bedeu­ tung dieses Zirkels für die analytisch-hermeneutische Methode: Zehnpfennig 2021, S. 188f.

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2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl

[...] ‚nach Kant‘, d.h. unter Bedingungen, die er ermittelt und zu re­ spektieren gelehrt hat. So ist Kant der philosophische Klassiker unserer Epoche – der klassische Philosoph der Moderne.“51 Ohne Zweifel kann man daher auch davon ausgehen, dass die kantische Theorie der Freiheit für die Moderne von herausragender Bedeutung ist.52 Sie stellt einen grundlegenden Bruch mit der von Aristoteles geprägten antiken und mittelalterlichen Konzeption der Freiheit dar: Die Frage nach der Freiheit war hier stets in die teleologische Gesamtordnung der Welt eingebunden. Somit galt die Ausrichtung des Willens auf das Gute in der Freiheit als unzweifelhaft.53 Diese Annahme wird mit dem Ende der sie fundierenden Weltsicht problematisch.54 Nicht nur der Inhalt der Frei­ heit, sondern auch die Freiheit als solche wird in Frage gestellt. Kants Theorie menschlicher Freiheit lässt sich in diesem Kontext „im Wesentli­ chen als eine Theorie autonomer Vernunft verstehen.“55 Damit „erhält der Schlüsselbegriff der Neuzeit, die Freiheit, durch Kant ein philosophisches Fundament.“56 Nicht nur der Deutsche Idealismus um Fichte und Hegel, sondern auch die Philosophie danach bezieht sich immer wieder kritisch oder affirmativ auf Kants Ansatz.57 Jedoch ist auch für das Werk Kants selbst die Konzeption von Freiheit von entscheidender Bedeutung: Nicht nur macht für ihn der Begriff der Freiheit den „Schlußstein“58 der Tran­ szendentalphilosophie aus, vielmehr könnte man sogar behaupten, dass die Autonomie der Vernunft „der rote Faden [ist], der Kants gesamtes kritisches Werk durchzieht und dessen verschiedene Bereiche miteinander verbindet.“59 Der Fokus liegt dabei auf einer systematischen Rekonstrukti­ on des Freiheitsbegriffs in den verschiedenen Bereichen. Das impliziert

51 Schnädelbach 2000, S. 9. Zum gleichen Urteil kommen auch Habermas 1986, S. 30f und Gerhardt 2007, S. 11. 52 Vgl. Pauen 2011, S. 803. 53 Vgl. Mager 2004, S. 8f. 54 Zur Ideengeschichte der Freiheit und deren Zäsuren: Kimpel 2016, S. 27. 55 Vgl. Noller 2014b, S. 294. 56 Höffe 2007, S. 174. 57 Vgl. Sandkühler 2013, S. 13: „Vermutlich hat kein Gedanke eine so große Wir­ kung auf Fichte und Hegel gehabt, wie Kants Gedanke von einer Selbstgesetzge­ bung als Prinzip der Vernunft. Der Deutsche Idealismus kann, nicht nur unter dem Aspekt der Moralphilosophie, als die anspruchsvolle systemphilosophische Ausformulierung dieses Gedankens verstanden werden.“ 58 KpV V, S. 3. 59 Vgl. Noller 2014b, S. 294. Zu einem ähnlichen Urteil kommen Brandhorst et al. 2012, S. 7: „Keinem Leser der kritischen Philosophie Kants bleibt verborgen, dass Freiheit und Moral im Zentrum stehen.“

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I. Einleitung

natürlich, dass die Entwicklungsgeschichte des Freiheitsbegriffs innerhalb Kants Denkens hinter den systematischen Anspruch zurücktritt. Das darf allerdings nicht so verstanden werden, als ob damit eine stärker entwick­ lungsgeschichtliche Herangehensweise prinzipiell abgelehnt werden wür­ de.60 Allerdings sind wir durch die vergleichende Intention der Untersu­ chung an eine systematische Perspektive gebunden. 2) Um uns einen ersten Zugang zum kantischen Freiheitsbegriff zu erschließen und zu verstehen, worin dessen Besonderheit liegt, wollen wir einen kurzen Blick auf die Freiheitsdebatte in der analytischen Philo­ sophie61 werfen: Hierbei ist es jedoch wichtig, sich vorab eine konstitu­ tive Unterscheidung dieser Debatte zu vergegenwärtigen. Im Gegensatz zur alltäglichen Inanspruchnahme des Freiheitsbegriffs unterscheidet man philosophisch zwischen der Freiheit des Willens und der Freiheit des Han­ delns. Die Handlungsfreiheit besteht darin, das zu tun oder zu lassen, was man will. Dabei wird es als weitgehend unproblematisch erachtet, dass man nicht alles realisieren kann, was man will. Einerseits ist das Handeln durch externe Hindernisse beschränkt, andererseits durch die mangelnde Fähigkeit zur Umsetzung. Die Willensfreiheit besteht analog darin, das zu wollen, was man will. Das Grundproblem der Willensfreiheit ist die Frage danach, was dieses ‚Wollen, was man will‘, überhaupt bedeuten soll und ob die Möglichkeit eines solchen Wollens tatsächlich besteht. Am besten lässt sich dieser Ausdruck wohl als Entscheidungs- oder Wahl­ freiheit verständlich machen.62 Eine Position, die diese abstrakte Möglich­ keit der freien Entscheidung behaupten will, sieht sich aus neuzeitlicher Perspektive immer mit der evidenten Notwendigkeit deterministischer Na­ turgesetzlichkeit konfrontiert.63 Ein konsequenter naturwissenschaftlicher Determinismus scheint prima facie mit der Willensfreiheit unvereinbar zu sein. In der traditionellen Formulierung des Freiheitsproblems, die auch Kant aufgreift, stellt sich damit die Frage, „ob ich in meinen Handlungen

60 Insbesondere Schönecker 2005 und Noller 2014a haben eine solche entwick­ lungsgeschichtliche Herangehensweise in Bezug auf Kants Freiheitsbegriff frucht­ bar gemacht. 61 Nida-Rümelin 2005, S. 15 beschreibt den Anschluss an die Naturwissenschaft als zentralen Impuls der analytischen Philosophie, sich eine kompatibilistische Ausrichtung zu geben. 62 Diese einleitenden Überlegungen folgen der Argumentationslinie von Keil 2017, S. 1ff. 63 Ein anderer Kandidat für das Freiheitsproblem wäre die Allwissenheit und All­ macht Gottes.

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2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl

frei, oder […] an dem Faden der Natur und des Schicksals geleitet sei“.64 Die disjunktive Form der Frage lässt nur zwei Antwortmöglichkeiten zu: Entweder man behauptet die Existenz der Freiheit der menschlichen Hand­ lungen und lehnt den Determinismus ab oder umgekehrt. Die gegenwärtige Forschung macht die Voraussetzung der traditionellen Fragestellung selbst zum Gegenstand. Letztere setzt nämlich gedanklich voraus, dass Determinismus und Freiheit einander ausschließen. Dagegen problematisiert man gegenwärtig auf einer rein begrifflichen Ebene die Vereinbarkeit von Determinismus und Freiheit.65 Erweisen sich beide Konzepte als vereinbar, wäre auch das traditionelle Problem gelöst.66 Hierbei sind prinzipiell zwei Positionen67 denkbar: Sie werden in der Forschung als a) Kompatibilismus und b) Inkompatibilismus bezeichnet. Beide beantworten die Frage nach der Vereinbarkeit von Freiheit und De­ terminismus gegensätzlich.68 Der Kompatibilismus geht von der Verein­ barkeit aus, wohingegen der Inkompatibilismus die Unvereinbarkeit be­ hauptet. Je nachdem ob und wie die einzelnen Vertreter dieser Positionen ontologisch Stellung beziehen, kann man weiter differenzieren. a) Kompatibilismus: Beim deterministischen Kompatibilismus nimmt man an, dass der Determinismus wahr und dieser trotzdem mit der Freiheit vereinbar ist. Der agnostische oder Zwei-Wege-Kompatibilismus bleibt ge­ genüber dem Determinismus indifferent. Selbst wenn der Determinis­ mus wahr sein würde, wäre er mit der Freiheit vereinbar. b) Inkompatibilismus: Die inkompatibilistische Position hingegen lässt sich in harte Deterministen und Libertarianer bzw. Libertarier unterscheiden. Erstere halten den Determinismus für wahr und bestreiten die Existenz der Willensfreiheit. Letztere behaupten das Umgekehrte: Sie bejahen die Willensfreiheit und verneinen den Determinismus.69 Wie Keil geltend macht, ist bei dieser dichotomischen Gegenüberstellung jedoch problematisch, dass eine Vergleichbarkeit der Perspektiven nicht unmittelbar gegeben ist. Es wird weder zwischen noch innerhalb der Po­ sitionen mit einheitlichen Begriffsdefinition gearbeitet. So unterscheiden

64 KrV, B 491. 65 Auf die Beschränkung der Debatte auf die begriffliche Vereinbarkeit weist See­ baß 2006, S. 143 hin. 66 Vgl. Keil 2017, S. 7. 67 Mit dem Impossibilismus sogar strenggenommen drei: Pauen 2011, S. 809. 68 Vgl. Gerlach 2010, S. 46. Die folgende Darstellung bezieht sich insbesondere auf Keil 2018. 69 Vgl. Ebd., S. 10.

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I. Einleitung

sich Kompatibilismus und Inkompatibilismus sowohl hinsichtlich ihres Konzepts des Determinismus als auch hinsichtlich ihres Freiheitsverständ­ nisses.70 Grundsätzlich ist der Determinismus eine These darüber, was der Fall ist. Seine klassische Formulierung als metaphysische These findet der De­ terminismus bei Laplace. Dieser behauptet, dass man „den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands betrachten“71 muss. Der Zustand eines Systems wie der Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt legt also alle folgenden Zu­ stände dieses Systems fest.72 Die Notwendigkeit dieses Zusammenhangs wird seit der Moderne durch die Naturgesetze begründet. Die vollständige Beschreibung eines Zustandes der Welt und die Naturgesetze zusammen­ genommen, bestimmen jeden künftigen Zustand der Welt.73 Umstritten ist jedoch, ob die Naturgesetze Aussagen über empirische Ereignisfolgen ma­ chen. Gesetzt, dies sei der Fall, ist es ebenso fraglich, ob sie die von der De­ terminismusthese geforderte Ausnahmslosigkeit aufweisen. Erschwerend kommt hinzu, dass das ‚Bestimmen‘ zumeist im Sinne von Laplace kausal verstanden wird. Damit wäre das Prinzip des Determinismus und das Kausalprinzip identisch. Dies setzt jedoch ein spezifisches Verständnis von Kausalität voraus: Die Verknüpfung von einem Zustand als Ursache mit einem anderen Zustand als Wirkung erfolgt dabei via (Natur-)Gesetze. Jen­ seits der begrifflichen Probleme, wie Determinismus zu definieren ist, stel­ len sich weitere Fragen: einerseits, ob unsere Welt im Sinne der Definition determiniert ist und anderseits, ob es eine Erkenntnis dieses Umstandes gibt.74 Hinsichtlich des zugrundeliegenden Freiheitsbegriffs muss man zwischen einem relativen bzw. bedingten und absoluten bzw. unbedingten Verständnis unterscheiden. Der Kompatibilismus hält eine Vereinbarkeit von Determi­ nismus und Freiheit nur auf Basis der erstgenannten Lesart für möglich. Freiheit wird hier primär als Handlungsfreiheit verstanden und zwar in dem Sinn, dass man einen Willensentschluss, der ohne innere und äußere Hindernisse zustande gekommen ist, durch Handlungen verwirklichen

70 71 72 73

Vgl. Bojanowski 2006, S. 5, Keil 2017, S. 14f, Keil 2018, 12f. Laplace 1932, S. 6. Vgl. Pauen 2011, S. 805. Zum problematischen Verhältnis von Determinismus und Naturgesetzen: Keil 2018, S. 32f. 74 Vgl. Pauen 2011, S. 805.

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kann.75 Kommen also Wille und Handlung zur Deckung, so besteht Frei­ heit. Diese Definition von Freiheit ist deshalb mit dem Determinismus vereinbar, weil der Wille selbst wiederum als determiniert angesehen wer­ den kann. Es kommt also auf die Art der Determinierung an und nicht darauf, dass Handlungen und Wille gar nicht bestimmt wären.76 Der In­ kompatibilismus hat höhere Anforderungen, um von einem gehaltvollen Begriff von Freiheit sprechen zu können: „Der Kern des inkompatibilis­ tischen Freiheitsbegriffs ist das So-oder-anders-Können unter gegebenen Bedingungen.“77 Aus dem Gedanken der Freiheit als Existenz von alter­ nativen Möglichkeiten ergibt sich für den Inkompatibilismus der funda­ mentale Widerspruch zur These des Determinismus, der nur genau eine Möglichkeit unter gegebenen Bedingungen zulässt. Wenn die These des Determinismus wahr ist, gibt es keine Freiheit und umgekehrt: Wenn es Freiheit gibt, so kann die Determinismusthese nicht wahr sein. Kant einer dieser paradigmatischen Positionen zuzuordnen, bereitet den Interpreten große Schwierigkeiten.78 So wurde er nicht nur als Kompatibi­ list79, sondern ebenso als Inkompatibilist80 bezeichnet. Diese Schwierigkei­ ten resultieren jedoch nicht nur aus einer theoretischen Unschärfe der Ka­ tegorien selbst, sondern ebenso aus der spezifischen Art und Weise, in der sich Kant mit dem Freiheitsproblem auseinandersetzt. Die oben herausprä­ parierten Begriffsbestimmungen von Freiheit und „Naturnotwendigkeit“81 (Determinismus) sind entsprechend unserer Methode nicht einfach zu unterstellen. Sie dienen nur als erste Orientierungspunkte unserer Inter­ pretation. So greift Kant zwar die traditionelle Problemstellung auf, er

75 Keil 2017, S. 59f, Keil 2018, 67, 73, Brandhorst et al. 2012, S. 9f. Besonders deut­ lich Keil 2017, S. 66: „Alle drei [Moore, Schlick und Ayer, B. H.] verstanden unter Freiheit primär die ungehinderte Verwirklichung des eignen Willens, also Handlungsfreiheit, während sie das zusätzliche Verlangen nach Willensfreiheit für irregeleitet hielten.“ 76 Ebd., S. 88. 77 Keil 2018, S. 67. 78 Vgl. Brandhorst et al. 2012, S. 10 und im selben Band insbesondere Bojanowski 2012, S. 59ff. 79 Exemplarisch Horn 2011. 80 Exemplarisch Allison 1990, S. 1, Hervorhebung B. H.: „Nevertheless, it is relative­ ly noncontroversial that at the heart of Kant's account of freedom in all three Critiques and in his major writings on moral philosophy is the problematic conception of transcendental freedom, which is an explicitly indeterminist or incompatibilist conception (requiring an independence of determination by all antecedent causes in the phenomenal world).“ 81 KrV, B 566, KpV V, S. 95.

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reagiert aber nicht auf sie, indem er ausschließlich für den Determinismus oder die Freiheit Stellung beziehen würde. Vielmehr unterläuft er den Widerstreit zwischen den Positionen, indem er die Frage nach der Freiheit der leitenden Frage der KrV und der theoretischen Philosophie überhaupt – „Was kann ich wissen?“82 – unterordnet. a) Entsprechend dieser Perspektive befasst sich Kant nicht mit der Wirk­ lichkeit, d. h. der Erfahrung von Freiheit oder der realen Möglichkeit von Freiheit, verstanden als die empirischen Bedingungen, unter denen Frei­ heit erkennbar wäre. Es geht ihm darum zu eruieren, ob Freiheit logisch möglich, d. h. widerspruchsfrei denkbar, ist.83 Widerspruchsfrei bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die entgegengesetzten Thesen von der Determiniertheit und der Freiheit des menschlichen Handelns miteinan­ der vereinbar sind. Kant bejaht die Vereinbarkeit, was ihn in die Nähe des Kompatibilismus rückt. Er hält den Menschen für gleichzeitig deter­ miniert und frei.84 Allerdings bejaht er die Vereinbarkeit nur unter der Bedingung, dass man zwischen Erscheinung/Sinnenwelt und Ding an sich/ Verstandeswelt unterscheidet.85 Akzeptiert man diese Annahme, sei der Determinismus nicht nur mit einem relativen, sondern mit einem absolu­ ten Begriff von Freiheit vereinbar.86 Freiheit wird dabei als unbedingte, nicht-zeitliche Kausalität bestimmt, „nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein muss“.87 Insofern Kant von einer Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit ausgeht und erstere in einem starken Sinn versteht, könnte man von einem Kompatibilismus mit einem inkompatibilistischen Freiheitsverständnis sprechen.88 b) Das Bestreben Kants, Notwendigkeit mit einem Begriff von unbe­ dingter Freiheit vereinbar zu machen, ist jedoch nicht auf die theoretische Philosophie beschränkt. Sie schlägt sich insbesondere in seiner praktischen

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KrV, B 833. Vgl. KrV, B 586, Heidemann 2010, S. 46. Vgl. KrV, B XXVII. Vgl. KrV, B 564: „Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten.“ 86 Vgl. Pauen 2011, S. 803. 87 RGV VI, S. 49f. Kant grenzt sich in KpV V, S. 96 von einem „komparativen“ Freiheitsbegriff, der dem Kompatibilismus zugrundeliegt, strikt ab. Er sei nur ein „elender Behelf“. 88 Es wird damit der Einschätzung von Rosefeldt 2012, S. 81 gefolgt, der den be­ grifflichen Kern des Kompatibilismus eben in der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit sieht.

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Philosophie nieder. So sei, um überhaupt Moral denken zu können, der ab­ solute Begriff von Freiheit notwendige Voraussetzung: Für seine Handlun­ gen in einem belastbaren moralischen Sinn verantwortlich zu sein, heißt, die Möglichkeit zu haben, anders handeln zu können.89 Die praktische Notwendigkeit manifestiert sich in der Moral in der unbedingten Pflicht, in einer gegebenen Situation auf eine bestimmte Art und Weise zu han­ deln. Sie ist mit der Freiheit vereinbar – und zwar deshalb, weil sie in uns selbst wurzelt. Laut Kant seien alle ihm vorausgehenden Moraltheorien bisher gescheitert, weil sie diesen Zusammenhang nicht erkannt hätten: „Es ist nun kein Wunder, wenn wir auf alle bisherigen Bemühungen, die jemals unternommen worden, um das Prinzip der Sittlichkeit aus­ findig zu machen, zurücksehen, warum sie insgesamt fehlschlagen müssen. Man sah den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebun­ den, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei, und daß er nur ver­ bunden sei, seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allgemeinen gesetzgebenden, Willen gemäß zu handeln.“90 Die Lösung für das moralische Vereinbarkeitsproblem besteht also darin, dass nicht jemand anderes, sondern wir selbst uns verpflichten, moralisch zu handeln: das moralische Gesetz ist Ausdruck unserer Autonomie. Die Freiheit als solche ist zwar nicht erkennbar, aber das moralische Gesetz fungiert als Erkenntnisgrund. Diesen zentralen argumentativen Schritt vollzieht Kant allerdings nicht in der GMS, sondern erst in der KpV. Die KpV steht deshalb im Zentrum unserer Untersuchungen.91 Die GMS spielt nur insofern eine Rolle als diese, wie Kant in der Einleitung der KpV deutlich macht, „mit dem Prinzip der Pflicht [d. h. dem moralischen Gesetz, B. H.] vorläufige Bekanntschaft macht und eine bestimmte Formel derselben angibt und rechtfertigt“.92 c) Schließlich wird dieser Grundgedanke auch in der Rechtsphilosophie entfaltet, wie Kant in der RL systematisch darzulegen versucht. Es stellt sich die Frage, wie und zu was man eine Person verpflichten kann, die sich selbst durch das, was vernünftigerweise geboten wäre, nicht verpflichtet sieht. Notwendigkeit manifestiert sich als der legitime Zwang, den andere

89 Vgl. KrV, B XXIX. 90 GMS IV, S. 432. 91 Zur häufigen Vernachlässigung der KpV gegenüber der GMS und deren Wichtig­ keit für das Kantische System: Noller 2014a, S. 43f, Höffe 2012, Höffe 2011, S. 1ff. 92 KpV V, S. 8.

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über diese Person ausüben können. Hierbei wird deutlich, dass sich die le­ gitime Möglichkeit des Zwangs nur über (äußere) Handlungen erstrecken kann. Damit findet eine Verlagerung von der Willens- zur Handlungsfrei­ heit statt. Vermittelt über die Begründung des Staates a priori versucht Kant zu zeigen, dass die Freiheit der Person – die Legitimität des Zwangs vorausgesetzt – gewahrt bleibt, weil sie Teil eines kollektiven Willens ist, der über sich selbst bestimmt. Nimmt man das Kantische Denken als Ausgangspunkt der Analyse, so kann man berechtigterweise davon ausgehen, dass die Moderne wesentlich darum bemüht ist, Notwendigkeit und Freiheit miteinander zu vereinen. Die formale Bestimmtheit des Begriffs der Freiheit lässt sich als Selbstbe­ stimmung konkretisieren. Freiheit ist daher nicht Unbestimmtheit, son­ dern ein spezifischer Modus der Bestimmtheit.

2.2 Postmoderne: Foucault als Freiheitsdenker Bei der Postmoderne wollen wir uns auf einen ihrer französischen Vorden­ ker und zugleich eine der wichtigsten Ikonen der Bewegung stützen: den Philosophen und Historiker Michel Foucault (1926–1984). Es lassen sich für diese Auswahl sowohl 1) rezeptionsgeschichtliche als auch 2) inhaltli­ che Gründe anführen. 1) Einerseits macht ihn bereits seine unbestreitbare rezeptionsgeschichtli­ che Wirkmächtigkeit einschlägig93: Er gehört zu den meistzitierten Philoso­ phen der Gegenwart – kaum eine Veröffentlichung der Sozialwissenschaf­ ten kommt ohne eine Randnotiz zu ihm aus. Auch sind bedeutende Philo­ sophen, die im weitesten Sinne der Postmoderne zugeordnet werden, wie Judith Butler, Antonio Negri und Michel Hardt, Gorgio Agamben sowie Chantal Mouffe maßgeblich von ihm beeinflusst.94 Kammler et al. lassen sich sogar zu dem Urteil hinreißen, dass es ein Denken ‚vor‘ und ‚nach‘ Foucault gibt – damit wird ihm eine mit Kant vergleichbare Stellung zugeschrieben. Foucault habe „das Feld des Sag-, Sicht- und Bearbeitbaren“ so nachhaltig verändert, dass er eine neue Denkordnung begründet hat.95

93 Susen 2015, S. 31 misst Foucault neben Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein den höchsten Einfluss auf die postmoderne Wende in den Sozialwissenschaften bei. 94 Zur philosophischen Rezeption Foucaults und die Anschlüsse an ihn: Vgl. Kammler et al. 2008, S. 195. 95 Kammler et al. 2020, S. X.

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Wenn also das Konzept der Freiheit tatsächlich von zentraler Wichtigkeit für die Postmoderne sein sollte, dann müsste sich die Frage nach dem post­ modernen Freiheitsverständnis anhand eines ihrer wichtigsten Ideengeber beantworten lassen.96 2) Andererseits sucht, von einem inhaltlichen Standpunkt her betrachtet, die Radikalität von Foucaults Ansatz ihresgleichen: Er ist ein bedingungs­ loser Skeptiker.97 Seine skeptizistische Grundhaltung findet ihren Nie­ derschlag in einer nihilistischen, nominalistischen und historizistischen Methodologie.98 Ausgehend von dieser methodologischen Perspektive un­ tersucht er spezifische historische Praktiken wie den Umgang mit dem Wahnsinn, der Delinquenz oder der Sexualität. Das als universell geglaub­ te Verständnis dieser Konzepte soll als historische Fiktion entlarvt werden: „Ich habe mir vorgenommen […], den Menschen zu zeigen, dass sie […] Dinge als wahr und evident akzeptieren, die zu einem bestimm­ ten Zeitpunkt in der Geschichte hervorgebracht worden sind, und dass man diese so genannten Evidenzen kritisieren und zerstören kann.“99 Nimmt man beide Aspekte zusammen, so erscheint Foucault als adäquater Dialogpartner der theoretischen Auseinandersetzung.100 Aber trotz der pri­ 96 Genannt seien hier nur die Begriffe ‚Diskurs‘, ‚Diskursanalyse‘, ‚Biomacht‘, ‚Gouvernementalität‘ usw. 97 Vgl. DE IV, S. 872f: „Sind Sie, insofern Sie keine universellen Wahrheiten behaup­ ten, […] ein skeptischer Denker? – Unbedingt. Das Einzige, das ich am skepti­ schen Programm nicht akzeptieren werde, ist der von den Skeptikern unter­ nommene Versuch, in einem gegebenen Bereich zu einer bestimmten Anzahl von Ergebnissen zu gelangen – der Skeptizismus ist nämlich niemals ein voll­ ständiger gewesen!“. 98 Diese Charakterisierung nimmt Foucault in RSA, S. 19 selbst vor. Positiv rezi­ piert wurde diese Selbstcharakterisierung von Vogelmann 2017, S. 5, Suárez Müller 2004, S. 21ff sowie insbesondere von Rajchman 1985, S. 2: „The philo­ sophical name I would give this project is not nihilism but scepticism. Foucault is the great sceptic of our times.” 99 DE IV, S. 960. 100 Dabei müssen wir uns nicht nur auf den impliziten Anspruch einer jeden sprachlichen Äußerung verlassen, verstanden werden zu wollen. Vielmehr bekundet Foucault sogar selbst die grundsätzliche Bereitschaft, einem dialogi­ schen Austausch zugänglich zu sein, DE IV, S. 724: „Ich diskutiere gern, auf Fragen, die man mir stellt, bemühe ich mich zu antworten. [..] Im ernsthaften Spiel von Fragen und Antworten, in der Arbeit wechselseitiger Erhellung, sind die Rechte eines jeden gewissermaßen Teil der Diskussion. Sie sind allein an die Situation des Dialogs gebunden. Derjenige, der fragt, macht nur Gebrauch von dem ihm gegebenen Recht: nicht überzeugt zu sein, einen Widerspruch wahr­ zunehmen, zusätzliche Information zu benötigen, unterschiedliche Postulate

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ma facie begründeten Wahl Foucaults als maßgeblicher Autor für die vor­ liegende Fragestellung mag die Entscheidung doch überraschen – und das aus mehreren Gründen: a) Zwar haben wir Foucault – vielleicht vorschnell – als Philosoph bezeichnet, aber diese damit implizierte Einschätzung seines Werkes als ein philosophisches ist damit noch nicht gesichert.101 Nicht nur haben seine veröffentlichten Bücher mehr den Charakter von geschichtlichen oder soziologischen Untersuchungen als philosophischer Abhandlungen und werden deshalb vor allem sozialwissenschaftlich rezi­ piert, auch hat er sich der Bezeichnung seiner Tätigkeit als Philosophie des Öfteren verwehrt. b) Mit dem Begriff ‚Werk‘ stoßen wir auf ein nächstes Problem. Die Ansicht, dass es sich bei seinem Werk, überhaupt um ein solches handelt, ist in der Forschungsliteratur keineswegs gesichert. Man kann sich dabei wiederum auf Aussagen von Foucault selbst stützen.102 Das ist vor allem deshalb problematisch, weil mit dieser Bezeichnung gerade der Selbstanspruch verbunden ist, einen kohärenten Zusammen­ hang der eigenen Aussagen herzustellen, der sich dann hermeneutisch rekonstruieren ließe. Damit scheint sich Foucault bereits vorab, einem her­ meneutischen Zugriff entziehen zu wollen. c) Schließlich wird Foucault gerade in der älteren Forschung normalerweise nur selten unter dem Ge­ sichtspunkt der Freiheit rezipiert.103 Stattdessen stilisiert man ihn zumeist zu einem Machttheoretiker bzw. „Analytiker der Macht“.104 a) Philosophische Lesart: Setzt man, wie von unserer gewählten Methode geboten, primär am Selbstverständnis des Autors an, so trifft man aufein­ ander widerstreitende Aussagen: „Diese Bezeichnung [Philosoph, B. H.] stört mich, weil ich mich selbst nicht als Philosophen verstehe.“105

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geltend zu machen, einen Fehler in der Gedankenführung aufzudecken. Und derjenige, der antwortet, verfügt genauso wenig über ein über die Diskussion selbst hinausgehendes Recht; er ist durch die Logik seines eigenen Diskurses an das, was er zuvor gesagt hat, und durch das Akzeptieren des Dialogs an die Befragung durch den anderen gebunden.“ Sowohl Han 2002, S. 5f als auch Vogelmann 2017, S. 1 nehmen Foucault gegen eine rein sozialwissenschaftliche Lesart in Schutz. Man denke nur an Foucaults Kritik jeglicher vorgefertigter Einheiten wie ‚Werk‘ oder ‚Autor‘ in AW, S. 35ff. Eine Ausnahme bilden hier insbesondere Rajchman 1985 und Patton 1989. Exemplarisch Fink-Eitel 1989, S. 7: „Die bei Foucault verhandelte Sache heißt ‚Macht‘. Es ist seine Überzeugung, daß sie Entwicklungs- und Integrationsprin­ zip unserer Gesellschaft ist.“ DE II, S. 130, Hervorhebung B. H. Ähnliche Aussagen finden sich beispielsweise in DE I, S. 776 oder DE II, S. 888, DE III, S. 487.

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„Doch, alles in allem, [ist] das, was ich tue […] weder Geschichte noch Soziologie noch Ökonomie. Aber es ist wohl etwas, das auf die eine oder andere Weise […] mit der Philosophie zu tun hat“.106 Wie kann man diese Bekundungen in Einklang miteinander bringen? Da­ zu müssen wir uns vergegenwärtigen, dass sich diese unterschiedlichen Zuordnungen nicht auf ein und denselben Begriffsinhalt beziehen. Es sind jeweils unterschiedliche Philosophieverständnisse im Spiel: eines, das Foucault ablehnt und eines, dem er sich offensichtlich zurechnet. Die Ablehnung bezieht sich auf eine Form der Philosophie, die sich mit demjenigen beschäftigt, „was ewig existiert.“107 Diese Beschäftigung mit dem Ewigen ist nach Foucaults Interpretation nicht nur in dem Sinn theo­ retisch, dass sie Reflexion ist, sondern auch deshalb, weil sie primär gelehrt wird, ohne praktiziert zu werden. Die Philosophie stellt im Vergleich zu anderen Bereichen wie den Naturwissenschaften, der Politik oder der Literatur einen autonomen Bereich dar.108 Schließlich hat sie durch ihren Bezug zum Universellen einen umfassenden Anspruch. Demgegenüber steht eine Philosophie, die sagen will, „was ge­ schieht“109, deren Fokus auf der Gegenwart liegt; die nicht lehrend, son­ dern praktizierend ist; die nicht autonom besteht, sondern deren philoso­ phische Einsichten in Auseinandersetzung mit dem Nicht-Philosophischen gewonnen werden müssen.110 Schlussendlich handelt es sich um eine Phi­ losophie, die lokal und begrenzt ist.111 Einer solchen Vorstellung von Philosophie rechnet sich Foucault uneingeschränkt zu. Damit deutet sich die Vorstellung einer vollkommen anderen (postmodernen) Philosophie an, die wir bereits eingangs versucht haben, begrifflich zu fassen: „Die Bewegung, in der wir uns nicht ohne tastende Versuche, Träume und Illusionen von dem lösen, was als wahr gilt, und nach anderen Spielregeln suchen – diese Bewegung ist Philosophie. Die Verschiebung und Transformation des Denkrahmens, die Veränderung der über­ kommenen Werte, die ganzen Bemühungen, anders zu denken, zu handeln und zu sein – all das ist Philosophie.“112

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STB, S. 15. DE I, S. 745. Vgl. DE II, S. 131f. DE I, S. 745. Vgl. Vogelmann 2017, S. 33. Stellvertretend für eine Vielzahl an Äußerungen derselben Art: DE II, S. 384. DE IV, S. 136, Hervorhebung B. H.

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Für unsere Zwecke ist im Moment entscheidend, dass wir mit Foucaults Festhalten am Begriff der Philosophie begründeterweise davon ausgehen dürfen, in den Texten eine argumentative Struktur rekonstruieren zu kön­ nen. b) Systematische Lesart: Selbst wenn wir aber davon ausgehen können, dass einzelne Texte in sich eine kohärente Argumentation entfalten, dann ist noch nicht gesichert, dass diese Texte im Verhältnis zueinander ein wohlgeordnetes Ganzes bilden. Gerade die Möglichkeit einer solchen sys­ tematischen Lesart Foucaults ist in der Sekundärliteratur seit jeher umstrit­ ten. Das ist in unserem Fall besonders deshalb problematisch, weil der Begriff der Freiheit zwar an vielen Stellen bei Foucault auftaucht, nie aber dezidiert systematisch behandelt wird. Die Rekonstruktion bezieht deshalb nicht nur die veröffentlichten Bücher Foucaults, sondern auch die mittler­ weile vollständig vorliegenden Vorlesungen aus seiner Zeit am Collège de France (1970–1984) und die gesammelten kleineren Schriften, Interviews und Vorträge (Dits et Ecrits I-IV) mit ein. Vertreter einer diskontinuierlichen Lesart können sich mit gutem Recht auf Foucaults zahlreiche einschlägige Bemerkungen berufen. Nicht nur die vielbeschworene „Werkzeugkiste“113, sondern auch die offen zur Schau ge­ stellte Verweigerungshaltung gegenüber wissenschaftlichen Konventionen trägt zu dieser Interpretationsweise bei: „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben.“114 „Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. Als Theoretiker be­ zeichne ich jemanden, der ein allgemeines System errichtet, sei es ein deduktives oder ein analytisches, und es immer in der gleichen Weise auf unterschiedliche Bereiche anwendet. Das ist nicht mein Fall.“115 Ein disparater Begriffsapparat und ein teilweise unvermittelter Wechsel der Untersuchungsfelder scheinen den Eindruck abzurunden.116 Konse­

113 DE II, S. 897. Der Kontext des Zitats wird dabei notorisch zu wenig beachtet. Es geht Foucault hier um die praktische Verwendbarkeit seiner Bücher in den ge­ sellschaftlichen Machtkämpfen und weniger um die Frage der internen Logik. 114 AW, S. 30. 115 DE IV, S. 52. 116 Es ist deshalb nur folgerichtig, dass sich eine Vielzahl an Einführungen in Foucaults Denken mehr wie aneinandergereihte Exzerpte seiner Bücher lesen, als einen kohärenten Denkzusammenhang zu erschließen.

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quenterweise war lange Zeit eine Interpretation dominant, die von abge­ schlossenen Schaffensperioden ausgeht. Dabei wird zwischen einer noch phänomenologischen Protophase und der Entwicklung eines eigenen An­ satzes mit dem Erscheinen von WG und GdK unterschieden. Letztere wird wiederum in drei Phasen unterteilt: eine erste archäologische Phase des Wissens (OD, AW), eine zweite genealogische Phase der Macht (ÜS, SW1) und eine dritte ethische Phase (SW2, SW3).117 Der Übergang zwischen die­ sen Phasen wird als grundlegender methodischer und inhaltlicher Bruch verstanden.118 Allerdings kann man dieser Lesart ebenso viele, wenn nicht sogar mehr Bemerkungen Foucaults gegenüberstellen, in denen er um eine Sys­ tematisierung seines Denkens bemüht ist. So finden sich fast in jedem Vortrag, jeder Vorlesung und in jedem seiner Bücher Überlegungen, die versuchen, die bisher betriebene Forschung unter einem systematischen Gesichtspunkt zu betrachten. Foucault bemerkt auf seine vermeintliche Unberechenbarkeit hin angesprochen: „Manchmal freilich komme ich mir selbst allzu systematisch und ri­ gide vor. Bisher habe ich drei traditionelle Probleme untersucht: 1. Welches Verhältnis haben wir zur Wahrheit durch wissenschaftliche Erkenntnis, zu jenen ‚Wahrheitsspielen‘, die so große Bedeutung in der Zivilisation besitzen und deren Subjekt und Objekt wir gleicher­ maßen sind? 2. Welches Verhältnis haben wir aufgrund dieser seltsa­ men Strategien und Machtbeziehungen zu den anderen? 3. Welche Beziehungen bestehen zwischen Wahrheit, Macht und Selbst? Ich möchte all das mit einer Frage beschließen: Was könnte klassischer sein als diese Fragen und systematischer als der Weg von Frage eins über Frage zwei zu Frage drei und zurück zu Frage eins. Genau an diesem Punkt bin ich jetzt.“119 Foucault scheint sich also durchaus bewusst zu sein, dass sein Denken einer Systematik entspricht, die nicht einfach beliebig ist, sondern der Logik der verhandelten Sachfragen folgt. Es stellt sich dann allerdings die Frage, wie man mit diesem wider­ sprüchlichen Befund umgeht. Man könnte natürlich die beiden Arten von Aussagen gegeneinander abwägen und je nach eigener Präferenz einmal

117 Die Darstellung folgt weitestgehend Raffnsøe et al. 2011, S. 23f. 118 Besonders prominent: Dreyfus/Rabinow 1987 und in deren Nachfolge exempla­ risch Han 2002. 119 DE IV, S. 965f.

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für die eine, mal für die andere Lesart plädieren. Dann liefe man aber bereits auf dieser vorgängigen Ebene der Interpretation Gefahr, einen ex­ ternen Maßstab an das Denken des anderen anzulegen. Subtiler scheint es zu sein, den Gegenstandsbereich der Aussagen einzuschränken und sie daher miteinander vereinbar zu machen. Der Vorschlag der hier unter­ breitet werden soll, besteht darin, zwischen einer inhaltlichen und einer methodologischen Ebene zu differenzieren.120 Während die konkreten Untersuchungsgegenstände und -felder fluktuieren, wird auf der metho­ dologischen Ebene von einer weitgehenden Konstanz und Kohärenz der Perspektive ausgegangen.121 Der in der Forschung weitgehend akzeptier­ ten Dreiteilung des Werks soll insofern gefolgt werden, als damit eine Verschiebung des schwerpunktmäßigen Forschungsfeldes (Wissen, Macht und Ethik) angedeutet ist. Es handelt sich jedoch keineswegs um eine fundamentale Diskontinuität in der Grundausrichtung. Damit soll nicht geleugnet werden, dass es auch auf dieser Ebene Entwicklungen und Ak­ zentverschiebungen des Foucaultschen Denkens gegeben hat. Der Fokus

120 Nur wenige Autoren wie Sarasin 2006, S. 13 gehen davon aus, dass Foucault gar keine Methode hat: „Foucault hat keine Methode.“ Er bewertet den Ausspruch Foucaults, dass eine Anpassung der Methode an den jeweiligen Untersuchungs­ gegenstand notwendig ist, als eine generelle Abkehr von einer einheitlichen Methode. Wenn Sarasin allerdings gleichzeitig eine weitgehende Konstanz der Analysegegenstände behauptet (S. 12), ist es schlichtweg unverständlich, wieso man dann selbst aus seiner Perspektive nicht von einer Konstanz der verwende­ ten Methoden ausgehen sollte. 121 Zu dieser methodologischen Lesart Foucaults: Vogelmann 2014 und Vogel­ mann 2017, der sich hier insbesondere von Saar 2007 inspirieren lässt. Saar zeigt in einem Vergleich von Nietzsche und Foucault, dass es Foucault nicht um eine kohärente Theorie geht, sondern um den Kritikmodus der Genealogie. Saar geht, wie Schubert 2018, S. 22 zeigt, davon aus, dass Foucault diesen Kritik­ modus kohärent vertreten kann. In Richtung einer methodologischen Lesart ar­ gumentieren auch Raffnsøe et al. 2011, S. 53: „Die verschiedenen Phasen lassen sich vielmehr als Ausdruck eines ganz bestimmten Grundanliegens verstehen, das sich unter veränderten Bedingungen stets neu zu Wort meldet.“ Auch Ra­ jchman 1985, S. 2 geht von einem kohärenten Projekt Foucaults aus; ebenso Djaballah 2008, S. 20, der die methodologische Ebene in Zusammenhang mit Kants Kritik bringt: „In Foucault’s texts, one can distinguish three fields of ana­ lysis that correspond to three forms of experience: epistemic relations embodied in discursive practices, power relations embodied in political practices, and ipseic relations embodied in ethical practices. Among these, however, there is a single and specifiable theoretical grid that is applied in various ways according to the field under analysis. This grid is generated from and regulated by the practice of Kantian criticism within which Foucault’s discourse functions.“ (Hervorhebung B. H.) Schließlich bestätigt diese Lesart auch Suárez Müller 2004, S. 28.

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der Interpretation liegt aber darauf, die methodologische Grundausrich­ tung vom höchsten Punkt ihrer eigenen Reflexion zu erfassen (subjektiver Sinn) und sie dann in Bezug auf ihre logischen Konsequenzen zumindest dort, wo es angebracht scheint, zu überschreiten (objektiver Sinn). Das scheint insofern auch gut zu Gehrings Diktum über Foucault zu passen, dass es sich hierbei um eine Philosophie handelt, deren Kern „aus den ma­ terialreichen Arbeiten erst herauspräpariert werden muss.“122 Die Adäquat­ heit des Verfahrens kann sich jedoch nur in der konkreten, textbasierten Auseinandersetzung erweisen und zwar insofern es gelingt, die teilweise widersprüchlichen Aussagen Foucaults in ein kohärentes System einzufü­ gen. Dann wären – vielleicht sogar gegen den Willen des Autors – Grund­ prämissen dieses Denkens erkennbar.123 Vorab kann nur eine möglichst hohe Transparenz des eigenen Vorgehens erreicht werden. c) Macht vs. Freiheit: Ausgehend von diesen weitgehend formalen Über­ legungen stoßen wir auf ein inhaltliches Problem: Hat Foucault überhaupt ein substanzielles Konzept der Freiheit? Ist sein primärer Forschungsgegen­ stand nicht das Phänomen der Macht? Die Wahrnehmung Foucaults als ein Denker der Macht hat vor allem rezeptionsgeschichtliche Gründe, die mit dem großen Erfolg seiner auf Macht zentrierten Bücher ÜS und SW1 und der erst langsamen Erschließung seiner zahlreichen Vorlesungen zu­ sammenhängen. Sie ist aber auf Basis der interpretatorischen Perspektive, die wir gerade plausibilisiert haben, nicht zu rechtfertigen. Wie Foucault in dem wichtigen Aufsatz „Subjekt und Macht“ pointiert darstellt, lässt sein Konzept der Macht eine von der Sekundärliteratur betriebene Reduk­ tion seines Ansatzes auf diesen Einzelaspekt gar nicht zu.124 Macht und Freiheit bedingen sich nämlich gegenseitig: „Wenn man Machtausübung als ein auf Handeln gerichtetes Handeln definiert […], dann schließt man darin ein wichtiges Element ein, nämlich das der Freiheit. Macht kann nur über ‚freie Subjekte‘ ausge­ übt werden, insofern sie ‚frei‘ sind“125

122 Gehring 2007, S. 32. 123 Auch wenn Foucault in DE IV, S. 53 behauptet, dass es „nicht eine allgemeine Methode“ gibt, die für andere oder für ihn definitiv gültig wäre, so wird schon dadurch eine Konstanz des Denkens deutlich, dass er nicht beispielsweise in dem einen Buch eine idealistische und im anderen eine materialistische Posi­ tion einnimmt. 124 DE IV, S. 269-294. 125 DE IV, S. 287, Hervorhebung B. H.

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Der vorherrschenden Vereinseitigung auf das Konzept der Macht wird in der neueren Forschung ein ausgewogeneres Bild des Foucaultschen Werkes entgegengestellt. In diesem findet der Begriff der Freiheit durchaus seinen Platz. Allerdings wird das Freiheitsverständnis meistens im Rahmen anderer Fragestellungen – Ethik, Verantwortung, Anerkennung, Pädago­ gik usw. – behandelt, häufig jedoch ohne es selbst als systematisch zu analysierenden Gegenstand in Betracht zu ziehen.126 Hierbei zeichnen sich in der Forschungsliteratur insbesondere zwei alternative Interpretationen ab: Entweder wird Freiheit bei Foucault als Begriff erster Ordnung oder als Begriff zweiter Ordnung verstanden.127 Befürworter letzterer Lesart stützen sich insbesondere auf den Anspruch Foucaults, Ethnologe der eigenen Kultur zu sein, und die damit verknüpf­ te skeptische Methodologie. Der Begriffsgehalt der Freiheit wäre hierbei das Resultat einer Beobachtung zweiter Ordnung, d. h. einer Beobachtung von Beobachtern. Freiheit käme nur insofern in den Blick, als sie ein Be­ griff ist, der im Diskurs zirkuliert und der als Korrelat von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken hervorgebracht wird. Da die Bedingungen der Möglichkeit der Praktiken, die Praktiken selbst und die Reflexion auf diese Praktiken historisch differieren, sind die verschiedenen konstituierten Frei­ heitsräume irreduzibel und somit nicht vergleichbar. Freiheit würde somit als ein rein analytischer und nicht als normativer Begriff von Foucault verwendet.128

126 Vgl. Lepold 2014, Kärtner 2016, Vogelmann 2017, Riefling 2013, Mazumdar 2015b, Oksala 2005. Der Sammelband von Mazumdar und Oksalas Dissertation bilden hier eine der wenigen Ausnahmen. Hervorzuheben ist auch der Sam­ melband von Taylor 2011, in dem das Konzept der Freiheit sogar denselben Stellenwert einnimmt wie Macht und Subjektivität. Eine Untersuchung wie die von Schubert 2018 nimmt zwar den Freiheitbegriff bei Foucault ernst, hat jedoch kein hermeneutisches, sondern ein systematisches Ziel (S. 13f, 34). Die Systematik besteht in der Analyse der Rezeption Foucaults Freiheitsbegriffs in der Sozialphilosophie und politischen Theorie. Gegenstand ist nicht Foucault selbst, sondern die an ihn anschließenden Theorien, „die durch ihre sozialphi­ losophische Fragestellung immer schon mit Foucault über ihn hinausgehen“ (S. 15). Schubert erkennt zwar an, dass Freiheit innerhalb des Foucaultschen Ansatzes nicht konsistent denkbar ist („Freiheitsproblem der Subjektivierung“), daraus jedoch die Konsequenz zu ziehen man könne am Foucaultschen Projekt festhalten, wenn man einige Elemente dieses Denkens fallen ließe (S. 23f, 255f), ist zumindest aus hermeneutischer Perspektive unzureichend. 127 Vgl. Heidenreich 2015, S. 77f, Kärtner 2016, S. 311ff. 128 Exemplarisch für diese Lesart: Saar 2007, S. 38, Lemke 1997. Auch Seebach/Feu­ stel 2008 machen in der Replik auf die weiter unten vorgestellte Lesart von Sarasin den Freiheitsbegriff zweiter Ordnung geltend.

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2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl

Dem gegenüber steht eine Vielzahl an Äußerungen Foucaults, die nicht nur eine Bezugnahme auf Freiheit als diskursanalytischen Begriff, sondern als eigener Wert nahelegen. Hierzu sei nochmals auf den bereits eingangs erwähnten Ausspruch Foucaults verwiesen: Er habe sich „vorgenommen […], den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen“129 Begreift man Freiheit in diesem Zusammenhang als eine Beobachtung erster Ordnung, so unterstellt man einen mehr oder minder expliziten Bezug auf einen spezifischen Gehalt von Freiheit. Freiheit würde somit als ein normativ erstrebenswertes Ziel proklamiert werden. Damit würde das normative Moment dem analytischen übergeordnet. Allerdings stellt sich die Frage, auf welcher Ebene Foucault sich positiv auf den Begriff erster Ordnung bezieht. Insbesondere Foucaults Analysen der Gouverne­ mentalität und der antiken Selbstpraktiken werden so gedeutet, dass es sich hierbei um ein von Foucault favorisiertes Modell der Politik bzw. der Ethik handeln könnte. Im ersten Fall liest beispielsweise Sarasin Foucaults Vorlesungen zur Freiheit im Neoliberalismus als ein „Bekenntnis zu einer Gouvernementalität, die unter dem Titel ‚Libera­ lismus‘ idealiter die staatliche Intervention in das Leben der Individuen auf das Niveau der allgemeinen Spielregeln zurückfährt und maximale Diversität erlaubt.“130 Im Bereich der Ethik werden Foucaults historische Untersuchungen der antiken Selbstsorge als Leitideal für ein zeitgenössisches Ethikkonzept ver­ standen.131 Foucault selbst widerspricht jedoch schon zu seinen Lebzeiten wiederholt in beiden genannten Fällen einer solchen Lesart.132 Problema­ tisch bleibt jedoch, worin die Normativität des Begriffs eigentlich liegt, wenn sein Gehalt sich nicht durch ein konkretes Ideal bestimmen lässt.

129 DE IV, S. 960, Hervorhebung B. H. 130 Sarasin 2007, S. 479. 131 Exemplarisch: Reichenbach 2000, S. 180: „Das Interesse Foucaults ist weniger historisch als moraltheoretisch: er will die Selbstsorge als ein zeitgenössisches ethisches Konzept etablieren.“ 132 Exemplarisch für Foucaults Einschätzung des Neoliberalismus, DE IV, S. 643: „Zu jener Zeit galt Schweden als ein viel liberaleres Land. Dort habe ich allerdings entdeckt, dass eine bestimmte Art Freiheit zwar nicht dieselben Wir­ kungen, zumindest aber ebenso große restriktive Wirkungen haben konnte wie eine direkt restriktive Gesellschaft.“ Foucault wendet sich in DE IV, S. 823 auch entschieden gegen die Einordnung als Libertärer. In Bezug auf Ethik: DE IV, S. 465.

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I. Einleitung

Wenn man Foucault nicht einen plumpen „Kryptonormativismus“133 oder einen „verborgenen Idealismus“134 unterstellen will, bei dem die Be­ obachtungen zweiter Ordnung auf einer impliziten Beobachtung erster Ordnung basiert, so müsste man die Vereinseitigung auf eine der beiden Perspektiven aufgeben. Damit wäre nicht nach einem in ihrer Verknüp­ fung zufälligen, sondern nach einem systematisch notwendigen Zusam­ menhang zwischen beiden Blickwinkeln zu suchen.135 Die Systematik des Ansatzes bestünde darin zu fragen, inwiefern ein durch Beobachtung zwei­ ter Ordnung skeptisch ausgehöhlter Begriff der Freiheit als substanzieller Begriff erster Ordnung dienen kann und umgekehrt, wie der Begriff erster Ordnung eine Analyse des Begriffs zweiter Ordnung motiviert. Diese Ver­ bindung erschließt sich jedoch nur, wenn es gelingt zu zeigen, wie Fou­ cault versucht Skepsis und Freiheit zusammenzudenken.136 Die zentrale These der vorliegenden Arbeit ist es, dass das Bindeglied zwischen Skepsis und Freiheit die Entgegensetzung zur Notwendigkeit ist. Notwendigkeit ist der Skepsis ebenso entgegengesetzt wie der Freiheit. Deshalb kann Foucault konstatieren, dass sich alle seine Untersuchungen „gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschlichen Dasein“ richten. Sie sollen entdecken helfen, „wie willkürlich Institutionen sind, welche Freiheit wir immer noch haben und wie viel Wandel immer noch mög­ lich ist.“137 Niemals etwas als notwendig, d. h. „als endgültig, sakrosankt, selbstverständlich oder unbeweglich zu akzeptieren“, ist für ihn „die Quel­ le der menschlichen Freiheit“.138 Damit ist allerdings noch nicht klar, worin Freiheit für Foucault be­ steht. Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit scheint eine inkompatibilistische Position nahezulegen. Allerdings stehen wir hier vor ähnlichen exegetischen Schwierigkeiten wie bei Kant. So sind Kompati­ bilismus und Inkompatibilismus Thesen über die Vereinbarkeit von Wil­ 133 134 135 136

Habermas 1986, S. 324ff. Suárez Müller 2004, S. 90. Ähnlich argumentiert auch Rajchman 1985, S. 2. Vgl. Ebd., S. 4: „To question the self-evidence of a form of experience, know­ ledge, or power, is to free it for our purposes, to open new possibilities for thought or action. Such freedom is the ethical principle of Foucault’s scepti­ cism”. 137 DE IV, S. 961, Hervorhebung B. H. 138 Foucault 1988, S. 1, eigene Übersetzung: „In a sense, I am a moralist. I am a moralist inasmuch as I think that one of the tasks, one of the meanings of human existence, that in which man’s freedom consists, is never to accept anything as definitive, sacrosanct, self- evident, or fixed. No reality must dictate to us a definitive and inhuman law.“

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2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl

lensfreiheit und Naturnotwendigkeit. Die Unterscheidung von Willensund Handlungsfreiheit wird jedoch von Foucault systematisch unterlau­ fen.139 Foucault ist bekennender „Nietzscheaner“140 und lehnt, wie wir noch eingehender sehen werden, die Unterscheidung von Handlung und Subjekt bzw. Wille ab. Es sei hier an die berühmte Stelle aus der Genealo­ gie der Moral erinnert: „Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Sub­ strat gäbe, dem es f r e i stünde, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein „Sein“ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedich­ tet, — das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dassel­ be Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung.“141 Nietzsche stellt hier klar fest, dass das Subjekt die Handlung ist. Dement­ sprechend ist bei Foucault auch nie von Willensfreiheit die Rede, sondern

139 Hippler 2012, S. 128 spricht bei Foucault von der „Entkopplung der Freiheit von einer metaphysischen Willensfreiheit“. Auch Lindner 2008, S. 215 bemerkt und kritisiert diese Gleichsetzung von Handlungs- und Entscheidungsfreiheit. Der Gedanke folgt auch aus dem durch Macherey 1991, S. 187 rekonstruierten Normenverständnisses von Foucault. Wenn man den Willen ganz allgemein als Norm der Handlung fasst, so gilt auch hier, dass „die Norm […] nur geschicht­ lich im Verhältnis zu den sie verwirklichenden Prozessen, gedacht werden“ kann. 140 DE IV, S. 868f: „Ich bin einfach Nietzscheaner und versuche so weit wie mög­ lich, was eine gewisse Anzahl von Punkten betrifft, mit Hilfe von Texten Nietz­ sches – aber auch mit antinietzscheanischen Thesen (die gleichwohl nietzschea­ nisch sind!) – herauszufinden, was man in diesem oder jenem Bereich machen kann.“ 141 Nietzsche, KSA 5, S. 279. Ob man Nietzsche damit ein deterministisches Welt­ bild unterstellen kann, ist in der Forschung umstritten. Für unsere Zwecke ist es zentral, zu zeigen, dass man mit Nietzsche die Einheit von Willen (Subjekt) und Handlung begründen kann. Diesen Gedanken greift übrigens auch Butler 2021, S. 49 affirmativ auf. Sie zieht daraus die Konsequenz, dass die gender iden­ tity gerade performativ durch Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender) konstituiert wird.

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I. Einleitung

Freiheit wird immer als Freiheit des Handelns verstanden.142 Wenn Fou­ cault vom Willen spricht, dann als entpersonalisierter und nicht-intentio­ naler Wille.143 Der Einstieg in das Freiheitsproblem vollzieht sich bei Foucault mit­ hin in der Umkehrung zur traditionellen Perspektive. Die Freiheit wird primär nicht durch den Determinismus der Naturgesetze eingeschränkt, sondern in aller erster Linie durch das Handeln anderer unter gesellschaft­ lichen Bedingungen: Wahrheit, Richtigkeit und Legitimität sind schon immer gesellschaftlich und historisch gerahmt. Damit ist die Frage nach der Wahrheit des Naturdeterminismus immer nur relativ zu diesen gesell­ schaftlichen Systemen beantwortbar.144

142 Exemplarisch sei hier auf DE II, S. 277 verwiesen, wo Foucault unverhohlen auf Nietzsche rekurriert: „der Humanismus ist all das, wodurch man im Wes­ ten den Wunsch nach Macht versperrt hat – all das, was den Menschen dort verbietet, Macht zu wollen, und die Möglichkeit ausschließt, nach der Macht zu greifen. Den Kern des Humanismus bildet die Theorie des Subjekts (in der Doppelbedeutung des Wortes). Deshalb wehrt der Westen sich so heftig gegen alles, was diesen Riegel sprengen könnte. Und diesen Riegel kann man auf zwei Arten zu sprengen versuchen: indem man den Willen zur Macht aus seiner Unterwerfung herausführt (das heißt durch politischen Kampf im Sinne von Klassenkampf), oder indem man das Subjekt als Scheinsubjekt zerstört.“ Dieses Schema scheint Foucault allerdings in einem vor Kurzem aufgetauch­ ten Interview aus den späten 70ern zu durchbrechen (Foucault 2018, S. 369f, eigene Übersetzung): „Ich denke, wir entkommen dem Universalismus [des Humanismus], wenn wir sagen, dass letztlich das Subjekt nichts anderes ist als die Wirkung eines..., na ja, was durch einen Willen bestimmt wird. Ein Wille ist die eigentliche Aktivität des Subjekts. Um die Wahrheit zu sagen, vermute ich, dass die Person, der ich mich mit Höchstgeschwindigkeit nähere, und zwar nicht wegen seines Humanismus, sondern gerade wegen seiner Auffassung von Freiheit, Sartre ist. Und Fichte.“ Vorher behauptet er sogar, dass „der Wille der reine Akt des Subjektes ist. Und dass das Subjekt, das ist, was durch einen Willensakt festgelegt wird.“ Allerdings stehen diese Aussagen für Foucault unter Vorbehalt (S. 363) und sie haben in dieser Form auch keinen Niederschlag mehr in seinen Schriften gefunden. 143 So unterscheidet Foucault z. B. in ÜWW, S. 17 den Willen zur Wahrheit und den Willen zum Wissen. Der Wille zum Wissen, um den es Foucault vor allem geht, ist ein Wille, der „das System Wahrheit-Irrtum setzt und durchsetzt“. Dieser ist jedoch von den Begriffen „Wunsch oder Streben“ abzugrenzen, mit dem man sie normalerweise identifiziert. 144 Wie wir gesehen haben, sieht sich die Philosophie vor allem deshalb genötigt Konzessionen in Bezug auf den Determinismus zu machen, weil sie an am Weltbild der Naturwissenschaften – oder zumindest an der Vorstellung, die sie von den Naturwissenschaften hat – festhalten will. Hier sind auch die Überlegungen von Kögler 2020, S. 488ff zu einer kritischen Betrachtung der

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2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl

Foucault macht zwar gegen die Notwendigkeit die Freiheit des Andershandeln-Können geltend.145 Dieses Können ist jedoch niemals ein unbe­ dingtes Anfangen, ein Neu-anfangen-Können. Es ist immer in einen kon­ kreten Möglichkeitsraum des Handelns eingebettet, der sich historisch explizieren lässt. Wäre der Möglichkeitsraum ein anderer gewesen, so wäre auch das konkrete historische Handeln ein anderes gewesen. Hier zeich­ net sich also ein Freiheitsverständnis ab, das man unter den genannten Einschränkungen als kompatibilistisch bezeichnen könnte: Es handelt sich um einen relativen Freiheitsbegriff, der Freiheit als Realisation von Hand­ lungen vor dem Hintergrund eines konkreten Möglichkeitsraums begreift. Die Pointe des Foucaultschen Ansatzes ist allerdings, dass dieser Möglich­ keitsraum selbst kontingent ist. Er geht nicht einfach notwendig aus dem vorgehenden Zustand hervor. Diese metahistorische Kontingenz wird ge­ gen die Notwendigkeit in der jeweiligen konkreten Situation geltend ge­ macht. Diese Perspektive lässt sich mit Blick auf die drei von Foucault näher erörterten Gegenstandsbereiche noch konkretisieren. Auf der Ebene des Wissens liegt die Notwendigkeit in der Wahrheit; auf der Ebene des Handelns erfahren wir Notwendigkeit als Legitimität von Macht; auf der Ebene des Selbstverhältnisses tritt uns Notwendigkeit als Authentizitäts­ anspruch entgegen. Diesen Modi der Notwendigkeit stellt Foucault drei Modi der Freiheit entgegen: Fiktion, Widerstand und Selbstveränderung. Wenn man den Begriff des Inkompatibilismus also in seiner Grundbe­ deutung als Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit aufnimmt, so kann man mit Blick auf Foucault von einem Inkompatibilismus mit kompatibilistischem Freiheitsbegriff sprechen. Von Foucault ausgehend kann man das postmoderne Denken als wesentlich von der Unvereinbar­ keit von Freiheit und Notwendigkeit charakterisiert betrachten. Freiheit und Notwendigkeit treten in Widerspruch zueinander, weil Freiheit Un­ bestimmtheit, im Sinne eines So-oder-anders, bedeutet, während Notwen­ digkeit Bestimmtheit, so und nicht anders, ausdrückt. Freiheit ist unbe­

Naturwissenschaften in Anschluss an Foucault relevant: „Anstatt das interne und realistische Selbstverständnis der naturwissenschaftlichen Disziplinen zu teilen und von dort aus eine normative Rekonstruktion der Rechtfertigbarkeit ihrer jeweiligen Geltungsansprüche zu unternehmen, geht es demgegenüber um eine Dekonstruktion der naturwissenschaftlichen Realitätsbilder, deren Ent­ stehung aus lokalen, kontingenten, und oftmals machtbestimmten Kontexten nachgewiesen werden soll.“ Das muss natürlich in besonderem Maße den De­ terminismus betreffen. 145 Vgl. DE IV, S. 965: „Ich glaube an die Freiheit der Menschen. In der gleichen Situation reagieren sie sehr unterschiedlich.“

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I. Einleitung

schränkte Möglichkeit – ohne jedoch als solche realisiert werden zu kön­ nen.

2.3 Vergleichende Perspektiven Bisher haben wir versucht, die Auswahl Kants und Foucaults getrennt voneinander zu plausibilisieren. Es hat sich gezeigt, dass man beide Denk­ ansätze als systematische Gegensätze fassen kann: als Kompatibilismus mit inkompatibilistischem Freiheitsbegriff und als Inkompatibilismus mit kompati­ bilistischem Freiheitsbegriff. Damit ist eine erste Konkretisierung des Frei­ heitsdenkens der Moderne und Postmoderne erreicht. Der Vergleich lässt sich jedoch nicht nur strukturell rechtfertigen. Es besteht ebenso ein inter­ ner Bezug zwischen den Autoren. So scheint Foucault, die oben angeführte Einschätzung Schnädelbachs zu Kant insofern zu teilen, als er davon ausgeht, dass in Kants Werk das Denken der Moderne präfiguriert ist – einem Denken, aus dem „wir wahrscheinlich noch nicht ganz herausgekommen sind.“146 Da Foucault jeglicher Notwendigkeit im menschlichen Denken kritisch gegenübersteht und Kant in paradigmatischer Weise den Ursprung der Notwendigkeit im Denken durch die Strukturen des Subjektes bestimmt hat, liegt es nahe, dass sich Foucault auch in kritischer Art und Weise mit Kant aus­ einandersetzt.147 Diese Auseinandersetzung erfolgt tatsächlich und kreist prima facie um das Konzept des Transzendentalen. So beschränkt der transzendentale Idealismus Kants die (Selbst-) Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung. Das Kontinuum der Erfahrung, in dem Erkenntnis möglich ist, wird durch das ‚Ding an sich‘ und das ‚transzendentale Sub­ jekt‘ begrenzt. Beides sind jedoch ausschließlich negative Grenzbegriffe, welche die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis auf Seiten des Objekts (Ding an sich) und auf Seiten des Subjekts (transzendentales Sub­ jekt) bestimmen.148 Das Ding an sich als Ursache von Erscheinung wirkt kausal auf das Subjekt ein und bringt somit Erscheinungen in ihm hervor. Das transzendentale Subjekt beschreibt die Einheit des Selbstbewusstseins 146 OD, S. 273. 147 Insbesondere ist hier neben OD Foucaults Einführung in Kants Anthropologie zu nennen (EKA.). Foucault prüft hier die Frage, ob der Transzendentalphiloso­ phie eine versteckte Anthropologie zugrunde liegt. In EKA, S. 76 konstatiert er, dass die „Anthropologie […] nichts anderes [sagt] als die Kritik.“ Folgende Überlegungen wurden bereits in Hahn 2019 referiert. 148 Vgl. KrV, B 311.

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2. Forschungsstand und Begründung der Autorenwahl

als notwendige Bedingung für jedwede Erkenntnis. Darüber hinaus gibt es jedoch für Kant keinerlei positive (theoretische) Erkenntnis dieser Grenz­ begriffe. In Foucaults Interpretation löst sich die moderne Philosophie nach Kant jedoch von der Nicht-Erkennbarkeit des Transzendentalen und strebt nach dessen positiver Erkenntnis. Das Transzendentale wird durch die Frage danach, was der Mensch universell ist, anthropologisch gewen­ det. Foucault begegnet der anthropologischen Essentialisierung damit, „je­ den Bezug auf das Transzendentale […] zu vermeiden.“149 Dieser Bezug auf Kant ist jedoch nicht so negativ, wie es den Eindruck erweckt. Fou­ cault bezieht sich mit dem Begriff des ‚historischen Apriori‘, dem Konzept der ‚Kritik‘ und der ‚Aufklärung‘ immer wieder positiv auf Kant. Dieses schwierige Verhältnis Foucaults zu Kant, welches sich hier abzeichnet, wird in der Literatur durchaus häufig angemerkt. So spricht beispielsweise Gilles Deleuze von Foucaults „eigentümlichen Neukantianismus“150 oder Paul Veyne von einem „historischen Kantianismus“151 bei Foucault. Diese versprengten Bemerkungen haben bisher jedoch kaum zu systematischen Untersuchungen angeregt.152 Eine Ausnahme bildet hier sicherlich die Monographie „Kritik und Ge­ schichte. Foucault – ein Erbe Kants?“ von Andrea Hemminger.153 Ihre Un­ tersuchung ist von der These geleitet, dass Foucaults kritische Geschichte des Denkens „eine Transformation der Kantischen Kritik dar[stellt], bei der das Transzendentale ins Historische gespiegelt wird.“154 Der Fokus der Studie liegt darauf, zu zeigen, welche Stellung Kant in Foucaults Werk ein­ nimmt, wie Foucault Kant positiv rezipiert und transformiert. So kommt Hemminger zu dem Schluss, dass die „kritische Geschichte der Denksys­ teme […] insofern kein Ersatz für die Kritik Kants [ist], sondern eine Ergänzung, ein historisches Pendant, ein kongruentes Gegenstück, das im­ mer dann relevant wird, wenn es um Konkretion geht.“155 Problematisch ist dieser Schluss aus zweierlei Gründen: Einerseits wird übersehen, dass

149 DE II, S. 466. 150 Deleuze 1987, S. 86. 151 Veyne 2003, S. 27. Solche Verweise auf Kant finden sich beispielsweise bei Han 2002, S. 3ff, Rajchman 1985, S. 103f, Dreyfus/Rabinow 1982, S. 98f, Koopman 2010. Frietsch 2020, S. 183 geht davon aus, dass die „Philosophie Kants […] für Foucault eine Größe dar[stellt], an der sich sein eigenes Denken beständig orientiert und reibt.“ 152 Zu nennen wäre hier auch noch Koopman 2010, S. 101f. 153 Hemminger 2004. 154 Ebd., S. 14. 155 Ebd., S. 217.

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I. Einleitung

es trotz des Rekurses auf Kantische Begriffe und Denkfiguren Foucault um keine Erneuerung des kritischen Projektes geht und es deshalb auch keine komplementäre Funktion entfalten soll. Vielmehr lassen sich die Stoßrichtungen beider Denker geradezu diametral zueinander verstehen. Andererseits ist die Basis für Hemmingers Schlüsse nicht der systematische Vergleich beider Denker. Ihr geht es mehr um die Rezeption Kants durch Foucault. Allerdings bemerkt auch sie, dass beide Denker ihr philosophi­ sches Schaffen wesentlich unter das Leitideal der Freiheit stellen.156 Eine genauere Analyse des Freiheitsbegriffs bleibt jedoch aus. Auch Marc Djaballahs „Kant, Foucault, and Form of Experience” nimmt das Verhältnis von Kant und Foucault affirmativ auf.157 Er problematisiert eine Lesart, die zwar Foucaults Bezug auf Kant über den Begriff der Aufklärung betont, allerdings die Auseinandersetzung mit der Transzen­ dentalphilosophie vernachlässigt. Dementsprechend setzt er bei seinem Vergleich vor allem bei Kants theoretischer Philosophie und Foucaults Diskursanalyse an. Er unterschätzt dabei allerdings das Potenzial der prak­ tischen Philosophie bzw. der Rechtsphilosophie für einen Vergleich.158 Eine Studie, die diesen Defiziten Abhilfe schaffen will, ist die Dissertati­ on von Markus Riefling: „Die Kultivierung der Freiheit bei der Macht. Eine pädagogische Betrachtung von Grenzziehung und Grenzüberschrei­ tung“.159 Die Stoßrichtung der Untersuchung ist dabei grundsätzlich eine pädagogische: Gefragt wird nach der Begründung und dem Ziel pädago­ gischen Handelns. Letzteres ist seit Kant wesentlich durch die Erziehung zu Autonomie und Mündigkeit bestimmt. Demgegenüber steht die in der Pädagogik vor allem über Foucault rezipierte postmoderne Kritik, die von einer Verschränkung von Selbst- und Fremdbestimmung ausgeht.160 Vermittelt über die Frage nach der Pädagogik tritt die Freiheit als Gegen­ stand in den Fokus. Auch Riefling geht dabei grundsätzlich von einer Empirisierung und Historisierung des Apriori durch Foucault aus. Er attestiert jedoch zugleich ein Festhalten Foucaults an der Freiheit. Trotz dieses Bezugs beider Denker auf die Freiheit ist ihre Perspektive geradezu

156 Ebd., S. 196. 157 Djaballah 2008. 158 Vgl. Ebd., S. 21: „This way of directing the focus of the present project has the corollary advantage of simplifying the comparison with Kantian criticism as practiced in Kant’s writings: the field of epistemic relations is the only domain of analysis in Foucault’s triad that meshes cleanly with one of Kant’s fields of critical investigation, the theoretical.“ 159 Riefling 2013. 160 Ebd., S. 15.

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3. Aufbau

diametral: Während Kant Freiheit gerade in der Einhaltung der Grenzen der (universellen und unzeitlichen) Vernunft sieht, besteht Freiheit für Foucault gerade in der Überschreitung der Grenzen der (historisch-empi­ rischen) Vernunft. Trotz dieser produktiven Einsicht gelingt es Riefling nicht, sie auf allen Ebenen des Vergleichs systematisch fruchtbar zu ma­ chen. So fehlt leider eine Auseinandersetzung mit der Konkretisierung des Freiheitsbegriffs in der Kantischen Rechtsphilosophie. Auch wird der ethische Freiheitsbegriff Foucaults nur randständig behandelt.

3. Aufbau Man kann konstatieren, dass ein breit angelegter Vergleich von Kant und Foucault bisher noch als Desiderat der Forschung gelten kann. Das trifft auf den Freiheitsbegriff sogar in besonderem Maße zu. Die vorlie­ gende Untersuchung möchte über die bisherige Forschung hinausgehen, indem sie einen systematischen Vergleich zwischen Kant (II) und Foucault (III) wagt. Geleitet wird der Vergleich dabei von den vorläufig festgestell­ ten, entgegengesetzten Thesen zum Freiheitsbegriff: Der Kompatibilismus Kants mit inkompatibilistischem Freiheitsbegriff und der Inkompatibilismus Foucaults mit kompatibilistischem Freiheitsbegriff. Diese Grundausrichtung wird dann in je drei Unterkapiteln konkretisiert. Diese Dreigliederung ergibt sich zwanglos aus dem Denken der Autoren selbst. Bei Kant lässt sich zwischen theoretischer Philosophie als Erkenntnistheorie, Moral- und Rechtsphilosophie unterscheiden. Foucaults Werk kann man durch die drei Gegenstandsbereiche von Wissen, Macht und Ethik strukturieren. Die verwendeten Begriffe Erkenntnis – Wissen, Moral – Ethik und Recht – Macht stammen von den Autoren selbst.161 Sie verweisen zugleich auf Nähe und Ferne der Ansätze. Beide Denker setzten mit Erkenntnis (II.1) und Wissen (III.1) im weitesten Sinn erkenntnistheoretisch an. Hierbei geht es grundsätzlich um eine Begriffsklärung, was Freiheit überhaupt

161 Foucault ist in seiner Terminologie leider nicht einheitlich. Wie man z. B. in MW, S. 24 sieht, verwendet Foucault diese Begriffe in bewusster Abgrenzung zum gängigen philosophischem Sprachgebrauch. Er nimmt eine dreifache Ver­ schiebung vor: „vom Thema der Erkenntnis zu dem der Veridiktion, vom The­ ma der Herrschaft zu dem der Gouvernementalität, vom Thema des Individu­ ums zu dem der Selbstpraktiken“. Im Gegensatz zu den Begriffen Veridiktion, Gouvernementalität und Selbstpraktiken haben die hier angegebenen Begriffe den Vorzug, dass sie für den unkundigen Leser zumindest eine erste begriffliche Assoziation ermöglichen, die den gemeinten Sachverhalt näherungsweise trifft.

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I. Einleitung

sein kann. Transzendentale Freiheit ist bei Kant eine unabhängig von der Sinnlichkeit erfolgende, nicht-zeitliche Verursachung durch das Subjekt selbst. Systematisch ist in diesem Gedanken das Konzept der Selbstbestim­ mung (Autonomie) schon angelegt. Für Foucault ist Freiheit wesentlich als Unbestimmtheit zu verstehen. Diese beschreibt ein unabschließbares Feld der Möglichkeit. Ausgehend von der grundsätzlichen begrifflichen Klärung geht Kant zur praktischen Philosophie über. Während in der theoretischen Philosophie nur die Denkmöglichkeit der Freiheit erwiesen werden konnte, zielt die Moralphilosophie auf die Begründung der realen Möglichkeit der Freiheit (II.2). Freiheit ist hier als praktische Autonomie zu verstehen, d. h. als Selbstverpflichtung durch das moralische Gesetz. Schließlich findet der Übergang zur Rechtsphilosophie statt. Von der gesicherten praktischen Willensfreiheit ausgehend thematisiert Kant die Handlungsfreiheit und deren legitime Einschränkung (II.3). Freiheit zeigt sich hier als rechtliche Freiheit. Der unterschiedliche Denkweg von Foucault findet in der Gliederung insofern Beachtung, als wir von der Thematisierung der Freiheit im Wis­ sen zum Konzept der Macht und den daraus folgenden Implikationen für die Freiheit übergehen (III.2). Freiheit konkretisiert sich im Bereich der Intersubjektivität als Widerstand. Das Konzept der Ethik lässt sich nämlich erst vor dem Hintergrund von Foucaults Überlegungen zur Macht adäquat thematisieren (III.3). Freiheit zeigt sich hier als Möglichkeit zur Selbstver­ änderung, zur Nicht-Identität mit sich selbst. Die vorgestellten Kapitel von Kant (II.1 – II.3) und Foucault (III.1 – III.3) folgen dabei durchgängig einer je eigenen Logik. Ausgangspunkt bei Kant ist jeweils die Beschreibung des betroffenen Vermögens, welches die Grundlage für den behandelten Gegenstandsbereich bildet. Darauf folgt die Klärung, wie dieses Vermögen sein Objekt hinreichend bestimmen kann. Schließlich wird vor dem Hintergrund dieser Ausführungen die Frage nach der Konzeption von Freiheit geklärt. Abgerundet werden die Kapitel durch ein Zwischenfazit, das den Freiheitsbegriff nochmals poin­ tiert zusammenfasst. Foucault lehnt im Gegensatz zu Kant eine Vermögensmetaphysik ab. Der jeweilige Gegenstandsbereich erschließt sich von den historischen Be­ dingungen der Möglichkeit. Hiervon ausgehend können wir einen Blick auf die Systematik der kontingenten Möglichkeitsbereiche werfen, wie sie sich jeweils historisch realisiert haben. Schließlich werden wir die ent­ sprechende Realisationsform der Freiheit thematisieren. Auch hier folgt jeweils ein Zwischenfazit, welches sich auf den Freiheitsbegriff fokussiert.

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3. Aufbau

Die separierte Darstellung der Freiheitsbegriffe von Kant und Foucault mündet in ihren Vergleich (IV.1). Hier sollen die Einzelergebnisse syste­ matisch aufeinander bezogen werden. Abschließend werden Überlegun­ gen zum modernen und postmodernen Begriff der Freiheit im Allgemei­ nen angestellt (IV.2).

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit Mit dem Problem der Freiheit ist für Kant die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung tangiert. Letztere wird jedoch erst im Kontext der basalen erkenntnistheoretischen Annahmen Kants verständlich, die insbesondere das Erkenntnissubjekt betreffen. Im Folgenden soll dement­ sprechend zuerst die Stellung des Subjekts in der Erkenntnistheorie Kants erläutert werden (1.1), um ausgehend hiervon die Unterscheidung zwi­ schen Erscheinung und Ding an sich adäquat einordnen zu können (1.2). Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich dann der eigentliche Untersu­ chungsgegenstand: der Kantische Freiheitsbegriff (1.3).

1.1 Erkenntnisvermögen und transzendentales Subjekt Die Stellung des Subjektes in der kantischen Erkenntnistheorie lässt sich nur verstehen, wenn man einige einleitende Überlegungen zum Konzept der Erkenntnis voranschickt. Diese konzeptionellen Vorentscheidungen werden dann in Zusammenhang mit der berühmten kopernikanischen Wende gebracht, die Kant durch die Transzendentalphilosophie zu voll­ ziehen beansprucht (1.1.1). Hiervon ausgehend lässt sich nach den erfah­ rungsunabhängigen Elementen der Erkenntnis fragen, die das Subjekt bereitstellt (1.1.2). Schlussendlich münden diese Überlegungen in der er­ kenntniskonstitutiven Rolle des Selbstbewusstseins (1.1.3).

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1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

1.1.1 Die erkenntniskonstitutive Funktion des Subjekts162 Die Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung gewinnt erst vor dem Hintergrund der grundlegenden Intention Kants in der KrV ihren adäquaten Sinn – der Beantwortung der Frage: „Was kann ich wissen?“163 Wissen ist für Kant ein Modus des Fürwahrhaltens, verstanden als Zu­ stimmung164 zu einem propositionalen Gehalt. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht nur durch subjektiv, sondern auch durch objektiv hinrei­ chende Gründe rechtfertigbar ist. Subjektiv hinreichende Gründe haben ihre „Ursachen im Gemüte dessen, der da urteilt“165 und zwar in dem Sinn, dass wir ein starkes Gefühl des Vertrauens haben, dass eine Proposi­ tion wahr ist, und wir uns deswegen verpflichtet sehen, an ihr festzuhal­ ten.166 Eine objektiv hinreichende Begründung liegt dann vor, wenn die Proposition „für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat“167 und damit ein „Bewußtsein der Nothwendigkeit“168 einhergeht. Mit der Frage danach, was ich wissen kann, ist nicht ein spezifischer Wissensinhalt intendiert, sondern es wird nach der Möglichkeit von Wis­ sen überhaupt und dessen Bedingungen gefragt. Von den Bedingungen des Wissens ausgehend kann man auf die Grenzen des Wissens schließen. Diese Grenzen konstituieren einen Bereich, innerhalb dessen Wissen mög­ lich ist. Wissen ist innerhalb dieses Bereichs deshalb möglich, weil es Bedingungen gibt, die die objektive Begründung von wahren Meinungen evaluierbar macht.169 Obwohl Kant den Begriff des Wissens in der ersten seiner drei philoso­ phischen Leitfragen an prominenter Stelle platziert, so geht es ihm in der KrV nicht in erster Linie um Wissen, sondern um Erkenntnis. Wie kürzlich mehrere Interpreten geltend gemacht haben, darf das eine nicht einfach auf das andere reduziert werden. Beide Konzepte besitzen bei Kant einen

162 Folgende Überlegungen wurden in Teilen und in überarbeiteter Form in Hahn 2021 wiederaufgegriffen. 163 Zum Verhältnis dieser Frage zu den anderen drei Grundfragen, in die Kant die Philosophie einteilt: Gerhardt 2007, S. 121f. 164 Im Englischen findet hierfür häufig der Begriff „assent“ Verwendung. 165 KrV, B 848. 166 Chignell 2007, 328f, Pasternack 2011, S. 293. 167 KrV, B 848. 168 Log IX, S. 66. 169 Vgl. Mohr/Willaschek 1998, S. 6.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

disjunkten Gehalt.170 Dieser Unterschied wurde in der Sekundärliteratur lange Zeit übersehen, einerseits weil Erkenntnis in der englischsprachigen Übersetzung mit ‚knowledge‘ (Wissen) übersetzt wird; andererseits weil viele Diskussionen in der Erkenntnistheorie sich an der englischsprachigen Debatte orientieren, in der es kein exaktes sprachliches Pendant zum deut­ schen Ausdruck ‚Erkenntnis‘ gibt.171 Was versteht Kant unter Erkenntnis? Erkenntnis ist für ihn eine „mit Bewußtsein auf ein Object bezogene Vorstellung“.172 Die Grundstruktur der Erkenntnis lässt sich dementsprechend, als ein Verhältnis zwischen einem Erkenntnissubjekt und einem -objekt beschreiben.173 Im Prozess der Erkenntnis realisiert sich durch eine Vorstellung eine Bezugnahme auf einen Gegenstand.174 Die „objektive Gültigkeit“ der Bezugnahme der Vor­ stellung auf einen Gegenstand und somit die Erkenntnis eines Erkenntnis­ objekts erfordert, „daß ich seine Möglichkeit […] beweisen könne.“175 Möglichkeit kann zweierlei bedeuten: logische oder reale Möglichkeit. Die logische Möglichkeit einer Vorstellung liegt in ihrer Widerspruchsfreiheit. Zur objektiv gültigen Bezugnahme auf einen Gegenstand ist sie zwar not­ wendig, allein allerdings nicht hinreichend.176 Es bedarf eines Beweises der realen Möglichkeit bzw. der objektiven Realität, der nur durch ein Gegeben­ sein (‚Datum‘) des Gegenstandes erbracht werden kann:

170 So insbesondere: Allais 2019, Willaschek/Watkins 2017, Schafer (im Erschei­ nen). 171 Willaschek/Watkins 2017, S. 2, Gabriel 2013, S. 6. 172 Log IX, S. 91. Ich beziehe mich hier nur auf den engeren Sinn von Erkenntnis bzw. auf „Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung“ (KrV, B 103). Kant verwendet jedoch Erkenntnis auch in einem weiteren Sinn um Vorstellungen im Allgemei­ nen zu bezeichnen, so bspw.: KrV, B 376, Log IX, S. 64f. 173 Kant meint mit „Objekt“ jedoch nicht notwendigerweise Einzelding, vielmehr ist hiermit ein möglichst abstrakter Objektbegriff gemeint. Zu Kants Objektbe­ griff: Gölz 2006, 72f. 174 Gabriel 2013, S. 6. 175 KrV, B XXVII. 176 Vgl. KrV, B XXVII: „Aber denken kann ich, was ich will, wenn ich mir nur nicht selbst widerspreche, d. i. wenn mein Begriff nur ein möglicher Gedanke ist, ob ich zwar dafür nicht stehen kann, ob im Inbegriffe aller Möglichkeiten diesem auch ein Objekt korrespondiert oder nicht.“ Hierzu auch KrV, B 308: „die Möglichkeit eines Dinges [kann] niemals bloß aus dem Nichtwiderspre­ chen eines Begriffs desselben, sondern nur dadurch, daß man diesen durch eine ihm korrespondierende Anschauung belegt, bewiesen werden.“

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1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

„Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d. i. sich auf einen Gegenstand beziehen […] soll, so muß der Gegenstand auf irgend eine Art gegeben werden können.“177 Man kann also auf Basis der Unterscheidung von Wissen und Erkenntnis festhalten, dass es Kant in erster Linie darum geht, zu zeigen, wie wir uns durch unsere Vorstellungen objektiv, d. h. für jedermann gültig, auf die Objekte unserer Vorstellungen beziehen können.178 Erst in zweiter Linie kann eine solche Erkenntnis dann als objektive Rechtfertigung von Wissen dienen.179 Warum ist diese Bezugnahme aber überhaupt ein Problem? Schließlich scheinen wir uns dem Anspruch unserer Urteile nach, ständig auf die Wirklichkeit zu beziehen. So geht auch Kant grundsätzlich davon aus, dass wir etwas erkennen können, allerdings nur solange der Ursprung unserer Erkenntnis in der Erfahrung (a posteriori) liegt. Die Gegenstände werden uns dabei in der Erfahrung gegeben. Problematisch ist für ihn aber, ob wir etwas „schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig“ (a priori) er­ kennen können.180 Diese erfahrungsunabhängige Erkenntnis soll nämlich nicht nur eine erläuternde (analytische), sondern eine erkenntniserweitern­ de (synthetische) Funktion haben. Ist uns also etwas von den Gegenständen unabhängig von der Erfahrung gegeben, was die reale Möglichkeit der Erkenntnis verbürgt? Diese Frage ist deshalb so entscheidend, weil für Kant das Streben nach synthetischer Erkenntnis a priori dem Menschen von Natur aus aufgegeben ist.181 Das Vermögen im Menschen, das nach einer solchen Erkenntnis strebt, ist die (theoretische oder spekulative) Vernunft.182 Sie

177 KrV, B 194, Hervorhebung B. H. 178 Vgl. Allais 2019, S. 72. 179 Willaschek/Watkins 2017, S. 16 gehen auf diesen Zusammenhang von Erkennt­ nis und Wissen noch näher ein. Diese Überlegungen setzen allerdings eine grundsätzliche Einsicht in das Konzept der Erkenntnis voraus, das hier noch nicht vorweggenommen werden soll. 180 KrV, B 3. 181 Vgl. KrV, A VII, Tetens 2006, S. 201f, Willaschek 2018b, S. 3ff. Die Suche nach Gründen und Erklärungen des in der Erfahrung wahrgenommenen Bedingten führt den Menschen über die Erfahrung hinaus, weil nicht mehr über die Rich­ tigkeit der verschiedenen Erklärungen qua Erfahrung entschieden werden kann. Hierzu: Förster 1998, S. 40. Die Suche des Menschen überhaupt nach Begrün­ dung ist jedoch selbst wiederum nicht mehr begründbar. Deshalb beschreibt sie Kant als natürliche Gegebenheit. 182 Kant versteht in diesem Zusammenhang die Vernunft in ihrer allgemeinen Be­ deutung als „das ganze obere Erkenntnisvermögen“ (KrV, B 863). Vernunft im

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

stellt die Frage nach dem „Unbedingte[n]“183, im Sinne einer allgemeinen und notwendigen Letztbegründung.184 Da das in der Erfahrung (a poste­ riori) Gegebene stets bedingt ist, versucht die Vernunft die Erfahrung hin zum Unbedingten (a priori) zu übersteigen. Den wissenschaftlichen Gegenstandsbereich, der sich traditionell mit Letztbegründungen beschäf­ tigt, nennt man Metaphysik. Weil die Frage danach, was wir erkennen können, die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori impliziert und dies wiederum das Vermögen der Vernunft tangiert, ist die Beantwortung all dieser Fragen ein Akt der „Selbsterkenntnis“ der reinen Vernunft.185 Ziel dieses Prozesses ist es, dass die Vernunft Rechenschaft über die „Quellen“, den „Umfang“ und die „Grenzen“ ihres theoretischen Erkenntnisvermögens ablegt.186 Diese Analyse (Kritik) der reinen Vernunft erfolgt jedoch nicht im ‚luft­ leeren‘ Raum – und zwar deswegen nicht, weil Kant bereits vorab von der Existenz synthetischer Urteile a priori in der reinen Mathematik und den reinen Naturwissenschaften überzeugt ist.187 Während die Wirklich­ keit von erfahrungsunabhängiger Erkenntnis in diesen Wissenschaften als gegeben vorausgesetzt wird, sei dagegen unter den bestehenden Bedingun­ gen die Möglichkeit von Metaphysik als Wissenschaft zweifelhaft. Solange man gemäß dem erkenntnistheoretischen Realismus nämlich davon aus­ geht, dass die reale Möglichkeit, im Sinne des Gegebenseins, eines Gegen­ standes alleinig durch den Gegenstand selbst garantiert werden kann, ist nicht einsichtig, wie synthetische Erkenntnis a priori möglich sein soll. Da der Gegenstand immer nur a posteriori gegeben ist, müsste das Denken allein die Wirklichkeit eines Objekts a priori garantieren können.188

183 184 185 186 187

188

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engeren Sinne ist ein Vermögen ohne sinnlichen Anteil, „mithin ist Vernunfter­ kenntnis und Erkenntnis a priori einerlei“ (KpV V, S. 12). KrV, B XX. Das Kriterium von Urteilen a priori ist im Gegensatz zu ihren empirischen Pendants gerade Notwendigkeit und Allgemeinheit: KrV, B 3. Vgl. Höffe 2003, S. 37: „Da reine Vernunft definitionsmäßig erfahrungsunab­ hängig ist, kann ihre Möglichkeit nur erfahrungsunabhängig, also wieder durch die reine Vernunft, untersucht werden.“ KrV, A XII. Hierzu auch: KpV V, S. 91. Allerdings hat die reine Mathematik nur einen ein­ geschränkten Status, wie in KrV, B 147 deutlich wird: „Folglich sind alle mathe­ matischen Begriffe für sich nicht Erkenntnisse; außer, so fern man voraussetzt, daß es Dinge gibt, die sich nur der Form jener reinen sinnlichen Anschauung gemäß uns darstellen lassen.“ Zumindest dann, wenn man wie Kant davon ausgeht, dass der Mensch zu keiner intellektuellen Anschauung fähig ist.

1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

Erfahrungsunabhängige Erkenntnis in der Metaphysik sei nur, so die zentrale These Kants, auf Basis einer „Revolution der Denkart“189, im Sin­ ne einer grundlegenden Änderung der bisherigen Methode erreichbar.190 Hierbei orientiert sich Kant an beiden bereits etablierten reinen Wissen­ schaften, bei denen er in ihrer Entwicklungsgeschichte einen fundamen­ talen erkenntnistheoretischen Perspektivenwechsel ausfindig zu machen glaubt: Erfahrungsunabhängig kann man nur das an den Dingen erken­ nen, was man „nach Begriffen selbst a priori hineingedacht“ hat.191 Diesen Perspektivwechsel hin zum transzendentalen Idealismus will er auch in der Metaphysik einleiten: „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; […] Man versuche es […] einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik besser fortkommen, daß wir anneh­ men, die Gegenstände müssen sich nach unserem (sic!) Erkenntnis richten“192 Durch die kopernikanische Wende Kants wird die Beweislast der Möglich­ keit eines Gegenstandes vom Erkenntnisobjekt auf das -subjekt verlagert. Dem Subjekt wird ein schöpferisches Moment im Erkenntnisprozess zu­ gebilligt, das es dazu befähigt, als Garant der realen Möglichkeit von Erkenntnisgegenständen zu fungieren.193 Es stellt sich für Kant daher die Frage, welche Bedingungen der Mög­ lichkeit von Erkenntnis es im Subjekt gibt. Mit ‚Subjekt‘ ist hier allerdings nicht das empirische Subjekt gemeint, welches psychologischen, geschichtli­ chen und kulturellen Faktoren unterliegt, sondern ein „vorempirisches“194 oder in der Formulierung Kants transzendentales Subjekt. Die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis sind von den Fähigkeiten bzw. von den ‚Vermögen‘ des Menschen zur Erkenntnis abhängig. Kant unterscheidet innerhalb des Erkenntnisvermögens zwischen zwei „Grund­

189 190 191 192 193

KrV, B XI. KrV, B XXII. KrV, B XII. KrV, B XVI. Vgl. Höffe 2007, S. 19. Dieses schöpferische Element liegt primär in der spon­ tanen Begriffsbildung des Menschen begründet. Da Begriffe nicht gegeben, sondern gemacht werden, bedürfen sie der Rechtfertigung. Damit eröffnet sich eine normative Dimension der Erkenntnistheorie. Hierzu: Willaschek 2010, 168f. 194 Höffe 2007, S. 56.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

quellen“195 oder „Stämme[n] der menschlichen Erkenntnis“196 – Sinnlich­ keit und (im weiteren Sinn) Verstand.197 Sinnlichkeit wird definiert, als die „Fähigkeit, (Rezeptivität) Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegen­ ständen affiziert werden, zu bekommen“.198 Der Verstand im weiteren Sinn lässt sich in Verstand im engeren Sinn, Urteilskraft199 und Vernunft200 aus­ differenzieren.201 Er ist „das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubrin­ gen, oder die Spontanität“.202 In dieser Gegenüberstellung sind mehrere Aspekte enthalten: – Der Anteil der Sinnlichkeit am Erkenntnisprozess ist die Wahrnehmung eines Gegenstands durch die Sinnesorgane.203 Der Beitrag des Verstan­ des ist das Denken. – Das Produkt beider Vermögen sind Vorstellungen. Jedoch unterschei­ den sie sich in der Art ihrer Vorstellungen. Während die Elemente der Sinnlichkeit Anschauungen204 sind, bringt der Verstand Begriffe hervor.205 Eine Anschauung ist eine einzelne Vorstellung, d. h. eine Vorstellung, die nur einem Gegenstand zukommt.206 Ein Begriff ist

195 KrV, B 74. 196 KrV, B 29. 197 Statt „Verstand“ verwendet Kant auch manchmal für das zweite Erkenntnisver­ mögen den Begriff ‚Vernunft‘, so beispielsweise in KrV, B 863. 198 KrV, B 33. 199 Vgl. KrV, B 171: „Wenn der Verstand überhaupt als das Vermögen der Regeln erklärt wird, so ist Urteilskraft das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht.“ 200 Vgl. KrV, B 359: „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinun­ gen vermittelst der Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien.“ 201 Für unsere Zwecke reicht es allerdings aus, das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand näher zu bestimmen. Wenn im Folgenden von „Verstand“ die Rede ist, so ist der Verstand im weiteren Sinne gemeint. 202 KrV, B 75. 203 Zum Begriff der Wahrnehmung, KrV, A 120: „Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt“. 204 Die Begriffe ‚Anschauung‘, ‚Wahrnehmung‘ und ‚Erscheinung‘ soll im Folgen­ den synonym verwendet werden. 205 Es gilt jedoch bereits hier einem Missverständnis vorzubeugen. Begriffe werden durch Wörter und Urteile durch Sätze ausgedrückt. Beides ist aber nicht iden­ tisch Rosefeldt 2000, S. 17f. 206 Was Kant allerdings mit der Einzelheit der Anschauung genau meint ist um­ stritten. Eine mögliche Interpretationsweise hat Allais 2019, S. 74 vorgeschla­ gen: „Thus, I conclude that intuitions are representations that present us with distinct perceptual particulars (they are singular), and that they are immediate

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1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

hingegen eine allgemeine Vorstellung. Allgemein bedeutet, dass sie „mehreren Objecten gemein ist, also eine Vorstellung, sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann.“207 Ein Begriff weist ein Merkmal auf, das mehreren Gegenständen zukommt. Damit fungieren Begriffe als „Prädikate möglicher Urteile“.208 – Die Sinnlichkeit ist rezeptiv bzw. passiv, wohingegen der Verstand spontan bzw. aktiv ist. Spontan bedeutet, dass der Verstand seine Vor­ stellungen selbst erzeugt, er also Ursache seiner Begriffe ist. Rezeptiv bedeutet umgekehrt, dass der Sinnlichkeit ihre Vorstellungen gegeben werden. Ihre Vorstellungen sind daher die „Wirkung eines Gegenstan­ des auf die Vorstellungsfähigkeit [Sinnlichkeit, B. H.], so fern wir von demselben affiziert werden“.209 Die Sinnlichkeit ist nicht der Grund ihrer Vorstellungen und erzeugt sie daher auch nicht selbst. Der Mensch ist mithin durch zwei gegenläufige Fähigkeiten charakteri­ siert: die passive Sinnlichkeit, die einzelne Vorstellungen wahrnimmt und den spontanen Verstand, der allgemeine Vorstellungen denkt. Mit der Sinnlichkeit wird der Beitrag des Erkenntnisobjekts betont, mit dem Ver­ stand die Seite des Erkenntnissubjektes. Die Beweislast vom Gegenstand auf das Subjekt zu verlagern, bedeu­ tet für Kant konsequenterweise nicht, eine dem erkenntnistheoretischen Idealismus entsprechende Vereinseitigung auf das Subjekt vorzunehmen. Wie wir gesehen haben, ist das Subjekt zwar Grund, aber nicht alleiniger Grund der Erkenntnis. Dementsprechend muss die Erkenntnis oder der Nachweis der realen Möglichkeit eines Gegenstandes durch das Zusam­ menspiel beider Erkenntnisvermögen des Menschen erfolgen. Die Art und Weise dieses Zusammenspiels gilt es nun genauer zu bestimmen: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwen­ dig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständ­ lich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). […] Nur daraus,

in the sense that, unlike with concepts, having an intuition involves the object of the intuition being present to consciousness. This is how they give us objects. And this is how they ensure that we have cognition: that our concepts are actually related to objects, and not a mere play.“ 207 Log IX, S. 91. 208 KrV, B 94. 209 KrV, B 34.

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daß sie [Sinnlichkeit und Verstand, B. H.] sich vereinigen, kann Er­ kenntnis entspringen.“210 Die Sinnlichkeit stellt die Anschauung eines Erkenntnisobjekts bereit. Eine Anschauung ist eine einzelne Vorstellung, die sich „unmittelbar auf den Gegenstand“ bezieht.211 Das Gegebensein des Gegenstandes wird also durch die Anschauung garantiert. Diese einzelne, unmittelbare Vorstellung wird dann durch den Verstand gedacht. Denken kann man nach Kant allgemein als urteilen verstehen,212 urteilen wiederum „als die mittelbare Erkenntnis eines Gegenstandes, mit­ hin die Vorstellung einer Vorstellung desselben.“213 Daran anschließend kann man nach der Art der Vorstellungen in Urteilen differenzieren: Urteilen bzw. Denken bedeutet entweder, dass Anschauungen und Begriffe oder dass mehrere Begriffe verbunden werden.214 Im ersten Fall wird eine einzelne Vorstellung unter eine allgemeine Vorstellung, im zweiten Fall ein weniger Allgemeines unter ein Allgemeineres subsumiert. In beiden Fällen werden die jeweiligen Elemente zur Einheit gebracht. Der Akt, der diese Einheit stiftet, kann in seiner allgemeinsten Form Synthesis ge­ nannt werden. Als Synthesis bezeichnet Kant die „Handlung, verschiede­ ne Vorstellungen zueinander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen.“215 In der Synthesis wird aus verschiedenen Vorstellungen eine gemacht, jedoch ohne dass die verschiedenen Vorstell­ ungen dadurch verloren gingen. Aber mit der Handlung ist etwas Neues entstanden, das noch nicht gedacht wurde, solange die einzelnen Vorstell­ ungen isoliert voneinander bestanden. Dieses Neue ist offenbar die Einheit selbst.216 Folglich verleiht das Denken anhand von Begriffen der Mannig­

210 211 212 213 214

KrV, B 75. KrV, B 377. Nach Kant haben diese Urteile die logische Form: „S ist P“. KrV, B 93, Hervorhebung B. H. Schlüsselt man die synthetische Fähigkeit des Verstandes nach allen möglichen Vorstellungskombinationen auf, so gibt es nicht nur Begriff – Begriff, Begriff – Anschauung, sondern auch Anschauung – Anschauung. Es ist aber umstritten, ob Kant letztere Option (zumindest für die empirische Synthesis) als vollständig betrachtet und wie diese Form der Synthesis genau zu verstehen ist (Grüne 2015, S. 2228f). Unstrittig ist jedoch das letztere Form der Synthesis über die Einbildungskraft erfolgen muss. Die Einbildungskraft ist eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit. Zur Synthesis der Einbildungskraft: Olk 2016, S. 93ff. Zu den verschiedenen Arten des Mannigfaltigen, das in der Synthesis verbunden wird: Prien 2006, S. 92. 215 KrV, B 103. 216 Diese gewichtige Einsicht betont in äußerster Klarheit: Römpp 2007, S. 68.

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1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

faltigkeit der Sinnlichkeit überhaupt erst die Bestimmtheit217 und Einheit eines Objekts.218 Man kann also konstatieren: Es gibt keine Erkenntnis ohne das Gege­ bensein und ohne das Denken eines Gegenstandes, wobei Denken wiede­ rum Urteilen und urteilen synthetisieren bedeutet.

1.1.2 Die erfahrungsunabhängigen Elemente der Erkenntnis Mit dem notwendigen Beitrag von Sinnlichkeit und Verstand zur Erkennt­ nis wird zwar dem Subjekt eine konstitutive Stellung eingeräumt, unklar bleibt allerdings bisher, ob das ausreichend für die Möglichkeit synthe­ tischer Urteile a priori ist. Hierfür gibt es insbesondere zwei Gründe: Einerseits ist die Sinnlichkeit nicht spontan, sondern auf eine dem Subjekt äußerliche Ursache angewiesen und andererseits wendet zwar der Verstand seine Begriffe selbsttätig an, der Ursprung der Begriffe könnte jedoch em­ pirischer Natur sein.219 Die Möglichkeit erfahrungsunabhängiger Erkennt­ nis wird erst dann einsichtig, wenn man zeigen kann, dass sowohl 1) der Sinnlichkeit als auch 2) dem Verstand Elemente a priori zukommen.220 Kant bezeichnet dieses Vorgehen als „metaphysische Erörterung“ bzw. Deduktion.221 1) Die Sinnlichkeit scheint prima facie ohne Beitrag des Subjekts auszu­ kommen, weil die Erscheinung durch Affektion bewirkt ist. Kant differen­ ziert hier jedoch zwischen dem Inhalt bzw. der ‚Materie‘ und der Form

217 Bestimmen bedeutet, einem Gegenstand ein Prädikat unter Ausschluss seines Gegenteils zuzuschreiben (AA I, S. 391). Das bedeutet, ein Gegenstand ist dann bestimmt, wenn für jedes Prädikat klar ist, ob es dem Gegenstand zukommt oder nicht (Prien 2006, S. 14). Bestimmen hat, wie Kant in KrV, B 626 darlegt, eine erkenntniserweiternde Funktion: „die Bestimmung ist ein Prädikat, wel­ ches über den Begriff des Subjekts hinzukommt und ihn vergrößert“. 218 Vgl. Höffe 2007, S. 89. 219 Strenggenommen muss Kant nicht nur nachweisen, dass die Begriffe nicht em­ pirischer Natur sind, sondern auch, dass die aufgefundenen Begriffe vollständig sind. Ansonsten könnte es ihm nicht gelingen, verständlich zu machen, dass gerade mit diesen Begriffen die Möglichkeit der Erfahrung umschrieben ist: Römpp 2007, S. 66f. Auf diese Voraussetzung kann im Folgenden jedoch nicht eingegangen werden. 220 Kant nennt eine Darstellung, die zeigt, was a priori zu einem Begriff gehört, metaphysische Erörterung. Diese metaphysische Erörterung findet jeweils für die Sinnlichkeit und den Verstand statt (KrV, B 38). 221 KrV, B 38.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

der Anschauung. Allein der Inhalt der Anschauung (Empfindung) ist vom Gegenstand bewirkt. Er liegt jedoch als ungeordnete Mannigfaltigkeit vor. Die Form, die das Subjekt dieser Mannigfaltigkeit gibt, ordnet sie nach bestimmten Kriterien und macht sie somit überhaupt erst wahrnehmbar und daran anschließend denkbar.222 Als Formen der Wahrnehmung nennt Kant Raum und Zeit. Da Wahrnehmung eine gewisse Form voraussetzt, kann die Form selbst wiederum nicht vom Gegenstand bewirkt sein.223 Die Form der Erscheinung muss also bereits vor dem empirischen Inhalt im Subjekt (a priori) vorhanden sein. Kant nennt sie deshalb reine Anschau­ ung. So nehmen wir die Größe und das Verhältnis von Gegenständen au­ ßer uns wahr. Dieses ‚außer uns‘ müsse aber bereits vorher vorhanden sein, um Gegenstände an verschiedenen Orten im Raum wahrzunehmen.224 Ebenso verhält es sich mit der Wahrnehmung von Gleichzeitigkeit und Aufeinanderfolgen, d. h. Zeitlichkeit.225 Die reinen Anschauungsformen sind jedoch nicht nur a priori, sondern auch notwendig. Abstrahiert man von aller zufälligen Beschaffenheit und dem Inhalt der Anschauung (Emp­ findung), so bleiben als Residuen immer noch Raum und Zeit.226 2) Die synthetische Tätigkeit des Verstandes ist per se Selbsttätigkeit des Subjekts.227 Analog zur Argumentation in Bezug auf die Sinnlichkeit macht Kant auch beim Verstand die Unterscheidung von Inhalt und Form – in diesem Fall: von Begriffen – geltend. Wir müssen die zentralen Ei­ genschaften von Begriffen rekapitulieren und sie in Zusammenhang mit dieser Unterscheidung bringen. Für Kant sind Begriffe Vorstellungen – und zwar Vorstellungen von Vorstellungen. Diese Definition entspricht ihrer Verwendungsweise in den Handlungen des Verstandes: den Urteilen. In Urteilen werden Vorstellungen unter andere Vorstellungen subsumiert. Diese Wirkweise von Begriffen kann man als Funktion bezeichnen.228 Ihre Funktion bezeichnet „die Einheit der Handlung, verschiedene Vor­ 222 Vgl. Allison 2004, S. 14f. 223 Vgl. KrV, B 34: „Da das, worinnen sich die Empfindungen allein ordnen, und in gewisse Form gestellet werden können, nicht selbst wiederum Empfindun­ gen sein kann, so ist uns zwar die Materie aller Erscheinungen nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber muß zu ihnen insgesamt im Gemüte a priori bereit liegen, und dahero abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden.“ 224 Vgl. KrV, B 38. 225 KrV, B 46. 226 KrV, B 35, B 38. 227 Vgl. KrV, B 130. 228 Vgl. KrV, B 93: „Alle Anschauungen, als sinnlich, beruhen auf Affektionen, die Begriffe also auf Funktionen.“

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1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

stellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen.“229 ‚Gemeinschaftlich‘ bedeutet, dass Begriffe als (allgemeine) Vorstellungen andere (einzelne) Vorstellungen unter sich fassen können. Ihre Allgemeinheit liegt in der Tatsache, dass sie weniger abstrakte Vorstellungen subsumieren können: Allgemeinheit ist mithin der Form-Aspekt von Begriffen.230 Begriffe als Funktionen zu beschreiben, bedeutet demnach nichts anderes, als ihre grundlegende synthetische Tätigkeit zu spezifizieren. Wichtig zu verstehen ist allerdings, dass Begriffe allein deswegen Vor­ stellungen unter sich fassen können, weil sie Ordnungskriterien enthalten. Begriffe enthalten dementsprechend nicht nur das Faktum der Subsumpti­ on selbst, sondern auch die Art und Weise, wie die Vorstellungen einander untergeordnet werden. Sie enthalten also „Regeln“.231 Eine Regel bezeich­ net ganz allgemein eine Bedingung, die eine Folge nach sich zieht.232 Die­ se Regeln oder Kriterien benennen Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Vorstellungen durch die Zuschreibung von Eigenschaften bzw. Merk­ malen.233 Dementsprechend ist der Inhalt eines Begriffs das Merkmal, das er repräsentiert.234Ausgehend von dieser Unterscheidung zwischen Form und Materie von Begriffen kann man nach dem Ursprung der Materie unterscheiden. Empirische Begriffe subsumieren empirische Vorstellungen (Empfindun­ gen) oder empirische Begriffe. Ihr Inhalt liegt daher in der Sinnlichkeit und die Form ihrer Allgemeinheit ist nur abgeleitet: „Der empirische Be­ griff entspringt aus den Sinnen durch Vergleichung der Gegenstände der Erfahrung und erhält durch den Verstand bloß die Form der Allgemein­ heit.“235 Die Regel, nach der die Vorstellungen verbunden werden, ist nur empirischer Natur. Reine Begriffe (Kategorien) hingegen subsumieren reine Anschauung und Begriffe.236 Sie enthalten „die Form des Denkens eines Gegenstandes 229 230 231 232 233

KrV, B 93, Hervorhebung B. H. Vgl. Natterer 2003, S. 201, Longuenesse 1998, S. 140. Log IX, S. 36. Zu dem Begriff der Regel bei Kant: Prien 2006, S. 34ff. Vgl. Prien 2006, S. 28, KrV, B 83f, Log IX, S. 91: „was mehreren Objecten gemein ist, also eine Vorstellung, sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann.“ 234 Vgl. Rosefeldt 2000, S. 18f. 235 Log IX, S. 92. 236 Dieser Gedanke mag in Bezug auf reine Anschauung, d. h. Raum und Zeit, erstaunen. Wichtig ist jedoch sich zu vergegenwärtigen, dass auch Raum und Zeit eine unendliche Mannigfaltigkeit in sich enthalten, was eine Synthese not­ wendig macht (KrV, B 40).

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

überhaupt“237 und entspringen selbst „dem Inhalte nach aus dem Verstan­ de“.238 Ihr Inhalt ist durch die „Natur des Verstandes“239 a priori gegeben. Kant verfolgt bei der Argumentation für den erfahrungsunabhängigen Charakter von reinen Begriffen eine analoge Strategie wie bei den reinen Anschauungsformen. Zur Erläuterung kann man bspw. die Kategorie der Kausalität heranziehen240: Jemand erkennt, dass Ereignis A die Ursache von Ereignis B ist. Man muss, bevor man B unter ‚Wirkung‘ und A unter ‚Ursache‘ subsumiert, voraussetzen, dass beide Ereignisse überhaupt in einem Ursache-Wirkungs-Verhältnis stehen. Diese Voraussetzung ist nun nicht empirisch, sondern, so die These Kants, a priori. Kategorien enthal­ ten daher Gemeinsamkeiten und Unterschiede von reinen Anschauungen und Begriffen. Somit sind sie Grundlage der nur abgeleiteten Allgemein­ heit der empirischen Begriffe. Da die Tätigkeit des Verstandes das Denken ist, Denken wiederum Ur­ teilen und Urteilen sich entsprechend der Regeln bzw. Funktionen des Verstandes vollzieht, findet man den Inhalt der Kategorien in den logi­ schen Urteilsformen. Denn die logischen Urteilsformen abstrahieren dem Anspruch der reinen Verstandesbegriffe gemäß von jedem empirischen Inhalt.241 Sie beschreiben allein die Art und Weise, wie der Verstand Vor­ stellungen miteinander verbindet. Von den logischen Urteilsformen leitet Kant genau vier Kategorien von reinen Verstandesbegriffen ab: Quantität (Einheit, Vielheit, Allheit), Qualität (Realität, Negation, Limitation), Rela­ tion (Inhärenz und Subsistenz, Kausalität und Dependenz, Gemeinschaft) und Modalität (Möglichkeit und Unmöglichkeit, Dasein und Nichtsein, Notwendigkeit und Zufälligkeit).

1.1.3 Das Selbstbewusstsein Mit der Darstellung (metaphysische Deduktion) der Anschauungsformen und Kategorien gelingt Kant der Nachweis, dass Vorstellungen a priori vorhanden sind. Damit ist allerdings insbesondere für die reinen Begrif­ fe noch nicht bewiesen, dass sie notwendige Elemente jeder Erkenntnis

237 238 239 240 241

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KrV, B 75. Log IX, S. 92. KrV, B 757. Vgl. Gölz 2006, S. 43. KrV, B 95.

1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

sind (transzendentale Deduktion).242 Zur Erinnerung: Erkenntnis lässt sich nach Kant als eine „mit Bewußtsein auf ein Object bezogene Vorstel­ lung“243 beschreiben. Vorstellungen sind zwar im Subjekt a priori vorhan­ den, fraglich ist allerdings, ob diese auf „ein Objekt bezogen“ sind und was es heißt, dass diese Vorstellungen „mit Bewusstsein“ begleitet sind. Wie wir sehen werden, versucht Kant den Aspekt der Notwendigkeit und des Objektbezugs durch das Bewusstsein miteinander zu verknüpfen. Zuerst soll erläutert werden, wie 1) Notwendigkeit und Objektbezug zusammen­ hängen, um anschließend 2) die Rolle des Bewusstseins darzulegen. 1) Grundsätzlich ist eine Vorstellung in Bezug auf die Erkenntnis dann notwendig, „wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegen­ stand zu erkennen.“244 Fungiert eine Vorstellung folglich als Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt, so ist auch nur unter ihrer Bedingung die Erkenntnis eines Gegenstandes möglich: „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung [von Gegen­ ständen, B. H.] überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.“245 Hinsichtlich der reinen Anschauungsformen ist dieses Argument unmittel­ bar plausibel: Nur wenn die Vorstellung des Raums gegeben ist, kann man Gegenstände im Raum lokalisieren. Warum sollten allerdings die reinen Verstandesbegriffe für jedwede Erkenntnis notwendig sein? Warum sollten wir uns nur unter ihrer Zuhilfenahme überhaupt auf einen Gegenstand beziehen können? Hierzu ist es nochmals wichtig, sich zu vergegenwär­ tigen, welchen Beitrag der Verstand in der Erkenntnis leistet: Die Sinn­ lichkeit stellt eine räumlich und zeitlich strukturierte Mannigfaltigkeit zur Verfügung. Diese Mannigfaltigkeit konstituiert jedoch noch keinen Gegenstand, weil sie „diejenige Einheit haben“ muss, „welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht.“246 Ein Objekt zeichnet sich dadurch 242 Einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur transzendenta­ len Deduktion liefert Caimi 2017. 243 Log IX, S. 91. 244 KrV, B 125. 245 KrV, A 111. 246 KrV, A 105, Hervorhebung B. H. Dieser zentrale Gedanke ist meiner Einschät­ zung nach in der A-Deduktion besser erfasst, da er im Gegensatz zur B-Dedukti­ on systematisch hergeleitet wird. In der B-Deduktion taucht er nur beiläufig in KrV, B 137 bei der Definition der Erkenntnis auf: Erkenntnisse „bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt. Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.“

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

aus, dass in seinem „Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschau­ ung vereinigt ist.“247 Allerdings verbindet (synthetisiert) erst der Verstand kraft seiner Spontanität eine sinnliche oder begriffliche Mannigfaltigkeit zu einem einheitlichen Gegenstand. Abstrahiert man also nicht nur von jeglichem sinnlichen Beitrag zu den Vorstellungen, sondern ebenso von der Art und Weise, wie der Verstand die Vorstellungen durch Kategorien verknüpft, bleibt nur die gedachte Einheit des Gegenstandes selbst. Es bedarf also dreier Elemente, um einen Gegenstand erkennen zu können: die Vorstellung einer Mannigfaltigkeit, die spontane Verstandestätigkeit der Verbindung (Synthesis) und die Vorstellung der Einheit.248 Die Einheit ist wiederum eine Vorstellung a priori. Auch hier argu­ mentiert Kant wieder analog zur reinen Anschauung und den Kategori­ en: Die Vorstellung der Einheit liegt nicht in der Synthesis der mannig­ faltigen Vorstellungen selbst, „sie macht vielmehr dadurch, daß sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst möglich.“249 Um die Eigenschaft der Einheit zu besitzen, muss man Anteil am Einheitlichen haben. Es bedarf also einer unbedingten Einheit, die nicht wiederum durch eine andere (höhere Form der) Einheit bedingt ist.250 Ansonsten würde ein infiniter Regress drohen. Man kann also festhalten: Einen Gegenstand zu erkennen, bedeutet, eine Einheit zu erkennen. Die Einheit ist eine Vorstellung, und zwar eine Vorstellung a priori. Diese Vorstellung ist notwendig, weil man sich ohne sie gar keinen Gegenstand vorstellen könnte. Sie gründet in letzter Instanz in einer ur­ sprünglichen, unbedingten Einheit. 2) Mit diesem Nachweis des apriorischen und notwendigen Charakters der Vorstellung der Einheit ist jedoch deren Sitz noch nicht angegeben. Der Grund der Einheit und somit der realen Möglichkeit eines Gegenstan­ des liegt in dem bereits angedeuteten verbleibenden Element der Erkennt­ 247 KrV, B 137, Hervorhebung B. H. Zu diesem Gedanken auch KrV, B 145: „Der Beweisgrund beruht auf der vorgestellten Einheit der Anschauung, dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt, und schon die Beziehung dieses letzteren auf Einheit (sic!) der Apperzeption enthält.“ 248 Vgl. KrV, B 130f: „Aber der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriff des Mannigfaltigen und der Synthesis desselben, noch den der Einheit bei sich. Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen.“ 249 KrV, B 131, Hervorhebung B. H. 250 Vgl. Höffe 2007, S. 101. Dieser Argumentationsgang zeigt bereits in der trans­ zendentalen Analytik strukturell auf, warum die Idee des Ichs in der transzen­ dentalen Dialektik wieder durch Kant behandelt wird. Das Ich fungiert als eine Vorstellung des Unbedingten.

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nis – dem Bewusstsein. Allgemein definiert Kant das Bewusstsein als „eine Vorstellung, daß eine andre Vorstellung in mir ist.“251 Dementsprechend lässt sich zwischen unbewussten und bewussten Vorstellungen unterschei­ den. Kant geht sogar davon aus, dass die meisten unserer Vorstellungen unbewusst sind. Nur einen kleinen Teil dieser unbewussten Vorstellungen machen wir uns bewusst.252 Das Bewusstsein einer Vorstellung zu haben, bedeutet, eine Vorstellung eines Vorgestellten zu haben, mit anderen Worten: sich den Inhalt einer Vorstellung durch Urteile vor Augen zu führen.253 Kant zielt in seiner Argumentation über den Ursprung der Einheit der Synthese jedoch auf eine höhere Ebene des Bewusstseins – das Bewusstsein des Bewusstseins.254 Damit ist das Bewusstsein des Akts des Vorstellens selbst gemeint und zwar nicht das passiv-sinnliche Leiden von Vorstellungen,

251 Log IX, S. 33. 252 Anth VII, S. 137. 253 Vgl. Deppermann 2001, S. 134: „Zusätzlich ist zwischen dem Bewußtsein des in einer Vorstellung Vorgestellten und dem Bewußtsein des Vorstellens selbst zu unterscheiden.“ Allgemeine Überlegungen zur Bewusstseinsthematik bei Kant im Kontext seiner Zeitgenossen hat Wunderlich 2005, S. 131ff angestellt. Fol­ gende Anmerkungen greifen einige wichtige Gedanken für unseren Kontext heraus: Das Bewusstsein des in einer Vorstellung Vorgestellten zu erlangen, bedeutet den Inhalt von Vorstellungen zu explizieren und damit eine klare und deutliche Vorstellung zu haben. Klar ist eine Vorstellung, wenn sie von anderen Vorstellungen unterscheidbar ist. Eine deutliche Vorstellung ist eine Vorstellung, die nicht nur von anderen Vorstellungen unterscheidbar (klar) ist, sondern darüber hinaus auch die Zusammensetzung der Vorstellungen, d. h. das Mannigfaltige, enthält. Nur deutliche Vorstellungen sind Erkenntnisse. Deutlich und damit erkennbar sind Vorstellungen aber nur durch Urteile. Kant wendet sich in der Konzeption gegen die Zuordnung von klaren Vorstellungen zu Begriffen und dunklen Vorstellungen zu Anschauungen. Sowohl Begriffe als auch Anschauungen können klar und deutlich sein, wenn man sie von anderen Vorstellungen abgrenzen kann und deutlich, wenn man ihre Merkmale bzw. Teilvorstellungen expliziert. Wichtige Stellen zu diesem Thema finden sich bei Kant in Anth VII, S. 137f, AA II, S. 58. 254 Vgl. Höffe 2007, S. 102: „Zu allem Bewußtsein gehört nicht nur ein Gegen­ stand, sondern auch die Möglichkeit, sich des Bewußtseins vom Gegenstand bewußt zu machen.“ In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Engstrom 2009, S. 31f: „This self- consciousness, however, includes not only the selfawareness of a specific act of thinking (the awareness, in intending to do a cer­ tain thing, of that very intending itself), but also, present in that same specific act, the self- awareness of a general act of thinking. And the latter self-awareness, in being aware of its own generality, is conscious of itself as capable of being present in other possible specific acts of thinking distinct from the present one.“

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sondern das spontan-verstandesmäßige Wirken von Vorstellungen.255 Kant bezeichnet dieses spezifische Bewusstsein als ‚Selbstbewusstsein‘ oder ‚rei­ ne Apperzeption‘. Ausschließlich das Selbstbewusstsein bringt die oben genannte unbedingte Einheits-Vorstellung hervor.256 Kant nennt diese die ‚transzendentale Einheit der Apperzeption‘ oder das ‚Ich denke‘: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht ge­ dacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“257 Zuerst ist festzuhalten, dass sich der Geltungsbereich des „Ich denke“ auf alle Vorstellungen – reine und empirische Anschauung/Begriffe – erstreckt. Es ist somit nicht nur der oberste Grundsatz des Verstandes, sondern auch den Anschauungsformen übergeordnet und somit oberstes Prinzip der Erkenntnis überhaupt.258 Das „Ich denke“ hat, wie bereits an­ gedeutet wurde, den Status einer Vorstellung bzw. eines Begriffs im Sinne eines Urteils.259 Es ist entsprechend des Vorhergehenden die allgemeinste Form der Vorstellung, da es alle anderen Vorstellungen in sich enthält und es unter keine andere Vorstellung subsumiert werden kann. Die Funktion dieser Vorstellung liegt in dem ‚Begleiten Können‘ von oder ‚Hinzukommen‘ zu Vorstellungen bzw. Urteilen. Formal kann man eine Verstandesvorstellung bzw. ein Urteil durch „S ist P“ beschreiben. Das Begleiten einer Vorstellung durch das Urteil ‚Ich denke‘ kann man auf folgende Form bringen: „Ich denke, dass S ist P“.260 Neben dieser formalen Darstellung ist aber inhaltlich zu fragen, was damit ausgesagt ist. Hierzu bedarf es eines Rückgriffs auf das einleitend erwähnte Konzept des Bewusstseins. Fällt man ein Urteil der Form „S ist P“, so ist damit das Bewusstsein eines Inhalts des Denkens ausgedrückt. Dieses Urteil nun mit dem Urteil „Ich denke“ zu begleiten, bedeutet, sich der Handlung des Urteilens bzw. der im Urteil geleisteten Synthese ‚in

255 Hierzu auch eine einschlägige Stelle aus der Anth VII, S. 161: „die reine Apper­ ception [ist] ein Bewußtsein dessen, was der Mensch thut“. Wunderlich 2005, S. 160 beschäftigt sich intensiver mit der Unterscheidung von Bewusstsein und Selbstbewusstsein und kommt zu demselben Ergebnis. 256 KrV, B 132. Wie Klemme 1996, S. 382 erläutert, macht dieser Umstand auch die „Ursprünglichkeit“ des Selbstbewusstseins verstehbar, von der Kant spricht. 257 KrV, B 131f. 258 Vgl. Höffe 2003, S. 140. 259 Vgl. KrV, B 132. 260 Vgl. Deppermann 2001, S. 131f.

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mir‘ bewusst zu werden. Das Selbstbewusstsein ist also das Bewusstsein, dass ‚Ich‘ derjenige bin, der die Vorstellungen durch Urteile verbindet. Es handelt sich also um ‚meine‘ Vorstellungen und nicht die eines ande­ ren Subjekts. In anderen Worten ausgedrückt: „Meine Vorstellungen sind Vorstellungen, die ich nicht nur habe, sondern die ich auch mir selber zuschreibe oder zuschreiben kann, und von denen ich daher weiß oder wissen kann, daß ich sie habe.“261 Der Unterschied zwischen dem Bewusst­ sein und dem Selbstbewusstsein liegt also darin, dass das Selbstbewusstsein eine Referenz auf das Subjekt bzw. das ‚Ich‘ herstellt. Denn eine solche Beziehung geschieht nicht schon dadurch, „daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der andern [Vorstellung, B. H.] hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin.“262 Entscheidend ist nun, dass Kant auch hier wieder eine weitere Diffe­ renzierung zwischen a) empirischen Bewusstsein und b) reinem Selbstbe­ wusstsein einführt. a) Das empirische Bewusstsein ist ein Bewusstsein in der Zeit und deswegen „an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts.“263 Dieses Bewusstsein bezeichnet Kant auch als inneren Sinn. Es ist das Vermögen „vermittelst dessen das Gemüt sich selbst oder sei­ nen inneren Zustand anschauet.“264 Es leistet im Gegensatz zum reinen Selbstbewusstsein nur das Bewusstsein des passiv-sinnlichen Leidens von Vorstellungen (innerer Sinn) und dementsprechend ausschließlich die sub­ jektive Einheit der Apperzeption. Diese subjektive Einheit lässt sich als Beschreibung der empirischen Bedingungen verstehen, unter denen das spezifische Erkenntnissubjekt steht. So ist z. B. die Wahrnehmung eines Gegenstandes immer von den raum-zeitlichen Umständen abhängig, in denen sich das empirische Subjekt befindet.265 b) Das reine Selbstbewusstsein hingegen macht sich nicht allein den Inhalt und die Tätigkeit des Verstandes bewusst, sondern die Identität des ‚Ichs‘ bzw. Subjekts266: „Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstell­ ungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich

261 262 263 264 265 266

Carl 1998, S. 193. KrV, B 133, Hervorhebung B. H. KrV, B 133. KrV, B 37. Vgl. Carl 1998, S. 198. Vgl. KrV, B 132.

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mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vor­ stelle“.267 Es ist immer ein und dasselbe Subjekt, welches die Tätigkeit der Synthesis an den in ihm gegebenen Vorstellungen vollzieht. Es handelt sich jedoch eben nicht um das empirische Subjekt, welches Gegenstand der sinnlichen Anschauung ist, sondern um die „leere Vorstellung“ des „transzendenta­ len Subjekts“.268 Das transzendentale Subjekt ist eine notwendige, weil erkenntniskonstitutive Vorstellung, aber kein der Erkenntnis zugänglicher Gegenstand.269 Kant bezeichnet diese Art des Subjekts deswegen auch als „logisches Subjekt“.270 Diese Unterscheidung zwischen empirischem und reinem Selbstbe­ wusstsein hat gewichtige Implikationen für den Status der in der Erkennt­ nis geleisteten Urteile. Der Akt der Synthesis, durch den in der Mannig­ faltigkeit Einheit gestiftet wird, ist schließlich das Urteilen. Kant unter­ scheidet je nachdem, in welchem Selbstbewusstsein die entsprechenden Vorstellungen vereinigt werden, zwischen einem a) Wahrnehmungs- und einem b) Erfahrungsurteil.271 a) Ein Wahrnehmungsurteil vereinigt Vorstellungen nicht nach den Ver­ standesregeln, d. h. Kategorien, sondern nach empirischen Gesetzen der Assoziation. Diese Gesetze der Assoziation entstehen durch das häufige Aufeinanderfolgen von Vorstellungen, ohne jedoch deswegen einen allge­ meinen und notwendigen Status zu erlangen.272 Ein solches Urteil hat mit­ hin nur relative Bestimmtheit. Ebenso hat es nur relative Einheit, weil die Gesetze der Assoziation die Vorstellungen in einem empirischen Bewusst­ sein vereinigen. Daraus folgt, dass es nur „subjektive Gültigkeit [hat], es ist blos Verknüpfung der Wahrnehmungen in meinen Gemüthszustande, ohne Beziehung auf den Gegenstand.“273 Es ist also nur relativ auf das

267 KrV, B 133. 268 KrV, B 404. 269 Vgl. KrV, B 404: „Durch dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denket, wird nun nichts weiter, als ein transzendentales Subjekt der Gedanken vorge­ stellt = x, welches nur durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird, und wovon wir, abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben kön­ nen“. 270 KrV, A 350. 271 Prol IV, S. 297. 272 Vgl. Anth VII, S. 176: „empirische Vorstellungen, die nach einander oft folgen, bewirken eine Angewohnheit im Gemüth, wenn die eine erzeugt wird, die andere auch entstehen zu lassen.“ 273 Vgl. Prol IV, S. 300.

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momentan urteilende Subjekt gültig und besitzt über den Kontext der Äußerung hinaus keine Gültigkeit.274 b) Ein Erfahrungsurteil hingegen vereinigt Vorstellungen entsprechend der Kategorien.275 Die kategorial bestimmte Art und Weise des Verbindens verleiht den Urteilen Allgemeinheit und Notwendigkeit – oder anders ausgedrückt: objektive Gültigkeit. Die Vorstellungen werden im reinen Selbstbewusstsein vereinigt. Diese Apperzeption hat nichts Empirisches an sich und ist außer der Vorstellung der Einheit leer. Daher werden die Vorstellungen „ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts“ verbunden und gelten nicht im Subjekt, sondern im Objekt als verbunden.276 Man kann also zusammenfassen: Die transzendentale Einheit der reinen Apperzeption ist folglich dasjenige, „was allein die Beziehung der Vorstel­ lung auf einen Gegenstand, mithin ihre objektive Gültigkeit, folglich daß sie Erkenntnisse werden (sic!), ausmacht“277. Die reale Möglichkeit der Gegenstandserkenntnis hängt in letzter Konsequenz an der Einheit des Ichs. * Kant beansprucht, sowohl für die Sinnlichkeit als auch für den Verstand erfahrungsunabhängige Elemente – reine Anschauung und reine Begriffe – nachgewiesen zu haben. Damit kann entsprechend der kopernikanischen Wende dem Subjekt eine konstitutive Rolle in der Erkenntnis eingeräumt werden. Synthetische Sätze a priori sind möglich, allerdings unter Ein­ schränkungen: Es hat sich gezeigt, dass der Verstand a priori niemals mehr leisten kann, „als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren, und, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Er­ fahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit […] niemals überschreiten könne.“278

274 Carl 1998, S. 200 merkt allerdings an, dass subjektive Gültigkeit nicht so ver­ standen werden darf, dass diese Urteile nur für das Subjekt gelten oder wahr sind, sondern dass ihre Wahrheitsbedingungen auf die Empfindungen des Sub­ jekts Bezug nehmen. 275 Vgl. KrV, B 144: „Ein Mannigfaltiges, das in einer Anschauung, die ich die meinige nenne, enthalten ist, wird durch die Synthesis des Verstandes als zur notwendigen Einheit des Selbstbewußtseins gehörig vorgestellt, und dieses ge­ schieht durch die Kategorie.“ 276 KrV, B 142. 277 KrV, B 137, Hervorhebung B. H. 278 KrV, B 303, Hervorhebung B. H.

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Die Form – reine Anschauung und Kategorien – der Erkenntnis liegt bereits a priori im Subjekt vor. Diese Voraussetzung bildet die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass synthetische Erkenntnis a priori überhaupt möglich ist. Zu einer anderen Art von Anschauung (intellektuelle An­ schauung) in der das Erkenntnissubjekt das zu erkennende Objekt in der theoretischen Erkenntnis selbst hervorbringt, ist der Mensch nicht fähig.279 Im Gegensatz zur Form muss der Inhalt der Erkenntnis, im Sinne der realen Möglichkeit des Gegenstandes, dem Subjekt nämlich stets extern und damit unabhängig von ihm gegeben werden280: „[E]s sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sin­ ne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstell­ ungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren.“281 Da der Mensch die Gegenstände stets unter den Bedingungen der Sinn­ lichkeit – Raum und Zeit – wahrnimmt, nimmt er sie nie unabhängig von den Anschauungsformen wahr. In der Sinnlichkeit werden daher nur Vorstellungen der Dinge, nie aber Dinge als solche gegeben. Was die Din­ ge in Abstraktion von der menschlichen Vorstellungsart als außergeistige Entitäten sind, ist weder synthetisch a priori noch empirisch erkennbar.282

1.2 Bestimmbare und unbestimmbare Gegenstände: Erscheinung und Ding an sich Wir haben gesehen, was es heißt, theoretische Erkenntnis eines Gegenstan­ des zu erlangen. Dementsprechend kann man die Gegenstände danach einteilen, ob wir von ihnen Erkenntnis erlangen können oder ob uns diese bei ihnen verwehrt ist: Bei ersteren handelt es sich um 1) Gegenstände sinnlicher Anschauung, letztere sind 2) Gegenstände nicht-sinnlicher Anschau­ ung bzw. nicht Gegenstände sinnlicher Anschauung. Die Pointe bei dieser Einteilung liegt darin, dass Kant hierbei mit Blick auf den Gegenstandsbe­

279 Vgl. KrV, B 72. 280 KrV, B 145: „Allein von einem Stücke konnte ich im obigen Beweise doch nicht abstrahieren, nämlich davon, daß das Mannigfaltige für die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein müsse; wie aber bleibt hier unbestimmt.“ Gemeint ist hiermit eine transzendentale, nicht eine empirische Äußerlichkeit, siehe KrV, A 373. 281 Prol IV, S. 289, Hervorhebung B. H. 282 KrV, B 45, B 332f.

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reich der Metaphysik versucht Wege auszuloten, wie man nichterkennbare Dinge thematisieren kann. 1) Kant differenziert bei Gegenständen sinnlicher Anschauung zwischen einer Erscheinung als „unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen An­ schauung“283 und einem Phaenomenum als durch Kategorien bestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung.284 Einen Gegenstand zu be­ stimmen, bedeutet einen Begriff synthetisch zu erweitern und diesem ein Prädikat unter Ausschluss seines Gegenteils zuzuschreiben.285 Bestimmt­ heit gewinnt ein Gegenstand immer erst durch die Anwendung der Kate­ gorien auf seine Erscheinung. Erscheinungen können deswegen bestimmt werden, weil sie in Raum und Zeit liegen und daher epistemisch zugäng­ lich sind.286 2) Eine analoge Unterscheidung lässt sich bei unerkennbaren Gegen­ ständen zwischen Ding an sich (Noumenon in negativer Bedeutung) und Noumenon (in positiver Bedeutung) treffen287: das Ding an sich als unbe­ stimmter Gegenstand und das Noumenon als kategorial bestimmter Gegen­ stand. Das Noumenon (in positiver Bedeutung) ist ein „Objekt einer nicht­ sinnlichen“ bzw. intellektuellen Anschauung.288 Anschauung dient immer dazu, dem Denken seinen Gegenstand zu geben. Intellektuelle Anschau­ ung wäre „eine solche [...], durch die selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird“.289 Eine solche Art der Anschauung ist dem Menschen allerdings verwehrt, weil seine Anschauung immer sinnlich ist. Daher können die Kategorien zur Bestimmung des Gegenstandes keine Anwendung finden und dementsprechend gibt es keine Erkenntnis. Es bleibt nur eine Verwendung des Dings an sich als kategorial unbe­ stimmter Gegenstand übrig. Damit wird ein Ding bezeichnet, „sofern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist“, bei dem wir „von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren“.290 Ein Ding also, das auf­ grund dieser Abstraktion weder räumlich noch zeitlich ist. Die „objektive Realität“ des Dings an sich kann „auf keine Weise erkannt werden“. Das bedeutet allerdings nicht, dass es nicht denkbar (logisch möglich) wäre.

283 284 285 286 287 288 289 290

KrV, B 34, Hervorhebung B. H. Vgl. KrV, A 248f. KrV, B 626, AA I, S. 391. Vgl. Engelhard 2014, S. 23f. Vgl. Allison 2004, S. 57f. KrV, B 307, Hervorhebung B. H. KrV, B 72. KrV, B 307, Hervorhebung B. H.

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Schließlich ist alles denkbar, was „keinen Widerspruch enthält“. Das Ding an sich ist in diesem Sinne ein problematischer Begriff291: „[Es ist] die Vorstellung eines Dinges, von dem wir weder sagen kön­ nen, daß es [real] möglich, noch daß es [real] unmöglich sei, indem wir gar keine Art der Anschauung, als unsere sinnliche kennen, und keine Art der Begriffe, als die Kategorien, keine von beiden [d. h. sinn­ liche Anschauung und Kategorien, B. H.] aber einem außersinnlichen Gegenstande angemessen ist.“292 Das Konzept des Dings an sich fungiert daher in der Erkenntnistheorie lediglich als „Grenzbegriff“.293 Es markiert den Unterschied von realer und logischer Möglichkeit, von Erkennen und bloßem Denken. Die Möglich­ keit der menschlichen Erkenntnis wird auf die Erscheinungen eingegrenzt und die Unerkennbarkeit von Gegenständen behauptet, die jenseits mögli­ cher Erfahrung liegen. In Bezug auf die Denkbarkeit des Noumenon in negativer Bedeutung sind jedoch zwei Fälle unterscheidbar294: Entweder wir stellen uns ein reines Gedankending vor, dann denken wir uns den Begriff eines Gegenstandes, „auf welche[n] unser sinnliches Anschauungsvermögen gar keine Beziehung hat“.295 Wir können, weil Erkenntnis und Wissen voneinander getrennt sind, wenn auch keine Er­ kenntnis und dementsprechend kein substanzielles Wissen, doch zumin­ dest basale logische Aussagen über Dinge an sich treffen und somit in diesem strikt eingeschränkten Sinn Wissen von ihnen haben.296 Hierbei lässt sich ein solcher Begriff über die Widerspruchsfreiheit hinaus nicht theoretisch rechtfertigen.297 Oder aber wir haben eine Erscheinung gegeben und reflektieren unter Abstraktion aller sinnlich erfahrbaren Eigenschaften auf die Bedingung der Erscheinung.298 Für diesen Fall ergibt sich aus den bisherigen Überle­

291 KrV, B XXVIII, B 310. Die Denknotwendig von Freiheit beschreibt Watkins 2005, S. 325ff als „Grounding Thesis“. 292 KrV, B 343. 293 KrV, B 310. 294 Vgl. Rosefeldt 2015, S. 1686ff. 295 KrV, B 309. 296 Vgl. Willaschek/Watkins 2017, S. 17f. 297 Das heißt jedoch nicht, dass Kant nicht versucht zu erläutern, worin unser Bedürfnis besteht, über solche Begriffe nachzudenken. Dies ist Gegenstand der transzendentalen Dialektik. 298 Vgl. Engelhard 2004, S. 185f: „Erst auf der Ebene der transzendentalen Erkennt­ nis stellt sich das Problem der Begründung von Erscheinungen derart, daß wir Erscheinungen durch etwas begründen wollen, was nicht Erscheinung ist.

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gungen in der transzendentalen Analytik eine über die Widerspruchsfrei­ heit hinausgehende Rechtfertigungsstrategie: So betrachtet Kant das Ding an sich als denknotwendig. Denknotwendig wird es einerseits analytisch, weil der Begriff der Erscheinung etwas impliziert, was in ihr erscheint.299 In dieser Feststellung wird auf die Tatsache verwiesen, dass Erscheinungen Vorstellungen sind. Vorstellungen sind immer Vorstellungen von etwas. Dieses Etwas muss „ein von der Sinnlichkeit unabhängiger Gegenstand sein“.300 Anderseits wird das Ding an sich strukturell dadurch notwendig, dass die Sinnlichkeit nur rezeptiv und die Erscheinung eine „Wirkung“301 auf die Vorstellungsfähigkeit ist. Es bedarf also dazu einer aktiven und so­ mit bewirkenden Entsprechung. Dieser „Grund“302 der Erscheinung liegt im Ding an sich. Das Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung spezi­ fiziert Kant als kausales Verhältnis. In diesem Sinne ist ein Ding an sich „Ursache“ einer Erscheinung.303 Über das genaue Verständnis des Konzepts wurde schon seit der Ver­ öffentlichung der KrV zu Kants Lebzeiten kontrovers diskutiert. In der Forschung haben sich zwei paradigmatische Lesarten des Problems her­ ausgebildet: 1) Die Zwei-Welten bzw. Zwei-Objekte-Theorie oder 2) die Eine-Welt bzw. Zwei-Aspekte-Theorie.304 1) Die Zwei-Welten-Theorie geht von einem Dualismus von Erscheinun­ gen und Dingen an sich aus.305 Es handelt sich dabei um zwei unter­ schiedliche Arten von Entitäten: geistige und außergeistige Entitäten. Erscheinungen werden als die mentalen Inhalte eines spezifischen Be­ wusstseins aufgefasst, die nur in diesem Bewusstsein existieren. Davon strikt getrennt sind die Dinge an sich, verstanden als außerhalb des Geistes existierende, aber nicht erkennbare Gegenstände. Weder kann man sie wahrnehmen noch unterliegen sie Raum und Zeit. Die Dinge

299 300 301 302 303 304 305

Doch nach Kant können wir den Erscheinungsbegriff nur begründen durch eine Reflexion auf die begriffliche Beziehung von Erscheinung und Ding an sich selbst.“ Vgl. KrV, B XXVI, Prol IV, S. 315, Allais 2010, S. 14. KrV, A 252. KrV, B 33. Prol IV, S. 315, KrV, B 565. KrV, B 565. Zu den verschiedenen Positionen und Argumenten: Allais 2004, 2010, Watkins 2005, S. 311–325. Klassische Vertreter dieser Position sind: Strawson 1981, Guyer 1987, van Cleve 1999.

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an sich sind der ontologische, aber nicht näher spezifizierbare Grund der Erscheinungen.306 2) Die Eine-Welt-Theorie fasst die Unterscheidung zwischen beiden Begrif­ fen nicht als ontologisch, sondern methodologisch auf.307 Der Aus­ druck „Ding an sich“ sei nur die Kurzform der längeren Version „Ding an sich selbst betrachtet“.308 In diesem Sinn wird ein und dieselbe Enti­ tät aus zwei Perspektiven betrachtet: einmal in Abhängigkeit zu den Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Erkenntnissubjektes als Erscheinung, einmal unabhängig von diesen Bedingungen als Ding an sich (selbst betrachtet).309 Damit kann man vermeiden, dass sich ein erkennbarer und ein unerkennbarer Aspekt der Welt unvermittelt gegenüber stehen.310 * Sowohl für die Eine-Welt als auch die Zwei-Welten-Theorie finden sich ausreichend Textbelege.311 Eine einseitige Lesart hat also schon immer das Problem, gewisse Aussagen Kants vernachlässigen zu müssen. Darüber hinaus sind gegen beide Lesarten kritische Einwände hinsichtlich ihrer immanenten Stimmigkeit erhoben worden: 1) Als besonders problematisch bei der Zwei-Welten-Theorie wird erachtet, dass die Dinge an sich zwar für unerkennbar erklärt werden, ihnen einerseits Prädikate wie Dasein und Grund bzw. Kausalität zugeschrie­ ben, andererseits aber Prädikate wie Raum und Zeit abgesprochen werden. Dass ist deswegen widersprüchlich, weil es sich nach Kants Auffassung hierbei entweder um reine Verstandesbegriffe oder reine Anschauungsformen handelt. Diese können aber nur auf Gegenstände

306 307 308 309

Vgl. Allison 1996, S. 3. Als Hauptvertreter dieser Theorie sind Prauss 1977, Allison 1996 zu nennen. Vgl. Prauss 1977, 13–23. Allison 1996, S. 3f spricht von „epistemic conditions“ als notwendige Bedingun­ gen für die Vorstellung von Objekten. 310 Vgl. Allais 2010, S. 17f. 311 Vgl. KrV, B 59: Kant legt hier mit der Formulierung, dass Erscheinungen „existieren“ nahe, Erscheinungen ontologisch zu interpretieren. In KrV, B 69 benennt er die reine Anschauung als „Anschauungsart“, was eine methodologi­ sche Perspektive nahelegt. Ebenso GMS IV, 452: Ein vernünftiges Wesen hat „zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachtet, […] einmal, so fern es zur Sinnenwelt gehört, […] zweitens, als zur intelligibelen (sic!) Welt gehörig […].“

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möglicher Erfahrung Anwendung finden.312 Kant würde somit einen klaren Selbstwiderspruch begehen. 2) Der Haupteinwand gegen die Eine-Welt-Theorie besteht darin, dass man zwar durchaus von den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis abstrahieren und somit einem Gegenstand als Erscheinung alle Eigen­ schaften entziehen kann, die ihm basierend auf diesen Bedingungen zukommen. Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, welche Eigenschaften das Ding an sich unabhängig von diesen Bedingungen hat.313 Aufgrund dieser Einwände gegen beide Lesarten wird versucht, in einer als ‚ontologisch‘ bezeichneten Variante der Zwei-Aspekte-Theorie die Vor­ züge beider Lesarten unter Ausschluss der aufgezeigten Widersprüche miteinander zu vereinen.314 Dies hätte den Vorteil, auch der scheinbar widersprüchlichen Quellenlage bei Kant gerecht zu werden. ad 1) Der Haupteinwand gegen die Zwei-Welten-Theorie lässt sich da­ durch entkräften, dass man aufzeigen kann, inwiefern es einen legitimen Gebrauch der Kategorien auf Dinge an sich gibt. Nach der ontologischen Zwei-Aspekte-Theorie bedeutet, ein Ding an sich zu betrachten, zwar von allen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zu abstrahieren, aber: „Kant clearly allows for a logical (as opposed to a real) use of the categories for the thought of things in general and/or as they are in themselves“.315 Wie Kant in aller denkbaren Klarheit betont, können wir zwar das Ding an sich nicht kategorial bestimmen und somit erkennen, dieser Umstand bedeutet aber gerade nicht, dass die Kategorien auf das Ding an sich keine Anwendung finden können: „[I]ch [will] nur in Erinnerung bringen, daß die Kategorien im Den­ ken durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung nicht eingeschränkt sind, sondern ein unbegrenztes Feld haben, und nur

312 Zu der Vielzahl an Kritikern, die diesen Widerspruch anführen: Vgl. Bojanow­ ski 2006, S. 126. 313 Vgl. Guyer 1987, S. 337f, Allais 2010, S. 19. Van Cleve macht diese Schwierigkeit durch ein Beispiel besonders anschaulich: „How is it possible for the properties of anything to vary according to how it is considered? As I sit typing these words, I have shoes on my feet. But consider me apart from my shoes: so considered, am I barefoot? I am inclined to say no; consider me how you will, I am not barefoot?“ (van Cleve 1999, S. 8.). 314 Vgl. Rosefeldt 2007, S. 170. 315 Vgl. Allison 1996, S. 7, Hervorhebung B. H.

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das Erkennen dessen, was wir uns denken, das Bestimmen des Objekts, Anschauung bedürfe“.316 Damit können durchaus analytisch-logische Aussagen über Dinge an sich getroffen werden, was die Zuschreibung der oben angeführten Kategorien wie Dasein, Kausalität etc. betrifft.317 Schließlich enthalten diese Begriffe nichts Unmögliches, weil sie sich selbst nicht widersprechen. Vielmehr sind sie sogar die notwendigen Bedingungen der Erfahrungsgegenstän­ de.318 ad 2) Problematisch bleibt allerdings, dass dann zwar das Ding an sich als Grund der Erscheinungen ausgewiesen werden kann, allerdings nur als gedachter Grund. Deshalb versucht die ontologische Zwei-Aspekte-Theorie, Raum für eine Lesart der Unterscheidung von Ding an sich und Erschei­ nung zu schaffen, die Kants ontologisches Bekenntnis zu einer vom Sub­ jekt unabhängigen Realität betont.319 Der Realismus im transzendentalen Idealismus wird in Bezug auf die möglichen Eigenschaften des Dinges an sich diskutiert, die ihm unabhängig von den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zukommen könnten: Das Ding an sich selbst betrachtet, wird dabei als ein unerkennbarer Aspekt eines erkennbaren Dings (als Er­ scheinung) verstanden.320 Mit ‚Aspekten‘ sind in diesem Zusammenhang aber weniger die zwei Weisen gemeint, in der man ein und dasselbe Ding thematisieren kann, sondern die zwei verschiedenen Arten von Ei­ genschaften, die ein und dasselbe Ding besitzt. So gibt es an Gegenständen erkennbare und unerkennbare Eigenschaften: Eine erkennbare Eigenschaft eines Gegenstandes ist eine Eigenschaft, die außergeistigen Gegenständen nur in Relation zu Erkenntnissubjekten zukommt. Die Radikalität des transzendentalen Idealismus tritt darin zu Tage, dass dies für alle Eigen­ schaften in Raum und Zeit zutrifft. Bei unerkennbaren Eigenschaften hin­ gegen handelt es sich um solche, die Gegenstände unabhängig von einer Relation zum Erkenntnissubjekt haben.321 Wie kann man aber logische Aussagen über Dinge an sich (unerkennbare Eigenschaften) treffen, die

316 KrV, B 166 Fn. 317 Damit wird ausgesagt, dass wenn unsere Begriffe bestimmte Eigenschaften der Dinge erfassten, sie diese richtig erfassen. Wenn etwas eine Ursache oder ein Stuhl oder eine Seele ist, dann gelten für diese Sachen alle mit dem jeweiligen Begriff verbundenen analytischen Folgerungen: Willaschek 1992, S. 28. 318 KpV V, S. 54. 319 Vgl. Allais 2010, S. 7, Rosefeldt 2013, S. 240ff, Hoerlin 2013, S. 24. 320 Vgl. Allais 2010, S. 12ff. 321 Vgl. Rosefeldt 2007, S. 172, Willaschek 1992, S. 24ff.

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ihre Realität zumindest plausibel machen und gleichzeitig die Restriktio­ nen des transzendentalen Idealismus wahren? Rosefeldt versucht dieses Problem dadurch zu lösen, dass er diese unerkennbaren Eigenschaften als Disposition beschreibt, in uns Vorstellungen hervorrufen zu können.322 Damit drückt die Unterscheidung in Ding an sich und Erscheinung zwei unterschiedliche ontologische Aspekte aus, die jedoch zu einer gemeinsa­ men Welt gehören.323 Erscheinungen sind uns unmittelbar gegeben und somit in ihrer Existenz unzweifelhaft. Die Annahme der Existenz einer vorstellungstranszendenten Ursache lässt sich dann dadurch rechtfertigen, dass man durch die Wahrnehmung der sinnlichen Eigenschaften eines Gegenstandes auch dessen nicht-sinnliche Eigenschaften annehmen muss. Schließlich rufen die Dispositionen der Gegenstände, die von uns wahrge­ nommenen Eigenschaften hervor. Dabei handelt es sich um zwei Aspekte ein und derselben Sache. Aber selbst im Kontext dieser systematischen Plausibilisierung der Ein­ teilung in Ding an sich und Erscheinung bleibt diese Unterscheidung doch problematisch. So scheint letztlich selbst für Rosefeldt das Hauptar­ gument für die Existenz eines kausalen Grunds der Erscheinung in Kants bereits dargestelltem analytischen Argument zu liegen, dass eine Erschei­ nung notwendig ein Erscheinendes impliziert.324 Man könnte einwenden, dass der Zusammenhang zwischen Erscheinung und Ding an sich somit weiterhin ein ausschließlich gedachter bliebe – wenn auch nicht mehr zwischen zwei, sondern innerhalb einer einzigen Entität. Das mag im Sinne der Widerspruchsfreiheit des Konzepts der Zwei-Aspekte-Theorie plausibler sein, eine direkte Rechtfertigung der Existenz der Dinge an sich ist damit allerdings nicht gegeben.325 Diese Aporie scheint indes eine notwendige Konsequenz des generel­ len Ansatzes des transzendentalen Idealismus zu sein, der die Welt nach

322 Vgl. Rosefeldt 2013, S. 244f, 2007, S. 195. 323 Vgl. Hahmann 2010, S. 141. 324 Vgl. Rosefeldt 2013, S. 249f: „Der Schluss von der Existenz von Erscheinungen (als Träger subjektabhängiger Eigenschaften) auf die Existenz von Dingen an sich (als Träger subjektunabhängiger Eigenschaften) ist durch einen begriffli­ chen Zusammenhang gerechtfertigt, als einen, den man durch ein analytisches Urteil zum Ausdruck bringt.“ 325 Der ontologischen Zwei-Aspekte-Theorie wie Engelhard 2014, S. 29 zumindest indirekt das Postulat der Erkennbarkeit des Dings an sich zu unterstellen, halte ich allerdings zumindest für den Ansatz von Rosefeldt für eine Fehlinterpretati­ on. Entscheidend scheint mir der logische Status der Aussagen über das Ding an sich zu sein.

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Maßgabe der kopernikanischen Wende vom Subjekt her zu denken ver­ sucht. Schließlich beruht im transzendentalen Idealismus die Möglichkeit synthetischer Erkenntnis a priori überhaupt darauf, dass sich die RaumZeitlichkeit und die Gegenständlichkeit der von uns wahrgenommenen Natur nicht dieser selbst, sondern der Struktur unseres Wahrnehmungsap­ parats und unseres Denkens verdankt326: Die Struktur der Natur ist also wesentlich bzw. vollständig konstituiert durch die Eigenschaften unseres Erkenntnisvermögens. Dies betrifft nicht nur die Einzeldinge, sondern auch ihre Eigenschaften und Relationen zueinander.327 Wie Kant in der GMS unmissverständlich klar macht, wird damit dem gedachten Bereich der Dinge an sich (Verstandeswelt) das Primat gegenüber der sinnlich erfahrbaren Welt (Sinnenwelt) eingeräumt: „die Verstandeswelt [enthält] den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben [der Sinnenwelt]“.328 Der letzte Grund der Sinnenwelt und damit der Gesetze der Sinnenwelt liegt in der Verstandeswelt.329 Das Denken in seiner auf theoretische Er­ kenntnis ausgerichteten Form ist auf etwas anderes als sich selbst angewie­ sen, um sich der Wahrheit seines Denkens zu versichern. Den Grund dieses anderen kann es aber nach Maßgabe des transzendentalen Idealis­ mus selbst wiederum nur denken. Die Wahrheit dieses Grundes lässt sich jedoch ausgehend von der eingangs dargestellten „Revolution der Den­ kart“ nicht durch Erkenntnis einlösen.330 Denn es gibt, wie Kant betont, „über das Kausalverhältnis des Intelligibilen zum Sensibilen […] keine Theorie“.331 Paradoxerweise könnte, gerade weil der Grund in der Natur nur ein gedachter und kein erkannter Grund ist, das Subjekt des Denkens selbst zum Grund – nicht nur zum theoretischen Grund der Natur, sondern zum praktischen Grund seines eigenen Handelns – werden: Das Subjekt müss­ te sich dann widerspruchsfrei als intelligible Ursache von Erscheinungen denken können. Dieser Gedanke, der aus der Unbestimmtheit des Dings an sich für die theoretische Vernunft fließt, hat daher

326 Rosefeldt 2013, S. 223. 327 Zur kantischen Konstitutionsthese der Natur: Engelhard 2014, S. 20. 328 GMS IV, S. 453. Ebenso KdU V, S. 176: das „Übersinnliche[…], welches der Natur zum Grund liegt“. 329 Vgl. Hahmann 2012b, S. 141. 330 Zur Beweiskraft der kopernikanischen Wende Kants: Falkenburg 2018. 331 TL VI, S. 439.

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„seine wahre[n] und nützliche[n] Folgen auf den Vernunftgebrauch des Subjekts, […] weil er nicht immer auf die Bestimmung des Objek­ tes, mithin aufs Erkenntnis (sic!), [sondern] auch auf die des Subjekts und dessen Wollen gerichtet ist“.332 Hiermit ist ein Übergang von der theoretischen zur praktischen Vernunft angedeutet, der allerdings einer grundlegenden Erläuterung bedarf. Im Folgenden soll deswegen systematisch rekonstruiert werden, wie die Un­ terscheidung von Erscheinung und Ding an sich konstitutiv für die Mög­ lichkeit von Freiheit sein kann. Es sollte sich aber bereits aus den bisheri­ gen Überlegungen ein Problemhorizont ergeben: Wenn das Subjekt das Ding an sich nur als Ursache der Erscheinungen denken kann, wie soll es dann sich selbst als ebensolche Ursache (theoretisch) erkennen können?

1.3 Freiheit als absolute Spontanität 1.3.1 Der logische und reale Gebrauch der Vernunft Die Begrenzung der Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung hat unmittelbar Konsequenzen für die traditionelle Metaphysik. Damit hat sie auch mittelbar Folgen für den Begriff der Freiheit als Gegenstand, der in den Bereich der Metaphysik fällt. Zur Erinnerung: Metaphysik ist dem Anspruch nach eine Wissenschaft a priori der notwendigen und allgemeinen Letztbegründungen. Problematisch ist dabei, dass sie „speku­ lativ“ vorgeht. Das bedeutet, dass „sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann.“333 Die Metaphysik beschäftigt sich in dem oben erläuter­ ten Sinn mit reinen Gedankendingen und fällt nach den Ergebnissen der transzendentalen Analytik per definitionem aus dem Bereich der Erkennt­ nis und somit der Wissenschaftlichkeit heraus. Mithin wäre sie zu einer

332 KrV, B 166, KpV V, S. 42: „Über die Erfahrungsgegenstände hinaus, also von Dingen als Noumenen, wurde der spekulativen Vernunft alles Positive einer Erkenntnis mit völligem Rechte abgesprochen. – Doch leistete diese so viel, daß sie den Begriff der Noumenen, d. i. die Möglichkeit, ja Notwendigkeit derglei­ chen zu denken, in Sicherheit setzte und z. B. die Freiheit […] anzunehmen, als ganz verträglich mit jenen Grundsätzen und Einschränkungen der reinen theoretischen Vernunft, wider alle Einwürfe rettete […].“ 333 KrV, B 662f. Obwohl der Ursprung dieser Gegenstände der Vernunft in der Erfahrung liegt, indem die Vernunft auf die Erfahrung reflektiert: KrV, B 832.

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bloßen Schein-Wissenschaft degradiert. Kants Urteil fällt jedoch differen­ zierter aus: So hält er die bisherige Metaphysik zwar tatsächlich für eine illusorische Wissenschaft, jedoch ist ihr Schein nicht Ausdruck einer wil­ lentlichen Täuschung oder ideologischen Verblendung, sondern wurzelt mit Notwendigkeit in der Verfasstheit der menschlichen Vernunft.334 Es bedarf also eines genaueren Blicks auf das Konzept der Vernunft, um die skizzierten Konsequenzen für die traditionelle Metaphysik argumentativ einzuholen. Es wird dabei zuerst 1) die allgemeine Funktion der Vernunft charakterisiert, danach 2) diese Funktion durch ihre genuine Tätigkeit näher bestimmt und schließlich 3) der Unterschied zwischen ihrem logi­ schen und realen Gebrauch erläutert. 1) Funktion der Vernunft: Die Vernunft ist als Teil des Verstandes i.w.S. ein begriffliches Vermögen. Allerdings gewinnt sie erst in Abgrenzung zum Verstand ihre konzeptionelle Schärfe: So unterscheiden sich beide primär in der Art ihrer Begriffe. Während man den Verstand als „das Vermögen der Regeln“ beschreiben kann, ist die Vernunft „das Vermögen der Prinzipien“.335 Als Prinzip kann grundsätzlich jeder allgemeine Satz (empirisch oder rein) fungieren. Ein erstes oder oberstes Prinzip erfüllt darüber hinaus die Bedingung, nicht von etwas anderem logisch ableitbar zu sein. Im engeren Sinne sind mit Prinzipien in der transzendentalen Dia­ lektik aber „[s]ynthetische Erkenntnisse aus Begriffen“336, also synthetische Sätze a priori gemeint, die die Vernunft selbst hervorbringt.337 Weiter ist zu bemerken, dass sowohl der Verstand als auch die Vernunft als begriffliche Vermögen eine synthetische Funktion haben: Der Verstand bringt die Mannigfaltigkeit der Anschauung durch Begriffe (Regeln) zur Einheit. Die Vernunft zielt darauf ab, den Verstand „mit sich selbst in

334 KrV, B 353f. Eine solche ideologische Deutung der Vernunft schließt Kant schon deswegen prinzipiell aus, weil er von einer teleologischen Verfasstheit von Organismen, spezifisch dem Menschen, auszugehen scheint: „Alles, was in der Natur unserer Kräfte [konkret: der natürliche Hang der Vernunft über die Grenze der möglichen Erfahrung hinauszugehen, B. H.] gegründet ist, muß zweckmäßig und mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein, wenn wir nur einen gewissen Mißverstand verhüten und die eigentliche Rich­ tung derselben ausfindig machen können“ (KrV, B 670f). 335 KrV, B 356. 336 KrV, B 356. 337 Es stellt sich damit die Frage, ob die Vernunft selbst überhaupt eigene Begriffe hervorbringt – und, wenn ja, welchen Status diese Begriffe haben. Diese Fragen lassen sich allerdings nur im Zusammenhang mit der eigentlichen Tätigkeit des Verstandes beantworten. Zum Begriff des Prinzips bei Kant: König 1994, S. 9ff, Messina 2015.

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durchgängigen Zusammenhang zu bringen“.338 Inhaltlich sind damit ins­ besondere zwei Aspekte angesprochen: Einerseits ist es die Aufgabe der Vernunft, unsere Erfahrungserkenntnisse zu systematisieren und (deduk­ tiv) zu ordnen: d. h. sie in eine hierarchische Form der Über- und Unter­ ordnung zu bringen.339 Andererseits drängt die Vernunft den Verstand zur größtmöglichen Erweiterung der Erfahrung. Diese Erweiterung vollzieht sich dadurch, dass die Vernunft die Mannigfaltigkeit der (Verstandes-)Be­ griffe unter der höchsten begrifflichen Einheit des Denkens überhaupt vereinigt: den Prinzipien oder Vernunftbegriffen, die Kant in Anlehnung an die traditionelle Metaphysik auch Ideen nennt. Ideen sind in diesem Sinne keine eigenen von der Vernunft hervorgebrachten Begriffe, sondern „bis zum Unbedingten erweiterte Kategorien“.340 Schließlich ergeben sich aus dem Unterschied der Begriffe und der damit verbundenen synthetischen Leistung divergierende Arten von Ein­ heit: Die ‚Verstandeseinheit‘ konstituiert einen Gegenstand, durch den überhaupt erst Erkenntnis möglich ist, indem der Verstand nach dem Gemeinsamen in der Anschauung fragt. Die Vernunft versucht „durch Vergleichung seiner Begriffe [des Verstandes, B. H.], den allgemeinen Ge­ brauch derselben auf die kleinstmögliche Zahl derselben zu bringen“.341 Ein Prinzip ist jedoch „bloß ein subjektives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrate unseres Verstandes“, weil es keinen direkten Gegenstandsbe­ zug durch die Anschauung hat.342 Daher hat es im Gegensatz zu einem Verstandesbegriff keine erkenntniskonstitutive bzw. objektive, sondern eine bloß regulative Funktion.343 Regulativ bedeutet in diesem Zusammen­

338 KrV, B 362, B 670ff. 339 Exemplarisch in KrV, B 673: „Übersehen wir unsere Verstandeserkenntnisse in ihrem ganze Umfange, so finden wir, daß dasjenige, was Vernunft ganz eigentümlich […] zu Stande bringen sucht, das Systematische der Erkenntnis sei, d. i. der Zusammenhang derselben [der Erkenntnis] aus einem Prinzip.“ Hierbei ist auch darauf hinzuweisen, dass die Vernunft selbst ein System bildet: KrV, B 766. Für eine eingehendere Diskussion dieses Themas: Malzkorn 1999, S. 42. 340 KrV, B 435. 341 KrV, B 362. 342 KrV, B 362. 343 Zum Begriff des regulativen Prinzips, KrV, B 536f: Der Grundsatz der Vernunft „ist also kein Prinicipium der Möglichkeit der Erfahrung […], auch kein kon­ stitutives Prinzip der Vernunft […], sondern ein Grundsatz der der größtmögli­ chen Fortsetzung und Erweiterung der Erfahrung, nach welchem keine empiri­ sche Grenze für absolute Grenze gelten muß, also ein Prinicipium der Vernunft, welches, als Regel, postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll, und

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hang, dass das Prinzip der Vernunft nur eine anzustrebende Zielvorstel­ lung für die empirische Erkenntnis definiert.344 Analog zu den anderen Erkenntnisvermögen lässt sich der Beitrag der Vernunft zur Erkenntnis in einem analytisch-logischen Grundsatz zusammenfassen345: „[D]aß, wenn das Bedingte gegeben ist, uns eben dadurch ein Regres­ sus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben sei“.346 Man kann konstatieren, dass es das Ziel der Vernunft ist, „zu dem beding­ ten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird.“347 Das Streben nach der höchsten Ein­ heit entspricht also der Suche nach dem Unbedingten, durch die wir die Vernunft eingangs charakterisiert haben.348 2) Tätigkeit der Vernunft: Bisher haben wir uns nur mit der Wirkweise der Vernunft beschäftigt, ohne jedoch zu erläutern, wie die Vernunft ihre synthetische Funktion qua Vernunftbegriffe tatsächlich vollzieht. Da die Vernunft Teil des Verstandes i.w.S. ist, bringt sie ihre Begriffe selbsttätig und spontan hervor. Die spezifische Tätigkeit der Vernunft liegt nun nicht wie beim Verstand im Urteilen, sondern im Schließen – genauer im mit­ telbaren Schließen.349 Man kann vereinfachend sagen, dass, während der Verstand Begriffe durch Urteile verknüpft, die Vernunft Urteile durch Schlüsse synthetisiert. Die Schlüsse der Vernunft sind prinzipiell in zwei Richtungen denkbar: a) Entweder absteigend als Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere oder b) aufsteigend als Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine.

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nicht antizipiert, was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist. Daher nenne ich es ein regulatives Prinzip der Vernunft […].“ Schäfer versucht den Ansatz von Kant unter einer primär methodologisch ver­ fahrenden Wissenschaft fruchtbar zu machen: Schäfer 1971, S. 108. Hierzu auch Kant selbst: KrV, B 672. Im Falle der Anschauung handelt es sich um die reinen Anschauungsformen, beim Verstand um die transzendentale Einheit der Apperzeption. KrV, B 526. KrV, B 364. Auf die Frage, warum Kant die Erkenntnisse des Verstandes für be­ dingt hält, kann ich in diesem Zusammenhang nur hinweisen. Die Begründung liegt wohl in Abhängigkeit der Erkenntnis von dem Beitrag der Sinnlichkeit und deren Bedingungen Raum und Zeit (B 536f). Näheres hierzu: Malzkorn 1999, S. 40ff. Siehe Kap. II.1.1.1. Zu den Arten von Schlüssen bei Kant und dem Unterschied von mittelbaren und unmittelbaren Schlüssen: Klimmek 2005, S. 17f, Malzkorn 1999, S. 33f.

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a) Grundsätzlich besteht ein Schluss aus drei Elementen: einem Ober­ satz, einem Untersatz und einer Schlussfolgerung.350 Jedes dieser Elemente ist für sich ein Urteil (z. B. der Form: „S ist P“).351 In einem Schluss zusammengefasst, bilden sie eine Reihe. – Der Obersatz ist eine allgemeine Regel, die der Verstand vorgibt. Diese Regel besteht entsprechend ihrer Form als Urteil aus Subjekt und Prä­ dikat (z. B. „Alle Menschen sind sterblich“). – Der Untersatz ist ein Produkt der Urteilskraft. Er beschreibt eine An­ wendungsbedingung für die Regel, indem er für das Subjekt der Regel ein Besonderes bestimmt. Dies geschieht dadurch, dass ein Begriff oder eine Anschauung unter das Subjekt der Regel subsumiert wird („Sokra­ tes ist ein Mensch“). – Die Schlussfolgerung vollzieht die Vernunft. Hierbei wird die Anschau­ ung oder der Begriff des Untersatzes durch das Prädikat des Obersatzes bestimmt („Sokrates ist sterblich“). Das synthetisierende Bestreben der Vernunft in Bezug auf den Verstand zeigt sich in den Vernunftschlüssen konkret darin, dass sie vom Allgemei­ nen zum Besondern und umgekehrt durch Begriffe schließt. Der Untersatz spezifiziert das Subjekt der Regel demnach durch einen Begriff und nicht durch eine Anschauung.352 b) Bei einem aufsteigenden Schluss fungiert das (durch den Verstand) gegebene Urteil als Konklusion. Nehmen wir dazu den Obersatz aus dem vorigen Beispiel: „Alle Menschen sind sterblich“.353 Das Urteil besteht aus einem Subjekt („Menschen“) und einem Prädikat („sterblich“). Nun „suche ich im Verstande die Assertion [das Prädikat] dieses Schlußsatzes auf, ob sie sich nicht in demselben unter gewissen Bedingungen [Subjek­ ten] nach einer allgemeinen Regel vorfinde.“354 Wir suchen also zu dem gegebenen Urteil ein anderes Urteil mit demselben Prädikat („sterblich“), aber mit einem anderen Subjekt als zuvor („Mensch“) – so beispielsweise: „Alle Lebewesen sind sterblich“. Lässt sich das erste Subjekt („Mensch“)

350 Vgl. KrV, B 360f, 387, Log IX, S. 120. 351 Vgl. KrV, B 364. Wie wir sehen werden, wird hier ein kategorischer Schluss exemplifiziert. 352 Vgl. Renaut 1998, S. 357. 353 Zum logischen Schließen bei Kant: Willaschek 2018b, S. 51f. Das Beispiel tritt den Sachverhalt natürlich nur näherungsweise, weil es kein rein begrifflicher Schluss ist. Das grundsätzliche Prinzip des Vernunftschlusses sollte nichtsdesto­ trotz verständlich sein. 354 KrV, B 361.

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unter das zweite Subjekt („Lebewesen“) subsumieren, da es im Begriffsum­ fang als Element enthalten ist, so können wir das ursprüngliche Urteil als Schluss darstellen: – Obersatz: Alle Lebewesen sind sterblich – Untersatz: Alle Menschen sind Lebewesen – Schlussfolgerung: Alle Menschen sind sterblich Der Obersatz des Syllogismus hat die gesuchte höhere Allgemeinheit. Die­ ser kann dann wiederum als Konklusion unter einen noch allgemeineren Obersatz subsumiert werden. Dies geschieht durch die Verkettung der ein­ zelnen Schlüsse zu einem aufsteigenden Kettenschluss (Polysyllogismus). Gegebener Obersatz und ein potenziell dazugehöriger, noch allgemeinerer Obersatz stehen im Verhältnis wie Bedingtes und Bedingung zueinander. Die Bedingung selbst kann wiederum nach ihrer Bedingung befragt wer­ den und so weiter fort. Ziel dieses Verfahrens ist es, zu einem Obersatz zu gelangen, der selbst nicht mehr Konklusion sein kann. Damit hätte man eine Bedingung gefunden, die selbst nicht mehr bedingt wäre – das gesuchte Unbedingte und alle davon ableitbare Bedingungen. Die regula­ tive Funktion der Vernunft verwirklicht sich also in ihren aufsteigenden Schlussketten.355 Diese Schlüsse lassen sich systematisieren, wenn man sie nach der Art und Weise der Relation, die sie zwischen Bedingung und Bedingtem her­ stellen, betrachtet.356 Da es sich bei einem Schluss um ein Urteil handelt, kann Kant auf die Urteilsformen – spezifisch: auf den Modus der Relation – zurückgreifen.357 Es gibt somit drei Arten von Vernunftschlüssen, denen jeweils eine Idee entspricht358: – Kategorisch: Sie entsprechen der Urteilsform „S ist P.“ Zu dem Subjekt­ begriff wird ein Oberbegriff gesucht, der P universell aussagt. Kant assoziiert mit dieser Art des Unbedingten das Konzept der Seele in

355 Vgl. KrV, B 436. 356 Vgl. Klimmek 2005, S. 21. Kant selbst begründet diese Kategorisierung in der Logik nach dem Ausschlussverfahren: Log IX, S. 122f. 357 KrV, B 98: „Alle Verhältnisse des Denkens in Urteilen sind die a) des Prädikats im Subjekt, b) des Grundes zur Folge, c) der eingeteilten Erkenntnis und der gesammelten Glieder der Einteilung untereinander.“ 358 Vgl. KrV, B 379f: „Es gibt nämlich eben so viel Arten von Vernunftschlüssen, deren jede durch Prosyllogismen zum Unbedingten fortschreitet, die eine zum Subjekt, welches selbst nicht mehr Prädikat ist, die andre zur Voraussetzung, die nichts weiter voraussetzt, und die dritte zu einem Aggregat der Glieder der Einteilung, zu welchen nichts weiter erforderlich ist, um die Einteilung eines Begriffs zu vollenden.“

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der klassischen Metaphysik. Die Seele stellt die absolute Einheit des denkenden Subjekts dar. – Hypothetisch: Sie entsprechen der Urteilsform „Wenn: S ist P, dann: Q ist R.“ Es wird ein Sachverhalt gesucht, der „S ist P“ kausal bedingt, aber selbst nicht mehr bedingt ist. Hierbei handelt es sich um die Idee der Welt, verstanden als die Totalität der Dinge als Erscheinungen. – Disjunktiv: Sie entsprechen der Urteilsform „S ist entweder P oder Q oder R.“ Man sucht den gemeinsamen Oberbegriff zu P und Q und R.359 Hier wird das Unbedingte in der absoluten Einheit der Bedingun­ gen aller Gegenstände des Denkens überhaupt gesucht (Gott). 3) logischer und realer Gebrauch der Vernunft: Soweit scheint die Funktion der Vernunft und die damit einhergehenden Ideen unproblematisch zu sein. Vielmehr haben sie den positiven Effekt, dass sie den Verstand durch ihr Streben nach Letztbegründung, Einheit und Systematik über den ge­ genwärtigen Erkenntnisstand hinausstreben lassen.360 Es bedarf einer wei­ teren Unterscheidung, um den Übergang des produktiven Grundsatzes zur der notwendig aus der Vernunft hervorgehenden metaphysischen Illusion hervortreten zu lassen. Denn nicht die Ideen an sich sind ambivalent, son­ dern erst die Art ihres Gebrauchs durch die Vernunft.361 So unterscheidet Kant zwischen zwei Arten des Vernunftgebrauchs: einem logischen und einem realen Gebrauch der Vernunft. Die bisherige Darstellung hat sich weitestgehend auf die Darstellung des logischen Gebrauchs der Vernunft beschränkt. So ist es durchaus legitim, nach den unbedingten Prinzipien des Verstandes zu fragen, aber nur solange man beachtet, dass die logische Möglichkeit des Unbedingten nicht dessen reale Möglichkeit impliziert: „Der Grundsatz der Vernunft also ist eigentlich nur eine Regel, welche in der Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen einen Regressus gebietet, dem es niemals erlaubt ist, bei einem Schlechthinunbedingten stehen zu bleiben.“362 Die Prinzipien haben daher nur subjektive und nicht objektive Gültig­ keit – ihnen entspricht folglich kein Gegenstand. Genau an diesem Punkt überschreitet die Vernunft allerdings ihre Grenzen, indem sie von einer gegebenen Bedingung auf das Unbedingte und von der logischen auf die reale Möglichkeit des Unbedingten schließt. Dieser Übergang vollzieht sich dadurch, dass der analytische Grundsatz der Vernunft in einen syn­

359 360 361 362

Vgl. Klimmek 2005, S. 23, Höffe 2003, S. 216f. Vgl. KrV, B 672f. KrV, B 671. KrV, B 536f.

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thetischen Grundsatz umgewandelt wird. Letzterer besagt, dass zu einem Bedingten auch die Totalität der Bedingungen gegeben ist: „[W]enn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Summe der Bedingungen, mithin das schlechthin Unbedingte gegeben.“363 Das Unbedingte ist nämlich nichts anderes als „die ganze Summe der Bedingungen“ bzw. „die Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten.“364 Die Totalität der Bedingungen des Bedingten muss alles umfassen, was bedingt ist. Diese Totalität bezeichnet Kant als reinen Ver­ nunftbegriff oder Idee. Sie ist prinzipiell auf zwei Arten denkbar: Entweder gibt es ein erstes Glied, eine unbedingte Bedingung, dann ist die Reihe endlich; oder es gibt kein erstes Glied, dann ist die Reihe unendlich. Eine unendliche Reihe ist deshalb unbedingt, weil die gesuchte vollständige Reihe in der unendlichen Reihe nicht vorkommen kann. Außerhalb der Reihe gibt es indes nichts, was bedingt wäre. Daher ist die Totalität der Bedingungen des Bedingten selber nicht durch etwas bedingt und daher unbedingt.365 Die Problematik der Vernunft ergibt sich aus dem syntheti­ schen Status dieses zweiten Grundsatzes: „Ein solcher Grundsatz der reinen Vernunft ist aber offenbar synthe­ tisch; denn das Bedingte bezieht sich analytisch zwar auf irgend eine Bedingung, aber nicht aufs Unbedingte.“366 Wie die transzendentale Analytik gezeigt hat, verfügt ein synthetischer Satz a priori jedoch nur dann über objektive Gültigkeit, wenn er eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung darstellt. Das Unbedingte der Erfahrung liegt aber gerade jenseits der Erfahrung.367 Folglich kann nicht von einem gegebenen Bedingten auf die Existenz, d. h. die reale Möglich­ keit, des Unbedingten geschlossen werden. Wenn man von dem obersten Grundsatz der Vernunft ausgeht, erweist sich eine Idee zwar als notwendi­

363 KrV, B 436, Hervorhebung B. H. In leicht veränderter Formulierung ebenso KrV, B 364: „wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch die ganze Reihe einan­ der untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten).“ 364 KrV, B 379. 365 Tetens 2006, S. 205 rekonstruiert dieses Argument in der bei Kant nicht so einfach gegebenen Klarheit. 366 KrV, B 364. 367 Vgl. KrV, B 383: „So bezieht sich demnach die Vernunft nur auf den Verstan­ desgebrauch, und zwar nicht so fern dieser den Grund möglicher Erfahrung enthält (denn die absolute Totalität der Bedingungen ist kein in einer Erfahrung brauchbarer Begriff, weil keine Erfahrung unbedingt ist)“. Zu diesem Punkt auch Prol IV, S. 327.

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ger Vernunftbegriff, aber einer, „dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann.“368 Die metaphysische Täuschung findet ihren Ursprung in der fehlenden Kritik der Erkenntnisvermögen: Geht man entsprechend des transzenden­ talen Realismus von der Identität von Erscheinung und Ding an sich aus, so wird der nur gedachte (logisch mögliche) Zusammenhang von Beding­ tem und Bedingung für tatsächlich erkennbar (real möglich) gehalten. Die Vernunft strebt daher über die Grenzen der Erfahrung hinaus.369 Sie nimmt das gesuchte, aber eben nur gedachte Unbedingte in der Anschau­ ung als unmittelbar gegeben. Damit vernachlässigt sie aus der Perspektive Kants die grundsätzliche Einsicht der transzendentalen Analytik, dass „die empirische Synthesis und die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung […] notwendig sukzessiv und nur in der Zeit nach einander gegeben“ wird.370

1.3.2 Die dritte Antinomie der Vernunft Ausgehend von dem oben erläuterten System der Ideen findet das Konzept der Freiheit in der Kritik des realen Gebrauchs der hypothetischen Ver­ nunftschlüsse seinen systematischen Ort – genauer: in der Idee der Welt als realer, korrespondierender Gegenstand zu dem von der Vernunft gesuch­ ten Unbedingten. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden eingehend erläutert werden. Zentral ist dabei die Annahme, dass die Vernunft im Versuch, das Unbedingte zu denken, in Selbstwidersprüche (Antinomien) gerät.371

1.3.2.1 Die Unmöglichkeit der theoretischen Freiheitserkenntnis Die Vernunft sucht in der Idee der Welt das Unbedingte der Dinge und zwar der Dinge als äußere Erscheinungen zu denken.372 Erscheinungen sind uns vermittelst der reinen Anschauungsformen stets nur als sinnlich-

368 KrV, B 383. 369 Vgl. KrV, B 353, B 525ff. Zur Wichtigkeit des transzendentalen Realismus für den dialektischen Schein der Vernunft: Heidemann 2012, S. 37. 370 KrV, B 529. 371 KrV, B 434. 372 Vgl. KrV, B 390f.

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bedingt gegeben. Die Welt ist das zur Bedingtheit der Erscheinungen korrespondierende Pendant: Sie ist die Totalität der Erscheinungen.373 Dementsprechend lässt sich auf Basis des synthetischen Grundsatzes der Vernunft ein dialektisches Argument konstruieren, das allen Antinomien gleichermaßen zugrunde liegt: – Wenn das Bedingte gegeben ist, dann ist die ganze Reihe der Bedingun­ gen gegeben. – Nun sind uns Gegenstände der Sinne (Erscheinungen) als bedingt gege­ ben. – Folglich ist uns die ganze Reihe aller Bedingungen der Gegenstände (Erscheinungen) gegeben.374 Man kann bei der Idee der Welt zwei unterschiedliche Aspekte betonen: Einerseits kann man diese Totalität der Erscheinungen unter der Perspek­ tive ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit betrachten. So fragt man nach der räumlichen und zeitlichen Größe der Welt und der Größe ihrer ele­ mentaren Bausteine.375 Betrachtet man andererseits die Welt als „dynami­ sches Ganzes“ bzw. Natur, so tritt ihre durchgängig kausale Verfasstheit zutage.376 Macht man sich letztere Perspektive zu eigen, so erhält der Zusammen­ hang von Bedingtem und Bedingung einen spezifischen Inhalt, indem er durch das Verhältnis von Wirkung und Ursache subsituiert wird. Ein Be­ dingtes ist die Wirkung einer es bedingenden Ursache. Bei dieser Ursache lässt sich wiederum nach der Ursache fragen usw. Es ergibt sich also eine Reihe. Diese Reihe befragt die Vernunft auf ihre Vollständigkeit hin. Man kann den vorigen Schluss also noch weiter in Bezug auf das Freiheitspro­ blem präzisieren: – Wenn etwas Bewirktes gegeben ist, dann ist die ganze Reihe der Ursa­ chen des Bewirkten gegeben. – Nun ist uns etwas Bewirktes gegeben. 373 Vgl. KrV, B 447: „unter Welt [wird] der Inbegriff aller Erscheinungen verstan­ den“. 374 Die Darstellungsweise dieses und des folgenden Arguments beruht auf Boja­ nowski 2006, S. 97. 375 Tetens 2006, S. 228. 376 KrV, B 446. Kant verwendet für diese Perspektive den Begriff „Natur“. In diesem Zusammenhang ist Gerlach 2010, S. 119 zu widersprechen, der mit der Unterscheidung der Begriffe von Welt und Natur eine thematische Abgren­ zung der kosmologischen und transzendentalen Freiheitsfrage angedeutet sieht. Schon allein die systematische Stelle, an der Kant diese begriffliche Unterschei­ dung anführt widerspricht dieser Interpretation.

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– Folglich ist uns die ganze Reihe aller Ursachen des (gegebenen) Be­ wirkten gegeben. Wie bereits erläutert wurde, kann diese Vollständigkeit der Reihe bzw. das Unbedingte der äußeren Erscheinungen prinzipiell auf zwei Art und Weisen gedacht werden: 1) Endlichkeit der Reihe: Das Unbedingte ist ein Teil der Reihe. Als Teil der Reihe ist das Unbedingte deswegen unbedingt, weil es das erste Element der Reihe darstellt. Dieses Element ist zwar Ursache, aber selbst nicht wiederum verursacht. Die Reihe der Ursachen des gegebenen Ereig­ nisses ist somit endlich. Eine solche „unbedingte Kausalität der Ursache in der Erscheinung“ nennt Kant Freiheit.377 In dieser Definition der Freiheit sind zwei unterschiedliche Aspekte enthalten: Der negative Aspekt liegt in der Unabhängigkeit von anderen Ursachen bzw. dem Naturgesetz. Der positive Aspekt besteht in dem „Vermögen, einen Zustand von selbst an­ zufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht“.378 Dieses Vermögen wird als Spontani­ tät bezeichnet. Wesentliche Eigenschaft der Spontanität ist, dass sie nicht der Zeit als Bedingung der Erscheinung unterliegt. Damit beschreibt die Kausalität aus Freiheit eine nicht-zeitliche Verursachung. Beide Aspekte der Freiheit – Unabhängigkeit und Spontanität – sind für Kant notwendig aufeinander bezogen.379 2) Unendlichkeit der Reihe: Das Unbedingte besteht in der Vollständig­ keit der Reihe selbst, im Sinne eines infiniten Regresses. Die Reihe der Ursachen des gegebenen Ereignisses ist unendlich. In diesem Fall gibt es nur bedingte Kausalität, weil jedes Element der Reihe selbst wiederum bedingt ist. Kant nennt diese Form der Kausalität Naturkausalität. Kausa­ lität nach der Natur „ist die Verknüpfung eines Zustandes mit einem vorigen in der Sinnenwelt, worauf jener [Zustand, B. H.] nach einer Regel folgt.“380 Sie unterliegt notwendigerweise der Bedingung der Zeit, weil das Aufeinanderfolgen von ‚Zuständen‘ als eine Reihung von Ereignissen zu verstehen ist. Ausgehend von dem realen Gebrauch der hypothetischen Ver­ nunftschlüsse ergeben sich entsprechend den oben dargestellten Lesarten

377 378 379 380

KrV, B 447, Hervorhebung B. H. KrV, B 561. Vgl. Schönecker 2005, S. 12f. KrV, B 560.

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zwei diametrale, sich gegenseitig ausschließende Positionen zum Freiheits­ problem381: 1) These: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden kön­ nen. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“382 Die These wird dadurch begründet, dass, wenn man nur Kausalität durch Natur annehmen würde (Antithese), es keinen absoluten Anfang, sondern nur relative Anfänge geben würde. Relative Anfänge gewähren aber keine hinreichend bestimmten Ursachen, die durch die Naturkausalität aber gerade gefordert seien. Aufgrund dieses Widerspruchs ist man genötigt, noch eine weitere Form der Kausalität anzunehmen. 2) Antithese: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“383 Hier geht man in der Beweisfüh­ rung analog zur These vor. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass es Freiheit in der Welt gibt, der dann ein Widerspruch nachgewiesen wird. Freiheit bedeutet, eine Reihe von Folgen schlechthin anzufangen. Eine solche Reihe schlechthin anzufangen, hieße aber, überhaupt Kausalität in die Welt zu bringen. Damit wäre Freiheit vorkausal, was dem kausalen Anspruch der Freiheit widerspräche.384 Die Vernunft gerät also im Versuch, das Unbedingte der äußeren An­ schauung als dynamisches Ganzes zu denken, mit sich selbst in Wider­ spruch: Es ergeben sich zwei sich widersprechende Thesen (Antinomien), die Kant als Idealtypen der traditionellen Metaphysik – Dogmatismus und Empirismus – verstehen möchte.

381 An diesem Punkt sind wir argumentativ bei dem eigentlichen Ausgangspunkt des Kapitels angelangt: dem traditionellen Freiheitsproblem. Innerhalb des kan­ tischen Systems der Transzendentalphilosophie lässt sich dieses Problem nach Allison 1990, S. 14 noch anders formulieren: Gibt es neben der in der zweiten Analogie der Erfahrung als notwendig erklärten Kausalität noch eine weitere komplementäre Form oder nicht? 382 KrV, B 472f. 383 KrV, B 472f. 384 Für eine eingehendere Rekonstruktion der Argumente von These und Antithe­ se: Bojanowski 2006, S. 99ff, Schönecker 1999, S. 214, Allison 1990, S. 20f, Ger­ lach 2010, S. 96ff.

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1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

1.3.2.2 Die Denkmöglichkeit von Freiheit Kant beansprucht die Antinomien der Vernunft jedoch auflösen zu kön­ nen, indem er den Geltungsgrund der Antinomien aufhebt: „Wenn zwei einander entgegengesetzte Urteile eine unstatthafte Be­ dingung voraussetzen, so fallen sie, unerachtet ihres Widerstreits […], alle beide weg, weil die Bedingung wegfällt, unter der allein jeder dieser Sätze gelten sollte.“385 Wie wir im Zusammenhang mit Kants Konzeption der theoretischen Vernunft gesehen haben, liegt der Geltungsgrund der Antinomien und jeglicher metaphysischen Illusion im Allgemeinen in der Bedingung der Möglichkeit des realen Gebrauchs der Vernunft: der Identität von Ding an sich und Erscheinungen. Hiergegen macht Kant abermals die fundamenta­ le Einsicht der transzendentalen Analytik geltend: die Differenz von Ding an sich und Erscheinung. Folglich kann das Unbedingte der Erscheinung als dynamisches Ganzes nicht Erkenntnisgegenstand der theoretischen Vernunft sein. Daher kann weder Endlichkeit noch die Unendlichkeit der Totalität der Reihe erkannt werden, weil die Totalität als solche nicht erkannt werden kann. Folglich ist weder für die Freiheit noch für die Naturkausalität die reale Möglichkeit beweisbar.386 Die Nicht-Erkennbarkeit, im Sinne des Beweises der realen Möglichkeit eines Gegenstandes, schließt jedoch nicht – und das ist der positive As­ pekt der transzendentalen Analytik – ihre Denkbarkeit aus, im Sinne der logischen Möglichkeit eines Gegenstandes. Die logische Möglichkeit ist schließlich der Geltungsgrund für den legitimen regulativen Gebrauch der Vernunft. Auf der Ebene der reinen Denkbarkeit von Naturkausalität und Freiheit stellt sich die Frage nach ihrer Vereinbarkeit erneut.387 Hierbei 385 KrV, B 531. 386 Vgl. Bojanowski 2006, S. 118: „Indem Kant also den Widerspruch zwischen These und Antithese als ‚dialektisch‘ entlarvt, ist er berechtigt, beide zugleich zurückzuweisen.“ Beachtenswert ist dazu KrV, B 533. Bojanowski 2012, S. 71 weist auch darauf hin, dass sich Kant mit dieser Argumentationsstrategie in die Nähe von zeitgenössischen Inkompatibilisten wie Keil 2017 rücken lässt. 387 Die Vereinbarkeit von These und Antithese, die Kant in der Auflösung der dritten Autonomie anstrebt, wird also erst in einem kritisch revidierten Sinn der Thesen möglich. Hierzu: Hahmann 2012b, S. 140. Mit dieser Verschiebung der Ebenen geht jedoch auch eine implizite thematische Verschiebung einher, die von vielen Interpreten kritisch bemerkt wird. So geht Kant von der ur­ sprünglichen kosmologischen Frage, ob es eine unbedingte Ursache bzw. einen kausalen Anfang der Welt gibt oder nicht, zur Frage nach der Möglichkeit

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

muss man wiederum zwischen dem Status der 1) Naturkausalität und der 2) Freiheit differenzieren. 1) Für Kant ist der Status der Naturkausalität unzweifelhaft: „Alles, was geschieht, hat eine Ursache.“388 Er erhebt sie in der zweiten Analogie der Erfahrung nicht nur zur Denkmöglichkeit, sondern als synthetischer Satz a priori zur Denknotwendigkeit als Bedingung der Möglichkeit von Erfah­ rung überhaupt.389 Damit nämlich ein Gegenstand als solcher in theoreti­ scher Hinsicht erkannt werden kann, muss er in einem allgemeinen und notwendigen Erfahrungszusammenhang stehend gedacht werden. Diese Einheit der Erfahrung wird allgemein durch die Anwendung der Katego­ rien und im Spezifischen durch die Kategorie der Kausalität gestiftet.390 Deshalb ist es „ein allgemeines Gesetz, selbst der Möglichkeit aller Erfahrung […], daß alles, was geschieht, eine Ursache mithin auch die Kausalität der Ursache, selbst geschehen, oder entstanden, wiederum eine Ursache haben müsse; wodurch denn das ganze Feld der Erfahrung […] in einen Inbegriff bloßer Natur verwandelt wird.“391 Als solche ist die Naturkausalität aber alleinig auf mögliche Erfahrung anwendbar. Sie hat im Gegensatz zur Antithese nicht den Status eines ontologischen Prinzips.392 Wenn wir entsprechend dem transzendentalen Idealismus annehmen, dass nicht die Dinge an sich, sondern die Erschei­ nungen, so wie wir sie wahrnehmen, durchgängig kausal bestimmt sind, so erkennen wir die Welt als ausnahmslos determiniert: Jedes Ereignis, das „in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war“, ist notwendig.393 Auf den Menschen umge­ wendet, bedeutet dies, dass seine „Handlungen als Begebenheiten ihre be­

388 389 390 391 392

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der Handlungs- und Willensfreiheit über. So exemplarisch: Allison 1990, S. 26, Gerlach 2010, S. 104f. KrV, B 13. Vgl. KrV, B 233, B 692ff. Dieser Gedanke wird in aller Deutlichkeit ausgedrückt bei: Hahmann 2012a, S. 225. KrV, B 561. Zur Diskussion, ob das Kausalprinzip bei Kant konstitutiv oder regulativ zu fassen ist: Gerlach 2010, S. 187ff Hierzu auch Stekeler-Weithofer 1990, S. 317: „Wie den idealen empirischen Charakter betrachtet Kant auch das allgemeinere Kausalgesetz nur als regulatives Darstellungsprinzip oder eben als Ideal der Natur­ forschung.“ KpV V, S. 94.

1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

stimmenden Gründe in der vorhergehenden Zeit haben“.394 Damit scheint Kant der Determinismusthese von Laplace gemäß den gegenwärtigen Zu­ stand als die Wirkung seines früheren und als die Ursache des folgenden Zustands zu betrachten.395 Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung hat dabei nomologischen Charakter: „der Begriff einer Ursache“ impliziert „den Begriff einer Notwendigkeit der Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der Regel“.396 Regeln, die allgemein und notwendig sind, heißen Gesetze. Wir können also einen Gedanken festhalten, der für die Freiheitsproblematik von zentraler Bedeutung ist: Kausalität enthält bei Kant immer Gesetzmäßigkeit. 2) Fraglich ist, ob und wie im empirischen Gebrauch des regulativen Prinzips neben dem Kausalgesetz auch noch eine Kausalität aus Freiheit zugrunde gelegt werden kann.397 Schließlich ist die Annahme einer Kausa­ lität durch Freiheit für die Möglichkeit der theoretischen Erkenntnis kei­ nesfalls denknotwendig.398 Allerdings scheint die praktische Freiheit und damit Moral sowie Recht die transzendentale Freiheit vorauszusetzen.399 Verantwortlichkeit bzw. Zurechnungsfähigkeit (Imputabilität) von Hand­ lungen zu einem Subjekt hängt für Kant an der Möglichkeit, Ursache zu sein, und zwar nicht in einem relativen, sondern absoluten Sinn400: Wenn die Handlung eines Menschen nicht in letzter Instanz in seiner Gewalt stehend betrachtet werden kann, dann kann sie ihm auch nicht zugerech­

394 RGV VI, S. 49. 395 Dementsprechend auch Keil 2012, S. 229f, Rosefeldt 2012, S. 78f. Die folgenden Ausführungen zum Kausalitätsprinzip stützen sich insbesondere auf Keil. 396 KrV, B 5. 397 Vgl. Bojanowski 2006, S. 120. 398 Allerdings gibt es bei Kant auch Stellen in seinem Werk, die in eine andere Richtung deuten, so exemplarisch GMS IV, S. 448: „Nun kann man sich un­ möglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben.“ 399 Vgl. KrV, B 561f. Das Freiheitsproblem ist der spekulativen von der praktischen Vernunft geradezu aufgegeben (KpV V, S. 30). 400 Kant stell in diesem Zusammenhang klar, dass man bei einem absoluten An­ fang zwischen kausal und zeitlich absolut differenzieren muss. Nur in der Person eines möglichen Schöpfers der Welt würden beide Aspekte zusammen­ fallen. Für (menschliche) Subjekte in der Zeit kommt nur ein absolut kausaler Anfang in Frage: KrV, B 478. Hierin zeigt sich nochmals die bereits angespro­ chene thematische Verschiebung, die Kant im Kontext der dritten Autonomie vornimmt.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

net werden.401 Es stellt sich daher die Frage, ob Freiheit als „regulative[s] Prinzip der Vernunft“402 denkmöglich ist. Das zentrale Argument lautet wie folgt: Die Denkmöglichkeit von Frei­ heit ist dann gegeben, wenn man Freiheit nicht innerhalb des Bereichs der Erscheinungen (Sinnenwelt), sondern der Dinge an sich (Verstandeswelt) verortet. Ausgangspunkt ist dabei der bereits explizierte Gedanke, dass man „eben dieselben Gegenstände [der Erfahrung] auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens […] denken“403 kön­ nen muss. Das bedeutet, ein und denselben Gegenstand aus „zwei Seiten [zu] betrachten“.404 Man hat also eine Erscheinung gegeben und reflektiert entsprechend der transzendentalen Methode unter Abstraktion aller sinn­ lich erfahrbaren Eigenschaften auf die Bedingung der Erscheinung. Die Möglichkeit, einen Gegenstand aus zwei Perspektiven zu beurteilen, wird dadurch begründet, dass Erscheinungen ein Erscheinendes (Ding an sich) voraussetzen: „Wenn […] Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind.“405 Damit rekurriert Kant auf die zentralen Einsichten des transzendentalen Idealismus. Welcher Gegenstand soll allerdings im Kontext der Freiheits­ frage aus dem doppelten Blickwinkel analysiert werden? Das Untersu­ chungsobjekt ist die Ursache einer gegebenen Erscheinung. Die reine Begrifflichkeit verdeckt dabei den veränderten Zusammenhang, der im Ursache-Wirkungs-Verhältnis betrachtet wird. Die Frage ist nämlich nicht mehr, wie dieses Objekt im Subjekt eine Erscheinung hervorbringt, son­ dern wie diese Erscheinung in der Welt (vom Subjekt) hervorgebracht wird. An diesem Punkt vollzieht sich der Übergang vom Erkennen zum Handeln, jedoch aus einer theoretischen Perspektive: Gefragt wird also danach, ob man sich als frei handelnd denken kann. Der Begriff der Kausalität hat hierbei eine Scharnierfunktion. Er ist ein reiner Verstandesbegriff, der Ursache und Wirkung durch eine Regel bzw. ein Gesetz in Beziehung zueinander setzt. Kant bezeichnet das Kausa­

401 402 403 404 405

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KpV V, S. 97f. KrV, B 582. KrV, B XXVI, Hervorhebung B. H. KrV, B 566. KrV, B 565, Hervorhebung B. H.

1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

litätsgesetz auch als Charakter.406 Der Ursachenbegriff erfordert es jedoch nicht, dass Ursachen empirisch sein müssen, sondern bloß, dass etwas durch etwas anderes verursacht wird. Folglich sind nicht-empirische bzw. intelligible Ursachen widerspruchsfrei denkmöglich.407 Man kann daher die Ursache einer Erscheinung auf zwei Arten verste­ hen: Einmal betrachtet man sie als sensiblen Gegenstand der Erfahrung unter der Naturkausalität und einmal als intelligiblen Gegenstand an sich unter der Kausalität durch Freiheit. Im ersten Fall wird eine gegebene Erscheinung als Wirkung einer verursachenden Erscheinungsreihe verstan­ den. Die Erscheinungsreihe ist die Summe der erkennbaren Bedingungen, die die Erscheinung bedingt haben. Im zweiten Fall liegt die Ursache einer gegebenen Erscheinung außerhalb dieser Reihe im Ding an sich. Wenn das Ding an sich der denkbare, aber nicht erkennbare Grund einer Erscheinung ist, so kann man diesem Ding an sich auch ein Vermögen zuschreiben, kausal durch Freiheit zu wirken: Man legt damit „einem transzendentalen Gegenstande, außer der Ei­ genschaft, dadurch er erscheint, […] auch eine Kausalität bei[…], die nicht Erscheinung ist, obgleich ihre Wirkung dennoch in der Erschei­ nung angetroffen wird.“408 Eine solche intelligible Ursache lässt sich als „ein Vermögen“ verstehen, „eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufan­ gen.“409 Wie das Zitat nahelegt, lässt sich das Vermögen der Freiheit nach der ontologischen Zwei-Aspekte-Theorie als unerkennbare kausale Eigen­ schaft eines Gegenstandes verstehen. Diese Eigenschaft lässt sich als Dispo­ sition beschreiben, Erscheinungen in der Welt hervorrufen zu können.410

406 KrV, B 567. 407 Prol IV, S. 343: „in der Verknüpfung der Ursache und Wirkung kann zwar […] Gleichartigkeit angetroffen werden, aber sie ist nicht nothwendig; denn der Begriff der Causalität (vermittelst dessen durch Etwas ganz davon Verschiedenes gesetzt wird) erfordert sie wenigstens nicht.“ Zur Terminologie des Kausalen bei Kant: Gerlach 2010, S. 83ff. Dass Bedingtes und Bedingendes bei den dyna­ mischen Ideen der Vernunft nicht notwendigerweise gleichartig sein müssen, erklärt auch, warum Kant die dritte und vierte anders als die erste und zwei­ te Antinomie auflösen kann. Hierzu: Bojanowski 2006, S. 121ff, Allison 1990, S. 22f. 408 KrV, B 566. 409 KrV, B 476. 410 Zu diesen Überlegungen: Kap. II.1.2. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich auch Bojanowski 2006, S. 163f auf den Begriff der Disposition stützt, um die Kausalität aus Freiheit zu erläutern.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Da Kant nicht danach fragt, wie Erscheinungen im Subjekt, sondern in der Welt hervorgebracht werden, bedarf es eines Anhaltspunkts, einer Entität eine solche kausale Selbsttätigkeit zuzuschreiben. Weder bei der „leblosen“ noch bei der „tierischbelebten Natur finden wir“ einen „Grund irgend ein Vermögen uns anders als bloß sinnlich bedingt zu denken.“ Worin dieser Grund beim Menschen liegen könnte, gilt es im Folgenden zu beleuchten.411 Man kann ein solches Vermögen, wenn nicht erkennen, dann doch zumindest denken. Grundsätzlich ist eine Entität, die das Vermögen hat, Ursache zu sein, ein Subjekt. Ein Subjekt, das als intelligible Ursache gedacht werden kann, ist ein intelligibles bzw. transzendentales Subjekt.412 Die empirische Wir­ kung des Subjekts ist seine Handlung.413 Dieselbe Handlung kann also aus zwei Perspektiven betrachtet werden: a) Einerseits als Handlung eines Subjektes mit empirischem Charakter. Als solche ist die Handlung die Wirkung einer relativen Ursache in der Zeit, d. h. eines spezifischen Zustandes des Subjekts, das aus vorigen Zuständen hervorgeht. Der Zustand des Subjektes ist ebenso wie die Handlung eine Erscheinung und deshalb erkennbar.414 So stehen die Handlungen des

411 Kant spricht hier von einem sinnlichen Zeichen durch den empirischen Cha­ rakter, dessen Ursache der intelligible Charakter ist. Weniger später verweist er auf den Umstand der bloßen Apperzeption: KrV, B 574. Hierin liegt eine fundamentale Veränderung in Kants Ansatz im Vergleich zur KpV. In der KrV und der GMS scheint Kant die Freiheit noch durch eine theoretische Form der Selbsterkenntnis begründen zu wollen. Der Mensch erkennt die Spontanität der Vernunft durch „bloße Apperzeption“. Erst in der KpV liefert Kant eine genuin praktische Begründung der menschlichen Freiheit durch das Faktum der Vernunft. Hierzu: Ludwig 2012. 412 KrV, B 566, B 573. Zum allgemeinen Zusammenhang von Subjektivität und Handlung bei Kant: Kaulbach 2015. 413 Präziser müsste man mit Kant zwischen dem intelligiblen Akt der Vernunft und ihrer sinnlichen Wirkung differenzieren: „die Handlungen der Vernunft selber sind auch keine Erscheinungen, son[d]ern nur ihre Wirkungen sind es“ (AA XVIII, S. 252). Im normalen Sprachgebrauch macht man hier allerdings keinen Unterschied, indem man die sinnlich wahrnehmbare Wirkung selbst als Handlung bezeichnet. Diesem soll im Sinne der Einfachheit gefolgt werden. Wichtig ist es allerdings, mit Rosefeldt 2012, S. 88 zu betonen, dass Kants Handlungsbegriff nicht unserem modernen Verständnis entspricht. Für Kant ist Handeln (actio) einfach das Gegenteil von Leiden (passio). Jeder Substanz kann man potenziell die Fähigkeit zusprechen, zu handeln, wenn sie die Ursache ihres eigenen oder des Zustandes einer anderen Substanz ist. 414 Vgl. Anth VII, S. 285: Man kann sich diesen empirischen Zustand des Subjekts unter anderen näher durch das Naturell und Temperament eines Menschen veranschaulichen.

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empirischen Subjekts „durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange“ und diese Handlungen können von ihnen „als ihren Bedingungen abgeleitet werden“. Sie bilden mit den anderen Erscheinungen zusammen „Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung“.415 Das Gesetz des empirischen Charakters ist also das Naturgesetz. Auf Basis dieses Gesetzes „müßten sich alle seine Handlungen [des empirischen Subjekts, B. H.] nach Naturgesetzen erklären lassen, und alle Requisite zu einer vollkommenen und notwendigen Bestimmung derselben müßten in einer möglichen Erfahrung angetroffen werden.“416 Wenn man nicht nur die Handlungen, sondern auch den Zustand des em­ pirischen Subjekts vollkommen erkennen könnte, so wäre nicht nur das Verhalten des Subjekts restlos erklärbar, sondern auch „die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis“417 prognostizierbar. Wie in diesem Kontext jedoch nochmals explizit herausgestellt werden muss, ist die vollkommene Erklärung einer Handlung durch die empiri­ sche Erkenntnis nur regulativ aufgegeben und nicht aktuell gegeben. b) Andererseits kann dieselbe Handlung als Handlung eines Subjektes mit intelligiblem Charakter betrachtet werden. Als solche ist die Handlung die Wirkung einer unbedingten Ursache (transzendentale Freiheit). Diese Ursache steht unter „keinen Zeitbedingungen […], denn die Zeit ist nur Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst.“418 Da sie nicht unter der Bedingung der Zeit steht, ist sie nicht erkennbar. Aller­ dings ist der Charakter des Dings an sich in Analogie zum empirischen Charakter denkbar. Damit steht die intelligible Ursache außerhalb der Reihe empirischer Bedingungen. Eben deswegen, weil sie außerhalb der Reihe der empirischen Bedingungen steht, kann sie nicht durch vorgängi­ ge Ereignisse in der Zeit determiniert sein. Dadurch kommt Kant zu der paradoxen, aber doch folgerichtigen Aussage, dass das intelligible Subjekt „seine Wirkungen in der Sinnenwelt von selbst anfange, ohne daß die Handlung in ihm selbst anfängt“.419 Wenn allerdings der Begriff der Kausalität eine Verknüpfung von Wir­ kung und Ursache durch ein Gesetz verlangt und dieses Gesetz im Falle

415 416 417 418 419

KrV, B 567. KrV, B 568. KpV V, S. 99. KrV, B 567. KrV, B 569.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

der intelligiblen Ursachen nicht das Naturgesetz sein kann, so stellt sich die Frage, worin das Gesetz liegen soll. Kants Antwort ist hier klar: Es muss ein genuines Gesetz der Freiheit geben.420 Dieses Freiheitsgesetz bzw. die intelligible Ursache liegt im reinen Denken und zwar spezifisch in den „bloßen Gründen des Verstandes“ i.w.S.421 Was versteht Kant in diesem Zusammenhang aber unter ‚Gründen‘? Bereits in der Erläuterung der Un­ terscheidung von Ding an sich und Erscheinung hatten wir die begriffliche Identität von Grund und Ursache bei Kant bemerkt. Diese tritt nun im Kontext der Frage nach der Freiheit, verstanden als intelligible Form der Kausalität, nicht nur begrifflich, sondern auch konzeptionell erneut auf. Da Gründe dem Denken zugeordnet werden, muss es sich um Begriffe und nicht um Erscheinungen handeln. Begriffe lassen sich nun weiter in Verstandes- und Vernunftbegriffe unterscheiden. Erstere sind konstitutiv, letztere in ihrer kritisch revidierten Fassung nur regulativ. Kant nimmt eine Erweiterung dieser Charakterisierung vor: Verstandesbegriffe erfassen in ihrer erkenntniskonstitutiven Funktion, „was da ist“, wohingegen Ver­ nunftbegriffe ausdrücken, was „sein soll“.422 Dieses „Sollen“ der Vernunft­ begriffe hat sich bereits im logisch-analytischen Grundsatz der Vernunft angedeutet, der als „Maxime“ auftritt.423 Es nimmt hier allerdings eine spezifische Bedeutung an: „Dieses Sollen […] drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anders, als ein bloßer Begriff ist“.424 Handlungsleitend wird ein Begriff, weil darin „eine Art von Notwendig­ keit und Verknüpfung mit Gründen aus[gedrückt ist], die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt.“425 Wenn auch diese Notwendigkeit des Sollens (noch) nicht inhaltlich gefüllt ist, so muss sie aufgrund ihrer Eigen­

420 GMS IV, S. 387, Hervorhebung B. H. Dieser Argumentation scheint auch Ni­ da-Rümelin 2005, S. 34f grundsätzlich zu folgen: „Sich selbst und andere als in ihrem Urteilen und Handeln von Gründen geleitete Wesen anzusehen, ist eine Grundvoraussetzung (oder, wer dies bevorzugt: eine transzendentale Bedingung) unserer lebensweltlichen Moralität. Negativ formuliert: Es ist eine transzendentale Bedingung unserer Moralität, dass wir uns selbst und andere als von kausalen Ursachen nicht vollständig determiniert ansehen.“ 421 KrV, B 573f. Auch hier zeigt sich wieder die begriffliche Verquickung, wenn nicht sogar Synonymität der Begriff ‚Grund‘ und ‚Ursache‘, auf die wir bereits in der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung gestoßen sind. 422 KrV, B 575, GMS IV, S. 387. 423 KrV, B 708. 424 KrV, B 575. 425 KrV, B 575.

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1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

schaft als intelligibler Charakter die Form von Gesetzen haben.426 Schließ­ lich beruht jede Form von Kausalität immer auf einer Gesetzmäßigkeit. Diese „objektive[n] Gesetze der Freiheit“427 bezeichnet Kant als Imperati­ ve. Diese Imperative sind als Gesetze intelligibler Kausalität ebenso wie die Vernunft selbst zeitlos: „Sie, die Vernunft, ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeit­ umständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit, und gerät etwa in einen neuen Zustand, darin sie vorher nicht war; sie ist bestimmend, aber nicht bestimmbar in Ansehung dessel­ ben.“428 Die Vernunft ist also dasjenige Vermögen im Menschen, das die Quelle der transzendentalen Freiheit ist, verstanden als nicht-zeitliche Verursa­ chung durch Gründe. c) Entscheidend ist hierbei allerdings, dass, wenn das Denken tatsächlich kausal wirksam sein soll, es sich bei der Unterscheidung eines denknot­ wendigen Bereichs der Naturkausalität und eines denkmöglichen Bereichs der Freiheit nicht um zwei getrennte Gegenstandsbereiche bzw. rein me­ thodische Betrachtungsweisen handeln darf. Vielmehr müssen Sinnenwelt und Verstandeswelt miteinander verknüpft sein. Im Zentrum der Betrach­ tung steht also das Zusammenspiel von empirischem und intelligiblem Charakter. Wie kann man aber davon ausgehen, dass dieselbe Handlung Produkt der zeitlichen Naturkausalität und der zeitlosen Freiheitskausalität ist? Das Ding an sich ist der Grund der Erscheinung. Damit wird dem Ding an sich ein Primat gegenüber der Erscheinung eingeräumt. Dieses Verhältnis muss sich folglich auch in der Relation zwischen empirischem und intelligiblem Charakter niederschlagen: So ist der empirische Charak­ ter „wiederum im intelligbelen Charakter […] bestimmt.“429 Der intelligi­ ble Charakter bestimmt den empirischen Charakter insofern, als er dessen „transzendentale Ursache“ ist.430 Er ist allerdings ebenso wie das Ding an sich nur der gedachte und nicht der erkennbare Grund der Erscheinung. Wie muss man sich allerdings diese Bestimmung des empirischen durch den intelligiblen Charakter vorstellen? Der intelligible Charakter muss 426 So können die Gründe moralischer, rechtlicher, aber auch technisch-pragmati­ scher Natur sein: Stekeler-Weithofer 1990, S. 311. Eine genaue Differenzierung der Gründe erfolgt bei Kant erst im Rahmen seiner praktischen Philosophie. 427 KrV, B 830. 428 KrV, B 584. 429 KrV, B 579, Hervorhebung B. H. 430 KrV, B 574.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

den empirischen Charakter des Subjekts durch die Gründe der Vernunft, im Sinne der Imperative, auf eine Handlung festlegen. Wie kann aber eine in Raum und Zeit stattfindende Handlung durch etwas Zeitloses be­ stimmt werden? Diese Zeitlosigkeit der Gründe hängt an deren Status: Im Gegensatz zu den Naturgesetzen geht es bei Gesetzen der Freiheit um eine Rechtfertigungs- oder Begründungsbeziehung zur Handlung. Der propositio­ nale Gehalt von Gründen, im engen Sinne einer möglichen diskursiven Rechtfertigung, ist tatsächlich zeitlos.431 Allerdings ist die Zuschreibung von Verantwortlichkeit an die Aneignung von Gründen gebunden. Wären die Gründe allen Subjekten einfach stets gegeben, so könnte daraus keine Zuschreibung der Handlung resultieren: Entscheidend ist also, aus wel­ chen Gründen das Subjekt eine Handlung ausführt oder zumindest den Entschluss zur Handlung fasst. So geht Kant davon aus, dass „ein anderer intelligibeler Charakter […] einen anderen empirischen gegeben haben“ würde.432 Die Aneignung des intelligiblen Charakters muss also als eine selbstständige Tat des Subjekts verstanden werden.433

431 Keil 2012, S. 244 kritisiert hier allerdings das von Kant vorgenommene Identifi­ kationsverhältnis von Kausal- und Begründungsbeziehungen. 432 KrV, B 584. 433 Problematisch ist dann allerdings, wie sich diese Aneignung vollzieht. Kant bringt in diesem Zusammenhang das Konzept der „intelligiblen Tat“ (RGV VI, S. 31) ins Spiel. Damit müsste man die Aneignung des intelligiblen Charak­ ters selbst wiederum als nicht-zeitlichen Akt verstehen. Wie Rosefeldt 2012 zeigt, ist eine solche Tat durchaus innerhalb des kantischen Systems kohärent denkbar, allerdings ist problematisch, inwiefern eine solche Handlung noch selbstständig sein kann. Noller 2014a, S. 133 weist zudem drauf hin, dass eine solche Aneignung gerne im Sinne der Ausbildung einer individuellen Vernunft gedeutet wird. Dagegen kann man aus seiner Sicht kritisch einwenden, dass Kant keinen Begriff individueller Vernunft zu besitzen scheint. Allerdings müss­ te man hierbei fragen, was mit individueller Vernunft überhaupt gemeint sein kann. Wenn für Kant in der Vernunft – wie sich in der Ethik noch zeigen wird – das allgemein Menschliche liegt, so kann die Vernunft selbst nichts Individuelles sein. Vielmehr müsste das Individuelle der Vernunft in der spezi­ fischen Aneignung der Vernünftigkeit zu finden sein. Allerdings ist auch hier problematisch, inwiefern Kant von einer solchen Aneignung ausgeht. Vielmehr scheint es der Fall zu sein, dass die Vernunft immer schon vorausgesetzt wird und es nur eine Reflexion auf das bereits Gegebene gibt. So beruht die GMS bspw. auf einer begrifflichen Explikation der im alltäglichen Handeln schon immer verwirklichten Moralität.

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1. Erkenntnis: Transzendentale Freiheit

1.4 Zwischenfazit Bisher wurde Kants Konzeption der Freiheit in der theoretischen Philo­ sophie beleuchtet. Die Freiheit tritt dabei als Gegenstand theoretischer Erkenntnis in den Blick: Das, was geschieht, (hier: eine Handlung) wird auf seinen Ursprung hin untersucht.434 Will man aus dieser Perspektive unsere bisherige Auseinandersetzung mit Kants Konzeption der Freiheit zusammenfassen, so kann man sich an zwei Leitfragen orientieren: 1) „Was ist Freiheit?“ und 2) „Ist Freiheit möglich?“. Der letzte Gesichtspunkt ist dabei für uns von besonderem Interesse. Er gibt uns eine erste Antwort auf die Frage, nach der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit. 1) Freiheit ist für Kant ganz grundsätzlich ein Modus der Kausalität. Kausalität wird dabei als das Verhältnis einer Ursache zu einer Wirkung durch ein Gesetz verstanden, wobei Freiheit wiederum eine spezifische Form der Kausalität darstellt. Es handelt sich um unbedingte Kausalität, d. h. eine Ursache, die selbst wiederum keine Ursache hat. Die Frage nach der Freiheit tritt auf, sobald wir eine Erscheinung in der kausal strukturier­ ten Welt, verstanden als Totalität der Erscheinungen, auf ihre Letztursache hin befragen. Die Möglichkeit, kausale Letztursache einer Erscheinung sein zu können (transzendentale Freiheit), ist die Bedingung praktischer Freiheit. 2) In diesem Kontext gewinnt die Frage nach der Möglichkeit der Frei­ heit ihre Dringlichkeit. Möglich kann hierbei zweierlei bedeuten: a) real möglich oder b) logisch möglich. Ersteres bedeutet die Erkennbarkeit der Freiheit, letzteres die Denkbarkeit. a) Die zentrale Einsicht des transzendentalen Idealismus besteht darin, dass die Erkenntnis eines Gegenstandes sich aus dem Zusammenspiel von Anschauung und Begriff konstituiert. Ein Gegenstand ist also nur dann erkennbar, wenn er einer möglichen Erfahrung zugänglich ist. Freiheit fällt aus dem Bereich der möglichen Erfahrung heraus, weil es keine Er­ scheinung der Freiheit geben kann. Erscheinungen sind immer (räumlich und zeitlich) bedingt, wohingegen Freiheit sich gerade durch ihre Unbe­ dingtheit auszeichnet. Das Unbedingte kann aber nie Gegenstand einer möglichen Erfahrung sein. Es ist weder räumlich noch zeitlich. Folglich ist Freiheit nicht real möglich und somit nicht erkennbar. b) Die Denkbarkeit eines Gegenstandes ist an ein anderes Kriterium ge­ bunden als die Erkennbarkeit. Denkbar ist der Begriff eines Gegenstandes dann, wenn er nicht in sich widersprüchlich ist. Der Begriff Freiheit als 434 Vgl. KrV, B 578, B 661.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

unbedingte Ursache entspricht diesem Kriterium, weil in ihm nicht die Gleichartigkeit von Ursache und Wirkung liegt. Daher kann die Ursache einer Erscheinung etwas sein, das nicht in Raum und Zeit liegt. Kant ver­ sucht darüber hinaus zu plausibilisieren, inwiefern absolute Bedingtheit (Naturkausalität) und absolute Unbedingtheit (Freiheitskausalität) mitein­ ander vereinbar sind, indem er das Konzept der Freiheit in das System des transzendentalen Idealismus einbindet: Er verortet den Begriff der Freiheit als nicht-zeitliche Ursache im Bereich der Dinge an sich. Während die Sin­ nenwelt uns durch „hineinschauen, hineinempfinden“ zu erkennen gibt, was ist, können wir uns in der Verstandeswelt denken, was sein soll.435 Wir können uns im Denken also in eine andere „Ordnung der Dinge“436 verset­ zen. Dass das Sollen ein Primat über das Sein hat, dessen können wir uns ausgehend von der theoretischen Erkenntnisperspektive aber nicht versi­ chern: Solange der Handelnde sich selbst – sozusagen von außen – aus­ schließlich als Objekt betrachtet, das handelt, kann nicht mehr als die Nichtunmöglichkeit von Freiheit bewiesen werden.437

2. Moral: Praktische Freiheit Die Erörterung der Freiheit als Gegenstand der theoretischen Vernunft hat gezeigt, dass Freiheit zumindest denkmöglich ist. Ihre reale Möglichkeit konnte jedoch nicht bewiesen werden. Einen Ausweg sich der realen Mög­ lichkeit der Freiheit trotzdem zu versichern, sieht Kant im Übergang zur praktischen Philosophie. Inwiefern kann diese aber das leisten, was die theoretische Philosophie nicht vermag? Dafür muss man sich vergegenwär­ tigen, dass mit dieser Verlagerung der Freiheitsproblematik, wie bereits im letzten Kapitel angedeutet wurde, ein grundlegender Perspektivwechsel von der theoretischen zur praktischen Erkenntnis einhergeht: „Nun bleibt uns immer noch übrig, nachdem der spekulativen Ver­ nunft alles Fortkommen in diesem Felde des Übersinnlichen abgespro­ chen worden, zu versuchen, ob sich nicht in ihrer praktischen Erkennt­ nis Data finden, jenen transzendenten Vernunftbegriff des Unbedingten

435 GMS IV, S. 458, Hervorhebung getilgt. 436 GMS IV, S. 454, KrV, B 576, KpV V, S. 49: „Ich konnte aber diesen Gedanken [den Begriff der Freiheit als regulatives Prinzip der Vernunft] nicht realisieren, d. i. ihn nicht in Erkenntnis eines so handelnden Wesens, auch nur bloß seiner Möglichkeit nach, verwandeln. 437 Vgl. KpV V, S. 94.

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2. Moral: Praktische Freiheit

zu bestimmen, und auf solche Weise dem Wunsche der Metaphysik ge­ mäß, über die Grenze aller möglichen Erfahrung hinaus mit unserem, aber nur in praktischer Absicht möglichen Erkenntnisse a priori zu gelangen.“438 Kant bringt dies mit seiner berühmten These, dass er 1) „das Wissen aufhe­ ben“ musste, „um zum Glauben Platz zu bekommen“, prägnant auf den Begriff. Denn Glaube steht in diesem Zusammenhang für „alle praktische Erweiterung der reinen Vernunft“.439 Den Bezug, der in diesem Kontext auf den Glauben hergestellt wird, kann man 2) in einem engeren oder 3) weiteren Sinn auffassen. Beide Optionen sollen in Abgrenzung zum theo­ retischen Wissensbegriff diskutiert werden. 1) Wissen: Zuerst ist zu bemerken, dass das Wissen, auf das sich Kant hier bezieht, in Zusammenhang mit theoretischer Erkenntnis steht. Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht nur durch subjektiv hinreichende, sondern auch durch objektiv hinreichende Gründe rechtfertigbar ist. Subjektive Gründe haben ihre „Ursachen im Gemüte dessen, der da urteilt“.440 Theoretische Urteile sind dadurch subjektiv hinreichend ge­ rechtfertigt, dass wir ein starkes Gefühl des Vertrauens haben, dass eine Proposition wahr ist, und wir uns deswegen verpflichtet sehen, an ihr festzuhalten.441 Diese Überzeugung einem Urteil gegenüber stützt sich folglich darauf, gute, d. h. objektiv hinreichende Gründe zu haben. Ein Urteil ist grundsätzlich dann hinreichend objektiv begründet, wenn „es für jedermann gültig ist, so fern er nur Vernunft hat“442 und mit ihm ein „Bewußtsein der Nothwendigkeit“443 einhergeht. Die Objektivität eines Urteils kann durch theoretische Erkenntnis gewährleistet werden, indem sie die Existenz (Wirklichkeit oder reale Möglichkeit) und die Eigenschaften des Gegenstandes, über den geurteilt wird, dem Subjekt

438 KrV, B XXI, Hervorhebung B. H. 439 KrV, B XXX, Hervorhebung B. H. Inhaltlich knüpft Kant mit dieser Aussage fast wortwörtlich an das vorhergehende Zitat an, bei dem er davon spricht, dass die Kritik „Platz verschafft“, den man durch „praktische Data“ füllen kann. Zu dieser Deutung auch Höffe 2007, S. 143: „wobei Kant unter Glauben die Anerkennung der reinen praktischen Vernunft versteht. Die reine praktische Vernunft ist aber nichts anderes als die Moralität, die Kant in Begriffen von Freiheit denkt.“ 440 KrV, B 848. 441 Vgl. Chignell 2007, S. 328f, Pasternack 2011, S. 293. 442 KrV, B 848. 443 Log IX, S. 66.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

zugänglich macht.444 Dadurch erkennt man, was da ist, also ein Sein.445 Das damit einhergehende Bewusstsein von Notwendigkeit liegt darin, fest­ zustellen, ob einem Gegenstand bestimmte Eigenschaften zukommen oder nicht. Die Aufhebung des Wissens bezieht sich folglich auf die Möglich­ keit, das, was ist, durch objektive Gründe zu rechtfertigen. Sie beschreibt die in der transzendentalen Analytik vollzogene Denkbewegung, den Wis­ sensanspruch eines theoretischen Urteils auf den Bereich möglicher Erfah­ rung zu begrenzen, weil nur innerhalb dieses Bereichs Erkenntnis möglich ist. Wir können nur deshalb etwas erkennen, weil wir einen Gegenstand bestimmen, „der anderweitig gegeben werden muß“.446 Die Quelle des Gegebenseins („Datum“) eines Objekts ist für den Menschen stets die Sinnlichkeit. 2) Glauben im engeren Sinn: Das bedeutet nun allerdings nicht, dass damit der Glaube in den Bereich des Scheins verbannt wäre; Kant betont, dass er durch die Beschränkung des Wissensanspruchs dem Glauben über­ haupt erst Platz und damit einen legitimen Gegenstandsbereich verschafft hat. So hat Glaube eine höhere epistemische Wertigkeit als bloße Mei­ nung, die weder subjektiv noch objektiv hinreichende Gründe vorweisen kann.447 Vielmehr lassen sich die Gegenstände des Glaubens, wenn auch nicht objektiv durch die theoretische Erkenntnis der Wirklichkeit oder der realen Möglichkeit des Gegenstandes, so doch zumindest subjektiv hinrei­ chend rechtfertigen.448 Die Voraussetzung einer solchen Rechtfertigung ist jedoch die Widerspruchsfreiheit und somit Denkmöglichkeit der Gegen­ stände des Glaubens: „Das Glauben oder das Fürwahrhalten aus einem Grunde, der zwar objectiv unzureichend, aber subjectiv zureichend ist, bezieht sich auf Gegenstände, in Ansehung deren man nicht allein nichts wissen, […] sondern bloß gewiß sein kann, daß es nicht widersprechend ist, sich dergleichen Gegenstände so zu denken, wie man sie sich denkt.“449

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Vgl. Willaschek/Watkins 2017, S. 7. KrV, B 661. KrV, B IXf. Vgl. Log IX, S. 67: Meinungen sind für Kant Vorbedingungen der Erkenntnis, die ihren Ursprung in der Erfahrung haben. Zur Stellung der Meinung bei Kant: Pasternack 2014. 448 KrV, B 848ff. Allgemein zur Unterscheidung von Meinen, Glauben und Wissen: Höffe 2003, S. 299f, Chignell/Sturm 2015, Pasternack 2014. 449 Log IX, S. 67, Hervorhebung B. H.

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2. Moral: Praktische Freiheit

Für unseren Kontext ist wichtig, dass durch dieses Kriterium ein erster Anknüpfungspunkt zur transzendentalen Dialektik besteht, in der Kant zumindest die Denkmöglichkeit der Ideen bewahren konnte. Auch wenn der Glaubensbegriff für Kant ein weites Feld von möglichen Gegenständen umfasst, so kommt es ihm doch dabei insbesondere auf die Rechtfertigung der reinen Vernunftbegriffe an.450 Unklar bleibt allerdings bisher, wie wir diese Begriffe subjektiv hinreichend rechtfertigen können, wenn wir keine objektiv hinreichenden Gründe für sie haben. Schließlich besteht der subjektiv hinreichende Grund dafür, (theoretisches) Wissen zu haben, in dem Vertrauen darauf, eine objektiv hinreichende Rechtfertigung geben zu können. Im Fall des Glaubens fehlt diese Fundierung von subjektiven Gründen. Es kann sich daher nicht um die gleiche Art von Gründen handeln.451 Entscheidend ist nun der Gedanke, dass Glauben für Kant einen genu­ in praktischen Charakter hat. Praktisch ist für Kant alles, „was als durch einen Willen möglich (oder notwendig) vorgestellt wird“.452 Neben dem Erkenntnisvermögen wird damit das Begehrungsvermögen (der Wille) als zweites irreduzibles Grundvermögen des Menschen eingeführt.453 Es han­ delt sich dabei um die Fähigkeit eines Wesens, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“454 In diesem Sinn Ursache zu sein, heißt zu handeln. Dementspre­ chend beschreibt Kant Glauben allgemein als „ein Fürwahrhalten, welches genug ist zum Handeln“.455 Es bedarf nämlich zumindest eines subjek­ tiv hinreichenden Grundes, um den Menschen zum Handeln zu motivie­ ren.456 Dieser Grund muss in der Vorstellung des Gegenstandes liegen, der

450 Kant führt in der KrV, B 848ff drei Glaubensarten an: pragmatischer, doktrina­ ler und moralischer Glaube. 451 Vgl. Chignell 2007, S. 333f. 452 KdU V, S. 172. Diese Definition von ‚praktisch‘ hat, wie Kant selbst bemerkt, den Vorteil, dass nicht bereits vorab, der Wille als durch die Freiheitsgesetze bestimmt gedacht wird. 453 Hiervon hatte die KrV noch weitestgehend abstrahiert, wie Kant in seinem Handexemplar der KrV, B 575 (abgedruckt in der Ausgabe von Timmermann) bemerkt. Damit stellt sich Kant gegen die Wolffsche Metaphysik und die Re­ duktion der Seele auf eine einzige vorstellende Kraft. Hierzu: Höwing 2013a, S. 26. 454 KpV V, S. 9. 455 Log IX, S. 67. 456 Vgl. Log IX, S. 67f: „So bedarf z. B. der Kaufmann, um einen Handel einzuschla­ gen, daß er nicht bloß meine, es werde dabei was zu gewinnen sein, sondern daß er’s Glaube, d. i. daß seine Meinung zur Unternehmung auf’s Ungewisse

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durch die Handlung verwirklicht werden soll – dem Zweck. Es bedarf also eines über die Widerspruchsfreiheit hinausgehenden starken Vertrauens darauf, den Zweck einer Handlung verwirklichen zu können, obwohl wir uns der ‚Erreichbarkeit‘ des Zwecks nicht durch Erkenntnis versichern können. Der Grund, einen Zweck anzunehmen und damit die Handlung auszuführen, liegt dann als „Mittleres“ zwischen Denkmöglichkeit und Er­ kenntnis. Er kann entweder empirisch-kontingent oder a priori-notwendig sein.457 Es sollte der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass Kant mit die­ sen Überlegungen vor allem auf den Zweck zielt, der nicht kontingent, sondern durch ein „Bedürfnis der reinen Vernunft“ notwendig ist458: Ge­ meint ist damit die Vereinigung von Moralität und Glückseligkeit im Begriff des höchsten Guts. Es handelt sich dabei um einen subjektiven Grund, weil der Begriff des höchsten Guts „in keiner für uns möglichen Erfahrung, mithin für den theoretischen Vernunftgebrauch hinreichend seiner objektiven Realität nach bewiesen werden kann“459; weil er vom Begehren eines endlichen Wesens abhängt, ohne dass es „durch unser Ver­ mögen […] möglich“ wäre, ihn zu verwirklichen.460 Setzt man den Zweck des höchsten Guts allerdings voraus, so sind für Kant die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes als Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes praktisch gerechtfertigt.461 Es gilt also festzuhalten, dass Kant mit dem Konzept des Glaubens im engeren Sinn eine genuin praktische Rechtfertigung des Unbedingten er­ öffnet, die aber nicht – zumindest nicht unmittelbar – durch eine Erkennt­ nis in praktischer Form gerechtfertigt ist. Im Folgenden soll die Möglich­ keit einer solchen, unmittelbar praktischen Erkenntnis im Kontext der Freiheitsproblematik diskutiert werden. 3) Glauben im weiteren Sinn: So zielt Kant mit der Rede von der Auf­ hebung des Wissens zugunsten des Glaubens nicht nur auf das oben geschilderte Konzept des Glaubens im engeren Sinn, sondern wie wir eingangs bereits betont hatten, auf „alle praktische Erweiterung der reinen

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zureichend sei. […] Dieses ist ein Fürwahrhalten, welches genug ist zum Han­ deln, d. i. Glaube.“ Log IX, S. 67f. KpV V, S. 4. Die Notwendigkeit des höchsten Gutes liegt darin, dass das höchste Gut notwendiges Objekt (Zweck) eines durch das moralische Gesetz bestimm­ ten Willens ist. KdU V, S. 469. Log IX, S. 67. Hierzu Kants Postulaten-Lehre in der KpV V, S. 122ff, GTP VIII, S. 279.

2. Moral: Praktische Freiheit

Vernunft“ – und damit insbesondere eine unmittelbare Erweiterung der reinen Vernunft durch praktische Erkenntnis. Diesen Gedanken müssen wir festhalten, wenn wir die Stellung der Frei­ heit in der praktischen Philosophie Kants verstehen wollen. Ihr kommt nämlich in Abgrenzung zu den anderen spekulativen Vernunftideen eine einzigartige Stellung zu: „Freiheit ist […] die einzige unter allen Ideen der spekulativen Ver­ nunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzuse­ hen“462 „Gegenstände für Begriffe, deren objektive Realität […] bewiesen wer­ den kann, sind (res facti) Tatsachen. […] Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist) unter den Tatsachen; und das ist die Idee der Freiheit“.463 Wir haben ein Wissen von der objektiven Realität der Freiheit, ohne sie doch theoretisch erkennen zu können. Nähern wir uns diesem Paradoxon, indem wir die Freiheit auf ihre subjektiv und objektiv hinreichenden Gründe prüfen, durch die Wissen für Kant charakterisiert ist. Freiheit

462 KpV V, S. 4, Hervorhebung B. H.. Mit dieser Kategorisierung der Freiheit als Wissen positioniere ich mich gegen die Ausführung von Willaschek 2018a. Willaschek versucht die exegetische Problematik, dass Kant Freiheit in der KpV nochmals als Postulat einführt, obwohl er die objektive Realität der Freiheit schon bewiesen zu haben behauptet, dadurch aufzulösen, dass er das Ziel der Analytik darin sieht, Freiheit als Glaubens- und nicht als Wissensgegenstand zu rechtfertigen. Auch wenn ich mit Willaschek die Trennung von Erkenntnis und Wissen für entscheidend halte, so sehe ich die Freiheit als Gewissheit durch praktische Erkenntnis gerechtfertigt. Insbesondere die vorhin angegebenen Stel­ len aus der KpV und der KdU scheinen mir diese These zu stützen. So ist bspw. für die Stelle in der KpV eine unspezifische Verwendung des Wissensbegriffs als „kennen“ unwahrscheinlich, weil Kant kurze Zeit später von den subjektiv und objektiv hinreichenden Bedingungen spricht, durch die Wissen für ihn charakterisiert ist. Außerdem betont Kant in der Vorrede der KpV die Sonder­ stellung der Idee der Freiheit im Vergleich zu den anderen Ideen. Auch dass Kant Freiheit in der KdU unter die Kategorie des Wissens subsumiert, spricht eine mehr als deutliche Sprache. Mit Allais 2019, 79f könnte man den Grund dafür, dass Kant Freiheit nochmals gesondert in der Dialektik als Postulat aufführt darin sehen, das hiermit betont werden soll, dass wir zwar ein durch praktische Erkenntnis gerechtfertigtes Wissen von Freiheit haben, wir aber nicht verstehen, wie Freiheit möglich ist. 463 KdU V, S. 468.

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lässt sich subjektiv hinreichend rechtfertigen, wenn man das Bedürfnis nach Moralität als subjektiv notwendig voraussetzt. Schließlich geht Kant davon aus, dass Moralität nur unter der Bedingung, dass es unbedingte Verursa­ chung gibt, möglich ist. Damit wäre allerdings Freiheit allein als Bedin­ gung einer Glaubenssache (der Moral) gerechtfertigt. Wenn es ein Wissen von der Freiheit geben soll, so muss es darüber hi­ naus noch Vertrauen darin geben, Freiheit durch objektive Gründe recht­ fertigen zu können. Es stellt sich nun die Frage, ob es objektiv hinreichende Gründe gibt, zumindest die reale Möglichkeit von Freiheit anzunehmen. Das lässt sich aus einer theoretischen Erkenntnisperspektive heraus vernei­ nen, weil Freiheit als nichtzeitliche Verursachung einer möglichen Erfah­ rung nicht zugänglich ist. Wir können die Idee der Freiheit theoretisch nicht einsehen und sie somit auch nicht durch objektive Gründe als Wissen rechtfertigen. Welchen Beitrag könnte allerdings die praktische Erkenntnis leisten? Zur Erinnerung: Praktisch ist für Kant alles, „was als durch einen Wil­ len möglich (oder notwendig) vorgestellt wird“.464 Der Wille als Art des Begehrungsvermögens kann „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen […] sein.“465 Was be­ deutet dieses Konzept nun für eine Form der Erkenntnis, die praktisch ist? Zuerst wird damit eine Verschiebung der die Erkenntnis leitenden Frage­ stellung impliziert. So tritt nicht mehr die Frage „Was kann ich wissen?“, sondern „Was soll ich tun?“ in den Fokus.466 Während die theoretische Erkenntnis sich auf das Sein: „was da ist“ ausrichtet, zielt die praktische Erkenntnis auf das Sollen: „was dasein soll.“467 Folglich müssen wir in einer ersten Annäherung das Konzept der prak­ tischen Erkenntnis auf die allgemeine Struktur von Erkenntnis beziehen, um ihren spezifischen Charakter hervortreten zu lassen: Erkenntnis ist

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KdU V, S. 172. KpV V, S. 9. KrV, B 833. KrV, B 661. Hierzu auch Log IX, S. 86: „Denn theoretische Erkenntnisse sind solche, die da aussagen: nicht, was sein soll, sondern was ist, also kein Handeln, sondern ein Sein zu ihrem Object haben.“ Hiermit sind zwei unterschiedliche Modi von Aussagen angesprochen: deskriptive und präskriptive. Allerdings soll analog zu den einleitenden Überlegungen in der theoretischen Philosophie der Fokus nicht auf dem Wissensbegriff und damit auf einer möglichen anderen – spezifisch praktischen – Art von Rechtfertigung von Aussagen liegen, sondern auf dem Erkenntnisbegriff und dessen praktischer Ausformung. Zu dieser Ab­ grenzung: Allais 2019, S. 76.

2. Moral: Praktische Freiheit

für Kant grundsätzlich eine „mit Bewußtsein auf ein Object bezogene Vorstellung“.468 In der theoretischen Erkenntnis besteht der Bezug der Vorstellung auf den Gegenstand darin, den Gegenstand „und seinen Be­ griff (der anderweitig gegeben werden muß) bloß zu bestimmen“. Ein ers­ ter fundamentaler Unterschied besteht nun darin, dass die praktische im Gegensatz zur theoretischen Erkenntnis den vorgestellten Gegenstand da­ rüber hinaus „auch wirklich“ macht.469 Sie macht ihn wirklich, indem das Begehrungsvermögen durch die Vorstellung des Gegenstands bestimmt wird. Der Verstand i.w.S. steht nämlich nicht nur in einem „Verhältnisse […] zu Gegenständen (im theoretischen Erkenntnis)“, sondern er befindet sich ebenso in einem „zum Begehrungsvermögen, das darum der Wille heißt“.470 Dies hat weitreichende Konsequenzen, von denen zwei besonders herausgestellt werden sollen: Während die theoretische Erkenntnis den Grund der Gegenstände nur denken konnte, kann die praktische Erkennt­ nis durch den Willen zur „Ursache von den Objekten“ werden.471 Das bedeutet, dass das Subjekt qua praktische Erkenntnis zum „Grund von der Existenz der Gegenstände selbst werden“ kann.472 Zweitens ist die theore­ tische Erkenntnis durch ein Verhältnis von Subjekt und Objekt gekenn­ zeichnet, wohingegen bei der praktischen Erkenntnis Subjekt (Verstand) und Objekt (Wille) identisch sind. Es geht also um das Selbstverhältnis: Der Mensch begreift sich selbst sozusagen aus der Innenperspektive heraus als Handelnder, dem die Gegenstände seines Handelns nicht – wie in der theoretischen Erkenntnis – gegeben werden müssen, sondern die er selbst bestimmen und realisieren kann.473 Von dieser allgemeinen Charakterisierung ausgehend müssen wir die Freiheit als potenziellen Gegenstand praktischer Erkenntnis in den Blick

468 Log IX, S. 91. Ich beziehe mich hier nur auf den engeren Sinn von Erkenntnis bzw. auf „Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung“ (KrV, B 103). Kant verwendet jedoch Erkenntnis auch in einem weiteren Sinn um Vorstellungen im Allgemei­ nen zu bezeichnen, so bspw.: KrV, B 376, Log IX, S. 64f. 469 KrV, B X. 470 KpV V, S. 55. 471 KpV V, S. 44. 472 KpV V, S. 46. 473 Vgl. Engstrom 2018, S. 59: „practical knowledge, in contrast to theoretical, is knowledge whose subject and object are at bottom necessarily identical. Practi­ cal knowledge is thus a kind of self- knowledge, and as this necessary identity of subject and object constitutes a practical subject, or person, practical knowledge is the self-knowledge of persons, knowledge in which persons determine them­ selves.“

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nehmen: Um Freiheit als Gegenstand eines durch praktische Erkenntnis fundierten Wissens zu etablieren, müsste Freiheit für jedermann gültig und notwendig (objektiv hinreichend) sein. Mit anderen Worten: Es be­ dürfte eines Bewusstseins der Freiheit, das für jedermann gültig ist, als notwendigen Gegenstand des Willens. Ein endliches Subjekt ist jedoch bei der Erkenntnis immer auf ein Gegebensein des Gegenstandes angewiesen. Es müsste mithin ein spezifisch praktisches Gegebensein der Freiheit als Pen­ dant zum theoretischen Gegebensein in der Sinnlichkeit existieren, um die Freiheit als Gegenstand, auf den die praktische Erkenntnis Bezug nimmt, rechtfertigen zu können.474 Hierbei ist es außerdem wichtig zu betonen, dass dieses praktische Gegebensein eine andere Form als das theoretische Gegebensein haben muss: Die Frage ist daher nicht mehr, ob sich das Subjekt als unbedingte Ursache in der Welt erkennen bzw. denken kann. Ausgangspunkt ist stattdessen der Wille und daran anknüpfend die Frage, ob das Subjekt das gegebene kausale Begehrungsvermögen unabhängig von der Sinnlichkeit (a priori), d. h. frei und somit aus sich selbst heraus (autonom) bestimmen kann.475 Der genuin praktische Gehalt der objekti­ ven Realität einer Idee liegt also in ihrer „Ausführbarkeit“. Ideen lassen sich in dem Sinne „ausführen“, dass sie den Willen zu einer Handlung bestimmen können.476 Kants Antwort darauf, dass wir uns a priori auf einen Gegenstand bezie­ hen können, liegt bei der theoretischen Erkenntnis in den reinen Formen der Anschauung. Raum und Zeit sind die Bedingungen, unter denen ein Gegenstand gegeben wird. Die Erklärung dafür, dass der Wille a priori und damit frei bestimmt werden kann, ist hingegen in einem genuin praktischen Bewusstsein zu verorten;477 ein Bewusstsein, dass mit einer Notwendigkeit einhergeht, die nur a priori möglich ist. Der Gegenstand,

474 Noller 2014a, S. 138 entwickelt denselben Gedanken, jedoch mit einer anderen Terminologie. Er verwendet für das praktische Gegebensein, den Begriff der „praktischen Anschauung“. 475 Diese vergleichende Perspektive eröffnet Kant selbst in der KpV V, S. 44f. Wich­ tig ist angesichts des Begriffs der Autonomie zu betonen, dass es sich für Kant hierbei um Prädikat für Gesetzgebungen und nicht um ein Handlungsprädikat handelt. Auf diesen Aspekt macht Ludwig 2013, 61 Fn aufmerksam. 476 Zur Gleichsetzung von „Ausführbarkeit“ und objektiver Realität im praktischen Sinn: ZeF VIII, S. 356, 380. 477 Kain 2010, S. 219f, Allais 2019, S. 76f.

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der uns durch dieses praktische Bewusstsein unmittelbar gegeben wird, ist jedoch nicht die Freiheit selbst478: „Von der Freiheit kann sie [die Erkenntnis] nicht anheben; denn deren können wir uns weder unmittelbar bewußt werden, weil ihr erster Begriff negativ ist, noch darauf aus der Erfahrung schließen“.479 Was uns gegeben ist und wir mithin erkennen können, ist nicht ein Sein, sondern ein unbedingtes Sollen in Form eines synthetischen Satzes a prio­ ri. Es ist das Bewusstsein des moralischen Gesetzes. Dieses Bewusstsein be­ zeichnet Kant als das Faktum der Vernunft: Moralität ist uns als unbedingt notwendiger und allgemeiner Zweck (Gegenstand) des Handelns immer schon präsent.480 Inwiefern lässt sich ausgehend vom moralischen Gesetz aber auf die reale Möglichkeit der Freiheit schließen? Dieser Übergang ist bei Kant denkbar einfach gestaltet: Da Freiheit als unbedingte Kausalität die „ra­ tio essendi“ (der Seinsgrund) des moralischen Gesetzes ist, ist damit die objektive Realität (reale Möglichkeit) der Freiheit gerechtfertigt.481 Wir erkennen die objektive Realität der Freiheit nicht – auch nicht praktisch –, aber sie ist uns in der Reflexion auf das moralische Gesetz als dessen Bedingung der Möglichkeit bewusst. Um diese skizzierte Lösung des Freiheitsproblems verständlich zu ma­ chen, sollen im Rahmen der Darstellung des Begehrungsvermögens eini­ ge grundsätzliche Überlegungen Kants veranschaulicht werden (2.1). An­ schließend wird im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ erläutert, welche Form eine autonome Bestimmung des Willens hat und welcher Zusammenhang zwischen Freiheit und moralischem Gesetz be­ steht (2.2). Schließlich wird versucht, den Beweis der realen Möglichkeit der praktischen Freiheit durch das Faktum der Vernunft zu rekonstruieren (2.3).

478 Gegenstand im weiten Kant’schen Sinne. Zu dem Gedanken, dass das morali­ sche Gesetz, der Gegenstand ist, auf den sich der Begriff der Freiheit bezieht: Stolzenberg 2018, S. 565f. 479 KpV V, S. 29. 480 Der Begriff des Zwecks hat hier nur eine provisorische Funktion, die sich aus der bisherigen Argumentation ergibt und nicht der präzisen Verwendung bei Kant entspricht. Welche Rolle Zwecke für Kant tatsächlich spielen, wird sich im Folgenden zeigen. 481 KpV V, S. 3f.

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2.1 Begehrungsvermögen und Wille Die Eigentümlichkeit der praktischen Erkenntnis ergibt sich durch die Be­ ziehung des Verstandes i.w.S. zum Begehrungsvermögen. Wir müssen uns daher mit Kants Konzeption des Begehrungsvermögens näher vertraut ma­ chen, um verstehen zu können, warum er versucht, die reale Möglichkeit der Freiheit durch den Rekurs auf die praktische Erkenntnis argumentativ einsichtig zu machen: Grundsätzlich beschreibt das Begehrungsvermögen die Fähigkeit eines Wesens, „durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“482 In dieser Definition sind in unserem Kontext mehrere wichtige Aspek­ te enthalten: 1) die kausale Produktivität von Vorstellungen durch das Begehrungsvermögen, 2) seine mögliche Bestimmung durch die Vorstel­ lungsarten von Anschauung und Begriff und 3) daran anschließend der menschliche Wille als genuin begriffliches Begehrungsvermögen. 1) Kausale Produktivität: Das Begehrungsvermögen ist ein praktisches Vermögen der kausalen Verursachung. Ein Subjekt kann durch sein Be­ gehrungsvermögen zur Ursache der Wirklichkeit eines Gegenstandes wer­ den. Es wird in dem Sinn zur Ursache, dass es eine Erscheinung bzw. ein Ereignis als Wirkung in der Welt hervorbringt. Dieses „Verhältnis des Sub­ jekts der Kausalität zur Wirkung“ ist eine Handlung.483 Die Welt, in der die Wirklichkeit des Gegenstandes durch das Handeln hervorgebracht wird, ist „der Inbegriff der Gegenstände aller möglichen Erfahrung“ – die „Sin­ nenwelt“.484 In erster Linie ist Kant an solchen Handlungen interessiert, mit denen ein „Bewußtsein des Vermögens […] zur Hervorbringung des Objekts“, d. h. ein Bewusstsein der eigenen Produktivität einhergeht. Dies schließt bloße Wünsche bereits vorab aus, weil sie zwar eine Vorstellung des begehrten Gegenstands, aber keine der dazugehörigen Mittel zu dessen Hervorbringung enthalten.485 Dass die Vorstellung eines Gegenstandes beim Begehren zu dessen Rea­ lisierung führen kann, besagt natürlich nicht notwendig, dass ein begeh­ rendes Subjekt Gegenstände schon allein dadurch realisiert, dass es sie vor­

482 KpV V, S. 9. 483 KrV, B 250. Kant verwendet einen traditionell weiten Handlungsbegriff, dem zufolge der Begriff der Handlung (lat. actio) alles umfasst, was ein Bewirken ist. Zum Begriff der Handlung bei Kant: Schadow 2015, S. 992. 484 KdU V, S. 174ff. Kant spricht deswegen vom Begehrungsvermögen (Wille) als „Naturursache“ (KdU V, S. 172). 485 RL VI, S. 213. Zum Bewusstsein der eigenen Produktivität: Engstrom 2002, S. 60, 2009, S. 28ff.

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stellt.486 Der Mensch besitzt keine intellektuelle Anschauung, daher kann er die Wirklichkeit eines Gegenstandes nicht durch bloße Vorstellung hervorbringen. Stattdessen muss er sein kausales Vermögen des Begehrens durch die Vorstellung zum Handeln bestimmen. Solche Handlungen un­ terliegen grundsätzlich mindestens zweierlei Einschränkungen: einerseits hinsichtlich des begehrenden Subjektes und andererseits hinsichtlich des begehrten Objekts.487 Das begehrende Subjekt muss die hinreichenden Mittel zur Verwirklichung überhaupt besitzen und alle „Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind“, aufbieten.488 Zudem müssen die Bedingungen da­ für, dass sich das begehrte Objekt verwirklichen lässt, auch auf der Objekt­ seite gegeben sein. Der Zweck der Handlung muss also in der Welt mög­ lich sein. Die Feststellung, ob die Bedingungen für eine Verwirklichung des begehrten Gegenstandes und ob die Wirklichkeit des Gegenstandes als Erfolg der Handlung tatsächlich gegeben sind, ist für Kant allerdings nicht praktischer Natur, sondern obliegt dem theoretischen Erkenntnis­ vermögen.489 Die entscheidende Frage nach der Freiheit einer Handlung kann daher komplementär zu den Überlegungen in der theoretischen Phi­ losophie nicht auf der Ebene der empirischen Wirkungen der Handlung beantwortet werden. Freiheit muss in der „Gesinnung“ liegen.490 2) Bestimmung durch Vorstellungsarten: Mit dem Begriff der Gesinnung wird der Blick auf die im Subjekt liegende Vorstellung des begehrten Ge­

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Vgl. Höwing 2013b, S. 22, Engstrom 2002, S. 59. Hierzu: Engstrom 2009, S. 36ff. GMS IV, S. 394. Vgl. KpV V, S. 45: „Ob die Kausalität des Willens zur Wirklichkeit der Objekte zulange, oder nicht, bleibt den theoretischen Prinzipien der Vernunft zu beur­ teilen überlassen, als Untersuchung der Möglichkeit der Objekte des Wollens, deren Anschauung also in der praktischen Aufgabe gar kein Moment derselben ausmacht.“ Es besteht also eine basale Trennung zwischen (theoretischen) Wissen und Wol­ len, obwohl beide aufeinander bezogen sind. Wichtig ist es hier, zu beachten, dass wir das Begehrungsvermögen noch in seiner Allgemeinheit in den Blick nehmen. Mit zunehmender Verengung der Thematik auf die Moralität wird die Trennung von theoretischer und praktischer Erkenntnis immer schärfer. Diese Trennung betonen bspw. Senigaglia 2009, S. 210 und Höffe 2012, S. 73: „Auf der Grundlage von Kants strenger Unterscheidung des Erkenntnis- und des Begehrungsvermögens werden in der praktischen Vernunft die epistemischen Elemente geradezu liquidiert.“ 490 KpV V, S. 45f. Gesinnung wird hierbei allgemein als „Maximen des Willens, die sich [...] in Handlungen zu offenbaren bereit sind“, verstanden (GMS IV, S. 435). Diese Bedeutung ist also von dem Konzept der Gesinnung in der RGV VI, S. 25ff abzugrenzen, bei dem eine Art Metamaxime beschrieben wird.

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genstandes gelenkt. Diese Vorstellung ist das eigentliche Objekt der prak­ tischen Erkenntnis491: So bedarf es eines Motivs bzw. eines Bestimmungs­ grunds, um die bloße im Begehrungsvermögen gegebene Möglichkeit zu einer Handlung zu aktualisieren.492 In letzterem Ausdruck liegt bereits eine präzise Charakterisierung seiner Funktionalität: Das bestimmende Mo­ ment des Grundes liegt darin, dass er das Begehrungsvermögen darauf festlegt, auf die eine und nicht auf die andere Weise zu handeln.493 Wie wir wissen, kann man bei Vorstellungen zwischen Anschauung und Begriff differenzieren. Das bedeutet, dass grundsätzlich sowohl die Sinnlichkeit als auch der Verstand i.w.S. als Ursprung möglicher Bestim­ mungsgründe in Frage kommen. Dementsprechend differenziert Kant zwischen einem sinnlichen, unteren Begehrungsvermögen und einem be­ grifflichen, oberen Begehrungsvermögen. Ebenso wie in der theoretischen Philosophie zeichnet sich auch hier eine Dichotomie von Sinnlichkeit und Verstand i.w.S. ab.494 Im Kontext der Freiheitsthematik ist nun entschei­ dend, welchen Einfluss beide Vorstellungsvermögen auf die Bestimmung des Begehrungsvermögens haben. Liegt der Ursprung der Bestimmung, d. h. die Ursache der bestimmenden Vorstellung, (in letzter Konsequenz) im Objekt oder im Subjekt selbst? Handelt es sich um Naturkausalität oder Freiheitskausalität? Diese Fragen lassen sich bereits auf einer rein begrifflichen Ebene dis­ kutieren: Schließlich sind Anschauungen stets extern bewirkt, was in Be­

491 KpV V, S. 20: Die praktische Erkenntnis ist jene Erkenntnis, „welche es bloß mit Bestimmungsgründen des Willens zu tun hat“. 492 Der Begriff des Bestimmungsgrundes liegt hier noch in einer unspezifischen Weise vor. Er soll peu à peu weiterentwickelt werden, bis er die genaue kant­ sche Fassung erreicht. 493 Es soll in diesem Zusammenhang nochmals auf die spezifische Definition Kants von „bestimmen“ hingewiesen werden. Bestimmen bedeutet, einem Ge­ genstand ein Prädikat unter Ausschluss seines Gegenteils zuzuschreiben. (AA I, S. 391). Ein Grund ist „das, wodurch etwas Anderes (Verschiedenes) bestimmt gesetzt wird“ (AA XI, S. 35). Der Ausdruck Bestimmungsgrund scheint, wie Hindrichs 2015, S. 269 erläutert, also tautologisch, denn es liegt im Begriff des Grundes zu bestimmen: „Die terminologische Verwendung des Begriffes in der praktischen Philosophie soll indessen vermutlich gewährleisten, dass auch hier, außerhalb theoretischer Erwägungen, das Moment der Bestimmung das Entscheidende im Falle praktischer Gründe ist.“ 494 Vgl. Schönecker/Wood 2002, S. 102, Höffe 2007, S. 179, Engstrom 2009, S. 28f. Engstrom weist hierbei noch auf einen weiteren wichtigen Unterschied zwi­ schen Anschauung und Begriff in Bezug auf die praktische Erkenntnis hin: Während Begriffe ein Bewusstsein der eigenen Produktivität beinhalten, fehlt Anschauungen dieses Bewusstsein.

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zug auf den Ursprung der Bestimmung des Begehrungsvermögens – ganz wörtlich genommen – Fremd-Bestimmung (Heteronomie) durch den die Anschauung verursachenden Gegenstand bedeutet.495 Nicht das Subjekt, sondern das Objekt legt also das Begehrungsvermögen fest, so und nicht anders zu handeln.496 Mithin wäre die für die Freiheit charakteristische Unabhängigkeit verletzt. Begriffe sind hingegen spontan durch das Subjekt selbst verursacht und bedeuten somit in Bezug auf das Begehrungsvermögen prima facie Selbst-Bestimmung (Autonomie).497 Allerdings gilt es hier, weiter zwischen Verstandes- und Vernunftbegriffen zu differenzieren.498 Nur letztere sind vollkommen selbstbestimmt. Verstandesbegriffe sind zwar spontan, haben aber notwendig einen Bezug auf die Sinnlichkeit.499 Wie wir aus der trans­

495 Mit Blick auf die Überlegungen der theoretischen Erkenntnis müsste man sa­ gen, dass mit der bloßen Anschauung noch gar nicht das Niveau eines Gegen­ standes erreicht ist. Vielmehr reichen bestimmte Sinneseindrücke aus, um zu einer Handlung zu motivieren. Ähnliche Überlegungen stellt bspw. Uexküll 2014, S. 45 in seiner Umweltlehre an. 496 Kant betont in RGV VI, S. 35 diesen Umstand auch im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Handlung böse oder gut ist. Böse in einem moralischen Sinn kann eine Handlung nur sein, wenn sie zurechenbar ist. Zurechenbarkeit setzt Zuordnung durch Verursachung voraus. Diese ist jedoch in Bezug auf die Sinn­ lichkeit nicht gegeben: „so dürfen wir ihr Dasein [der sinnlichen Neigungen, B. H.] nicht verantworten (wir können es auch nicht; weil sie als anerschaffen uns nicht zu Urhebern haben)“. Wir sind nicht Verursacher unserer Neigungen und deswegen verantworten wir sie auch nicht. Wir verantworten sie erst, wenn wir sie in die Maximen unserer Handlungen aufnehmen. 497 KpV V, S. 44. Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung hebt insbesondere Engstrom 2009, S. 29 hervor: „Ultimately, this distinction [between sensibility and understanding] lies in a distinction between two forms of consciousness: consciousness that, being aware of itself as arising from itself, necessarily recog­ nizes itself as the source of its object and thereby understands the latter as its product, and consciousness the subject recognizes as arising from a source outside itself and so regards as an affection of itself by something acting upon it.“ 498 Wie Klemme 2014, S. 86f und Bojanowski 2006, S. 35 betonen, hält Kant diese begriffliche Trennung zwischen Verstand und Vernunft jedoch nicht immer ein. Sachlich ist sie aber stets gegeben. Vgl. hierzu auch KdU V, S. 172. Kant differenziert hier zwischen Naturbegriffen und Freiheitsbegriffen, aus denen sich unterschiedliche praktische Prinzipien ergeben – technisch-praktische und moralisch-praktische Prinzipien. 499 So sind, wie Kant bereits in der KrV, B 357 betont, die Prinzipien des reinen Verstandes auch keine Prinzipien im strengen Sinne, sondern nur komparative Prinzipien, weil sie auf etwas anderem als reinem Denken beruhen – nämlich „reine Anschauung [...] oder Bedingungen einer möglichen Erfahrung über­

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zendentalen Analytik wissen, hängt ihre reale Möglichkeit gerade daran, dass sie einer möglichen Erfahrung zugänglich sind. Vernunftbegriffe hin­ gegen sind potentiell restlos selbstbestimmt, weil sie rein (a priori) sind und dementsprechend ohne Bezug auf die Sinnlichkeit auskommen. Das war aber in ihrem theoretischen Gebrauch gerade der Grund dafür, dass sie nicht real bestimmt werden konnten. Ihnen kommt in der theoretischen Erkenntnis keine objektive Realität zu. In ihrem praktischen Gebrauch könnte ihnen hingegen objektive Realität zukommen, insofern man zei­ gen könnte, dass reine Vernunft zur Bestimmung des Begehrens „hinrei­ chenden Grund in sich enthalten könne“.500 Das Subjekt würde sich somit ausschließlich aus sich selbst heraus, unabhängig von der Sinnlichkeit zu einer Handlung bestimmen, d. h. sich darauf festzulegen, so und nicht anders zu handeln. Man kann sich diese allgemeine Unterscheidung der Bestimmungsgrün­ de anhand der Differenz zwischen Tier und Mensch nochmals veranschau­ lichen. Beide Arten von Lebewesen handeln nicht nach äußeren Bestim­ mungsgründen, im Sinne mechanischer Kräfte wie Maschinen, sondern durch innere Bestimmungsgründe, verstanden als Vorstellungen.501 Aller­ dings stellen für Tiere bereits die von einem Gegenstand hervorgerufenen sinnlichen Anschauungen einen zur Handlung nötigenden (bestimmen­ den) Grund dar. Sie handeln also aus bloßem Instinkt.502 Der Mensch als zum Denken fähiges Wesen hingegen wird zwar von der Sinnlichkeit affiziert, aber, wie sich im Rahmen der Erörterung der transzendentalen Freiheit ergeben hat, ist es denkbar, dass er deswegen noch nicht zur Hand­ lung genötigt (bestimmt) wird. Vielmehr kann der Mensch sich durch den Verstand i.w.S. selbst affizieren.503 Er kann daher in eine reflexive Distanz zur Sinnlichkeit treten. Der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens zur Handlung liegt im Menschen selbst – je nach Art des Begriffs parti­

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haupt“. Hierzu: Messina 2015, S. 1845 sowie KrV, B 575: Der Verstand macht „von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch“. KpV V, S. 19. KdU V, S. 464. Vgl. RGV VI, S. 29 Fn: Instinkt ist „ein gefühltes Bedürfnis […], etwas zu tun oder zu genießen, wovon man noch keinen Begriff hat“. Vgl. KrV, B 562, B 830: „Denn, nicht bloß das, was reizt, d. i. die Sinne un­ mittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden.“ Diese Überlegung bleibt für Kant, wenn auch nicht unbedingt in der Begründung so doch in der Konsequenz fester Bestandteil seiner Freiheits­ theorie. Dies wird insbesondere in RL VI, S. 213f ersichtlich.

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ell oder ganz. Aus diesen rein konzeptionellen Überlegungen sind wir also auf die zentrale Frage der praktischen Philosophie Kants und ihren Zusammenhang mit dem Freiheitsproblem gestoßen: Kann reine Vernunft praktisch sein? 3) Wille als begriffliches Begehrungsvermögen: Bevor wir uns dieser Frage widmen, muss noch näher erläutert werden, was es heißt, ein begriffliches Begehrungsvermögen zu haben. Die spezifische Art des Begehrungsvermö­ gens, sich durch Begriffe zur Handlung zu bestimmen, nennt Kant Willkür bzw. Wille.504 Hierbei ist a) eine erste begriffliche Klärung letzterer Aus­ drücke vorzunehmen, die dann b) den Ausgangspunkt dafür bildet, ein vertieftes Verständnis der Struktur des begrifflichen Begehrungsvermögens zu entwickeln, um schließlich c) den Zusammenhang von Begehrungsver­ mögen und der sinnlich-vernünftigen Doppelnatur des Menschen weiter zu spezifizieren. a) Willkür und Wille: In weiten Teilen seines Werkes verwendet Kant Willkür und Wille synonym. Erst in der MS macht Kant eine klare ter­ minologische Unterscheidung zwischen beiden Konzepten, obwohl sie sachlich durchaus vorher angelegt war.505 Hierbei darf man jedoch nicht dem Trugschluss unterliegen, zu glauben, dass es sich um zwei substanziell distinkte Vermögen handeln würde; vielmehr ist von Kant eine primär funktionelle Unterscheidung intendiert.506 Um sich die begriffliche Unter­ scheidung von zwei funktional geschiedenen Aspekten ein und desselben Begehrungsvermögens deutlich zu machen, könnte man von einem Begeh­ ren (Volition) erster (Willkür) und zweiter Stufe (Wille) sprechen. Der Begriff der Willkür als Begehren erster Stufe beschreibt „das Begeh­ rungsvermögen […] in Beziehung auf die Handlung“.507 Das bedeutet, die Willkür bezieht sich unmittelbar auf das Handeln selbst, verstanden als produktive Wirkung unseres Begehrungsvermögens durch Vorstellungen. Der Begriff des Willens bezieht sich hingegen nur mittelbar auf das Han­ deln und betont den kognitiven Aspekt des Handelns, d. h. sich durch Gründe zum Handeln bestimmen zu lassen. Folglich wird das Begehrungs­ vermögen nicht „in Beziehung auf die Handlung“ angesprochen, sondern in Beziehung „auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung“. Der

504 RL VI, S. 213. Mit der Willkür geht zusätzlich noch das Bewusstsein einher, den im Begriff vorgestellten Gegenstand tatsächlich verwirklichen zu können. Fehlt dieses Bewusstsein, so spricht Kant nur von einem Wunsch. 505 Vgl. Willaschek 1992, S. 51ff, Beck 1985, S. 176ff. 506 Vgl. Klemme 2013c, S. 23. 507 RL VI, S. 212.

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Wille bezeichnet das Begehrungsvermögen, sofern es durch die praktische Vernunft bestimmt ist. Er erweist sich somit als „die praktische Vernunft selbst.“508 Nur wenn die Willkür tatsächlich von der Vernunft bestimmt ist, kommen beide funktional verschiedenen Aspekte des Begehrungsver­ mögens überein.509 b) Struktur des begrifflichen Begehrungsvermögens: Die Unterscheidung von Willkür und Wille lässt sich darüber hinaus an dem Status ihrer Vorstell­ ungen festmachen. Wir müssen dazu den begrifflichen Inhalt der Vorstell­ ungen näher betrachten, um zu verstehen, was es heißt, das Begehrungs­ vermögen durch Begriffe zu bestimmen. Zuerst ist in Erinnerung zu rufen, was wir von Begriffen aus dem Zusammenhang mit der theoretischen Erkenntnis wissen: Begriffe enthalten nicht nur die Einheit eines Mannig­ faltigen zu einem Gegenstand, sondern auch die Regel dieser Synthese. Es ist also zu erwarten, dass sich diese Doppelstruktur auch im praktischen Gebrauch widerspiegelt. So ist das Begehrungsvermögen ein durch Vorstellungen bestimmtes kausales Vermögen. Was begehrt wird, ist ein Gegenstand. Die Vorstellung eines Gegenstandes soll also qua Begehrungsvermögen die Wirklichkeit desselben hervorbringen. Um aber überhaupt etwas begehren zu können, muss dieses etwas, die Einheit eines Gegenstandes haben. Wäre es nur eine ungeordnete Mannigfaltigkeit könnten wir unser kausales Vermögen gar nicht auf ein konkretes Ziel ausrichten. Mit dem Moment der Regelhaf­ tigkeit lässt sich konzeptionell nahtlos an die Kausalität des Begehrungs­ vermögens anknüpfen: Wie wir bereits vom theoretischen Gebrauch der Vernunft wissen, ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung für Kant durch ein Gesetz bestimmt. Analog ist beim praktischen Gebrauch der Vernunft ein praktisches Gesetz denkbar. Das Begehrungsvermögen ist nun aber nicht unmittelbar durch Gesetze, sondern durch Vorstellungen und zwar durch Vorstellungen von Gesetzen bestimmt. Solche Vorstell­ ungen von praktischen Gesetzen nennt Kant praktische Grundsätze oder

508 RL VI, S. 212. 509 Zu dieser bei Kant schwierigen Terminologie: Willaschek 1992, S. 51, Beck 1985, S. 169ff, Stekeler-Weithofer 1990, S. 307f. Allerdings ist Beck zu wider­ sprechen, der unter dem Begriff Freiheit zwei verschiedene Aspekte – Spontani­ tät und Autonomie – versteht, die jeweils der KrV und der GMS zuzuordnen sind und die in der KpV zusammengeführt werden. Der Begriff der Autonomie, im Sinne der Selbstgesetzgebung, ist der Sache nach bereits in der KrV angelegt. Hinzuweisen ist nur auf den Zusammenhang von intelligibler Kausalität, Ge­ setz und Gründe, den wir oben skizziert haben.

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Prinzipien.510 Prinzipien „sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat.“511 Praktische Grundsätze sind also (praktische) Sätze höchster Allgemeinheit, die sich wie ihr Pendant in der theoretischen Philosophie nicht von noch fundamentaleren Sätzen ableiten lassen.512 Im Zusammenhang mit dem praktischen Gebrauch von Begriffen taucht also erneut der Gedanke der Regelgeleitetheit auf – indes in anderer Hinsicht als im theoretischen Ge­ brauch. So ist damit nicht nur die Synthese zur Einheit des Gegenstandes, sondern in Bezug auf die Kausalität des Begehrungsvermögens auch dessen Realisierung impliziert.513 Wir können festhalten: Bei der Bestimmung des Begehrungsvermögens denken wir uns zum einen den Zweck unseres Begehrens, im Sinne der Einheit eines Gegenstandes, der realisiert werden soll. Der Zweck stellt die eigentliche Materie des Begehrens dar und wird von Kant als objektiv-ma­ terialer Bestimmungsgrund bezeichnet. Zum anderen enthält dieser Begriff eine Regel, nach der wir die Realisierung des Gegenstandes koordinie­ ren müssen.514 Diese Regel erweist sich als objektiv-formaler Bestimmungs­ grund.515 c) Begehrungsvermögen und menschliche Natur: Allerdings ist diese Regel­ geleitetheit in praktischer Hinsicht mit einer besonderen Problematik konfrontiert: Während theoretische Prinzipien ein ‚Sein‘ ausdrücken, im­ plizieren praktische Prinzipien ein ‚Sollen‘. Das Sollen verweist darauf, dass praktische im Gegensatz zu theoretischen Prinzipien nicht notwendi­ gerweise Gesetzesstatus haben, weil in „der praktischen Erkenntnis, d. i. derjenigen, welche es bloß mit Be­ stimmungsgründen des Willens zu tun hat, […] Grundsätze, die man sich macht, darum noch nicht Gesetze [sind], darunter man unvermeid­ lich stehe, weil die Vernunft im Praktischen es mit dem Subjekte zu

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GMS IV, S. 412. KpV V, S. 19, Hervorhebung B. H. Vgl. Beck 1985, S. 81. Zum Zusammenhang von Regel und Maxime: Schwartz 2006, S. 30f. Auf diesen außerordentlich wichtigen Aspekt machen Höwing 2013b, S. 47f und Noller 2014a, S. 150 aufmerksam. 515 Vgl. AA XXIII, S. 389. Kant ist in seiner Terminologie leider nicht einheitlich. Teilweise bezeichnet er den Zweck als objektiven Bestimmungsgrund und die Regel als formalen Bestimmungrund, teilweise aber auch letztere als objektiven Bestimmungsgrund. Dieser Uneindeutigkeit soll mit der Doppelung der Begrif­ fe Rechnung getragen werden.

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tun hat, nämlich dem Begehrungsvermögen, nach dessen besonderer Beschaffenheit sich die Regel vielfältig richten kann.“516 Diese besondere Beschaffenheit des Subjektes liegt im konkreten Fall des Menschen darin, dass er weder vollkommen sinnlich noch vollkommen vernünftig ist.517 Ein vollkommen sinnliches Wesen ist ausschließlich durch das Sein bestimmt. So haben Tiere „keine freye Willkhür, sondern diese wird durch ihre sinnlichen Antriebe nothwendig bestimmt“.518 Bei einem vollkommenen vernünftigen Wesen ist Wollen (subjektive Notwendigkeit) und Sollen (objektive Notwendigkeit) identisch: „Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Nei­ gung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt.“519 Ein unvollkommen vernünftiges Wesen wie der Mensch lässt sein Wollen hingegen nicht notwendigerweise vom Sollen und damit von der Vernunft bestimmen, weil er „noch durch Sinnlichkeit […] affiziert“ wird.520 Aus dieser Trennung von Wollen und Sollen ergibt sich überhaupt erst die Dichotomie von Willkür und Wille; und daran anschließend, die zwei Arten von Prinzipien, die man ihnen zuordnen kann: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen.“521 Ein Gesetz ist das objektive Prinzip des Wollens (principium diiudicatio­ nis). Es ist „der Grundsatz, nach dem es [das Subjekt] handeln soll“522 und drückt damit objektive Notwendigkeit aus. Dieses Sollen umfasst prima facie sowohl den Zweck (objektiv-materialer Bestimmungsgrund) als auch die Regel (objektiv-formaler Bestimmungsgrund). Das Gesetz ist objektiv, weil es „für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig erkannt wird.“523 Allerdings ist es „ein bloßes theoretisches Erkenntnis der möglichen Bestim­ mung der Willkür“.524 ‚Theoretisch‘ bedeutet hier nicht, Ergebnis einer Er­

516 KpV V, S. 20, Hervorhebung B. H. 517 Vgl. Burggraf 2003, S. 36: „Die menschliche Willkür wird also weder durch Antriebe noch durch Motive determiniert, sondern von beiden nur affiziert.“ 518 AA XXIX, S. 611. 519 GMS IV, S. 412. 520 GMS IV, S. 449. Hierzu auch Schönecker/Wood 2002, S. 57f, Höffe 2007, S. 179. 521 RL VI, S. 226. 522 GMS IV, S. 421 Fn; RL VI, S. 225. 523 KpV V, S. 19, Hervorhebung B. H. 524 RL VI, S. 218.

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kenntnis im Sinne der theoretischen Philosophie zu sein. Vielmehr muss, wie wir bereits herausgestellt haben, das Gesetz Resultat einer genuin prak­ tischen Erkenntnis sein. Kant verwendet den Begriff in diesem Kontext im Sinne von ‚nur theoretisch‘ erkannt und nicht praktisch befolgt.525 Der Ausdruck bedeutet dann, dass bei einem sinnlich-vernünftigen Wesen die Erkenntnis des Sollens noch nicht hinreichend zu einer Handlung moti­ viert.526 Das Gesetz ist nur eine „mögliche[] Bestimmung der Willkür“ und damit nicht subjektiv notwendig. Objektive und subjektive Notwendigkeit fallen mithin auseinander. Das Gesetz muss, um handlungswirksam zu werden, erst in eine subjektive Form als Maxime übersetzt worden sein.527 Dementsprechend ist eine Maxime528 das subjektive Prinzip des Wol­ lens (principium executionis), welches „sich das Subjekt selbst zur Regel macht“.529 Sie „ist also der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt“ bzw. präziser: tatsächlich handelt oder zumindest handeln will. Verknüpft man also die kausale Struktur des Begehrungsvermögens, mit seiner be­ grifflichen Verfasstheit und bezieht sie auf die Trennung von Willkür und Wille, so ergibt sich eine in seiner Wichtigkeit nicht zu unterschätzende Einsicht: Für Kant vollzieht sich Handeln immer – bewusst oder unbe­

525 Log IX, S. 86f: „Setzen wir dagegen praktische Erkenntnisse den speculativen [nicht: theoretischen, B. H.] entgegen: so können sie auch theoretisch sein, wofern aus ihnen nur Imperative können abgeleitet werden. Sie sind alsdann, in dieser Rücksicht betrachtet, dem Gehalte nach (in potentia) oder objectiv praktisch. Unter speculativen Erkenntnissen nämlich verstehen wir solche, aus denen keine Regeln des Verhaltens können hergeleitet werden, oder die keine Gründe zu möglichen Imperativen enthalten. […]. Dergleichen speculative Er­ kenntnisse sind also immer theoretisch, aber nicht umgekehrt ist jede theoreti­ sche Erkenntniß speculativ; sie kann, in einer andern Rücksicht betrachtet, auch zugleich praktisch se“n." 526 Willaschek 2002, S. 78 legt eine hiervon abweichende Interpretation vor, die mir jedoch den grundlegenden Zusammenhang misszuverstehen scheint. Geis­ mann 2006, S. 75f argumentiert unter einer entsprechenden Erläuterung des Begriffs „theoretisch“ in Kants Logik hingegen analog zur vorliegenden Inter­ pretation. 527 Allison 1990, S. 6 hat diesen Gedanken mit seiner Inkorporationsthese beson­ ders deutlich hervorgehoben. 528 Es ist allerdings wie Timmermann 2000, S. 39ff geltend macht, zu beachten, dass sich im Begriff der Maxime drei Bedeutungen überlagern: Maxime als „first-order priniciple of volition“, als „higher-order subjective principle of voli­ tion“ und als allgemeine Lebensregel. Folgende Ausführungen beziehen sich auf erste Bedeutungsdimension. 529 RL VI, S. 225.

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wusst – unter einer Regel, die sich als Maxime explizieren lässt.530 Damit ist allerdings noch nicht begründet, worin die Subjektivität der Maxime im Gegensatz zum Gesetz besteht. Die Maxime ist vor allem deswegen subjektiv, weil sie formal nur für den Willen eines Subjektes, das nach diesem Prinzip handelt, Geltung beansprucht.531 Dies schlägt sich auf den ersten Blick sprachlich darin nieder, dass Maximen aus der Ich-Perspektive formuliert sind.532 Was heißt das aber inhaltlich? Kant scheint vor allem folgenden Punkt betonen zu wollen: Es bedarf bei einem endlichen Subjekt wie dem Menschen, über die rein intellektu­ ell-begriffliche Vorstellung des Sollens hinaus, einen weiteren, nämlich sinnlich-subjektiven Bestimmungsgrund, um den Menschen zum Handeln zu motivieren – ein Gefühl, welches stets nur empirisch und somit nicht objektiv verallgemeinerbar ist.533 Dabei handelt es sich um „die Wirkung der Vorstellung (diese mag sinnlich oder intellektuell sein) aufs Subjekt“. Dabei ist es unerheblich, ob „die Vorstellung [, die die Ursache des Ge­ fühls ist, B. H.] selbst zum Verstande oder der Vernunft gehören mag.“534 Entscheidend ist, dass die Vorstellung eine Wirkung auf die Sinnlichkeit hat; eine Wirkung, die im Gegensatz zur Anschauung keine Beziehung auf ein (Erkenntnis-)Objekt aufweist. Ob das Gefühl der subjektiven Be­ stimmung der Willkür durch eine Maxime vorausgeht oder ihr erst folgt, bleibt damit noch unbestimmt. Rein systematisch können wir bereits dafür argumentieren, dass, wenn die Willensbestimmung autonom erfolgen soll, das Gefühl als empirische Vorstellung nicht die Ursache der Willensbe­ stimmung sein kann. Bei einer autonomen Willensbestimmung muss der subjektive Bestimmungsgrund (Triebfeder) der Willkür das Gesetz selbst sein. Nichtsdestotrotz muss ein Gefühl bei einer solchen Willensbestimmung

530 Zu der Vielzahl an Autoren, die diese Prämisse teilen: Kronenberg 2016, S. 12ff. Exemplarisch für diese Position: Willaschek 1992, S. 56: „Nach Kant [geschieht] jede Handlung nach einer Maxime.“ Ebenso Timmermann 2000, S. 43: „The very formulation of the [categorical] imperative presupposes that we always act on ‚thin‘ maxims.“ 531 Allgemein zum Begriff der Maxime bei Kant: Kronenberg 2016, S. 103f. 532 Vgl. Timmermann 2003, S. 151. 533 Hierzu Kant bereits in der KrV, B 29. Diesen Gedanken betont auch Willaschek 1992, S. 73: „Der Unterschied zwischen einem Imperativ und einer Maxime muß also darin liegen, daß Maximen einen motivationalen Faktor enthalten, der bei Imperativen fehlt. Mit ‚Motiv‘ ist hier, gemäß der ursprünglichen Wortbedeutung, das bewegende Moment in einer Entscheidung gemeint. Kant spricht sehr anschaulich von der ‚Triebfeder‘ des Handelns.“ 534 RL VI, S. 211 Fn.

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beteiligt sein, aber eben nicht als Ursache, sondern nur als Wirkung. Kant nennt dieses Gefühl „Achtung“ vor dem Gesetz.535 Damit ergibt sich ein komplexes Panorama der menschlichen Willens­ bestimmung durch ein praktisches Gesetz, das sich aus drei nicht zeitlich additiven, sondern willenslogischen Momenten zusammensetzt536: „Das moralische Gesetz also, so wie es formaler Bestimmungsgrund der Handlung ist, durch praktische reine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, aber nur objektiver Bestimmungsgrund der Gegenstände der Handlung unter dem Namen des Guten und Bösen ist, so ist es auch subjektiver Bestimmungsgrund, d. i. Triebfeder, zu dieser Handlung, in­ dem es auf die Sinnlichkeit des Subjektes Einfluß hat, und ein Gefühl bewirkt, welches dem Einfluss des Gesetzes auf den Willen beförder­ lich ist.“537 Da für uns die Frage der Freiheit im Mittelpunkt steht und wir die Willensbestimmung aus der Erkenntnisperspektive beleuchten, werden folgende Ausführungen sich so weit wie möglich auf das Gesetz als forma­ ler und materialer Bestimmungsgrund beschränken. Ausgehend von der Unterscheidung in Maximen und Gesetze lässt sich bereits vorab das Verhältnis von Willkür und Wille näher bestimmen. Die kognitive Funktion des Willens liegt also darin, die Maximen, aus denen die Willkür das Begehrungsvermögen zu einer Handlung bestimmt, zu evaluieren. Evaluieren bedeutet in diesem Zusammenhang, die Maximen auf ihre Vernünftigkeit und damit Gesetzesfähigkeit hin zu prüfen: Kann eine gegebene Maxime als allgemeines Gesetz fungieren und somit für alle vernünftigen Wesen als gültig anerkannt werden?538 Zusammenfassend kann man nach den bisherigen Ausführungen also festhalten, dass die menschliche Willkür in einem vollumfänglichen Sinne selbstbestimmt ist, wenn die praktische Vernunft in Form des gesetzmäßi­ gen Willens als Bestimmungsgrund der Willkür fungiert. Reine Vernunft müsste also praktisch sein können. Unklar bleibt allerdings, wie solch ein objektives Prinzip beschaffen ist (2.2) und ob es die Willkür überhaupt bestimmen kann (2.3). Während erste Frage vor allem an der GMS geklärt werden soll, weil sie insbesondere „die Aufsuchung und Festsetzung des

535 GMS IV, S. 401 Fn. 536 Noller 2014a, S. 145 beleuchtet diese drei Momente der Willensbestimmung in vollem Umfang. 537 KpV V, S. 75, Hervorhebung B. H. 538 Vgl. Hespe 2017, S. 113, Klemme 2017, S. 114.

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obersten Prinzips der Moralität“539 zum Gegenstand hat, so wird die zwei­ te Frage im Rahmen der KpV und der darin enthaltenen Faktum-These be­ antwortet werden.

2.2 Bestimmung des Willens: Objektive Prinzipien als Imperative Ein substanzieller Gehalt von objektiven Prinzipien lässt sich gewinnen, wenn man sie anhand dreier Gesichtspunkte systematisiert: anhand ihrer Gesetzesform und ihres Status als Imperative (2.2.1) sowie der Unterschei­ dung von Materie und Form (2.2.2).

2.2.1 Gesetzesform und Imperativformel 1) Allgemeinheit und Notwendigkeit: Ein erster Hinweis auf die Beschaffen­ heit eines objektiven Prinzips ist uns bereits durch seine Verfasstheit als praktisches Gesetz gegeben. Gesetze zeichnen sich, wie Kant nicht müde wird zu betonen, durch Allgemeinheit und Notwendigkeit aus. Allgemeinheit bedeutet, dass „gar keine Ausnahme als möglich“540 gestat­ tet wird. Im Kontext der praktischen Philosophie bedeutet dies, dass ein solches Prinzip nicht nur für den Menschen, sondern für alle vernünftigen Wesen überhaupt gelten muss.541 Es gilt deswegen allgemein, weil es „aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als ein solches gültig sind, den Willen bestimmt.“542 Wie wir in der Abgrenzung der Gesetze von den Maximen gesehen haben, liegt darin seine Objektivität. Notwendigkeit drückt die Unmöglichkeit des Gegenteils aus, d. h., dass etwas „so und nicht anders“ sein kann.543 Das Prinzip stellt damit eine Sollens-Forderung auf, so und nicht anders zu handeln. Strenge Allge­ meinheit und Notwendigkeit kommen für Kant nur Gesetzen a priori zu.

539 540 541 542 543

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GMS IV, S. 392. KrV, B 4. Vgl. GMS IV, S. 389, KpV V, S. 32. GMS IV, S. 413. KrV, A 1. Allgemein zum Begriff der Notwendigkeit bei Kant: Sans 2015, S. 1679.

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Solche Gesetze haben ihren Ursprung in der Vernunft. Empirische Gesetze hingegen haben nur komparative Allgemeinheit und Notwendigkeit.544 2) Pflicht: Ein zweiter Aspekt zeigt sich, wenn man die Gesetzesform des objektiven Prinzips in Verbindung mit der Unterscheidung von vollkom­ men und unvollkommen vernünftigen Wesen setzt. Während sich erstere durch die Identität von Wollen und Sollen auszeichnen, sind bei letzteren Wollen und Sollen durch den Einfluss der Sinnlichkeit getrennt. Aus die­ ser Differenz ergibt sich, dass nicht alle unvollkommenen Vernunftwesen dem Sollen gemäß handeln und auch nicht notwendigerweise.545 Wenn das Sollen, das sich durch praktische Prinzipien ausdrücken lässt, für ein unvollkommen vernünftiges Wesen qua Maximen der Willkür handlungs­ wirksam werden soll, so muss das Sollen „Nötigung“546 ausüben. Die Vernunft muss also der Willkür die Notwendigkeit einer Handlung auf­ erlegen können: Die Vernunft fordert dazu auf, in einer bestimmten Art und Weise zu handeln: ‚handle so…‘, ‚handle nur…‘.547 Die einem unvoll­ kommenen Vernunftwesen wie dem Menschen „durch die Vernunft […] auferlegte Notwendigkeit, einem Gesetze derselben gemäß zu handeln“, heißt Pflicht.548 Ein verpflichtendes praktisches Prinzip hat die Form eines Imperativs: „Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Wil­ len nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ. Alle Imperative werden durch ein Sollen ausge­ drückt und zeigen dadurch das Verhältnis des objektiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der seiner subjektiven Beschaffenheit nach dadurch nicht notwendig bestimmt wird (eine Nötigung).“549 „[E]in Imperativ, d. i. eine Regel, die durch ein Sollen, welches die objektive Nötigung der Handlung ausdrückt, bezeichnet wird, und

544 KrV, B 4: „Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind also sichere Kennzei­ chen einer Erkenntnis a priori, und gehören auch unzertrennlich zueinander.“ Hier auch GMS IV, S. 389. 545 Vgl. KpV V, S. 19: „In einem pathologisch-affizierten Willen eines vernünftigen Wesens kann ein Widerstreit der Maximen, wider die von ihm selbst erkannte praktische Gesetze, angetroffen werden.“ 546 GMS IV, S. 413: „so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objekti­ ven Gesetzen gemäß, ist Nötigung.“ 547 Vgl. Klemme 2017, S. 111. 548 TL VI, S. 481f. Ähnlich auch in KpV V, S. 32. 549 GMS IV, S. 413.

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bedeutet, daß, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestimmete, die Handlung unausbleiblich nach dieser Regel geschehen würde.“550 Das objektive Prinzip des Gesetzes tritt bei unvollkommenen Vernunftwe­ sen als Imperativ auf. „Alle“551 Imperative drücken ein Sollen aus, d. h. sie fordern zu einer Handlung auf. Das bedeutet allerdings nicht, dass alle Imperative gleich wären. Vielmehr werden die Imperative durch eine „Ungleichheit der Nötigung des Willens deutlich unterschieden.“552 Das bedeutet, dass sie nicht den gleichen Grad an Allgemeinheit und Notwen­ digkeit haben.553 Diese Ungleichheit ergibt sich aus dem spezifischen Grad ihrer Selbst­ bestimmtheit. Wie bereits erläutert wurde, muss hierbei zwischen dem Ursprung der praktischen Gesetze im Verstand und in der Vernunft differenziert werden. Nur praktische Vernunftgesetze sind Gesetze mit strenger Allgemeinheit und Notwendigkeit. Praktische Verstandesgesetze haben nur einen bedingten Gesetzesstatus, weil sie auf die Sinnlichkeit bezogen sind.554 So spiegelt sich diese Unterscheidung auch in den zwei Arten von Imperativen wider: Es gibt hypothetische und kategorische Impera­ tive. Hypothetische Imperative drücken technisch-praktische Prinzipien aus, durch die der Wille vom Verstand bestimmt wird. Der Wille handelt also nach Gesetzen der Natur. Kategorische Imperative sind moralisch-praktische Prinzipien der Vernunft.555 Handelt der Wille nach Vernunftprinzipien, so handelt er nach Gesetzen der Freiheit.556

550 KpV V, S. 20. 551 Diese Betonung auf alle ist wichtig, weil damit hypothetische und kategorische Imperative gemeint sind. 552 GMS IV, S. 416. 553 Auf diesen Umstand weist auch Mosayebi 2013, S. 44 hin. 554 Dass es sich bei hypothetischen Imperativen auch schon nach der GMS nicht um Gesetze handelt, wird in der Sekundärliteratur gerne übersehen. Kant ist hingegen äußerst klar in seinen Aussagen, wie GMS IV, S. 420 zeigt: „So viel ist indessen vorläufig einzusehen: daß der kategorische Imperativ allein als ein praktisches Gesetz laute, die übrigen insgesamt zwar Prinzipien des Willens, aber nicht Gesetze heißen können“. 555 Hierzu die Unterscheidung in der KdU V, S. 172, in der Kant den Gegenstands­ bereich der Moral auf kategorische Imperative einschränkt. Der Sache nach ist diese Unterscheidung aber bereits seit der GMS gegeben. 556 Vgl. Klemme 2017, S. 90, 2014, S. 87.

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2.2.2 Materie und Form von Imperativen Unsere bisherigen Ausführungen haben sich weitestgehend aus einer be­ grifflichen Explikation des Konzepts der Vorstellung und der Kausalität im Zusammenhang mit der Definition des Begehrungsvermögens gestützt. Es gilt nun zu fragen, was inhaltlich konkret mit der daraus folgenden Unterscheidung der verschiedenen Arten von Imperativen gemeint ist. Dies lässt sich am besten erreichen, wenn man abermals auf die Unter­ scheidung von Anschauung und Begriff rekurriert: Anschauungen stellen die Materie eines Gegenstandes zur Verfügung, Begriffe die Form des Ge­ genstandes. Der Formaspekt von Begriffen liegt in ihrer Allgemeinheit.557 Wie wir aus der KrV wissen, konstituieren beide Aspekte zusammen einen Gegenstand. In diesem Sinn können wir uns auch im praktischen Kontext ausschließlich unter dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand einen konkreten Gegenstand vorstellen, den wir hervorbringen können. Hypothetische Imperative als Verstandesprinzipien enthalten somit Mate­ rie und Form eines Gegenstandes, wohingegen kategorische Imperative als Vernunftprinzipien nur die Form eines Gegenstandes aufweisen. Diese Unterscheidung muss weiter konkretisiert werden. 1) Hypothetische Im­ perative sollen dabei insbesondere von ihrem Materie-Aspekt her und 2) kategorische Imperative von ihrem Form-Aspekt her beleuchtet werden. Dabei gilt es vor allem zu explizieren, was es bedeuten kann, dass reine Vernunft praktisch ist oder bedeutungsgleich: dass die reine Form eines Gegenstandes den Willen bestimmt. 1) hypothetische Imperative: Die Materie eines das Begehrungsvermögen bestimmenden Prinzips ist ein „Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehret wird.“558 Den begehrten Gegenstand bzw. die Vorstellung des begehrten Gegenstandes bezeichnet Kant auch als Zweck.559 Die Materie eines Prin­ zips ist aus einer epistemischen Perspektive stets empirisch, weil die Wirk­ lichkeit des Gegenstandes ein in der Erscheinung bewirktes Ereignis dar­ stellt. Aus der praktischen Perspektive betrachtet, handelt es sich bei mate­ rialen Prinzipien des Willens ebenfalls um zumindest mittelbar sinnliche Bestimmungsgründe. Kant charakterisiert alle materialen Prinzipien als

557 Vgl. oben Kap. II.1.1.2. 558 KpV V, S. 21. 559 Vgl. TL VI, S. 381: Zweck bezeichnet den „Gegenstand der Willkür (eines ver­ nünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung diesen Gegenstand hervorzubringen bestimmt wird.“

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die „Lust an der Wirklichkeit eines Gegenstandes“.560 Lust ist ein Gefühl, „welches die Wirkung der Vorstellung (diese mag sinnlich oder intellektu­ ell sein) aufs Subjekt enthält und zur Sinnlichkeit gehört“.561 Letztlich ist al­ so das sinnlich-empirische Lustempfinden der Zweck eines hypothetischen Imperativs. Damit geht die Lust der Bestimmung des Begehrungsvermö­ gens voraus und wird so zu dessen Bestimmungsgrund. Hieraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen: a) die Form des hypothetischen Impera­ tivs als Gesetz (formaler Bestimmungsgrund), b) das Verhältnis von Mittel und Zweck (materialer Bestimmungsgrund) und c) die Selbstbestimmtheit des Willens. a) Gesetz: Aufgrund des empirischen Status der Materie kann sie nie zur strengen, sondern nur zur bedingten Gesetzesform eines Prinzips dienen.562 Erfahrung konstituiert schließlich nur komparative Allgemein­ heit und bedingte Notwendigkeit. Deshalb sind hypothetische Imperative „zwar praktische Vorschriften, aber keine Gesetze“563 im engeren Sinne. Sie schreiben also nur unter einer spezifischen Bedingung vor, notwendig so und nicht anders zu handeln.564 b) Mittel und Zweck: Was es heißt, dass ein praktisches Gesetz (präzi­ ser: eine praktische Vorschrift) bedingt ist, wird erst deutlich, wenn man die Bedingung in Zusammenhang mit dem Zweck als materialen Bestim­ mungsgrund einer Handlung setzt: Ein objektives Prinzip des Willens gebietet eine Handlung. Im Falle materialer Prinzipien wird die Handlung zur Erreichung eines Zwecks geboten. Damit ist die gebotene Handlung nur Mittel zu einem bestimmten Zweck. Die Handlung wird nicht unab­ hängig vom Zweck, d. h. an sich, begehrt.565 Die Notwendigkeit, mit der der Imperativ die Handlung vorschreibt, ist deshalb nur bedingt, weil sie davon abhängig ist, ob der Zweck tatsächlich begehrt wird oder nicht. Das Begehren des Zwecks ist, weil er nicht a priori, sondern nur a poste­ riori gegeben wird, im Imperativ selbst nicht enthalten. Urteile, die nur unter einer Bedingung gelten, nennt Kant hypothetisch (‚Wenn x, dann

560 KpV V, S. 21. 561 RL VI, S. 211, Hervorhebung B. H. 562 Zu diesen entscheidenden Aspekten hypothetischer Imperative: Höffe 2012, S. 96. 563 KpV V, S. 20, Hervorhebung B. H. 564 Vgl. KpV V, S. 20: „Die Vernunft […] legt in diese ihre Vorschrift zwar auch Notwendigkeit (denn ohne das wäre sie kein Imperativ), aber diese ist nur subjektiv bedingt, und man kann sie nicht in allen Subjekten in gleichem Grade voraussetzen.“ 565 Vgl. KpV V, S. 59.

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y‘). Objektiv-materiale Prinzipien sind also hypothetische Imperative. Hy­ pothetische Imperative sind für Kant analytisch, weil das Begehren eines bestimmten Zwecks das Wollen der Mittel impliziert.566 „Jene [hypothetische Imperative] stellen die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor. […] Der hypothetische Imperativ sagt also nur, daß die Handlung zu irgend einer möglichen oder wirklichen Absicht [im Sinne von Zweck, B. H.] gut sei.“567 Ob ein Zweck gegeben ist oder nicht, ist abhängig von den zufälligen und empirischen Bedingungen des Subjekts. Kant differenziert dabei entspre­ chend den Kategorien der Modalität zwischen möglichen und wirklichen Zwecken. Der einzige wirkliche Zweck des Menschen ist seine Glückselig­ keit, da er ihn aus Naturnotwendigkeit heraus verfolgt. Er ist jedoch sub­ jektiv-empirisch und deswegen materiell568: „Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an“569. c) Selbstbestimmung: Dass der Zweck der von der Vernunft gebotenen Handlung bei hypothetischen Imperativen nicht in der Handlung selbst liegt, hat auch Implikationen für die Selbstbestimmtheit der Handlung. Wie wir im Rahmen der Erörterung der möglichen Vorstellungsarten, die das Begehrungsvermögen bestimmen können, gesehen haben, können sinnliche Vorstellungen nicht selbstbestimmt sein, weil sie immer nur Wirkungen sind. Die Ursache für die Bestimmung der Willkür des Sub­ jekts zur Handlung kann daher nicht in der Sinnlichkeit selbst liegen. Diesen Zusammenhang konnten wir weiter spezifizieren, in dem der Be­ stimmungsgrund zur Handlung in der sinnlichen Vorstellung der Lust angegeben werden konnte. Lust ist eine „von dem Dasein eines Gegen­ standes“570 abhängige Vorstellung. Das Dasein eines Gegenstandes ist nur qua Erscheinung erkennbar. Erscheinungen sind, wie wir bereits wissen,

566 Zu einer genauen Rekonstruktion der Argumentation: Schönecker/Wood 2002, S. 116ff. Sie bestätigen, dass hypothetische Urteile analytisch sind, allerdings weisen sie darauf hin, dass bereits die Setzung eines instrumentellen Zwecks ein normativer Akt ist: Ein hypothetischer Imperativ gibt dem Wollen eine Rich­ tung, indem er dazu nötigt, den selbst gewählten Zweck rational zu verfolgen. 567 GMS IV, S. 414, Hervorhebung B. H. 568 Vgl. GMS IV, S. 415f. 569 KpV V, S. 25. 570 KpV V, S. 22.

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wiederum durch Naturgesetze bestimmt. Die materiale Bestimmung des Willens durch Lust kann folglich nicht autonom erfolgen, weil der Wille in „Abhängigkeit vom Naturgesetz“571 steht. Dabei spielt es nun keine Rolle, ob der Ursprung des Gegenstandes der Vorstellung (Zweck) in der Sinnlichkeit oder im Verstand i.w.S. liegt.572 Entscheidend ist die instrumentell-regulative Funktion, die die Imperati­ ve in diesem Zusammenhang spielen.573 Der Verstand gibt hier nämlich nur „die praktische Regel“ an, „wie dem Bedürfnisse der Neigungen abge­ holfen“574 werden bzw. wie eine vernünftige „Befolgung pathologischer Gesetze“575 aussehen kann. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nicht vollkommen heteronom, weil er nicht unmittelbar durch Sinnlichkeit geleitet wird. Der Mensch kann durch den Verstand eine reflexive und suspendierende Distanz zu seinen Begierden gewinnen.576 Auf der Ebene des Verstandesdenkens bedeutet dies allerdings nur, dem unmittelbaren sinnlichen Reiz nicht nachzugeben, um eine regelgeleitete und damit zweck-mittel-rationale Verwirklichung des (gegebenen oder eines anderen möglichen) sinnlichen Zwecks nachzugehen.577 Die in hypothetischen Im­ perativen gedachte Freiheit ist daher nur relativ.578 2) Kategorische Imperative: Die Form eines Begriffs ist dessen Allgemein­ heit. Die Allgemeinheit eines Begriffs besteht in der Möglichkeit, weni­ ger abstrakte Vorstellungen zu subsumieren.579 In diesem Sinne enthält ein Prinzip, als Begriff höchster Abstraktion, „mehrere praktische Regeln

571 KpV V, S. 33. 572 KpV V, S. 23. 573 Diese Verknüpfung von hypothetischen Imperativen und relativer Freiheit bzw. Handlungsfreiheit findet sich präzise dargestellt bei Bojanowski 2006, 33f. Hier­ zu auch Bachmann 2013, S. 206. 574 GMS IV, S. 413. 575 KpV V, S. 33. 576 Hiermit wende ich mich gegen die Interpretation der hypothetischen Impera­ tive durch Noller. Noller scheint hier die spezifische Differenz zwischen tieri­ scher und menschlicher Willkür aus dem Blick zu verlieren. Noller 2014a, S. 148: „Das heteronom bestimmte Subjekt steht willentlich in keiner potentiell reflexiven und diese suspendierende Distanz zu seinen Neigungen, sondern folgt diesen unmittelbar.“ 577 Vgl. Bachmann 2013, S. 206, KpV V, S. 61. 578 Vgl. Bojanowski 2006, S. 33f. 579 Engstrom 2018, S. 55f stellt diesen Zusammenhang von Form, Allgemeinheit und Subsumption explizit heraus: „This means that knowledge is an act of self-determination, in which the concept of the object enlarges itself through the universally valid incorporation of another concept into itself.“

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unter sich“.580 Sowohl Maximen als auch praktische Gesetze (im weite­ ren Sinn) haben diese Form der begrifflichen Allgemeinheit.581 Aber ausschließlich moralische Prinzipien haben als praktische Gesetze (im en­ geren Sinn) die Form unbedingter Universalität. Die Allgemeinheit eines Prinzips bleibt solange bedingt, wie nicht von jeglicher empirischen Mate­ rie (Zweck) eines Prinzips abstrahiert wird. Deshalb kann ein praktisches Gesetz keine Materie enthalten582: „Nun bleibt von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d. i. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig als die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung.“583 So kann ein Prinzip, dass der geforderten unbedingten Gesetzmäßigkeit entsprechen soll nur die „Notwendigkeit der Maxime [...], diesem Gesetze gemäß zu sein“ und die „Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt“ ent­ halten.584 Hieraus ergeben sich analog zum hypothetischen Imperativ ver­ schiedene Konsequenzen hinsichtlich a) der Kategorisierung des Impera­ tivs als Gesetz (formaler Bestimmungsgrund), b) des Verhältnisses von Mittel und Zweck (materialer Bestimmungsgrund) und c) der Selbstbestimmtheit des Willens. a) Gesetz: Der kategorische Imperativ ist ein praktisch unbedingtes Ge­ setz. Ein solches Gesetz ist entsprechend der Absonderung jeder Materie ein Gesetz a priori – und zwar im Gegensatz zum hypothetischen Imperativ ein synthetischer Satz a priori: „Dieses ist also ein praktischer Satz, der das Wollen einer Handlung […] mit dem Begriffe des Willens als eines vernünftigen Wesens un­ mittelbar, als etwas, das in ihm nicht enthalten ist, verknüpft.“585 Der kategorische Imperativ lässt sich nicht aus einer vorher gegebenen Ma­ terie ableiten. Er ist deswegen synthetisch, weil er eine Verknüpfung zwi­

580 KpV V, S. 19. 581 Die evaluative Funktion des Willens setzt diese begriffliche Form der Allge­ meinheit voraus. Deshalb können auch keine Bedürfnisse oder Interessen dem Test des kategorischen Imperativs unterworfen werden: Klemme 2017, S. 112. 582 Das heißt jedoch nicht, dass ein solches Gesetz der Willkür kein Objekt geben kann. Das Objekt ist jedoch Wirkung des Gesetzes der praktischen Vernunft auf die Willkür und fungiert nicht als Ursache. Hierzu KpV V, S. 58: „Die alleinigen Objekte einer praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen.“ 583 KpV V, S. 27. 584 GMS IV, 420f. 585 GMS IV, S. 420.

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schen dem Willen eines unvollkommenen Wesens und dem moralischen Gesetz herstellt.586 Damit ist vorausgesetzt, dass reine Vernunft praktisch werden kann. Kant bringt dieses Gesetz auf folgende berühmte Universali­ sierungsformel (UF): „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“587 Der kategorische Imperativ schreibt also unbedingt, d. h. für jedes ver­ nünftige Wesen, vor, notwendig so und nicht anders zu handeln. Nur er allein bringt aufgrund seiner allgemeinen Notwendigkeit eine unbedingte Pflicht hervor. Die konkrete Handlungsaufforderung besteht in der bereits explizierten evaluativen Funktion des Willens, die eigenen Maximen der Willkür auf die Gesetzmäßigkeit zu prüfen: Kann eine gegebene Maxime als allgemeines Gesetz fungieren und somit für alle vernünftigen Wesen als gültig anerkannt werden? Die Prüfung der Universalisierbarkeit bezieht sich dabei allein auf die Vermeidung von Widersprüchen im Denken oder im Wollen.588 Schließlich kann auf der Ebene der Denkmöglichkeit, auf der wir uns immer noch befinden, nur das logische Kriterium der Wider­ spruchsfreiheit zur Anwendung gebracht werden. Der Beweis der realen Möglichkeit des kategorischen Imperativs steht noch aus. b) Mittel und Zweck: Es liegt schon in der Definition des Begehrungsver­ mögens, dass das Wollen und die damit verbundene Handlung immer objekt- und somit zweckbezogen sein muss. Wenn es einen kategorischen Imperativ gibt, der eine Handlung gebietet, so muss es einen Zweck (als materiell-objektiven Bestimmungsgrund) der Handlung geben. Dieser Zweck muss durch den Imperativ selbst geboten sein. Daher kann die Abs­ traktion der Materie im kategorischen Imperativ nicht bedeuten, von jegli­ chem Zweck überhaupt abzusehen.589 Vielmehr ist eine Abstraktion von α) externen, β) „zu bewirkenden“590 und γ) subjektiven Zwecken gemeint.591 α) Erstens impliziert die Rede von der Abstraktion jedes externen Zwecks die Aufhebung der für die hypothetischen Imperative charakteris­ tische Zweck-Mittel-Trennung: Bei einem hypothetischen Imperativ wird nicht die gebotene Handlung an sich gewollt, sondern der mit der Hand­ 586 587 588 589 590 591

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Vgl. Schönecker/Wood 2002, S. 109. GMS IV, S. 421. Vgl. Schönecker/Wood 2002, S. 130. Korsgaard 1996, S. 107ff. GMS IV, S. 437. Diese Tatsache macht die allzu holzschnittartige Charakterisierung als deontolo­ gische Ethik durchaus fragwürdig: Schönecker/Wood 2002, S. 142.

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lung bewirkte Zweck. Im Gegensatz dazu steht der kategorische Imperativ: Der Zweck darf also nicht jenseits der gebotenen Handlung liegen, son­ dern er muss in der Handlung als Zweck an sich selbst enthalten sein. β) Zweitens bedeutet die Abkehr von einem zu bewirkenden Zweck, dass die Materie des Zwecks nicht erst hervorgebracht werden muss, son­ dern der Zweck bereits vor und in der Handlung besteht.592 Dies lässt sich so verstehen, dass Kant dadurch nach der Bedingung (dem Grund) fragt, unter der der kategorische Imperativ überhaupt möglich ist: „Gesetzt […], es gäbe etwas, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs […] liegen.“593 γ) Schließlich darf der Zweck des kategorischen Imperativs nicht subjektiv sein, sondern er muss der Gesetzesform entsprechend Objektivität haben. Die Objektivität eines Prinzips liegt, wie wir wissen, für Kant in der mögli­ chen Anerkennung aller. Die Objektivität der Materie des kategorischen Imperativs ergibt sich daraus, dass „sich notwendig der Mensch“ diese als Zweck an sich selbst vorstellt, ebenso wie „auch jedes andere vernünftige Wesen“ dies tut.594 Zusammenfassend und nun positiv formuliert ist also ein α) immanenter, β) gegebener und γ) objektiver Zweck gesucht. Allerdings ist zu fragen, welchen Zweck Kant in Anbetracht dieser Aspekte vor Au­ gen hat. α) Zuerst kann man festhalten, dass dieser aufgrund seiner Immanenz nur im Subjekt selbst zu finden sein kann. Ein Wesen, das Zweck an sich ist, nennt Kant Person. Da eine Person Zweck an sich ist, darf sie nicht ausschließlich als Mittel benutzt werden595: „Nun sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichte­ ten Handlungen, jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“596

592 593 594 595 596

Gegenteilig äußerst sich Porcheddu 2016, 34f. GMS IV, S. 428. GMS IV, S. 429. Diesem bloß oder ausschließlich werden wir uns gleich noch zuwenden. GMS IV, S. 428.

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Die Tatsache, dass das Subjekt als Zweck an sich von allen berücksichtigt werden muss, drückt Kant in der Zweck-an-sich-Formel (ZF) des kategori­ schen Imperativs aus: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“597 β) Des Weiteren ist allerdings zu fragen, was im Menschen gegeben sein muss, um ihn zum Zweck an sich zu machen: Kant bedient sich zwar in diesem Kontext des Begriffs des ‚Menschen‘ und der ‚Menschheit‘, aber hiermit ist natürlich nicht der Mensch als Erscheinung und die Gesamt­ heit dieser Wesen als Gattung gemeint. Etwas empirisch Zufälliges kann nicht der gesuchte Grund eines Gesetzes sein. Vielmehr zielt Kant auf „die vernünftige Natur“598 und den damit implizierten noumenalen Aspekt des Menschen. Folglich ist das, was den Menschen zum Zweck an sich macht – oder anders ausgedrückt ihm Würde verleiht – seine Vernunftfä­ higkeit.599 Der „Grund eines möglichen kategorischen Imperativs“ liegt also in der Vernunft selbst.600 γ) Inwiefern ist die Vernunft aber ein objektives Prinzip? Oder in ande­ ren Worten: Warum wird die Vernunft von jedermann als Zweck an sich für gültig anerkannt? Die Antwort ist überraschend einfach: Weil die Vernunft dasjenige Vermögen in rationalen Wesen ist, das überhaupt Gül­

597 GMS IV, S. 429, Hervorhebung getilgt. 598 GMS IV, S. 429. 599 Da Kant bspw. in RGV VI, S. 26 zwischen Menschheit (instrumentelle Ver­ nunft) und Persönlichkeit (reine moralische Vernunft) differenziert, scheint hier nicht ganz klar zu sein, ob bereits die instrumentelle Zwecksetzung als solche schützenswert ist. Eine Interpretation wird weiter dadurch erschwert, dass Kant beide Begriff, wie in TL VI, S. 462, auch gleichzusetzen scheint. 600 GMS IV, S. 428.

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tigkeit verleihen kann,601 wobei Gültigkeit wiederum in der Allgemeinheit und Notwendigkeit eines Gesetzes besteht602: „Denn es hat nichts einen Wert, als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben“.603 Die Zweck-an-sich-Formel expliziert daher die Notwendigkeit der reinen Vernunft, praktisch zu sein, d. h. dem Willen ein Gesetz zu geben.604 Damit wird die Selbstbezüglichkeit des Subjekts, die wir eingangs erwähnt hatten, expliziert: Der Wille will sich selbst, insofern er durch die prakti­ sche Vernunft bestimmt und daher mit ihr identisch ist. Die Vernunft trachtet also danach sich qua Willen in der Welt zu verwirklichen und sich selbst als Vernunft im Subjekt zu erhalten.605 Wenn ebenso die Form wie der Zweck des Wollens die eines Gesetzes sein sollen, dann wird auch die Möglichkeit, sich beliebige Zwecke zu set­ zen, dem Gesetz als obersten Zweck untergeordnet606: Das bedeutet, dass der Zweck an sich als selbstständiger und nicht zu bewirkender Zweck eine negative Funktion hat, indem er eine einschränkende Bedingung für jegliche Maxime darstellt.607 Die einschränkende Bedingung besteht nun

601 Diesen Zusammenhang stellt Korsgaard 1996, S. 122 pointiert dar. Ich habe ihr Argument nur leicht abgewandelt, da ich mehr den Fokus auf die Objektivität und weniger auf die Güte (das moralische Gutsein) des Prinzips lege, wobei sachlich damit das Gleiche gemeint ist: „Kant's answer […] is that what makes the object of your rational choice good is that it is the object of a rational choice. That is, since we still do make choices and have the attitude that what we choose is good in spite of our incapacity to find the unconditioned condi­ tion of the object's goodness in this (empirical) regress upon the conditions, it must be that we are supposing that rational choice itself makes its object good. His idea is that rational choice has what I will call a valueconferring status.“ 602 Diese Antwort mag unbefriedigend erscheinen, ist aber auf der Ebene der reinen Begriffsexplikation des kategorischen Imperativs, die Kant mit den ver­ schiedenen Formeln beabsichtigt, ausreichend. Kant kennzeichnet die Notwen­ digkeit, mit der jedes vernünftige Wesen sein Dasein vorstellt, daher auch als Postulat. 603 GMS IV, S. 436. 604 So kann Kant auch behaupten, dass die Universalisierungsformel (UF) und die Zweck-an-sich-Formel (ZF) des kategorischen Imperativs einerlei sind. 605 Zum Gedanken der Selbstbezüglichkeit: Klemme 2015, S. 97f, 107f, Bachmann 2013, S. 213. 606 Vgl. Bachmann 2013, S. 213. 607 Vgl. GMS IV, S. 436, 437.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

nicht darin, dass man andere überhaupt nicht als Mittel gebrauchen darf. Schließlich werden in jeder Form des funktionalen Zusammenwirkens von Menschen andere in ihren Handlungen als Mittel zu eigenen Zwe­ cken gebraucht. Andernfalls wäre jede Art instrumenteller Kooperation ausgeschlossen. Die einschränkende Bedingung besteht darin, den Men­ schen nie ausschließlich als Mittel zu betrachten, sondern immer auch als Zweck.608 Was konkret damit gemeint ist, einen Menschen als Zweck zu behandeln, erschließt sich, wenn wir den nächsten Aspekt betrachten. c) Selbstbestimmung: Ist der vom kategorischen Imperativ bestimmte Wille nun der gesuchte autonome Wille? Diese Frage lässt sich beantwor­ ten, wenn man die beiden bisher erläuterten Momente des kategorischen Imperativs aufeinander bezieht und die sich daraus ergebende Verpflich­ tung beleuchtet609: Formal ist die Nötigung des Willens durch die Ge­ setzesform, die Allgemeinheit und Notwendigkeit ausdrückt, gegeben. Inhaltlich geschieht dies dadurch, dass die Vernunft, als Bedingung der Möglichkeit des Imperativs, im Imperativ selbst als Zweck an sich einge­ schrieben ist. Dieser gegenseitige Verweis des Gesetzes auf die Vernunft und der Vernunft auf das Gesetz eliminiert jeden externen Einflussfaktor auf das kausale Vermögen – den Willen. Damit ist der argumentative An­ knüpfungspunkt zur transzendentalen Freiheit gegeben610: Die externen Einflussfaktoren lassen sich im obigen Sinne als empirische Materie und der damit einhergehenden „Naturnotwendigkeit“ verstehen.611 Die Unab­ hängigkeit von der Naturnotwendigkeit ist Freiheit im transzendentalen Sinn. Diese Unabhängigkeit gewinnt ihre positive Bedeutung, wenn man sie in Bezug zum Willen setzt, weil der Wille ein kausales Vermögen ist und sich Kausalität für Kant immer nach Gesetzen vollzieht. So kann sich das Subjekt qua seines vernünftigen Willens vollkommen autonom, d. h. aus sich selbst heraus, durch ein Gesetz zum Handeln bestimmen.612 Sich unabhängig von den Gesetzen der Natur durch das Freiheitsgesetz zum

608 Gerlach 2011, S. 106, TL VI, S. 462: „Die Menschheit selbst ist eine Würde; denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) blos als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit)“. 609 GMS IV, S. 431. Kant definiert in GMS IV, S. 439 den Begriff der Verpflichtung als die „Abhängigkeit eines nicht schlechterdings guten Willens vom Prinzip der Autonomie (die moralische Nötigung)“. 610 Vgl. Schönecker/Wood 2002, S. 180. 611 GMS IV, S. 446. 612 Vgl. Wood 1999, S. 158: „the value of rational will might serve as the authority for an objective universal law commanding categorically.“

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Handeln zu bestimmen, bedeutet, unbedingte Ursache einer Handlung zu sein. Freiheit und moralisches Gesetz kommen daher vermittelt durch den Begriff der Autonomie überein: „[E]in freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen [sind] einerlei.“613 Oder in der Formulierung der KpV: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselweise auf einander zurück.“614 Dies geschieht dadurch, dass die Willkür nach einer Maxime handelt, die mit dem Willen übereinstimmt, der nichts anderes als praktische Ver­ nunft ist.615 Die Autonomieformel des kategorischen Imperativs (AF) fasst diesen Gedanken zusammen: „Alle Maximen werden nach diesem Prinzip [der Idee des Willens je­ des vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens, B. H.] verworfen, die mit der eigenen allgemeinen Gesetzgebung des Willens nicht zusammen bestehen können.“ Damit wird ausgedrückt, dass der Autor (die praktische Vernunft) und der Adressat des Prinzips (die vernunftbestimmte Willkür) im Falle des kategorischen Imperativs identisch sind: „Der Wille wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, son­ dern so unterworfen, daß er auch als selbstgesetzgebend und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber be­ trachten kann) unterworfen angesehen werden muß.“616 Die entscheidende Pointe der Autonomieformel ergibt sich, wenn man sich die Frage stellt, warum der kategorische Imperativ verpflichtend ist. So wurde zwar jede Form von externer Nötigung durch materielle Bestim­ mungsgründe (Interessen) bereits in der UF und der ZF ausgeschlossen, eine positive Definition der Pflicht stand allerdings noch aus. Die Ant­ wort, die Kant darauf gibt, könnte man als zweite kopernikanische Wende bezeichnen: Es ist nur dasjenige moralisch verpflichtend, was die Vernunft gebietet. Die Vernunft gebietet als ein unbedingtes Gesetz. Sie ist dasjeni­ ge, was den Menschen als vernünftiges Wesen ausmacht, das eigentliche Selbst. Die Nötigung der Willkür durch den kategorischen Imperativ liegt

613 GMS IV, S. 447. 614 KpV V, S. 29. Diese und ähnliche Formulierungen Kants sind als Analytizitäts­ these (Schönecker 1999, S. 153) oder Reziprozitätsthese (Allison 2011, S. 294) in die Sekundärliteratur eingegangen. Sie stellt wie Timmermann 2010, S. 75f deutlich macht, eine Kontinuität zwischen GMS und KpV dar. 615 Vgl. Klemme 2017, S. 130f. 616 GMS IV, S. 431.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

also darin, dass sie selbst auferlegt ist. Es handelt sich aufgrund der Form um ein Gesetz und damit um Selbstgesetzgebung (Autonomie). Durch Au­ tonomie handelt man aus reiner vernünftiger Selbstverpflichtung. Hiermit deckt Kant die Letztbegründung des kategorischen Imperativs auf: „Auto­ nomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünf­ tigen Natur.“617 Nach was wir also im selbstbezogenen Wollen streben und was wir erhalten wollen, ist, uns in der vernünftigen Bestimmung des Willens als Urheber unserer Handlungen verstehen zu können.618 Da die von der Vernunft bestimmte Willkür keine partikulare, sondern eine allgemeine Willkür darstellt, kann jedes vernünftige Wesen sich selbst und seine Handlungen „aus diesem Gesichtspunkte“ beurteilen.619 Damit lässt sich aus der AF des kategorischen Imperativs eine Erweiterung ablei­ ten: Es wird nicht nur das „Verhältnis eines Willens zu sich selbst, sofern er sich bloß durch Vernunft bestimmt“620, sondern das „Verhältnis vernünf­ tiger Wesen zueinander“621 beleuchtet.622 Die intersubjektive Dimension der Moralität und des kategorischen Imperativs versucht Kant durch das Konzept des Reichs der Zwecke zu erfassen. Ein Reich ist dadurch charakte­ risiert, dass es eine „systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze“ konstituiert.623 Die Übertragung dieses (politischen) Konzepts auf die Moralität ermöglicht es Kant, die vor­ angegangenen Formeln des kategorischen Imperativs zusammenzufügen und in einem Ideal zu verdichten.624 In einer Welt, in der alle vernünf­ tigen Wesen dem Gesetz folgen würden, könnte ein Reich der Zwecke „wirklich zu Stande kommen“.625 Das gemeinschaftliche Gesetz der Moral ist (für unvollkommen vernünftige Wesen) der kategorische Imperativ, der notwendig und allgemein gilt. Der kategorische Imperativ benennt in seiner ZF die gesetzgebende Vernunft als Selbstzweck. Wird die einschrän­ kende Bedingung der subjektiven Zwecksetzung gewahrt, so ergibt sich

617 618 619 620 621 622 623 624

GMS IV, S. 436. Vgl. Klemme 2015, S. 108. GMS IV, S. 433. GMS IV, S. 427, Hervorhebung B. H. GMS IV, S. 434, Hervorhebung B. H. Vgl. Klemme 2017, S. 137. GMS IV, S. 433. Vgl. Paton 1962, S. 225. Der Begriff des Ideals ist von dem der Idee abzugren­ zen. Eine Idee ist wirklich aber nicht erkennbar, ein Ideal ist (noch) nicht wirklich (Schönecker/Wood 2002, S. 158). 625 GMS IV, S. 438.

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2. Moral: Praktische Freiheit

ein harmonisches und reziprokes System der Zwecke.626 Es ergibt sich, weil „der Wille aller“ notwendig und allgemein auf „ein und dasselbe Ob­ jekt“ ausgerichtet ist.627 Unvollkommen vernünftige Wesen sind in diesem Reich der Zwecke Glieder. Der Begriff des Gliedes verweist auf die AF: Ein Glied im Reich der Zwecke ist „zwar allgemein gesetzgebend, aber auch diesen Gesetzen selbst unterworfen“.628 Da alle Glieder des Reichs der Zwecke durch dasselbe Gesetz verbunden und gebunden sind, sich jedes Glied qua seiner Autonomie dasselbe Gesetz selbst auferlegt, so kann sich jedes Glied als Mitgesetzgeber des allgemein verpflichtenden Gesetzes verstehen. Die subjektive Zwecksetzung betrifft also nicht nur das individuelle Subjekt, sondern „eine mögliche Pluralität von vernünfti­ gen Wesen.“629 Es betrifft eine mögliche Pluralität, weil einerseits durch meine Zwecksetzung die subjektiven Zwecke anderer vernünftiger Wesen tangiert sind; weil andererseits ihre Würde betroffen sein kann, falls ich sie ausschließlich als Mittel gebrauche. Folglich können wir abschließend konkretisieren, was es heißt den Men­ schen als Zweck-an-sich zu behandeln: Indem wir andere und uns selbst als Zweck-an-sich behandeln, wahren wir ihre/unsere Autonomie, d. h. wir können jemanden nur zu etwas verpflichten, dem man selbst zustimmen könnte. Allerdings ist hier einer Fehlinterpretation vorzubeugen: Dieses ‚könnte‘ soll betonen, dass wir dafür nicht auf die tatsächliche Zustim­ mung angewiesen sind. Vielmehr ist damit gemeint, dass eine Person nie einer Behandlung zustimmen kann, die ihren Status als rationales Wesen und moralische Person untergräbt.630

626 In diesem Sinne muss man auch die scheinbar widersprüchliche Stelle GMS IV, S. 433 lesen: Die Abstraktion von jeglichem Privatzweck und jeder individu­ ellen Zwecksetzung ist dann kohärent, wenn nur Zwecke gesetzt werden, die mit der ZF übereinstimmen. Hierzu auch Wood 1999, S. 169: „FRE rules out ends that cannot be shared because they essentially involve thwarting the ends of other rational beings in situations where it is not the case that those whose ends are thwarted cannot withhold approval from the attempt to thwart them.“ 627 KpV V, S. 28. Kant spricht in dieser Textstelle eigentlich von dem umgekehrten Fall, wenn die subjektive und zufällige Neigung zum Bestimmungsgrund des Willens gemacht wird. Im Umkehrschluss kann man jedoch den positiven Fall rekonstruieren. 628 GMS IV, S. 433. 629 Klemme 2017, S. 136. 630 Vgl. AA XXVII, S. 1319. Hierzu auch Willaschek 2009, S. 60: „What this formula requires is not that others in fact do consent to the way we treat them, but that they could possibly consent. It is not entirely clear how this qualification is to be cashed out, but what Kant seems to have in mind is that people cannot

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

* Wir wollen ausgehend von den vorangegangenen Überlegungen unsere Ergebnisse kurz zusammenfassen: Das menschliche Begehrungsvermögen ist beim Menschen begrifflich strukturiert. Begriffe können als Prinzipien deshalb durch den Willen kausal wirksam werden, weil sie Gesetze ent­ halten. Weil der Mensch ein unvollkommen-vernünftiges Wesen ist und er deshalb diesen Gesetzen nicht notwendig entspricht, üben Gesetze als Imperative eine Nötigung des Willens durch Pflicht aus. Diese Gesetze sind entweder bedingter oder unbedingter Natur und damit hypothetische oder kategorische Imperative. Sie bestimmen den Willen stets in dreierlei Hinsicht: objektiv-formal, objektiv-material und subjektiv. Die Art der Be­ stimmung differiert jedoch entsprechend ihrem Status. Bei bedingten Ge­ setzen ist der subjektive Bestimmungsgrund im Gefühl der Lust und Un­ lust der Ausgangspunkt für die materiale Bestimmung des Willens durch einen Zweck, der dann zu einer relativ auf den Zweck bezogenen Hand­ lung als formalen Bestimmungsgrund nötigt. Unbedingte Gesetze folgen der umgekehrten Logik: Der formale Bestimmungsgrund der Handlung ist der Ausgangspunkt, welcher zu einer allgemeinen und notwendigen Handlung nötigt. Die Verallgemeinerbarkeit der Handlung schränkt die in der Handlung verfolgbaren Zwecke dementsprechend ein. Der subjektive Bestimmungsgrund im Gefühl der Achtung ist die Wirkung und nicht die Ursache der Bestimmung des Willens durch das unbedingte Gesetz.

2.3 Freiheit als Autonomie und praktisches Selbstbewusstsein Wir haben uns der Frage gewidmet, wie ein unbedingt objektives Prinzip des Willens beschaffen sein muss. Allerdings ist mit der Klärung dieser Fra­ ge, noch nicht gesichert, dass die reine praktische Vernunft die Willkür tat­ sächlich bestimmen kann.631 Kant gibt dem problematischen Zusammen­ hang von praktischer Vernunft und Willkür die entscheidende Wendung, indem er das Faktum der Vernunft einführt. Dieses Faktum soll, soweit ist seine argumentative Funktion unstrittig, 1) einerseits aufzeigen, dass reine

possibly consent to treatment that undermines their standing as rational beings and moral persons.“ 631 Vgl. Reath 2013, S. 35: „To establish that we are such agents [that are subject to the moral law], Kant needs to appeal to some (synthetic) fact about our volitional capacities or practical self-consciousness.“

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2. Moral: Praktische Freiheit

Vernunft praktisch ist, und 2) damit andererseits die reale Möglichkeit der Freiheit beweisen.632 Höchst umstritten ist jedoch, wie das Faktum zu verstehen ist und inwiefern es die intendierte Begründungsleistung erbringen kann. Als pro­ blematisch wird dabei bereits der bloße Begriff des Faktums erachtet.633 Faktum kann einerseits in der uns geläufigen Verwendungsweise eine Tat­ sache ausdrücken. Damit wird auf etwas verwiesen, was wirklich existiert. Folglich würde das Bewusstsein des Sittengesetzes eine Art moralische Erfahrung ausdrücken, „die die Vernunft, als etwas ihr Fremdes und Äu­ ßerliches“634 hinnehmen müsste. Andererseits kann man Faktum auch als Tat oder zuschreibbare Handlung lesen.635 Damit wäre das Bewusstsein des Sittengesetzes etwas, was die Vernunft selbst hervorbringt. Beide Ver­ wendungsweisen finden sich nicht nur bei Kant selbst, sondern lassen sich auch im zeitgeschichtlichen Kontext philologisch nachweisen.636 Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, sollte man eine Interpretationswei­ se wählen, die beide Bedeutungsaspekte umfasst. Das gelingt am besten dadurch, dass man sie in einen sachlichen Zusammenhang bringt: So kann man das Bewusstsein des moralischen Gesetzes als Tatsache verstehen, die durch die Tat der Vernunft hervorgebracht ist637 – also beispielswei­ se analog zu der umgangssprachlichen Verwendungsweise des Begriffs ‚Handlung‘, mit dem sowohl das Resultat als auch die Tätigkeit gemeint sein kann. Um diesen Interpretationsansatz zu stützen, muss allerdings aufgezeigt werden, inwiefern er sich in die Kantische Systematik einfügen kann. Dies geschieht im Folgenden dadurch, dass die argumentativen Funktionen des Faktums auf ihre Begründung hin geprüft werden. 1) Reine Vernunft ist praktisch: Zu zeigen, dass reine Vernunft praktisch ist, bedeutet, die objektive Realität des moralischen Gesetzes zu bewei­ sen.638 Dieser Beweis scheint analog zum Vorgehen in der KrV nur im Rahmen einer Deduktion erbracht werden zu können. Eine Deduktion des kategorischen Imperativs würde sich aus a) „der Einsicht der Möglich­

632 KpV V, S. 47, 104. 633 Für einen guten Überblick über die aktuelle Forschungslage zum Begriff des Faktums: Kleingeld 2010. 634 Willaschek 1991, S. 455. 635 Ebd., S. 456. 636 Vgl. Kleingeld 2010, S. 62f. 637 Vgl. Ebd., 65, Höffe 2012, S. 154. 638 Vgl. Schönecker 2013, S. 94.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

keit“ und b) einer „Rechtfertigung seiner objektiven und allgemeinen Gül­ tigkeit“ zusammensetzen.639 a) Allerdings hat der kategorische Imperativ den Status eines syntheti­ schen Satzes a priori. Als solcher unterliegt er in Bezug auf die Einsicht in seine Möglichkeit den in der KrV festgehaltenen Restriktionen: Ein synthe­ tischer Satz a priori hat nur dann Gültigkeit, wenn er einer möglichen Erfahrung zugänglich ist. Der kategorische Imperativ fällt indes erklärter­ maßen aus dem Bereich der möglichen Erfahrung heraus. Dies ergibt sich einerseits aus seiner systematischen Verortung: Freiheitsgesetze sind Gesetze der Vernunft und deswegen unterliegen sie nicht der Bedingung der Zeit. Andererseits wurde im Rahmen der praktischen Philosophie deutlich, dass der kategorische Imperativ zwar eine Pflicht zur Handlung und der Aufbietung aller Kräfte verlangt, dieses Gebot zu verwirklichen, aber der Maßstab der Moralität einer Handlung in der Gesinnung und nicht in dem Erfolg der Handlung liegt.640 Die Gesinnung, verstanden als intelligibler Charakter, entzieht sich jedoch im Gegensatz zur Hand­ lung der Anschauung – und zwar nicht nur für andere, sondern auch dem Subjekt selbst.641 Schließlich wird der praktischen im Gegensatz zur theoretischen Vernunft nicht ein Gegenstand durch die Sinne gegeben, sondern die praktische Vernunft soll durch den kategorischen Imperativ selbst „Grund von der Existenz der Gegenstände“642 sein. Eine Einsicht darin, wie Vernunft kausal wirksam sein kann, sei aber nicht möglich, weil eine Erkenntnis der Möglichkeit der menschlichen Grundvermögen und -kräfte nicht möglich sei.643 Daher sei die „objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch alle Anstrengungen der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft“ zu beweisen.644 Hierbei sind vor allem zwei Aspekte bemerkenswert: Erstens scheitert zwar die Deduktion, weil bereits eines ihrer Elemente scheitert, das bedeutet aber gerade nicht, dass

639 KpV V, S. 46. 640 GMS IV, S. 393ff. 641 Vgl. KrV, B 579: „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verbor­ gen.“ 642 KpV V, S. 46. 643 Wir haben selbst in der theoretischen Philosophie keine direkte Erkenntnis der kognitiven Vermögen, sondern können nur ausgehend von der Erfahrung auf sie schließen. Diese Option ist jedoch für einen reinen Willen als Vermögen a priori versperrt: KpV V, S. 47. 644 KpV V, S. 47, Hervorhebung B. H.

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2. Moral: Praktische Freiheit

damit auch das andere Element der Rechtfertigung der objektiven und allge­ meinen Gültigkeit des kategorischen Imperativs schon erledigt wäre.645 b) Vielmehr muss man zweitens bemerken, dass Kant zwar alle Ver­ suche der spekulativen und empirischen Vernunft, dies zu leisten, aus­ schließt, aber eine spezifische Rechtfertigung durch die reine praktische Vernunft bewusst offenlässt! So konstatiert er, dass „die objektive Realität des moralischen Gesetzes“ trotz des Scheiterns einer Deduktion „dennoch für sich selbst fest[steht].“646 Die Rechtfertigung der realen Möglichkeit des kategorischen Imperativs muss also durch die Eigenart der reinen praktischen Vernunft zu leisten sein. Diese Eigenart besteht darin, dass die praktische Vernunft ihren genuinen Charakter dadurch erhält, dass sie ein Verhältnis zwischen den von ihr hervorgebrachten Vorstellungen (Gesetzen) und dem Subjekt (Willen) herstellt. Es geht um ein Selbstver­ hältnis des Subjekts und nicht um das Verhältnis des Subjekts zu einem ihm externen Gegenstand647: „Außer dem Verhältnisse aber, darin der Verstand zu Gegenständen (im theoretischen Erkenntnis) steht, hat er [der Verstand (in der prak­ tischen Erkenntnis), B. H.] auch eines zum Begehrungsvermögen, das darum der Wille heißt, und der reine Wille, so fern der reine Verstand (der in solchem Falle Vernunft heißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzes praktisch ist.“648 „Hievon liegt der Grund nun wiederum darin: daß wir es jetzt mit einem Willen zu tun haben, und die Vernunft nicht im Verhältnis auf Gegenstände, sondern auf diesen Willen und dessen Kausalität zu erwägen haben“.649 Die reine praktische Vernunft braucht daher keine empirisch gegebene Anschauung, um realisiert werden zu können.650 Dieser Umstand hat fun­ damentale Konsequenzen für den Modus der Rechtfertigung: Die Recht­ 645 Hierzu: Schönecker 2013, S. 94f. Eine ähnliche Stoßrichtung hat auch Wolff 2018, S. 149. 646 KpV V, S. 47. 647 Zu dieser Lesart neben Engstrom 2018, S. 59 auch Heidegger, GA 3, S. 272f: „Praktisches Handeln ist die Seinsart der Person. Erfahrung der praktischen Freiheit ist Erfahrung der Person als Person. Personalität ist das eigentliche Wesen des Menschen. Erfahrung der Person ist zugleich die wesentliche Erfah­ rung des Menschen, die Art von Wissen, in der sich der Menschen in seiner eigentlichen Wirklichkeit offenbar wird.“ 648 KpV V, 55, Hervorhebung B. H. 649 KpV V, S. 16, Hervorhebung B. H. 650 Vgl. Noller 2014a, S. 136.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

fertigung der objektiven Realität des kategorischen Imperativs besteht nun folglich darin, zu zeigen, dass die praktische Vernunft „unvermeidlich“651 als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens fungieren muss – der kategorische Imperativ also immer schon gewollt wird bzw. in jedem Wollen angelegt ist.652 Diese Gewissheit des moralischen Gesetzes bzw. diese Relation zwischen Subjekt und Vorstellungen drückt sich im Faktum der Vernunft aus. Grundsätzlich versteht Kant unter dem Faktum der Vernunft das Bewusstsein des moralischen Gesetzes, d. h. des kategorischen Imperativs. Es handelt sich dabei um ein Bewusstsein a priori. Es ist kei­ ne theoretische Erkenntnis des moralischen Gesetzes, weil es weder auf einer „reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist“.653 Vielmehr bezeichnet es eine praktische Erkenntnis in Form eines Bewusstseins, d. h. „eine Vorstellung, daß eine andre Vorstellung in mir ist.“654 Auf das Faktum gewendet, bedeutet dies die Vorstellung, dass die Vorstellung des moralischen Gesetzes in mir vorhanden ist. Das Ich, das in diesem Zusam­ menhang angesprochen wird, ist das Subjekt einer (möglichen) Handlung: nicht das primär denkende, sondern das wollende Subjekt. Das wollende Subjekt erfährt das moralische Gesetz also als Faktum, das ihm bei einer möglichen Handlung bewusst ist. Es ist sowohl vollkommenen als auch sinnlich-vernünftigen Wesen präsent. Ist das wollende Subjekt allerdings ein unvollkommen vernünftiges Wesen, so tritt das moralische Gesetz stets als Imperativ auf: „Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewußt werden, […] indem wir auf die Notwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vor­ schreibt, und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen, dazu uns jene hinweiset, Acht haben.“655 Wenn man den nötigenden Charakter des Imperativs betrachtet, so zeigt sich, dass sich das Faktum dem Subjekt als Tatsache aufdrängt. Was sich 651 KpV V, S. 55. 652 KpV V, S. 15. Eine analoge Strategie verfolgt Kant in GMS IV, S. 448: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind“ Allerdings setzt Kant hier im Gegensatz zur KpV bei der Freiheit an, um das moralische Gesetze zu beweisen. 653 KpV V, S. 31. 654 Log IX, S. 33. Wichtig ist dabei zu betonen, dass Kant davon ausgeht, dass das Bewusstsein einer Vorstellung etwas Graduelles sei, das vom ganz Dunklen bis zum ganz Klaren reiche: Kitcher 2015, S. 281. Daher kann das Moralgesetz durchaus nur implizit vorhanden sein. 655 KpV V, S. 30, Hervorhebung B. H.

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2. Moral: Praktische Freiheit

dem Subjekt aufdrängt, ist inhaltlich betrachtet die in einem synthetischen Satz a priori ausgedrückte Pflicht, auf bestimmte Art und Weise zu han­ deln. Es soll so handeln, dass die Maxime seines Willens „jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“656 Der Inhalt des Moralgesetzes spezifiziert dann aber zugleich die Bedin­ gung des Auftretens dieses Bewusstseins.657 Das Bewusstsein ist zwar a priori, aber nicht – im Gegensatz zum moralischen Gesetz – unbedingt a priori. Es ist uns nicht als theoretische Tatsache gegeben, sondern an das praktische Wollen gebunden658: Wir werden uns des Moralgesetzes „un­ mittelbar“ bewusst, „so bald wir uns Maximen des Willens entwerfen“.659 Maximen zu entwerfen bedeutet, dass das Subjekt von seiner instinktiven Bedürfnisbefriedigung abstrahiert. Es macht von seinem Verstand i.w.S. Gebrauch, indem es beabsichtigt, sein Handeln an Grundsätzen zu orien­ tieren. Grundsätze enthalten rein begrifflich für Kant eine allgemeine Wil­ lensbestimmung; nicht-allgemeine Sätze können keine Grundsätze sein.660 Wenn das Subjekt die Schwelle der bloßen Instinkthandlung überschreitet und daher sein Handeln an Grundsätzen orientiert, dann erhebt es rein durch die begriffliche Form gleichsam performativ den Anspruch auf All­ gemeingültigkeit und Notwendigkeit.661 „Das vorher genannte Faktum ist unleugbar. Man darf nur das Urteil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen: so wird man jederzeit finden, daß […] ihre Ver­ nunft […] die Maxime des Willens bei einer Handlung jederzeit an den reinen Willen halte, d. i. an sich selbst, indem sie sich als a priori praktisch betrachtet.“662

656 657 658 659

KpV V, S. 30. Vgl. Bojanowski 2006, S. 62f. Heidegger, GA 3, S. 288. KpV V, S. 30, Hervorhebung B. H.: Die Meiner-Ausgabe spricht fälschlicher­ weise von „unterwerfen“. Ein Kommentar zur Formulierung findet sich bei Klemme 2012, S. 213. 660 Das folgt analytisch aus dem Begriff des Grundsatzes, weil praktische Grund­ sätze Sätze sind, „welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten“ (KpV V, S. 19). 661 Klemme 2017, S. 211 spricht in seiner Interpretation der GMS in Anlehnung an Austins Sprechakttheorie von einem „performativen Freiheitsbeweis“. Man konnte in Anbetracht der veränderten Stoßrichtung der Argumentation in der KpV – vom Gesetz zur Freiheit – von einem performativen Beweis des morali­ schen Gesetzes sprechen. Hierzu auch Kronenberg 2016, S. 88, 92f, der seine Interpretation insbesondere an Korsgaard/O'Neill 2010, S. 228 gewinnt. 662 KpV V, S. 32.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Allgemeinheit und Notwendigkeit bedeutet unbedingte Gesetzlichkeit. Wie wir gesehen haben, ist dieser unbedingt-gesetzliche Anspruch nur dann realisierbar, wenn allein die Form des Gesetzes und damit die Ver­ nunft den Willen bestimmt – der Wille also rein und damit moralisch ist.663 Schließlich hat in Abgrenzung zu hypothetischen Imperativen nur der kategorische Imperativ die Form eines unbedingten Gesetzes. Ein rei­ ner Wille wiederum setzt die Möglichkeit voraus, dass Vernunft praktisch ist.664 Daraus folgt, dass Handeln (auch moralindifferentes) sich immer unter dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes, dem Bewusstsein des Sollens vollzieht.665 Kant setzt mit seiner Argumentation also auf der Ebene des Bewusst­ seins und damit aus der Binnenperspektive der wollenden Subjekte an: Hier schreiben sich die Akteure, die über mögliche Maximen ihrer Hand­ lungen nachdenken, (zumindest implizit) selber die Möglichkeit zu, ihr Handeln von der Vernunft bestimmen zu lassen.666 Kant fasst diese ak­ teurszentrierte Binnenperspektive prägnant zusammen: Ein Mensch „ur­ teilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll“.667 Das Sollen in Form der Nötigung durch das moralische Gesetz ist wirklich, sobald man sein Handeln an Grundsätzen orientiert.668 2) reale Möglichkeit der Freiheit: Wie lässt sich aus dem Gegebensein des kategorischen Imperativs im Bewusstsein die reale Möglichkeit der Frei­ heit begründen? Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei, dass Freiheit, verstanden als autonome Vernunft, und das unbedingt praktische Gesetz des kategorischen Imperativs wechselseitig aufeinander verweisen;669 ein Umstand, den wir bereits in der Interpretation der verschiedenen Formeln des kategorischen Imperativs zu plausibilisieren versucht haben. Der neue Gedanke, den Kant allerdings erst in der KpV entwickelt, ist, dass sich Frei­ heit und Gesetz nicht auf ein und derselben Ebene wechselseitig bedingen: 663 Dieser wichtigen Einsicht schenken Bojanowski 2006, S. 62f und Kleingeld 2010 meiner Ansicht nach zu wenig Beachtung. 664 Vgl. KpV V, S. 31: „Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, und gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen.“ 665 Vgl. Graband 2005, S. 46. 666 Zu diesen zentralen Gedanken für das Verständnis des Faktums der Vernunft: Kleingeld 2010, S. 68ff. 667 KpV V, S. 30. 668 Zur These, dass nicht nur die reale Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit des moralischen Gesetzes durch das Faktum der Vernunft gegeben ist: Allais 2019, S. 78. Allerdings sollte man einschränkend hinzufügen, es ist für Kant wirklich gegeben, sobald man bereit ist, sein Handeln an Grundsätzen zu orientieren. 669 KpV V, S. 29.

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2. Moral: Praktische Freiheit

Die Freiheit ist die ratio essendi (Seinsgrund) des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz ist die ratio cognoscendi (Erkenntnisgrund) der Freiheit. Die Freiheit ist also die „Bedingung“670, unter der das moralische Gesetz zur Existenz kommt. Die Unabhängigkeit von der Naturkausalität (negati­ ve Freiheit) und der Autonomie (positive Freiheit) machen das moralische Gesetz überhaupt erst möglich. Aus den bekannten Gründen kann es jedoch keine Erkenntnis der Freiheit geben. Was wir allerdings erkennen können, nicht im Sinne theoretischer, sondern spezifisch praktischer Er­ kenntnis als Bewusstsein, ist das moralische Gesetz. Von dem in seiner Existenz Bedingten wird auf seine Bedingung geschlossen – das moralische Gesetz fungiert nun als Prinzip der Deduktion der Freiheit: „Etwas anderes aber und ganz Widersinnisches tritt an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips, nämlich, daß es [das moralische Prinzip] umgekehrt selbst zum Prinzip der De­ duktion eines unerforschlichen Vermögens dient, […] nämlich das der Freiheit, von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner recht­ fertigenden Gründe bedarf, nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen.“671 Wie kann Kant aber von der Wirklichkeit des moralischen Gesetzes auf die Freiheit schließen? Hier tritt nun der zweite Bedeutungsaspekt des Begriffs ‚Faktum‘ in den Vordergrund: das Faktum als Tat. Wir müssen uns dazu nochmals vergegenwärtigen, was mit dem Faktum der Vernunft ausgesagt ist. Das Faktum der Vernunft ist das Bewusstsein des moralischen Gesetzes. Es drängt sich uns beim Nachdenken über die Prinzipien unseres Han­ delns auf. Mit dem bloßen Bewusstsein des moralischen Gesetzes reflektie­ ren wir allerdings noch nicht über die Bedingungen dieses Bewusstseins. Diese höhere Bewusstseinsebene nennt Kant Selbstbewusstsein.672

670 KpV V, S. 4. 671 KpV V, S. 47. 672 Das Konzept des reinen praktischen Selbstbewusstseins und seinen Zusammen­ hang mit den Kategorien der Freiheit hebt Puls 2013, S. 104ff hervor. Auch Nol­ ler 2014a, S. 138 sieht im Faktum der Vernunft das praktische Selbstbewusstsein begründet. Allerdings soll hier die Differenz zwischen Bewusstsein und Selbst­ bewusstsein geltend gemacht werden. Durch das Faktum als Bewusstsein des Moralgesetzes lässt die Freiheit als Inhalt des Selbstbewusstseins reflexiv einho­ len und ist noch nicht notwendig unmittelbar durch das Faktum gegeben.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Wie wir aus der Auseinandersetzung mit der theoretischen Vernunft wissen, können wir uns eines Gegenstandes bewusst sein, ohne uns unmit­ telbar über die Tätigkeit des Vorstellens des Gegenstandes klar zu sein. Das ‚Ich denke‘ muss allerdings alle meine Vorstellungen begleiten können. Das Selbstbewusstsein zeichnet sich im Vergleich zum Bewusstsein gerade dadurch aus, dass es sich zusätzlich zur Vorstellung des Gegenstandes der Tätigkeit des Vorstellens des Gegenstandes bewusst ist.673 Analog kann man in Bezug auf die praktische Vernunft verfahren: Das Faktum ist das Bewusstsein des moralischen Gesetzes. Es ist also die Vor­ stellung der Vorstellung des moralischen Gesetzes. Reflektiert man die Tätigkeit des Vorstellens selbst, dann kommt man zum Selbstbewusstsein. Es handelt sich hier aber nicht um ein theoretisches, sondern ein prakti­ sches Selbstbewusstsein. Die Tätigkeit, die das Subjekt im Vorstellen des moralischen Gesetzes vollzieht, ist ein praktisches Vorstellen, d. h. ein Wol­ len. Weil das moralische Gesetz nur die Gesetzesform des Wollens, unter Abstraktion von jeglichem Gegenstand und somit jeglicher Sinnlichkeit, zum Objekt hat, ist es ein reines Wollen. Man könnte in Anlehnung an die KrV also wie folgt formulieren: Das reine ‚Ich will‘ muss all mein Begehren begleiten können.674 Das reine Wollen ist, wie im Kontext der Formel des kategorischen Imperativs dargestellt wurde, ein freies und mit­ hin autonomes Wollen. So kann Kant konstatieren, dass das Faktum der Vernunft als Bewusstsein des moralischen Gesetzes „mit dem Bewußtsein der Freiheit des Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm einerlei“ ist.675 Problematisch an dieser Parallelisierung des reinen theoretischen und des reinen praktischen Selbstbewusstseins ist allerdings die unterschiedli­ che Begründungsleistung: In Bezug auf die theoretische Erkenntnis konnte nicht mehr geleistet werden, als die Tätigkeit des Denkens als bloß „logi­ sche Funktion“ zu explizieren. Das Denken ist nichts als „Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen einer bloß möglichen Anschauung“.676 Wir können uns daher der Spontanität und Einheit des Subjektes nur als „logi­

673 Und nicht nur das: Es zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, dass an der Einheit des Gegenstandes und der damit verbundenen synthetischen Tätigkeit es sich der Einheit des Selbstbewusstseins bewusst wird. Dieser Gedanke wird insbesondere im Zusammenhang mit den praktischen Kategorien der Freiheit relevant. Hierzu: Stolzenberg 2008, Puls 2013. 674 Ich habe diese Formel in leichter Abwandlung von Stolzenberg 2008, S. 415 übernommen. 675 KpV V, S. 42. 676 KrV, B 428, Hervorhebung B. H.

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2. Moral: Praktische Freiheit

sches Subjekt“ versichern. Dieser logischen Möglichkeit kommt objektive Realität zu, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung über­ haupt ist. Wir können die reine Spontanität und Einheit des Subjektes als solche (als Ding an sich) aber nicht erkennen. Was wir erkennen können, ist der Vollzug der Tätigkeit des Verstandes an der sinnlich gegebenen Anschauung. Es gibt jedoch keine von der sinnlichen Anschauung unab­ hängige Erkenntnis.677 Die Überlegungen zum reinen praktischen Selbstbewusstsein sollen nun aber die objektive Realität der Freiheit beweisen: „Denn das moralische Gesetz beweiset seine Realität dadurch […], daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität [Freiheit, B. H.] […] positive Bestimmung, nämlich den Begriff einer den Willen unmittel­ bar […] bestimmenden Vernunft [Autonomie, B. H.] hinzufügt, und so der Vernunft […] zum ersten Male objektive, obgleich nur praktische Realität zu geben vermag“.678 Wie im Rahmen der transzendentalen Dialektik deutlich wurde, konnte Freiheit ihre Denkmöglichkeit jedoch nur behaupten, indem sie in die Dinge an sich gesetzt wird. Für den Nachweis der realen Möglichkeit der Freiheit müsste das reine praktische Selbstbewusstsein folglich entweder zu einer besonderen intellektuellen Anschauung fähig sein, um Einsicht in die eigene Autonomie gewinnen zu können oder seine konstitutive Funktion in Bezug auf die Gegenstände des Wollens beweisen, indem es „das Mannigfaltige der Begehrungen, der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft, oder eines reinen Willens a priori“ unterwirft.679

677 Vgl. Klemme 1996, S. 397: „Selbstbewußtsein liegt nur vor, wenn diesem etwas zum Denken gegeben ist“. So auch Puls 2013, S. 110: „Das ‚Ich denke‘, das alle Vorstellungen des Subjekts begleiten muss, ist begründet in einem durch diesen Vollzug erzeugten Bewusstsein seiner Identität.“ Kant glaubt dieses Problem allerdings noch in der A-Version der KrV und der GMS durch das Konzept der „bloßen Apperzeption“ lösen zu können. Hiermit wäre qua einer theoretischen Erkenntnis die Spontanität des Menschen erkennbar und somit die Freiheit des Menschen theoretisch beweisbar. Erst in der KpV kommt es zu einer Ausarbei­ tung einer spezifisch praktischen Erkenntnis der Freiheit: Ludwig 2012. 678 KpV V, S. 48, Hervorhebung B. H. 679 KpV V, S. 65. Dieses „unterwerfen“ erfolgt durch die Kategorien der Freiheit.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Die Subsumtion der Begehrungen unter die Einheit des Bewusstseins lässt sich so verstehen, dass dadurch die Begehrungen zu Maximen geformt werden, die dann auf ihren moralischen Wert hin überprüfbar werden.680 Erstere Option verwirft Kant, weil er auch im Bereich des Praktischen dem Menschen keine intellektuelle Anschauung zugesteht.681 So fragt er auch nicht, ob Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz „in der Tat ver­ schieden sein, und nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz bloß das Selbst­ bewußtsein einer reinen praktischen Vernunft, diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffe der Freiheit sei“.682 Diese Identität von Freiheit und unbedingtem praktischen Gesetz ist für uns nicht unmittelbar spekulativ erkennbar. Wir können aber durch das Faktum der Vernunft als Prinzip der Deduk­ tion „eine Spontaneität (sic!) entdecken, wodurch unsere Wirklichkeit be­ stimmbar“ ist, „ohne dazu der Bedingungen der empirischen Anschauung zu bedürfen“.683 Denn – und das ist die entscheidende Einsicht Kants – im Gegensatz zur theoretischen Erkenntnis ist das Subjekt beim Wollen nicht auf ihm durch die Sinnlichkeit gegebene Data angewiesen. Es bringt den Gegenstand des Wollens selbst hervor, indem das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens fungiert. Folglich ist es für die Gegenstände des Wollens konstitutiv. Dieses Selbst-Hervorbringen be­ deutet unabhängig von der Sinnlichkeit tätig zu werden (negative Freiheit) und selbst durch ein Gesetz ein kausales Vermögen zu bestimmen (positi­ ve Freiheit). Damit wird dem Begriff der Freiheit, „objektive und obgleich nur praktische, dennoch unbezweifelte Realität verschafft“.684 Allerdings geht Kant entgegen dem obigen Zitat aus der KrV in der KpV davon aus, dass zwar die reale Möglichkeit der Freiheit mit dem praktischen Selbstbe­ wusstsein der Freiheit gegeben ist, sie ihre „Wirklichkeit“ jedoch erst „an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen.“685 Ob ein Subjekt dieses Gesetz jedoch als wirklich verpflichtend anerkennt, ist weder ihm selbst noch jemanden anderen zugänglich.686

680 681 682 683 684 685 686

154

Vgl. Puls 2013, S. 104. KpV V, S. 42. KpV V, S. 29. KrV, B 430. KpV V, S. 49, Hervorhebung B. H. KpV V, S. 47, Hervorhebung B. H. Exemplarisch GTP VIII, S. 284: „[K]ein Mensch [könne] sich mit Gewißheit bewußt werden […], seine Pflicht ganz uneigennützig ausgeübt zu haben“. Das bedeutet, der Mensch kann nicht das Bewusstsein erlangen, sich allein durch das moralische Gesetz zur Handlung bestimmt zu haben. Ebenso KrV, B 579:

2. Moral: Praktische Freiheit

2.4 Zwischenfazit Ausgangspunkt der Überlegungen zum praktischen Begriff der Freiheit war das Bestreben Kants, die Wirklichkeit der Freiheit zu begründen. Ge­ wissheit über die Wirklichkeit eines Gegenstandes zu erlangen, bedeutet sich des Bezugs auf einen Gegenstand zu versichern. Sich des Bezugs auf ein Objekt zu versichern, impliziert, dass der Gegenstand in irgendeiner Art gegeben werden kann. Es gibt für Kant zwei Arten des Gegebenseins: 1) als theoretische Erkenntnis oder 2) als praktische Erkenntnis. Während uns im ersten Fall der Gegenstand gegeben werden muss, geben wir uns ihn im zweiten Fall selbst. 1) Die reale Möglichkeit einer unbedingten Ursache konnte durch theo­ retische Erkenntnis nicht bewiesen werden. Theoretische Erkenntnis ist auf die sinnliche Natur ausgerichtet. Die sinnliche Natur ist als Existenz der Dinge unter sinnlich bedingten Gesetzen zu verstehen. Innerhalb dieser kann nur erklärt werden, „was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgendeiner möglichen Erfahrung gegeben werden kann.“687 Das Gegebensein durch die Sinnlichkeit ist stets passiv. Trotz der Spontanität der Verstandesgesetze macht die Notwendigkeit des sinn­ lichen Gegebenseins des Gegenstandes die theoretische Erkenntnis in we­ sentlicher Hinsicht heteronom. Die sich daraus ergebende Begrenzung der theoretischen Erkenntnis auf den Bereich möglicher Erfahrung konstitu­ iert jedoch einen Raum des Denkbaren, innerhalb dessen das Unbedingte und damit auch die Freiheit seine logische Möglichkeit behaupten kann. 2) Die praktische Erkenntnis ist auf eben jenen Bereich des Denkbaren ausgerichtet, jedoch aus einer gänzlich anderen Perspektive als ihr theore­ tisches Pendant. Diese Perspektivveränderung ist der argumentative Aus­ gangspunkt für die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit. Nicht das Verhältnis des Subjekts zu einem externen Gegenstand seiner Erkennt­ nis, sondern das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst im Handeln steht im Fokus.688 Dieses Selbstverhältnis wird als praktisch bezeichnet. Handeln bedeutet für Kant immer Kausalität, wobei er die Fähigkeit kausal wirksam zu sein, auf ein Vermögen – das Begehrungsvermögen – zurückführt. Spezifikum des menschlichen Begehrungsvermögens ist es, ein begriffli­ ches Vermögen zu sein, dass Kant allgemein Wille nennt. Da der Wille

„Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen.“ 687 GMS IV, S. 459, Hervorhebung B. H. 688 Hierin ist eingeschlossen, dass man sich selbst als Erkenntnisobjekt betrachtet.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

begrifflich strukturiert ist, steht er im Verhältnis zum Verstand i.w.S.689 Entscheidend ist für Kant die Überlegung, ob die Vernunft als begriffliches Vermögen, das im Gegensatz zum Verstand vollkommen unabhängig von der Sinnlichkeit ist, durch das reine Denken als Bestimmungsgrund des Willens fungieren kann: d. h. den Willen darauf festzulegen, so und nicht anders zu handeln. Basierend auf den bisherigen Überlegungen können wir also festhalten, dass die Vernunft in der praktischen Erkenntnis nicht einen Gegenstand bestimmt, sondern den Willen durch das bloße Denken eines Gegenstandes. Hiermit stellt Kant einen Konnex zur Verstandeswelt und den gedach­ ten Dingen an sich her. Die Verstandeswelt ist die Totalität derjenigen Vorstellungen von Gegenständen, die die Vernunft rein aus sich selbst her­ vorbringt. In diesem praktischen Sinn bedeutet die intelligible Welt „nur ein Etwas, das da übrig bleibt, wenn ich alles, was zur Sinnenwelt gehört, von den Bestimmungsgründen meines Willens ausgeschlossen habe“.690 Durch den Ausschluss aller sinnlichen Elemente wird jeder externe Grund als Ursache der Kausalität des Willens eliminiert. So übersetzt und konkre­ tisiert Kant den transzendentalen Freiheitsbegriff als (negative) praktische Freiheit: Praktische Freiheit ist nur wahre Freiheit, insofern die Vernunft durch den Willen zum Selbstanfang in der Lage ist.691 Allerdings „bleibt nach Absonderung aller Materie, d. i. Erkenntnis der Objekte, mir nichts als die Form [der Objekte, B. H.] übrig, nämlich das praktische Gesetz der Allgemeingültigkeit der Maximen“.692 Es gibt keinen Gegenstand für einen intelligiblen Begriff, sobald man von jeglicher (sinn­ lichen) Materie abstrahiert. Es bleibt wie Kant betont, nur ‚die Form‘ des Begriffs ‚übrig‘. Die Form eines Begriffs ist seine Allgemeinheit. Diese Form der Allgemeinheit muss nun auf die kausale Struktur des Willens rückbezogen werden. So impliziert Kausalität für Kant immer Gesetzmä­ ßigkeit. Wenn die Vernunft den Willen also tatsächlich bestimmen kann, so muss sie dies über die Vorstellung eines Gesetzes und zwar über die Allgemeinheit eines intelligiblen Gesetzes tun. Den Willen durch die Vor­ stellung eines Gesetzes zu bestimmen, das vollkommen unabhängig von jeglicher Sinnlichkeit ist und somit rein aus der Spontanität des Subjekts selbst erwächst, ist positive Freiheit oder Autonomie. Die Vernunft kann von der Verstandeswelt nicht mehr als die reine Form des Gesetzes (prak­

689 690 691 692

156

Vgl. KdU V, S. 178. GMS IV, S. 462. Vgl. Düsing 2002, S. 217. GMS IV, S. 462.

2. Moral: Praktische Freiheit

tisch) erkennen, welches sie sich (theoretisch) widerspruchsfrei denken kann. Daher stehen der praktische und der theoretische Gebrauch der Vernunft in einem komplementären Verhältnis zueinander. Es ist ein und derselbe Verstand i.w.S. in verschiedenen Erkenntnismodi. Allerdings unterliegt auch die praktische Erkenntnis jener allgemeinen Restriktion der Erkenntnis überhaupt – der Gegenstand der Erkenntnis muss gegeben und im Fall der unbedingten Kausalität a priori gegeben sein. Hier kommt das Faktum der Vernunft ins Spiel: „Dieser Grundsatz [der unbedingten Kausalität, B. H.] aber bedarf keines Suchens und keiner Erfindung; er ist längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt, und ist der Grundsatz der Sittlichkeit.“693 Kants Lösung für das Problem des Gegebenseins liegt also darin, zu zeigen, dass uns in der praktischen Erkenntnis die unbedingte Kausalität nicht als Gegenstand gegeben werden muss, weil wir diejenigen sind, die sich diesen schon immer selbst geben – und zwar allein dadurch, dass wir bereit sind, unser Handeln an Prinzipien zu orientieren. Was es bedarf, ist den Anspruch auf Allgemeinheit und Notwendigkeit, welchen wir performativ in unseren Maximen erheben, reflexiv einzuholen – und zwar, indem wir unsere Maximen an der Allgemeingültigkeit des moralischen Gesetzes evaluieren. Die Reflexion auf die Bedingung der Möglichkeit, die Maxi­ men zu evaluieren, lässt uns die objektive Realität der Freiheit in diesem spezifisch praktischen Sinn erkennen. Diesen Zusammenhang haben wir als praktisches Selbstbewusstsein bezeichnet: Freiheit ist dann „nur die Selbstthatigkeit, deren man sich bewust ist.“694 Wir können also festhalten: Kant versucht das Problem der Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendig­ keit in praktischer Hinsicht durch den Gedanken der Selbstgesetzgebung (Autonomie) zu lösen. Hieraus ergibt sich indes eine fundamentale Problematik für Kants An­ satz: Seine Überlegungen zum Freiheitsbegriff stehen immer im Kontext des Zusammenhangs von Freiheit und Zurechenbarkeit von Handlungen. Wenn wir indes nur dann frei sind, wenn wir unseren Willen durch die Vernunft bestimmen, so wären wir für unser zweckrationales auf Neigun­ gen ausgerichtetes Verhalten nicht verantwortlich – wir wären nicht dafür verantwortlich, weil Neigungen in uns aber nicht durch uns verursacht werden. Aber nicht nur das: Wenn sich uns das moralische Gesetz einfach

693 KpV V, S. 105. 694 AA XVII, S. 462.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

nur aufdrängen würde und die Freiheit dann rein in der Reflexion auf die­ ses Gesetz bestünde, so könnten wir uns nur schwerlich als frei verstehen, weil das Moralgesetz zwar das Produkt der Vernunftspontanität ist, aber nicht der freien Wahl des Subjektes überlassen wäre.695 Kant versucht die­ ses Problem zu unterlaufen, indem er auf die Unterscheidung von Willkür und Wille verweist, die wir eingangs in diesem Kapitel thematisiert haben. So kann der Wille als praktische Vernunft tatsächlich „weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Handlun­ gen, sondern unmittelbar auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen […] geht, daher auch schlechterdings notwendig und selbst keiner Nötigung fähig ist.“696 Nicht der Wille, sondern ausschließlich „die Willkür […] kann frei ge­ nannt werden.“697 Die Willkür ist die Fähigkeit der Wahl oder des „Belie­ ben[s]“698: Die Freiheit der Willkür in der Wahl liegt darin, „daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will); so allein kann eine Triebfeder, welche sie auch sei, mit der absoluten Spontanität der Willkür (der Freiheit) zusammen bestehen“.699 Weder können wir uns aussuchen, ob wir spezifische Neigungen haben noch, ob wir unter dem moralischen Gesetz stehen oder nicht. Was uns jedoch freisteht und uns angesichts der Zurechenbarkeit von Handlungen auch freistehen muss, ist uns zu diesen Gegebenheiten zu verhalten: d. h. sie zum Bestimmungsgrund unserer Handlungen zu machen und zwar dadurch, dass wir sie in unsere Maximen aufnehmen oder eben nicht.

695 Vgl. Bojanowski 2007, S. 207: „Damit haben die Kritiker aber noch nicht die letzte Konsequenz gezogen: Wären sie konsequent, müssten sie […] Kant näm­ lich gleichzeitig auch noch vorwerfen, dass, wenn er die moralisch böse Hand­ lung aufgibt, zugleich jede Rede von einer moralisch guten Handlung ihren Sinn verliert.“ 696 RL VI, S. 226. 697 RL VI, S. 226. 698 RL VI, S. 213. 699 RGV VI, S. 23f. Dieser Zusammenhang wird in Forschung als ‚Inkorporations­ these‘ bezeichnet. Der Begriff geht auf Allison 1990, S. 5 zurück.

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2. Moral: Praktische Freiheit

Wir geben uns folglich ausgehend von diesen Arten von Gründen Regeln (Maximen), die unser Handeln anleiten.700 Für Kant ist es nun unzweifelhaft, dass wir diese Freiheit haben. Es geht ihm in der praktischen Philosophie abermals darum, die Bedingungen der Möglichkeit des menschlichen Verhaltens – hier konkret: die Zuwei­ sung von Verantwortung für unser Handeln – zu reflektieren und sie als begründungsfähig auszuweisen. Dies soll das Konzept Erkenntnis, hier konkret die praktische Erkenntnis, leisten. Nun sind wir allein schon dadurch unabhängig von der Sinnlichkeit, dass wir nicht unmittelbar instinktgeleitet handeln und unser Begehrungs­ vermögen begrifflich strukturiert ist. Diese begriffliche Strukturierung al­ lein kann uns allerdings nur einer relativen Freiheit versichern; einer relati­ ven Freiheit, die darin besteht, dass wir regelgeleitet unseren Neigungen nachgehen können. Worauf es Kant jedoch ankommt, ist, dass allein das moralische Gesetz uns die reale Möglichkeit jener absoluten Freiheit erken­ nen lässt: „Wäre dieses Gesetz nicht in uns gegeben, wir würden es, als ein solches, durch keine Vernunft herausklügeln, oder der Willkür an­ schwatzen: und doch ist dieses Gesetz das einzige, was uns der Unab­ hängigkeit unserer Willkür von der Bestimmung durch alle anderen Triebfedern (unserer Freiheit) und hiermit zugleich der Zurechnungs­ fähigkeit aller Handlungen bewußt macht.“701 Die Identität von moralischem Gesetz und Freiheit besagt mithin nicht, dass wir keine Wahl zwischen moralischem Gesetz und Neigungen hätten, sondern: dass das Moralgesetz als Faktum der Vernunft der einzige nichtempirische Erkenntnisgrund ist, den wir für die positive Definition der absoluten Freiheit der Willkür haben.702 Wir können in einem spezifisch praktischen Sinn, aber ausschließlich in diesem, erkennen, dass unsere Willkür frei ist – ganz unabhängig davon, ob die Willkür tatsächlich vom moralischen Gesetz bestimmt wird oder nicht. Als vollumfänglich auto­ nom können wir uns hingegen nur dann verstehen, wenn das moralische Gesetz als Bestimmungsgrund der Willkür fungiert.703 *

700 701 702 703

Vgl. Klemme 2013c, S. 43. RGV VI, S. 26 Fn, Hervorhebung B. H. Hierzu insbesondere: Bojanowski 2007, S. 226. Diese Interpretation hat unter anderem Timmermann 2003, S. 43 stark ge­ macht.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Was wir jedoch, wie Kant in allen praktischen Schriften betont, nicht können, ist zu verstehen „wie reine Vernunft praktisch sein könne“ und damit „wie Freiheit möglich sei.“704 Wir sind folglich nicht in der Lage zu verstehen, warum wir frei sind.705 Man kann zwar darauf verweisen, dass wir mit der Entscheidung für das moralische Gesetz uns unabhängig von der Sinnlichkeit machen und damit die Vernunft als unsere differentia specifica zur restlichen Natur anerkennen und verwirklichen; wir damit also unserem „eigentlichen Selbst“706 entsprechen. Indes können wir aus der Perspektive Kants darüber hinaus nicht mehr begründen, warum wir unserem eigentlichen Selbst als freiem und vernünftigem Wesen entspre­ chen sollten.707 Ebenso wenig kann man in letzter Konsequenz erklären, warum wir uns gegen das moralische Gesetz entscheiden. Man kann zwar den Prozess der Entscheidung dadurch plausibilisieren, dass man von einer Unterordnung des moralischen Gesetzes unter die Neigungen in der Maxime ausgehen kann: „Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der ande­ ren macht.“708

704 705 706 707

GMS IV, S. 458f. Hierzu: Bachmann 2013. GMS IV, S. 458. Vgl. Rosefeldt 2018, S. 285: „Wenn man Zweifel daran, ob man moralisch sein soll, nicht durch das Nennen von Gründen dafür, moralisch zu sein, beheben kann, dann kann auch Kants eigene Beantwortung der Frage, weshalb man sich dem moralischen Gesetz unterwerfen soll, nicht mit dem Anspruch verbunden sein, die Gültigkeit des Sittengesetzes zu beweisen und dem moralischen Skepti­ ker dadurch Gründe dafür zu liefern, weshalb er sich dafür entscheiden sollte, das zu tun, was die Moral fordert.“ Puls 2016, S. 192ff stimmt dieser These nicht nur zu, sondern er stellt die Kontinuität dieser These auch in Bezug auf die KpV dar: „Wenn man ‚hinter‘ das Faktum der Vernunft ‚zurückfragen‘ wollte, d. h., wenn man etwa eine Antwort auf die Frage suchte, warum dieses Faktum gilt, könnte man nur auf einen Umstand verweisen, der eine bestimmte Be­ schreibungsperspektive dieses Faktums selbst darstellt: dass das Sittengesetz vom Menschen unmittelbar als richtig anerkannt wird, weil letztlich grundsätzlich die Forderungen des eigentlichen Selbst unmittelbar als richtig und notwendig anerkannt werden.“ 708 RGV VI, S. 36.

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

Allerdings kann man, wenn man weiter nach dem Grund für die Unter­ ordnung fragt, nur wiederum auf eine Maxime höherer Ordnung verwei­ sen.709 Diese Meta-Maxime muss, wenn die Zurechenbarkeit und damit Freiheit des Menschen in der Entscheidung für oder gegen das moralische Gesetz gewahrt bleiben soll, wiederum dem Menschen selbst – und zwar a priori – zugerechnet werden. Diese Letztbegründung nennt Kant den in­ telligiblen Charakter. Dieser intelligible Charakter muss wiederum Resul­ tat einer „intelligibele[n] Tat“ sein.710 Weil es sich hierbei um eine intelli­ gible Begründung handelt, bleibt der Grund für die Entscheidung gegen das moralische Gesetz damit letztendlich „unerforschlich“.711 Sich aus Freiheit (der Willkür) gegen die Freiheit (des moralischen Gesetzes) zu entscheiden, ist für Kant damit nur als „Unvermögen“712, im Sinne eines Handelns wider besseren Wissens, d. h. als Willensschwäche zu deuten.713 Denn das Wissen um das Moralische und damit um die Freiheit ist nicht an einen wie auch immer gearteten Erkenntnisprozess gebunden, sondern dieses Wissen ist jedem Menschen schon immer a priori durch das morali­ sche Gesetz gegeben.

3. Recht: Rechtliche Freiheit Unsere bisherigen Betrachtungen von Kants Philosophie haben stets in Bezug zum freien Handeln gestanden. Dieses haben wir jedoch ausschließ­ lich von der Seite der Ursache und des Akts der Handlung betrachtet. Nun tritt im Rahmen der Rechtsphilosophie die Handlung vom Gesichts­ punkt ihrer Wirkung her in den Blick. Dies bedeutet, sie als phänomenale Tatsache in der Sinnenwelt zu verstehen; eine phänomenale Tatsache, die einem Akteur als Urheber aufgrund seiner im moralischen Gesetz gegebe­ nen Freiheit potenziell zugerechnet werden kann.714 Allerdings besagt die mögliche Zurechnung alleine noch nicht, dass die Handlung tatsächlich dem moralischen Gesetz gemäß geschieht. Denn würde die Wirklichkeit der Ausübung der Freiheit immer unter dem moralischen Gesetz stehen, so ergäbe sich ein Reich der Zwecke, in dem die jeweiligen Zwecke der 709 710 711 712 713 714

Vgl. RGV VI, S. 20. RGV VI, S. 31. RGV VI, S. 21. RL VI, S. 227. Zu dieser Interpretation: Noller 2014a, S. 279, Bojanowski 2007, S. 223. Zum Gedanken, dass die RL auf einer Übersetzung der moralischen Freiheit in die empirische Wirklichkeit beruht: Römpp 2006, S. 95ff.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

freien Individuen ein harmonisches Ganzes konstituieren würden. Dieses harmonische Ganze hat als Idee jedoch keine Entsprechung in der sinnlich wahrnehmbaren Natur: die Zwecke und die damit verknüpften Handlun­ gen als Mittel zu diesen Zwecken widerstreiten einander in der Erschei­ nung, d. h. in den sinnlich wahrnehmbaren Handlungen. Sie widerstrei­ ten einander deshalb, weil der Mensch ein unvollkommen vernünftiges Wesen ist, dessen sinnliche Neigungen ein fortwährendes Gegengewicht zu dem vernünftigerweise Gebotenen darstellt.715 Damit wird allerdings all das prekär, wodurch sich der Mensch zumindest potenziell für Kant auszuzeichnen scheint: Vernünftigkeit, Selbstzweckhaftigkeit, Freiheit und Autonomie.716 Der empirische Widerstreit der Zwecke bildet den Hintergrund, von dem aus sich Kants Auseinandersetzung mit der Freiheit des Menschen im Kontext seiner unvermeidbaren Sozialbeziehungen entwickelt.717 Hieraus erwächst die Notwendigkeit, die Sozialbeziehungen zu regeln; und zwar so zu harmonisieren, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen vereinbar ist. Das Medium der Harmonisierung ist das Recht;718 der da­ zugehörige Bereich ist das Politische, das Kant dementsprechend als „aus­ übende[] Rechtslehre“ versteht.719 Das ‚Regeln‘ impliziert bereits auf einer begrifflichen Ebene Gesetzmäßigkeit und zwar in praktischer Hinsicht Ge­ setzmäßigkeit von Handlungen. Wie wir gesehen haben, tritt eine solche Gesetzmäßigkeit endlichen Vernunftwesen stets als Pflicht gegenüber. Das Recht entwickelt sich dabei weniger im Kontext der moralischen Idealität, sondern mehr im Kontext der Intersubjektivität des Gesetzes. Daher rückt auch das fremdverpflichtende Moment des Gesetzes gegenüber dem selbst­ verpflichtenden in den Vordergrund. Konsequenterweise definiert Kant das Recht als „das Vermögen, andere zu verpflichten“.720

715 Vgl. ZeF VIII, S. 381: Das Empirische ist es, „dergleichen das Bösartige der menschlichen Natur ist, welches den Zwang notwendig macht“. 716 Vgl. Ripstein 2009, S. 9: „Kant’s […] idea is that each person’s entitlement to be his or her own master is only consistent with the entitlements of others if public legal institutions are in place.“ 717 Höffe 1999a, S. 47f bezeichnet diese Bedingung als „Rechtsanthropologie“. 718 Hierzu auch Horn 2014, S. 123f: „Kants Rechtsbegriff resultiert […] aus […] der Idee, ein System zu etablieren, in dem das Handeln freier Individuen durch eine allgemeinverbindliche Regel koordiniert wird. Er ergibt sich allein aus der Idee einer Interaktionsdynamik intelligibler Wesen, die in ihrer äußeren Handlungs­ freiheit unter Regeln gestellt werden müssen, damit ihre Willkürspielräume nicht miteinander in Konflikt geraten.“ 719 ZeF VIII, S. 370. 720 RL VI, S. 239.

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

Es wäre allerdings eine fatale Vereinseitigung der kantischen Rechtsphi­ losophie, das Recht auf seinen fremdverpflichtenden Charakter zu reduzie­ ren. Vielmehr besteht der konstitutive Problemzusammenhang der Rechts­ lehre gerade im Spannungsverhältnis von Selbst- und Fremdverpflichtung und kulminiert in der Frage, wie und zu was man eine Person verpflichten kann, die sich selbst durch das, was vernünftigerweise geboten wäre, nicht verpflichtet sieht. Aus unserer bisherigen Betrachtung der Kantischen Mo­ ralphilosophie scheint diese Fragestellung in ein Paradoxon zu münden: Wenn die Selbstverpflichtung der Kern der moralischen Autonomielehre ist, destruiert nicht gerade die Verpflichtung durch andere das, was sie eigentlich zu schützen sucht? Kann Recht überhaupt moralisch sein? So ist es kaum verwunderlich, dass die Rechtslehre Kants seit jeher kontrovers diskutiert wird. Es haben sich dabei zwei idealtypische Posi­ tionen in der Forschung herausgebildet: die Unabhängigkeitsthese und die Abhängigkeitsthese. Erstere Position vertritt die Auffassung, dass Kants Rechtslehre entweder überhaupt unabhängig von der Transzendentalphi­ losophie721 oder doch zumindest normativ unabhängig vom kategorischen Imperativ und damit von der Moral ist.722 Diese Unabhängigkeit darf allerdings im Fall zweier ihrer prominentesten Vertreter nicht so verstan­ den werden, als ob dem Recht aufgrund der Unabhängigkeit vom kate­ gorischen Imperativ überhaupt keine Normativität zukommen würde: So spricht Horn von einer „nichtidealen Normativität“ des Rechts und Willaschek von dem Bereich des Rechts als „an expression of rational autonomy structurally similar to, but normatively independent of, his moral theory.“723 Die Abhängigkeitsthese hingegen impliziert nicht nur eine strukturelle Ähnlichkeit von Moraltheorie und Rechtslehre. Vielmehr be­ sagt sie, dass eben eine Abhängigkeit des Rechtsprinzips von zentralen Konzepten der Moraltheorie wie der Autonomie, wenn nicht sogar ein Ab­ leitungsverhältnis zwischen kategorischem Imperativ und Rechtsprinzip besteht.724 So hat beispielsweise jüngst Hirsch dafür argumentiert, dass die Abhängigkeitsthese „nicht nur vorzugswürdig, sondern alternativlos“ sei.

721 Ebbinghaus 1988, S. 168, Geismann 2006. Auch scheint Baum 2013 dieser Rich­ tung zuzurechnen sein, wenn er auf S. 92 abschließend feststellt, dass „die äuße­ re Freiheit […] nicht die transzendentale Freiheit einer intelligiblen Ursache“ ist. 722 Exemplarisch: Willaschek 1997, 2002, 2009, Horn 2009, Wood 2002. 723 Willaschek 2009, S. 66. 724 Exemplarisch Guyer 2002, Ludwig 2013, Kersting 1984, Hirsch 2017.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Für ihn leitet sich das Rechtsprinzip notwendigerweise aus dem kategori­ schen Imperativ ab.725 Im Rahmen unserer Fragestellung ist dabei allerdings weniger von Be­ lang, ob sich das Rechtsprinzip aus dem kategorischen Imperativ ableiten lässt oder nicht, insofern wir den kategorischen Imperativ stets primär als Erkenntnisgrund der Freiheit betrachtet haben.726 Entscheidend ist für unsere Zwecke vielmehr, in welchem Verhältnis Freiheit und Recht zueinander stehen und inwiefern sich der oben geschilderte Widerspruch zwischen Selbst- und Fremdzwang aufheben lässt. Denn was das grund­ sätzliche Verhältnis von Freiheit und Recht zueinander betrifft, scheint sich Kant prima facie recht eindeutig zu positionieren, indem er argumen­ tativ an seine Moralphilosophie anknüpft727: „Wir kennen unsere eigene Freiheit (von der alle moralischen Gesetze, mithin auch alle Rechte sowohl als Pflichten ausgehen) nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann.“728 Der kategorische bzw. moralische Imperativ ist der einzige genuin prakti­ sche Erkenntnisgrund unserer Freiheit. Die Freiheit als Seinsgrund dieses Imperativs ist der Ausgangspunkt für alle moralischen Gesetze. Diese Ge­ setze umfassen nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte. Im Folgenden gilt es, dieses Verhältnis von Freiheit und Recht zu konkretisieren und

725 Hirsch 2017, S. 69. 726 Die Frage, ob sich das Rechtsprinzip vom kategorischen Imperativ ableiten lässt, ist nämlich fast ausschließlich davon abhängig, was man unter einer solchen Ableitung oder Deduktion versteht. Es bedürfte erst einer Klärung dieses um­ strittenen Konzepts, um sich dann der konkreten Frage versichern zu können, ob das Rechtsprinzip als Postulat einer Deduktion zugänglich ist. So hat Guyer 2002, S. 27ff zum Beispiel eine Interpretation vorgelegt, die darum bemüht ist, verständlich zu machen, was es heißt, Postulate durch ein analytisches Urteil zu rechtfertigen. Analytische Urteile können nur dann wahr sein, wenn die Prämisse, aus der die Folgerung abgeleitet wird, selbst wahr ist. Die Wahrheit der Prämisse kann jedoch nur über dessen objektive Realität bewiesen werden, was eine synthetische Leistung ist. Im Praktischen ist uns nur die objektive Realität der Freiheit durch das moralische Gesetz gegeben, in der die Wahrheit aller abgeleiteter Prinzipien wurzeln kann. 727 Zur Angewiesenheit der RL auf den Begriff der Freiheit: Römpp 1991, S. 292. 728 RL VI, S. 239. Eine reduzierte, aber sinngemäße Formulierung findet sich bei­ spielsweise im GTP VIII, S. 289: „Der Begriff eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Men­ schen zu einander hervor.“

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

die Vereinbarkeit von Freiheit und Zwang im Recht zu plausibilisieren. Dies soll dadurch geleistet werden, dass gezeigt wird, wie und warum Kant das Rechtsprinzip innerhalb seines Systems so entwickelt, wie er es tut.729 Hierzu bedarf es jedoch zuerst eines grundlegenden Verständnisses der für die politische Philosophie Kants konstitutiven Unterscheidung zwischen Ethik und Recht.

3.1 Recht als Vermögen, andere zu verpflichten 3.1.1 Positives Recht und Naturrecht Versteht man das Recht von seiner objektiven Dimension her, als Gesamt­ heit der Rechtsnormen, kann man grundsätzlich zweierlei Perspektiven einnehmen730: Einerseits lassen sich darunter die an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geltenden Rechte (statuarisches oder positives Recht) verstehen, die aus dem Willen eines Gesetzgebers hervor­ gehen. Es handelt sich um Gesetze, „die ohne wirkliche äußere Gesetz­ gebung gar nicht verbinden (also ohne die letztere nicht Gesetze sein würden)“.731 Andererseits kann man nach dem normativen Maßstab fragen, der das positive Recht überhaupt erst recht macht, d. h. dem faktisch geltenden Recht normative Gültigkeit verleiht: „Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründe­ te.“732 Kant argumentiert auf der Ebene des Naturrechts, indem er auf das Begrün­ dungsdefizit eines rein auf seiner Positivität beruhenden Rechts verweist. Er greift dabei auf das uns bekannte Argumentationsmuster zurück: Wir können die normative Gültigkeit des positiven Rechts allein dadurch be­ gründen, dass wir allgemeine und notwendige Prinzipien angeben kön­

729 Methodisch handelt es sich hierbei um eine Anlehnung an Mosayebi 2013, S. 7, dessen subtile und tiefgehende Überlegungen an wichtigen Stellen einfließen. 730 Vgl. RL VI, 229, 237. 731 RL VI, S. 224. 732 RL VI, S. 224, Hervorhebung B. H.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

nen, die das Recht legitimieren. Da Allgemeinheit und Notwendigkeit nur a priori möglich sind, muss es sich um Prinzipien a priori handeln.733 Na­ türliche Rechte sind folglich Gesetze, deren „Verbindlichkeit auch ohne äußere Gesetzgebung a priori durch die Vernunft erkannt werden kann“.734 Damit muss man den Begriff des Rechts zwingend in einer meta­ physischen Fragestellung erörtern, sofern man Metaphysik wie Kant als „ein System der Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen“ versteht.735 Das (Na­ tur-)Recht findet seinen systematischen Ort mithin in der Metaphysik und zwar in der Metaphysik der Sitten bzw. der Moral. Im Gegensatz zur Meta­ physik der Natur, deren Gegenstandsbereich die Natur mit ihren Prinzipi­ en a priori ist, bezieht sich die Metaphysik der Moral auf die „Freiheit der Willkür“736 und die damit verbundenen Freiheitsgesetze. Als Prinzipien a priori „gebieten“ diese Freiheitsgesetze „für jedermann, ohne Rücksicht auf seine Neigungen zu nehmen; bloß weil und sofern er frei ist und prak­ tische Vernunft hat.“ Die Vernunft drückt in den Freiheitsgesetzen ein Sol­ len aus und zwar in Bezug darauf, „wie gehandelt werden soll“.737 Folglich machen Freiheitsgesetze eine spezifische Handlung notwendig, was für un­ vollkommen vernünftige Wesen eine Nötigung der Willkür durch Pflicht bedeutet. Durch die geschilderten Aspekte der Gesetzlichkeit, der Apriori­ tät und der Notwendigkeit als Pflicht scheint nicht nur eine anfängliche und allgemeine Charakterisierung des Rechts erreicht, sondern außerdem ein vertiefter Konnex zwischen Recht und Freiheit hergestellt zu sein, der jedoch noch einer genaueren Erörterung bedarf.

3.1.2 Rechtspflichten und ethische Pflichten Zuerst soll die Binnendifferenzierung, die Kant von der Metaphysik der Moral gibt, näher erläutert werden, um dem Begriff des Rechts schärfere Konturen zu verleihen. Diese ist trotz aller exegetischen Schwierigkeiten in ihrer Grundkonzeption erfreulich klar. Zu betonen ist dabei eine begriffli­ che Vorentscheidung Kants, die in der Forschungsliteratur leider nicht im­ mer ausreichend gewürdigt wird: So ist Moral für Kant der Oberbegriff für

733 Kant bezeichnet das Naturrecht dementsprechend in ZeF VIII, S. 372 als „Idee der Vernunft“. 734 RL VI, S. 224. 735 RL VI, S. 216. 736 RL VI, S. 216. 737 RL VI, S. 216.

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

Ethik und Recht.738 Aus seiner Perspektive sind sowohl ethische als auch juridische Gesetze folglich eindeutig moralische Gesetze. Dies impliziert bereits begrifflich, dass die Begründung des Rechts nicht instrumenteller Natur sein kann. Es geht im Recht weder darum, einen bestimmten mate­ riellen Zweck zu verfolgen noch die Glückseligkeit der Rechtsbetroffenen zu fördern.739 Prima facie liegt das Unterscheidungskriterium zwischen beiden Arten von moralischen Freiheitsgesetzen in ihrem Verhältnis zu dem, was Kant Triebfeder nennt. Strukturell besteht die Funktion der Triebfeder darin, dass sie „den Bestimmungsgrund der Willkür zu dieser Handlung subjektiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft.“740 Es werden also sowohl bei ethischen als auch bei juridischen Gesetzen drei Elemente zueinander in Beziehung gesetzt: Erstens der objektive (formale und materiale) Bestim­ mungsgrund, das objektive Prinzip des Gesetzes, das eine Handlung zur Pflicht macht, zweitens das subjektive Prinzip der Maxime und drittens der subjektive Bestimmungsgrund der Willkür, also die Triebfeder als Mittler zwischen den beiden. Damit sind alle Momente der Willensbestimmung benannt.741 Es liegt deshalb nahe, ethische und juridische Gesetze entspre­ chend ihrem 1) objektiv-formalen, 2) objektiv-materialen und 3) subjekti­ ven Moment der Willensbestimmung zu systematisieren. 1) Objektiv-formaler Bestimmungsgrund: Der formale Bestimmungsgrund des Willens lässt sich durch die Gesetzmäßigkeit der Handlung charakteri­ sieren. Der Ausgangspunkt aller Überlegungen ist dabei immer, dass eine Handlung durch ein allgemeines und notwendiges Gesetz in der Form eines Imperativs zur unbedingten Pflicht gemacht wird: „Der Imperativ ist eine praktische Regel, wodurch die an sich zufällige Handlung notwendig gemacht wird. […] Der kategorische (unbeding­ te) Imperativ ist derjenige, welcher […] sie [die Handlung] durch die

738 Dies betont unter anderem Seel 2009, S. 74f. 739 Diesen Punkt hebt Kant immer wieder hervor, so z. B. im GTP VIII, S. 290ff. Von diesem Verständnis her können sich vermeintliche Aktualisierungen kanti­ scher Gedanken (z. B. Rawls) weniger auf Kant berufen, als es dem eigenen Selbstverständnis dieser Autoren nach zu erwarten wäre. Hierzu: Ripstein 2009, S. 3f. 740 RL VI, S. 218, Hervorhebung B. H. Der unspezifische Ausdruck „Bestimmungs­ grund“ wird hier als Maxime interpretiert. Kant verwendet „Bestimmungs­ grund“ durchaus auf diese Weise, wie RGV VI, S. 21 Fn deutlich macht: „…da auch diese ebenso wohl ihren Grund haben muß, außer der Maxime aber kein Bestimmungsgrund der freien Willkür angeführt werden soll und kann“. 741 Zu den drei Momenten der Willensbestimmung: Kap. II.2.1.

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bloße Vorstellung dieser Handlung selbst (ihrer Form), also unmittel­ bar als objektiv-notwendig denkt und notwendig macht“.742 Eine Handlung basiert für Kant stets auf einer Maxime.743 Damit eine Handlung vollzogen wird, muss sich das Subjekt eine Maxime geben – wenn damit auch nicht gesagt ist, dass dies im Augenblick der Handlung bewusst geschieht. Wenn eine Handlung gesetzmäßig ist, dann entspricht sie der Handlungsaufforderung durch das Gesetz. Dementsprechend muss das Gesetz als Maxime durch das Subjekt als tatsächliche und nicht nur geforderte Handlungsregel übersetzt worden sein: „Alle Pflichten enthal­ ten eine unbedingte Nöthigung der freyen Willkühr durch die Idee einer sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualificirenden Maxime.“744 Dies gilt sowohl für die ethische als auch die juridische Gesetzgebung gleicherma­ ßen!745 In diesem Sinn stehen alle moralischen Gesetze unter dem katego­ rischen Imperativ, weil er allein eine freie Handlung notwendig machen kann.746

742 RL VI, S. 222. 743 Diesen Punkt macht in Bezug auf die Rechtspflichten insbesondere Mosayebi 2013, S. 183ff stark. 744 AA XXIII, S. 379, Hervorhebung B. H. Ähnlich in der TL VI, S. 394 „Alle Pflichten enthalten einen Begriff der Nötigung durch das Gesetz“. 745 Diese Annahme direkt unterstützend: Hirsch 2017, S. 97, Trampota 2013, S. 144: „Admittedly, it is essential to all duties that they imply a constraining of free choice by the idea of a maxim that qualifies for a universal law.“ Eben­ so Sensen 2019, S. 40: „Nach Kants Auffassung haben Recht und Ethik das ‚formale Prinzip der Pflicht’, den kategorischen Imperativ gemein“. Diese These indirekt unterstützend: Kronenberg 2016, S. 239ff. Entgegen der angeführten These wird meist folgende Stelle in der TL VI, S. 388f angeführt: „Die Ethik giebt nicht Gesetze für die Handlungen (denn das thut das Ius), sondern nur für die Maximen der Handlungen.“ Allerdings ist zu beachten, dass Kant hierbei eine Differenzierung des Maximenbegriffs zwischen Maximen der Handlungen und Maximen in Ansehung der Zwecke vornimmt. Das Zitat bezieht sich auf die Maximen in Ansehung der Zwecke und nicht auf den Maximenbegriff überhaupt (Hirsch 2017, S. 94 Fn). 746 RL VI, S. 222, Ludwig 2013, S. 63 Fn: „Die Frage nach einer möglichen ethi­ schen Begründung ,des Rechts‘ oder einer ethischen Grundlegung einzelner Rechtsnormen ist in Kantischer Begrifflichkeit also schlicht unverständlich, da alle einschlägigen Begründungs- und/oder Geltungsfragen (die Fragen also nach ,objektiver praktischer Notwendigkeit‘, d. h. nach der Verbindlichkeit von Gesetzen) bereits beantwortet sein müssen, bevor die Unterscheidung von recht­ licher und ethischer Gesetzgebung (die Frage nach den möglichen subjektiven Bestimmungsgründen) sich überhaupt stellt.“

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a) Allerdings ist bei ethischen und juridischen Gesetzen zu unterschei­ den, welche Art von Handlung sie notwendig machen. So verpflichten ethische Gesetze zu inneren Handlungen und juridische Gesetze zu äußeren Handlungen.747 In allgemeinster Bedeutung sind innere Handlungen als das Einwirken einer Substanz auf sich selbst und äußere Handlungen als das Einwirken einer Substanz auf eine andere zu verstehen.748 Epistemolo­ gisch gewendet, impliziert dies, dass äußere Handlungen beobachtbar und konsequenterweise erkennbar sind, wohingegen innere Handlungen un­ erkennbar bleiben.749 Äußere Handlungen unterliegen der Anschauungs­ form des Raums und der Zeit, innere Handlungen ausschließlich der Zeit. Jedoch greift diese Gegenüberstellung in Bezug auf Ethik und Recht zu kurz. Kant hat eine spezifisch praktische Bedeutung dieser Unterschei­ dung im Sinn. Wir müssen uns dazu nochmals das komplexe Bild der menschlichen Willensbestimmung vor Augen führen, dass sich zum Ende des letzten Kapitels abgezeichnet hat. So besteht bei moralisch relevanten Handlungen ein Zusammenhang zwischen: Handlung – Maxime – Me­ ta-Maxime. Das Konzept der äußeren Handlung nimmt nun das in den Blick, was wir wohl am ehesten bezeichnen wollen, wenn wir im Alltags­ verständnis undifferenziert von Handeln sprechen: Das Verhältnis von Handlung und Maxime. Der Fokus liegt auf der Realisierung der Hand­ lung als Erscheinung in der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit. Diese Handlung basiert auf einer Maxime erster Ordnung. Der weite Handlungs­ begriff Kants ermöglicht es ihm jedoch auch, das verbleibende Verhältnis von Maxime und (Meta-)Maxime durch den Handlungsbegriff zu charak­ terisieren. Hierbei beschreibt Handlung jedoch nicht eine erkennbare Tä­ tigkeit, sondern das innere Setzen einer (konkreten) Maxime basierend auf einer Meta-Maxime.750 Diese Perspektive nimmt die äußere Handlung als erkennbares Ergebnis der Willensbestimmung nur als peripheres Phä­ nomen in den Blick, insofern eine Willensbestimmung immer auch die Aufbietung aller „Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind“751, impliziert. Dieser unterschiedliche Blickwinkel wird besonders in den Vorarbeiten

747 RL VI, S. 214. Zum Begriff der Handlungen im Allgemeinen und zur Unter­ scheidung von innerer und äußerer Handlung im Spezifischen: Schadow 2015, S. 998f. 748 Vgl. AA XXVIII, S. 546f. 749 Ludwig 1988, S. 86. 750 Zum Verhältnis von Maximen und Meta-Maximen im Zusammenhang von Rechts- und Tugendlehre: Schwartz 2006, S. 140. 751 GMS IV, S. 394.

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zur MS augenscheinlich. Kant beschreibt hier die rein formalen Prinzipien der Nötigung der Willkür durch juridische und ethische Gesetzgebung: „Die erste [juridische] Nöthigung enthält das Princip: handle so als ob deine Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung zum Grunde gelegt werden sollte. Die zweyte [ethische] Nöthigung sagt: Mache es dir zur Maxime so zu handeln als ob du durch dieselbe allgemein gesetzge­ bend wärest doch unter der Bedingung, daß du in dieser Gesetzgebung mit dir selbst zusammenstimmend seyn kannst.“752 Beide Prinzipien werden durch die Begriffe ‚Maxime‘, ‚Handlung‘ und ‚allgemeine Gesetzgebung‘ gekennzeichnet, jedoch nehmen Handlung (im Sinne äußerer Handlung) und Maxime eine in der Satzlogik umgekehrte Reihenfolge ein. Zudem liegt die Handlungsaufforderung im Fall des ethi­ schen Prinzips im ‚Machen‘ der Maxime. Während also juridische Geset­ ze zu einer konkreten Handlung verpflichten, nötigen ethische Gesetze zu einer spezifischen Maxime (der Handlung). Der Fixpunkt juridischer Gesetze ist eine Handlung und die dazugehörigen Maximen können – im Rahmen ihrer formalen Gesetzmäßigkeit! – fluktuieren. Mehrere Per­ sonen können die gleiche Handlung vollführen, ohne dass sie dieselbe gesetzmäßige Maxime haben; bei ethischen Gesetzen ist es umgekehrt: der Fixpunkt ist die Maxime und die konkret damit verbundenen Handlungen können voneinander abweichen. Sie bieten also einen „Spielraum (latitu­ do) für die freie Willkür“753, indem nicht zu einer konkreten Handlung, sondern „zu einer Gattung von Handlungen (z. E. des Wohlwollens)“754 verpflichtet wird. Dieser Spielraum darf allerdings nicht als „eine Erlaub­ nis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur“ als die „Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere […] verstan­ den“ werden.755 Schließlich fordern sowohl ethische als auch juridische Pflichten unbedingten Gehorsam. Allerdings tun sie das, wie im obigen Zitat bereits anklingt, in unterschiedlicher Hinsicht: Die Ethik fordert die formelle Übereinstimmung der inneren Handlungen miteinander in uns selbst. Das Recht verpflichtet zur Kompatibilität der äußeren Handlungen mit anderen.756 752 753 754 755

AA XXIII, S. 379. TL VI, S. 390. AA XXIII, S. 380. Kant spricht bei ethischen Pflichten von weiter und bei Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit: TL VI, S. 390. 756 Problematisch scheinen allerdings innere Rechtspflichten zu sein. Es handelt sich hierbei dem ersten Anschein nach gar nicht um rechtliche, sondern um ethische

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Wie kann es indes überhaupt unterschiedliche moralische Pflichten ge­ ben, wenn doch beide Arten von Pflichten unbedingte Gesetze darstellen? Diese Frage wird sich erst weiter erhellen lassen, wenn wir die subjektiven und materialen Momente der Willensbestimmung und insbesondere den jetzt unmittelbar folgenden Aspekt des formalen Bestimmungsgrundes miteinbeziehen. b) Denn hinsichtlich des formalen Bestimmungsgrundes ist die Abgren­ zung von juridischen und ethischen Gesetzen noch nicht erschöpft. So können moralische Gesetze weiter danach ausdifferenziert werden, wie das Verhältnis von Pflicht und Gesetz ist, oder anders ausgedrückt: wer ihr Gesetzgeber ist. Dabei lässt sich zwischen dem „Urheber des Gesetzes“ und dem „Urheber (autor) der Verbindlichkeit“ unterscheiden. Der Urheber des Gesetzes ist derjenige, der den Inhalt des Gesetzes fest­ legt. Im Fall moralischer Gesetze ist der Urheber des Gesetzes die reine praktische Vernunft bzw. der Wille, „in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben.“757 Das bedeutet, dass die Vernunft vorgibt, was der Inhalt des Gesetzes ist. Da die Vernunft das eigentliche Selbst des Menschen darstellt, sind wir es als noumenale Wesen, von denen das Gesetz ausgeht. So lässt sich in Bezug auf den Urheber des Gesetzes immer schon von Selbstgesetzgebung (Autonomie) sprechen.758 Problematischer erweist sich die Frage nach dem Urheber der Verbindlich­ keit. Der Urheber der Verbindlichkeit ist der durch das Gesetz Gebietende, d. h. derjenige, der eine freie Handlung notwendig macht.759 Bei unvoll­ kommen vernünftigen Wesen wie dem Menschen ist das Notwendig-Ma­ chen einer Handlung eine Nötigung durch Zwang. So verstanden, ist der Gesetzgeber (als Verpflichtender) Quelle des normativen Zwangsverhält­

Pflichten, da die Menschheit den Menschen in seiner Person verpflichtet. Ande­ rerseits spricht dafür, diese Pflichten als Rechtspflichten zu verstehen, dass sie Handlungen in Raum und Zeit betreffen und für Kant äußerlich erzwingbar sind. Ob Kant allerdings innerhalb seiner Systematik eine kohärente Lösung anbieten kann, ist fraglich: Hirsch 2017, S. 175ff. 757 RL VI, S. 221. 758 In Abgrenzung zu konstruktivistischen Interpretationsansätzen betont Kain 2004, S. 285f allerdings, dass man dabei nicht von Urheberschaft in einem strik­ ten Sinne sprechen kann. Vielmehr ist das moralische Gesetz in die Natur der Vernunft selbst eingelassen und in diesem nur mittelbar konstruktivistischen Sinn sind wir Urheber des Gesetzes. Kant selbst spricht deshalb in AA XXVII, S. 544 davon, dass Vernunftgesetze keine Urheber haben und in der „Natur der Sache“ liegen. 759 Vgl. RL VI, S. 224: Der Gesetzgeber hat „die Befugnis, durch seine bloße Will­ kür andere zu verbinden“.

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nisses zwischen einem Gesetz und demjenigen, für den das Gesetz gilt (als Verpflichteter).760 Die Frage nach dieser Quelle scheint ebenso mit dem „Willen[] überhaupt“761 als Geltungsgrund aller Pflichten beantwortet zu sein: Der Wille als Inbegriff des noumenalen Selbst des Menschen, seiner Persönlichkeit, nötigt den Menschen als homo phaenomenon qua seiner Willkür zu einer Handlung.762 Allerdings setzt Kant genau hier mit seiner Unterscheidung zwischen Ethik und Recht an. Ein ethisches Gesetz wird ausschließlich als „Gesetz deines eigenen Willens gedacht“. Das bedeutet, meine eigene Vernunft verpflichtet mich zu einer Handlung. Bei juridischen Gesetzen hingegen kann die Quelle der Verbindlichkeit nicht nur der eigene Wille, sondern auch „der Wille Anderer sein“.763 Dieser Gedanke ist wohl so zu verstehen, dass „dem Verpflichteten die eigene Vernunft in Gestalt des ihn verpflich­ tenden Anderen“ gegenüber tritt.764 Der andere nötigt mich somit zu einer Handlung, zu der ich von meiner Vernunft sowieso selbst verpflichtet wäre. Im Gegensatz zur Ethik, die immer auf „Selbstzwang“765 beruht, kann (nicht: muss) nämlich beim Recht die Quelle der Verbindlichkeit der Wille eines anderen sein. Dies bedeutet, dass die Gesetzmäßigkeit und damit Pflichtmäßigkeit766 einer Handlung äußerem Zwang unterliegen kann.767 Kant betrachtet das Recht primär aus letzter Perspektive. Dement­ sprechend wird das Recht überhaupt, als „das Vermögen andere zu verpflich­

760 Watkins 2015, S. 829. 761 TL VI, S. 389. 762 TL VI, S. 418. Zu dieser Lesart auch: Schönecker 2010, Bojanowski 2019, S. 87ff. Kritisch hingegen: Hirsch 2017, S. 175ff. Kant behandelt das Verhältnis zwi­ schen homo phaenomen und homo noumenon zwar im Kontext der Möglich­ keit der Pflichten gegen sich selbst, die Auflösung dieser vermeintlichen Anti­ nomie greift jedoch, wie Kersting 1984, S. 76 und Schönecker 2010 gleicherma­ ßen betonen, auf den Geltungsgrund moralischer Gesetze überhaupt zurück. 763 TL VI, S. 389, Hervorhebung B. H. 764 Kersting 1984, S. 77. 765 TL VI, S. 394, Hervorhebung B. H. 766 Man könnte hier auch den Begriff der ‚Legalität‘ im Gegensatz zur ‚Morali­ tät‘ verwenden. Diese begriffliche Unterscheidung trifft Kant in der RL VI, S. 219 und entspricht, wie Willaschek 1997, S. 209 geltend macht, derjenigen zwischen „pflichtmäßigen“ Handlungen und Handlungen „aus Pflicht“ in GMS IV, S. 397f. Hierbei besteht jedoch, wie Ludwig 2013, S. 61f darlegt, die Gefahr Moralität und Moral, verstanden als Oberbegriff von Ethik und Recht, zu ver­ wechseln und so Recht aus dem Bereich der Moral auszuschließen. Deswegen soll auf die Begrifflichkeit aus der GMS zurückgegriffen werden. 767 Zur Definition des Zwangs siehe AA XXVII, S. 1416: „Der Zwang ist also eine Nöthigung zu einer ungern gethanenen Handlung.“

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ten“, definiert.768 Diese Verpflichtung ist wiederum in zwei Richtungen lesbar, was bereits auf dieser Ebene den genuin reziproken Charakter des Rechts expliziert: Einerseits kann ich andere durch das Recht verpflichten. Andererseits verpflichten andere mich durch das Recht. 2) Objektiv-materialer Bestimmungsgrund: „[A]ußer dem formalen Bestim­ mungsgrunde der Willkür“ kann man noch dazu verpflichtet werden, „einen materialen [Bestimmungsgrund] […] zu haben“.769 Dieses Zitat stützt also nicht nur die von uns oben gegebene Interpretation, dass sowohl juridische als auch ethische Gesetze einen formalen Bestimmungs­ grund der Willkür als unbedingtes Gesetz enthalten, sondern verweist ebenso auf das zweite Moment der Willensbestimmung: den objektivenmaterialen Bestimmungsgrund. Dieser ist der Zweck einer Handlung. Wie wir wissen, kann ein unbedingtes Gesetz keinen sinnlich-materialen Zweck enthalten, vielmehr ausschließlich einen Zweck, „der an sich selbst Pflicht ist“.770 Dieser Zweck an sich kann jedoch eine zweifache Ausfor­ mung annehmen: a) als notwendige (negative) und b) als hinreichende (positive) Bedingung der Willensbestimmung.771 Diese Differenzierung fasst Kant prägnant in der TL zusammen: Der Mensch ist „sich selbst als Anderen Zweck, und es ist nicht genug, daß er [als negative Bedingung] weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist […], sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke [als positive Bedingung, B. H.] zu machen, ist an sich selbst des Menschen Pflicht.“772 a) Den Gedanken eines negativen Zwecks der Willensbestimmung kennen wir bereits aus der Erörterung der ZF des kategorischen Imperativs: „Die Maximen werden hier als solche subjektive Grundsätze angese­ hen, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung bloß qualifizieren; welches nur ein negatives Prinzip (einem Gesetz überhaupt nicht zu widerstreiten) ist.“773 Wir wahren unsere eigene Selbstzweckhaftigkeit oder die anderer nur da­ durch, dass wir unsere Willkür nie zu Zwecken bestimmen, zu denen eine Zustimmung als autonomes Vernunftwesen nie möglich wäre. Damit wird 768 769 770 771 772 773

RL VI, S. 239, Hervorhebung B. H. TL VI, S. 381. TL VI, S. 381. Zu dieser Differenzierung: Hirsch 2017, S. 79f. TL VI, S. 395. TL VI, S. 389.

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der Grund der Möglichkeit kategorischer Imperative expliziert.774 Eine Zustimmung ist immer dann möglich, wenn sich ein gegebener Zweck nach der Universalisierungsformel (UF) verallgemeinern lässt. In diesem spezifischen Sinn fungiert dann das moralische Gesetz auch als (negativer) materialer Bestimmungsgrund der Willkür: Die Zwecke erfahren somit eine Beschränkung auf die Einstimmung mit dem moralischen Gesetz. So kann Kant die Zweck-an-sich-Formel (ZF) als Explikation der UF ver­ stehen. Die im Menschen zumindest angelegte Vernunft ist bereits als Selbstzweck in die UF eingeschrieben. Ein negativer Zweck im obigen Verständnis konstituiert ein spezifisches Verhältnis von Pflicht und Zweck.775 Die Denkbewegung ist dabei fol­ gende: Man beabsichtigt „von dem Zwecke ausgehend, die Maxime der pflichtmäßigen Handlungen […] ausfindig zu machen“ – und weiter: „Es wird jedermanns freier Willkür überlassen, welchen Zweck er sich für seine Handlungen setzen wolle. Die Maxime derselben [Handlungen] aber ist a priori bestimmt“.776 Man geht deshalb von den Zwecken aus, weil hiermit Zwecke a posteriori einschließlich der dementsprechenden Maximen gemeint sind.777 Es werden jedoch nur die Zwecke und die ihnen entsprechenden Mittel als Handlungen zugelassen, die der Verallge­ meinerbarkeit durch das moralische Gesetz entsprechen. In diesem Sinn ist die Maxime der Handlungen bereits durch das moralische Gesetz „a priori bestimmt“.778 Die Zwecke der Handlungen werden so negativ durch das moralische Gesetz begrenzt, weil Zwecke, die dem moralischen Gesetz widersprechen, nicht durch Handlungen realisiert werden dürfen.779 Die

774 RL VI, S. 222: „Der Grund der Möglichkeit kategorischer Imperative liegt aber darin: daß sie sich auf keine andere Bestimmung der Willkür (wodurch ihr eine Absicht unterlegt werden kann) als lediglich auf die Freiheit derselben beziehen.“ 775 Beim formalen Bestimmungsgrund war es das Verhältnis von Pflicht und Ge­ setz. 776 TL VI, S. 382. 777 Hierzu auch: Horn 2014, S. 147f. 778 TL VI, S. 382. 779 In diesem Sinn misst auch Klemme 2013b, S. 50 dem Gedanken des Selbst­ zwecks der Menschheit für die Rechtslehre zu wenig Bedeutung bei: „Die Ethik fordert Achtung vor der Würde der Menschen und der Menschheit (al­ so der Moralität meines Handelns), das Recht aber bloß die Legalität meines Handelns. Dass es keine Rechtspflichten geben könnte, wenn es keine Würde der Menschheit als dem letzten Grund aller kategorischen Verbindlichkeit gäbe, ist ein zutreffender Gedanke, spielt für die Terminologie der Rechtslehre aber keine Rolle.“

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Zwecke realisieren sich nicht, weil sich die Mittel zu diesen Zwecken (die Handlungen) nicht realisieren. Hieraus erschließt sich dann, warum Kant sämtliche Rechtspflichten als „prohibitiv und negativ“ charakterisiert.780 b) Die MS ergänzt diesen Gedanken um einen positiven Zweck der Wil­ lensbestimmung: einen „moralischen Zweck, der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muß.“781 Dieser begrenzt die Willkür nicht nur durch einen negativen Zweck, sondern gibt ihr a priori einen Gegenstand vor, den sie als Erscheinung in der phänomenalen Welt bewir­ ken soll. Der positive Zweck dient im Gegensatz zum negativen Zweck jedoch nicht einer Begründung der Moral.782 Er geht wie Zwecke a poste­ riori der Willensbestimmung auch nicht voraus, sondern folgt direkt aus dem formalen Bestimmungsgrund der Willkür.783 Die Gesetzmäßigkeit des Willens allein soll einen Gegenstand vorgeben. Kant subsumiert unter einem solchen Gegenstand des Willens a priori die eigene Vollkommen­ heit und die fremde Glückseligkeit.784 Positive Zwecke weisen eine dem negativen Zweck entgegengesetzte Lo­ gik auf: Ihr Ausgangspunkt ist die Maxime der pflichtmäßigen Handlung und nicht ein Zweck (a posteriori). Von der Maxime der pflichtmäßigen Handlungen „anhebend“, wird der Zweck ausfindig gemacht, der zugleich Pflicht ist. Es wird somit „der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach morali­ schen Grundsätzen begründen müssen.“785 Diese Unterscheidung ebnet uns den Weg zu einer weiteren Konkre­ tisierung des moralischen Rechtsbegriffs. Während Rechtspflichten von einem (positiven) Zweck der Willensbestimmung abstrahieren, sind ethi­ sche Pflichten gerade durch einen solchen gekennzeichnet:

780 AA XXVII, S. 587. Es soll abschließend zu den Überlegungen über einen nega­ tiven Zweck des Rechts auf ein einschlägiges Beispiel in ZeF VIII, S. 345 hin­ gewiesen werden. So erläutert Kant, dass stehende Heere nicht nur deswegen verboten sind, weil sie eine ständige Bedrohung für die anderen Staaten darstel­ len, sondern auch, weil „zum Töten oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein, einen Gebrauch von Menschen als bloßen Maschinen und Werkzeugen in der Hand eines andern (des Staates) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt.“ 781 TL VI, S. 381. 782 Hierzu Kap. II.2.2.2. 783 Zur Abgrenzung von der gegenteiligen These: Sensen 2019, S. 35. 784 Für unsere Zwecke ist es dabei unerheblich, was Kant genau unter diesen Begriffen versteht und inwiefern es ihm gelingt, diese rein aus der formalen Willensbestimmung zu entwickeln. 785 TL VI, S. 382.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

„Die Rechtslehre hatte es bloß mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit (durch die Zusammenstimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht wurde), d. i. mit dem Recht zu tun. Die Ethik dagegen gibt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck, d. i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand.“786 Wie nach den vorigen Ausführungen deutlich geworden sein sollte, darf dies jedoch nicht so verstanden werden, als ob das Recht an keinerlei Zweck gebunden wäre. Der Zweck des moralischen Rechts ist schon durch den formalen Bestimmungsgrund negativ begrenzt, allerdings eben nur als notwendiger und nicht als hinreichender Grund. Die Ethik gibt aus dieser durch die ZF des kategorischen Imperativs negativ begrenzten Auswahl möglicher Zwecke bestimmte hinreichende Zwecke vor, die an­ zustreben sind.787 Wir müssen diese Überlegungen auf den Gedanken der Trennung von Urheber des Gesetzes und Urheber der Verpflichtung beziehen, um näher erläutern zu können, was es heißt, moralisch gerechtfertigt durch ein ju­ ridisches Gesetz Zwang auszuüben. So kann zwar eine Handlung erzwun­ gen werden, nie aber der Zweck einer Handlung: „Nun kann ich zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber einen Zweck zu haben von anderen gezwun­

786 TL VI, S. 380. 787 Diese Unterscheidung wird noch dadurch weiter verkompliziert, dass zwar „al­ ler ethischen Verbindlichkeit der Tugendbegriff [korrespondiert], aber nicht alle ethischen Pflichten […] darum Tugendpflichten [sind]. Diejenigen [ethi­ schen Verbindlichkeiten] nämlich sind es [Tugendpflichten, B. H.] nicht, wel­ che nicht sowohl einen gewissen Zweck (Materie, Objekt der Willkür), als bloß das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) betreffen. Nur ein Zweck, der zugleich Pflicht ist, kann Tugendpflicht genannt werden“ (TL VI, S. 383). Wie Ludwig 2013, S. 75 bemerkt, bilden die Tugendpflichten damit eine Teilklasse der ethischen Pflichten. Es gibt jedoch auch ethische Pflichten, die keinen posi­ tiven Zweck vorschreiben, aber in dem Sinn ethisch sind, dass sie das Kriterium der Pflichtmäßigkeit aus Pflicht erfüllen (hier wiederum verwirrend „das Förm­ liche der sittlichen Willensbestimmung“ genannt). Da für unsere Absichten die Unterscheidung von Rechtspflichten und ethischen Pflichten einschlägig ist, bleiben diese subtilen Überlegungen weitestgehend unbeleuchtet.

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gen werden, sondern ich kann nur selbst mir etwas zum Zweck ma­ chen.“788 Dieser Gedanke ist wohl so zu verstehen, dass ein Zweck als Gegenstand immer eine objektive Vorstellung ist, die epistemisch wie praktisch die Spontanität des Subjektes erfordert, „weil es ein innerer Akt des Gemüts ist“.789 Innere Akte des Gemüts sind keine Erscheinungen und deshalb weder anderen noch uns selbst durch Erkenntnis zugänglich. Aus prakti­ scher Perspektive hat der Mensch immer die Freiheit, sich zu seinen sinnli­ chen Antrieben zu verhalten. Ethische Gesetze verlangen einen positiven Zweck, zu dem sich das Subjekt nur selbst als Gesetzgeber verpflichten kann. Juridische Gesetze abstrahieren von Zwecken. Welcher Zweck bei der Gesetzesbefolgung angestrebt wird, bleibt jedem selbst überlassen. Gesetze abstrahieren jedoch nicht in der Art von Zwecken, dass sie jede Handlung zu einem beliebigen Zweck zulassen würden. Die realisierbaren Handlungen und damit die sie als Mittel fordernden Zwecke sind bereits durch den formalen Bestimmungsgrund des moralischen Gesetzes auf die mögliche Zustimmung aller vernünftigen Subjekte zu der jeweiligen konkreten Handlung begrenzt. Die Tatsache, dass sich Recht in diesem Sinn nur auf äußere Handlungen bezieht, lässt rechtliche Gesetze extern erzwingbar werden.790 3) Subjektiver Bestimmungsgrund: Wie wir wissen, kann sich die Über­ setzung eines moralischen Gesetzes als formaler und materialer Bestim­ mungsgrund in eine Maxime nur dadurch vollziehen, dass ein subjektives Element zur Maxime hinzukommt: ein Gefühl der Lust oder Unlust. Dieser „subjektive[] Grund der Tätigkeit“ ist die „Triebfeder“.791 Zur Un­ terscheidung von Ethik und Recht kommt es folglich nicht nur auf die Gesetzmäßigkeit und den Zweck der Maxime, sondern auch auf die Art der Triebfeder an, die der Maxime zugrunde liegt. a) Eine Gesetzgebung, „welche eine Handlung zur Pflicht, und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, ist ethisch.“792 Die Willkür wird 788 TL VI, S. 381. 789 RL VI, S. 239. Mosayebi 2013, S. 84 macht in Bezug auf den epistemischen Aspekt geltend, dass eine von außen auf die Motive des Handelnden gerichtete Bestimmung schon auf der epistemischen Ebene scheitern muss, weil weder der innere noch der äußere Sinn Zugang zur Gesinnung ermöglichen. 790 Ripstein 2009 verfehlt meiner Einschätzung nach gerade eine entscheidende Pointe der Rechtslehre, indem er davon ausgeht, dass Rechte in die Zweckset­ zung eingreifen können. 791 KpV V, S. 79. 792 RL VI, S. 219.

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dabei allein durch die Vorstellung des Gesetzes und somit aus Pflicht bestimmt – oder zumindest wird nach der Inkorporationsthese die Pflicht den Neigungen übergeordnet. Die subjektive Wirkung dieser Bestimmung der Willkür durch das moralische Gesetz ist das Gefühl der Achtung. Die­ ses Gefühl ist – im Gegensatz zu allen anderen Gefühlen – als intelligibles Gefühl nur Folge, aber nicht Grund der Handlung. Ethische Gesetze schreiben uns die Pflicht als Triebfeder unserer Hand­ lungen vor; das heißt, das moralische Gesetz (und das mit ihm einherge­ hende Gefühl der Achtung) fungiert als Bestimmungsgrund der Willkür. Folglich können wir uns nur selbst zu einer ethischen Handlung bestim­ men, weil der Bestimmungsgrund in unserer Vernunft liegt. Kant spricht bei einer ethischen Gesetzgebung deshalb von Selbstzwang: Ethisches Han­ deln kann somit nie von außen erzwungen werden. b) Hingegen ist eine Gesetzgebung juridisch, „die auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zuläßt“.793 In diesem Fall kann die Willkür ‚auch‘ durch die Triebfeder des moralischen Gesetzes bestimmt sein, muss es aber nicht. Die Legalität einer Handlung ist bereits dann gegeben, wenn die tatsächliche (äußere) Handlung qua Maxime mit der vom Gesetz vorgeschriebenen Handlung übereinstimmt. Die juridi­ sche Gesetzgebung ist indifferent gegenüber der Triebfeder der Handlung. So kann das Gefühl der Lust und Unlust zur Ursache der Bestimmung der Willkür werden und trotzdem eine „pflichtmäßig[e]“794 Handlung nach sich ziehen. Juridische Gesetze verpflichten uns zwar zu einer Handlung, ohne die­ se jedoch an die Triebfeder der Pflicht zu binden. Damit werden legale Handlungen extern erzwingbar, insofern die Willkür durch Triebfedern bestimmt wird, deren Ursache nicht im Subjekt liegt. Juridisches Handeln kann somit auf Fremdzwang basieren. Fremdzwang darf jedoch nicht so verstanden werden, als ob damit das Prinzip der Selbstverpflichtung sus­ pendiert wäre. Ansonsten könnte Kant das Recht konzeptionell nicht unter die Moral subsumieren, deren oberstes Prinzip der kategorische Imperativ ist. Die Selbstverpflichtung bleibt – in komparativer Form – dadurch gewahrt, dass wir uns die Maxime unseres Handelns weiterhin selbst geben.795 Nur die handlungsleitende Triebfeder, die uns zur Einhal­

793 RL VI, S. 219, Hervorhebung B. H. 794 KpV V, S. 81. 795 Vgl. AA XXVII, S. 1416: „Pathologisch kann kein Mensch gegen seinen freyen Willen gezwungen werden. Die menschliche Willkhür ist ein liberum arbitri­ um, indem sie [die Willkür] nicht per stimulos neceßitirt wird. Die tierische

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tung der gesetzlichen Pflicht motiviert, ist externer Natur: d. h. sie liegt nicht in der Pflicht zur Handlung selbst, sondern in den Neigungen. Wie wir wissen, sind Neigungen grundsätzlich „von einem äußeren Object“ verursacht.796 Im Falle des rechtlichen Fremdzwangs ist es die Willkür ei­ nes anderen Subjektes, die diese Neigungen induziert. Naheliegenderweise denkt Kant hierbei insbesondere an die Furcht vor Sanktionierung, die uns motiviert, wenn wir nicht das Recht um seiner selbst willen befolgen.797 In letzter Konsequenz bestimmen wir uns im Einklang mit Kants bisherigen Überlegungen zur Freiheit aber stets selbst zur Handlung, indem wir in der Maximengebung unsere eigenen Neigungen den (extern) induzierten Neigungen unterordnen.798 * Wie und zu was kann man eine Person rechtlich verpflichten, die sich selbst durch das, was vernünftigerweise geboten wäre, nicht verpflichtet sieht? Nimmt man alle drei Momente der Willensbestimmung zusammen, lässt sich folgendes stark vereinfachtes Bild zeichnen: (weite) ethische Pflich­ ten nötigen zu inneren Handlungen, indem Sie positive Zwecke vorschrei­ ben und Pflichtmäßigkeit aus Pflicht fordern;799 (enge) Rechtspflichten nöti­ gen zu äußeren Handlungen, ohne einen positiven Zweck der Handlung vorzuschreiben und ohne die Pflichtmäßigkeit der Handlung aus Pflicht zu fordern. Während Rechtspflichten auch aus Pflicht erfüllt werden kön­ nen und so zu „indirekt-ethischen“ Pflichten werden, müssen (direkt) ethi­

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Willkhür ist ein arbitrium beatum und nicht liberum, weil sie per stimulos neceßitirt werden kann“. Kant führt hier das Beispiel der körperlichen Qual an. Der Mensch kann nur in einem komparativen, aber nicht in einem strikten Sin­ ne gezwungen werden. Hierzu auch AA XXVIII, S. 255: „Alle Arten von Marter können nicht seine freie Willkühr zwingen; er kann sie alle ausstehen und doch auf seinem Willen beruhen. […] Der Mensch fühlt also ein Vermögen in sich, sich durch nichts in der Welt zu irgend etwas zwingen zu lassen. Es fällt solches zwar öfters schwer aus anderen Gründen; aber es ist doch möglich, er hat doch die Kraft dazu.“ AA XXVII, S. 523. RL VI, S. 219. Dass auch bei einer pathologischen Bestimmung des Willens Selbstzwang vor­ herrscht, zeigt Kant bei der Definition des Tugendbegriffs in der TL VI, S. 394: „so ist die Tugend nicht bloß Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem Prin­ zip der inneren Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht, nach dem formalen Gesetz derselben.“ Das allgemeine ethische Gebot fasst Kant wie folgt zusammen: „Handle pflicht­ mäßig, aus Pflicht.“ Wie in Fußnote 787 erläutert wird, müsste man hier präzi­ sier von Tugendpflichten sprechen.

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sche Pflichten aus Pflicht erfüllt werden.800 Dies darf jedoch nicht mit einem abweichenden Grad an Verpflichtung verwechselt werden: rechtli­ che Pflichten sind in ihrem Geltungsanspruch ebenso unbedingt verpflich­ tend wie ethische Pflichten. Wenn man indes den Unterschied zwischen beiden Pflichten betonen möchte, dann könnte man sagen, dass juridische Gesetz die normative Dimension praktischer Gesetze nicht ebenso sehr ausschöpft, wie ethische Gesetze dies tun.801 Dies gilt jedoch nicht für den Begründungsaspekt (for­ maler und materialer Bestimmungsgrund), sondern ausschließlich für den motivationalen Aspekt der Handlungen. Im Gegenzug ist das, wozu ein juridisches Gesetz verpflichtet, nicht nur (motivational) einfacher realisier­ bar, sondern eben auch extern durchsetzbar, gerade weil die normativen Anforderungen geringer sind: Sie verlangen nicht, aus Pflicht befolgt zu werden.

3.2 Bestimmung anderer durch Zwang 3.2.1 Allgemeines Rechtsprinzip Wir haben uns also aus den drei Momenten der Willensbestimmung die Systematik der Sittenlehre erschlossen und darauf aufbauend die grundle­ genden Eigenschaften der Rechtspflichten gefolgert. Unbeachtet blieb bis­ her allerdings die Frage, zu welchen äußeren Handlungen uns das Recht exakt verpflichtet. Dazu müssen wir einerseits die gewonnenen Charakte­ ristika konkretisieren, andererseits unsere bisherige Systematisierung von Kants Ansatz an seinen eigenen Ausführungen zur Rechtslehre überprü­ fen.802 1) Objektiv-formaler Bestimmungsgrund: Indem das Recht äußere Hand­ lungen zur Pflicht macht, betrifft es „das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar, oder mittelbar) Einfluß haben können.“803

800 RL VI, S. 221. 801 Mosayebi 2013 spricht deshalb bei dem allgemeinen Rechtsprinzip von einem „Minimum der reinen praktischen Vernunft“. 802 Die Darstellung bezieht sich auf §§ A – E in der RL VI, S. 229ff. 803 RL VI, S. 230.

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Vorab ist zu betonen, dass Kant die Handlung als Faktum (Tat) und den der Tat zugeordneten Akteur als Person begreift. Tat wird definiert als „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folg­ lich auch sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird.“ Eine Person „ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.“804 Das ist deshalb so entscheidend, weil Kant damit auf den uns bereits bekannten Zusammenhang von Handlung, unbedingter Freiheit und Zurechenbarkeit verweist. Recht ergibt also nur dann Sinn, wenn die durch das Recht geforderte Handlung dem verpflich­ teten Subjekt zurechenbar ist und somit seiner freien Entscheidung unter­ liegt; eine Handlung ist jedoch für Kant immer nur dann zurechenbar, wenn sie nicht in einem relativen, sondern in einem absoluten Sinn auf Freiheit basiert. Der unbedingten Freiheit können wir uns allein durch das moralische Gesetz versichern: „Freilich, wenn es keine Freiheit und darauf gegründetes moralisches Gesetz gibt, sondern alles, was geschieht oder geschehen kann, bloßer Mechanism der Natur ist, so ist […] der Rechtsbegriff ein sachleerer Gedanke.“805 Der in der Forschungsliteratur häufig geäußerte Gedanke, dass bereits ein relativer Freiheitsbegriff für die Rechtslehre ausreichend sein könnte, läuft vor dem Hintergrund der praktischen Philosophie Kants ins Leere.806 Des Weiteren lenkt uns das Zitat auf den im Recht zugrunde gelegten Handlungsbegriff: Äußere Handlungen sind Handlungen in der Sinnen­ welt, die als Erscheinungen epistemisch zugänglich sind. Für das Recht sind nur solche Handlungen relevant, durch die der Mensch qua Will­ kür kausal-praktisch in die Welt eingreift – und von diesen Handlungen wiederum nur solche, die zumindest mittelbar einen Einfluss auf andere Menschen haben.807 Die Freiheit wird im Recht ausschließlich hinsichtlich des äußeren Gebrauchs der Willkür betrachtet und zwar eines Gebrauchs der Willkür, der die Willkür anderer tangiert. Das bedeutet, Recht betrifft „nicht das Verhältnis der Willkür auf den Wunsch (folglich auch auf das bloße Bedürfnis) des Anderen […], sondern lediglich auf die Willkür des Anderen.“ Damit fallen „Handlungen der Wohltätigkeit oder Hartherzig­

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RL VI, S. 223. ZeF VIII, S. 372. Hierzu erhellend Römpp 2007, S. 182. Das heißt im Umkehrschluss, wenn sich Handlungen „nicht auf andre Personen beziehen, so sind sie nicht unrecht“ (AA XXVII, S. 1339).

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keit“ gegenüber anderen aus dem Gegenstandsbereich des Rechts heraus. Sie sind stattdessen Teil der ethischen Pflichten.808 Insgesamt müssen Handlungen sich also potenziell vor dem Horizont einer Pluralität von Menschen vollziehen, um rechtlich regelungsbedürftig zu werden. Damit wird auch deutlich, dass der Einfluss, den ein Subjekt auf das andere Subjekt durch den Gebrauch seiner äußeren Freiheit aus­ übt, nicht einseitiger, sondern reziproker Natur ist. 2) Objektiv-materialer Bestimmungsgrund: Wie wir gesehen haben, abstra­ hiert das Recht in Bezug auf die „Materie der Willkür“ von dem „Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht hat“.809 Folglich ist die Materie der Willkür ausschließlich durch die gegenseitige Übereinstim­ mung der Handlungen als Mittel zu einem bestimmten Zweck begrenzt. Da es sich hier um eine moralische Pflicht handelt, muss die Übereinstim­ mung der Handlungen unbedingt sein und damit einem allgemeinen und notwendigen Gesetz entsprechen. Diese unbedingte Übereinstimmung der Handlungen hat die Freiheit der Akteure und zwar die äußere Freiheit zum negativen Zweck. Dabei geht es aber nicht um die Wahrung der ab­ soluten äußeren Willkürfreiheit der Akteure, sondern um deren absolute Vereinbarkeit miteinander, d. h. der Willkürfreiheit des einen mit der des anderen.810 Dieser Aspekt wird sich in Bezug auf das angeborene Recht auf Freiheit noch als wichtig erweisen. Die Handlungsspielräume aller Perso­ nen müssen gleichmäßig so zugeschnitten werden, dass jedem der gleiche Grad an Freiheit gewährt werden kann.811 Nimmt man alle geschilderten Aspekte zusammen, so erweist sich das Recht als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“812 Dieses Rechtsgesetz lässt sich entsprechend seinem verpflichtenden Cha­ rakter für endliche Vernunftwesen in eine imperative Formel als allgemei­ nes Rechtsgesetz bringen:

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RL VI, S. 230. RL VI, S. 230. Vgl. Hirsch 2017, S. 58. Vgl. Willaschek 2002, S. 65. RL VI, S. 230.

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„Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“.813 3) Subjektiver Bestimmungsgrund: Der objektive Begriff des Rechts enthält den formalen und materialen Bestimmungsgrund des Willens. Dieser lässt sich in die subjektive Form moralischer Ansprüche übersetzen, indem direkt die Handlungsmaximen angesprochen werden814: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Frei­ heit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allge­ meinen Gesetze zusammen bestehen kann.“815 Entscheidend ist dabei für Kant der Gedanke, dass durch das Rechtsprin­ zip „nicht verlangt werden kann, daß dieses Prinzip aller Maximen selbst wiederum meine Maxime sei, d. i. daß ich es mir zur Maxime meiner Handlung mache“.816 Das Rechtsprinzip ist eine enge Pflicht, die eine Handlung zur Pflicht macht und davon zur Maxime geht. Die äußere Freiheit bleibt bereits dadurch gewahrt, dass „ich nur durch meine äußere Handlung ihr [der Freiheit] nicht Eintrag tue.“ Aufschlussreich ist dabei auch die Abgrenzung, die Kant hier vornimmt: „Das Rechthandeln mir zur Maxime zu machen, ist eine Forderung, die die Ethik an mich tut.“817 Damit wird wiederum die Unterscheidung von weiten und engen Pflich­ ten angesprochen. Mit dieser Unterscheidung wird analog zur bisherigen Schematisierung auf den subjektiven Bestimmungsgrund der Willkür verwiesen: So ist das Rechtsgesetz zwar ein Gesetz, „welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen, meine Freiheit auf jene Bedingung [des allgemeinen Rechtsge­ setzes, B. H.] selbst einschränken solle“.818 Hierin bestätigt sich also auch hinsichtlich des letzten Aspekts der Willens­ bestimmung in eindeutiger Art und Weise unsere Systematik: Die Rechts­ pflicht ist im Gegensatz zur ethischen Pflicht auf die Pflichtmäßigkeit der

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RL VI, S. 231. Vgl. Höffe 1999b, S. 54. RL VI, S. 230. RL VI, S. 231. RL VI, S. 231. RL VI, S. 231, Hervorhebung B. H.

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Handlung beschränkt; wohingegen letztere sich dadurch auszeichnet, dass sie die Pflichtmäßigkeit der Handlung selbst ‚erwartet‘ und ‚fordert‘ und damit die Pflicht zum subjektiven Bestimmungsgrund (Triebfeder) der Willkür macht.

3.2.2 Analytizität von Recht und Zwang Es zeigt sich, dass Kant das Rechtsprinzip als kategorischen Imperativ zu verstehen scheint, der zumindest von einem der drei Momente der mora­ lischen Willensbestimmung gänzlich abstrahiert: Diese Abstraktion darf allerdings nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass das Recht über­ haupt von dem exekutiv-subjektiven Moment der Willensbestimmung abstrahieren würde. Gemeint ist damit vielmehr der subjektive Bestim­ mungsgrund der pflichtmäßigen Handlung aus Pflicht, wenn man den materialen Bestimmungsgrund in der oben beschriebenen Form als gege­ ben annimmt. Hieraus scheint sich jedoch 1) eine grundsätzliche Problematik zu er­ geben, die insbesondere von den Vertretern der Unabhängigkeitsthese geltend gemacht wird. Erwartungsgemäß versuchen 2) die Vertreter der Abhängigkeitsthese, diese Problematik zu unterlaufen. Der sich daraus er­ gebende Widerstreit der Thesen soll im Folgenden produktiv 3) in einem eigenen Interpretationsvorschlag genutzt werden, der versucht, beide The­ sen miteinander zu vereinen. 1) Unabhängigkeitsthese: Kann man bei einem praktischen Gesetz, das das normative Potenzial der moralischen Willensbestimmung nicht aus­ schöpft, überhaupt noch von einem kategorischen Imperativ sprechen? Die­ se Frage erschüttert die Systematik der Sittenlehre. Sie lässt es fragwürdig werden, ob die Rechtslehre überhaupt als Teil der Morallehre verstanden werden kann.819 Idealtypisch hat Willaschek als Vertreter der Unabhängig­ keitsthese diesen Einwand formuliert: „the only way to obey a categorical imperative, as such, is to obey it for its own sake. […] But then, it seems, juridical laws cannot find expression in categorical imperatives, after all, because juridical laws do not require obedience for their own sake. […] Thus it seems that, on Kant’s view, juridical laws, as such, cannot give rise to imperatives at all, since these would have to be categorical imperatives in order to

819 Vgl. Willaschek 1997, S. 205.

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prescribe unconditionally, but they cannot be categorical imperatives if they respect the externality of Right.“820 2) Abhängigkeitsthese: Vertreter der Abhängigkeitsthese verweisen hingegen darauf, dass dieser Einwand auf Basis der Formulierung des kategorischen Imperativs zumindest in der MS exegetisch nicht haltbar ist821: „Die Tugendlehre geht daher auf alle Pflichten[,] indem sie nur das von dem Allgemeinen der Sittenlehre besonders in sich enthält[,] daß sie die Idee der Pflicht selbst zur Triebfeder macht. Die allgemeine Sittenlehre aber geht überhaupt auf pflichtmäßige Handlungen[,] die Triebfeder dadurch das Subject dazu bestimmt wird[,] mag in demsel­ ben seyn[,] welche sie wolle“.822 Der kategorische Imperativ impliziert nicht, dass wir ihn aus Pflicht befol­ gen sollten, sondern nur, dass wir nach einer Maxime handeln sollen, „welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann.“823 Selbst wenn man das zugesteht, bleibt das Verhältnis der MS zu den anderen moralphi­ losophischen Schriften Kants problematisch. 3) Lösungsvorschlag: Im Folgenden soll ein Interpretationsansatz vorge­ schlagen werden, der versucht, beide Einwände ernst zu nehmen und sie trotzdem miteinander zu versöhnen. Einerseits wird zugestanden, dass für das Recht in seiner naturrechtlichen Form zwar eine Befolgung aus Pflicht möglich ist, aber nicht notwendig gesollt wird. Andererseits wird zugegeben, dass trotz der oben geschilderten Komplementarität des Rechts zur Ethik das Recht ein autonomietheoretisches Defizit aufweist. Die Auf­ hebung dieses Widerspruchs, so die zentrale These, die im Folgenden entwickelt werden soll, gelingt nur durch die Unterscheidung zwischen Naturzustand und Staatlichkeit. Bevor wir jedoch näher hierauf eingehen können, stößt uns der erste Einwand auf ein anderes, vorgelagertes Problem: Die Befolgung der Pflicht ist für Kant sowohl bei ethischen als auch juridischen Gesetzen unbedingt gefordert. Wenn das Rechtsprinzip die Befolgung des Gesetzes jedoch auch von anderen Triebfedern als der Pflicht selbst abhängig macht und

820 Willaschek 2002, S. 70f. 821 Vgl. Seel 2009, S. 75, Hirsch 2017, S. 110: „Es erscheint vielmehr richtiger zu sagen, der kategorische Imperativ fordere Pflichtbefolgung unangesehen des Hand­ lungsmotivs. Dies kann ein Handeln aus Pflicht bzw. Moralität implizieren, muss es aber nicht.“ 822 AA XXIII, S. 390. 823 RL VI, S. 225.

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diese empirischen Triebfedern eben nicht notwendig, sondern zufällig sind, dann wird die rechtliche Pflichtbefolgung selbst zufällig. Es bedarf also eines Grundes, der die Spannung zwischen der Unbedingtheit der ob­ jektiven Verpflichtung durch das Gesetz und der Zufälligkeit der subjekti­ ven Bestimmungsgründe zugunsten ersterer aufhebt.824 Dieser Grund liegt in der „Triebfeder, welche die juridische Gesetzgebung mit“ der objektiven Pflicht durch das Gesetz verbindet: „der äußere Zwang“.825 Die Kehrseite dessen, dass das juridische Gesetz keine Verpflichtung zur pflichtmäßigen Handlung aus Pflicht enthält, ist nämlich, dass die äußere Freiheit „in ihrer Idee darauf [auf die gegenseitige Einstimmung des Freiheitsgebrauchs, B. H.] eingeschränkt sei und von anderen tätlich eingeschränkt werden dürfe;“826 während man die innere Freiheit aus den oben genannten Gründen weder limitieren soll noch überhaupt kann. Die ‚tätliche‘ Einschränkung von der Kant hier spricht, ist der Zwang, den andere auf mich ausüben dürfen. Die Befugnis zu zwingen leitet sich für Kant analytisch aus dem Begriff des Rechts ab: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei.“827 Wichtig ist allerdings vorab zu beto­ nen, dass erstens die ‚Tätlichkeit‘ dieser Einschränkung durch Zwang nicht unmittelbar mit physischen Zwang gleichgesetzt werden darf, vielmehr ist dadurch jegliche Einschränkung durch eine Tat im obigen Sinne ge­ meint. Dies umfasst bereits die Androhung von Zwang; und zweitens, dass damit nicht irgendein Zwang angesprochen wird, sondern eine ‚Befugnis zu zwingen‘. Mit ‚Befugnis‘ ist per se eine moralisch erlaubte Handlung gemeint, die „durch keinen entgegengesetzten Imperativ eingeschränkt wird“. Sie wird von Kant deshalb als „facultas moralis“ verstanden.828 Die Herleitung des moralischen Zwangs aus dem Recht erfolgt über den Satz vom Widerspruch und der doppelten Negation. – Die allgemeine Ausgangsprämisse ist: „Der Widerstand, der dem Hin­ dernis einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser

824 So macht Kant bereits in ZeF VIII, S. 379 darauf aufmerksam, dass es „objektiv (in der Theorie) gar keinen Streit zwischen der Moral und der Politik“, verstan­ den als ausübende Rechtslehre, gibt. Vielmehr sei der Streit zwischen Moral und Politik subjektiver Natur und darauf zurückzuführen, dass die Politik eben nicht als ausübende Rechtslehre verstanden wird, sondern die persönlichen Neigungen zum subjektiven Bestimmungsgrund gemacht werden. 825 RL VI, S. 220, Hervorhebung B. H. Zum Verhältnis von Recht und Zwang: Höffe 1982, S. 354. 826 RL VI, S. 231, Hervorhebung B. H. 827 RL VI, S. 232. 828 RL VI, S. 222.

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Wirkung und stimmt mit ihr zusammen.“829 Drei Elemente werden dabei miteinander in Beziehung gesetzt: Wirkung, Hindernis einer Wir­ kung und Widerstand gegen das Hindernis einer Wirkung. Das Hinder­ nis ist die Negation der Wirkung. Der Widerstand ist die Negation der Negation. – Dieser Satz wird nun mit dem Rechtsprinzip verknüpft: „Nun ist alles, was Unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen; der Zwang aber ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht.“ Die Wirkung ist das Recht, also eine Handlung, die mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. Das Hindernis des Rechts ist das Unrecht. Das Unrecht hindert mich daran, meine mir rechtmäßig zustehende Freiheit auszu­ üben. Diese Hinderung ist ein unrechtmäßiger Gebrauch der Freiheit, den man als Zwang verstehen kann.830 – Wenn „ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem [Hindernis der Freiheit] entgegengesetzt wird, als Verhinde­ rung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht.“831 Ein Widerstand gegen das Hindernis einer rechtmäßigen Ausübung der Freiheit ist zwar selbst Zwang, aber ein rechtmäßiger. Er ist jedoch nur rechtmäßig, insofern er genau der Stärke des Zwangs entspricht. Ist er zu schwach, kann er die Freiheitsverletzung nicht verhindern; ist er zu stark, greift er unverhältnismäßig in die Freiheit des anderen ein.832 Wir können festhalten: Zwang ist also per se erst einmal Unrecht, weil er in die rechtmäßige Freiheitssphäre einer Person eingreift und ihre Freiheit beschränkt. Er wird erst dann legitim, wenn er als Gegen-Zwang zu einem unrechtmäßigen Zwang als Hindernis der Freiheit auftritt. So verstanden, kann man sagen, dass alle rechtlichen Handlungen mit der Befugnis ein­ hergehen, ihre Ermöglichung zu erzwingen.833 Kant bedient sich zur Erläuterung der Analytizitäts-These des Konzepts des strikten Rechts: Ein Recht, „dem nichts Ethisches beigemischt ist, dasje­ nige, welches keine anderen Bestimmungsgründe der Willkür als bloß die

829 RL VI, S. 231. 830 RL VI, S. 231, GTP VIII, S. 290: „jede Einschränkung der Freiheit durch die Willkür eines anderen [heißt] Zwang“. 831 RL VI, S. 231. 832 Vgl. Willaschek 2002, S. 84. 833 Vgl. Herb/Ludwig 1993, S. 287.

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äußeren fordert“.834 Hierbei wird nicht nur gänzlich von der Erfüllung der juridischen Verpflichtung aus Pflicht abstrahiert, sondern auch überhaupt davon die Verpflichtung willentlich zu respektieren.835 Die einzige, aber si­ gnifikante Bedingung, die gegeben sein muss, ist das „Bewußtsein der Ver­ bindlichkeit eines jeden nach dem Gesetze“.836 Dieses Bewusstsein kann, wie immer man den Zusammenhang zwischen kategorischem Imperativ und Rechtsgesetz verstehen will, nur im Faktum der reinen praktischen Vernunft wurzeln, weil das moralische Gesetz die Erkenntnis von Verbind­ lichkeit überhaupt ermöglicht. Entscheidend ist, das Bewusstsein im Sinne einer bloß theoretischen Erkenntnis des Rechtsgesetzes zu verstehen. Wir erkennen das kategorische Sollen des Rechtsgesetzes, dieses kann uns je­ doch nicht durch eine Triebfeder praktisch zur Handlung motivieren.837 Der äußere Zwang tritt nun als Substitut zur fehlenden Motivation durch die Pflicht auf.838 Der Zwang kann als pathologischer Zwang nur zur Pflichtmäßigkeit der Handlung auffordern, jedoch nicht zur Handlung aus Pflicht. Er muss, um motivierende Wirkung zu entfalten, Neigungen (durch Gratifikation) bzw. Abneigungen (durch Sanktion) induzieren, die die gegebenen Neigungen, die der Pflichterfüllung entgegenstehen, über­ winden. Weil das Recht reziprok gedacht ist, resultiert aus der Freiheitsverlet­ zung des einen potenziell immer der Widerstand des anderen, der zur Einhaltung der allgemeinverträglichen Freiheit zwingt. Somit wird prima facie die Einhaltung der durch das Recht konstituierten Freiheitssphären notwendig gewahrt. Hierbei ist jedoch zu betonen, dass auch der rechtliche 834 RL VI, S. 232. 835 Vgl. Willaschek 2009, S. 57: „This does not just mean that I am not juridically required to respect the law and other people’s right for their own sake, but also that I am not even juridically required to respect them voluntarily and from my own sight. It is sufficient if I do not in fact violate them – whether out of respect for the law, out of fear of punishment, or even simply because I do not have the power to violate them.“ 836 RL VI, S. 232. Hierzu: Geismann 2006, S. 76. 837 Diesen Gedanken hatten wir schon im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Gesetz und Triebfeder in RL VI, S. 218 behandelt. Man darf diese Stelle allerdings nicht wie Guyer 2002, S. 53 so verstehen, als ob damit direkt die Öffentlichkeit von Gesetzen angesprochen wäre. Wie Willaschek 2009, S. 56 geltend macht, bezieht sich die Identität von Recht und Zwang bereits auf den Naturzustand. An dieser entscheidenden Stelle irrt Willaschek 2002, S. 78 allerdings in seiner Interpretation: Er versteht theoretische Erkenntnis in diesem Zusammenhang falsch und negiert in der Folge den präskriptiven Charakter des Rechtsprinzips. 838 Mosayebi 2013, S. 104f.

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Zwang, den andere befugt sind auszuüben, selbst wiederum nicht ethisch motiviert sein muss. Als Bedingung der Möglichkeit des Rechts reicht das durch Neigungen begründete Eigeninteresse am Gebrauch der äußeren Freiheit aus, um andere zur Einhaltung des Rechts zu motivieren. * Die zentrale Frage ist aber nun, wie ein solcher Zwang noch moralisch sein kann? Die Antwort darauf scheint für Kant die Summe der Bedingun­ gen zu sein, die wir bisher herausgearbeitet haben: Zuerst müssen wir uns nochmals die Argumentationsebene vergegenwärtigen, auf der sich Kant befindet. Er argumentiert auf der Ebene des Naturrechts und nicht des po­ sitiven Rechts. Folglich geht es ihm hierbei um die Bedingungen der Mög­ lichkeit des Rechts, d. h. diejenigen Voraussetzungen, die wir in Anspruch nehmen, wenn wir von der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit einer Handlung sprechen. Das Naturrecht verpflichtet uns zu etwas, was wir als vernünftige Wesen wollen sollten.839 Was wir wollen sollten, ist die Kom­ patibilität unseres äußeren Freiheitsgebrauchs mit dem Freiheitsgebrauch anderer der Form nach. Unser äußerer Freiheitsgebrauch ist formell dann miteinander vereinbar, wenn alle dem Anspruch nach den gleichen Frei­ heitsbereich zugesprochen bekommen. Unter dieser Bedingung kann je­ der der Rechtmäßigkeit einer Handlung zustimmen. Das Rechtsprinzip verpflichtet uns aber nicht dazu, es aus Pflicht heraus zu verfolgen. Wir können also die Richtigkeit der Verpflichtung durch das Recht praktisch erkennen, ohne dadurch genötigt zu werden, es aus Pflicht zu erfüllen. Gerade weil das Recht die Pflichterfüllung aus Pflicht weder erzwingen kann noch soll, liegt darin für Kant die Komplementarität des Rechts zur Ethik. Da ein moralisches Gesetz aber nicht nur Allgemeinheit, sondern auch Notwendigkeit bei sich führen muss und die Notwendigkeit nicht im subjektiven Bestimmungsgrund selbst liegt, so bedarf es eines Substituts der Notwendigkeit: der äußere wechselseitige Zwang. Nun ist es wichtig zu beachten, dass Kant hierbei ausschließlich von Zwang spricht, der als Gegenzwang zu einem Hindernis der Freiheit moralisch legitimiert ist. Ein solcher Gegenzwang ist deshalb mit der Freiheit der Subjekte vereinbar, weil er nicht nur streng an seine Funktion als Widerstand gebunden ist; sondern, weil er in seiner Wirksamkeit als Zwang an die unbedingte inne­ re Freiheit der Personen gebunden ist. Wir können somit bereits vorläufig

839 Dies bringt Kant in den Vorarbeiten zur Tugendlehre AA XXIII, S. 390 prägnant auf den Punkt: „Die Befugnis des Zwanges anderer (sie zu zwingen) gründet sich […] auf die Persönlichkeit des Subjects“.

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festhalten, dass in letzter Konsequenz auch das Gesetz immer nur (äuße­ ren) Fremdzwang, vermittelt durch (inneren) Selbstzwang, ausüben kann.

3.3 Freiheit als rechtliche Unabhängigkeit und politische Autonomie 3.3.1 Freiheit als angeborenes Recht Die Freiheit ist dementsprechend nicht nur in das Rechtsprinzip selbst eingelassen, sondern wird auch als eigenständiges Recht a priori in der Rechtslehre ausgewiesen. So kann man innerhalb des Naturrechts zwi­ schen erworbenen Rechten (äußeres Mein und Dein) und angeborenen (inneres Mein und Dein) differenzieren. Erworben ist ein Recht, wenn ein rechtlicher Akt zur Aneignung erforderlich ist. Dabei geht es insbesonde­ re um die Rechtfertigung von Privateigentum. Angeboren ist ein Recht, wenn es „unabhängig von allem rechtlichen Akt, jedermann von Natur zukommt“.840 „Freiheit […], sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allge­ meinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüng­ liche, jedem Menschen, […] zustehende Recht.“841 Es gibt nur ein einziges angeborenes Recht und das ist die äußere Freiheit. Die äußere Freiheit wird negativ als die „Unabhängigkeit von eines An­ deren nötigender Willkür“ verstanden.842 Genuine Funktion der Willkür ist die Zwecksetzung und die Verwirklichung des vorgestellten Zwecks durch Handlungen. Wie wir gesehen haben, hält es Kant für unmöglich, extern in die Zwecksetzung als solche einzugreifen: ausschließlich das Subjekt selbst kann sich zur Verfolgung eines Zwecks verpflichten. Die Unabhängigkeit, die das angeborene Recht uns verbürgt, kann mithin nur die Verwirklichung des Zwecks betreffen.843 Aufgrund der von Kant an­ genommenen Wirklichkeit des Zwecks der Glückseligkeit bei allen Men­ schen besteht die Unabhängigkeit inhaltlich insbesondere darin, dass „ein

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RL VI, S. 237. RL VI, S. 237. RL VI, S. 237. Dementsprechend scheint Ripstein 2009, S. 14 in seiner Interpretation des ange­ borenen Rechts den Kern zu verfehlen, wenn er behauptet: „You are indepen­ dent if you are the one who decides which purposes you will pursue.“

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jeder […] seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen [darf], welche ihm selbst gut dünkt“844; darin erschöpft sie sich aber natürlich nicht. Die Unabhängigkeit bleibt auch nur solange unbedingt, wie sich der Gebrauch der Freiheit „nicht auf andre Personen“ bezieht.845 Sobald die Willkür eines anderen (wenn auch nur mittelbar) tangiert wird, sagt das angeborene Recht auf Freiheit nun nicht mehr und nicht weniger, als dass man nur dann unabhängig von der nötigenden Willkür anderer bleibt, also dass mich niemand zu einer Handlung verpflichten (und damit zwingen) kann, wenn die Maxime meiner Handlung dem allgemeinen Rechtsprinzip entspricht.846 Ich bin aufgrund der Reziprozität des Rechts befugt, andere zur Einhaltung ihrer Freiheitssphäre zu zwingen, ebenso wie andere mich hierzu zwingen können.847 Die Wahrung der Freiheit tritt also nicht nur als Recht im Sinn einer Befugnis auf, sondern auch als Pflicht: als innere Rechtspflicht gegen sich selbst (honeste vive) und als äußere Rechtspflicht gegen andere (neminem laede). Man ist sich selbst gegenüber verpflichtet, „im Verhältnis zu Anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten“, wie man ebenso anderen gegenüber dazu verpflichtet ist, „niemandem Unrecht“ zu tun.848 Kant betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass der in der Erscheinung gegebene Mensch (homo phaenomenon) nur „kraft seiner Menschheit“, also seinem eigentlichen Selbst als homo noumenon, Anteil an diesem subjektiven Recht hat.849 Der homo noumenon ist hierbei durch sein Freiheitsvermögen charakterisiert, das gänzlich übersinnlich ist und in das wir nur durch den kategorischen Imperativ praktisch Ein­ sicht haben können.850 Wir können jedoch, wie schon im letzten Kapitel gezeigt wurde, argumentativ nicht hinter diese Begründung zurückgehen. Es ist unser Recht, unsere Freiheit im Rahmen ihrer Übereinstimmung mit einem allgemeinen Gesetz zu gebrauchen und dieses Recht ist ver­ nünftig. Auf die Frage, warum dies vernünftig ist, können wir nur noch

844 GTP VIII, S. 290. 845 AA XXVII, S. 1339. 846 Vgl. AA XXVII, S. 588: „Die Benennung nun: angeborenes Recht, kann also nichts anderes anzeigen, als den Gebrauch meiner Willkür oder die Freiheit, der Willkür des anderen zu widerstehen, insoweit die maxime (sic!) meiner Hand­ lung mit der Freiheit anderer nach einem allgemeinen Gesetz übereinstimmt.“ 847 Hierzu: Horn 2014, S. 114. 848 RL VI, S. 236. 849 RL VI, S. 237. 850 TL VI, S. 418.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

darauf verweisen, dass vernünftiges Handeln unserem eigentlichen Selbst entspricht.851 Aus dem angeborenen Recht auf Freiheit lassen sich für Kant weitere Befugnisse ableiten, die er als Explikation desselben verstanden wissen will. Man kann sie als Grundsätze auffassen, nach denen man eine Ord­ nung gestalten muss, in der endliche Vernunftwesen unter Wahrung ihrer äußeren Freiheit in Harmonie miteinander leben können.852 Dabei lassen sich insbesondere die angeborene Gleichheit und die Selbstständigkeit bzw. „die Qualität des Menschen sein eigener Herr“ zu sein hervorhe­ ben.853 Mit Gleichheit ist „die Unabhängigkeit“ gemeint, „nicht zu mehre­ rem (sic!) von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechsel­ seitig auch verbinden kann“.854 Gleichheit impliziert also nicht physische oder ethische Ebenbürtigkeit, sondern Gleichheit vor dem Recht – und zwar in dem Sinn, dass das Recht gleiche Freiheitssphären bestimmt, zu dessen Einhaltung wechselseitig gezwungen werden kann.855 Die Möglich­ keit, Rechte innerhalb dieser legitimen Freiheitssphäre durch einen recht­ lichen Akt zu erwerben, bleibt davon unberührt. Das ist besonders deshalb zentral, weil Eigentum für Kant bereits durch das Naturrecht, wenn auch nur provisorisch, garantiert ist.856 Hieraus wird auch verständlich, warum ich innerhalb der rechtlichen Freiheitssphäre selbstständig bin, d. h. ich bin äußerlich frei und ich allein bestimme meine Handlungen. Niemand darf mich zu einer Handlung zwingen.857

851 Vgl. Hirsch 2017, S. 186: „Wenn wir also von Rechtspflichten bzw. Rechten sprechen, die dem Menschen allein kraft seiner Menschheit zukommen, so wer­ den wir auf die selbstevidente, vernunftnotwendige Selbstzweckhaftigkeit ver­ wiesen, welche unsere Persönlichkeit als absolut schützenswert ausweist. Eine Begründung von Rechtspflichten bzw. Rechten, die wir qua unserer Mensch­ heit haben, kann es danach nicht geben, da sich auch Persönlichkeit nicht ‚begründen‘ lässt“. Ebenso Klemme 2013a, S. 168. 852 Vgl. Horn 2014, S. 116. In diesem Sinne unterscheiden sich, wie Horn gel­ tend macht, die angeborenen Rechte von unserem heutigen Verständnis von Menschenrechten als materielle Schutzrechte. Vielmehr handelt es sich um „ob­ jektive Verfahrensprinzipien, mit deren Hilfe man legitimes Recht generieren kann.“ 853 RL VI, S. 237f. 854 RL VI, S. 237. 855 AA XXVII, S. 1339. 856 Zum provisorischen Status des Besitzes im Naturzustand: RL VI, S. 257. 857 Zu den verschiedenen aus dem angeborenen Recht auf Freiheit abgeleiteten Rechten: Byrd/Hruschka 2010, S. 81f.

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

3.3.2 Naturrechtliche Defizite des Naturzustandes Wir haben gesehen, dass sich Fremdverpflichtung stets nur über Selbstver­ pflichtung artikulieren kann. Auf der Ebene des Naturzustandes, eines gedachten Zustandes ohne Staatlichkeit, auf den sich die bisherige Rekon­ struktion des Naturrechts bezieht, muss die rechtliche Selbstverpflichtung, sofern sie nicht ethischen Charakter hat, jedoch ambivalent bleiben: So bietet bereits der Naturzustand durch das Rechtsprinzip alle notwendigen Rechte (angeborene und erworbene) und Pflichten, um das menschliche Zusammenleben nach Vernunftprinzipien zu ordnen;858 und gerade weil diese Rechte und Pflichten aus der Vernunft endlicher Wesen resultie­ ren und als Dijudikationsprinzipien ihrer Erkenntnis zugänglich sind, verpflichten sich diese Wesen dadurch selbst. Allerdings bleibt der Natur­ zustand hinsichtlich seines subjektiven Exekutionsprinzips defizitär. Dieses Defizit ist systematisch bereits vor der Differenzierung zwischen angeborenen und erwerbbaren Rechten angelegt und kommt nicht erst durch die Rechtfertigung des äußeren Meins und Deins zum Tragen. Aus dieser Perspektive tritt zumindest für die Begründung der Idee des recht­ lichen Zustandes das Eigentumsrecht als Spezialproblem und nicht als konstitutiver Problemzusammenhang auf.859 So wird auch verständlich, warum die äußere Rechtspflicht des suum cuique tribue – „Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann“860 – einerseits a priori gilt und andererseits in der RL vor die Diskus­ sion angeborener und erworbener Rechte gestellt wird: Denn wie Kant bereits an dieser Stelle explizit hervorhebt, ist das Seine bereits im Natur­

858 Vgl. Klemme 2013a, S. 172. Hier ist Horn 2014, S. 137 entschieden zu wider­ sprechen, der dem Naturrecht und dem Naturzustand eine vollkommen andere Dynamik zu geben scheint: „Wir können also festhalten, dass der Naturzustand nur eine einzige normative Forderung an die Individuen richtet: ihn gemäß dem ‚Postulat des öffentlichen Rechts‘ (RL § 42) zu verlassen.“ 859 Zu diesem Urteil kommt auch Hirsch 2017, S. 286. Auch Horn 2014, S. 174 sieht den Staatszustand bereits grundsätzlich durch das angeborene Freiheits­ recht und die Ulpianischen Formeln gerechtfertigt. Allerdings sei dadurch noch keine konkrete Rechtsordnung geboten. Zur Legitimation einer konkreten Rechtsordnung seien angeborenes Freiheitsrecht und die Ulpianischen Formeln zwar notwendig, jedoch nur zusammengenommen mit dem äußeren Mein und Dein hinreichend. Letzteres liefere die Rechtfertigung für die Zugehörigkeit zu einer konkreten politischen Ordnung (S. 203). 860 RL VI, S. 237.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

zustand materiell durch das Naturrecht bestimmt.861 In Anlehnung an die juristische Terminologie meint ‚materiell‘ in diesem spezifischen Kon­ text nicht empirisch bzw. sinnlich, sondern inhaltlich durch das formale Rechtsprinzip bestimmt. Der Gegenbegriff dazu ist formell, im Sinne des formellen Rechtes, welches die Gesamtheit der Rechtsnormen beschreibt, die zur Durchsetzung des materiellen Rechts dienen. Warum ist das Naturrecht im Naturzustand aber nun hinsichtlich des Exekutionsprinzips unzureichend? 1) Einerseits ist die Möglichkeit, Ge­ genzwang gegen ein Hindernis der Freiheit auszuüben, nicht an eine unwiderstehliche Gewalt862 gebunden, sondern bleibt von der kontingen­ ten Voraussetzung, aus eigener Kraft Widerstand zu leisten, abhängig.863 Deshalb stellt bereits die Möglichkeit, dass eine andere Person unrechtmä­ ßig in meinen Freiheitsbereich eingreifen könnte, eine Verletzung meiner Freiheitssphäre dar.864 Meine Rechte (das Seinige) bleiben also solange „provisorisch“865, wie sie nicht mit Notwendigkeit und damit mit unüber­ windbarem Zwang durchgesetzt werden können.866 Diesem Zustand kann nur dadurch Abhilfe geschaffen werden, dass ich mich mit dieser Person/ diesen Personen in eine rechtliche Gemeinschaft begebe, die mit einer entsprechenden Zwangsgewalt867 ausgestattet ist: „[U]m von seiner Freiheit sicheren Gebrauch machen zu können, [ist] eine unwiderstehliche Gewalt nöthig, die einen gegen den andern 861 So werden auch Kants Aussagen in RL VI, S. 237: im Zusammenhang mit der dritten Ulpianischen Formel verständlich: „denn man kann niemanden etwas geben, was er schon hat.“ 862 Zur Begrifflichkeit vgl. KdU V, S. 260: „Macht ist ein Vermögen, welches gro­ ßen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist.“ 863 So zeichnet sich ein Zwang, der als Hindernis der Freiheit auftritt, häufig gera­ de dadurch aus, dass er eine Gegenwehr durch den Gezwungenen unmöglich macht. 864 ZeF VIII, S. 349 Fn. 865 RL VI, S. 312. 866 Dementsprechend ordnet Kant in RL VI, S. 306 dem rechtlichen Zustand die Modalkategorie der Notwendigkeit zu, während der nicht-rechtliche Zu­ stand Möglichkeit und Wirklichkeit (des Besitzes) umfasst. Hierzu auch Byrd/ Hruschka 2010, S. 58ff. 867 Vgl. RL VI, S. 312: Eine „hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist)“. Der Personenbegriff ist hierbei nicht auf natürliche Personen beschränkt, sondern umfasst auch moralische Personen wie Staaten. Dies lässt die gedankliche Struktur der Argumentation auf die anderen Rechtsbereiche neben dem Staatsrecht (d. h. Völkerrecht und Weltbürgerrecht) übertragbar werden.

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

zwingt, seine Freiheit nach allgemeiner Gesetzmäßigkeit ausüben zu können.“868 2) Andererseits kann ein durch Fremdzwang induzierter Selbstzwang nur eine komparative Form der Selbstverpflichtung hervorbringen, indem Nei­ gungen gegeneinander abgewogen werden. Im Naturzustand wird das vol­ le normative Potenzial des Rechts qua Selbstverpflichtung nicht bzw. nicht notwendigerweise durch den als praktische Vernunft verstandenen Willen ausgeschöpft: Der Wille des anderen, der rechtmäßig zu einer Handlung zwingt, tritt einem im vorstaatlichen Zustand nicht als eigene, sondern als fremde Vernunft gegenüber. Das Staatsrecht als Teil der moralischen Rechtsgesetze muss insbesondere hierauf eine Antwort geben können.869 Im Kontext dieser Defizite wird ersichtlich, dass man bereits „a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes“ dazu verpflichtet ist, sich in einem rechtlichen, d. h. bürgerlichen Zustand zu vereinigen. Dieser bürgerliche Zustand beschreibt „dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter de­ nen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann“.870 Die Idee des Rechtsstaats ist daher Ausdruck der reinen, „a priori gesetzgebende[n] Vernunft“871 und zwar in dem Sinn, dass der Rechtsstaat durch die Verei­ nigung der Rechtssubjekte einerseits eine entsprechende Zwangsgewalt begründet und andererseits einen gemeinsamen Willen (Gemeinwille) konstituiert, an dem der Einzelwille nicht nur Anteil hat, sondern dessen Akte er als seine eigene autonome Gesetzgebung verstehen kann. Fremd­ verpflichtung und Selbstverpflichtung kommen dann überein, wenn man zu etwas gezwungen wird, dem man vorher zugestimmt hat. Diese Syste­ matik gilt es nun, anhand der konkreten Staatskonzeption Kants noch weiter zu konkretisieren.

868 AA XXVII, S. 589. 869 Insbesondere in Abgrenzung zu Kersting 1984, S. 217: „Mit der unmittelbaren Begründung der ‚exeundum‘-Pflicht durch das Rechtsprinzip selbst nimmt Kant von der für den staatsphilosophischen Kontraktualismus wesentlichen Entschei­ dung Abstand, die Verbindlichkeit staatlicher Anordnungen in der Selbstver­ pflichtung der Vertragspartner zu verankern.“ 870 RL VI, S. 305f. 871 GTP VIII, S. 290.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

3.3.3 Der ursprüngliche Vertrag Das Prinzip der bürgerlichen Verfassung ist das öffentliche Recht bzw. die austeilende Gerechtigkeit. Das öffentliche Recht „enthält nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als“ im Naturzustand „gedacht werden können“.872 Die Materie des Rechts bleibt in beiden Zuständen dieselbe: Es gilt das allgemeine Rechtsprinzip und die daraus resultieren­ den Rechte und Pflichten. Was sich durch den Übergang vom nicht-recht­ lichen in den rechtlichen Zustand ändert, ist die Form: „Die Gesetze des letzteren [öffentlichen Rechts] betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze notwendig als öffentliche gedacht werden müs­ sen.“873 Mit Form meint Kant, dass die Notwendigkeit (und damit Nötigung) der Materie des Rechts nicht mehr durch die Gesetzgebung eines in sei­ nem normativen Anspruch allgemeinen, aber in seiner verpflichtenden Wirkung doch einzelnen Willen getragen wird, sondern dass dies durch einen kollektiv verpflichtenden Willen geschieht. In dieser Idee eines das öffentliche Recht konstituierenden Gemeinwillens sieht Kant beide Defizi­ te des Naturzustandes aufgehoben: 1) Das öffentliche Recht beschreibt nämlich den „Zustand einer wirkli­ chen“, dem Rechtsprinzip „gemäßen und mit Macht verbundenen Gesetzge­ bung“.874 Die Macht resultiert aus der Vereinigung des (physischen) Poten­ zials der Individuen, Zwang auszuüben. 2) Es enthält „das formale Prinzip der Möglichkeit“ des rechtlichen Zustandes. Dieses formale Prinzip ist das allgemeine Rechtsprinzip, nach dem die äußere Freiheit des einen mit der äußeren Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetz formal vereinbar ist. Es wird im rechtli­ chen Zustand aber „nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens be­ trachtet“.875 Diese Betrachtungsperspektive ermöglicht es, den Willen des anderen, der rechtmäßig zu einer Handlung zwingt, als Gesetzgebung des eigenen Willens zu verstehen. Wir müssen diesem Gedanken in dreierlei Hinsicht nachgehen: a) im konstituierenden Akt des Gemeinwillens, b) in seinem Inhalt und c) seiner Form.

872 873 874 875

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RL VI, S. 306. RL VI, S. 306f. GTP VIII, S. 292, Hervorhebung B. H. RL VI, S. 306, Hervorhebung B. H.

3. Recht: Rechtliche Freiheit

a) Konstitution des Gemeinwillens: Die Vereinigung des Volkswillens zu einer rechtlichen Staatsgewalt kann ausschließlich dadurch mit der angeborenen rechtlichen Freiheit vereinigt werden, dass sie selbst als „Stif­ tung“876 durch einen rechtlichen Akt – als Vertrag durch gegenseitige, freiwillige Zustimmung – gedacht wird.877 Diesen Akt nennt Kant „den ursprünglichen Vertrag.“878 Er hat den Status einer „Idee der Vernunft“.879 Als solcher darf der Vertragsschluss nicht als historische Tatsache, sondern nur als intelligible Tat verstanden werden.880 Es handelt sich dabei um einen Vertrag sui generis, der sich von allen anderen Verträgen unter­ scheidet.881 Während alle anderen Verträge eine Gruppe von Menschen zu einer Gesellschaft verbinden, deren Ziel es ist, durch den Zusammen­ schluss einen spezifischen Zweck zu erreichen, konstituiert der ursprüngli­ che Vertrag den Rechtstaat, der Zweck an sich selbst ist. Verträge als Mittel zu Zwecken stützen sich auf die Wirklichkeit von gegebenen Zwecken. Die Notwendigkeit der Staatlichkeit könnte sich nur auf einen gemeinsa­ men Zweck stützen, den tatsächlich alle haben. Es gibt für Kant nur einen einzigen solchen Zweck und das ist die Glückseligkeit. Wie wir schon aus der Erörterung des Moralprinzips wissen, kann die Glückseligkeit jedoch aufgrund ihres empirischen Charakters nicht als (allgemeiner und notwen­ diger) Grund für die Staatskonstitution dienen. Die Selbstzweckhaftigkeit des Gesellschaftsvertrages kann nur in einem Zweck liegen, „den jeder ha­ ben soll“: d. h. die Vernunft und die damit verbundene (äußere) Freiheit. Der Rechtsstaat als Ausdruck des formalen Rechtsprinzips ist Selbstzweck, weil er „die oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren [Rechts-]Pflicht“882 darstellt. Der Staat ist deswegen als conditio sine qua non des (Natur-)Rechts zu betrachten, weil er dem Na­ turrecht Notwendigkeit durch Zwang verleiht und zugleich die „formale Realisationsbedingung individueller Autonomie“883 bereitstellt. Es sollte 876 877 878 879 880

GTP VIII, S. 289. Byrd/Hruschka 2010, S. 170. GTP VIII, S. 295. GTP VIII, S. 297. Die vernunftrechtliche Begründung des Staates ist gänzlich unabhängig von seiner faktischen Konstitution, selbst wenn sie auf vollkommener Heteronomie durch Gewalt beruht. 881 Zur Abgrenzung von Kants Konzeption des Vertrags von der Staatsvertragslehre der Neuzeit: Kersting 2004, S. 114f. 882 GTP VIII, S. 289, Hervorhebung B. H. 883 Hirsch 2017, S. 263. Ebenso Kersting 1984, S. 221: „Der Vertrag ist […] der gemeinschaftliche Akt durch den die angeborene Rechtsposition des Menschen und eine mit ihr vereinbare Rechtserwerbpraxis realisiert werden können.“

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

jedoch in diesem Zusammenhang betont werden, dass Geltungs- und Rea­ lisationsbedingungen des Rechts auseinanderfallen: So hat das Naturrecht unabhängig vom Staat Geltung, jedoch ist es zur allgemeinen und notwen­ digen Realisierung dieser Geltung auf den Staat a priori angewiesen.884 b) Inhalt des Gemeinwillens: Bevor wir konkretisieren können, inwiefern der Staat als Realisationsbedingung individueller Autonomie dienen kann, gilt es, nochmals den Blick auf das zu lenken, was der Staat materiell über­ haupt realisieren soll: Der Inhalt des öffentlichen Rechts ist das allgemeine Rechtsprinzip und die davon ableitbaren Rechte und Pflichten. In dieser Hinsicht ist es „der Inbegriff der äußeren Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung [der Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetz, B. H.] möglich machen.“885 Der Übergang vom nicht-rechtlichen in den rechtlichen Zustand bedeutet also nicht, dass die Menschen auch nur einen Teil ihrer „angeborenen äußeren Freiheit“ und erworbenen Rechte verlieren würden. Wie Kant in deutlicher Anlehnung an Rousseau schreibt, geben vielmehr „alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit auf[…], um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat be­ trachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen“. Was nichts anderes bedeutet, als „seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängig­ keit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eignen gesetzgebenden Willen entspringt.“886 Der Mensch gewinnt im Staat jedoch auch keine Rechte hinzu in dem Sinn, dass das Naturrecht um weitere Prinzipien ergänzt werden würde.887 Vielmehr realisiert sich das Recht in einer anderen Form.

884 Diesen Punkt scheint Horn 2014, S. 234 leider zu übersehen, wenn er zwar rich­ tig feststellt, dass Kant „das Bestehen einer bürgerlichen Ordnung zur notwen­ digen Bedingung für alle weiteren äußeren Pflichten“ erklärt, davon allerdings ableitet, dass die äußeren Rechtspflichten „erst innerhalb der Rechtsordnung generiert“ würden. 885 GTP VIII, S. 290. 886 RL VI, S. 315f, ursprüngliche durch neue Hervorhebung ersetzt. Wie Unruh 2016, S. 174 geltend macht, verändert sich durch den Übergang in den rechtli­ chen Zustand im Gegensatz zu Rousseau bei Kant auch nicht die moralische Qualität des Menschen. 887 Vgl. Ludwig 1988, S. 168 Fn.

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

c) Form des Gemeinwillens: Wie wir bereits betont haben, besteht der Zu­ gewinn der rechtlichen Form durch den Rechtsstaat in der Konstitution ei­ nes Gemeinwillens. Wie kann dieser allerdings das autonomietheoretische Problem von Selbstverpflichtung durch Fremdverpflichtung lösen? Der Wille, der mich verpflichtet, mich im Sinne des Rechtsprinzips rechtlich zu verhalten, darf nicht der Ausdruck fremder, sondern muss Ausdruck eigener Vernunft sein. Diese Selbstverpflichtung der Rechtssubjekte wird im Gemeinwillen dadurch hergestellt, dass in ihm alle Einzelwillen in der Einheit eines gemeinsamen Willens vereinigt sind. Das hat zur Folge, dass zwar „alle über alle“, aber damit auch „ein jeder über sich selbst beschließt“.888 Unter der Bedingung der Einheit der Willen in Einstimmig­ keit ist jedes Rechtssubjekt als Teil des gemeinsamen gesetzgebenden Wil­ lens Verpflichtender und zugleich diesem kollektiven Willen Verpflichte­ ter: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Vol­ kes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen Anderen verfügt, immer mög­ lich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt […]. Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille Aller, sofern ein jeder über Alle und Alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemeine vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“889 Diese Idee expliziert folglich die angeborene äußere Freiheit als Prinzip jeglicher positiven Gesetzgebung. Sie transformiert die negative rechtli­ che Freiheit (Unabhängigkeit) in eine positive rechtliche Freiheit (Auto­ nomie), indem ich als rechtliches Subjekt im Staat befugt bin, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“890 Die Idee „verbindet“, d. h. verpflichtet jeden Ge­ setzgeber dazu, „daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammengestimmt habe.“891 888 889 890 891

GTP VIII, S. 294. RL VI, S. 313. ZeF VIII, S. 350, RL VI, S. 313f. GTP VIII, S. 297.

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Die einstimmige Einwilligung zu einem Gesetz bleibt jedoch, wie der durchgehende Konditionalis im Zitat verrät, nur ein gedachter Akt. Sie ist unabhängig von der faktischen Zustimmung aller potentiell Betroffenen. Auch ist sie an keinerlei demokratische Institutionalisierung der Volkssou­ veränität gebunden. Selbst wenn ein „Volk jetzt in einer solchen Lage oder Stimmung seiner Denkungsart wäre, daß es, wenn es darum befragt würde, wahrscheinlicherweise seine Beistimmung verweigern würde“892 – selbst dann müsste unter der Bedingung der bloßen denkbaren Möglich­ keit der Zustimmung, das Gesetz als rechtmäßig angenommen werden. Entscheidend ist jedoch, diese denkbare Zustimmung als pflichtmäßigen Akt aus Pflicht zu verstehen: Wie würden die Betroffenen entscheiden, wenn sie vernünftig wären. Den gesamten, damit verbundenen normati­ ven Gehalt von Vernünftigkeit auszuschöpfen, bedeutet, sich nicht allein durch das vernünftigerweise Notwendige objektiv (Dijudikation), sondern auch subjektiv (Exekution) zur Handlung bestimmen zu lassen. Erst also in der Idee des Staates werden die Defizite des Naturrechtes (zumindest gedanklich) aufgehoben, indem das dem Naturrecht entsprechende positi­ ve Recht als Ausdruck einer unbedingten moralischen Selbstverpflichtung verstanden werden kann. Diese Idee ist jedoch mehr als ein bloßes Ideal. Sie ist für Kant eine „ewi­ ge Norm“ 893 und hat „unbezweifelte (praktische) Realität“.894 Ihre Realität liegt darin, dass sie die notwendige gedankliche Voraussetzung ist, vor der sich jedes legitime staatliche Handeln vollziehen muss, wenn es bean­ sprucht, moralisch, vernünftig und folglich „mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmend“895 zu sein. So verstanden, handelt es sich um den „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“896, zu dessen Realisierung der Gesetzgeber moralisch verpflichtet ist. Die materiellen Grundlagen des Gedankenexperiments können dabei nur das allgemeine Rechtsprinzip und die daraus ableitbaren Rechte und Pflichten sein.897 Folglich ist auch das gedankliche Gemeinwillensexperi­ ment – wie das Recht überhaupt – nur eine negative Begrenzung der

892 GTP VIII, S. 297. 893 SdF VII, S. 91. Ebenso RL VI, S. 313: Der Staat ist eine Idee, „wie er nach rei­ nen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (als im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.“ 894 GTP VIII, S. 297. 895 SdF VII, S. 90. 896 GTP VIII, S. 297. 897 Vgl. Ripstein 2009, S. 207f, 26: „the only fact relevant to determining whether citizens could give themselves a certain law is the question of whether it is

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

möglichen Zwecke des Gemeinwillens und damit der positiven Gesetzge­ bung.898 Die moralische Verpflichtung durch den ursprünglichen Vertrag hat jedoch nicht den reziproken Charakter, den man für ein Prinzip inner­ halb der Rechtslehre erwarten würde bzw. müsste. Das bedeutet konkret, dass das Gedankenexperiment der möglichen Zustimmung aller nicht er­ zwingbar ist, sondern nur von der Bedingung abhängig ist, dass es der Ge­ setzgeber aus Pflicht verfolgt. Aus diesem Gedanken folgt das berüchtigte kategorische Widerstandsverbot Kants. Die faktische Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Idee versucht Kant bekanntermaßen durch eine teleologische Geschichtsphilosophie aufzuheben.

3.4 Zwischenfazit Wie lassen sich Freiheit und Notwendigkeit vereinbaren? Unsere Leitfrage tritt in der Politik, die für Kant untrennbar mit der Frage des Rechts ver­ bunden ist, in besonderer Prägnanz und Anschaulichkeit zu Tage: Denn unser gesellschaftliches Zusammenleben vollzieht sich stets vor dem Hin­ tergrund einer bestimmten Normenstruktur; eine Normenstruktur, die in der Moderne maßgeblich durch die Institution des Staates und dessen positive Gesetze repräsentiert wird. Kant fragt danach, was diese Gesetze jenseits ihrer reinen Faktizität, qua (physischen) Zwang durchgesetzt wer­ den zu können, legitimiert. Diese normative Grundlage nennt Kant Natur­ recht. Die Begründung hierfür kann, wie wir gesehen haben, nur in der Vernünftigkeit der Gesetze selbst und damit dem moralischen Gesetz als einzigem praktischen Erkenntnisprinzip überhaupt liegen. Die Frage des Rechts wird somit zu einer moralischen Frage: Notwendigkeit bedeu­ tet in praktischer Hinsicht für ein endliches Wesen wie den Menschen immer Nötigung, Nötigung seiner Willkür durch Pflicht. Diese Pflicht kann, wenn sie als moralische auftritt, ausschließlich als Selbstverpflich­ tung verstanden werden. Hierin besteht nun allerdings auch die zentrale Problematik der kantischen Rechtslehre: Das Naturrecht verpflichtet uns, es moralisch, d. h. aus Selbstverpflichtung zu befolgen. Allerdings ist es

consistent with their entitlement to exercise their freedom consistent with the entitlement of others to do so.“ 898 Vgl. Kersting 1984, S. 223: Das Vertragsprinzip „sondert aus der Menge der möglichen Gesetze diejenigen aus, die der Gerechtigkeitsnorm widersprechen; die anderen sind rechtmäßig und müssen als gerecht gelten.“

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II. Kant: Die Vereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

darauf nicht beschränkt: Es soll ja gerade die Möglichkeit der Ausübung von Zwang, durch welche das positive Recht gekennzeichnet ist, an eine normative Dimension und damit einen Maßstab für die Befugnis zur Fremdverpflichtung rückbinden. Wenn Moralität aber auf Selbstverpflich­ tung beruht, wie kann dann Fremdverpflichtung moralisch sein? Wenn beide Momente übereinkommen sollen, könnte man in einer ersten Annä­ herung sagen, dass man eine Person nicht zu mehr verpflichten kann, als sie sich selber verpflichten kann. Weiter muss man sich allerdings fragen: 1) Zu was kann man zwingen? und: 2) Zu was soll man zwingen?“ 1) Die Antwort auf die erste Frage ist durch die Erkenntnistheorie vor­ strukturiert. Man kann nur das erzwingen, was einem epistemologisch zugänglich ist. Zugänglich sind allerdings nur Handlungen in der Erschei­ nung, sowohl die eigenen als auch die Handlungen anderer. Das klingt im ersten Moment trivial, ist es aber durchaus nicht: Zwang kann sich nämlich einerseits nur auf äußere Handlungen und damit nicht auf innere Handlungen wie die der Zwecksetzung beziehen. Damit werden Mittel zu Zwecken erzwingbar (im positiven wie im negativen Sinn), aber nicht Zwecke als solche. Andererseits kann Zwang nur ebenfalls sinnliche An­ triebe induzieren und damit keine äußere Handlung aus Pflicht erzwin­ gen. Recht hat folglich einen strikt begrenzten Gegenstandsbereich: Rechts­ pflichten nötigen zu äußeren Handlungen, ohne einen positiven Zweck der Handlung vorzuschreiben und ohne die Pflichtmäßigkeit der Handlung aus Pflicht zu fordern. 2) Die Antwort auf die zweite Frage schließt unmittelbar an unsere Überlegungen zur praktischen Philosophie an. Der einzige praktische Er­ kenntnisgrund, der einem endlichen Vernunftwesen zugänglich ist, ist das moralische Gesetz. Es ist Ausdruck der eigenen Freiheit. Wenn also Zwang moralisch gerechtfertigt sein soll, dann kann er nur Ausdruck menschli­ cher Freiheit sein. Die Freiheit, die in den Gegenstandsbereich des Rechts fällt, kann aufgrund der erkenntnistheoretischen Restriktionen nur eine äußere Form der Freiheit darstellen, die sich in der Sinnenwelt vollzieht. Ebenso kann auch nur die Form der Freiheit zum Gegenstand eines all­ gemeinen und notwendigen moralischen Gesetzes gemacht werden. Mit Form ist hierbei die Vereinbarkeit der Freiheitssphären der Rechtssubjekte gemeint, die Einfluss aufeinander ausüben. Das moralische Kriterium des Rechts ist die Begrenzung der äußeren Freiheitssphären auf einen gleich großen Bereich, der die Freiheit aller miteinander vereinbar macht. Diese Vereinbarkeit kann jedes vernünftige Subjekt wollen. Diese Argumentation bleibt jedoch unvollständig, solange eine Recht­ fertigung der Notwendigkeit des Staates und seiner positiven Gesetze noch

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3. Recht: Rechtliche Freiheit

aussteht. Der Staat wird von Kant durch ein zweifaches Defizit des Natur­ rechts begründet: Einerseits lässt sich zwar aus dem Naturrecht Zwang legitimieren, bzw. das Recht ist als solches identisch mit Zwang, aber die Durchsetzung des Zwangs bleibt von kontingenten Voraussetzungen abhängig. Andererseits kann die Fremdverpflichtung durch Zwang eines anderen solange nicht als Selbstverpflichtung aufgefasst werden, wie sie nicht als Ausdruck des eigenen Willens verstanden werden kann. Im Ge­ danken der Einheit eines vereinigten Willens aller hebt der Staat diese Mängel auf. Diese Aufhebung hat jedoch ihren Preis: Dem Staat wird eine vorempirische Legitimität zugebilligt, die unabhängig von seiner realen Ausformung besteht.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

1. Wissen: Unbestimmte Freiheit Analog zu Kant bedarf es zur Situierung von Foucaults Freiheitsbegriff einer entsprechenden Einordnung in die Logik des Gesamtwerks. Diese wollen wir durch eine von ihm vorgenommene Selbstbeschreibung rekon­ struieren. So bezeichnet er seinen Ansatz in allgemeinster Form als „kriti­ sche Geschichte des Denkens“.899 Die Charakterisierung enthält in nuce alle wichtigen Elemente seiner Philosophie. Um uns einen ersten Zugang zu erschließen, müssen wir klären: Was ‚Denken‘900 für Foucault bedeutet (1.1.1) und worin das ‚Kritische‘ dieser Geschichte besteht (1.1.2).

1.1 Wissen innerhalb einer kritischen Geschichte des Denkens 1.1.1 Denken Während Kant den Begriff des Denkens in einem spezifischen Sinn ver­ wendet, der die bewusste und spontane Tätigkeit des Verstandes von der Sinnlichkeit abgrenzt, fasst Foucault den Begriff in seinem größtmög­ lichen Umfang: Denken (pensée) wird als Handlung bzw. „Akt“ (acte) begriffen; als Akt, „der ein Subjekt und ein Objekt in all ihre verschie­ 899 Foucault 1994, S. 699. Es handelt sich hierbei um einen Beitrag im Dictionnaire des philosophes, den Foucault unter dem Pseudonym Maurice Florence selbst verfasst hat. Ursprünglich war der Beitrag ein Teil der Einleitung zum zweiten Band II der Histoire de la sexualité (DE IV, S. 776). Der Begriff des Denkens und die Absicht eine Geschichte des Denkens zu schreiben, ist bei Foucault stets präsent. Exemplarisch: RSA, S. 14, DE I, S. 1069. 900 Man könnte auch wahlweise an dem Begriff der ‚Erfahrung‘ ansetzen, den Foucault analog zum Begriff des ‚Denkens‘ zu verwenden scheint – RSA, S. 15: „mit ‚Denken‘ meinte ich eine Analyse dessen, was man die Brennpunkte der Erfahrung nennen könnte, an denen sich die einen gegenüber den anderen artikulieren“. Erfahrung definiert Foucault in SW2, S. 10 als „Korrelation […], die in einer Kultur zwischen Wissensbereichen, Normativitätstypen und Subjek­ tivitätsformen besteht.“ Wie wir sehen werden, entspricht dies dem Konzept des Denkens.

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1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

denen möglichen Beziehungen zueinander setzt“.901 Ein so verstandenes Denken lässt sich „in all den Weisen des Sagens, des Tuns und des Sichver­ haltens“ finden.902 Es umfasst dementsprechend die Tätigkeit des Verstan­ des und die Sinnlichkeit sowie das theoretische und praktische Moment des Denkens (Erkennen und Handeln) gleichermaßen.903 Der allgemeine Möglichkeitsbereich des Denkens ist durch die realisierbaren Konfiguratio­ nen von Subjekt und Objekt bestimmt. In einer ersten Annäherung kann man diesen Möglichkeitsbereich als den Kern von Foucaults Freiheitsbe­ griff bestimmen.904 Dabei sind grundsätzlich drei verschiedene Modi des Subjekt-Objekt-Verhältnisses möglich, die den drei Arten von Denkakten (Sagen, Tun und Sichverhalten) entsprechen. Diese Modi des Denkens gliedern Foucaults Analyse in drei Gegenstandsbereiche: Wissen als Bezie­ hung zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt (1), Macht als Ausdruck des Verhältnisses zwischen Machtsubjekt und -objekt (2) und Moral als Ausdruck der Beziehung des moralischen Subjekts zu sich selbst als Objekt (3).905 Offen bleibt, worin diese Akte des Denkens wurzeln. Wie wir noch sehen werden, besteht diese Leerstelle nicht zufällig. Festhalten kann man aber vorläufig, dass die für Kant zentrale Eigenschaft des Denkens, ein Vermögen zu sein, bei Foucault vollkommen hinter dessen relationalem Charakter zurücktritt. Dies lässt sich in Bezug auf die Analyse der drei Gegenstandsbereiche noch konkretisieren: 1) durch die Fokussierung auf die Wirklichkeit des Denkens und 2) auf dessen Medium. 1) Wirklichkeit des Denkens: Die Gegenstandsbereiche werden nun nicht wie bei Kant auf die (logische und reale) Möglichkeit, d. h. hinsichtlich

901 Foucault 1994, S. 699, Hervorhebung B. H. 902 DE IV, 709f, Hervorhebung B. H. 903 Besonders deutlich in Foucault 1994, S. 702. Foucault wendet sich damit immer wieder entschieden gegen die Trennung zwischen einer Geschichte des Verhal­ tens und einer Geschichte der Ideen. So z. B. in DE IV, S. 421 oder auch in DE IV, S. 964: „Wir alle sind lebende und denkende Subjekte. Wogegen ich mich wende, ist die These, dass zwischen der Sozialgeschichte und der Geistesgeschichte [l’histoire des idées] ein Bruch bestehe. Demnach soll die Sozialgeschichte beschreiben, wie Menschen handeln ohne zu denken, und die Geistesgeschichte soll beschreiben, wie Menschen denken ohne zu handeln. Aber jeder Mensch handelt und denkt zugleich. Das Handeln und die Reaktio­ nen von Menschen sind mit ihrem Denken verknüpft, und natürlich ist das Denken mit der Tradition verbunden.“ 904 Vgl. Lepold 2014, S. 304. Gilson 2014, S. 77ff spricht in Bezug auf Foucaults Freiheitsbegriff durchaus treffend von „ontological mobility“, ohne allerdings zu erläutern, worin diese ontologische Mobilität genau besteht. 905 DE IV, 705, 709, 759. Hierzu exemplarisch Vogelmann 2017, S. 4.

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ihrer Widerspruchsfreiheit und Wahrheitsfähigkeit, sondern auf die ge­ schichtliche Wirklichkeit des Denkens hin untersucht. Möglichkeit und Wirklichkeit stehen für Foucault dabei insofern in Widerspruch zueinan­ der, als er davon ausgeht, dass die „Art, wie Menschen wirklich denken, […] sich nicht angemessen mit universellen logischen Kategorien erschlie­ ßen [lässt].“906 Dementsprechend ist die Wirklichkeit des Denkens auch nicht auf formalisierte Wissensbereiche beschränkt, wie sie in den Wissen­ schaften oder der Philosophie zu finden sind, da man hier aufgrund des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit annehmen könnte, dass diese Bereiche der Logik in besonderem Maße entsprechen. Denken ist omnipräsent und wie man zu einem spezifischen geschichtlichen Zeitpunkt gedacht hat, ist für Foucault ebenso in den großen philosophischen Reflexionen wie in den vermeintlich randständigen Bereichen zu finden. Gerade in letzteren tritt es für Foucault in einer größeren Deutlichkeit zutage907: „Darum habe ich offenbar auf eigenartige Weise versucht, die Ge­ schichte nicht des Denkens im Allgemeinen, sondern all dessen zu schreiben, was in einer Kultur ‚Denken enthält‘, worin es Denken gibt. Denn Denken findet sich nicht nur in der Philosophie, sondern auch in einem Roman, in der Rechtsprechung, im Recht und selbst in einem Verwaltungssystem, einem Gefängnis.“908 2) Medium des Denkens: Die Formulierung – „was […] Denken enthält, worin es Denken gibt“ – deutet den zweiten wichtigen Aspekt an. Das Denken ist uns nur durch etwas Anderes als es selbst zugänglich; etwas, das sich seiner unbedingten Spontanität im kantischen Sinne entzieht. Es

906 DE IV, S. 960, Hervorhebung B. H. 907 Vgl. OD, S. 372: „Nur diejenigen, die nicht lesen können, werden staunen, daß ich es klarer bei Cuvier, Bopp und bei Ricardo als bei Kant oder Hegel verstanden habe.“ Ebenso: AW, 254f. Diesen Punkt machen Rajchman 1985, S. 99f und Waldenfels 1983, S. 516 stark. 908 DE I, S. 651f, Hervorhebung B. H.

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bedarf stets eines Mediums.909 Für Foucault manifestiert sich Denken in dem, was er Praktiken nennt.910 Unter Praktiken versteht er generell den „Ort der Verknüpfung [...] zwischen dem, was man sagt und dem, was man tut, den Regeln, die man sich auferlegt und den Gründen, die man gibt, den Projekten und den Evidenzen.“911 Man kann also sagen, dass Praktiken „Formen […] des Denkens“912 sind. Je nachdem, ob man sich auf das Gesagte (‚was man sagt‘) oder im engeren Sinn Getane (‚was man tut‘) fokussiert, kann man von diskursiven oder nicht-diskursiven Praktiken sprechen.913 Diese Unterscheidung ist jedoch weitestgehend analytisch, insofern man das Sprechen auch als ein noch genauer zu erläuterndes Tun verstehen kann.914 Entscheidend ist vielmehr

909 In dem Sinn hat Foucault, wie Frank 1984, S. 124 deutlich macht, Anteil am Strukturalismus bzw. am linguistic turn: „die Grundeinsicht des Strukturalis­ mus (die vielleicht identisch ist mit der Grundeinsicht der gesamten klassischen Philosophie, sofern sie am lingustic turn teilhat) besagt, daß es in der Welt keine Gedanken an sich gibt und daß Gedanken zu ihrer Distinktion der Strukturie­ rung des Ausdrucksmaterial bedürfen.“ In die gleiche Richtung argumentiert auch Bublitz 2003a, S. 29ff. 910 Zur Bedeutung des Praxisbegriffs: Macherey 1991, S. 186f, Veyne 2003, S. 36f, Veyne 2010, Djaballah 2008, S. 217ff, Bublitz 2003a, S. 21. Im Anschluss an Fou­ cault und andere Theoretiker hat sich in den Sozialwissenschaften mittlerweile ein ‚Practice Turn‘ in der Sozialtheorie entwickelt. Einen guten Überblick über das einende Moment dieser Theorien gibt: Reckwitz 2003, S. 289ff. 911 DE IV, S. 28. 912 Foucault 1994, S. 702. 913 Nicht-diskursive Praktiken umfassen „Institutionen, politische Ereignisse, öko­ nomische Praktiken und Prozesse“ (AW, S. 231). Wie Foucault in DE III, S. 396 bemerkt, ist ein weit gefasster Institutionenbegriff mit nicht-diskursiven Prak­ tiken deckungsgleich: „Das, was man allgemein ‚Institution‘ nennt, ist jedes mehr oder weniger erzwungene, erworbene Verhalten. Alles das, was in einer Gesellschaft als Zwangssystem funktioniert, ohne dass es eine Aussage ist, zu­ sammengefasst, das gesamte nicht diskursive Soziale, ist die Institution.“ 914 Vgl. AW, S. 298: „Sprechen [heißt] etwas tun […] – etwas anderes, als das auszu­ drücken, was man denkt, das zu übersetzen, was man weiß, etwas anderes auch, als die Strukturen einer Sprache spielen zu lassen“. Für Foucault bedeutet es, „zu zeigen, daß eine Aussage einer bereits vorher existierenden Folge von Aussa­ gen hinzuzufügen heißt, eine komplizierte und kostspielige Geste zu tun, die Bedingungen impliziert (und nicht nur eine Situation, einen Kontext, Motive) und die Regeln umfaßt (die von den logischen und sprachlichen Konstruktions­ regeln verschieden sind)“. Zur Bedeutung der Unterscheidung: DE III, S. 396. Wie sich exemplarisch in DE III, S. 164 zeigt, weitet Foucault den Diskursbe­ griff teilweise über die im engeren Sinn verstandenen diskursiven Praktiken hinaus aus: „Der Diskurs ist ganz genauso in dem, was man nicht sagt, oder was

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die sich hierin manifestierende Funktionsweise des Denkens: an den Prak­ tiken wird deutlich, welche Verhältnisse sich zwischen Subjekt und Objekt konstituieren. Das Konzept der Praktik spezifiziert zugleich den methodi­ schen Zugriff: Es ist die einfache Beschreibung dessen, was man tut oder getan hat.915 Eine Praktik wird nicht als etwas behandelt, das auf etwas anderes als sie selbst verweisen würde, sondern als „Positivität“.916 Die Posi­ tivität bezeichnet einerseits das Faktum des historischen Erscheinens917 des Denkens in seiner materiellen Existenz als Praktik; und andererseits die Tatsache seines gesellschaftlichen „Akzeptiertseins“918 als Ermöglichungs­ grund der Praktik. Will man beispielsweise erforschen, was das Konzept Strafe bedeutet, so muss man fragen, wie man straft.919 Dieses ‚Wie‘ lässt sich durch den Rekurs auf die Mannigfaltigkeit der tatsächlich vollzogenen Arten und Weisen des Strafens beantworten. Man fragt nicht nach einem Sinn hinter dem Strafen, sondern untersucht eben die Praktik des Strafens selbst. Hier­ zu kann man natürlich wissenschaftliche oder philosophische Abhandlun­ gen über das Thema heranziehen, man kann aber ebenso jene Quellen

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sich in Gesten, Haltungen, Seinsweisen, Verhaltensschemata und Gestaltungen von Räumen ausprägt. Der Diskurs ist die Gesamtheit erzwungener und erzwin­ gender Bedeutungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse durchziehen.“ Zur Untrennbarkeit von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken: Bublitz 1999, S. 85. In großer Klarheit beschreibt das Veyne 1999, S. 22: „Die Praktik ist keine mysteriöse Instanz, keine Basis der Geschichte, keine verborgene Triebkraft: sie ist, was die Leute tun (das Wort sagt genau, was es sagen will).“ AW, S. 182. Foucault versucht in AW, S. 14 diese Überlegungen am Verhältnis von Dokument und Monument zu veranschaulichen. Während man traditio­ nell in der Geschichtswissenschaft aus Monumenten Dokumente macht, ver­ fährt die historische Epistemologie, in die sich Foucault einreiht, umgekehrt: sie macht aus Dokumenten Monumente. Das Konzept der Positivität ist weit über eine vermeintlich abgeschlossene archäologische Phase hinaus sachlich und begrifflich präsent: So bspw. WK, S. 34. Woher der Begriff der Positivität kommt und wie er theoretisch genau zu verorten ist, ist umstritten. Agamben 2008, S. 11f verweist auf eine mögliche Herkunft des Begriffs bei Hegel; Balke 2008, S. 247 auf eine Entgegensetzung zu Bachelards Erkenntnishindernissen. Vgl. GdK, S. 15. WK, S. 34. In SG, S. 146 wird deutlich, dass die Frage der Akzeptanz für Fou­ cault keineswegs auf diskursive Praktiken beschränkt ist. Vgl. DE IV, S. 27. Dass dieser Verschiebung des „Was“ zum „Wie“ eine bewusst anti-platonische Haltung zugrunde liegt, bemerkt Miklenitsch 2015, S. 187ff. Diese Haltung eint Foucault übrigens mit Deleuze 2007, S. 240 und dem späten Wittgenstein, der die klassisch philosophischen Was-Fragen bekanntermaßen ebenso für verfehlt hält: Wittgenstein 2008, S. 60f.

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studieren, die näher ‚am Geschehen‘ gewesen sind: d. h. Institutionen wie das Gefängnis, in denen sich das Strafen vollzogen hat und die den Vor­ gang minutiös protokollierten.

1.1.2 Kritik Der entscheidende Gedanke, der zum kritischen Moment innerhalb dieser Geschichte des Denkens überleitet, ist folgender: Wie wir gesehen haben, ist das Denken auf ein Medium angewiesen. Diesem Medium ist eine Logik immanent, welche nicht auf die formalen Gesetze des Denkens reduzierbar ist. So entsprechen beispielsweise die Regeln des Denkens nicht den Strukturen der Sprache. Die Sprache hat eine eigene Struktur. Aber selbst wenn man die Restriktion des Denkens durch die Eigenlogik des Mediums (z. B. der Sprache) miteinbezieht, so sind die tatsächlich realisierten Praktiken des Handelns und Erkennens zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt darüber hinaus limitiert. Das bedeutet, es realisieren sich nie alle möglichen Praktiken und damit auch nie alle möglichen Rela­ tionen von Subjekt und Objekt. Folglich ist das Denken selbst in seiner historischen Wirklichkeit stets beschränkt. Diese Limitierung ist Foucaults genuiner Untersuchungsgegenstand, den er kritisch erfassen will.920 Es lassen sich hierbei 1) ein normativ-präskriptiver, und 2) ein deskriptiv-ana­ lytischer Gesichtspunkt der Kritik unterscheiden.921 920 Dieser Gedanke wird besonders in AW, S. 172f deutlich. Foucault spricht hier vom „Gesetz der Seltenheit“: Die Analyse der diskursiven Praktiken „beruht auf dem Prinzip, daß nie alles gesagt worden ist. Im Verhältnis zu dem, was in einer natürlichen Sprache hätte ausgesagt werden können, im Verhältnis zu der unbegrenzten Kombinatorik der sprachlichen Elemente, sind die Aussagen (wie zahlreich sie auch immer sein mögen) stets im Defizit.“ Er ist jedoch noch früher in WG präsent, wie Foucault recht deutlich in einer Diskussion (DE I, S. 522) bestätigt: „Könnte man im Großen und Ganzen nicht Folgendes sagen: Es gibt keine Kultur, die sich nicht selbst ihre Grenzen setzt? Beispielsweise kann eine Kultur nicht eine völlige Freiheit der sexuellen Verhaltensweisen zulassen. Es werden immer welche eliminiert, welche auch immer, der Inzest, der … Eine Kultur setzt sich ebenfalls Grenzen, was, in sehr einfachen Worten gesagt, das Verhalten der Leute angeht. Es gibt eine gewisse Anzahl von Ver­ haltensweisen, die ausgeschlossen sind. Also, wenn Sie so wollen, unablässig ist es eine Grundstruktur einer jeden Kultur, auszuschließen, zu begrenzen, zu untersagen etc.“ Zu diesem Topos in Foucaults Denken auch Frank 1984, S. 228. 921 Butler 2002, S. 251 betont vor allem den normativen Aspekt, indem sie die These aufstellt, dass Foucault hier einen „wichtigen Beitrag zur normativen

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1) normativ-präskriptiver Aspekt: Dieses normative Moment expliziert Foucault zum ersten Mal systematisch 1978 in einem Vortrag, der später unter dem Titel „Was ist Kritik?“ veröffentlicht wurde und dessen Inhalt er immer wieder aufgreift und präzisiert.922 Besonders interessant für unsere Zwecke ist, dass er Parallelen zwischen dem Konzept der Kritik in seiner weiten alltäglichen Bedeutung und der kritischen Transzendentalphiloso­ phie Kants zieht. Das Konzept wird dabei zuerst allgemein bestimmt: Kri­ tik ist keine Theorie, sondern primär eine „Haltung“ bzw. eine „Tugend im allgemeinen“.923 Später spricht Foucault häufig von einem „ethos“.924 Die Besonderheit einer solchen kritischen Haltung besteht darin, dass sie stets „nur im Verhältnis zu etwas anderem als sie selbst“ existiert.925Dieser relationale Charakter der Kritik bedeutet, dass sie sich ausschließlich nega­ tiv entfalten kann. Sie ist dem anderen entgegengerichtet; problematisiert, aber proklamiert kein eigenes Ziel.926 Was sie sein kann, ist ihr durch das andere gegeben. Zuerst wollen wir beleuchten, a) wogegen sich die Kritik richtet, um dann zu bestimmen, b) was die Kritik selbst ist. a) das andere der Kritik: Was ist dieses andere für Foucault? In seiner allgemeinsten Form kann man es wohl als das Postulat bezeichnen, dass

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Theorie leistet“. Dass Foucault jedoch sowohl den deskriptiven als auch den normativen Aspekt seiner Methode in Bezug auf Kant entwickelt, bleibt dabei jedoch häufig unbemerkt: Djaballah 2008, S. 12f. Insbesondere im Zuge zweier Vorlesungen zur Regierung des Selbst und der anderen (RSA, S. 13ff) und in einem kurzen Aufsatz mit dem Titel „Was ist Aufklärung?“ (DE IV, S. 687ff). WK, S. 8f, DE IV, S. 706f. Diese Haltung definiert Foucault in DE IV, S. 695 wie folgt: „Mit Haltung meine ich einen Beziehungsmodus im Hinblick auf die Ak­ tualität; eine freiwillige Wahl, die von einigen getroffen wird, und schließlich eine Art und Weise zu denken und zu fühlen, und auch eine Art und Weise zu handeln und sich zu verhalten, die zugleich eine Zugehörigkeit bezeichnet und sich als eine Aufgabe darstellt.“ DE IV, S. 695. WK, S. 8f. Exemplarisch DE IV, S. 727f: „Es stimmt, dass meine Haltung nicht zu jener Form von Kritik gehört, die unter dem Vorwand einer methodischen Überprü­ fung alle möglichen Lösungen zurückweisen würde, außer einer, welche die richtige wäre. Sie gehört eher zum Gebiet der ‚Problematisierung‘: das heißt der Ausarbeitung eines Bereichs von Tatsachen, Praktiken und Denkweisen, die der Politik Probleme zu stellen scheinen. Ich denke beispielsweise nicht, dass es irgendeine ‚Politik‘ gäbe, die hinsichtlich des Wahnsinns oder der Geisteskrank­ heit die richtige und endgültige Lösung beinhalten könnte.“ Hierzu auch Butler 2002, S. 252. So scheint auch die Einschätzung von Geuss 2003, S. 148 inadäquat zu sein, wenn er behauptet die Kritik bei Foucault wäre nicht im Wesentlichen ein Nein-Sagen.

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die Begrenzung des Denkens notwendig sei. Es liegt im Begriff des Not­ wendigen, das Mögliche zu beschränken. In objektiver Hinsicht ist die Notwendigkeit dem Zufall, in subjektiver Hinsicht der Freiheit entgegen­ gesetzt. Denken und dessen Freiheit ist für Foucault durch das Mögliche bestimmt.927 Ausgehend von dieser Definition des Denkens muss jede Form von Notwendigkeit als Zwang erscheinen, welcher der Freiheit des Denkens entgegensteht. Dies trifft natürlich insbesondere auf die Meta­ physik zu, insofern man sie als die Suche nach allgemeinen und notwen­ digen Letztbegründungen versteht. Ein solcher Anspruch wird konsequen­ terweise radikal verneint.928 Auch bei Kant gibt es, wie wir gesehen haben, einen Zusammenhang zwischen Notwendigkeit und Zwang. Diese Notwendigkeit kann jedoch aufgrund der Transparenz des Denkens sich selbst gegenüber – in der Erkenntniskritik, im kategorischen Imperativ und im Rechtsprinzip – in letzter Konsequenz als Selbstzwang verstanden werden. Bei Foucault kann das Denken sich selbst aufgrund seiner Angewiesenheit auf ein Medium nie ganz transparent werden. Denn dieses Medium ist immer schon gesell­ schaftlich vermittelt. Es entzieht sich folglich der Selbsttätigkeit des Sub­ jekts: Sprechen bzw. Erkennen, Handeln und Sichverhalten sind kollektive Praxen.929 Notwendigkeit muss somit immer einen Rest an Intransparenz enthalten, den man als externen Zwang und somit Machteffekt auffassen kann. Ausgangspunkt für die Untersuchung der Geschichte des Denkens ist also die Frage danach, welche Machteffekte mit dem Denken verbun­ den waren und sind.930

927 Zur Bedeutung des Möglichen für Foucault gegenüber dem Notwendigen und Wirklichen: Rustemeyer 2004, S. 78. 928 Frank 1984, S. 35ff stellt den Neostrukturalismus in den breiteren Kontext der Metaphysik-Kritik. Zur Metaphysik-Kritik bei Foucault: Suárez Müller 2008, S. 17ff. 929 Vgl. DE II, S. 598: Man muss „die produktive Fähigkeit der Erkenntnis als kollektive Praxis analysieren und die Einzelnen und ihre Erkenntnis in die Entwicklung eines Wissens einordnen, das sich zu einer bestimmten Zeit nach bestimmten Regeln vollzieht, die man registrieren und beschreiben kann.“ Zu diesem zentralen Gedanken bei Foucault, Thomä 2014, S. 123: „Die Menschen sind in dem Maße, wie sie in die Sprache eingelassen oder der Sprache ausgelie­ fert sind, des Ursprung[s] beraubt, welcher ihnen zu einer souveränen Position verhelfen könnte“. 930 Vgl. WK, S. 30: „Anstatt über das Problem der Erkenntnis könnte diese [andere Vorgehensweise, B. H.] über das Problem der Macht in die Frage der Aufklärung einsteigen.“ Zum Zusammenhang von Herrschaft und Subjektwerdung als dem Gegenstand der Kritik bei Foucault und Adorno: Brieler 2019, S. 10f.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Den spezifisch modernen Machtmodus bezeichnet Foucault als Gou­ vernementalität. Der Gouvernementalität liegt die Annahme zugrunde, dass „jedes Individuum […] regiert [gouverné] werden müsse und sich regieren [gouverner] lassen müsse“.931 Das Regieren vollzieht sich über den Mechanismus der Subjektivierung (assujettissement, subjectivation). Die Subjektivierung ist als Prozess zu verstehen, der ein Individuum als Subjekt konstituiert, indem es unterworfen wird. Foucault spielt hier mit der Ambivalenz des französischen Wortes ‚sujet‘, das gleichzeitig Subjekt und Untertan bedeuten kann. Da die Unterwerfung die Voraussetzung für die Subjektivität darstellt, erscheint das Subjekt als etwas, „das der Herr­ schaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und […], das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.“932 Worin diese Unterwerfung genau besteht, müssen wir noch näher erläutern. Bereits jetzt kann man allerdings sagen, dass der Doppelcharakter dieser Konstitution des Subjekts sich auf den drei Ach­ sen des Denkens manifestiert und zwar indem die möglichen Relationen zwischen Subjekt und Objekt in einer spezifischen Art und Weise fixiert werden. Eine von vielen möglichen Konfigurationen erscheint im Verhält­ nis von Erkenntnissubjekt und -objekt, in der sozialen Interaktion und im Verhältnis zu sich selbst als notwendig: d. h. als wahr, als legitim und als authentisch. Die Moderne zeichnet sich für Foucault gerade dadurch aus, dass sie diese Fixierung durch eine bestimmte Theorie des menschlichen Subjekts vollzieht. b) Inhalt der Kritik: Von dieser Kontrastfolie ausgehend, können wir bestimmen, worin Kritik für Foucault besteht. Sie richtet sich dementspre­ chend „gegen den Gedanken universeller Notwendigkeiten im menschli­ chen Dasein.“933 Der Negation jeder Form von universeller Notwendigkeit entspricht gerade die menschliche Freiheit: „In einem gewissen Sinn bin ich ein Moralist, insofern als ich glaube, dass […] die Quelle der menschlichen Freiheit […] darin besteht, niemals etwas als endgültig, sakrosankt, selbstverständlich oder unbe­

931 WK, S. 9f. Dieser Zusammenhang von Kritik bzw. Aufklärung und Gouverne­ mentalität bleibt auch in der weitergehenden Auseinandersetzung Foucaults mit Kants Schrift „Was ist Aufklärung“ ein dominanter Topos. Es findet jedoch eine gewisse Bedeutungsverschiebung des Konzepts der Kritik bzw. der Aufklä­ rung zur „Regierung des Selbst“ statt. Hierzu: RSA, 21, 52. 932 DE IV, S. 275. 933 DE IV, S. 961.

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weglich zu akzeptieren. Kein Aspekt der Realität darf für uns zu einem endgültigen und unmenschlichen Gesetz werden.“934 Diese Negation wird methodisch mit Hilfe eines „systematischen Skepti­ zismus“ erreicht.935 Foucault äußert sich hierzu in aller Deutlichkeit im Rahmen eines Interviews: „Sind Sie, insofern Sie keine universellen Wahrheiten behaupten, […] ein skeptischer Denker? – Unbedingt. Das Einzige, das ich am skeptischen Programm nicht akzeptieren werde, ist der von den Skeptikern unter­ nommene Versuch, in einem gegebenen Bereich zu einer bestimmten Anzahl von Ergebnissen zu gelangen – der Skeptizismus ist nämlich niemals ein vollständiger gewesen!“936 Die systematische Skepsis hat die Intention einen „Wertentzug“937 vorzu­ nehmen. Das heißt, in jedem der Gegenstandsbereiche des Denkens wird der genuine Modus der Notwendigkeit angezweifelt: das Verhältnis zwi­ schen Erkenntnissubjekt und -objekt ist nicht wahr, die Machtausübung eines Subjekts auf ein Objekt ist nicht legitim und das moralische Verhält­ nis zu sich selbst ist nicht authentisch.938 Recht anschaulich wird dies zum Beispiel in Bezug auf die Legitimität: Die Skepsis ist eine Haltung „die zuerst darin besteht, sich zu sagen, dass sich keine Macht von selbst versteht, dass keine Macht, welche es auch sei, evident oder unvermeidbar ist, dass folglich keine Macht es verdient, von vorherein akzeptiert zu werden. Es gibt keine intrinsische Rechtmäßigkeit der Macht.“939 Diese skeptische Perspektive wird dadurch konkretisiert, dass in Bezug auf die Untersuchungen, die Foucault in seiner Geschichte des Denkens

934 Foucault 1988, S. 1, eigene Übersetzung. 935 Foucault 1994, S. 701. Zur Bedeutung der Skepsis in Foucaults Denken: Suárez Müller 2004, Suárez Müller 2008, Rajchman 1985. Die Kategorisierung Fou­ caults als skeptischen Denker stützt ebenso sein intellektueller Weggefährte Paul Veyne: Veyne 2003, S. 33. 936 DE IV, S. 872f. 937 WK, S. 32. 938 Diese systematische Deutung Foucaults ist Vogelmann 2014, S. 49ff, 2017, S. 5 zu verdanken. 939 RdL, S. 114. Die Interpretation von Sarasin 2019, S. 13 scheint gerade am we­ sentlichen Punkt vorbeizugehen, wenn er behauptet, dass Kritik „eine Form [ist], die die Macht der Regierung beschränkt, sie in Schranken weist, ohne ihre Legitimität grundsätzlich in Zweifel zu ziehen.“ (Hervorhebung B. H.).

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vornimmt, die zeitliche Identität (Wesen, Substanz) des jeweils vorausge­ setzten Untersuchungsgegenstands negiert wird: Die „vorausgehenden Formen von Kontinuität, all diese Synthesen, die man nicht problematisiert und die man füglich gelten läßt, muß man in der Schwebe halten. Sie gewiß nicht definitiv abweisen, sondern die Ruhe erschüttern, mit der man sie akzeptiert“.940 Die Erkenntnis, die Macht, die Ethik und das Subjekt zu untersuchen, be­ deutet für Foucault, die These aufzustellen, dass die Gegenstandsbereiche, auf die sich diese allgemeinen Begriffe vermeintlich beziehen, in ihrer Einheit und zeitlichen Kontinuität gar nicht existieren.941 Es gibt keine Universalien, die a priori gegeben wären.942 Konkret auf die Gouvernementalität bezogen, bedeutet das nun nicht, dass die Kritik dieser die gleichsam anarchistisch943 anmutende Forderung entgegensetzt, überhaupt nicht regiert zu werden, sondern „nicht dermaßen regiert […] werden“ zu wollen.944 Die Funktion dieser Haltung wird als Entsubjektivierung (désassujettisse­ ment, dé-subjectivation) bezeichnet.945 Das bedeutet also in der Entgegen­ setzung zur Subjektivierung die Auflösung der eigenen Subjektivität, die Auflösung der Bindung an eine soziale zugewiesene Identität und die Möglichkeit, anders zu denken. Man müsste aber wohl präziser von einer Verschiebung oder Veränderung der Subjektivität sprechen.946

940 AW, S. 39f. Dieser Zug seines Denkens ist, wie Foucault 1994, S. 701 verdeut­ licht, dauerhaft präsent: „Es ist notwendig, alles zu analysieren und auf die Probe zu stellen, was uns in Hinblick auf die menschliche Natur oder jene Kategorien, die man auf das Subjekt anwenden kann, als allgemein gültig unter­ breitet wird.“ 941 Vgl. DE IV, S. 281, GBP, S. 16, STB, S. 177: „Man kann zweifellos sagen, daß der Wahnsinn ‚nicht existiert‘, doch das heißt nicht, daß er nichts sei.“ 942 GBP, S. 15. 943 Zu Foucaults Verständnis von Anarchismus und der Abgrenzung davon: RdL, S. 114. 944 WK, S. 12, Hervorhebung B. H. 945 Vgl. DE IV, S. 58: Es geht darum, „das Subjekt von sich selbst loszureißen, derart, dass es nicht mehr es selbst ist oder dass es zu seiner Vernichtung oder zu seiner Auflösung getrieben wird. Ein solches Unternehmen ist das einer Ent-Subjektivierung.“ 946 Vgl. DE IV, S. 93: „Wenn ich vom Tod des Menschen spreche, möchte ich allem ein Ende setzen, das dieser Erzeugung des Menschen durch den Menschen eine feste Erzeugungsregel, ein wesentliches Ziel vorgeben will.“

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Diese Veränderung oder Loslösung von sich selbst setzt allerdings vor­ aus zu wissen, wer oder was man ist.947 Diese Art des Fragens nennt Foucault eine „historische[] Ontologie unserer selbst“.948 Es handelt sich dabei um einen Modus philosophischer Reflexion, der das gegenwärtige Sein des Menschen in den Blick nimmt: hiermit ist die Wirklichkeit des Denkens gemeint.949 Wir können uns nur von uns selbst lösen, indem wir danach fragen, wer wir sind. Wer wir sind, wird daraus ersichtlich, welchen Notwendigkeiten, welchen Grenzen wir unterliegen.950 Foucault situiert hier sein Verständnis von Kritik in einem doppelten Bezug zu Kant – als Hinwendung und Abwendung zugleich. Einerseits glaubt er den Ur­ sprung der historischen Ontologie bei Kant und dessen Reflexion auf die Aufklärung zu finden. Andererseits gibt er zu, dass diese Art der Reflexion für Kant nur im Zusammenhang mit dem kritischen Projekt im Ganzen möglich ist.951 Die Aufklärung wiederhole in empirischen Begriffen sogar nur die Einsichten der drei Kritiken.952 Foucault greift den Kerngedanken – den Zusammenhang zwischen Sein und Bedingungen der Möglichkeit – zwar auf, wendet ihn jedoch in eine völlig andere Richtung953: „Die Kritik ist gerade die Analyse der Grenzen und die Reflexion über sie. Doch während die Kant'sche Frage die Frage nach den Grenzen

947 WK, S. 27: „was bin denn nun eigentlich ich, der ich zu dieser Menschheit gehö­ re, zu dieser Franse, zu diesem Moment, zu diesem Augenblick von Menschheit, der der Macht im allgemeinen und der Wahrheiten im besonderen unterworfen ist?“ 948 DE IV, S. 702. Dieser Gedanke ist jedoch nicht so neu, wie er in diesem Zusam­ menhang erscheinen mag. Bereits in OD, S. 273 spricht Foucault von „einer unendlichen Untersuchung […], die nicht mehr und nicht weniger als das Sein unserer Modernität selbst beträfe.“ 949 Diese Art der Reflexion benennt Foucault (DE I, S. 793) übrigens bereits 1967 – also lange bevor der Begriff der Ontologie der Gegenwart auftaucht – als eigentümlich philosophische Tätigkeit: „Ich glaube, es gibt in bestimmten Be­ reichen eine gewisse Art von ‚philosophischen‘ Tätigkeiten, die in der Diagnose der gegenwärtigen Kultur besteht. Das ist heute die eigentliche Funktion der Menschen, die wir als Philosophen bezeichnen.“ 950 Vgl. Hemminger 2009, S. 190. 951 Vgl. RSA, S. 50: „Mir scheint, daß man diese Analyse der Unmündigkeit mit Blick auf die drei Kritiken lesen muß, die in dem Text untergründig und impli­ zit vorhanden sind. Und dann sehen sie auch, wie das kritische Unternehmen und der Prozeß der Aufklärung sich gegenseitig ergänzen, aufeinander angewie­ sen sind und sich aufeinander berufen.“ 952 RSA, S. 51f. 953 Zur Möglichkeit einer solchen Ontologie ohne Transzendentalphilosophie bei Foucault: Gabriel 2012, S. 34f.

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war, auf deren Überschreitung die Erkenntnis verzichten muss, scheint es mir, dass die kritische Frage heute in eine positive Frage verkehrt werden muss: Welcher Anteil an dem als universal, notwendig und obligatorisch Gegebenen ist singulär, kontingent und willkürlichen Zwängen geschuldet? Es geht alles in allem darum, die in der Form notwendiger Begrenzung ausgeübte Kritik in eine praktische Kritik in der Form möglicher Überschreitung umzuwandeln.“954 Das normativ-präskriptive Moment der Kritik besteht darin, die Kontin­ genz der Grenzen darzulegen, in denen wir als Subjekte eingelassen sind.955 Foucault bezeichnet es in Anlehnung an Nietzsche als Genealogie. Insgesamt besteht das kritische Moment der Geschichte des Denkens also darin, den Zusammenhang von Notwendigkeit – Regierung (Gouvernementa­ lität) – Subjektivierung durch Nicht-Notwendigkeit – Widerstand – Entsubjek­ tivierung umzukehren. 2) analytisch-deskriptiver Aspekt: Wir können uns im Kontext dieser Cha­ rakterisierung dem deskriptiv-analytischen Moment zuwenden, der inte­ graler Bestandteil der Kritik ist: „Kritik heißt nicht, dass man lediglich sagt, die Dinge seien nicht gut so, wie sie sind. Kritik heißt herausfinden, auf welchen Erkenntnissen, Gewohnheiten und erworbenen, aber nicht reflektierten Denkweisen die akzeptierte Praxis beruht.“956 Dieses deskriptiv-analytische Moment ist als Analyse der Grenzen zu ver­ stehen, die Foucault als Archäologie bezeichnet.957 Dabei muss man bereits eine erste Verschiebung konstatieren: Während Kant insbesondere die Grenze zwischen logischer und realer Möglichkeit problematisiert, fokus­ siert sich Foucault auf die Grenze zwischen realer Möglichkeit und Wirk­

954 DE IV, S. 702. 955 Die Genealogie ist so als historische Analyse zu verstehen, die auf die Vergan­ genheit ausgehend von der Gegenwart blickt und zwar indem sie einen gegen­ wärtige Frage thematisiert: DE IV, S. 831. 956 DE IV, S. 221. 957 DE IV, S. 702. Interessanterweise führt Foucault in DE II, S. 270 den Begriff der Archäologie auf Kant zurück. Er bezeichne eine „Geschichte von Dingen […], die eine bestimmte Form des Denkens erfordern“. Hierzu AA XX, S. 341: „Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch, sondern rational, d.i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft darstellt, so entlehnt sie solche nicht aus der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophi­ sche Archäologie.“

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lichkeit.958 Entscheidend ist dabei der Gedanke, dass die historische Dif­ ferenz von (real-) möglichen und tatsächlich realisierten Praktiken nicht kontingent ist. Sie weist eine eigene „Ordnung“959 oder Regelmäßigkeit auf, die sich als System (Foucaults Ausdrücke variieren: Struktur, Code oder Norm, Rationalitätsform) beschreiben lässt960: „Die Art, wie die Menschen denken, schreiben, urteilen, sprechen [...], ihr ganzes Verhalten wird von einer theoretischen Struktur gesteuert, von einem System, das sich mit der Zeit und von der Gesellschaft zur Gesellschaft verändert, aber zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften präsent ist.“961 Ein System ist definiert durch „eine Menge von Beziehungen, die unab­ hängig von den verknüpften Elementen fortbestehen und sich ändern.“962 Wichtig ist es Foucault jedoch, in Abgrenzung zum Strukturalismus zu betonen, dass sich ein System einerseits verändert und es sich andererseits sowohl bei diskursiven als auch nicht-diskursiven Praktiken keineswegs um ein „System im Singular“, sondern eine Pluralität von Systemen bzw. Bedingungen handelt.963 Charakteristisch für diese Systeme ist es zwar

958 Vgl. GBP, S. 58: „Sagen wir einfach, daß das, was es erlaubt, das Wirkliche ver­ ständlich zu machen, einfach in dem Nachweis besteht, daß es möglich war. Zu zeigen, daß das Wirkliche möglich ist, darin besteht sein Verständlichmachen.“ Rustemeyer 2004, S. 91 charakterisiert Foucaults Denken dementsprechend als Beschreibung der „Differenz zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen“. 959 Vgl. OD, S. 22: „Die Ordnung ist zugleich das, was sich in den Dingen als ihr inneres Gesetz, als ihr geheimes Netz ausgibt, nach dem sie sich in gewisser Weise alle betrachten, und das, was nur durch den Raster eines Blicks, einer Aufmerksamkeit, einer Sprache existiert. Und nur in den weißen Flecken dieses Rasters manifestiert es sich in der Tiefe, als bereits vorhanden, als schweigend auf den Moment seiner Aussage Wartendes.“ Foucault gibt den Topos der Ordnung auch im Zusammenhang mit der Analytik der Macht nicht auf, wie MP, S. 14f exemplarisch belegt: „[D]er für das medizinische Wissen konstitutive Zusammenhang gerade der Objektivität als Kriterium seiner Gültigkeit hat zur tatsächlichen Möglichkeitsbedingung ein bestimmtes Ordnungsverhältnis, eine bestimmte Zeiteinteilung, Raumaufteilung, Individueneinteilung.“ (Hervorhe­ bung B. H.). 960 In GdK, S. 15 hat Foucault in deutlicher Anlehnung an die Methode des Struk­ turalismus noch versucht die Struktur aus der „Differenz“ der Aussagen zu rekonstruieren. Suárez Müller 2004, S. 131 weist darauf hin, dass es sowohl dem frühen als auch dem späteren Foucault um die Rekonstruktion von Systemen geht. 961 DE I, S. 666. 962 DE I, S. 665. 963 DE I, S. 860f.

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„präsent“, aber deswegen nicht bewusst zu sein. Es handelt sich um ein „positives Unbewußtes“.964 Unbewusst sind diese Systeme insofern, als es sich um eine Ebene han­ delt, „die dem Bewußtsein“ der Individuen „entgleitet und dennoch Teil“ ihrer Praktiken ist. Derjenige, der eine Praktik vollzieht, tritt in ein System ein, das ihm Bedingungen auferlegt, die ihn bestimmen.965 In diesem Sinn handelt es sich um ein „implizites Wissen“966, verstanden als Strukturen oder Regeln, die den Praktiken immanent sind.967 Positiv ist diese Ebene einerseits, da sie nicht etwas Vergessenes oder Ver­ borgenes darstellt. Vielmehr handelt es sich um etwas, das so evident zu sein scheint, dass es stets stillschweigend vorausgesetzt wird. Andererseits ist diese Ebene in dem Sinn positiv, als jenes für die Erkenntnis und das Handeln grundlegende Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt durch ein tertium quid, verstanden als System oder Struktur, konstituiert wird.968 Diese Struktur wirkt in einem noch genauer zu explizierenden Sinn kon­ stitutiv und nicht ausschließlich regulativ.969 Um diesen Gedanken jedoch systematisch entwickeln zu können, müssen wir den regulativen von dem konstitutiven Aspekt analytisch trennen. a) Regulative Funktion: Eine Struktur wirkt regulativ, indem sie bereits bestehende und unabhängig von ihr existierende Entitäten (Subjekt und Objekt) regelt. Das bedeutet, die Struktur bestimmt die historisch mögli­ chen Konstellationen von Subjekt und Objekt zueinander:

964 OD, S. 11, Hervorhebung getilgt. Allerdings darf ‚Unbewusstsein‘ nicht mit einer Tiefenstruktur verwechselt werden, wie Foucault in DE I, S. 981 betont: „Ich suche nicht nach geheimen, verborgenen Beziehungen, die schweigsamer oder grundlegender wären als das menschliche Bewusstsein. Im Gegenteil, ich versuche die Beziehungen zu definieren, die an der Oberfläche der Diskurse liegen; ich versuche sichtbar zu machen, was nur insofern unsichtbar ist, als es allzusehr an der Oberfläche der Dinge liegt.“ Diese Perspektive ist, wie DE III, S. 682 zeigt, auch nicht auf die Untersuchung des Wissens beschränkt, sondern findet sich ebenso in der Analytik der Macht. 965 OD, S. 11f. 966 DE I, S. 645. 967 Zu diesem Punkt: Detel 1998, S. 34. 968 Foucault spricht in DE I, S. 1075 von einer „dritte[n] Dimension“ oder in OD, S. 23 von einer „,Mittel‘-Region“. 969 Zur Begrifflichkeit Prechtl 2008, S. 309: „Eine Regel wird dann als konstitutive Regel bezeichnet, wenn durch sie ein Handlungszusammenhang in der Art de­ finiert wird, dass ohne die Befolgung dieser Regel auch dieser Handlungszusam­ menhang nicht existiert […]. Für regulative Regeln ist charakteristisch, dass sie bereits bestehende und unabhängig von ihnen existierende Verhaltensformen regeln“.

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„Dieses Apriori ist das, was in einer bestimmten Epoche in der Er­ fahrung ein mögliches Wissensfeld [un champ de savoir possible] ab­ trennt, die Seinsweise der Gegenstände, die darin erscheinen, definiert, den alltäglichen Blick mit theoretischen Kräften ausstattet und die Bedingungen definiert, in denen man eine Rede über die Dinge halten kann, die als wahr anerkannt wird.“970 Erkenntnis und Handeln sind somit schon immer in ein historisches Aprio­ ri wirklicher Erfahrung eingebettet, von dem sie sich nicht trennen las­ sen.971 Foucault fragt wie Kant nach den Bedingungen von Erkenntnis und Handeln; jedoch tut er dies nicht auf die reine Möglichkeit hin. Dem­ entsprechend untersucht er auch nicht die „allgemeinen Strukturen jeder Erkenntnis oder jeder möglichen moralischen Handlung“.972 Stattdessen stellt er auf die Bedingungen der historischen Wirklichkeit ab.973 Wie „kommt es, dass eine bestimmte“ diskursive oder nicht-diskursive Praktik „erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“974 In der Antwort auf diese Frage liegt die „Spezifität“ der Praktik, d. h. die Einzigartigkeit ihres Erscheinens. Die Bedingungen der Wirklichkeit einer Praxis sind „eine Gesamtheit von Regeln, die einer Praxis immanent sind und sie in ihrer Spezifität definieren.“975 In diesem Sinn ist, wie Foucault auch zugibt, der Begriff des historischen Apriori paradox. Er entlehnt dem Begriff des ‚Apriori‘ das Element der Bedingung, konterkariert ihn gleichzeitig aber mit der Historizität, die immer a posteriori ist. Die Bedingungen der Wirklichkeit sind also nicht vorempirisch, sondern lassen sich nur aus der Wirklichkeit selbst gewinnen, obwohl sie diese Wirklichkeit zugleich kon­ stituieren.976 Ihnen kommt aber selbst keine Wirklichkeit unabhängig von den Praktiken zu. Foucault will diese Bedingungen dementsprechend auch

970 OD, S. 204. 971 Foucault 1996, S. 179. Der Begriff des „historischen Apriori“ findet sich bereits bei Husserl 1976, S. 386. Husserl führt ihn dort als universales historisches Apriori ein und verknüpft damit die Frage nach einer Teleologie der Vernunft, die Foucault offenkundig ablehnt. 972 DE IV, S. 702. 973 AW, S. 184. Diese Lesart bekräftigt auch Rustemeyer 2004, S. 81: „Wirkliches ist ein Spezialfall des Möglichen und es bestimmt sich vor dem Hintergrund bestimmter Möglichkeiten nur im Kontext semiotischer Ordnungen möglicher Referenzen, die ihrerseits zeitliche Operationen sind.“ 974 AW, S. 42. 975 AW, S. 70f. 976 Zu den Problemen, die sich aus dieser Struktur ergeben: Frank 1984, S. 226ff.

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nicht als „allgemeine Wirklichkeitsprinzipien“, sondern ausschließlich als „Analyseraster“ verstehen.977 Den gerade entfalteten Grundgedanken kann man nun auf die Typen von Praktiken rückbeziehen: diskursive Praktiken, nicht-diskursive Prakti­ ken und die Zusammenführung beider im Dispositiv. Ausgangspunkt ist dabei eine Menge von Elementen, „bei denen man empirisch und vorläu­ fig Verschränkungen von Zwangsmechanismen und Erkenntnisinhalten feststellen kann.“978 α) Wenn Foucault von einem System diskursiver Praktiken spricht, so bezeichnet er es als Diskurs.979 Dieser wird „durch die Differenz zwischen dem konstituiert, was man in einer Epoche korrekt (gemäß den Regeln der Grammatik und der Logik) sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt wurde.“980 „Sprache [langue] [bildet] stets nur ein System für mögliche Aussagen [énoncés]: Es ist eine endliche Menge von Regeln, die eine unendliche Zahl von Performanzen erlaubt. Der Diskurs dagegen ist die stets end­ liche und zeitlich begrenzte Menge allein der linguistischen Sequen­ zen, die formuliert worden sind; sie können durchaus zahllos sein, sie können durch ihre Masse jede Kapazität der Aufnahme, Gedächtnis oder der Lesekapazität überschreiten: Sie bilden dennoch eine endliche Menge.“981

977 WK, S. 32f. Diese Analyseraster will Foucault jedoch von dem Weberschen Ide­ altypus abgegrenzt wissen, weil er im Gegensatz zu Weber explizite Programme beschreibt: DE IV, S. 34ff. Man könnte mit Detel 1998, S. 33 in Bezug auf die Charakterisierung des Diskurses als Analyseraster sagen, dass gewisse Formen praktizierter Sprache überhaupt erst durch die Diskursanalyse zu Diskursen werden. 978 WK, S. 31. 979 Der Begriff des Diskurses schwankt dabei, wie in AW, S. 156 deutlich wird, vor allem zwischen zwei Bedeutungspolen: einem allgemeinen Sinn als „eine Menge von sprachlichen Performanzen“ und einem spezifischen Sinn als „eine Menge von Aussagen, die einem gleichem gleichen Formationssystem zugehö­ ren.“ Auf letzteren wollen wir hier abstellen. 980 DE I, S. 874. 981 DE I, S. 899, Hervorhebung B. H., AW, S. 173: Die Analyse der Aussagen „be­ ruht auf dem Prinzip, daß nie alles gesagt worden ist. Im Verhältnis zu dem, was in einer natürlichen Sprache hätte ausgesagt werden können, im Verhältnis zu der unbegrenzten Kombinatorik der sprachlichen Elemente, sind die Aussagen (wie zahlreich sie auch sein mögen) stets im Defizit.“

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Foucault interessiert sich hauptsächlich für einen Typus von Aussagen in diesem „unerschöpflichen Bereich [des] Diskurses“982 und zwar denjeni­ gen, in dem Aussagen mit einem (expliziten oder impliziten) Erkenntnis­ anspruch auftreten. Ein Erkenntnisanspruch ist insofern gegeben, als die Wahrheit einer Proposition behauptet wird.983 Eine „kritische Geschichte des Denkens“ wäre folglich vor allem „eine Analyse der Bedingungen, unter denen bestimmte Beziehungen von Subjekten und Objekten in dem Maß geformt und verändert werden, wie diese konstitutiv für ein mögliches Wissen [savoir] sind.“984 Der Begriff des Wissens taucht hier an prominen­ ter Stelle wieder auf. Er scheint bei Foucault eine ebenso wichtige Stellung einzunehmen wie bei Kant – nicht umsonst findet er sich im Titel zweier von Foucaults Hauptwerken (Archäologie des Wissens und Wille zum Wissen) und leitet die Fragestellungen in WG, GK und OD. Ausgehend von der Frage nach der Wirklichkeit des Denkens ist hierbei im Gegensatz zu Kant ein spezifischer Wissensinhalt intendiert: so z. B. die Frage danach, „was man in einer gegebenen Epoche über die Geisteskrankheit“, über den Körper oder über den Menschen „wissen [connaître] konnte.“985 Ebenso wie Kant trennt Foucault Wissen (savoir) und Erkenntnis (connaissance) konzeptionell voneinander.986 Erkenntnis ist anders als bei Kant jedoch kein Vermögen. Sie lässt sich zwar grundsätzlich als das Verhältnis eines Erkenntnissubjektes zu einem -objekt beschreiben, aber ohne deswegen eine „universelle Struktur“ zu be­ sitzen.987 Die Bezugnahme des Subjekts auf das Objekt ist durch das Krite­ rium der Wahrheit bzw. Falschheit charakterisiert. Wahrheit entspricht da­ bei der Korrespondenz der Vorstellung des Subjektes mit dem Objekt. Ent­ scheidend ist indes, dass es die Objektivität der Bezugnahme des Subjekts auf das Objekt (ihre Wahrheit) nur „innerhalb von Diskursen“ gibt.988 Das

982 983 984 985 986

AW, S. 253. Hierzu exemplarisch: ODis, S. 13f, ÜWW, S. 16ff, OD, S. 204. Foucault 1994, S. 699, Hervorhebung B. H. Vgl. DE I, S. 1069f. DE IV, S. 71: „Ich verwende das Wort ‚Wissen‘ in Abgrenzung von ‚Erkennt­ nis‘.“ Wie Kammler 2008, S. 303 bestätigt, bleibt diese konzeptionell Unter­ scheidung grundsätzlich im Werk erhalten. 987 DE II, S. 684. 988 DE III, S. 196f, ODis, 13f. Hierzu auch DE IV, S. 68: „Die Wahrheit ist selbst Teil der Geschichte des Diskurses und ist gleichsam ein Effekt innerhalb eines Diskurs oder einer Praxis.“

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Subjekt muss, um dem Kriterium der Wahrheit zu entsprechen, eine feste und unveränderliche Position gegenüber dem Objekt einnehmen.989 In Abgrenzung dazu bezeichnet Wissen einerseits „alle Erkenntnisverfah­ ren und -wirkungen [...] die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind.“990 Andererseits ist damit auch das System gemeint, das den Diskursen immanent ist. Das als System verstan­ dene Wissen ist jedoch im Gegensatz zur Erkenntnis „an sich selbst weder wahr noch falsch“.991 Stattdessen ist es „die Vorform dessen, was als eine Erkenntnis [connaissance] oder eine Illusion, eine anerkannte Wahrheit oder ein denunzierter Irrtum, eine endgültige Erfahrung oder ein überwundenes Hindernis sich enthül­ len und funktionieren wird.“992 Unter Wahrheit ist dementsprechend „eine Gesamtheit von geregelten Verfahren für die Produktion, das Gesetz, die Verteilung, das Zirkulie­ renlassen und das Funktionieren von Aussagen zu verstehen.“993 Wissen bezeichnet also ein spezifisches Regelsystem des Diskurses, das sich als Bedingung der Wirklichkeit historischer Erkenntnis beschreiben lässt.994 Im Gegensatz zur Erkenntnis ist das Subjekt auf der Ebene des Wissens variabel: „Mit ‚Wissen‘ ziele ich auf einen Prozess, der das Subjekt einer Verän­ derung unterwirft, gerade indem es erkennt oder vielmehr bei der Arbeit des Erkennens. Es ist dieser Prozess, der es gestattet, das Subjekt zu verändern und gleichzeitig das Objekt zu konstruieren.“995 β) In dem eben erläuterten Sinn lassen sich auch nicht-diskursive Praktiken auf einen „Code“ hin untersuchen, „der die Weisen des Tuns regelt“. So schreibt dieser beispielsweise vor, „wie man die Menschen zu sortieren hat, wie man sie prüft, wie man die Dinge und die Zeichen klassifiziert, 989 Vgl. DE IV, S. 71. 990 WK, S. 32. Ähnlich in RdL, S. 28f: „Ich wollte einfach sagen, dass es beim Wissen darum geht, das Problem in Begriffen der konstitutiven Praktiken zu stellen, der Praktiken, die für die Gegenstandsbereiche und Konzepte konstitu­ tiv sind und innerhalb derer die Gegensätze von wissenschaftlich und nicht-wis­ senschaftlich, wahr und falsch, Realität und Illusion ihre Wirkung entfalten können.“ 991 DE III, S. 197. 992 AW, S. 258. 993 DE III, S. 212. 994 Vgl. Vogelmann 2017, S. 6. 995 DE IV, S. 71.

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wie man die Individuen abrichtet usw.“996 Den spezifischen Code nichtdiskursiver Praktiken nennt Foucault Macht. Seine Funktion besteht darin, dass er „viele einzelne, definierbare und definierte Mechanismen abdeckt, die in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu induzieren“.997 Wir können hier also eine vorläufige Annäherung an Foucaults Machtbegriff vornehmen, bei der insbesondere zwei Aspekte zu betonen sind: Erstens wird Macht ganz allgemein als eine Relation beschrieben – und damit taucht die zentrale Eigenschaft von Systemen wieder auf. Zweitens indu­ ziert Macht Diskurse. Dies würde ein kausales Verhältnis zwischen Macht und Wissen nahelegen, das Foucault allerdings zu einer Wechselwirkung relativiert: Ebenso wie Macht Diskurse induziert, bringen Diskurse Macht­ wirkungen hervor. Macht und Wissen als spezifische Diskursform stehen also in einem untrennbaren Verhältnis zueinander; sie sind so stark aufein­ ander bezogen, dass Foucault auch von „Macht/Wissen“998 spricht: „Denn nichts kann als Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem System spezifischer Regeln und Zwänge konform geht […] und wenn es nicht andererseits, gerade weil es wissenschaftlich oder ratio­ nal oder einfach plausibel ist, zur Nötigung oder Anreizung fähig ist. Umgekehrt kann nichts als Machtmechanismus funktionieren, wenn es sich nicht in Prozeduren und Mittel-Zweck-Beziehungen entfaltet, welche in Wissenssystemen fundiert sind.“999 Macht und Wissen sind zwar aufeinander bezogen, jedoch nicht identisch. Sie lassen sich in ihrer je eigenen Rationalität beschreiben.1000 Die Analyse der Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit bei diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken zusammengenommen wird als Dispositiv bezeichnet1001:

996 997 998 999 1000

DE IV, S. 33. WK, S. 32. ÜS, S. 291. WK, S. 33. Vgl. ÜS, S. 39, SG, S. 317: „Man muss zeigen, wie Macht und Wissen tatsäch­ lich miteinander verbunden sind, und zwar ganz und gar nicht in Form einer Identität – Wissen ist Macht oder umgekehrt –, sondern in einer vollkommen spezifischen Weise und gemäß einem komplexen Spiel.“ Hierzu auch: DE IV, S. 833. 1001 Vgl. DE III, S. 395: „Was ich jetzt machen möchte, ist versuchen zu zeigen, dass das, was ich Dispositiv nenne, ein viel allgemeinerer Fall der Episteme ist. Oder vielmehr, dass die Episteme ein spezifisch diskursives Dispositiv ist, im Unterschied zu dem Dispositiv, das selbst diskursiv und nicht diskursiv ist und

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„Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist […] ein ent­ schieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architek­ turale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, ad­ ministrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso­ wohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. Zweitens ist das, was ich im Dispositiv festhalten möch­ te, gerade die Natur der Verbindung, die zwischen diesen heterogenen Elementen bestehen kann. […] Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art – sagen wir – Gebilde, das zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt vor allem die Funktion hat, einer dringenden Anforderung nachzukommen. Das Dispositiv hat also eine dominante strategische Funktion.“1002 Man kann folglich konstatieren, dass sich sowohl diskursive als auch nichtdiskursive Praktiken als Systeme beschreiben lassen, die Subjekt und Ob­ jekt in spezifische Beziehungen zueinander setzen. b) Konstitutive Funktion: Wir müssen dieses Modell indes noch erwei­ tern. Bisher haben wir die von Foucault untersuchten Strukturen als rein regulative Prinzipien beschrieben, welche bestehende und unabhängig von ihnen existierende Entitäten regulieren, indem sie ein bestimmtes Verhältnis dieser Entitäten zueinander fixieren. Die entscheidende Pointe von Foucaults Ansatz besteht aber nun darin, dass Strukturen nicht bloß regulativ, sondern konstitutiv sind; d. h., dass die Praktiken nicht persistente Entitäten in Beziehung zueinander setzen. Vielmehr werden in ihnen Sub­ jekt und Objekt überhaupt erst als solche konstituiert, d. h. gebildet und geformt.1003 Es gibt also kein der Wirklichkeit vorgängiges bzw. vorempiri­ sches Sein, weder des Objekts noch des Subjekts. Statt von Entitäten sollte man aufgrund ihres ständigen Werdens besser von Prozessen sprechen; Prozesse, die in Praktiken gebildet werden, die selbst wiederum nichts anderes als jene sind.1004 Diese Bildung bzw. Formung des Subjekts und des Objekts muss mit Blick auf die zwei Typen von Praktiken nicht nur ein ideeller, sondern ebenso materieller Vorgang sein. Eine Praktik lässt sich

dessen Elemente viel heterogener sind.“ Allgemein zum Begriff des Dispositivs bei Foucault: Agamben 2008. Zum Status des Dispositivs: Oksala 2005, S. 95f. 1002 DE III, S. 392. 1003 Vgl. Butler 2015b, S. 7. 1004 Diese Prozesshaftigkeit der Subjektivierung betont auch Reckwitz 2017b, S. 126f.

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somit als Prozess der „reziproken Genese des Subjekts und des Objekts“1005 verstehen. Dieser Prozess der Konstitution des Subjekts ist eben jener der Subjektivierung;1006 der Vorgang der Konstitution des Objekts wird Objektivierung (objectivation) genannt. Aufgrund der Reziprozität sind die­ se „nicht voneinander unabhängig“ und können nur analytisch getrennt betrachtet werden.1007 In der Beschreibung der Subjektivierung „soll bestimmt werden, was das Subjekt sein muß, welcher Bedingun­ gen es unterworfen ist, welchen Status es haben muß, welche Position es im Realen oder Imaginären einnehmen muß, um legitimes Subjekt dieses oder jenes Typs der Erkenntnis [connaissance] zu werden.“1008 Die Subjektivierung ist also das Wechselspiel zwischen der Unterwerfung unter ein System von Regeln und der daraus erwachsenden Handlungsfä­ higkeit, die dem Subjektstatus eigentümlich ist. In der Beschreibung der Objektivierung „geht es […] darum, zu bestimmen, unter welchen Bedingungen et­ was zum Objekt einer möglichen Erkenntnis [connaissance possible] werden kann, wie es als ein zu erkennendes Objekt problematisiert und welchem Verfahren der Unterscheidung es unterworfen werden konnte sowie welcher Teil als zutreffend angesehen wurde.“1009 Die konstitutiven Funktionen der Subjektivierung und Objektivierung las­ sen sich wiederum an den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken veranschaulichen. α) In Bezug auf das Objekt kehrt sich bei diskursiven Praktiken das repräsentative Verhältnis um, das man gewöhnlich zwischen Diskursen, verstanden als Gesamtheiten von Zeichen, und Objekten unterstellt: „Es gibt keine grundlegende ontologische Zugehörigkeit zwischen der Wirk­

1005 DE IV, S. 68. 1006 Vgl. DE IV, S. 871. 1007 Foucault 1994, S. 699. Ebenso zu Subjektivierung und Objektivierung: DE IV, S. 269. 1008 Foucault 1994, S. 699, Hervorhebung B. H. 1009 Ebd., S. 699f, Übersetzung modifiziert. Dieser Prozess der Subjektivierung wird auch von Macherey 1991, S. 176 beschrieben: „Unter dem Gesichtspunkt dieser Produktivität Subjekt sein[,] heißt […], dem Wirken einer Norm ausge­ setzt sein, […] es bedeutet von diesem Wirken abzuhängen, nicht nur was […] bestimmte äußere Aspekte des Verhaltens betrifft, sondern auch in der Konstitution des eigentlichen Seins des denkenden und handelnden Subjekts, das nur handelt, indem es selbst gehandelt wird, das nur denkt, indem es gedacht wird“.

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lichkeit eines Diskurses, seiner Existenz, […] und dann der Wirklichkeit, von der er spricht.“1010 Diskurse bestehen zwar aus Zeichen, „aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen.“ Vielmehr sind Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“1011 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, inwiefern wir am Anfang behaupten konnten, dass für Foucault „Sprechen etwas tun“1012 bedeutet. In Bezug auf das Subjekt verweist der Diskurs nicht „auf die Synthese oder auf die vereinheitlichende Funktion eines Subjekts“.1013 Der Diskurs ist nicht Ausdruck der spontanen und intentionalen Tätigkeit eines Sub­ jekts. Vielmehr gibt es innerhalb eines Diskurses verschiedene Subjektposi­ tionen, die an bestimmte Bedingungen für die Sprecher geknüpft sind. Ein Individuum, das als sprechendes Subjekt im Diskurs auftreten will, ist an die Erfüllung der mit der Sprecherposition verbundenen Bedingungen ge­ bunden. Das Subjekt einer Aussage „ist ein determinierter und leerer Platz, der wirklich von verschiedenen Individuen aufgefüllt werden kann“.1014 Erst in der Aktualisierung der Regeln durch das sprechende Individuum konstituiert es sich als Subjekt. β) Dieselbe Umkehrung findet in Bezug auf nicht-diskursive Praktiken statt. In Bezug auf das Objekt einer nicht-diskursiven Praktik bedeutet dies, dass sich die persistente Verfasstheit der Objekte (wie der Wahnsinn, die Krankheit usw.) nicht in den Praktiken niederschlägt. Die Vorstellung eines Objekts repräsentiert sich nicht in den mit dem Objekt verknüpften Praktiken. Stattdessen konstituieren die Praktiken die Gegenstände: „[A]nstatt von Universalien auszugehen, um daraus konkrete Phäno­ mene abzuleiten, oder vielmehr von Universalen als notwendigem Raster für das Verstehen einer bestimmten Zahl von konkreten Prakti­ ken auszugehen, möchte ich von diesen konkreten Praktiken ausgehen und gewissermaßen die Universalien in das Raster dieser Praktiken einordnen.“1015

1010 SW, S. 288. 1011 AW, S. 74. Wie sehr es hier eine Kontinuität zum Spätwerk gibt, zeigt sich beispielsweise in SW, S. 304: „Man muss innehalten, man muss zu der Wirk­ lichkeit des Diskurses vorstoßen, indem man das Postulat aufgibt, dass die Funktion des Diskurses in der Repräsentation der Wirklichkeit besteht.“ 1012 AW, S. 298. 1013 AW, S. 81. 1014 AW, S. 139. 1015 GBP, S. 15.

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In Bezug auf das Subjekt muss man analog davon ausgehen, dass die in nicht-diskursiven Praktiken ausgeübte Macht nicht dem Vermögen eines Subjektes entspringt, sondern die Macht als Struktur Subjektpositionen vorgibt, die mit (materiellen) Bedingungen verknüpft sind, die ein Indivi­ duum erfüllen muss, um Macht ausüben zu können.1016 Man kann also festhalten: Die kritische Geschichte des Denkens erweist sich insgesamt als eine Geschichte der wechselseitigen Konstitution von Subjekt und Objekt, die einer Zentrierung der Erkenntnis, der Herrschaft und der Moral auf das Subjekt entgegengesetzt ist.1017 Dieser Dezentrierung des Subjekts hinsichtlich des Wissens wollen wir im Folgenden nachge­ hen.1018 Wir werden uns dabei insbesondere auf OD (Les mots et les choses) stützen, weil Foucault hier die Wissensordnung isoliert von den nicht-dis­ kursiven Praktiken untersucht. 1.2 Wissenssysteme und Dezentrierung des Subjekts1019 Die archäologische Untersuchung weist eine triadische Struktur auf: Fou­ cault expliziert das diskursive System der Renaissance (bis 1650), der Klassik (1650 bis 1800) und der Moderne (nach 1800). Diese diskursiven Systeme werden jeweils anhand des historischen Modus der Objektivierung und der Subjektivierung spezifiziert. Die Ebene der Subjektphilosophie wird dabei insofern unterlaufen, als Foucault versucht, historisch zu zeigen, dass die epistemologische Theorie der Subjektivität nur unter bestimmten Bedingungen notwendig ist. Diese Bedingungen können überschritten

1016 Vgl. DE II, S. 177. 1017 Der Gedanke der Geschichte der Subjektivität ist nicht erst eine Errungen­ schaft von Foucaults Spätwerk, sondern von Beginn an präsent, wie AW, S. 28 belegt: „dieses Werk reiht sich wie die vorangehenden nicht […] in die Auseinandersetzung um […] die Struktur ein, sondern in das Feld, in dem sich die Fragen nach dem menschlichen Sein, dem Bewußtsein, dem Ursprung und dem Subjekt manifestieren, überkreuzen und spezifizieren.“ 1018 Wie Frank 1984, S. 84 betont, meint Dezentrierung eigentlich nicht, dass vor­ mals ein Zentrum der Struktur bestanden habe, „das nun in revolutionärer Überwindung wie Louis XVI. unter die Guillotine gekommen sei; der Aus­ druck meint vielmehr, daß die Vorstellung, eine Struktur bedürfe wesensnot­ wendig eines Zentrums und einer fixierten Identität, metaphysisch (und also illusionär) ist […].“ 1019 Folgendes Kapitel stellt eine Überarbeitung von Teilen meiner unveröffent­ lichten Masterarbeit dar: Hahn 2015.

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werden, weil sie selbst historisch spezifisch und somit nicht universell konstant sind.1020 Ergänzt werden beide Aspekte durch isolierte Überlegungen zum Status der Zeichen bzw. der Sprache. Die Sprache kommt nicht nur durch die me­ thodische Ausrichtung auf die diskursiven Praktiken in den Blick, sondern die Ausrichtung auf die Sprache als Erkenntnisgegenstand wird überhaupt problematisiert. Foucault möchte zeigen, wie aus der Sprache als einem abgeleiteten Phänomen eine fundierte Größe werden konnte, die mit dem Menschen und seiner Menschlichkeit um den Rang als Letztbegründung kämpft.1021 Die Elemente der Objektivierung, der Subjektivierung und der Sprache konstituieren zusammen den Diskurs bzw. die Episteme einer Epoche: Es handelt sich um einen bestimmten Objektbereich im Verhältnis zu einem idealen Subjekt, das diese Objekte erkennen soll und kann.1022 Foucault gewinnt seine Erkenntnisse aus dem Vergleich dreier in ihrem Gegenstandsbereich vermeintlich vollkommen getrennter Wissenschaften: der allgemeinen Grammatik bzw. Philologie, der Naturgeschichte bzw. Biologie und der Analyse der Reichtümer bzw. Ökonomie. Für unsere Zwecke soll es genügen, die allgemeinen Rationalitätsstrukturen der Re­ naissance (1.2.1), der Klassik (1.2.2) und der Moderne (1.2.3) zu beschreiben, ohne dabei auf diese empirischen Wissenschaften explizit einzugehen. Ent­ scheidend ist dabei der Bruch zwischen Klassik und Moderne, der das Entstehen einer um das Subjekt zentrierten Wissensordnung beschreibt, gegen welche Foucaults kritisches Unternehmen gerichtet ist.

1020 Vgl. Saar 2007, S. 177. 1021 Vgl. Raffnsøe et al. 2011, S. 168, DE I, S. 651: „Enttäuschend und naiv an den Reflexionen über die Zeichen und an ihren Analysen erscheint mir, dass man so tut, als wären sie immer schon da, entweder dem Gesicht der Welt einge­ prägt oder vom Menschen geschaffen, und dass man nie nach dem Wesen der Zeichen selbst fragt. Was heißt es, dass es Zeichen und Sprache gibt? Wir müssen uns das Problem des Seins der Sprache zur Aufgabe machen“. 1022 Foucault weist versteckt immer wieder darauf hin, z. B. OD, S. 309: „Was an der Wende des Jahrhunderts sich geändert, eine irreparable Veränderung durchgemacht hat, ist das Wissen selbst als im voraus bestehende und ungeteil­ te Seinsweise zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Gegenstand der Erkenntnis.“

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1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

1.2.1 Episteme der Renaissance Bevor wir uns näher mit der Episteme der Klassik beschäftigen, soll sozu­ sagen als Kontrastfolie kurz die Konstellation der Renaissance skizziert werden. Die Darstellung folgt dabei der oben dargelegten Einteilung. Zunächst zum Objektivierungsmodus: Die Renaissance ist grundlegend nach der Kategorie1023 der Ähnlichkeit strukturiert. Ontologisch betrachtet bedeutet dies, dass die Dinge qua ihrer Örtlichkeit, ihrer Eigenschaften, ihrer Relationalität und ihres immanenten dynamischen Prinzips perma­ nent aufeinander verweisen.1024 Epistemologisch zugänglich sind die Din­ ge und ihre Ähnlichkeiten, weil sie mit Zeichen belegt sind.1025 Der Mo­ dus der Erkenntnis ist die Interpretation im Sinn einer Hermeneutik.1026 Die Hermeneutik ist die „Gesamtheit der Kenntnisse und Techniken, die gestatten, die Zeichen sprechen zu lassen und ihren Sinn zu entdecken“. Diese ermöglicht es, die Dinge „zusammenzurücken [rapprocher]“1027, d. h. sie miteinander zu identifizieren und nach den Ähnlichkeitsstrukturen zu ordnen.1028 Ausgehend von diesen Überlegungen kann man zweitens den Status der Zeichen explizieren. Die Sprache der Renaissance ist grundsätzlich durch ein Dreierschema aus aufeinander bezogenen Elementen charakterisiert: Zeichen (Signifikant) – Ähnlichkeit – Bezeichnetes (Signifikat). Das „Zei­ chen markierte insoweit, als es ‚fast die gleiche Sache‘ war wie das, was es bezeichnete.“1029 Es ist fast die gleiche Sache, weil es als Zeichen selbst

1023 Foucault spricht in DE I, S. 644 von „rationale[n] Schemata“. Der Begriff der Kategorie ist allerdings nur insofern gerechtfertigt, als man nicht den streng Kantischen Sinn eines Verstandesbegriffs damit impliziert: DE II, S. 464. 1024 Foucault differenziert die Ähnlichkeit entsprechend in vier Typen aus: conve­ nientia, aemulatio, Analogien und Sympathie/Antipathie. 1025 OD, S. 92: „Im sechzehnten Jahrhundert war man der Auffassung, daß die Zeichen auf den Dingen niedergelegt seien, damit die Menschen ihre Geheim­ nisse, ihre Natur oder ihre Kräfte an den Tag bringen könnten.“ 1026 Vgl. OD, S. 63: „Erkennen heißt also interpretieren“. 1027 OD, S. 88, eigene Übersetzung. Die deutsche Ausgabe von OD übersetzt den Sinn vollkommen verfälschend mit „auseinanderrücken“. 1028 OD, S. 60. In diesem Sinn gibt es in der Renaissance auch keinen Unterschied zwischen Semiologie – „die Gesamtheit der Erkenntnisse und Techniken, die gestattet zu unterscheiden, wo die Zeichen sind, zu definieren, was sie als Zeichen instituiert, ihre Verbindung und die Gesetze ihrer Verkettung zu erkennen“ – und der Hermeneutik. 1029 OD, S. 98.

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Ähnlichkeit mit seinem Bezeichneten aufweist, d. h. zu den Ähnlichkei­ ten, die es bezeichnet: „Die Welt ist von Zeichen bedeckt, die man entziffern muß, und diese Zeichen, die Ähnlichkeiten und Affinitäten enthüllen, sind selbst nur Formen der Ähnlichkeit.“1030 Dadurch fallen die Zeichen nicht aus dem ontologischen Spiel der Ähn­ lichkeiten heraus und es ergibt sich ein geschlossenes System von Verwei­ sen.1031 Konsequenterweise wird Sprache nicht als künstliches bzw. „will­ kürliches System“, sondern als Teil der Welt begriffen.1032 Eben deswegen kann es allerdings auch keine abschließende Erkenntnis, sondern nur eine asymptotische Annäherung an einen unendlichen Verweisungszusammen­ hang geben. Schließlich lässt sich auch der Subjektivierungsmodus bestimmen. Der Mensch ist genauso wie alle anderen Dinge entsprechend seinen Ähnlich­ keiten in die Textur der Welt eingewoben. Allerdings genießt er insofern einen gewissen Vorrang, als sich in ihm der Kosmos in einer besonderen Dichte widerspiegelt – er bildet einen eigenen Mikrokosmos.1033

1.2.2 Episteme der Klassik 1.2.2.1 Objektivierungsmodus: Identität und Differenz Mit dem Übergang zur Klassik wird die Ähnlichkeit als Ordnungsprinzip der Welt problematisch. Zwar wird sie nicht gänzlich suspendiert, aber sie bildet nur noch die „einfachste Form, in der das erscheint, was zu erkennen ist und was von der Erkenntnis selbst am weitesten entfernt ist.“1034 Sie ist die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, indem

1030 1031 1032 1033

OD, S. 63. OD, S. 62. OD, S. 66. Vgl. OD, S. 51f. Zur Stellung des Menschen in der Episteme der Renaissance: Mazumdar 2008, S. 43f. 1034 Vgl. OD, S. 103: „Während im sechzehnten Jahrhundert die Ähnlichkeit die fundamentale Beziehung des Seins zu sich selbst darstellte, ist sie im klassi­ schen Zeitalter die einfachste Form, in der das erscheint, was zu erkennen ist und was von der Erkenntnis selbst am weitesten entfernt ist. Durch sie kann die Repräsentation erkannt werden, das heißt mit denen verglichen werden, die ähnlich sein können, in Elemente aufgelöst werden (in Elemente, die

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sie ein „gewisses Kontinuum der Dinge (eine Nicht-Diskontinuität, eine Fülle des Seins)“1035 beschreibt, aber nicht mehr die Erkenntnis selbst. Im Gegensatz zur Renaissance, in welcher der Modus der Erkenntnis die Annäherung der Dinge darstellt, bedeutet Erkenntnis in der Klassik gerade das Auseinanderrücken der Dinge: Erkenntnis ist Unterscheidung.1036 Wenn es Unterschiede gibt, muss es natürlich auch Gemeinsamkeiten geben. Sowohl Identitäten als auch Differenzen werden jedoch nicht als gegeben gesetzt, sondern sind das Ergebnis einer strikt reglementierten Operation – des Vergleichs durch Zerlegung (Analysis). Hierbei sind zwei Formen des Vergleichs zu unterscheiden: „[J]ede Ähnlichkeit [wird] dem Beweis des Vergleiches unterworfen, das heißt, sie wird nur noch anerkannt, wenn die gemeinsame Einheit durch das Maß oder, noch radikaler, durch die Ordnung, durch die Identität und die Serie der Unterschiede gefunden worden ist.“1037 Welche Methode angewandt wird, ist abhängig davon, ob es sich um quantitative oder qualitative Eigenschaften der Dinge handelt. Beim Mes­ sen (mathesis) geht man von einem quantitativen Ganzen aus, das in Teile geteilt wird. Der dann festgelegte kleinste Teil bildet die Einheit, anhand derer man andere (größere) Einheiten miteinander vergleichen kann. Eine Ordnung (taxonomia) konstituiert sich, indem man das einfachste Element ausfindig macht und die zu vergleichenden Einheiten als aus diesem Element konstituierten Serien versteht. Dadurch ergeben sich graduelle Unterschiede. „Wenn es sich darum handelt, einfache Größen (natures) zu ordnen, nimmt man Zuflucht zu einer mathesis, deren universale Methode die Algebra ist. Wenn es sich darum handelt, komplexe Größen (natures) in eine Ordnung zu bringen (Repräsentationen im allgemeinen, so wie sie von der Erfahrung erfaßt werden), muß man eine taxinomia bilden und zu diesem Zweck ein Zeichensystem einrichten. Die Zeichen sind für die Ordnung der zusammengesetzten Größen (natures) das, was die Algebra für die Ordnung der einfachen Größen (natures) ist.“1038

1035 1036 1037 1038

ihr mit anderen Repräsentationen gemeinsam sind), mit jenen kombiniert werden, die partielle Identität bieten können, und schließlich in einem geord­ neten Bild aufgeteilt werden.“ OD, S. 108. OD, S. 89. OD, S. 88, Hervorhebung B. H. OD, S. 108.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Vergleichsbasis sind dabei die durch die Intuition gegebenen einfachen Naturen bzw. Evidenzen.1039 Besonders hebt Foucault hervor, dass das Messen und das damit verbundene Streben nach einer Mathematisierung der Wissenschaft auf ein allgemeineres Ordnungsstreben rückführbar ist.1040Die Wissenschaften (empirische und apriorische Wissenschaften wie die Philosophie) bilden eine Einheit, insofern sie nach derselben Methode verfahren. Es lässt sich also festhalten: Das Ordnen stellt den fundamentalen Er­ kenntnismodus der Epoche dar, der analog zum Interpretieren der Renais­ sance ist.1041 Die Bedingung der historischen Wirklichkeit der Erkenntnis ist in der Renaissance die asymptotische Annäherung der Dinge durch die Ähnlichkeit. In der Klassik verschiebt sich der Diskurs zu einer mit Gewissheit möglichen und erschöpfenden Ordnung durch Unterschiede. Ordnung, verstanden als Einteilung in Identität und Differenz, ist also die Vorform dessen, was Erkenntnis überhaupt möglich macht.1042

1.2.2.2 Zeichen und Sprache: Repräsentation Wie sich im obigen Zitat bereits angedeutet hat, nimmt das Zeichen als Instrument der Analyse eine entscheidende Rolle ein. Es hat jedoch ausge­ hend von dem veränderten Objektivierungsmodus nicht nur eine andere Funktion, sondern auch einen anderen ontologischen Status als in der Renaissance: „An der Schwelle des klassischen Zeitalters hört das Zeichen auf, eine Gestalt der Welt zu sein, und es ist nicht länger mit dem verbunden, was es durch die festen und geheimnisvollen Bänder der Ähnlichkeit oder der Affinität markiert.“1043

1039 Vgl. Lavagno 2003, S. 28f: Für Foucault verwischen dabei die Unterschiede zwischen Rationalismus und Empirismus in der Form der sinnlichen oder intellektuellen Anschauung. Was für ihn entscheidend ist, ist das methodische Vorgehen als solches. 1040 Wie Suárez Müller 2004, S. 436 betont, zeigt sich hier ein unverhohlener An­ griff auf die traditionelle Ideengeschichte (Cassirer, Lovejoy, Koyré, Gusdorf usw.). Diese verkürze das Denken der Klassik auf Mathematisierung und Me­ chanisierung, wobei diese Phänomene nur Ausdruck eines fundamentaleren Ordnungsstrebens seien. 1041 OD, S. 91. Zu diesem Urteil kommt auch Mazumdar 2008, S. 89. 1042 OD, S. 271. 1043 OD, S. 92.

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Dieser Bruch ist in einen größeren Zusammenhang einzuordnen: Nicht nur Zeichen und Bezeichnetes trennen sich voneinander, sondern auch Vorstellung und Welt im Gesamten. Dieser Bruch ist jedoch nicht total. Die Welt der Vorstellungen und die Welt der Dinge sind zwar getrennt, aber in ihrem Bezug prästabilisiert.1044 Wie wir gesehen haben, gibt es die Möglichkeit der Erkenntnis einfacher Vorstellungen, unmittelbarer Evidenzen (wie Descartes‘ Intuition), von denen ausgehend sich die Welt erschließen lässt.1045 Elementare Funktion der Zeichen ist es, diese Eviden­ zen zu bezeichnen: „Ein willkürliches Zeichensystem muß die Analyse der Dinge in ihren einfachsten Elementen gestatten. Es muß bis hin zum Ursprung zerle­ gen, aber es muß auch zeigen, wie die Kombinationen dieser Elemente möglich werden, und die bildliche Genese der Komplexität der Dinge gestatten.“1046 Damit lässt sich die Erkenntnis durch folgenden Schluss kennzeichnen: Erkennen ist Unterscheiden; Unterscheiden ist Bezeichnen; Erkennen ist Bezeichnen. Das Zeichen ist dementsprechend kein der Erkenntnis vor­ gängiges Element, sondern „es bildet sich stets nur durch einen Akt der Erkenntnis.“1047 Worin besteht für die Klassik jedoch der genaue Mecha­ nismus des Zeichens? Hier taucht das Konzept der Repräsentativität des Zeichens auf. Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei, dass in der veränderten epistemischen Konstellation das Zeichen, eben weil es nicht mehr Teil der Welt ist, den Status einer Repräsentation haben muss.1048 Eine Repräsentation ist eine „Vorstellung (idée) einer Sache“.1049 Zeichen

1044 Vgl. Frank 1984, S. 169. Foucault bestätigt diese Lesart im Rahmen seiner Analyse der Gouvernementalität, STB, S. 341: „Gott [bestimmt] die Welt nur mittels allgemeiner Gesetze, unwandelbarer Gesetze, universeller Gesetze, ein­ facher und verständlicher Gesetze, die […] zugänglich waren.“ 1045 Hierzu Mazumdar 2008, S. 192: Es war „im klassischen Zeitalter evident, dass sich das Sein in der einfachen Repräsentation sichtbar werden konnte.“ 1046 OD, S. 96. 1047 OD, S. 93: „Daraus folgt […], daß es ein Zeichen erst von dem Augenblick an gibt, in dem die Möglichkeit einer substitutiven Beziehung zwischen zwei bereits bekannten Elementen erkannt wird. Das Zeichen wartet nicht schweig­ sam das Kommen desjenigen ab, der es erkennen kann: es bildet sich stets nur durch einen Akt der Erkenntnis.“ 1048 Auf diese Konsequenz weist auch Gutting 1989, S. 148 hin: „The locus of signs has moved from the world to the mind.” 1049 OD, S. 98.

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sind jedoch nicht einfache, sondern reduplizierte Repräsentationen. Redu­ plizierte Repräsentationen sind „Repräsentationen, deren Rolle es ist, Repräsentationen zu bezeich­ nen, sie zu analysieren, sie zu komponieren und sie zu dekompo­ nieren, um in ihnen mit dem System ihrer Identitäten und ihrer Unterschiede das allgemeine Prinzip einer Ordnung auftauchen zu lassen.“1050 Um diese Charakterisierung des Zeichens als reduplizierte Repräsentation zu verstehen, müssen wir uns den ontologischen Status der Zeichen ver­ gegenwärtigen. Die ternäre Struktur der Renaissance aus Signifikant – Ähnlichkeit – Signifikat wird zu einer binären Struktur aus Signifikant – Signifikat. Die Ähnlichkeit kann nicht mehr zwischen beiden Elementen vermitteln. Sowohl bei dem Zeichen (Signifikant) als auch dem Bezeichne­ ten (Signifikat) handelt es sich um eine Repräsentation bzw. Vorstellung. Die grundsätzliche Funktion der Vorstellung, die als Zeichen fungiert, besteht darin, auf die andere Vorstellung zu verweisen, d. h. sie zu re­ präsentieren. Damit hat der Signifikant eine reduplizierende Funktion: Er repräsentiert als Vorstellung bereits eine Sache und verweist (repräsentiert) zugleich auf eine andere Vorstellung, die selbst wiederum Repräsentation ist. Diese verdoppelte Repräsentation ist jedoch nur unter der Bedingung möglich, dass der Signifikant seinen Verweischarakter transparent macht. Das bedeutet, die „Repräsentation“ als solche „muß ihrerseits in ihm [dem Zeichen] repräsentiert sein.“1051 Diese vollkommene Transparenz des Zei­ chens ist nur dadurch zu gewährleisten, dass es auf seine Repräsentativität reduziert wird. Man kann sich diese abstrakte Funktion des Zeichens z. B. an einem Gefahrenschild im Straßenverkehr vergegenwärtigen. Die Vorstellung des Schildes enthält ein rot umrandetes Dreieck auf weißem Grund mit einem Ausrufezeichen. Diese Vorstellung repräsentiert die Vor­ stellung eines anderen Objekts, in diesem Fall die Gefahr. Der Inhalt der ersten Vorstellung tritt vollkommen hinter dessen repräsentative Funktion zurück: Wenn wir das Schild sehen, wissen wir um seine Zeichenfunktion und den damit implizierten Inhalt der Gefahr. Die Repräsentation ist so „gleichzeitig Indikation und Erscheinen, Beziehung zu einem Gegenstand und Manifestation ihrer selbst. Vom klassischen Zeitalter an ist das Zei­

1050 OD, S. 274. 1051 OD, S. 98.

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chen die Repräsentativität der Repräsentation, insoweit sie repräsentierbar ist.“1052 Die fundamentalste Konsequenz dieser Zeichenkonzeption ist, dass Denken und Sprache deckungsgleich sind.1053 Alles Denken ist eine Vor­ stellung von etwas, aber in dem Sinne, dass das Denken sich seiner eigenen Repräsentativität bewusst ist.1054 Sprache ist vom Denken her betrachtet dann keine dem Denken äußere Wirkung, sondern selbst Denken.1055 Al­ lerdings – und das unterscheidet beide der Form nach – bietet die Sprache die Möglichkeit, die sukzessive Reihung einer gedanklichen Repräsentati­ on in eine Gleichzeitigkeit umzuwandeln und somit ein Ordnungsraster einzuführen.1056 Darin besteht aber gerade ihre analytische Funktion: dem Denken respektive der Repräsentation ein neutrales Medium der Struktu­ rierung zu bieten. Das Denken repräsentiert sich so rückstandslos in der Sprache selbst. Wie die Interpretation der Renaissance auf die Ähnlichkeit von Zeichen und Bezeichnetem angewiesen ist, so ist die Ordnung der Klassik auf die Transparenz der Zeichen angewiesen, um die Differenzen zu entfalten.

1.2.2.3 Subjektivierungsmodus: Primat der Analyse Diese Konfiguration der Episteme zieht natürlich auch Folgen für die epis­ temologische Stellung des Menschen nach sich: Aus der Übereinstimmung von Denken und Sprache resultiert, dass „in der großen Disposition der klassischen episteme […] die Natur, die menschliche Natur und ihre Beziehungen funktionale, definierte und vorgesehene Momente [sind].“1057 Der Mensch findet sich in der Klassik in einer gottgeschaffenen Natur wieder, deren Ordnung unabhängig vom Menschen in ihrer ahistorischen Universalität existiert.1058 Diese Ordnung erscheint allerdings nicht in ihrer ursprünglichen Struktur, sondern als ein „Spiel einer realen und

1052 1053 1054 1055 1056 1057 1058

OD, S. 99. OD, S. 100. Vgl. Dahlmanns 2008, S. 29. OD, S. 115. OD, S. 119. OD, S. 375. Vgl. Rustemeyer 2004, S. 80: „Noch die rationalistische Tradition von Des­ cartes bis Leibniz folgt der Vorstellung, dass die Möglichkeit menschlichen

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ungeordneten Nebeneinanderstellung“.1059 Die nebeneinander gestellten Elemente sind sich jedoch zumindest rudimentär ähnlich.1060 Die Rolle des Menschen (der „menschlichen Natur“) besteht darin, diese Welt mög­ lichst genau in eine künstliche und sukzessive Serie der präexistenten Ordnung zu übersetzen. Er lässt „das Identische in der ungeordneten Kette der Repräsentationen erscheinen“ und beschreibt sie so umfassend.1061 Der Mensch analysiert, indem er für begriffliche Klarheit sorgt: „In der Tat kann durch das Vermögen, sich zu reduplizieren […], die Kette der Repräsentationen unterhalb der Unordnung der Erde die bruchlose Schicht der Wesen finden. […] Der Mensch kann dann die Welt in die Souveränität eines Diskurses eintreten lassen, die ihre Re­ präsentationen zu repräsentieren vermag. Im Akt des Sprechens oder vielmehr […] im Akt des Benennens transformiert die menschliche Natur als Faltung der Repräsentation in sich selbst die lineare Folge der Gedanken in eine konstante Tafel von teilweise unterschiedlichen Wesen. Der Diskurs, in dem sie [die menschliche Natur, B. H.] ihre Repräsentation redupliziert und offenbart, verbindet sie mit der Na­ tur.“1062 Allerdings ist der Mensch zu keiner Synthese, d. h. einer eigenen Hervor­ bringung von Ordnung, fähig. Sie ist epistemologisch gar nicht vorgese­ hen1063 Folglich gibt es keinen „konstituierenden Akt der Bedeutung oder der Genese innerhalb des Bewußtseins. Zwischen dem Zeichen und seinem Inhalt gibt es kein vermittelndes Element, keine Undurchsichtigkeit. Die Zeichen haben also keine anderen Gesetze als die, die ihren Inhalt beherrschen kön­ nen.“1064

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Wissens in der Wirklichkeit Gottes fundiert sein muss, dessen Notwendigkeit Bedingung der Möglichkeit allen Wissens ist.“ OD, S. 373. Vgl. OD, S. 189: Das Spiel der Nebeneinanderstellung ist also immer auch ein „Spiel von Ähnlichkeiten“. OD, S. 374. OD, S. 374. Vgl. Dreyfus/Rabinow 1987, S. 45. Foucault macht diesen Zusammenhang in einer äußerst instruktiven Debatte mit Noam Chomsky an Descartes deutlich, DE II, S. 596: „Ich kann weder in dem Augenblick, in dem der Geist nach Descartes die Wahrheit erfasst, noch im Übergang von einer Wahrheit zur anderen etwas Schöpferisches entdecken.“ OD, S. 101.

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Für die Klassik ist die Repräsentation die notwendige Form allen Denkens und es gibt keine Möglichkeit, davon zu abstrahieren. Der Garant für die Einheit von Signifikant und Signifikat liegt in der „Souveränität der Wörter“1065 und der Zeichen selbst begründet. Somit kann es kein „er­ kenntnistheoretisches Bewußtsein des Menschen als solchem“1066 geben. Das bedeutet, dass der Akt der Repräsentation, d. h. die Tätigkeit des Sub­ jekts, selbst nicht repräsentiert werden kann. Der Akt der Repräsentation kann zwar nach seinen Elementen und Typen analysiert werden. Aber als solcher ist er nicht darstellbar, da er die Bedingung der Möglichkeit des Denkens ist.1067 Diesen Umstand versucht Foucault in seiner berühmt ge­ wordenen Bildinterpretation von Velazquez‘ Las Meninas zu beschreiben: Zwar sind im Bild alle Funktionen der Repräsentation – das Subjekt der Repräsentation in der Figur des Malers, das Objekt der Repräsentation in Gestalt der Spiegelung des Königspaars und die Repräsentation der Reprä­ sentation durch den eintretenden Betrachter – präsent, allerdings nicht der Akt selbst.1068 Die Unmöglichkeit eines epistemologischen Bewusstseins des Menschen hat zur Folge, dass es keine Wissenschaft vom Menschen geben kann, d. h. der Mensch kann nicht als eigenes Objekt des Wissens bzw. der Repräsenta­ tion erscheinen1069: „Die klassische episteme gliedert sich nach Linien, die in keiner Weise ein spezifisches und eigenes Gebiet des Menschen isolieren. […] Es war zu jener Zeit nicht möglich, daß sich an der Grenze der Welt jene eigenartige Gestalt eines Wesens erhebt, dessen Natur (die es determiniert, es festhält und seit der Tiefe der Zeiten durchdringt) es

1065 OD, S. 376. 1066 OD, S. 373. 1067 Hierzu Gutting 1989, 152: „There is, in other word, no possibility of treating representation itself as one of the elements of an ordered system and thereby understanding it in terms of its relationships of identity and difference to the other elements. But this is simply to say that representation itself cannot be represented.“ Ebenso S. 199: „As we saw, given the Classical conception of knowledge, representation could have been an object of knowledge only by treating it as one species of thought, related by a table of identities and differ­ ences to other such species. But this contradicts the Classical identification of all thought with representation.” 1068 Vgl. Dreyfus/Rabinow 1987, S. 49. 1069 Wenn er erscheint, dann nur als Element unter anderen.

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wäre, die Natur und infolgedessen sich selbst als natürliches Wesen zu erkennen.“1070 Man könnte so in der für Foucault typischen rhetorischen Überspitzung sagen, dass der Mensch in der klassischen Struktur des Wissens nicht existiert.1071 Erst am Ende des 18. Jahrhunderts wird das Bewusstsein nicht mehr als intrinsisch repräsentativ verstanden. Die Frage nach dem spezifi­ schen Vermögen des Menschen, Objekte mental zu repräsentieren, wird gestellt.1072

1.2.3 Episteme der Moderne „Es bedurfte wohl eines fundamentalen Ereignisses, eines der radikalsten wahrscheinlich, das der abendländischen Zivilisation zugestoßen ist“, da­ mit sich die klassische Episteme zugunsten einer neuen Konfiguration des Wissens auflöste.1073 Da wir noch in diesem Ereignis befangen, d. h. Teil dieser Episteme sind und noch so denken (müssen), „entgeht“ es „uns zum großen Teil.“1074 Foucault datiert dieses Ereignis um das Jahr 1800. Er zielt nicht auf eine kausale Erklärung, sondern auf eine reine Beschreibung ab. Insofern bleibt diese tiefgreifende tektonische Verschiebung innerhalb des Denkens des Abendlandes in einer seltsamen Schwebe.1075 Auch wenn es Andeutungen gibt, dass dieses Ereignis mit dem Tod Gottes oder – weniger prätentiös formuliert – dem Ende der klassischen Metaphysik zusammenfällt.

1.2.3.1 Objektivierungsmodus: Geschichtlichkeit Im Gegensatz zu den Ursachen ist Foucault in Bezug auf die Folgen relativ klar: Die prästabilisierte Harmonie zwischen Dingen (Sein) und Vorstellungen (Denken) zerbricht.1076 Damit wird die repräsentative Bezie­

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OD, S. 373ff. OD, S. 373. Vgl. Gutting 1989, S. 151. OD, S. 273. OD, S. 273. Vgl. OD, S. 269. Vgl. DE I, S. 648: „Es bestand keine Transparenz mehr zwischen der Ordnung der Dinge und der Ordnung ihrer möglichen Repräsentationen; die Dinge

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hung beider zueinander zweifelhaft. Dieser Umstand manifestiert sich in besonderer Dichte in der Transzendentalphilosophie: Kant fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit des Objektbezugs in der Erkenntnis und problematisiert damit die Repräsentativität von Vorstellungen im Allge­ meinen. Er leitet den Bruch mit der klassischen Episteme jedoch nicht ein, vielmehr – und hierin zeigt sich Foucaults methodologische Ausrichtung besonders anschaulich – reflektiert er diesen nur. Er reflektiert ihn, indem er eine Frage aufwirft, die innerhalb der Episteme der Klassik gar nicht sinnvoll gestellt werden konnte. Diese Frage wird überhaupt erst möglich, weil sich uns die Dinge nicht mehr in einander ähnlichen Vorstellungen anbieten, sondern in der aus sich selbst heraus unüberbrückbaren Ver­ schiedenheit des Mannigfaltigen: „Die Ähnlichkeit in der klassischen Philosophie […] spielt eine Rolle symmetrisch zu der, die im kritischen Denken und den Philosophien des Urteils das Verschiedene [le divers] sichert.“1077 Die Differenz, die im klassischen Denken gerade das Ergebnis der Analyse war, wird nun zur bloßen Voraussetzung der Erkenntnis degradiert. Eine unmittelbar evidente Erkenntnis des Einfachen (durch sinnliche oder in­ tellektuelle Anschauung) und eine darauf aufbauende Analyse in Differenz und Identität wird somit unmöglich. Jede Analyse setzt einen Akt der Synthese voraus. Die Repräsentation, verstanden als der gesicherte Bezug einer Vorstellung auf ein Objekt, wird daher auf den Bereich möglicher Erfahrung eingeschränkt.1078 Dadurch ergeben sich an den Rändern dieses Bereichs zwei Leerstellen, in denen die Synthese angesiedelt wird. Denn die Synthese selbst liegt nicht auf der gleichen Ebene wie die Repräsentati­ on – darin besteht gerade ihr transzendentaler Status1079:

zogen sich gleichsam auf ihre eigene Dichte und das Erfordernis zurück, sie von außen zu repräsentieren“. 1077 OD, S. 104, Hervorhebung B. H. 1078 Oder umgekehrt, wie es Foucault in OD, S. 303 beschreibt, hat sich „die Mög­ lichkeit der Synthese aus dem Raum der Repräsentation herausgelöst“. 1079 Hierzu erläuternd Frank 1984, S. 171: „,transzendental‘ meint gerade dies: Bedingung der Möglichkeit der Seinsweise eines anderen, aber nicht selbst un­ ter die Seinsweise des Begründeten fallend.“ Ebenso Mazumdar 2008, S. 195: „Die Voraussetzung dafür also, dass die kantische Kritik das klassische Denken als dogmatische Metaphysik verurteilen kann, ist, dass ein Ort außerhalb der Repräsentation aufgetaucht ist, von dem aus der Raum der Repräsentation als relativiert und abgeleitet erscheint.“

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„Die Bedingung dieser Verbindungen [der Repräsentationen] ruht künftig außerhalb der Repräsentation, jenseits ihrer unmittelbaren Er­ scheinung (visibilité), in einer Art Hinterwelt, die tiefer und dicker als sie selbst ist.“1080 Diese in einer sicherlich nicht zufälligen Anlehnung an Nietzsche bezeich­ nete „Hinterwelt“1081 realisiert sich 1) aufseiten des Subjekts in Form des „Auftauchen[s] eines transzendentalen Themas“ und gleichzeitig 2) auf der Seite des Objekts durch das Entstehen „neuer oder zumindest auf neue Weise eingeteilter und begründeter empirischer Felder“.1082 Das Feld der Wissenschaften, das in der Klassik noch eine Einheit bildete, spaltet sich entsprechend der Trennung von Denken und Sein auf. 1) Transzendentales Subjekt: Wie wir gesehen haben, ist die Möglichkeit der Repräsentation gleichbedeutend mit der Möglichkeit der Erfahrung. Für die Transzendentalphilosophie sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung identisch mit den Bedingungen der Möglichkeit der Erfah­ rungsgegenstände.1083 Die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrungsge­ genstände gründet wiederum auf der synthetischen Funktion der Verstan­ desbegriffe, die in der vorempirischen Identität des Subjekts (transzenden­ tale Einheit der Apperzeption) wurzeln. Die genuine Frage dieses Denkens ist die Möglichkeit der Synthese a priori oder gleichbedeutend: die Mög­ lichkeit synthetischer Urteile a priori. Damit bildet das Denken Kants für Foucault „die Schwelle unserer Modernität“. Denn es hält „den Rückzug des Denkens (pensée) und des Wissens (savoir) aus dem Raum der Repräsentation“ theoretisch fest.1084 Der Begriff der ‚Schwelle‘ deutet indes darauf hin, dass Kant zwar auf der Grenze zur Moderne steht, aber diesem Denken nicht vollends ange­ hört.1085 Diese entscheidende Einsicht hat Foucault in seiner „Einführung in Kants Anthropologie“ als „Lektion Kants“ expliziert. Dort zeigt er, dass Kant in seiner Anthropologie das Transzendentale im Empirischen wieder­ holt; anstatt, wie es ansonsten für die Moderne charakteristisch ist, das Empirische ins Transzendentale zu projizieren, um so „die Strukturen des

1080 1081 1082 1083 1084 1085

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OD, S. 295. Vgl. Nietzsche, KSA 4, S. 35ff. OD, S. 300. Hierzu Kap. II.1.1.3. OD, S. 299. Zur Stellung Kants bei Foucault: Allen 2008, S. 24ff, Lavagno 2003, S. 29f.

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Apriori auf einen Anfang, auf einen Archaismus der Wirklichkeit (fait) oder des Rechts (droit) hin zu verschieben.“1086 2) Transzendentales Objekt: Gleichzeitig fragt eine andere Form des Den­ kens „nach den Bedingungen eines Verhältnisses zwischen den Repräsenta­ tionen aufseiten des Seins selbst, das sich darin repräsentiert findet.“1087 Sie realisiert sich ausgehend von derselben modernen Episteme, steht aber der Intention Kants entgegen. Man sucht nach dem Apriori für die Repräsentation aufseiten des Objekts. Es handelt sich also um eine Art Transzendentalphilosophie des Objekts.1088 Hier liegen die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung in den Bedingungen der Möglichkeit des Objekts und seiner Existenz. Man fragt nach der apriorischen Kohärenz des Mannigfaltigen und verortet sie im Leben, der Arbeit und der Sprache. Diese „Quasi-Transzendentalia“1089 sind zwar als solche nicht erkennbar, aber dadurch können sie gerade als Bedingungen des erkennbaren Objekts fungieren. Während die Transzendentalphilosophie nach der Synthese a priori fragt, fokussiert sich diese Form des Denkens auf die Synthese a posteriori und deren Prinzipien. Diese „Quasi-Transzendentalien“ bieten dabei einen zweifachen Anknüpfungspunkt. a) Metaphysik des Objekts: Wie die Idee in der transzendentalen Dialek­ tik totalisieren die Quasi-Transzendentalien einerseits die Phänomene: Sie besagen die apriorische Kohärenz der empirischen Mannigfaltigkeit. Es handelt sich also um regulative Ideen, die den Zusammenhang der Erfah­ rung begründen.1090 So entstehen Metaphysiken des Objekts, wie z. B. die Philosophie des Willens (Schopenhauer), die Lebensphilosophie (Berg­ son) und die Philosophie des göttlichen Worts (Schleiermacher). Diese Metaphysiken mögen als Rückschritt in die präkritische Phase erscheinen, indem sie versuchen, den Seinsgrund der Dinge theoretisch zu fassen. Indes gehören sie aber derselben archäologischen Disposition des Wissens an wie die kantische Transzendentalphilosophie. b) Positivismus: Andererseits betreffen die Quasi-Transzendentalien „das Gebiet der Wahrheiten a posteriori und die Prinzipien ihrer Synthese, und nicht die Synthese a priori jeder möglichen Erfahrung.“1091 Dies schlägt sich in den positivistischen Wissenschaften des Lebens (Biologie), der Ar­

1086 1087 1088 1089 1090 1091

EKA, S. 86, OD, S. 410. OD, S. 300. Vgl. Gutting 1989, S. 184. OD, S. 307. Vgl. Frank 1984, S. 176. OD, S. 301.

241

III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

beit (Ökonomie) und der Sprache (Philologie) nieder. Diese lassen den Anspruch, das Wesen der Dinge zu beschreiben, gänzlich fallen und kon­ zentrieren sich nur noch auf die empirischen Erscheinungen und deren Gesetze und Regelmäßigkeiten. Dieses „Dreieck“ aus transzendentaler Kritik, Metaphysik des Objekts und Positivismus ist konstitutiv für die Ordnung des modernen Wissens.1092 Im Gegensatz zur Klassik gibt es in der Moderne nur noch einen begrenz­ ten Raum der Erkenntnis, der durch die Transzendentalphilosophie vom Subjekt her, von der Metaphysik des Objekts vom Gegenstand her und vom Positivismus in seiner Isolation bearbeitet wird. Die Objektivität der Erkenntnis hängt stets an der Synthese. Damit ist die eigentliche Kategorie des Objektivierungsmodus aber noch nicht benannt: Die Synthese ist nur ihre gedankliche Grundlage, wie in der Klassik die Analyse die Grundlage der Ordnung ist. Entscheidend ist, dass die Synthese im Gegensatz zur Analyse der Klassik eine ihr eigene Zeitlichkeit hat. Der Widerspruch zwischen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit der Synthese wird innerhalb des kantischen Systems noch aufzuheben versucht: Ein Urteil ist nur dann objektiv gültig, sofern die Synthese eines Mannigfaltigen in jedem vernünftigen Subjekt überhaupt geschehen kann. Ein Erfahrungsurteil beruht im Gegensatz zu einem Wahrnehmungsurteil auf der transzendentalen Einheit des Selbstbewusstseins.1093 Die nachkan­ tianische Philosophie verwirft diese Lösung jedoch. Sie bringt die Zeitlich­ keit der Synthese voll zur Geltung. So wie die Renaissance durch die Ähnlichkeit und die Klassik durch die Ordnung, so ist die Moderne durch die Kategorie der Geschichte konfiguriert. Mit Geschichte ist hier nicht die „empirische Wissenschaft der Ereignisse“ gemeint, sondern „die fundamentale Seinsweise der Empirizitäten, von wo aus sie bestä­ tigt, festgesetzt, angeordnet und im Raum des Wissens für eventuel­ le Erkenntnisse und für mögliche Wissenschaften aufgeteilt worden sind.“1094 Die Dinge erhalten ihren Platz nicht durch ein universelles Klassifikati­ onsschema der Identität und der Differenz in einer „bruchlosen Gleichzei­ tigkeit“1095, sondern durch die Anordnung von synchron und diachron auftretenden Elementen in Form einer „Folge, als eine Verkettung oder

1092 1093 1094 1095

242

OD, S. 302. Siehe Kap. II.1.1.3. OD, S. 271. OD, S. 270.

1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

ein Werden.“1096 Dieses Werden hat allerdings auch nicht mehr die Form einer Synchronizität von Natur und Mensch, wie dies vor der Moderne in Form einer uniformen Geschichte der Fall war. Stattdessen wird der Natur und all den darunter subsumierten Elementen ihre eigene, partielle Histo­ rizität zugestanden.1097 Festhalten kann man bisher, dass die moderne Episteme von einem kausal-genetischen Typ der Reflexion gekennzeichnet ist, der jedes Seiende darauf hin befragt, wie es zu dem geworden ist, was es ist. Diese Rekonstruktion der Entstehung der Dinge soll vor allem da­ rüber Aufschluss geben, warum sie so sind, wie sie sich heute zeigen.1098 Dieser Gedanke lässt sich in Bezug auf die empirischen Erkenntnisse noch konkretisieren: Der Raum des Wissens sortiert sich nicht mehr, indem die Elemente selbst nach den Kategorien der Identität und Differenz aufgeteilt werden. Stattdessen werden die Beziehungen zwischen den Elementen und die Funktion, die diese Elemente ausüben, analysiert. Es lassen sich Analogien bilden, die dann zu Folgen gereiht werden und die Geschichte konstituieren. Die schwierige Frage, die sich sogleich stellt, ist die, welche Beziehung der Mensch zur Historizität unterhält. Denn auch er kann sich als Teil der Natur seiner Geschichtlichkeit nicht entziehen: „Seit dem neunzehn­ ten Jahrhundert tritt eine nackte Form der menschlichen Historizität ans Licht, die Tatsache, daß der Mensch als solcher dem Ereignis ausgesetzt ist.“1099 Wie wir sehen werden, wird sich auf dieser Gewordenheit des Menschen die gesamte Ordnung der Moderne errichten.

1096 OD, S. 321. 1097 Foucault thematisiert die für die Moderne spezifische Konzeption der Ge­ schichte insbesondere in OD, S. 440ff. 1098 Vgl. Lavagno 2003, S. 102. 1099 OD, S. 443.

243

III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

1.2.3.2 Subjektivierungsmodus: Endlichkeit „Erst als […] jener klassische Diskurs erlischt, in dem das Sein und die Repräsentation ihren gemeinsamen Platz fanden, erscheint in der tie­ fen Bewegung einer solchen archäologischen Veränderung der Mensch mit seiner nicht eindeutigen Position als Objekt für ein Wissen und als Subjekt, das erkennt: Unterworfener Souverän, betrachteter Betrachter […].“1100 Mit der Charakterisierung des Subjekts als unterworfener Souverän sind wir unmissverständlich bei dem genuinen Subjektivierungsmodus der Mo­ derne angelangt. Der Mensch beginnt (erkenntnistheoretisch) von dem Augenblick an zu ‚existieren‘, an dem das repräsentative Vermögen des Menschen problematisiert und eine Reflexion darauf möglich wird. Er wird zum Garanten der Ordnung der Dinge erhoben, weil er derjenige ist, der durch den Akt der Synthese Ordnung stiftet: Indem zwar die Dinge in der Repräsentation ihr Wesen (ihr Sein an sich) nicht mehr offenbaren, zeigen sie doch die „äußerliche Beziehung, die sie zum menschlichen We­ sen herstellen.“1101 Diese äußerliche Beziehung der Dinge zum Menschen ist kantisch gesprochen ihre Erscheinung. Die Erscheinung hat keine belie­ bige, sondern eine notwendige Ordnung. Diese Ordnung liegt in der spe­ zifischen Seinsweise des Menschen begründet: Er ist ein „endliche[s] und denkende[s] Wesen“.1102 Also gerade seine Endlichkeit, die ihn in vormo­ derner Zeit gegenüber der Unendlichkeit Gottes als defizitär erscheinen ließ, soll als Grundlage der Ordnung der Welt fungieren.1103 Sie umfasst drei Momente: 1) die fundamentale und 2) die empirische Endlichkeit sowie 3) die Beziehung beider zueinander. 1) Wir kennen die erste Form bereits aus unserer Beschäftigung mit Kant. Sie ergibt sich aus der Eigenheit der transzendentalen Subjektivität in theoretischer und praktischer Hinsicht. Die theoretische Endlichkeit der Vernunft drückt sich darin aus, dass das Erkenntnisvermögen des Men­ schen begrenzt ist. So ist er zu keiner intellektuellen Anschauung fähig, die Einheit eines Gegenstandes ist an die reinen Anschauungsformen so­ wie die Kategorien gebunden und schließlich bleibt ihm die Einsicht in die Totalität der Ideen versagt. Die praktische Endlichkeit liegt in der Un­ fähigkeit, sich alleinig durch das vernünftige Wollen bestimmen zu lassen 1100 1101 1102 1103

244

OD, S. 377. OD, S. 378. KrV, B 72. Heidegger, GA 1, S. 214ff.

1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

und der damit verbundenen Notwendigkeit eines sinnlichen Antriebs als Exekutionsprinzip. 2) Gleichzeitig ist der Mensch jedoch auch als Objekt ein empirisches Wesen. Auf dieser Ebene weist seine Existenz eine durch die Quasi-Tran­ szendentalien des Lebens, der Arbeit und der Sprache bestimmte „Tie­ fe“1104 auf: Die „Räumlichkeit des Körpers“, „die Unerfülltheit des Verlan­ gens und die Zeit der Sprache“1105 determinieren die konkreten Erschei­ nungsweisen des Menschen. So zeigt sich eine zweite Grenze – die empiri­ sche Endlichkeit. 3) Das Denken der Moderne ist zumindest in der kantischen Konzepti­ on, die Foucault hier zur maßgeblichen macht, dadurch gekennzeichnet, dass die (fundamentale) Endlichkeit zur Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der (empirischen) Endlichkeit gemacht wird. Problematisch wird dieses Verhältnis insbesondere dann, wenn sich der Mensch wie in den Humanwissenschaften selbst zum Objekt der Erkenntnis macht.1106 Der Mensch wird so als Subjekt und zugleich als Objekt gedacht. Damit taucht er als Gegenstand einer Erkenntnis auf, deren Bedingung er doch selbst ist: „Der Mensch erschien als mögliches Objekt der Wissenschaft – näm­ lich der Humanwissenschaften – und zugleich als das Wesen, das Erkenntnis erst möglich macht. Der Mensch gehörte also einerseits als mögliches Objekt zum Gegenstandsbereich der Erkenntnis und galt zugleich in grundsätzlicher Weise als Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis.“1107 Diese für die Moderne paradigmatische „Analytik der Endlichkeit“1108 ist ein „Denken des Gleichen“. Beim Gleichen ist „der Unterschied dasselbe […] wie die Identität“.1109 Das bedeutet konkret, dass das Erklärende (die fundamentale Endlichkeit) und das zu Erklärende (die empirische Endlich­ keit) nicht ausreichend voneinander getrennt werden. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, das Verhältnis beider zueinander zu verkehren: die

1104 OD, S. 378. 1105 OD, S. 380. 1106 Zum Begriff der Humanwissenschaften, der nicht deckungsgleich mit den Geisteswissenschaften ist: Frank 1984, S. 144ff. 1107 DE I, S. 778. Hierzu auch Saar 2007, S. 173. 1108 OD, S. 380. 1109 OD, S. 381.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

empirische Endlichkeit wird im Fundamentalen wiederholt. Genau diese Verkehrung ist für Foucault der zentrale Wesenszug der Moderne.1110 Die Wiederholung vollzieht sich auf drei Ebenen: dem Empirischen und dem Transzendentalen, dem Cogito und dem Ungedachten, der Wieder­ kehr des Ursprungs und sein Zurückweichen. Das Grundproblem bleibt dabei konstant: Der Mensch entdeckt im Empirischen, im Ungedachten und im Ursprung eine innere oder äußere Begrenzung seiner selbst, die er nie ganz einholen kann. Diese Begrenzung wird auf der fundamenta­ len Ebene zur transzendentalen Bedingung der Möglichkeit eben jener Erfahrung, die gleichzeitig dazu aufruft, immer mehr des Ungedachten und des Ursprungs in das Bewusstsein aufzunehmen, ohne jedoch jenes ganz im Cogito aufnehmen zu können oder den Ursprung je ganz zu erreichen. Der Mensch ist also dazu verdammt, ständig zwischen diesen zwei Polen zu oszillieren. So erlangt er nie die vollkommene Transparenz seiner selbst, seines Wissens und folglich auch keine dauerhafte Stabilität der von ihm eingesetzten Ordnung.1111 Foucault kann allerdings ausgehend von seinen methodologischen Prä­ missen die Problematik der Moderne nicht als Widerspruch in ihren theo­ retischen Grundlagen fassen, da er jegliche Geltungsansprüche bewusst ausklammert, sondern nur die Instabilität der Ordnung konstatieren. Die­ se Instabilität besteht so lange, wie das moderne Denken einerseits einen umfassenden Erklärungsanspruch erhebt, andererseits aber mit dem Men­ schen an einer Erklärungsinstanz festhält, die selbst mit dem Empirischen verwoben ist.1112

1.2.3.3 Zeichen und Sprache: Zerstreuung des Seins Wir konnten im Gegensatz zur Episteme der Renaissance und der Klassik die Rolle der Sprache in der Moderne bisher aussparen. Der Grund dafür liegt darin, dass das Auftauchen des Menschen und dessen epistemische Souveränität das in der Klassik vorherrschende Primat der Sprache und der Repräsentation suspendiert hat. Durch das Auftauchen der Transzendenta­

1110 Vgl. DE I, S. 590: „[S]obald man versucht, ein Wesen des Menschen zu defi­ nieren, das sich selbst zum Ausdruck zu bringen vermag und zugleich die Grundlage aller möglichen Erkenntnis wie auch aller möglichen Grenzen der Erkenntnis sein soll, landet man mitten im Fehlschluss.“ 1111 Vgl. Lavagno 2003, S. 117. 1112 Vgl. Ebd., S. 116.

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1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

lien, die den Möglichkeitsgrund der Erkenntnis außerhalb der Repräsenta­ tion ansiedeln, endet die Potenzialität der Repräsentation, sich selbst in ihrer Gesamtheit in der Sprache darzustellen. Denn die notwendige Vor­ aussetzung einer Ähnlichkeit der Dinge und einer Kontinuität der Welt ist nicht mehr gesichert.1113 Die Repräsentation hat „die Kraft verloren, von ihr selbst ausgehend, in ihrer eigenen Entfal­ tung und durch das sie reduplizierende Spiel die Bande zu stiften, die ihre verschiedenen Elemente vereinen können. Keine Zusammen­ setzung, keine Zerlegung, keine Auflösung in Identitäten und Un­ terschiede kann mehr die Verbindung der Repräsentation rechtferti­ gen.“1114 Die Übereinstimmung von Sprache und Denken erlischt, indem die Spra­ che „plötzlich ein eigenes Sein“ und somit eine eigene Geschichtlichkeit erlangt. Dieses Sein enthält die „Gesetze, die es beherrschen“.1115 Sprache und Zeichen werden somit zu Objekten unter anderen degradiert; was aber nicht heißt, dass die Sprache vollkommen auf einen Erkenntnisgegen­ stand reduziert wäre. Sie taucht jetzt vielmehr als problematisches Objekt in der Ordnung des Wissens auf, das eine dreifache „Kompensation“ er­ fährt.1116 1) Problematisch ist die Sprache deshalb, weil die modernen Wissen­ schaften zur Vermittlung jeglicher Erkenntnis auf eben jenes Medium not­ wendig angewiesen sind. Hieraus resultiert der Impetus zur Formalisierung der Sprache: Die wissenschaftliche Sprache soll möglichst neutralisiert werden, um aus ihr nicht mehr wie in der Klassik ein Instrument der Analyse zu machen, sondern eine äußere Manifestation bzw. Spiegelung der Erkenntnis. Gleichzeitig wird versucht, eine symbolische Logik zu entwerfen, die „die Formen und Verknüpfungen des Denkens außerhalb jeder Sprache zu repräsentieren“ gestattet.1117 2) Dem Streben der Formalisierung entgegengesetzt, ist das Wiederer­ scheinen der Hermeneutik (Interpretation) und der kritische Wert, welcher der Sprache zugeschrieben wird: „Indem die Menschen ihre Gedanken in Wörter ausdrücken, deren sie nicht Herr sind, indem sie sie in Sprachformen unterbringen, deren

1113 1114 1115 1116 1117

Vgl. Hemminger 2004, S. 81. OD, S. 294. OD, S. 360. OD, S. 362. OD, S. 362.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

historische Dimensionen ihnen entgehen, wissen sie nicht, daß sie sich den Erfordernissen ihrer Sprache unterwerfen, glauben dagegen, daß sie ihnen gehorcht. Die grammatische Einteilung einer Sprache sind das Apriori dessen, was darin ausgesagt werden kann.“1118 Dieses Apriori einer Sprache, von der wir bereits vor dem ersten Wort beherrscht und durchdrungen sind, versuchen die Vertreter der Herme­ neutik – Foucault nennt hier Marx, Nietzsche und Freud – offenzulegen und kultur- und gesellschaftskritisch zu nutzen. Formalisierung und Her­ meneutik sind aber, wie Foucault konstatiert, trotz ihrer offensichtlichen Unterschiede aufeinander bezogen. Während die Hermeneutik nach Re­ geln und Rechtfertigungen für eine gelingende Formalisierung trachtet, suchen formalistische Bewegungen wie z. B. der logische Atomismus ver­ zweifelt nach einem empirischen Feld, dem ihre Regeln zugeordnet wer­ den können.1119 Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass beide Aspekte z. B. im Strukturalismus und der Phänomenologie miteinander verbunden werden. 3) Schließlich bedingt das veränderte Sein der Sprache eine letzte und für Foucault „die bedeutendste und zugleich die unerwartetste“ Wirkung: das Auftauchen der Literatur.1120 Das, was wir heute als Literatur bezeich­ nen, ist eine Errungenschaft jungen Datums, die man zwar bis zur Antike zurückzudatieren versucht, aber in ihrer Entstehung an das Sein der Spra­ che in der Moderne gebunden ist. Die Funktion der Literatur ist es, „die Sprache der Grammatik auf die nackte Kraft zu sprechen“ zurückzuführen und dort „das wilde und beherrschende Sein der Wörter“ anzutreffen – eine Sprache sprechen zu lassen, die sich weigert zu repräsentieren und nur dazu da ist, um ihre eigene Form reflexiv auszusagen.1121 * Vor dem Hintergrund der Darstellung der spezifischen Wissensordnung der Moderne erschließt sich die charakteristische Art von Notwendigkeit, gegen die sich Foucault in seiner kritischen Geschichte des Denkens richtet; eine Form der Notwendigkeit, die sich auf die Souveränität des endlichen Subjekts stützt, eine Geschichte, die das Unterschiedliche auf das Gleiche reduziert.1122 Hiervon ausgehend können wir die Art von

1118 1119 1120 1121 1122

248

OD, S. 362. Vgl. Frank 1984, S. 184. OD, S. 365. OD, S. 365. Diese Perspektive bleibt auch in der vermeintlich ethischen Phase Foucaults erhalten, so beispielsweise RdL, S. 144: „Wie hat sich der abendländische

1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

kritischer Haltung, die Foucault einfordert, in seinen methodologischen Konsequenzen näher umreißen.

1.2.4 Ereignis: Gegenständlichkeit ohne Gegenstand Wie wir gesehen haben, konstatiert Foucault eine Vermengung des trans­ zendentalen Ermöglichungsgrunds mit der Empirizität, die er in Anleh­ nung an Kant „anthropologische[n] Schlaf“ nennt.1123Allerdings zieht er daraus nicht die Konsequenz einer erneuten Einforderung der in der Kri­ tik der reinen Vernunft getroffenen strengen Unterscheidung zwischen dem Bereich der Erfahrung und dem Intelligiblem bzw. zwischen Erschei­ nung und Ding an sich.1124 Vielmehr will er „eine Methode der Analyse [...] definieren, die von jedem Anthropologismus“ und damit vom Denken des Gleichen „frei ist.“1125 Das scheint konsequenterweise die Verwerfung des Transzendentalen zu implizieren: „In meiner gesamten Forschung bemühe ich mich […] jeden Bezug auf das Transzendentale, das eine Bedingung der Möglichkeit jedwe­ der Erkenntnis sein soll, zu vermeiden. […] [I]ch versuche, eine immer stärker losgelöste Position einzunehmen, um die geschichtlichen Be­ dingungen und Wandlungen unserer Erkenntnis zu bestimmen. Ich versuche im höchsten Maße zu historisieren, um dem Transzendenta­ len so wenig Platz wie möglich zu lassen.“1126

1123 1124 1125

1126

Mensch an die Pflicht gebunden, das zu offenbaren, was er in Wahrheit ist? Wie hat er sich gewissermaßen auf zwei Ebenen und auf zwei Arten gebunden, einerseits mit der Wahrheitspflicht und andererseits mit seiner Stellung als Ob­ jekt innerhalb der Wahrheitsmanifestation? Wie haben sie sich an die Pflicht gebunden, sich selbst als Objekt des Wissens zu binden. Diese Art Doublebind ist im Grunde das, was ich, freilich in verschiedener Hinsicht, im Grunde immer analysieren wollte“. OD, S. 410. Kant spricht in der Prol IV, S. 260 vom „dogmatischen Schlum­ mer“, aus dem ihn Hume erweckt hat. Hierzu eingehender Riefling 2013, S. 90ff. Han 2002, S. 4 spricht von zwei sich widersprechenden Ansprüchen: Kants kritische Frage zu wiederholen und gleichzeitig der Gefahr einer Anthropologisierung zu entkommen. AW, S. 28. Der Begriff der Methode scheint die Bedeutung der Perspektive, die Foucault dadurch einnimmt, zu relativieren. Die Wahl einer Methode gegen­ über einer anderen ist jedoch immer durch ontologische und epistemologische Annahmen fundiert. Zum Bruch mit dem anthropologischen Denken: OD, S. 411f, Waldenfels 1983, S. 525f. DE II, S. 466.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Hier ist jedoch Vorsicht geboten: Diese Ablehnung des Transzendentalen betrifft nur eine spezifische Ausprägung. Wie wir bereits gesehen haben, geht Foucault sehr wohl von einem historischen Apriori aus. Die Verwer­ fung des Transzendentalen bezieht sich auf die von Kant intendierte ahistorische und universelle Form. Ebenso darf sie nicht als einfacher Übergang zum Positivismus verstanden werden – auch wenn Foucault des Öfteren mit diesem Begriff kokettiert, so beispielsweise in seiner Selbstbe­ zeichnung als „glücklicher Positivist“.1127 Der Positivismus liegt ja gerade nicht jenseits der modernen Episteme, sondern ist durch seine Beschrän­ kung auf die Erfahrung, wenn auch negativ, auf das Transzendentale bezo­ gen. Sofern Foucault einen Positivismus vertritt, kann es nicht einfach ein auf die Gewissheit sinnlicher Erfahrung gestützter sein.1128 Diese paradoxe Position erhellt sich erst vor dem Hintergrund des zen­ tralen Begriffs des Ereignisses, das gegen die Dichotomie von Erfahrung und Ding an sich sowie die Trennung von Subjekt und Objekt im Denken in Stellung gebracht wird.1129 Welche Tragweite das Konzept tatsächlich hat, wird erst deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Foucault dem Ereignis in der methodischen Reflexion seiner bisherigen Bücher in der AW nicht nur eine zentrale Stellung einräumt, sondern dass er seine gesamte Methodologie gegen Ende der 70er als „Ereignishaftmachung“1130 bzw. als „Zum-Ereignis-Machen“1131 (evenementalisation) charakterisiert. Obwohl der Begriff der Skepsis die Bezeichnung später terminologisch verdrängt, bleibt das Ereignis der Sache nach präsent. Dieser außerordent­ lichen Bedeutung steht die Tatsache entgegen, dass Foucault nie eine exak­ te theoretische Begriffsbestimmung vorgenommen hat. Ungeachtet dessen gibt es einige verstreute Hinweise, die uns eine Annäherung an den syste­ matischen Gehalt des Konzepts ermöglichen.1132 So sticht insbesondere

1127 AW, S. 182. Foucault fügt in ODis, S. 44 erläuternd hinzu, dass sein Positivis­ mus sich von den untersuchten Positivitäten ableitet. Das Konzept des Ereig­ nisses zu bestimmen, wird somit auch den Status der Positivitäten erhellen. 1128 Foucault grenzt sich in ÜWW, S. 264 dezidiert von dem comteschen Positivis­ mus ab. 1129 Vgl. DE II, S. 106: „Vielleicht nähern wir uns hier zum ersten Mal einer Theorie des Denkens, die sich vollständig vom Subjekt und vom Objekt befreit hat.“ Deleuze 2014, S. 16, auf den sich Foucault hier positiv bezieht, will das Ereignis gerade als dem Dualismus „des Intelligible[n] und des Sensiblen“ entgegengesetzt verstehen. 1130 WK, S. 30f. 1131 DE IV, S. 29. 1132 Raffnsøe et al. 2011, S. 73ff sowie Siebenpfeiffer 2008, S. 249ff geben einen guten Überblick über den Ereignisbegriff von Foucault. Brieler 1998, S. 208ff

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1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

eine Passage aus der Antrittsvorlesung am Collège de France hervor. In dieser führt Foucault das Ereignis in der für ihn typisch negativen Art und Weise als regulatives Prinzip seiner Forschung ein.1133 „Gewiß ist das Ereignis [a)] weder Substanz noch Akzidenz, weder Qualität noch Prozeß; [b)] das Ereignis gehört nicht zur Ordnung der Körper. Und dennoch ist es keineswegs immateriell, da es immer auf der Ebene der Materialität wirksam ist, Effekt ist; […] es ist weder der Akt noch die Eigenschaft eines Körpers. […] Sagen wir, daß sich die Philosophie des Ereignisses in der auf den ersten Blick paradoxen Richtung eines Materialismus des Unkörperlichen bewegen müßte.“1134 Wir müssen hier insbesondere zwei Fragen klären: 1) Was ist ein Ereignis? 2) Welches Verhältnis haben Ereignis und Struktur zueinander? Letztere Frage zielt darauf ab, zu erläutern, wie Foucault einen erneuten Dualis­ mus und damit eine neue Figur der Analytik der Endlichkeit vermeiden kann.1135 1) Konzept des Ereignisses: Die Darstellung erfolgt über zwei analytisch getrennte Momente, die jedoch sachlich eng miteinander verwoben sind: a) die Singularität des Ereignisses im Gegensatz zur Substanz und Akzi­ denz und b) sein Status als unkörperliche Wirkung. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf den Implikationen für das Subjekt. a) Singularität: Durch die erste Abgrenzung des Ereignisses von dem Doppelpaar Substanz/Akzidenz lässt sich Foucaults Ereignisbegriff sach­ lich in die Nähe der Unterscheidung von Substanz- und Ereignisontologie bringen.1136 Kleinster gemeinsamer Nenner ereignisontologischer Ansätze

1133 1134 1135 1136

unterscheidet die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs, ohne aller­ dings die philosophische Funktion zu explizieren. Zum Zusammenhang von Geschichte und Ereignis: Schönherr-Mann 2019, S. 142ff. Auch Forst 1990, S. 147 sieht im Begriff des Ereignisses für Foucault sowie für Heidegger die Möglichkeit, „um die Diskontinuität und Grund-losigkeit der geschichtlichen Entwicklung zu charakterisieren.“ Vgl. ODis, S. 35. ODis, S. 37. Diesen Vorwurf haben insbesondere Dreyfus/Rabinow 1987 für die vermeint­ lich abgeschlossene Phase der Archäologie formuliert. Aufgegriffen wird diese Lesart beispielsweise von Han 2002. Foucault ist natürlich kein Vertreter der analytischen Ontologie in dem Sinn, dass er in der wissenschaftlichen Debatte Stellung beziehen würde. Die Konse­ quenzen, die Meixner 1998, S. 86ff jedoch in Bezug auf die Ereignisontologie schildert, weisen frappierende Ähnlichkeiten mit wichtigen Topoi und Struk­

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

ist es, dass Ereignisse individuelle Einzeldinge sind, die in Raum und Zeit vorkommen.1137 So verstanden, sind sie Allgemeinbegriffen (Universalien) entgegengesetzt, weil es für sie charakteristisch ist, einmalig und unwieder­ holbar zu sein.1138 Foucault könnte sich insofern in dieses Denken einfü­ gen, als er zwar keine Ontologie im Sinne der analytischen Philosophie betreibt, jedoch selbst mit dem Anspruch auftritt, eine „Ontologie der Gegenwart“ zu liefern.1139 Diese Form der Ontologie stützt sich gerade darauf, die historische Singularität der Dinge gegen die Universalität der Ideen auszuspielen: Vor diesem Hintergrund bezeichnet ein Ereignis einen „Bruch der Evidenz. Dort wo man versucht wäre, sich auf eine histo­ rische Konstante zu beziehen oder auf ein unmittelbar anthropologi­ sches Merkmal, oder auch auf eine Evidenz, die sich allen auf die gleiche Weise aufdrängt, geht es darum, eine ‚Singularität‘ auftreten zu lassen.“1140 Folglich unterscheidet sich das Ereignis bei Foucault sowohl vom Allge­ meinen – dem Gemeinsamen verschiedener Einzeldinge – als auch vom Partikularen – ein unter eine Allgemeinheit subsumierbares Einzelding. Das Ereignis wird als eine Singularität im strengen Sinn verstanden. Denn es ist eine Einzelerscheinung, etwas Einmaliges, das sich von anderem schlechthin unterscheidet: ein schlichtes ‚Dieses-hier‘ oder ein reines ‚Es gibt‘.1141 Damit ist es weder subsumierbar noch aus Prinzipien deduzier­ bar, „weil es die Prinzipien auf eine von eben diesen Prinzipien her unvor­ hergesehene Weise modifiziert.“1142 In diesem Sinn ist das Ereignis immer auch etwas Kontingentes bzw. Zufälliges1143: „Ein Ereignis ist kein Zeitausschnitt, sondern im Grunde der Schnitt­ punkt zwischen zwei Beständigkeiten, zwei Geschwindigkeiten, zwei Entwicklungen, zwei geschichtlichen Linien.“1144

1137 1138 1139 1140 1141 1142 1143 1144

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turen in Foucaults Denken auf, was auf eine Identität der Prämissen schließen lässt. Kanzian 2001, S. 130. Ebd., S. 153f. So liest z. B. Gabriel 2012, S. 33ff Foucault als Denker, der die Frage nach der Möglichkeit einer nachkantianischen Ontologie stellt. DE IV, S. 29, Hervorhebung B. H. Vgl. Miklenitsch 2015, S. 193. Frank 1984, S. 221. Vgl. ODis, S. 38: „Der Zufall muß als Kategorie in die Produktion des Ereignis­ ses eingehen.“ DE III, S. 730.

1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

Charakteristisch ist, dass es nicht-notwendig, aber trotzdem möglich ist. Es geht also darum, das Ereignis als Erscheinung zu erfassen – als Erschei­ nung, in der es im Gegensatz zu Kant paradoxerweise nichts gibt, was in ihr erscheint.1145 In der Entgegensetzung zum Denken des Gleichen will Foucault das Ereignis als reine Differenz verstanden wissen. Diese reine Differenz lässt sich nur einfangen, wenn man sie von allen vorgängi­ gen Synthesen befreit und sie in ihrer reinen Mannigfaltigkeit erscheinen lässt.1146 Den Gegenstand vor der Synthese zu erfassen, ist in kantischen Begriffen ein paradoxes Unternehmen, insofern es ohne Synthese gar kei­ nen Gegenstand gibt; ihn also so ‚erkennen‘ zu wollen, würde heißen, ihn aufzulösen. Diese Auflösung vollzieht sich als „Entgrenzung“ eines Begriffs.1147 Man sieht, inwiefern sich Skepsis und Ereignis ineinanderfü­ gen. Diese Form der Auflösung lässt sich noch anhand zweier zentraler Funktionen von Substanzen konkretisieren: Kausalität und Bewusstsein. Substanzen sind dadurch charakterisiert, dass sie Ausgangspunkte von Kausalität bilden und etwas bewirken können. Ereignisse hingegen kön­ nen geschehen, aber nichts bewirken. Denn Ereignisse folgen zwar aufein­ ander, aber in diesem Aufeinanderfolgen gibt es keinerlei Anhaltspunkte für einen objektiven kausalen Zusammenhang zwischen ihnen. Damit wird es aber unmöglich, davon zu sprechen, dass das eine Ereignis das andere bewirkt oder in seiner Realität notwendig bedingt.1148 Die Funktion von Substanzen, kausal wirksam zu sein, ist begrifflich eng damit verknüpft, dass Substanzen auch Bewusstseinsträger darstellen können. Das bedeutet, dass sie das Vermögen zu denken besitzen und auch tatsächlich denken. So ist Denken, wie wir bei Kant gesehen haben,

1145 Foucault legt diesen Gedanken in einem affirmativen Kommentar zu Deleuze in DE II, S. 99f dar: Das Ereignis ist ein Trugbild – ein Trugbild, bei dem es sinnlos ist, hinter ihm „nach einer Wahrheit zu suchen, die wahrer wäre als das Trugbild, so dass es nur als deren verworrenes Zeichen gelten könnte (es ist also sinnlos, das Trugbild zum bloßen Symptom zu erklären und es dadurch zu ‚symptomatologisieren‘)“. 1146 Vgl. DE II, S. 109f, ÜWW, S. 250: „Unter Ereignis verstehe ich keine abgrenzba­ re Einheit, der man eindeutig zeitliche und räumliche Koordinaten zuordnen könnte. Ein Ereignis besitzt stets eine Streuung und stellt eine Mannigfaltig­ keit dar. Es streckt sich hierhin und dorthin und hat zahlreiche Köpfe.“ 1147 Schubert 2018, S. 250 verweist auf diese Entgrenzung, ohne allerdings zu er­ läutern, worin sie genau besteht. Der Inhalt eines Begriffs wird so stark redu­ ziert, dass sein Umfang maximal ausgeweitet werden kann. Damit verliert ein Begriff seinen bestimmenden Charakter. Auf den vor-synthetischen Charakter des Ereignisses bei Deleuze verweist auch Vogl 2007, S. 69. 1148 Vgl. Meixner 1998, S. 91.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

eine Handlung. Diese Handlung wurzelt in letzter Konsequenz in der Möglichkeit, sich der Handlung und des Ichs als dessen Verursacher be­ wusst zu machen. Ereignissen hingegen kann ebenso wenig etwas bewusst sein, wie man sagen könnte, dass sie denken können.1149 Handlungsfähigkeit, im Sinne von Verursachung, Bewusstsein und Ein­ heit bilden so im Begriff der Substanz einen untrennbaren Verweisungszu­ sammenhang. Diesen Zusammenhang versucht Foucault zu lösen, indem er der Einheit der Substanz die Mannigfaltigkeit des Ereignisses entgegen­ setzt. Diese Mannigfaltigkeit impliziert dann statt einer klar zuordenbaren Kausalität eine unabschließbare Vielheit an Wechselwirkungen. Denn die Negation eines objektiven kausalen Zusammenhangs bedeutet für Fou­ cault nicht, dass ein Ereignis isoliert ist, sondern im Gegenteil, dass es in Relation zu etwas stehen muss. Erst durch die Skizzierung der mannigfalti­ gen Zusammenhänge, von denen das Ereignis ein Teil ist, sich zugleich aber auch unterscheidet, lässt sich präzisieren, worin seine Singularität besteht.1150 Das Ereignis kann überhaupt erst aus einer Relationalität er­ wachsen, die sich als Bedingung der Möglichkeit der Singularität beschrei­ ben lässt. Dieses bedingende Beziehungsgeflecht eines Ereignisses ist eben jenes historische Apriori. Letztlich zielt Foucault in der Beschreibung des historischen Apriori darauf ab, zu zeigen, dass diese Mannigfaltigkeit eine endgültige kausale Sättigung und somit einen als notwendig zu betrach­ tenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nie zulässt.1151 Ebenso zeigt sich das Mannigfaltige nicht als Bewusstes, sondern, wie wir bereits im Zusammenhang mit der Methodologie gesehen haben, als Unbewusstes, d. h. als etwas, das sich dem Bewusstsein des Subjekts entzieht. Damit sollte verständlich geworden sein, was Foucault damit aussagen will, wenn er behauptet, dass das Subjekt „keine Substanz“ sein kann.1152 Das impliziert zwei Dinge: Das Subjekt ist nicht souverän und nicht mit sich selbst identisch.1153 Souveränität meint hierbei nicht mehr als die

1149 Vgl. Ebd. 1150 Vgl. Raffnsøe et al. 2011, S. 76. Foucault äußert sich hierzu recht klar in STB, S. 346. 1151 Hieraus erschließt sich auch Foucaults Geschichtsverständnis wie sich in DE I, S. 778 zeigt: Schlussendlich geht es darum, sich von der Vorstellung zu lösen, dass „eine Geschichte ohne Kausalität […] keine Geschichte mehr“ sei. 1152 DE IV, S. 888. 1153 Vgl. DE IV, S. 906: Foucault denkt „tatsächlich, dass es kein souveränes, stiften­ des Subjekt, keine Universalform Subjekt gibt, die man überall wieder finden könnte. Ich [Foucault, B. H.] bin sehr skeptisch und sehr feindselig gegenüber dieser Konzeption des Subjekts.“

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Möglichkeit, bewusst Ursache sein zu können. So ist diese Negation des Substanzcharakters des Subjekts einerseits als Zurückweisung der Gleich­ setzung von (Selbst-)Bewusstsein und Subjekt zu lesen.1154 Andererseits wird aus der Negation der (unbedingten) Kausalität des Subjekts folgen­ der Zusammenhang geschlussfolgert: Wenn das Subjekt keine wirkende Kraft (Agens) ist, dann muss es im Umkehrschluss ein Abhängiges bzw. Leidendes sein. Das Denken, d. h. der Akt, Subjekt und Objekt in ein Verhältnis zueinander zu setzen, darf dementsprechend nicht mehr als genuin menschliche Selbsttätigkeit verstanden werden. Somit werden das Denken und dessen Elemente zu der Wirkung von etwas außerhalb des (bewussten) Denkens Liegendem – einer Struktur: „Ich bin sicher, dass es, wenn nicht im eigentlichen Sinne Struktu­ ren, so doch Funktionsregeln der Erkenntnis gibt, die im Laufe der Geschichte erschienen sind und innerhalb derer die verschiedenen Subjekte ihren Platz haben.“1155 Dem Aspekt der permanenten Identität wird von Foucault eine diskontinu­ ierliche Vielheit entgegengesetzt. Es gibt kein einheitliches Selbstbewusst­ sein, kein einheitliches Selbstverhältnis in den verschiedenen Gegenstands­ bereichen, in denen man sich befindet, und in den Rollen, die man in der Gesellschaft einnimmt: „Sie haben zu sich selbst nicht dieselbe Art von Verhältnis, wenn Sie sich als politisches Subjekt konstituieren, das zur Wahl geht oder das in einer Versammlung das Wort ergreift, als wenn Sie versuchen, Ihr Begehren in einer sexuellen Beziehung zu verwirklichen.“ Das Subjekt ist dementsprechend eine wandelbare Funktion bzw. „Form, und diese Form ist weder vor allem noch durchgängig mit sich selbst identisch. […] Es gibt zweifellos Beziehungen und Interferenzen zwischen diesen verschiedenen Formen des Subjekts, aber man steht nicht demsel­ ben Typus von Subjekt gegenüber.“1156

1154 Vgl. DE II, S. 465: „In seinen [Nietzsches, B. H.] Schriften finde ich einen anderen bedeutenderen Aspekt: die Infragestellung des Primats oder, wenn Sie es vorziehen, des Privilegs des Subjekts, in dem Sinne, wie Descartes und Kant es verstehen, des Subjekts als Bewusstsein. […] Nun, […] ich bin genau genommen weder Kantianer noch Cartesianer, weil ich eine Gleichsetzung zwischen Subjekt und denkendem Ich auf transzendentaler Ebene zurückwei­ se.“ Diese Interpretation stützt auch Menke 2003, S. 287. 1155 DE II, S. 465f. 1156 DE IV, S. 888.

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b) Unkörperliche Wirkung: Der zweite Teil des Eingangszitats thematisiert das Ereignis als etwas Immaterielles, das aber auf der Ebene der Materiali­ tät wirksam ist. Aus sich selbst heraus bleibt diese Stelle in der Tat schwer verständlich; zumal sie von Foucault auch im weiteren Verlauf nicht näher erläutert wird. Sie erhellt sich erst, wenn man sie in Zusammenhang mit Foucaults affirmativem Kommentar zu zwei Büchern von Gilles Deleuze („Theatrum philosophicum“) bringt.1157 Es sticht in unserem Kontext be­ sonders eine Stelle hervor: „Das Ereignis […] ist stets Wirkung, ist stets Ergebnis des Zusammen­ stoßes, der Vermischung oder Trennung von Körpern; doch diese Wir­ kung ist selbst niemals etwas Körperliches […]. Die Physik befasst sich mit den Ursachen; doch die Ereignisse, die deren Wirkung darstellen, gehören nicht mehr zur Physik.“1158 Vor diesem Hintergrund lassen sich die Aussagen in der Antrittsvorlesung als eindeutige Hommage an Deleuze lesen.1159 Allerdings gehen sie inso­ fern darüber hinaus, als Foucault das Ereignis hier als zentralen methodi­ schen Begriff seiner eigenen Forschung bestimmt. Er scheint sich spezifi­ sche Aspekte von Deleuzes Konzept anzueignen, die wir im Folgenden beleuchten wollen. α) Gegenständlichkeit ohne Gegenstand: Grundsätzlich bietet sowohl für Foucault als auch für Deleuze das Konzept des Ereignisses eine Möglich­ keit, sich von jeglicher Substanzialisierung (Substanz und Akzidenz, Intel­ ligibles und Empirisches usw.) zu befreien. Der Ursprung der Substanzia­ lisierung ist für beide Denker philosophiegeschichtlich insbesondere mit dem Namen Platon verknüpft. Konsequenterweise verstehen sich beide als dezidierte Anti-Platoniker.1160 Theoretischer Ausgangspunkt für die Um­ kehrung des Platonismus ist bei Deleuze eine bestimmte Interpretation der

1157 DE II, S. 93–122. 1158 DE II, S. 101. 1159 Auch Waldenfels 1983, S. 558f bemerkt, dass sich Deleuze überhaupt als guter Kommentator zu Foucaults Begriffsstrategien eignet. 1160 Vgl. DE II, S. 94: „Welche Philosophie hätte nicht versucht, den Platonismus umzukehren? Könnte man Philosophie nicht geradezu als jede beliebige Tä­ tigkeit definieren, die darauf abzielt, den Platonismus umzukehren?“ Zum Topos der Umkehrung des Platonismus: Deleuze 2014, S. 15f, 311. Miklenitsch 2015, S. 188 Fn weist jedoch zurecht daraufhin, dass es sich hier eher um ein von Nietzsche geprägtes ‚Abziehbild‘ Platons handelt, als dass damit die platonische Philosophie als solche adäquat getroffen wäre.

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stoizistischen Metaphysik.1161 Dabei werden zwei Arten von Entitäten von­ einander abgegrenzt: Materielles (Dinge/Körper bzw. Dingzustände) und Immaterielles. Das Immaterielle bzw. Unkörperliche ist ein Ereignis. Beide Elemente lassen sich durch eine ihnen eigene Zeitlichkeit unterscheiden: Während die Dinge stets in einer fortwährenden Gegenwart existieren, befinden sich die Ereignisse in einem unendlichen Werden. Das Werden ist immer zugleich Zukunft und Vergangenheit, nie aber Gegenwart.1162 Wichtig sind bei dieser Gegenüberstellung der Zeitebenen vor allem die logischen Implikationen. So findet der Satz vom Widerspruch auf die Din­ ge Anwendung. Dinge können nicht zugleich a und nicht-a sein, weil sie nur eine Zeitebene besitzen. Hingegen können Ereignisse aufgrund der Si­ multanität von Zukunft und Vergangenheit zugleich durch Prädikat a und nicht-a bestimmt werden.1163 Das entzieht sie erneut konzeptionell dem Gedanken der Bestimmbarkeit und damit der Einheit eines Gegenstands, wie wir ihn bei Kant kennengelernt haben: „Man kann nicht sagen, daß sie [die Ereignisse] existieren, sondern eher, daß sie subsistieren oder insistieren, da sie über jenes Mindestmaß an Sein verfügen, das all dem zukommt, was kein Ding, was nicht-existie­ rende Entität ist.“1164 Das Ereignis ist für Deleuze eine Gegenständlichkeit ohne Gegenstand.1165 Wie sehr Foucault diesen Gedanken aufnimmt und teilt, wird deutlich, wenn man sich eine methodische Erläuterung aus STB vergegenwär­

1161 Auch hier ist zu bemerken, dass die Frage, ob diese Interpretation des Stoizis­ mus adäquat ist, dahingestellt bleiben muss. 1162 Vgl. Deleuze 2014, S. 23. Hierzu auch Foucault in DE II, S. 179: „Der histo­ rische Sinn führt alles, was am Menschen als unsterblich galt, wieder dem Werden zu – und genau dies tut die wirkliche Historie.“ 1163 Foucault verweist auf diese logischen Implikationen in GBP, S. 70. Er grenzt sich dabei von der dialektischen Logik ab, die „widersprüchliche Begriffe im Element des Homogenen spielen läßt“ und ihren Widerspruch dadurch auf­ hebt. Gegen diese Art der Logik macht er eine „Logik der Strategie“ geltend. Die „Logik der Strategie macht nicht [wie die Dialektik, B. H.] widersprüch­ liche Begriffe in einem homogenen Element geltend, das ihre Auflösung in eine Einheit verspricht. Die Logik der Strategie hat als Aufgabe, festzustellen, welches die möglichen Verknüpfungen zwischen disparaten Begriffen sind, die disparat bleiben. Die Logik der Strategie ist die Logik der Verknüpfung des He­ terogenen und nicht die Logik der Homogenisierung des Widersprüchlichen.“ 1164 Deleuze 2014, S. 19, Hervorhebung B. H. 1165 Zu dieser Begrifflichkeit: Vogl 2007, S. 69.

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tigt.1166 Foucault versucht hier ausgehend von seiner methodischen Per­ spektive den Status der Untersuchungsgegenstände zu klären. Er wählt dazu in einer fast wortgleichen Formulierung zu Deleuze das Beispiel des Wahnsinns: „Man kann zweifellos sagen, daß der Wahnsinn ‚nicht existiert‘, doch das heißt nicht, daß er nichts sei.“1167 Obwohl der Wahnsinn also nicht existiert, hat er trotzdem Sein. Der Wahnsinn und damit alle anderen Entitäten1168 haben nie eine Gegenwart, keine abschließende Bestimmbarkeit und damit keine Kontinuität in der Zeit. Sie existieren nicht (als Einheit eines Gegenstandes).1169 Trotzdem haben sie Sein (im Sinne einer Gegenständlichkeit). Die Entitäten sind „etwas wirklich in der Welt Vorhandenes“1170, aber sie stehen als Ereig­ nisse stets zwischen Zukunft und Vergangenheit, sind nie abschließend bestimmbar und von Diskontinuität geprägt. β) Verhältnis von Materiellem und Immateriellem: Entscheidend ist weiter­ hin, dass Ereignisse (Unkörperliches) und Körper zwar disjunkte Katego­ rien sind, sie aber in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen. Das Materielle bringt das Immaterielle als Wirkung hervor: Körper „sind Ursachen bestimmter Dinge ganz anderer Natur. Diese Wirkungen sind nicht Körper, sondern im eigentlichen Sinn ‚Unkör­ perliche‘. Es handelt sich nicht um physische Qualitäten oder Eigen­

1166 In eine ähnliche Richtung argumentiert Ruhstorfer 2004, S. 39ff, wenn er in seiner logotektonischen Untersuchung Foucaults Denken nicht der posi­ tiven oder negativen, sondern der unendlichen Urteilsform zuordnet: „Das unendliche Urteil besagt also nur die inhaltliche Differenz von Subjekt (= ‚Ob­ jekt‘) und Prädikat, anders ausgedrückt, die Begrenzung der endlichen Sphäre des Prädikates. Das Subjekt bleibt dabei beinahe unbestimmt, da nur der Ausschluss einer einzigen Bestimmung durch ein Prädikat angesichts einer unendlichen Möglichkeit von Bestimmungen gegeben ist. So drängt das un­ endliche Urteil zu einer unendlichen Wiederholung des Ausschließens.“ 1167 STB, S. 177, Hervorhebung B. H. 1168 Foucault nennt exemplarisch noch die Delinquenz und die Sexualität. 1169 STB, S. 177 versteht diese Perspektive insgesamt als Umkehrung der Phänome­ nologie: „Es handelt sich im Ganzen genommen darum, das Gegenteil dessen zu tun, was uns die Phänomenologie zu sagen und zu denken gelehrt hat, die Phänomenologie, die ungefähr sagte: Der Wahnsinn existiert, was nicht bedeutet, daß er etwas sei.“ 1170 Foucault 1996, S. 179.

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schaften, sondern um logische oder dialektische Attribute. Es handelt sich nicht um Dinge oder Dingzustände, sondern um Ereignisse.“1171 In dieser materialistischen Konzeption sieht Deleuze die radikalste Um­ kehr des Platonismus, da das „Ideelle, das Unkörperliche“ hier „nur noch eine ‚Wirkung‘ sein“ kann; da Ereignisse nicht in der „Tiefe der Körper“ versteckt sind, sondern sich an der „Oberfläche der Dinge“ vollziehen.1172 Hiervon ausgehend lassen sich zahlreiche Querverweise zu Foucault zie­ hen. Auf den Gedanken der Oberfläche sind wir schon in Zusammenhang mit den Praktiken gestoßen. Foucaults Aussage, die Praktiken in ihrer Po­ sitivität zu untersuchen, bedeutet letztlich nichts anderes, als die Praktiken als Ereignis zu beschreiben – und zwar so, wie sie tatsächlich zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt vollzogen worden sind.1173 Das betrifft diskursive und nicht-diskursive Praktiken gleichermaßen. Wenn Deleuze sagt, dass das „Ereignis […] dem Werden und das Werden seinerseits der Sprache koextensiv“1174 ist, so findet dies bei Foucault seine Analogie in dem Vorhaben einer „reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse“1175: „Tatsächlich gestattet das systematische Auslöschen der völlig gegebe­ nen Einheiten zunächst, der Aussage ihre Besonderheit eines Ereignis­ ses wiederzugeben und zu zeigen, daß die Diskontinuität nicht nur einer jener großen Zufälle ist, die in der Geologie der Geschichte einen Bruch bildet, sondern bereits da in der einfachen Tatsache der Aussage (sic!); man läßt sie in ihrem historischen Hereinbrechen auf­ tauchen; man versucht jenen Einschnitt, den sie darstellt, in den Blick zu bringen, jenes irreduzible […] Auftauchen. So banal eine Aussage auch sein mag, […] ist sie doch stets ein Ereignis, das weder die Spra­ che noch der Sinn völlig erschöpfen können.“1176 Das Verhältnis von Materialität zu Immaterialität spiegelt sich im Status der Aussagen wider. Eine Aussage stützt sich zwar stets auf die Materialität

1171 Deleuze 2014, S. 19. 1172 Ebd., S. 23. 1173 Vgl. DE IV, S. 34: „Was ich tun möchte, besteht, in sehr barbarischen Begrif­ fen ausgedrückt, darin, singuläre Mengen von Praktiken zu ‚evenementalisie­ ren‘, in ihrer Ereignishaftigkeit herauszustellen, um sie als unterschiedliche Regimes des Rechtsprechens und des Wahrsprechens in Erscheinung treten zu lassen.“ 1174 Deleuze 2014, S. 24. 1175 AW, S. 41, Hervorhebung getilgt. 1176 AW, S. 43f.

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von Zeichen, aber ist selbst nicht materiell. Sie liegt vielmehr in der Funk­ tion, welche die Zeichen einnehmen können.1177 In Bezug auf die nicht-diskursiven Praktiken lässt sich diese Art der Umkehrung des Platonismus exemplarisch an einer berühmtgewordenen Stelle aus ÜS zeigen. Foucault spricht dort von der Seele als „Gefängnis des Körpers“.1178 Die Seele steht hier sinnbildlich für die Subjektivität des Menschen. Mit diesem Ausspruch ist gemeint, dass die Produktion des Körpers durch Machttechniken das Subjekt erst hervorbringt. Das Immate­ rielle (die Subjektivität) ist nur ein Epiphänomen des Körpers, der durch diskursive und nicht-diskursive Praktiken hervorgebracht wird. Wie wir bereits hier sehen, radikalisiert Foucault den Gedanken von Deleuze insofern noch weiter, als die Materialität (der Körper) selber wie­ der nicht als Substanz verstanden werden darf1179: Vielmehr ist jedes der Elemente (Subjekt, Körper, Praktiken usw.) Ereignis. Subjekt und Objekt sind nichts an sich, vielmehr nur im Verhältnis zueinander wirklich. Die zeitlich begrenzte Wirklichkeit von Subjekt und Objekt ergibt sich also aus dem Verhältnis beider zueinander. 2) Verhältnis Ereignis – Struktur: Dieser Gedanke ist entscheidend, um das Verhältnis von Ereignis und Struktur zu klären. Strukturen sind für Foucault nun nicht mehr als eben jenes historisch zu beschreibende Ver­ hältnis, welches zwischen Subjekt und Objekt hergestellt wird und somit beide Elemente in ihrem Sein konstituiert. Diese Relation entsteht durch das, was man macht; es geschieht durch die konkrete Praxis des Handelns und Erkennens.1180 Strukturen dürfen also keinesfalls als den Ereignissen Vorgängiges verstanden werden, ansonsten würde man erneut eine Dicho­ tomie einführen, in der sich die Analytik des Gleichen wiederholen könn­ te: „[E]s geht nicht darum, Strukturen zu finden, die dem Ereignis vor­ ausliegen, ihm fremd und feindlich sind. Es gilt, die verschiedenen, verschränkten, oft divergierenden, aber nicht autonomen Serien zu erstellen, die den ‚Ort‘ des Ereignisses, den Spielraum seiner Zufällig­ keit, die Bedingungen seines Auftretens umschreiben lassen.“1181

1177 Vgl. AW, S. 123ff. 1178 ÜS, S. 42. 1179 Zu dieser Lesart Foucaults sind insbesondere die Ausführungen von Butler 2003, S. 57 und Ruhstorfer 2004, S. 95 instruktiv. 1180 Vgl. Hahn 2019, S. 210. 1181 ODis, S. 36.

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Strukturen sind somit historisch beschreibbare ‚Serien‘ von Ereignissen, in der verschiedene Arten von Ereignissen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Ein Ereignis innerhalb einer solchen Serie ist immer einzigartig, aber das Verhältnis, das ein spezifisches Ereignis zu den anderen Ereignis­ sen innerhalb der Serie einnimmt, ist wiederholbar.1182 Ein Ereignis ist so singulär und wiederholbar zugleich, was Foucaults Konzeption auch von der Ereignisontologie in der analytischen Philosophie abgrenzt. Die Para­ doxie des Ereignisses findet somit auf den Begriff selber Anwendung. Fassen wir zusammen: Das Ereignis stellt eine, wenn nicht sogar die zentrale Kategorie in Foucaults Denken dar, weil sich in ihm ontologi­ sche und epistemologische Annahmen zu einer einheitlichen methodolo­ gischen Perspektive verdichten. Wir sind somit in der Lage, seine exakte kritische Funktion zu bestimmen: Gegen die für die Moderne charakteris­ tische Angleichung des Unterschiedlichen – dem Denken der Identität – macht das Ereignis die Singularität der Differenz geltend.1183

1.3 Freiheit als Unbestimmtheit Welche Konsequenzen ziehen die bisherigen Überlegungen für den Frei­ heitsbegriff nach sich? Spielt Freiheit bei Foucault überhaupt eine Rolle? Und wenn sie eine Rolle spielt: Wie lässt sich Freiheit denken?

1182 Vgl. AW, S. 44. Zum Verhältnis von Einzigartigkeit und Wiederholbarkeit insbesondere auch: AW, S. 146ff. Dieser Topos taucht auch in DE II, S. 166 („Nietzsche, die Genealogie, die Historie“) wieder auf: Die Genealogie „muss die Ereignisse in ihrer Einzigartigkeit und jenseits aller gleich bleibenden Fina­ lität erfassen, sie dort aufsuchen, wo man sie am wenigsten erwartet, und in solchen Bereichen, die keinerlei Geschichte zu besitzen scheinen: Gefühle, Lie­ be, Gewissen, Triebe. Sie muss nach deren Wiederkehr suchen, aber nicht um die Kurve ihrer langsamen Evolution nachzuzeichnen, sondern um die ver­ schiedenen Bühnen zu finden, auf denen sie unterschiedliche Rollen gespielt haben.“ Die Wiederholbarkeit stellt auch eine Eigenschaft des Praxisbegriffs dar: Jaeggi 2014, S. 95ff. 1183 Zu diesem Schluss kommt auch Riefling 2013, S. 99. Allerdings unterlässt er es leider, das zentrale Konzept des Ereignisses in seine Erörterung miteinzube­ ziehen. Foucaults Perspektive bleibt so weitgehend unbegründet. Forst 1990, S. 179 argumentiert auch in eine ähnliche Richtung, ohne den von ihm sogar erwähnten Begriff des Ereignisses näher zu analysieren. Foucault hält in AW, S. 190 als Ergebnis seiner Methodologie selbst fest, dass „wir Unterschiede sind, daß unsere Vernunft der Unterschied der Diskurse, unsere Geschichte der Unterschied der Zeiten, unser Ich der Unterschied der Masken ist.“

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Freiheit – so viel ist sicher – hat ihren Platz in Foucaults Denken. Sie ist Ausgangspunkt und Ziel seiner Kritik. Es sei dabei nur an den expliziten Anspruch erinnert, Ziel sei es, „den Menschen zu zeigen, dass sie weit freier sind, als sie meinen“.1184 Worauf sollte dieses Projekt grün­ den, wenn nicht selbst auf Freiheit?1185 Wir stehen allerdings vor dem Problem, dass sich Foucault mit dem Konzept der Freiheit systematisch nur im Rahmen seiner historischen Untersuchungen zum Liberalismus auseinandersetzt.1186 Freiheit fungiert hierbei ausschließlich als Begriff zweiter Ordnung. Nichtsdestotrotz soll im Folgenden gezeigt werden, dass man ausgehend von unserer bisherigen Systematisierung Freiheit ebenso als Begriff erster Ordnung in den Blick nehmen kann.1187 Es gibt hierzu wenige, aber durchaus aussagekräftige Hinweise. Die Problematik, vor dessen Hintergrund wir den Freiheitsbegriff ver­ handeln wollen, ist das Verhältnis zwischen Freiheit und Determinis­ mus.1188 Dieser Zugriff ergibt sich unmittelbar aus der bisherigen Darstel­ lung. Es stellt sich nämlich die Frage, ob es Freiheit geben kann, wenn Strukturen unser Denken in der Art und Weise formen, wie Foucault es annimmt. Zudem ist es fraglich, ob Foucault für sich selbst die Freiheit beanspruchen kann, diese Strukturen als „innere[] Ethnologie unserer Kul­ tur“1189 von einem archimedischen Punkt aus zu erkennen. Er scheint sogar darüber hinaus eine Methode zu entwerfen, die willentlich gegen die Moderne gerichtet ist. Oder ist seine eigene Perspektive ebenso begrenzt? Diese Fragen sind dem Denken Foucaults keineswegs äußerlich. Entgegen anderslautenden Behauptungen in der Forschungsliteratur besteht ein aus­ geprägtes Problembewusstsein bereits seit den 60er Jahren.1190 Das zeigt

1184 DE IV, S. 960, Hervorhebung B. H. Mazumdar 2015a, S. 11f weist darauf hin, dass das Problem der Freiheit selbst in Foucaults frühesten Schriften wie der Einführung in Binswangers „Traum und Existenz“ präsent ist. 1185 Vgl. Schubert 2018, S. 216: „Die genealogische Kritik wäre performativ wider­ sprüchlich, wenn sie ihnen diese Freiheit als Möglichkeit nicht zugestünde, weil sie dadurch ihr eigenes Funktionieren verunmöglichte.“ 1186 Vgl. GBP, S. 95. Die Freiheit steht „im Zentrum dieser Praxis [des Liberalis­ mus] oder der Probleme […], die sich für diese Praxis stellen.“ 1187 Zu dieser Unterscheidung zwischen der Freiheit als Begriff erster und zweiter Ordnung: Kap. I.2.2. 1188 Schubert 2018, S. 20 bestimmt das „Freiheitsproblem der Machtdeterminati­ on“ als eine von zwei zentralen Fragestellungen in der Interpretation von Foucaults Freiheitsbegriff. 1189 DE I, S. 767. 1190 Stellvertretend für viele andere kann man Lemke 1997 anführen. Für ihn taucht der Freiheitsbegriff erst mit der Fokussierung auf den Machtbegriff und

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sich besonders anschaulich im Schlusskapitel der Archäologie des Wissens, in dem Foucault rhetorisch die Einwände eines anonymen Kritikers vor­ bringt: „Sie machen ja selbst einen eigentümlichen Gebrauch von jener Frei­ heit, die Sie anderen bestreiten, denn Sie räumen sich das ganze Feld eines freien Raumes ein, den Sie nicht einmal in seinen Eigenschaften bestimmen wollen. Vergessen Sie aber nicht die Mühe, die Sie sich selbst gemacht haben, um den Diskurs der anderen in Regelsystemen einzuschließen?“1191 Bevor wir jedoch klären können, wie Foucault sich selbst zur Freiheit positioniert (1.3.2), müssen wir analysieren, wie man im Rahmen seiner Philosophie Freiheit als Begriff überhaupt denken kann (1.3.1).

1.3.1 Freiheit als Ereignis Antworten auf diese Fragen wollen wir in Abgrenzung zu Kant herausar­ beiten. Dieses Vorgehen ergibt sich insofern zwanglos aus Foucaults eige­ nem Ansatz, als dieser sich in der Auseinandersetzung, mit der in Kants Werk reflektierten modernen Wissensordnung entwickelt. Vergegenwärti­ gen wir uns hierzu nochmals die wesentlichen Argumente: Kant versucht den Gegensatz von Freiheit und Determinismus durch die Unterscheidung von Erkennbarkeit bzw. Denkmöglichkeit zu unterlaufen. Für ihn ist Freiheit nicht erkennbar (real möglich), aber trotzdem denkbar (logisch möglich). Basis für diese Unterscheidung ist die Trennung zwischen Empi­ rischem und Transzendentalem. Wir können die Freiheit nicht erkennen, weil es keine empirische Erscheinung der Freiheit gibt. Aber wir können sie uns zumindest widerspruchsfrei als intelligible Ursache vorstellen. Als intelligible Ursache gedacht, bezeichnet die Freiheit die Möglichkeit einer Bestimmung (einer Ursache), die selbst wiederum nicht bestimmt (verur­ sacht) ist. Insofern Ursachesein immer Gesetzmäßigkeit impliziert, ist Frei­ heit Autonomie: Selbst-Gesetzgebung bzw. Selbst-Bestimmung. Daher wird dann auch erst im Rahmen der Gouvernementalität auf. Auch Gehring 2012, S. 16 argumentiert in eine ähnliche Richtung. Ebenso Sarasin 2019, S. 14: „Ich sehe nicht, wo sich im Werk Foucaults vorher schon die Möglichkeit abgezeichnet hätte, so etwas wie ‚Entunterwerfung‘ explizit zu denken.“ 1191 AW, S. 297, Hervorhebung B. H. Ebenso in DE I, S. 782: „Ich wäre wirklich blind, wenn ich angesichts meiner eigenen Situation nicht das sähe, was ich so oft aufgezeigt habe. Ich weiß sehr wohl, dass ich in einem Kontext stehe.“

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Freiheit als Vermögen des vernünftigen Subjekts gedacht, qua Vernunft (als unbedingte Ursache) kausal in die Welt einzugreifen. Foucault wiederum versucht die Frage nach der Erkennbar- bzw. Denk­ barkeit selbst zu problematisieren. Was erkennbar und denkbar ist, ergibt sich nicht aus der universellen Struktur der menschlichen Vernunft, son­ dern immer nur vor dem Hintergrund eines bestimmten Diskurses. Der Diskurs repräsentiert die Wirklichkeit nicht, er konstituiert diese vielmehr. Daher gibt es kein absolutes Jenseits oder Außen des Diskurses. Was wie das Ding an sich außerhalb des Diskurses liegt, ist durch ihn selbst vorge­ geben. Das hat natürlich Implikationen für den Begriff der Freiheit: Was Freiheit ist oder nicht ist, kann nur innerhalb eines konkreten Diskurses definiert werden. Für die kantische Lösung des Freiheitsproblems durch die Dichotomie zweier Sphären1192 bedeutet dies, dass sie zum Ausdruck einer singulären Wissensordnung degradiert wird. Sie ist ausschließlich vor dem Hintergrund der modernen Episteme gültig. Konsequenterweise scheint es aus Foucaults Sicht allgemein verfehlt, eine bestimmte Freiheits­ vorstellung gegen eine andere geltend zu machen. Denn es gibt keinen übergeordneten Maßstab, an dem die Wahrheit der Vorstellungen zu mes­ sen wäre.1193 Man könnte dann allerdings, um das Zitat Foucaults aufzu­ nehmen, behaupten, dass man zwar frei aber nicht „freier“ sein kann. Damit wäre sein Vorhaben rein begrifflich zum Scheitern verurteilt. Das Konzept des Ereignisses könnte einen Ausweg aus dieser Aporie bieten. Wenn sich Foucault auf Freiheit nicht rein deskriptiv als Begriff zweiter Ordnung, sondern als Begriff erster Ordnung bezieht, so handelt es sich nicht um einen fixierten Gehalt innerhalb eines Diskurses. Vielmehr will er die Freiheit in der Form des Ereignisses erfassen. Der Kerngedanke, eine Sache als Ereignis zu denken, ist es, gegen dessen allgemeine Einheit die singuläre Differenz geltend zu machen. So wird es unmittelbar einsich­ tig, warum Foucault behauptet, dass man sich „die Freiheit nicht als ein

1192 Es ist hier für den Argumentationszusammenhang unerheblich, ob man von Welten oder Aspekten ausgeht. 1193 Vgl. GBP, S. 96: „Wenn man im Hinblick auf diese neue Regierungskunst von Liberalismus spricht, dann bedeutet das nicht, dann ist das nicht so zu verstehen, daß es einen Übergang gibt von einer Regierung, die im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts autoritär war, zu einer Regierung, die toleranter, laxer und lockerer wird. Ich meine nicht, daß das nicht auch der Fall ist, aber ich meine auch nicht, daß es der Fall ist. Ich meine, daß eine solche Aussage mir nicht viel geschichtlichen oder politischen Sinn zu haben scheint.“

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Universal [un universel] vorstellen“ darf.1194 Eine Universalie würde sich nämlich dadurch auszeichnen, dass sie „über die Zeit hinweg eine fortschreitende Vervollkommnung oder quantitative Variation oder mehr oder weniger schwerwiegende Be­ schneidung oder mehr oder weniger starke Verdunklung aufwiese. Es handelt sich nicht um ein Universale [un universel], das sich mit der Zeit und der Geographie besondern [particulariserait] würde. Die Freiheit ist keine weiße Oberfläche, die hier und da und von Zeit zu Zeit mit mehr oder weniger zahlreichen schwarzen Feldern bedeckt ist.“1195 Wie wir gesehen haben, bedeutet, einen Begriff nicht als Universalie, son­ dern als Ereignis zu verstehen, ihn nie abschließend durch ein Prädikat zu bestimmen. Er kann a und nicht-a gleichzeitig sein, weil sein Gehalt stets nur relativ zu den diskursiven Praktiken fixiert ist. In dieser Unbestimmtheit des Ereignisses liegt gerade die Möglichkeit, Freiheit als Begriff zweiter Ordnung zu denken. Der Preis dafür ist jedoch hoch: Inhaltlich verzichtet man darauf, sagen zu können, was Freiheit (negativ oder positiv) ist, um stattdessen die mannigfaltigen Bedeutungen der Freiheit zur Geltung zu bringen; formal besteht er im Verzicht auf die Bestimmtheit, d. h auf die Wahrheit seiner Aussagen.1196 Konkretisieren wir den inhaltlichen Aspekt des Gedankens ausgehend vom kantischen Freiheitsbegriff: Die Trennung zwischen der Sphäre der Freiheit und der Sphäre des Determinismus wird aufgelöst. Damit scheint prima facie die Antinomie der Vernunft wieder zu greifen. Auflösung bedeutet im Kontext des Ereignisses allerdings nicht, dass sich ein ein­ heitlicher Raum konstituiert, in dem entweder Freiheit unter Ausschluss des Determinismus oder umgekehrt der Determinismus unter Ausschluss der Freiheit vorherrschen würde. Vielmehr bestehen beide Gegensätze ne­ beneinander. Während Kant den transzendentalen Realismus von seiner Denkvoraussetzung – der Einheit von Empirischem und Intelligiblem

1194 GBP, S. 96. Im frz. Original heißt es: „C' est qu'il ne faut pas considérer que la liberté, ce soit un universel.” 1195 GBP, S. 96f. Hier wird nochmals deutlich, dass das Ereignis als Singularität jenseits von Universalität und Partikularität liegt. 1196 Auch Schubert 2018, S. 216 weist auf die Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffs hin: „Würde die Genealogie genau bestimmen, wann man wie frei wäre, also ein Freiheitsziel festlegen, dann würde sie ihren eigenen machttheoretischen Prämissen widersprechen, dass es keine absolute, sondern nur relative Freiheit als Praxis gibt.“

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

– aus kritisiert, unterläuft Foucault das kantische System durch die Auf­ hebung des Satzes vom Widerspruch als dessen unhintergehbare Annah­ me.1197 Freiheit ist somit ebenso Unabhängigkeit wie Abhängigkeit; eben­ so Ursache wie Wirkung. Da sie beides ist, kann es weder die Absolutheit eines ersten Anfangs bzw. einer unbedingten Ursache noch die Totalität bedingter Ursachen geben; weder kann es „etwas seinem Wesen und seiner eigentlichen Funktion nach radikal Befreiendes“1198 noch etwas radikal De­ terminierendes geben. Das ist schließlich auch die Antwort, die Foucault dem anonymen Kritiker in der AW gibt: „Die Positivitäten, die festzustellen ich versucht habe, dürfen nicht als eine Menge von Determinationen begriffen werden, die sich von außen dem Denken der Individuen auferlegen oder es von innen und im vorhinein bewohnen.“1199 Warum sie nicht als Menge von Determinationen zu verstehen sind, haben wir nun beleuchtet. Hieraus kann man bereits eine erste wichtige Schluss­ folgerung ziehen: Foucault versucht sich dem Vorwurf des strukturellen Determinismus dadurch zu entziehen, dass er den Diskurs ebenso begren­ zend wie ermöglichend versteht.1200 Freiheit als Ereignis zu denken, hat indes noch eine weitere wichtige Konsequenz, die den Zusammenhang von Freiheit und Subjekt betrifft. Damit wird impliziert, dass Freiheit dem Subjekt nicht als substanzielle Eigenschaft, nicht als Vermögen zukommen kann. Sie ist nicht etwas, das man besitzen könnte.1201 Stattdessen muss man sie als Korrelat von Praktiken verstehen. Oder wie es Foucault in aller Klarheit formuliert: „Freiheit ist Praxis“.1202 Eine Praxis, die sich wiederum immer nur an dem bereits Bestehenden (Diskurs, Dispositiv usw.) vollzie­ hen kann. *

1197 Ganz ähnlich versteht Popper 1980, S. 113ff den Ansatzpunkt der Kritik He­ gels am kantischen System. Während Hegel jedoch These und Antithese dia­ lektisch in der Synthese aufhebt, bleiben bei Foucault These und Antithese nebeneinander bestehen. 1198 DE IV, S. 330. 1199 AW, S. 297. 1200 Die sich aus diesem Denkansatz ergebende Ambivalenz erkennt auch Butler 2015b, S. 7ff. 1201 Vgl. RSA, S. 390: Freiheit ist „nicht als Recht zu sein, sondern als Fähigkeit des Handelns bestimmt“. 1202 DE IV, S. 330.

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1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

Versuchen wir die erläuterte Argumentation nochmals begrifflich prä­ gnant zu fassen: Während Kant also den Widerspruch zwischen Determi­ nismus und Freiheit (unbedingte Ursache) durch die Aufteilung in zwei Sphären zu lösen versucht, unterminiert das Ereignis-Denken Foucaults diese Unterscheidung: Freiheit ist nicht Selbstbestimmtheit, sondern Un­ bestimmtheit schlechthin. Damit wird jegliche Notwendigkeit eliminiert, weil sich Notwendigkeit durch eine Bestimmtheit auszeichnet, deren Ge­ genteil unmöglich ist. Etwas muss so sein und nicht anders. Im Gegensatz dazu zeichnet sich die Unbestimmtheit für Foucault gerade dadurch aus, dass alles, was ist, stets anders hätte sein können und unablässig wieder anders werden kann. Wie wir gesehen haben, ist dieses Anders-werden jedoch kein ontologischer Automatismus, sondern an die Veränderung der menschlichen Praktiken gebunden. Worauf es Foucault ankommt, ist, dass stets die Möglichkeit des Andersseins, die Möglichkeit zur Umgestaltung offensteht: „Die wichtige Frage ist meines Erachtens nicht, ob eine von Beschrän­ kungen freie Kultur möglich oder gar wünschenswert ist, sondern, ob das System von Zwängen, innerhalb dessen eine Gesellschaft funktio­ niert, den Individuen die Freiheit lässt, dieses System umzugestalten. […] Es besteht kein Zweifel, dass eine Gesellschaft ohne Beschränkungen undenkbar ist; aber ich kann mich nur wiederholen und sagen, dass diese Beschränkungen in der Reichweite derjenigen sein müssen, die sie erleiden, damit ihnen zumindest die Möglichkeit offen steht, sie zu verändern.“1203 Wir konnten also systematisch aus dem Ereignisbegriff abgeleitet zeigen, dass Freiheit für Foucault in einem elementaren Sinn Unbestimmtheit ist. Unbestimmtheit wird dabei als Möglichkeit zum So-oder-anders-sein-Kön­ nen verstanden.1204

1203 Vgl. DE IV, S. 391f oder auch DE IV, S. 965: „Ich glaube an die Freiheit der Menschen. In der gleichen Situation reagieren sie sehr unterschiedlich.“ 1204 Vgl. Patton 1989, S. 267. Forst 1990, S. 154 bringt Foucaults Freiheitsverständ­ nis in die Nähe von Heidegger, der Freiheit als Offenheit des Seins versteht. Die Fokussierung von Oksala 2005, S. 70ff und Suárez Müller 2004, S. 177ff auf die moderne Literatur als genuiner Freiheit zeigt sich vor diesem Hinter­ grund als Sonderfall der Unbestimmtheit. Aus Foucaults Sicht bedient sich die moderne Literatur einer Sprache, die nicht repräsentiert und somit keine Bestimmtheit aufweist.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

1.3.2 Systemimmanenz und -transzendenz Hiervon ausgehend können wir die Frage nach Foucaults eigener Position beantworten. Wie sich in einem Interview zeigt, ist er in dieser Hinsicht bereits zur Zeit der Veröffentlichung von OD recht eindeutig: „Sartre hat uns die Freiheit gelehrt. Sagen Sie uns nun, dass es keine wirkliche Freiheit im Denken gibt? – Wir denken stets innerhalb eines anonymen, zwingenden Gedankensystems, das einer Zeit und einer Sprache zugehört. Dieses Denksystem und diese Sprache haben ihre ei­ genen Transformationsgesetze. Aufgabe der heutigen Philosophie […] ist es, dieses Denken vor dem Denken, dieses System vor dem System aufzudecken… Es [dieses System vor dem System, B. H.] bildet die Grundlage, auf der unser ‚freies‘ Denken entsteht und für einen kurzen Moment funkelt…“1205 Insofern im Rahmen des Ereignisdenkens die Simultanität von einander ausschließenden Prädikaten behauptet werden kann, sind die Systeme, von denen Foucault hier spricht, gleichzeitig begrenzend und ermöglichend. Entscheidend ist es, die Ermöglichung gegen die Begrenzung geltend zu machen. Das wird mit Blick auf die für uns hier relevanten Wissenssyste­ me, deren Kriterium die Wahrheit ist, besonders deutlich: „Der Herrschaft einer Wahrheit entkommt man also nicht, indem man ein Spiel spielt, das dem Spiel der Wahrheit vollständig fremd ist, sondern indem man das Wahrheitsspiel anders spielt, indem man ein anderes Spiel, eine andere Partie oder mit anderen Trümpfen spielt.“1206 Systemimmanente Freiheit bestünde also darin, sich innerhalb der Möglich­ keiten des Systems auf dieses reflexiv zu beziehen: die Bedingungen, un­ ter denen man denkt und den Maßstab, von dem man her urteilt, zu enthüllen.1207 Diese Enthüllung besteht jedoch nicht darin, das Faktische zu bestätigen, sondern es durch eine Genealogie in seiner Kontingenz zu Tage treten zu lassen.1208 Der Widerspruch, dass sich die Bedingungen und 1205 DE I, S. 666f, Hervorhebung getilgt und neu gesetzt B. H. 1206 DE IV, S. 895. 1207 Vgl. DE I, S. 782f: „Ich weiß sehr wohl, dass ich in einem Kontext stehe. Die Frage ist nur, wie man sich dieses Kontexts bewusst werden kann, und mehr noch, wie man ihn gewissermaßen integriert, wie man ihn seine Wirkung auf den eigenen Diskurs entfalten lässt, auf den Diskurs, den man gerade ‚hält‘.“ 1208 Vgl. DE IV, S. 702f.

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1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

die Maßstäbe unseres Denkens in Zeit und Raum ändern und zwar nicht nur graduell, sondern diametral verschieden sind, wird nicht durch ein abschließendes Urteil aufgehoben. Stattdessen wird die Differenz bewusst in der Schwebe gehalten.1209 Sie fungiert gerade als die Versicherung der Möglichkeit zum Anders-sein, Anders-denken und Anders-handeln-kön­ nen. Darin besteht für dieses Denken gerade seine systemtranszendente Frei­ heit. Ziel ist es, die systemimmanente Freiheit in eine systemtranszendente Freiheit umzuwandeln.1210 Der abstrakte Zusammenhang von systemimmanenter und systemtran­ szendenter Freiheit lässt sich an Foucaults eigener Tätigkeit veranschauli­ chen. Zentral ist hierbei die Charakterisierung als kritische Haltung oder Ethos. Dies impliziert nämlich eine Relativierung des theoretischen Wahr­ heitsanspruchs. Verstärkt wird diese Relativierung noch dadurch, dass Fou­ cault seinen Arbeiten den Status von Fiktionen zuschreibt: „[I]ch halte mir sehr wohl vor Augen, dass ich immer nur Fiktionen geschrieben habe. Ich will damit keineswegs sagen, dass dies außerhalb der Wahrheit ist. Mir scheint, es gibt die Möglichkeit, die Fiktion in der Wahrheit arbeiten zu lassen, Wahrheitseffekte mit einem Fiktions­ diskurs zu induzieren, und gewissermaßen dafür zu sorgen, dass der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, erzeugt, das noch nicht existiert, dass er also ‚fiktioniert‘.“1211 Obwohl Foucault Teil des auf Wahrheit fokussierten wissenschaftlichen Betriebs ist, überschreitet er die Normen der Wissenschaftlichkeit durch einen fiktionalen Ansatz. Foucaults Schriften liegen deshalb nicht „außer­ halb der Wahrheit“, weil er sich formal den Normen des Diskurses in Gestalt der Methoden und Begriffe der Geschichtswissenschaft unterwirft. Dadurch kann er für sich legitimierweise eine Subjektposition im wissen­ schaftlichen Diskurs beanspruchen. Diese Subjektposition als Professor, 1209 Auch Butler 2015b, S. 22 kommt in Bezug auf das Problem der Subjektivie­ rung zu ähnlichen Ergebnissen: „Wenn das Subjekt weder durch die Macht voll determiniert ist noch seinerseits vollständig die Macht determiniert (son­ dern immer beide zum Teil), dann geht das Subjekt über die Logik der Wi­ derspruchsfreiheit hinaus, es ist gleichsam ein Auswuchs, ein Überschuß der Logik.“ 1210 In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Kupke 2008, S. 79f, wenn er die Möglichkeit von Widerstand bei Foucault durch die Unterscheidung zwischen einem immanenten Feld des Diskurses (der Wirklichkeit etwas Bestimmtes zu sagen) und dem transzendenten Feld (der reinen Möglichkeit, alles oder nur Unbestimmtes zu sagen) unterscheidet. 1211 DE III, S. 309.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Philosoph, Historiker usw. ermöglicht es ihm, als sozial anerkannte Auto­ rität ‚Wahres‘ zu sagen bzw. zu schreiben. Seine Zuhörer- und Leserschaft sind Rezipienten dieses ‚Wahren‘. Entscheidend ist jedoch nicht die histo­ rische Verifizierbarkeit, sondern die Wirkung des Gesagten auf Basis seines Subjektstatus. Die Wirkung soll das sein, was Foucault ‚Erfahrung‘ nennt. Erfahrung ist für ihn gleichbedeutend mit etwas, aus dem man verändert hervorgeht: „Die Erfahrung, die es uns gestattet, bestimmte Mechanismen zu ver­ stehen [...] und die Weise, in der wir fähig werden, uns von ihnen zu lösen, indem wir sie mit anderen Augen wahrnehmen, sind nur die beiden Seiten derselben Medaille. Dies ist in der Tat das Herz meines Unternehmens.“1212 Foucaults Schriften müssen daher als Versuch verstanden werden, die ‚Wahrnehmung‘ der gesellschaftlichen Normen zu verändern: Die Allge­ meingültigkeit der Normen im Lichte ihrer historischen Zufälligkeit auf­ zulösen und sie als veränderbar darzustellen. Die eigene Perzeption und die der anderen Menschen sollen verändert werden, um die Möglichkeit zur Veränderung der gesellschaftlichen Praxis und ihrer Normen aufzuzei­ gen.1213 Diese Spannung zwischen systemimmanenter und systemtranszendenter Freiheit lässt sich jedoch nie auflösen. Es gibt keine Chance, die Normen und die damit verbundene Macht endgültig durch beispielsweise einen herrschaftsfreien Diskurs zu transzendieren. Es bleibt nur die „endlose Arbeit an der Freiheit“1214: In der reflexiven Erfassung der Normen, auf denen unser Denken basiert, lässt sich eine relative und flüchtige Freiheit verwirklichen; in der Beständigkeit der Kritik am eigenen Denken lässt sich diese Freiheit verstetigen. Freiheit bleibt selbst als Ereignis gefasst nicht mehr als eine regulative Idee.1215 Bestand bei Kant der regulative Charakter der Idee darin, das immer nur relativ bestimmte Handeln bzw.

1212 DE IV, S. 55. 1213 Vgl. DE III, S. 1004f: „Ich versuche ein Wechselspiel zwischen unserer Reali­ tät und unserem Wissen über die geschichtliche Vergangenheit herzustellen. Wenn mir das gelingt, wird dieses Wechselspiel reale Auswirkungen auf unse­ re heutige Gesellschaft haben. Ich hoffe, meine Bücher finden ihre Wahrheit, wenn sie geschrieben sind, nicht vorher. [...] Ich hoffe, dass die Wahrheit meiner Bücher in der Zukunft liegt.“ 1214 DE IV, S. 703. 1215 Diese Charakterisierung der Freiheit als regulative Idee nimmt auch Suárez Müller 2004, S. 189 vor.

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1. Wissen: Unbestimmte Freiheit

Erkennen durch eine nie erreichbare Totalität der Bestimmung zu motivie­ ren; so besteht der regulative Charakter des Ereignisses darin, das immer nur relativ bestimmte Handeln bzw. Erkennen durch eine nie erreichbare Totalität der Unbestimmtheit zu motivieren. Während Kant auf eine Aus­ weitung und Vervollkommnung der Gewissheit des Wissens zielt, strebt Foucault eine fortwährende Eingrenzung und Auflösung des Wissens an. Kant will die Philosophie als Wissenschaft etablieren, Foucault gerade als „Anti-Wissenschaft“.1216

1.4 Zwischenfazit Der erste Teil unserer Auseinandersetzung mit Foucaults Freiheitsbegriff war vor allem von der Frage geprägt, was Freiheit begrifflich überhaupt sein kann. Der Hintergrund, vor dem wir eine Antwort auf diese Frage entwickelt haben, ist ein gänzlich anderer als bei Kant. Bei letzterem wer­ den die sich nach dem Satz vom Widerspruch gegenseitig ausschließenden Bestimmungen von Notwendigkeit und Freiheit dadurch miteinander ver­ einbar, dass ein und dieselbe Sache aus zwei Perspektiven betrachtbar ist: als Erscheinung und Ding an sich. Foucaults Lösung des Freiheitsproblems besteht darin, die Denkvoraus­ setzung der Widerspruchsfreiheit als solche aufzuheben: Versteht man die Dinge als Ereignisse, können sich widersprechende Prädikate auf ein und dieselbe Sache Anwendung finden, weil es einen Gegenstand im eigentli­ chen Sinn – als einheitliche Entität mit zeitlich persistenten Eigenschaften – gar nicht gibt. Wenn man als Bestimmtheit die Zuweisung eines Prä­ dikats unter Ausschluss seines Gegenteils versteht, so besteht die Pointe des Foucaultschen Ansatzes gerade darin, dass Unbestimmtheit in einem genuinen Sinn Freiheit bedeutet. Unbestimmtheit ist der Moment der reinen Möglichkeit, in dem ein So-oder-Anders möglich ist. Während bei Kant Freiheit als theoretische Idee nie beweisbar ist, gibt es bei Foucault nie den Moment der reinen Unbestimmtheit, weil die menschliche Praxis (Sprechen, Handeln und Sichverhalten) in ihrer Reali­ sation immer einen gewissen Grad an Bestimmtheit haben muss. Während bei Kant stets (in Bezug auf den Menschen) die Denkmöglichkeit der Freiheit gegen die Bestimmtheit der Erkenntnis geltend gemacht werden kann, ist man bei Foucault dazu aufgerufen, gegen die Bestimmtheit von Begriffen im Diskurs die Unbestimmtheit der Freiheit geltend zu machen. 1216 Zur Genealogie als Anti-Wissenschaft: VG, S. 23.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Die Reichweite der kantischen Argumentation ist dadurch beschränkt, dass sie die Wahrheit, im Sinn der realen Möglichkeit der Freiheit, nie be­ weisen kann. Die Problematik von Foucaults Position ist, dass, wenn sie konsequent gedacht wird, sie ihre eigene Wahrheit relativieren muss: Fou­ caults Arbeiten sind, wie er selbst offen zugibt, fiktional. Beide Positionen vollziehen ausgehend von ihren theoretischen Defizi­ ten den Sprung in die Praxis. Für Kant ist die Denkmöglichkeit der Frei­ heit die Grundlage, unsere Selbstzuschreibung als freie und verantwortli­ che Verursacher unserer Handlungen zu rechtfertigen. Er setzt bei der Mo­ ral und unserem Selbstverhältnis an. Für Foucault ist die Freiheit der Un­ bestimmtheit die Grundlage für widerständiges Handeln. Er setzt bei der Politik und unserem Verhältnis zu anderen an. Diesen Zusammenhang von Freiheit und Widerstand wollen wir im Folgenden näher beleuchten.

2. Macht: Widerständige Freiheit Die Kategorie der Macht ist neben dem Wissen ein weiteres zentrales „Analyseraster“ der Subjektivierung.1217 Durch sie lässt sich auf der zwei­ ten Achse der Subjektivität das Verhältnis beschreiben, in dem sich Sub­ jekte zueinander befinden und wie sie als handelnde Subjekte konstituiert werden. Wichtig ist dabei zu betonen, dass Machtverhältnisse nicht-dis­ kursive Verhältnisse mit eigener Regelstruktur sind. Sie stehen zwar in Beziehung zu diskursiven Verhältnissen bzw. „Kommunikationsbeziehun­ gen, die über eine Sprache, ein Zeichensystem oder ein anderes symbo­ lisches Medium Information übertragen“1218; aber sie sind darauf nicht reduzierbar. Umso drängender stellt sich daher die Frage, wie Foucault Macht konzeptioniert. Wir wollen uns dabei von der These leiten lassen, dass Foucaults schillernder Machtbegriff durch seinen Status als Ereignis begründet ist. Die Gültigkeit dieser These wird sich insofern erweisen, als wir zeigen können, dass sich das Konzept der Macht systematisch aus den zentralen Eigenschaften des Ereignisses entwickeln lässt (2.1). Die Un­ tersuchung der Macht kann sich jedoch nur eingeschränkt als begriffliche Reflexion entfalten, da sich die Bestimmtheit des Konzepts analog zum Wissen nur im Kontext einer konkreten Praxis ergibt. Dementsprechend müssen wir die tatsächlichen historischen Formen der Macht skizzieren

1217 WK, S. 32f. 1218 DE IV, S. 282.

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2. Macht: Widerständige Freiheit

(2.2). Ausgehend hiervon lässt sich die Stellung der Freiheit bestimmen, die wir schon vorgreifend als Widerstand charakterisiert haben (2.3).

2.1 Macht als handelndes Einwirken auf Handeln „Wie kommt es, dass unsere Gesellschaft und die westliche Gesell­ schaft schlechthin Macht so restriktiv, so arm, so negativ versteht? Warum denken wir bei Macht immer an Gesetz und Verbot? Warum diese Privilegierung? Offensichtlich geht das auf den Einfluss Kants zurück, auf den Gedanken, die Grundlage und Matrix jeder Lenkung menschlichen Verhaltens sei das ‚Sittengesetz‘, das ‚Du darfst nicht‘, der Gegensatz zwischen ‚Du darfst‘ und ‚Du darfst nicht‘.“1219 Eine systematische Rekonstruktion von Foucaults Machtbegriff muss aus­ gehend vom Konzept des Ereignisses vor allem drei Aspekte betonen: 1) die Gegenüberstellung zum Begriffspaar Substanz/Akzidenz und die damit unmittelbar verbundenen Implikationen, 2) seine Unbestimmtheit und 3) die Negation der Bewusstseinsfunktion. 1) substanzielle Einheit vs. singuläre Mannigfaltigkeit: Wenn Macht als Ereignis analysiert wird, darf man sie sich nicht als Substanz vorstellen. Damit wird gegenüber a) der allgemeinen Einheit des Gegenstands, dessen b) singuläre Mannigfaltigkeit geltend gemacht. a) allgemeine Einheit: Gerade in der Abgrenzung von einer substantia­ listischen Machtvorstellung liegt der Hebelpunkt der Foucaultschen Argu­ mentation: „Die Macht ist keine Substanz.“1220 Den Substanzcharakter zu negieren, bedeutet prima facie auf eine Theorie zu verzichten, die notwendig und allgemein bestimmen würde, was Macht ist: Eine solche Theorie würde nämlich „die Geltung eines Machtschemas“ ermöglichen, „das auf jeder Ebene und auf jedem Gebiet homogen“ wäre.1221 Dem ge­ genüber macht Foucault geltend, dass dem Begriff nicht die Einheit eines Gegenstandes in seiner zeitlichen Kontinuität und Identität entspricht. In der uns bereits bekannten Formulierung heißt das, die Macht als solche existiert nicht.1222

1219 1220 1221 1222

DE IV, S. 226. DE IV, S. 196, STB, S. 14. DE III, S. 544. DE IV, S. 281. Die deutsche Übersetzung gibt diese für uns wichtige Formulie­ rung nur unterzureichend wieder: „[W]enn ich die Analyse mit dem ‚Wie‘ beginne, äußere ich damit den Verdacht, dass es Macht gar nicht gibt.“ Im

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Hieraus lassen sich weiterführende inhaltliche Implikationen ableiten. Konkret wendet sich Foucault damit gegen eine Vorstellung von Macht als Potenz oder Eigentum (Recht), das ein Individuum innehaben könnte.1223 Das würde nämlich bedeuten, dass die Macht an eine gleichbleibende Eigenschaft des (individuellen oder kollektiven) Subjekts gebunden wäre, die klar lokalisierbar und dann als Letztbegründung bzw. -ursache fun­ gieren könnte.1224 Hierin spiegelt sich die kausalitätsskeptische bzw. -kriti­ sche Stoßrichtung des Ereignisbegriffs wider, die sich an diesem Punkt mit dem skeptischen Wertentzug der Legitimität verknüpft.1225 Der Zu­ sammenhang ist folgender: Nur wenn es eine klare Zuordenbarkeit zu einem Urheber der Macht gibt, kann über die Legitimität der Ausübung theoretisch entschieden werden. Der Modus der Legitimität ist dabei die Gesetzmäßigkeit: Macht kann sich „auf eine gewisse grundlegende Gesetzmäßigkeit stützen […], die grundlegender als alle Gesetze, eine Art allgemeines Gesetz aller Gesetze ist und den verschiedenen Gesetzen ermöglicht, als Gesetze zu funktionieren.“1226 Die Anwendung dieses Gesetzes setzt wiederum dessen Erkenntnis voraus. Damit wird die Machtausübung logisch an die Erkenntnis gebunden. Die Erkenntnis ist der Macht mithin immer vorgängig, insofern letztere für sich Legitimität beansprucht. Einheit, Souveränität des Subjekts im Sinn kausaler Letztbegründung und Gesetzmäßigkeit sind also die theoretischen Elemente, die aus Foucaults Sicht zusammen den substantialistischen Machtbegriff konstituieren.

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1225 1226

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englischen Original (Foucault 1982, S. 786, Hervorhebung B. H.) lautet die Formulierung wie folgt: „I would say that to begin the analysis with a ,how’ is to suggest that power as such does not exist.” Exemplarisch auch DE III, S. 396: „Die Macht, das existiert nicht.“ VG, S. 29f, 200, SG, S. 310, MP, S. 17. Zu diesem Punkt Suárez Müller 2004, S. 102, Butler 2003, S. 53 und auch Saar 2007, S. 209 sowie insbesondere S. 236f, wo er eine ideengeschichtliche Rückführung dieses Denkens auf Aristoteles zeigt. Foucault bemerkt hierzu in STB, S. 14: „die Macht [ist] eben nicht eine Substanz, ein Fluidum […], etwas, das von diesem und jenem herkommen würde“. Ähnlich in DE III, S. 397: „Wenn man eine Theorie der Macht aufzustellen versucht, wird man stets genötigt sein, sie so zu betrachten, als ginge sie zu einem gegebenen Zeitpunkt aus einem gegebenen Punkt hervor, so dass man erst ihre Genese und dann ihre Deduktion durchführen muss.“ Zum Zusammenhang von Wertentzug und Skepsis: Kap. III.1.1.2. VG, S. 59.

2. Macht: Widerständige Freiheit

b) singuläre Mannigfaltigkeit: Die Problematisierung der ersten beiden Aspekte (Einheit und Souveränität) wollen wir im Folgenden darlegen. Methodischer Ausgangspunkt ist dabei die Ersetzung der Was- durch die Wie-Frage.1227 Um diese Perspektive von einer theoretischen Aufarbeitung abzugrenzen, spricht Foucault von „Analytik“ – und zwar nicht im Sinne einer heuristischen Trennung in Bestandteile, um die Einheit des Ganzen zu verstehen, sondern der skeptischen Auflösung der Einheit.1228 Diese Auflösung vollzieht sich innerhalb einer historisch-konkreten Analyse.1229 Die Grundannahme der Analytik ist es, dass Macht nicht existiert, sie aber trotzdem ein Sein hat. Ihr Sein liegt nicht darin, dass sie eine gleichbleibende Eigenschaft oder ein Vermögen ist, sondern, dass sie „sich ereignet“.1230 Das bedeutet, dass sie „ausgeübt wird und nur im Vollzug existiert.“1231 Macht ist ein Ereignis, eine Praxis und als Praxis ist sie eine Relation: „Wenn wir von Machtstrukturen oder -mechanismen sprechen, dann nur insofern, als wir annehmen, dass bestimmte Personen Macht über andere ausüben.“1232 Macht ist eine Beziehung, ein Verhältnis zwischen individuellen oder kol­ lektiven Subjekten;1233 die Art dieses Verhältnisses zwischen Subjekten ist jedoch wiederum nicht allgemein und einheitlich. Es handelt sich um eine Mannigfaltigkeit von Beziehungen unterschiedlicher Art: „Wenn wir eine Analyse der Macht unternehmen, dürfen wir darum nicht von Macht im Singular, sondern müssen von Mächten im Plural

1227 Diese antiplatonische Wende gegen die Was-Frage haben wir bereits mehrfach betont. Explizit im Kontext der Erforschung der Macht betont Foucault sie in DE IV, S. 281. 1228 SW1, S. 84. Allerdings versteht bereits Kant die Analytik in Abgrenzung zur Ontologie (KrV, B 303). 1229 Lemke 1997, S. 73. 1230 SG, S. 310. 1231 VG, S. 31. 1232 Foucault 1982, S. 786, eigene Übersetzung. In der deutschen Übersetzung (DE IV, S. 282) geht die Pointe dieser Aussagen, dass Strukturen eigentlich nicht mehr sind als Beziehungen, gerade verloren. Hierzu auch DE IV, S. 889, DE III, S. 396: „Die Macht, das sind in Wirklichkeit Relationen, ein mehr oder we­ niger organisiertes, mehr oder weniger in Gestalt einer Pyramide angeordne­ tes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Relationen.“ Ebenso: SW1, S. 93. 1233 In DE IV, S. 285 wird nochmals explizit deutlich, dass sowohl individuelle als auch kollektive Subjekte unter den Machtbegriff fallen.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

sprechen und versuchen, sie in ihrer geschichtlichen und geographi­ schen Besonderheit zu erfassen.“1234 Trotz dieser Zerstreuung des Begriffsgehalts muss es einen kleinsten ge­ meinsamen Nenner dieser mannigfaltigen nicht-diskursiven Beziehungen geben, der es überhaupt möglich macht, sich sinnvoll auf sie beziehen zu können. Damit geht eine Abgrenzung von anderen Arten von Beziehun­ gen wie zweckrationalen Beziehungen oder Kommunikationsbeziehungen einher.1235 Dementsprechend sind Machtbeziehungen in der allgemeins­ ten Form definiert als „eine Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt. Eine handelnde Einwirkung auf Handeln, auf mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegen­ wärtiges Handeln.“1236 Jede Form von Beziehung lässt sich als Machtbeziehung beschreiben, sei es nun eine Erkenntnisbeziehung, Schüler-Lehrer-Beziehung, eine Liebes­ beziehung usw., in welcher der eine das Handeln des anderen beeinflusst. Macht ist dann nicht etwas, das diesen Beziehungen äußerlich wäre, son­ dern sie ist ihnen immanent.1237

1234 DE IV, S. 228, Hervorhebung B. H. Exemplarisch auch DE IV, S. 285: „Das heißt natürlich, dass es so etwas wie die Macht nicht gibt, eine Macht, die global und massiv oder in diffusem, konzentriertem oder verteiltem Zustand existierte.“ 1235 DE IV, S. 281ff. 1236 DE IV, S. 285. Diese Definition stellt die ausgereifteste Definition der Macht dar, die Foucault gibt. Während die generelle Perspektive auf die Macht kon­ stant bleibt, ändern sich die konkreten Beschreibungen, durch die Foucault versucht, Macht begrifflich zu fassen. Insbesondere muss man hier auf das Modell der Schlacht (MP, S. 20f) und des Bürgerkriegs (SG, S. 54ff) verweisen. Spätestens in VG, S. 34f problematisiert Foucault jedoch diese Topoi, weil sie zu sehr eine Verbindung zum Begriff der Repression implizieren. Der Begriff des Regierens ersetzt die bisherigen Analyseraster, ohne dass sich dadurch ein grundsätzlicher methodologischer Einschnitt ergeben würde. Zu dieser Perspektive insbesondere Saar 2007, S. 281. 1237 Dies beschreibt Foucault in SW1, S. 98 als „Regel der Immanenz“. Ähnlich in STB, S. 14f: „[D]ieses Ensemble von Prozeduren, deren Rolle es ist, die Machtmechanismen einzusetzen, aufrechtzuerhalten und zu transformieren, nun, diese Beziehungen sind nicht autogenetisch, sie sind nicht autosubsistent, sie gründen nicht auf sich selbst. Die Macht gründet sich nicht auf sich selbst und geht nicht aus sich selbst hervor. […] Die Machtmechanismen sind intrin­ sischer Bestandteil all dieser Beziehungen, sie umkreisen sie als deren Ursache und Wirkung“.

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2. Macht: Widerständige Freiheit

Wir können also festhalten: Macht ist keine Einheit, sondern eine Man­ nigfaltigkeit; nicht Einheit eines Vermögens, sondern Mannigfaltigkeit von Beziehungen zwischen (individuellen oder kollektiven) Subjekten. Die Be­ ziehung ist nicht kommunikativer/diskursiver, sondern nicht-diskursiver Natur, d. h. es ist eine Relation zwischen den (möglichen oder tatsäch­ lichen) Handlungen der Subjekte. Dabei sind nur solche Handlungen relevant, die zumindest mittelbar Einfluss auf die Handlungen anderer Menschen haben. Hier ist es jedoch entscheidend zu betonen, dass die Fähigkeit zur Handlung sowohl bei demjenigen, der Macht ausübt, als auch bei demjenigen, auf den diese ausgeübt wird, nicht Ausdruck eines kausalen Vermögens ist. Macht liegt stets „innerhalb eines weiten Mög­ lichkeitsfeldes […], das sich auf dauerhafte Strukturen“ stützen muss.1238 Eine abschließende kausale Sättigung bleibt auch in diesem Rahmen aus­ geschlossen. Es verbleibt also noch das letzte Element der substantialisti­ schen Machtkonzeption: das Gesetz, dessen Gegenstück wir uns im Zusam­ menhang mit einer weiteren Eigenschaft des Ereignisbegriffs verständlich machen wollen. 2) Unbestimmtheit: Auf einer rein begrifflichen Ebene schlägt sich die Ereignishaftmachung der Macht also in einer systematischen Aushöhlung des Begriffsinhalts (Intension) nieder. Gleichzeitig wird dadurch die Exten­ sion des Begriffs ausgeweitet: Denn welches Handeln hat nicht irgendeine Art der Einwirkung auf anderes Handeln? Inhaltlich kann Foucault damit behaupten, dass Macht allgegenwärtig ist.1239 Formal gesehen wird der Begriff an den Rand der Unbestimmtheit gebracht.1240 Damit sind wir bei dem zweiten wichtigen Aspekt des Ereignisses angelangt. Er liegt in seiner Unbestimmtheit, d. h. das Ereignis ist nicht auf ein Prädikat reduzierbar, da über es auch gleichzeitig immer das Gegenteil ausgesagt werden kann. Diese Form der Unbestimmtheit eines Gegenstandes nimmt für Foucault in der Auseinandersetzung mit dem Machtbegriff einen besonderen Platz ein – sie firmiert vor allem unter der Gegenüberstellung von a) immateri­ eller Repression und b) materieller Produktivität der Macht. a) Repression: Die Vorstellung, dass die Wirkung der Macht primär nega­ tiv ist, wird als juridisch-diskursiver oder juristisch-formaler Machtbegriff 1238 DE IV, S. 285. Dieser wichtige Punkt wird bei vielen Interpretationen des „Subjekt und Macht“-Artikels von Foucault allzu gerne übersehen. Beachtet man ihn nicht, so scheint Foucault am Ende seines Schaffens eine zumindest partielle Rückkehr zur subjektphilosophischen Tradition zu vollziehen – was aber in der Tat nicht der Fall ist. 1239 SW1, S. 94. 1240 Vgl. Vogelmann 2014, S. 56.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

bezeichnet. Ihre Negativität liegt in ihrer unterdrückenden oder beschrän­ kenden Funktion: „Die Macht ist im wesentlichen das, was unterdrückt. Sie unterdrückt die Natur, die Instinkte, eine Klasse, die Individuen.“1241 Es ist „eine Macht, deren Mächtigkeit sich darin erschöpfte, nein zu sa­ gen, außerstande, etwas zu produzieren, nur fähig, Grenzen zu ziehen, wesenhaft Anti-Energie; ihre Wirksamkeit bestünde in dem Paradox, daß sie nichts vermag, als dafür zu sorgen, daß die von ihr Unterworfe­ nen nichts vermögen, außer dem was die Macht sie tun läßt.“1242 Die Macht ist wesenhaft das, was dem Objekt der Macht sein Gesetz diktiert. Das Gesetz hat die Form eines binären Regimes bzw. einer binä­ ren Ordnung, das zwischen Erlaubtem und Verbotenem unterteilt und zu­ gleich als Erkenntnisschema funktioniert. Diese Manifestation der Macht vollzieht sich in Form eines Diskurs- bzw. Rechtsaktes: „Die Macht spricht, und das ist die Regel.“1243 Macht wird somit in Form des Gesetzes als hauptsächlich sprachlich bzw. diskursiv vermittelt verstanden.1244 Sie mag sich zwar auf materielle Elemente stützen müssen, in letzter Konsequenz ist sie aber stets immateriell. b) Produktivität: Dieser negativ-repressiven Konzeption von Macht stellt Foucault eine positiv-produktive Form gegenüber. Nachdem der negative Aspekt nicht negiert wird, sondern parallel zum anderen besteht, müsste man präziser sagen, dass der Machtbegriff um seine gegenteilige Funktion ergänzt wird: So verstanden, bietet Macht „Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handeln­ de Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können.“1245 Macht hat also eine regulative Funktion, indem sie vorgängige Handlungs­ möglichkeiten absteckt. Die Regulation besteht (negativ) darin, Handlun­

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VG, S. 31. SW1, S. 87. SW1, S. 85. Foucault macht dies in DE III, S. 544 besonders deutlich: Die Reduktion der Macht auf das Gesetz „gestattet, die Grundoperation der Macht als einen Sprechakt aufzufassen: als Äußerung des Gesetzes und als Diskurs über das Verbotene.“ 1245 DE IV, S. 286.

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gen zu verhindern bzw. zu erzwingen oder (positiv) die Wahrscheinlich­ keit ihres Eintretens zu forcieren. So wird beispielsweise in Machtbezie­ hungen die „Produktion des Diskurses […] kontrolliert, selektiert, organi­ siert und kanalisiert“1246 und zugleich „induzieren“1247 sie Diskurse. Macht und Wissen sind in einem noch genauer zu spezifizierenden Sinn aufein­ ander bezogen. Foucaults Produktivitätsthese ist jedoch noch weitaus radikaler: Macht ist nicht nur regulativ, sondern konstitutiv.1248 Ohne Macht gibt es über­ haupt keine Handlungsmöglichkeit. Der privilegierte Bereich, an dem Foucault die Wirksamkeit von Macht veranschaulicht, ist der Körper und die damit verbundene Subjektfunktion: „[D]as, was man das Individuum nennen kann, ist nicht das, woran sich die politische Macht festhält; das, was man das Individuum nen­ nen muß, ist der erzeugte Effekt, das Resultat dieses Festmachens der politischen Macht an der somatischen Singularität“.1249 „In Wirklichkeit ist das, was bewirkt, daß Körper, Gesten, Diskurse, Wünsche als Individuen identifiziert und konstituiert werden, eine der ersten Wirkungen der Macht. Das Individuum ist also nicht das Gegenüber der Macht; es ist eine ihrer ersten Wirkungen. Das Indivi­ duum ist ein Machteffekt und gleichzeitig, in genau dem Maße, wie es eine ihrer Wirkungen ist, verbindendes Element: Die Macht geht dank des Individuums, welches von ihr konstituiert wurde, durch.“1250 Damit ist nicht nur ausgesagt, dass der Angriffspunkt der Macht „in letz­ ter Instanz immer der Körper ist.“1251 Vielmehr wird, wie wir im Zusam­ menhang mit der These vom Materialismus des Unkörperlichen bereits betont haben, die Hervorbringung von Subjektivität eindeutig (auch) als materieller Prozess charakterisiert. Damit verschiebt sich die Frage nach

1246 ODis, S. 11. 1247 WK, S. 32. 1248 Die Radikalität des Foucaultschen Machtbegriff stellt auch Vogelmann 2014, S. 55 heraus. Zum Unterschied von regulativem und konstitutivem Effekt der Macht: MP, S. 31f. 1249 MP, S. 91. Zu diesem Punkt auch MP, S. 32: „Das Individuum ist, so scheint mir, der Effekt der Macht lediglich insoweit, als die Macht ein Verfahren der Individualisierung ist.“ 1250 VG, S. 45. 1251 MP, S. 31. Bereits 1971 schreibt Foucault in „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (DE II, S. 174), dass die „Genealogie […] als Analyse der Herkunft eine Verbindung zwischen Leib und Geschichte her[stellt]. Sie soll zeigen, dass der Leib von der Geschichte geprägt und von ihr zerstört wird.“

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der Legitimität und dem Gesetz hin zu den technischen Instrumenten, d. h. den (materiellen) Techniken, die die Machtwirkungen ermöglichen.1252 3) Bewusstsein: Schließlich impliziert die Verlagerung, welche die Ana­ lytik der Macht vom Gesetz zu den Techniken vornimmt, die Abkehr von der Kategorie des Bewusstseins. Der Gedanke, dass Ereignissen nichts bewusst sein kann, findet auch in diesem Zusammenhang seinen Nieder­ schlag. Damit wird ausgehend von der bisherigen Interpretation nochmals die Umkehrung deutlich, die Foucault im Verhältnis von Macht und Be­ wusstsein vornimmt. Traditionell steht Macht in der Verfügbarkeit des Bewusstseins durch Erkenntnis oder durch ein anderweitiges (physisches) Vermögen. Wie wir gesehen haben, wird dieses Verhältnis umgekehrt, indem das Bewusstsein Produkt von Machtbeziehungen ist. Prima facie rückt das Foucaults Ansatz in die Nähe der marxistischen Konzeption von Ideologie, die er jedoch vehement zurückweist.1253 Fou­ caults Ablehnung des Ideologiebegriffs lässt sich vor allem aus seiner erkenntnistheoretischen Position ableiten: Wie wir gesehen haben, wird dabei die Möglichkeit von universeller Wahrheit und somit auch die Vor­ stellung eines richtigen oder falschen Bewusstseins, d.h. einer Repräsenta­ tion der Wirklichkeit, negiert: „Der erste Grund ist der, dass er [der Begriff der Ideologie, B. H.], ob man will oder nicht, stets in einem virtuellen Ge­ gensatz zu etwas steht, das die Wahrheit wäre.“1254 Vielmehr wird mit den Begriffen des Diskurses und des Dispositivs der Zusammenhang von sozia­ ler Praxis und Wirklichkeit betont. Darüber hinaus ist der Ideologiebegriff problematisch, da er ein einheitliches Subjekt voraussetzt;1255 schließlich, weil sich Ideologie immer in einem untergeordneten Verhältnis zum Ma­ teriellen (Ökonomischen) befindet: „Ich suche zu zeigen, wie die Machtverhältnisse in die Tiefe der Körper materiell eindringen können, ohne von der Vorstellung der Subjekte

1252 VG, S. 61. Wie Lemke 1997, S. 90 darlegt, wendet sich Foucault somit gegen einen limitierten Technologiebegriff, der normalerweise die Herrschaft des Menschen über die Natur bezeichnet und somit gegen eine Denkweise, die den Menschen gegen eine Technik stellt, die ihm äußerlich bleibt. 1253 Vgl. DE III, S. 242: „das, was sich an der Basis, am Endpunkt der Netze der Macht herausbildet, sind, wie ich glaube, keine Ideologien.“ 1254 DE III, S. 196. 1255 Vgl. DE II, S. 670: Die Ideologie „unterstellt nämlich letztlich, das menschliche Subjekt, das Erkenntnissubjekt und auch die Formen der Erkenntnis seien ein für alle Mal vorgegeben, so dass die ökonomischen, sozialen und politischen Lebensbedingungen sich in diesem vorgegebenen Subjekt nur noch nieder­ schlagen oder sich darin einprägen könnten.“

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übernommen zu werden. Wenn die Macht den Körper angreift, dann nicht deshalb, weil sie zunächst im Bewußtsein der Leute verinnerlicht worden ist.“1256 Allerdings dominiert die materielle Umwelt nicht den Körper und auch nicht umgekehrt, sondern beide stehen in einem wechselseitigen Span­ nungsverhältnis: Materiell sein bedeutet nicht bloß, beharrend und wider­ ständig gegen jede Einwirkung, sondern Träger und Instrument einer im­ merwährenden Arbeit zu sein.1257 Diese zutiefst materielle Konfrontation von Institution – sowohl im Sinne der Architektur als auch der sozialen Praxis – mit dem Körper bringt ein Bewusstsein hervor, dass wiederum auf Körper und Institution zurückwirkt. Der Zusammenhang von Macht und Bewusstsein ist jedoch dadurch noch nicht erschöpft. Hierbei ist vor allem an Foucaults paradoxes Dik­ tum zu erinnern, dass Machtbeziehungen „gleichzeitig intentional und nicht-subjektiv“ sind: „keine Macht, die sich ohne eine Reihe von Absich­ ten und Zielsetzungen entfaltet. Doch heißt das nicht, daß sie aus der Wahl oder Entscheidung eines individuellen Subjekts resultiert.“1258 Diese Aussage lässt sich am besten durch die in der Soziologie wohlbekannte Unterscheidung zwischen zweckgerichtetem Handeln und dessen nicht intendierten Konsequenzen verstehen.1259 Die zweckgerichteten Handlun­ gen beschreibt Foucault als Taktiken; die nicht-intendierten Handlungsfol­ gen als Strategie. Entscheidend ist nun, dass Taktiken und Strategien nicht auf derselben Ebene der Beschreibung liegen. Taktiken sind die intentionalen Handlungen auf der sozialen Mikroebene, die in einem bestimmten sozialen Kontext von Individuen oder Gruppen vollzogen werden. Individuen handeln auf der sozialen Mikroebene inten­ tional, da sie das Verhalten des Gegenübers gemäß ihren Interessen beein­

1256 Die Übersetzung in Foucault 1978, S. 108f scheint den Bedeutungskern der Aussage besser zu treffen, als DE III, S. 302: „Meine Suche geht dahin, dass ich zeigen möchte, wie die Machtverhältnisse materiell in die eigentliche Dichte der Körper übergehen können, ohne dass sie durch die Vorstellung der Sub­ jekte übertragen werden müssen. Wenn die Macht den Körper trifft, so nicht, weil sie zunächst im Bewusstsein der Leute verinnerlicht wurde.“ 1257 Zu Foucaults Verständnis von Materialität: Butler 2003, S. 58. 1258 SW1, S. 95. 1259 Grundlegend hierzu: Merton 1936. Dreyfus/Rabinow 1987, S. 218f scheinen eine solche Interpretation nahezulegen: „Mehr oder weniger wissen die Han­ delnden, was sie tun, und oft können sie es ziemlich deutlich ausdrücken. […] Der Gesamteffekt jedoch entzog sich den Intentionen des Handelnden – wie auch denen jedes anderen.“

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flussen wollen. Der Versuch der Durchsetzung dieser Intention und somit die Anpassung des Verhaltens der Unterlegenen lässt sich als Machtbezie­ hung beschreiben: „Wenn man diese Machtmechanismen aufgreift oder von ihnen aus­ geht und aufzeigt, welcher ökonomische Vorteil und politische Nut­ zen sich in einem bestimmten Kontext und aus bestimmten Gründen daraus ergeben, kann man verstehen, wie diese Mechanismen schließ­ lich tatsächlich zu einem Teil des Ganzen werden.“1260 Strategien sind die nicht-intentionalen – aber institutionell und sozial regu­ lierten – Folgen auf der Makroebene. Diese werden durch die nicht-subjek­ tive Verknüpfung von verschiedenen individuellen oder kollektiven Tak­ tiken produziert.1261 Eine erfolgreiche oder -lose Taktik führt immer zu Konsequenzen, die nicht im Horizont der Folgenabschätzung der Akteure liegen. In diesem Sinne ist jedes Handeln immer mit Kontingenz behaftet. Diese nicht intendierten Konsequenzen, die zugleich nicht-subjektiv sind, da sie nicht aus einem bewussten Handeln der Akteure resultieren, lassen sich als Verkettung von Taktiken zu einer Strategie beschreiben: „Die Rationalität der Macht ist die Rationalität von Taktiken, die sich in ihrem beschränkten Bereich häufig unverblümt zu erkennen geben […], die sich miteinander verketten, einander gegenseitig her­ vorrufen und ausbreiten, anderswo ihre Stütze und Bedingung finden und schließlich zu Gesamtdispositiven führen: auch da ist die Logik noch vollkommen klar, können die Absichten entschlüsselt werden – und dennoch kommt es vor, daß niemand sie [die Gesamtdispositive] entworfen hat und kaum jemand sie formuliert: impliziter Charakter der großen anonymen Strategien, die, nahezu stumm, geschwätzige Taktiken koordinieren, deren ‚Erfinder‘ oder Verantwortliche oft ohne Heuchelei auskommen.“1262 Diese Verkettung von Taktiken führt folglich zu Strategien, die spezifische Dispositive ausbilden, d. h. Netze zwischen diversen sozialen Elementen herstellen. Wir können im Verhältnis von Taktiken zu Strategien folglich das Zusammenspiel von Ereignissen und Serien wiedererkennen.

1260 VG, S. 48. 1261 Heller 1996, S. 87 scheint einer der ersten Interpreten gewesen zu sein, der die Unterscheidung von Taktik und Strategie in dieser einsichtigen Art und Weise gefasst hat. 1262 SW1, S. 95.

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Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass Taktiken nicht nur Strategi­ en konstituieren, sondern Strategien wiederum auf die Taktiken zurück­ wirken, so „dass die zersplitterten, verschiedengestaltigen und lokalen Verfahrensweisen der Macht [d. h. Taktiken, B. H.] durch jene globalen Strategien angepasst, verstärkt und verändert werden“.1263 Die Beschrei­ bung von Strategien, die Foucault vornimmt, kann folglich als historischer Querschnitt durch die sozialen Interaktionen verstanden werden, deren situative Handlungserfolge sich miteinander zu einer gesamtgesellschaft­ lichen Zielsetzung verknüpfen;1264 ohne, dass diese globale Zielsetzung Ausdruck des Willens eines individuellen oder kollektiven Akteurs wäre. Die Logik oder die Absicht der Machtbeziehungen zu entschlüsseln, heißt nichts anderes, als die wechselseitigen Verhältnisse und die strategischen Verortungen der Machtformen im Rahmen des Gesamtdispositivs zu be­ schreiben.1265 Solche Strategien können aber nur dann als institutionalisiert gelten, wenn sie in den sozialen Konflikten wiederholbar werden und somit eine bestimmte Machtkonfiguration zwischen Akteuren verfestigen. Ereignisse zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie einzigartig und trotzdem wie­ derholbar sind. Eine Taktik ist immer einzigartig, da sie an die zeitlich und räumlich bestimmte Intention der Subjekte gebunden ist. Ihr kommt jedoch innerhalb einer Strategie eine spezifische Rolle zu, die unabhängig von der Intention besteht. Unterschiedliche teils widerstreitende Taktiken können somit die gleiche Funktion innerhalb einer Strategie erfüllen. Fassen wir die grundlegenden Eigenschaften von Macht zusammen, die sich zwanglos aus dem Ereignisbegriff ergeben haben: Macht ist keine Sub­ stanz, sondern ein Ereignis; nicht universelle Einheit, sondern singuläre Vielheit; nicht Eigenschaft, sondern relationale Praxis; nicht Kausalität, sondern Wechselwirkung; nicht Bestimmtheit als Repression, sondern Un­ bestimmtheit als Gleichzeitigkeit von Unterdrückung und Produktivität; nicht immaterielles Gesetz, sondern materielle Technik; und schließlich ist sie dem Bewusstsein nicht vollkommen transparent, sondern nur partiell als Taktik bewusst und unverfügbar als Strategie.

1263 DE III, S. 546f, SW1, S. 99: Man muss „ein zweifaches Bedingungsverhältnis denken, in dem eine Strategie durch besondere Taktiken ebenso ermöglicht wird, wie die Taktiken durch die Gesamtstrategie in Gang gesetzt werden.“ 1264 Vgl. Honneth 1985, S. 177. 1265 Vgl. Detel 1998, S. 31.

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2.2 Machtsysteme Diese methodologischen Vorüberlegungen zur Untersuchung des Macht­ begriffs bilden den Boden, auf dessen Grundlage sich die eigentliche Ar­ beit Foucaults vollzieht: die Beschreibung der historischen Systeme der Machtbeziehungen. Dabei ist zu beachten, dass diese Machtsysteme eine komplementäre, wenn auch keine erklärende Funktion im Sinn eines ab­ schließenden Ursache-Wirkungszusammenhangs zu den Wissenssystemen bieten sollen.1266 Insgesamt drehen sich Foucaults Analysen darum, das Auftauchen des Menschen bzw. besser: die moderne Subjektivität im Übergang von der Klassik zur Moderne aus einer anderen Perspektive zu plausibilisieren.1267 Wie bereits in der Archäologie des Wissens deutlich wird, konstituiert die Frage des Wissens ebenso wie die Frage der Macht für Foucault kein eigenes Untersuchungsfeld, sondern beide Perspektiven reihen sich „in das Feld [ein], in dem sich die Fragen nach dem menschli­ chen Subjekt manifestieren, überkreuzen und spezifizieren.“1268 Analog zu den Übergängen zwischen den Wissenssystemen gibt es also grundlegende Transformationen der historischen Machtsysteme: von der Souveränitäts­ macht (2.2.1) zur Disziplinarmacht (2.2.2) und dann zur Sicherheits- bzw. Biomacht (2.2.3). Allerdings wehrt sich Foucault dezidiert gegen die Vor­

1266 Die Hinweise zu diesem Zusammenhang bleiben verstreut und häufig impli­ zit, jedoch gibt es sie durchaus, wie exemplarisch ÜS, S. 34 zeigt: „Die Ge­ schichte des Strafrechts und die Geschichte der Humanwissenschaften sollen nicht als zwei getrennte Linien behandelt werden, deren Überschneidung sich auf die eine oder andere oder auf beide störend oder fördernd auswirkt. Vielmehr soll untersucht werden, ob nicht beide Geschichten in einen einzi­ gen ‚epistemologisch-juristischen‘ Formierungsprozeß hineingehören.“ Weite­ re wichtige Stellen finden sich in SG, S. 325f, VG, S. 219, STB, S. 116ff, 341f. Suárez Müller 2004 versucht die Achsen von Wissen, Macht und Ethik sogar in eine historische Systematik zu bringen. Ebenso betont Lemke 1997, S. 78 den Zusammenhang zwischen der Etablierung humanwissenschaftlicher Dis­ ziplinen und der Disziplinarmacht. 1267 Vgl. MP, S. 92f: „die Disziplin scheint mir diese der Macht eigentümliche Technologie zu sein, die im Ausgang des klassischen Zeitalters entsteht und sich entwickelt, die ausgehend vom Spiel der Körper dieses, wie ich glaube, historisch neue Element, das man Individuum nennt, isoliert und zerlegt.“ 1268 AW, S. 28. Zur Einordnung der Machtfrage, DE IV, S. 269: „Zunächst möchte ich sagen, welches Ziel ich in den letzten zwanzig Jahren in meiner Arbeit verfolgt habe. Es ging mir nicht darum, Machtphänomene zu analysieren oder die Grundlagen für solch eine Analyse zu schaffen. Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht.“

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stellung, dass ein Machtsystem ein anderes ersetzen würde.1269 Vielmehr ändert sich die dominante Technologie, die die jeweiligen Techniken gruppiert1270: „Es gibt kein Zeitalter des Rechtlichen, kein Zeitalter des Disziplinari­ schen, kein Zeitalter der Sicherheit. Sie haben keine Sicherheitsmecha­ nismen, die den Platz der Disziplinarmechanismen einnehmen, wobei diese den Platz der juridisch-rechtlichen Mechanismen eingenommen hätten. In Wirklichkeit haben Sie eine Serie komplexer Gefüge, in denen sich sicherlich die Techniken selbst, die sich vervollkommnen oder sich jedenfalls komplizieren, ändern, doch was sich vor allem än­ dert, ist die Dominante oder genauer das Korrelationssystem zwischen den juridisch-rechtlichen Mechanismen, den Disziplinarmechanismen und den Sicherheitsmechanismen.“1271 Die historische Machtanalyse entwickelt deswegen keinen so monolithi­ schen Charakter wie die Wissensanalyse, nichtsdestotrotz sollte ihre grund­ sätzliche Stoßrichtung deutlich geworden sein. Für die Unterscheidung von Souveränitäts- und Disziplinarmacht soll insbesondere die Systemati­ sierung aus MP herangezogen werden, da Foucault hier im Gegensatz zu ÜS eine kohärente und knappe Gegenüberstellung beider Machtsysteme anhand dreier Kriterien bietet.1272 Davon ausgehend, wird mittels STB eine Abgrenzung der Disziplinar- zur Biomacht vorgenommen.1273

1269 Diese Auffassung ist zu Beginn seiner Forschungstätigkeit zu den Machtsyste­ men jedoch noch nicht so klar ausgearbeitet. Es gibt Stellen in den Vorlesun­ gen Anfang der 70er Jahre und auch in ÜW, die noch eine andere Lesart implizieren. Zu der hier vertretenen Lesart: Raffnsøe et al. 2011, S. 55f. 1270 Exemplarisch lässt sich hier auf die Rolle der Familie als Souveränitätsdisposi­ tiv und ihre unterschiedliche Funktion im allgemeinen Souveränitäts- bzw. Disziplinarsystem verweisen: MP, S. 125ff. 1271 STB, S. 22f. In eine ähnliche Richtung argumentiert Foucault bereits in MP, S. 99. 1272 Vgl. MP, S. 76: Die Disziplinarmacht kann man „beinahe Element für Element der Souveränitätsmacht gegenüberstellen.“ Ebenso VG, S. 52: „Mir scheint, daß dieser [disziplinarische, B. H.] Machttyp Punkt für Punkt das Gegenstück zu jenem Machtmechanismus ist, der von der Theorie der Souveränität be­ schrieben und transkribiert wurde.“ 1273 Foucault betont in STB, S. 87f, dass in den vorangegangenen Vorlesungszeiten insbesondere die Abgrenzung von Souveränitäts- und Disziplinarmacht im Fokus stand, wohingegen in dieser Vorlesung die Abgrenzung von Disziplinarund Biomacht im Vordergrund steht.

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2.2.1 Renaissance: Souveränitätsmacht Die Souveränitätsmacht ist während des Mittelalters bis zum Ende der Renaissance im 17. Jahrhundert die dominante Konfiguration der Macht. Ihre Charakteristika sind 1) Abschöpfung durch ein partielles Einbehal­ tungssystem, 2) Diskontinuität und Anteriorität, 3) Nicht-Isotopie und 4) hinsichtlich des Subjektivierungsmodus die Gleichzeitigkeit von Indivi­ dualisierung und Ent-Individualisierung.1274 1) Abschöpfung durch ein partielles Einbehaltungssystem: Das System der Souveränitätsmacht ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der Machtaus­ übende (Souverän) und der Machtunterworfene (Untertan bzw. „sujet“) in einem asymmetrischen, aber wechselseitigen Verhältnis zueinander be­ finden; ein Verhältnis, das in der Kategorie des Rechts gedacht wird. Die Machtausübung ist negativ in dem Sinn, dass sie sich als Abschöpfung durch eine Verfügungsgewalt bzw. ein Zugriffsrecht auf den Untertanen realisiert.1275 Dieses Zugriffsrecht beinhaltet „Dinge, die Zeiten, die Kör­ per und schließlich das Leben; sie gipfelte in dem Vorrecht, sich des Lebens zu bemächtigen, um es auszulöschen.“1276 Im Normalfall greift der Souverän also nur partiell auf die Untertanen zurück. Ausschließlich in der Ultima Ratio des Todes ist er total vereinnahmend. Im Vergleich zu diesem negativen Aspekt tritt die positive Verausga­ bung des Souveräns (z. B. durch Geschenke, Dienste usw.) seinen Unter­ tanen gegenüber zurück. Die Einbehaltung übersteigt stets die Verausga­ bung. Letztere ist in Analogie zu ihrem stärksten Mittel nur ein Lebenlassen und keine aktive Förderung des Lebens. Foucault bringt den Me­ chanismus der Souveränitätsmacht deswegen auf die folgende prägnante Formulierung: Die Souveränitätsmacht ist „das Recht, sterben zu machen und leben zu lassen.“1277 1274 Das begriffliche Verhältnis von Subjektivierung und Individualisierung ist dabei nicht ganz klar. Unbestreitbar ist allerdings, dass Foucault beide Kon­ zepte in der Moderne als untrennbar miteinander verwoben denkt. So z. B. STB, S. 337: „[D]ie Individualisierung des abendländischen Menschen hat sich während des langen Jahrtausends des christlichen Pastorats um den Preis der Subjektivität vollzogen. Durch Subjektivierung. Man muß Subjekt werden, um Individuum zu werden (alle Bedeutungen des Wortes ‚Subjekt‘).“ 1275 Vgl. MP, S. 71. Exemplarisch auch DE IV, S. 232: „Macht nahm etwas weg und war daher im Wesentlichen räuberisch. Sie bewirkte stets einen ökonomischen Abzug. Sie förderte und stimulierte nicht die Wirtschaftsströme, sondern be­ hinderte und bremste sie ständig.“ 1276 SW1, S. 132. 1277 SW1, S. 132, VG, S. 284.

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2) Anteriorität und Diskontinuität: Eine Souveränitätsbeziehung konstitu­ iert sich immer aus ihrer ‚Anteriorität‘ heraus. Das bedeutet, sie „schaut immer zurück auf etwas, das sie ein für allemal begründet hat“; auf einen Anfangszustand oder einen ursprünglichen Gründungsakt der Souveränität, sei es nun ein Vertrag, ein militärischer Sieg oder ein Anspruch durch fa­ miliäre Abstammung.1278 Dieser Ausgangspunkt der Legitimität der Macht muss stets erneut reaktualisiert werden und zwar durch rituelle Wieder­ holung (Zeremonie). Daher stehen Anteriorität und Reaktualisierung in einem direkten Zusammenhang zueinander. In dieser Angewiesenheit auf fortwährende Reaktualisierung der Souve­ ränität liegt für Foucault ihre Diskontinuität, im Sinne einer ständigen Instabilität der Machtverhältnisse – eine unterlassene Geste oder ein fal­ scher Ritus stellt die Macht des Souveräns grundsätzlich in Frage. Am Horizont jeder Beziehung dieser Art steht als Kehrseite deshalb immer die Gewalt, weil die kleinste Abweichung sofort sanktioniert werden muss.1279 In diesem Sinn ist die Souveränitätsmacht vor allem reaktiv, weil sie nicht primär die Absicht oder Intention, sondern immer nur die Durchführung einer Handlung sanktioniert. Die Machtausübung realisiert sich über das Gesetz als Einteilung der Handlungen in das binäre Schema von erlaubt und verboten und der Kop­ pelung eines Typs von verbotenen Handlungen an einen Typ von Strafe. Das Gesetz arbeitet dabei im Imaginären, indem es „sich all die Dinge vorstellt, die getan werden könnten und nicht getan werden dürfen.“1280 Die Ordnung des Erlaubten konstituiert sich hierbei vom Verbotenen her. Das bedeutet, alles, was nicht verboten ist, ist erlaubt.1281 Damit ergibt sich ein Dreierschema aus Gesetz, Imagination und Verbot. 3) Nicht-Isotopie: Schließlich beschreibt Foucault Souveränitätsmacht als nicht-isotopisch. Das bedeutet einerseits, dass die verschiedenen Machtbe­ ziehungen keine einheitliche Ordnung im Sinn einer Hierarchie bilden können und andererseits, dass die Elemente, zwischen denen diese Bezie­ hungen geknüpft sind, nicht äquivalent sind. Die Machtbeziehungen können keine einheitliche Hierarchie bilden, weil „sie ohne gemeinsames Maß […], heterogen [sind], wenn die einen mit den anderen verglichen werden.“1282 Es handelt sich um Beziehungen

1278 1279 1280 1281 1282

MP, S. 72. Vgl. MP, S. 72. STB, S. 76. Vgl. STB, S. 19, 74f. MP, S. 73.

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der Ähnlichkeit (z. B. Leibeigner – Herr, Priester – Laien, usw.), aber um keine Klassifizierungsbeziehungen. Wir sehen hier also die Unterschie­ de zwischen der Episteme der Renaissance und der Klassik wiederauftau­ chen, wobei Foucault das Denken in der Kategorie der Ähnlichkeit auf subtile Weise mit der Struktur der Machtbeziehungen zu dieser Zeit ver­ knüpft.1283 Wichtig ist es außerdem zu betonen, dass die Elemente deswegen nicht äquivalent sind, weil der Angriffspunkt der Macht ober- oder unterhalb des Körpers liegt, dem Körper aber nie entspricht. Der Zugriff erfolgt stets mehr „auf die Erde und ihre Produkte […] als auf Körper und deren Betätigung“1284: „Vom Mittelalter bis zum 16. Jahrhundert wird die Souveränität im öffentlichen Recht nicht über die Dinge, sondern zunächst über ein Territorium und folglich über die Untertanen ausgeübt, die es bewoh­ nen. In diesem Sinne kann man sagen, daß das Territorium das grund­ legende Element ist […] für die juridische Souveränität des Souveräns, wie die Philosophen oder die Rechtstheoretiker sie definieren.“1285 Erst von dieser Macht über das Territorium abgeleitet, werden die inner­ halb dieses Raums lokalisierten Multiplizitäten erfasst, die ebenso Men­ schen wie Dinge sein können.1286 4) Subjektivierungsmodus der Gleichzeitigkeit von Individualisierung und Ent-Individualisierung: Da das Geflecht souveräner Machtbeziehung in dem gerade erläuterten Sinn nicht-isotopisch ist, muss der Souverän – als höchs­ te Macht des politischen Gefüges – über den vielfältigen sozialen Souverä­ nitätsbeziehungen stehen. Er teilt nicht den gleichen Raum mit ihnen: „[E]s muß wohl einen einzigen individuellen Punkt geben, der den Gipfelpunkt dieses ganzen Ensembles von untereinander heterotopi­ schen, absolut nicht auf ein und demselben Tableau planbaren Bezie­ hungen darstellt.“1287

1283 Weitere Hinweise in diese Richtung finden sich auch in STB, S. 33f: Foucault erläutert hier den für die Souveränitätsmacht typischen Plan für den Aufbau einer Stadt. Dabei ist besonders auf das Verhältnis von Makro- zu Mikrokos­ mos zu achten. 1284 VG, S. 52. 1285 STB, S. 145. 1286 Dies präzisiert Foucault insbesondere in STB, S. 27. 1287 MP, S. 75.

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Entscheidend für diesen Machttypus ist, dass im Gegensatz zur Disziplinar­ macht der Subjekt-status des Souveräns an dessen Sichtbarkeit gebunden ist. Nur derjenige kann Macht über andere ausüben, der die Anteriorität der Macht verkörpert; und zwar nicht nur in einem metaphorischen, son­ dern in einem unmittelbar materiellen Sinn: So ist der Körper des Königs von Machtzeichen (z. B. Insignien) übersät. Dadurch wird er individuali­ siert. Zugleich sind diese Zeichen nur verliehen, am individuellen Körper festgemacht, aber ihm nicht immanent, nicht notwendig mit ihm ver­ knüpft.1288 Die Zeichen können und müssen zur Stabilität der Herrschaft über die Zeit hinweg jedem anderen Souverän als Indikator seiner Macht dienen. Daraus ergibt sich für Foucault eine unausweichliche Ambivalenz: „Die Souveränitätsbeziehung bringt etwas wie eine politische Macht mit dem Körper in Verbindung, wendet sie auf ihn an, doch sie läßt niemals die Individualität zutage treten.“1289 Der Körper des Souveräns wird folglich in dem Maße entindividualisiert, wie er individualisiert wird. Eine stabile Form von Individualität kann es innerhalb souveräner Machtbeziehungen konsequenterweise nicht ge­ ben.1290

2.2.2 Klassik: Disziplinarmacht Mit Beginn der Klassik im 17. Jahrhundert lässt sich ein Übergang von der Souveränität hin zur Disziplin verorten, deren Dominanz bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts anhält. Foucault geht davon aus, dass man die Disziplin „Element für Element der Souveränitätsmacht gegenüberstellen“ kann.1291 Dieser Feststellung wollen wir konzeptionell Rechnung tragen, woraus sich folgende Gliederung ergibt: 1) Wertschöpfung durch totale Vereinnahmung, 2) Endzustand und Kontinuität, 3) Isotopie und 4) Sub­ jektivierung durch Individualisierung.

1288 Zur ambivalenten Stellung des Körpers des Königs (ÜS, S. 40f) und zu dessen Sichtbarkeit (ÜS, S. 248f). 1289 MP, S. 76. 1290 Vgl. MP, S. 89: „Ich habe versucht, Ihnen zu zeigen, daß sich in der Souverä­ nitätsmacht […] die Individualisierungsverfahren an der Spitze abzeichneten, daß es auf seiten des Souveräns eine tendenzielle Individualisierung gab, mit diesem Spiel der multiplen Körper, das bewirkt, daß sich die Individualität im selben Moment verliert, in dem sie zutage tritt.“ 1291 MP, S. 76.

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1) Wertschöpfung durch totale Vereinnahmung: Im Gegensatz zur Souverä­ nitätsmacht ist eine disziplinarische Machtbeziehung dadurch charakteri­ siert, dass sie „eine totale Vereinnahmung ist oder jedenfalls dazu tendiert, eine erschöpfende Vereinnahmung des Körpers der Gesten, der Zeit des Verhaltens des Individuums zu sein“.1292 Worin die Totalität genau besteht, müssen wir noch näher erläutern. Wir können jedoch bereits vorab festhalten, dass die Vereinnahmung nicht einer unmittelbaren Abschöpfung von Zeit und Ertrag, sondern der Wert­ schöpfung dient.1293 Sie etabliert einen Mechanismus, der positiv auf das Leben zielt und zwar vermittelt durch den individuellen Körper1294: Einen Körper, den die Disziplin „um so gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt.“1295 Die Nützlichkeit liegt vor allem darin, den Anforde­ rungen der sich zu dieser Zeit entwickelnden kapitalistischen Produktions­ verhältnisse zu entsprechen.1296 Insgesamt lässt sich die Disziplinarmacht in Umkehrung zur Souveränität als Macht verstehen, „leben zu ‚machen‘ und sterben zu ‚lassen‘.“1297 2) Endzustand und Kontinuität: Diese Gefügigmachung ist nicht auf einen Anfangszustand, sondern auf einen End- oder Optimalzustand aus­ gerichtet – ein Zustand, der als Norm fungiert und an den es nur eine asymptotische Annäherung gibt. Diese Norm ist Ausgangspunkt für die Bestimmung des Normalen und Anormalen.1298 Der Verlauf dieser Annä­ herung ist dabei folgender: Umso gefügiger und produktiver ein Subjekt ist, desto weniger muss Disziplin auf es angewandt werden, weil es sich sozusagen selbst diszipliniert.1299

1292 1293 1294 1295 1296

MP, S. 77, STB, S. 74, Hervorhebung B. H. Vgl. ÜS, S. 281. Vgl. VG, S. 284. ÜS, S. 176, VG, S. 52. Zum Zusammenhang von Kapitalakkumulation und Akkumulation von Men­ schen: ÜS, S. 283. 1297 VG, S. 284, Hervorhebung B. H. Zu finden auch in der Formulierung von SW1, S. 134: „leben zu machen oder in den Tod zu stoßen.“ 1298 Zur Rolle der Norm im Disziplinarsystem: STB, S. 98, ÜS, S. 236, 291. 1299 Vgl. ÜS, S. 260: „Die Wirksamkeit der Macht und ihre Zwingkraft gehen sozusagen auf ihre Zielscheibe über. Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unter­ worfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwer­ fung.“

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Anstelle der diskontinuierlichen Reaktualisierung der Souveränitätsbe­ ziehung (notfalls mit Gewalt) tritt der stetige und gestufte Mechanismus der Übung1300: Nicht die Zeichen der Souveränität werden durch Zeremo­ nien erneuert, sondern die momentane Produktivität, verstanden als Fä­ higkeitsniveau, wird durch Prüfungsmethoden schriftlich fixiert.1301 Diese Verschriftlichung ist nicht nur Grundlage für den Subjektivierungsmodus, den wir noch eingehender thematisieren werden, sondern auch für die Kontinuität der Machtausübung. Die Disziplin erreicht ihre Kontinuität, indem sie eine fortwährende Sichtbarkeit ihrer Machtobjekte sicherzustel­ len versucht. Neben der Schrift hebt Foucault hier ausdrücklich die räum­ liche Anordnung der Subjekte hervor, deren Vervollkommnung sich im Modell des Panoptikums finden lässt1302: „Dieses panoptische Prinzip – alles sehen, jederzeit und jedermann usw. – organisiert eine genetische Polarität der Zeit; es bewerkstelligt eine zentralisierte Individualisierung, mit der Schrift als Stütze und Instrument; es impliziert schließlich eine kontinuierliche Strafaktion gegenüber den Virtualitäten des Verhaltens, das hinter den Körper selbst etwas wie eine Psyche projiziert.“1303 Insbesondere anhand des letzten Aspektes wird das spezifisch Neue der Disziplinarmacht deutlich. Das Einwirken auf die Handlungen erfolgt nicht primär reaktiv, sondern präventiv. Es wird nicht auf die Realität abge­ zielt, sondern bereits auf die Virtualität – das heißt, die bloße Möglichkeit – des Verhaltens. Die Disziplin arbeitet so „komplementär zur Realität“, in­ dem sie den negativen Virtualitäten positiv zu erreichende Ziele (Normen) vorschreibt.1304 Im Vergleich zur Souveränitätsmacht kommt es zu einer

1300 Zum Mechanismus der Übung exemplarisch ÜS, S. 207f: „Die Übung ist näm­ lich jene Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt, die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen. Indem sie das Verhalten auf einen Endzustand ausrichtet, ermöglicht die Übung eine ständige Charakterisierung des Individuums“. 1301 Zur Rolle der Prüfung in der Disziplinarmacht: ÜS, S. 238ff. 1302 Zum Modell des Panoptikums und seinen Zusammenhang zur Disziplinar­ macht: ÜS, S. 251, MP, S. 113ff. 1303 MP, S. 85, STB, S. 17. 1304 Vgl. STB, S. 76, Hervorhebung B. H: „Die Disziplin arbeitet gewissermaßen komplementär zur Realität. Der Mensch ist böse, der Mensch ist schlecht, er hat schlechte Gedanken, schlechte Neigungen usw. Im Inneren des Diszipli­ narraumes bildet man das Komplement dieser Realität, der Vorschriften, der Verbindlichkeiten, und das um so künstlicher und um so beengender, als die Realität ist, was sie ist, und als sie hartnäckig und schwer zu bezwingen ist.“

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Umkehrung des Blickwinkels: Die Disziplin ist „nicht sosehr [auf] die zu unterlassenden Dinge als [auf] die zu tuenden Dinge“ ausgerichtet.1305 Das Verbotene ergibt sich im Kontrast zu dem, was erlaubt ist. Die Disziplin stellt dem Schema der Souveränität aus Gesetz, Imagination und Verbot das Schema aus Norm, Komplementarität und Vorschrift entgegen. 3) Isotopie: Die Machtbeziehungen innerhalb eines Disziplinarsystems sind isotopisch. Sie bilden also einheitliche Hierarchien mit klarer Überund Unterordnung. Die verschiedenen Hierarchien überlappen und ver­ wirren sich dadurch nicht gegenseitig, sondern sie sind zueinander kom­ plementär. Sie sind jedoch keineswegs starr, sondern die Elemente inner­ halb einer Hierarchie unterliegen einem ständigen Umgruppierungspro­ zess. Es ist ein Auf- oder Abstieg je nach dokumentiertem Fähigkeitsniveau möglich. Deshalb lässt sich die Disziplin als „die Kunst des Ranges und die Technik der Transformation von Anordnungen“ charakterisieren.1306 Diese Signifikanz der (An-)Ordnung bietet ein besonders anschauliches Beispiel für die Verknüpfung von klassischer Episteme und Disziplinarsys­ tem, insofern beide Systeme durch die Kategorie des Tableaus bestimmt sind: „Das Tableau ist im 18. Jahrhundert zugleich eine Machttechnik und ein Wissensverfahren. Es geht um die Organisation des Vielfältigen, das überschaut und gemeistert, dem eine ‚Ordnung‘ verliehen werden muß.“1307 Die Elemente des Tableaus dürfen dabei nicht einfach als bereits vorhande­ ne Individuen verstanden werden, sondern der Prozess der Verteilung als solche konstituiert erst das, was sich durch die Anordnung als naturwüch­ siges Einzelelement erkennen lässt: „Die Disziplin ist ein Modus der Individualisierung von Mannigfaltig­ keiten und nicht etwas, das, von zunächst individuell bearbeiteten In­ dividuen aus, anschließend eine Art Gefüge aus vielfältigen Elementen konstruieren würde.“1308 Während sich die Souveränitätsmacht also nur vermittelst des Territori­ ums auf die Vielheit von Menschen bezieht, versucht die Disziplinarmacht

1305 STB, S. 75. 1306 ÜS, S. 187. 1307 ÜS, S. 190. Hierzu auch exemplarisch Foucaults Bemerkung in STB, S. 113 zu den Ideologien um Condillac und Destutt de Tracy. 1308 STB, S. 28.

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2. Macht: Widerständige Freiheit

dieser Vielheit zu begegnen, indem sie die Vielheit in Individuen auflöst. Diese Auflösung erfolgt vor allem durch räumliche Separierung.1309 Der Raum ist folglich nicht mehr Gegenstand, sondern Mittel der Machtaus­ übung. Das Element einer disziplinarischen Machtbeziehung ist äquiva­ lent mit dem Körper und dessen Verhalten. Erst im und durch den diszi­ plinarischen Raum wird aus einer „somatischen Singularität“ ein individu­ eller Körper.1310 4) Subjektivierungsmodus der Individualisierung: Disziplinarsysteme sind, wie wir gesehen haben, isotopisch. Aufgrund dieser klaren und komple­ mentären Hierarchien stehen die Machtausübenden nicht über diesem Gefüge, sondern sind in es eingefasst. Dabei ist das Individualisierungsver­ hältnis gerade umgekehrt zur Souveränitätsmacht. So ist das Disziplinar­ system durch „eine sehr starke tendenzielle Individualisierung auf seiten der Basis“ charakterisiert.1311 Nicht die Machtausübenden, sondern dieje­ nigen, auf die Macht ausgeübt wird, werden durch Zeichen und durch räumliche Verteilung permanent sichtbar gemacht. Innerhalb eines diszi­ plinarischen Subsystems ist der Disziplinierende dabei tendenziell unsicht­ bar. Die Machtausübung ist an keinerlei individuelle Merkmale gebunden – sie kann prinzipiell von jedem durchgeführt werden. Dass der Macht­ ausübende innerhalb eines Subsystems als entindividualisiert erscheint, bedeutet jedoch nicht, dass er gar nicht individualisiert wird. Er wird aufgrund der Komplementarität der Disziplinarsysteme „innerhalb eines größeren Systems erfaßt, das ihn seinerseits überwacht, und er erweist sich darin als diszipliniert.“1312 Entscheidend ist für Foucault der Modus dieser Individualisierung: „Tatsächlich ist das Individuum das Resultat von etwas, das ihm vor­ ausgeht, nämlich jenes Mechanismus, all jener Verfahren, welche die politische Macht am Körper festmachen.“1313

1309 Vgl. STB, S. 73: „Die Disziplin ist wesentlich zentripetal. Damit will ich sagen, daß die Disziplin in dem Maße funktioniert, wie sie einen Raum isoliert, ein Segment bestimmt. Die Disziplin konzentriert, sie zentriert, sie schließt ein. Die ursprüngliche Geste der Disziplin besteht nämlich darin, einen Raum zu umschreiben, in dem ihre Macht und ihre Machtmechanismen voll und uneingeschränkt zum Tragen kommen.“ 1310 MP, S. 91. 1311 MP, S. 89. 1312 MP, S. 89. 1313 MP, S. 91.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Das Individuum ist nicht etwas der Beziehung zwischen Machtsubjekt und -objekt Vorgängiges, sondern das Resultat des Festmachens der politischen Macht an der „somatischen Singularität“.1314 Das Auftauchen des Subjekts in seiner für die Moderne zentralen Stellung ist also nicht nur ein diskursi­ ver, sondern ebenso ein nicht-diskursiver und damit im engeren Sinne ma­ terieller Prozess.1315

2.2.3 Moderne: Biomacht und Sicherheitsdispositiv In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzieht sich durch die Ver­ knüpfung der Techniken der Disziplinarmacht mit denen der Biopolitik der Übergang zum Machtsystem der Moderne.1316 Zusammen konstituie­ ren Disziplinarmacht und Biopolitik das System der Biomacht.1317 Beide aufeinander bezogene Techniken entfalten ihre je eigenen Wirkungen, die sich trotz ihres teilweise diametralen Angriffspunkts zu einem kohärenten Gesamtdispositiv fügen. Wir müssen daher einerseits die Gemeinsamkei­ ten als auch die Unterschiede zur Disziplinarmacht herausstellen: 1) Wert­ schöpfung durch Regulation, 2) Normalität und Kontinuität, 3) Isotopie und Milieu, 4) Subjektivierungsmodus der Massenkonstitution. 1) Wertschöpfung durch Regulation: Die Biomacht ist dementsprechend nicht als Überwindung der Disziplinarmacht zu verstehen, sondern als ihr Komplement. Sie ist ein anderer Aspekt der Macht, leben zu machen und sterben zu lassen; indes mit einer ihr eigenen Funktionslogik.1318 Ihr genuiner Gegenstand ist weder die Vielheit von Menschen auf einem Ter­ ritorium noch die Zerlegung der Vielheit in individuelle Körper, sondern diese Vielheit als Ganzes – im Kollektivkörper der Bevölkerung:

1314 MP, S. 91. 1315 Vgl. DE II, S. 776 „Denn in Wirklichkeit ist dieses neutrale Subjekt selbst ein historisches Erzeugnis. Es bedurfte eines ganzen Netzes aus Institutionen und Praktiken, damit dieser ideale Punkt zustande kam, dieser Ort, von dem aus die Menschen einen rein beobachtenden Blick auf die Welt werfen konnten.“ 1316 Vgl. SW1, S. 135f. 1317 Vgl. SW1, S. 135. 1318 Vgl. VG, S. 285, SW1, S. 134. Die Begründung dafür, warum eine Macht, die auf das Leben ausgerichtet ist, überhaupt sterben lassen kann, sieht Foucault im Rassismus gegeben. Der Rassismus konstituiert „die Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muß.“ (VG, S. 301) Einen so verstandenen Rassismus sieht er interessanterweise sowohl im Nationalsozialismus als auch im Sozialismus als gegeben an.

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2. Macht: Widerständige Freiheit

„Die Bevölkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Pro­ zessen und Gesetzen durchdrungen, beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyra­ mide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand. Eine Be­ völkerung kann zugrunde gehen oder sich entwickeln.“1319 Der Mensch wird durch das Konzept der Bevölkerung in seiner Eigen­ schaft als Lebewesen auf Ebene der Gattung erfasst. Der Körper bleibt weiterhin zentral, allerdings wird er nicht mehr als ein mit Fähigkeiten ausgestatteter Organismus betrachtet, sondern als konkrete Manifestation biologischer Gesamtprozesse.1320 Der Zugriff auf die Bevölkerung erfolgt dabei nicht als partielle oder totale Vereinnahmung; nicht entgegen oder komplementär zur Wirklichkeit, sondern dieser Wirklichkeit immanent durch die Maximierung positiver und Minimierung negativer Effekte:1321 „[Es] ist ein Arbeiten im Element dieser Wirklichkeit selbst […], ein Fußen auf dieser Wirklichkeit, daß ein Dispositiv installiert wird, ein Dispositiv, das, wie ich denke, vor allem ein Sicherheitsdispositiv ist und nicht mehr ein juridisch-disziplinarisches System.“1322 Ganz allgemein kann man diese Wertschöpfung der Biomacht durch Ma­ ximierung positiver und Minimierung negativer Effekte als Regulation der natürlichen Prozesse der Bevölkerung verstehen. Diese Regulation dient der Sicherheit der Bevölkerung.1323 2) Normalität und Kontinuität: Die Biomacht ist somit nicht auf einen perfekten Endzustand ausgerichtet, der durch kontinuierliche Überwa­ chung oder Besserung realisiert werden könnte. Der Zustand, der erreicht werden soll, ist vielmehr eine Annäherung an einen Mittelwert, welcher aus der empirischen Realität gewonnen wird, für den es aber einen Korri­

1319 1320 1321 1322 1323

DE IV, S. 235. Vgl. VG, S. 286, 294. Vgl. STB, S. 38. STB, S. 63. Zum Begriff der Sicherheit DE III, S. 498: „Der Vertrag, den der Staat der Bevölkerung anbietet, lautet darum: ‚Ich biete euch Sicherheit‘. Sicherheit vor Unsicherheiten, Unfällen, Schäden, Risiken jeglicher Art. Ihr seid krank? Dann werde ich euch eine Krankenversicherung geben. Ihr habt keine Arbeit? Ich sorge für eine Arbeitslosenversicherung. Es gibt eine Flutkatastrophe? Ich richte einen Hilfsfonds ein. Es gibt Straftäter? Ich sorge für ihre Umerziehung und eine gute polizeiliche Überwachung.“

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

dor an tolerierbaren Schwankungen gibt.1324 Dieser Mittelwert und die zugelassenen Abweichungen fungieren als Maßstab der Normalität: „Das Normale kommt als erstes, und die Norm leitet sich daraus ab, oder die Norm setzt sich ausgehend von dieser Untersuchung der Normalitäten fest und spielt ihre operative Rolle.“1325 Die Regulation besteht gerade nicht in einer fortwährenden Intervention durch Verbot (Souveränität) oder Vorschrift (Disziplin). Stattdessen ist sie ein Gewährenlassen (‚laisser faire‘).1326 Das Laisser-faire darf indes nicht als Bruch mit der Kontinuität der Machtausübung verstanden werden, ganz im Gegenteil: man macht sich die Eigenlogik der Bevölkerung für die Beeinflussung der Handlungen zunutze: Ziel ist eine „fortschreitende[] Aufhebung der Phänomene durch die Phänomene selbst.“1327 Wir können erneut ein Dreierschema festhalten, das die Funktion dieses Machttyps beschreibt: nicht Gesetz oder Norm, sondern Normalität – nicht Imagi­ nation oder Komplementarität, sondern Immanenz – nicht Verbot oder Vorschrift, sondern Regulation. 3) Isotopie und Milieu: Die Regulation steht folglich auch der gesell­ schaftlichen Hierarchisierung, die wir von der Disziplin kennen, nicht entgegen.1328 Sie befördert sie sogar, insofern sie eine dieser globalen Machttechnik äquivalente globale Institution – den Staat als „sowohl in­ dividualisierend als auch totalitär“ – legitimiert.1329 Die Steuerung des Machtelements ist jedoch grundsätzlich von den anderen Machttypen ver­ schieden. Denn die Bevölkerung wird nicht einfach als „ursprüngliche Ge­ gebenheit“ betrachtet, die man beliebig formen kann. Sie ist im Gegenteil „abhängig von einer ganzen Serie von Variablen.“1330 Das Handeln der Be­ völkerung zu regulieren, bedeutet daher, anstelle direkt in sie einzugreifen, die Variablen (bspw. die Zirkulation von Waren und Menschen) zu beein­ flussen, von denen die Bevölkerung abhängt. Dieser Gedanke manifestiert sich für Foucault historisch im Begriff des Milieus. Das Milieu lässt sich als „Distanzwirkung eines Körpers auf einen anderen“ beschreiben.1331 Den Begriff kann man nicht nur in der Physik und Biologie finden, sondern

1324 1325 1326 1327 1328 1329 1330 1331

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Vgl. STB, S. 19f. STB, S. 98. Vgl. STB, S. 74. STB, S. 102. Vgl. SW1, S. 136. DE IV, S. 198, VG, S. 289. STB, S. 108. STB, S. 40.

2. Macht: Widerständige Freiheit

dieser ist der Sache nach auch in nicht-diskursiven Praktiken wie der Architektur vorhanden. Hierin spiegelt sich die Episteme der Moderne wider: Die (Erkenntnis- oder Macht-) Elemente werden nicht mehr wie in der Klassik zerlegt und angeordnet. Zentral sind das Verhältnis der Elemente zueinander und deren Funktion. Dieses Wissen um die Funkti­ on ermöglicht es, die Elemente entsprechend zu manipulieren. Es ist also kaum verwunderlich, dass Foucault den Übergang von der klassischen zur modernen Episteme genau für den Augenblick bestimmt, in dem die Bevölkerung zum ersten Mal auftaucht1332: Wenn man den „Transformati­ onsoperator“ sucht, der den Übergang von den empirischen Wissenschaf­ ten der Klassik zu denen der Moderne bewirkte, „den Operator, der also all diese Systeme, diese Ensembles von Wissensarten zu den Wissenschaften vom Leben, von der Arbeit und der Produktion, zu den Wissenschaften von der Sprache kippen ließ, muß man auf der Seite der Bevölkerung suchen.“1333 4) Subjektivierungsmodus der Massenkonstitution: In diesem Übergang von der Klassik zur Moderne muss Foucault natürlich auch das Auftauchen des „Menschen“, d. h. die spezifische Form der modernen Subjektivierung the­ matisieren.1334 Das Überschreiten der Schwelle zur Moderne ist noch nicht dadurch geschehen, dass alle Menschen (nicht nur der Souverän) durch die Disziplin individualisiert werden; es vollzieht sich erst dadurch, dass die Biomacht gleichzeitig individualisierend und „massenkonstituierend“ wirkt.1335 Die Konstitution der Masse, verstanden als Bevölkerung, besteht darin, das Individuum als Element eines Kollektivsubjekts zu verstehen, das mit einer eigenen, von spezifischen Variablen abhängigen Regelmäßig­ keit ausgestattet ist. An diesen Punkt können wir unsere bisherige Inter­ pretation durch Foucaults historische Analyse der Machtsysteme konkreti­ sieren. Die Stellung, die der Mensch in der Moderne innehat, ist das Korre­ lat eines diskursiven Wissenssystems (Analytik der Endlichkeit) und eines dazu komplementären nichtdiskursiven Machtsystems (Biomacht).1336 Las­

1332 Zu dieser wichtigen und zu wenig rezipierten Analogie von Wissens- und Machtsystemen: STB, S. 116ff, SW1, S. 138f. 1333 STB, S. 119. 1334 Dies geschieht leider viel zu knapp in STB, S. 120. 1335 VG, S. 286. Zum Zusammenhang von Masse und Staat: STB, S. 164f. 1336 Hierzu auch DE IV, S. 1015: „Die Entstehung der Sozialwissenschaft [science sociale] lässt sich nicht von der Entstehung der neuen politischen Rationali­ tät und von der neuen politischen Technologie trennen. […] Und dass wir als lebende, sprechende und arbeitende Wesen zum Objekt verschiedener Wissenschaften werden, hat seinen Grund nicht in einer Ideologie, sondern

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

sen wir Foucault an dieser außerordentlich wichtigen Stelle selbst ausführ­ lich zu Wort kommen: „Es ist ein unaufhörliches Spiel zwischen den Machttechniken und ihrem Objekt, das nach und nach die Bevölkerung und ihre spezifi­ schen Phänomene im Realen und als Realitätsfeld angelegt hat. Und seit der Konstituierung der Bevölkerung als Korrelat der Machttech­ niken konnte man sehen, wie eine ganze Serie von Gegenstandsberei­ chen für mögliche Wissensarten sich öffnete. Und umgekehrt konnte sich die Bevölkerung als privilegiertes Korrelat der modernen Macht­ mechanismen konstituieren, fortsetzen, erhalten, weil diese Wissensar­ ten ohne Unterlaß neue Gegenstände anlegten.“1337 Hier wird erneut Folgendes deutlich: Es bestimmen nicht die Vorstell­ ungen, wie gehandelt wird, sondern die Praktiken bestimmen die Vorstell­ ungen. Der Mensch in seinem spezifisch modernen Modus der Subjektivi­ tät ist also „letztlich nichts anderes als eine Figur der Bevölkerung.“1338 Damit lässt sich festhalten, dass der Mensch (das Subjekt) nicht nur als ideeller Gegenstand der Vorstellung, sondern auch in seiner materiellen Wirklichkeit ein Produkt einer spezifischen Konstellation von Praktiken ist.

2.3 Freiheit als Widerstand „Ich habe nie behauptet, dass diese Dispositive der Macht das gesamte Leben in einer Gesellschaft konstituieren. Ich habe nie behauptet, dass sie seine Geschichte erschöpfen.“1339 Wenn wir uns dem Thema der Freiheit zuwenden, stoßen wir prima facie auf eine ähnlich gelagerte Problematik wie am Ende des letzten Kapitels. Überall herrscht ausschließlich Notwendigkeit vor, verstanden als die Be­ einflussung unseres Handelns durch das Handeln anderer: Macht bedeu­ tet im allgemeinsten Sinn „handelnde[s] Einwirkung auf Handeln“, das „mögliches oder tatsächliches, zukünftiges oder gegenwärtiges Handeln“

in der Existenz dieser politischen Technologie, die wir in unseren eigenen Gesellschaften entwickelt haben.“ 1337 STB, S. 120. 1338 STB, S. 120. 1339 Foucault 2018, S. 365, eigene Übersetzung.

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2. Macht: Widerständige Freiheit

betrifft.1340 Sie strukturiert, begrenzt und bestimmt unser Handeln – sei es nun negativ oder positiv. Die von Foucault beschriebenen Machtkonstel­ lationen entfalten sich als Unbewusstes stets hinter dem Rücken der Sub­ jekte. Daher scheint es „zwischen den Maschen ihres Netzes [der Macht] keine Inseln elementarer Freiheiten“1341 zu geben. Wenn man allerdings Macht als Ereignis versteht, so kann sie rein be­ grifflich der Freiheit nichts Fremdes oder Widersprechendes sein. Diese Konsequenz ist systematisch in Foucaults Denken angelegt, ausdrücklich zieht er sie allerdings erst in den 80er Jahren – allem voran in dem Aufsatz „Subjekt und Macht“1342: „Macht kann nur über ‚freie Subjekte‘ ausgeübt werden, insofern sie ‚frei‘ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Hand­ lungsmöglichkeiten verfügen. […] Macht und Freiheit schließen ein­ ander also nicht aus (wo Macht ist, kann es keine Freiheit geben).“1343 Freiheit und Macht schließen einander nicht nur nicht aus, vielmehr bedingen sie sich gegenseitig. Wie sich in dem vorangegangenen Zitat zeigt, ist der Begriffsinhalt von Freiheit die Verfügbarkeit von mehreren Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten. Damit entspricht dieser unserer bisherigen Explikation: Freiheit ist (relative) Unbestimmt­ heit. Diese Unbestimmtheit wird im Kontext der nicht-diskursiven Prakti­ ken als Unbestimmtheit des Handelns konkretisiert. Die Unbestimmtheit des Handelns ist als Möglichkeit zum Anders-handeln-Können zu verste­ hen: „Ich glaube an die Freiheit der Menschen. In der gleichen Situation reagieren sie sehr unterschiedlich.“1344 Diese Verknüpfung von Macht und Freiheit wird über den Begriff der Handlung vermittelt. Freiheit muss deshalb als „Voraussetzung für Macht“1345 fungieren, weil sich Macht auf Handeln bezieht und selbst Handeln ist. Um aber in einem substanziellen Sinn von Handeln sprechen zu können, muss sowohl derjenige, auf den Macht ausgeübt (dessen Han­

1340 1341 1342 1343 1344 1345

DE IV, S. 285. DE III, S. 546. Zu dieser Einschätzung kommt auch Holme 2018, S. 203. DE IV, S. 287. DE IV, S. 965. DE IV, S. 287.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

deln beeinflusst) wird, als auch derjenige, der Macht ausübt, über ein „Feld von Möglichkeiten“ verfügen1346: „Damit eine Machtbeziehung bestehen kann, bedarf es also auf beiden Seiten einer bestimmten Form von Freiheit. Selbst wenn die Machtbe­ ziehung völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist, wenn man wirklich sagen kann, dass der eine alle Macht über den anderen besitzt, so lässt sich die Macht über den anderen nur in dem Maße ausüben, in dem diesem noch die Möglichkeit bleibt, sich […] oder den anderen zu töten.“1347 Foucault scheint folglich zu implizieren, dass das Anders-handeln-Können bereits analytisch in den Handlungsbegriff eingelassen ist.1348 Ausgehend von diesem begrifflichen Implikationsverhältnis versucht er Machtbeziehungen von Gewaltbeziehungen abzugrenzen. Gewalt ist da­ durch charakterisiert, dass sie nicht auf Handlungen, sondern direkt auf „Körper und Dinge“ – Sachen – einwirkt. Sie lässt keinen Möglichkeitsbe­ reich offen, sondern unterbindet alle Möglichkeiten. Deshalb kann Gewalt zwar Mittel oder Wirkung von Macht sein, aber nie deren Prinzip.1349 Auch wenn Macht immer Möglichkeiten offenlassen muss, so darf die­ ses Möglichkeitsfeld jedoch nicht so verstanden werden, als ob es sich aus einem allgemein-menschlichen Vermögen ergeben würde. Vielmehr kon­ stituiert es sich innerhalb „dauerhafte[r] Strukturen“.1350 Hier wird also ein Gedanke expliziert, auf den wir schon seit Beginn unserer Foucault-In­ terpretation gestoßen sind, vor allem in Bezug auf den beschränkenden wie ermöglichenden Charakter von Strukturen. Insofern ist die Negation „elementarer Freiheiten“1351 durchaus mit dem gegenseitigen Bedingungs­ verhältnis von Freiheit und Macht vereinbar, unter der Voraussetzung, dass man Freiheit als unbedingte Kausalität a priori auffassen würde.

1346 DE IV, S. 286; Hierzu auch DE IV, S. 901: „Die Individuen, die versuchen, die Freiheit der anderen zu kontrollieren, zu bestimmen und zu begrenzen, sind selber frei, und sie verfügen über bestimmte Instrumente, um die anderen regieren zu können.“ 1347 DE IV, S. 890, Hervorhebung B. H. 1348 Wie Keil 2018, S. 19 betont, ist dies insbesondere auch eine Grundannahme der analytischen Handlungstheorie. 1349 Vgl. DE IV, S. 286. 1350 DE IV, S. 285. 1351 Hierzu nochmals das obige Zitat aus DE III, S. 546: Es gibt „zwischen den Maschen ihres Netzes [der Macht, B. H.] keine Inseln elementarer Freiheiten“.

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2. Macht: Widerständige Freiheit

Dieses Abstellen auf die Freiheit dient also weniger einer theoretischen Korrektur, sondern eher einer Betonung eines bestimmten bereits vorhan­ denen Aspekts. Worauf es Foucault besonders ankommt, ist es, aus der als Möglichkeitsfeld beschriebenen Freiheit die Option zum Widerstand auf­ zuzeigen. Widerstand ist ein Handeln, das sich innerhalb seines Möglich­ keitsfeldes gegen das handelnde Einwirken auf das Möglichkeitsfeld (des Handelns) richtet. Widerstand ist damit auf den ersten Blick nicht mehr als Gegen-Macht1352: „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“1353 Präziser müsste man wohl sagen: wo es Macht gibt, gibt es die Möglichkeit zum Widerstand. Das impliziert zweierlei: Erstens wenn Widerstand selbst eine Form der Macht ist, müssen für ihn alle bisherigen Implikationen greifen. Widerstand ist so ereignishaft wie die Macht selbst, gegen die er sich wendet1354: „[D]ieser Widerstand, von dem ich spreche, ist keine Substanz. Er geht der Macht, gegen die er sich stellt, nicht zeitlich voraus. Er ist von gleicher Ausdehnung und absolut zeitgleich zu ihr. […] Um zu widerstehen, muss er [der Widerstand] wie die Macht sein. […] Ich stelle nicht eine Substanz des Widerstandes der Substanz der Macht gegenüber.“1355 Zweitens kann der Widerstand nicht radikal befreiend wirken. Er kann die Form der Beziehung, gegen die er sich wendet, nicht auf eine machtfreie Basis stellen: Eine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen wäre für Foucault nur eine leere Abstraktion.1356 Wenn Widerstand aber keine machttran­ szendierende Wirkung hat, aber auch nicht bloße Reaktion sein soll, worin besteht seine Funktion?

1352 Klass 2008, S. 157. 1353 SW1, S. 96. 1354 Es ist jedoch gerade Mitte 70er Jahre eine gewisse Ambivalenz bei Foucault in Bezug auf den Widerstand ausfindig zu machen, die als eine Substanziali­ sierung von Widerständigkeit in Form eines „Energetismus“ (Suárez Müller 2004, S. 63) nahelegen. So beispielsweise DE III, S. 542: „Es gibt jedoch immer etwas im Gesellschaftskörper, in den Klassen, in den Gruppen und in den Individuen selbst, das in gewissem Sinne den Machtverhältnissen entgeht; et­ was, das nicht der mehr oder weniger formbare oder widerspenstige Rohstoff, sondern eine zentrifugale Bewegung, eine gegenläufige, befreite Energie ist.“ Diese Tendenzen scheinen allerdings mit der Verknüpfung von Freiheit und Widerstand überwunden zu sein. 1355 DE III, S. 351, SW1, S. 97. 1356 Vgl. DE IV, S. 289, 899 DE IV, S. 916.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

Foucault kann diese Frage nicht mit Rekurs auf die klassische Antwort entwickeln: die Legitimität von Widerstand gegenüber einer illegitimen Form von Macht.1357 Wie wir bereits betont haben, will er die Unter­ scheidung zwischen Legitimität und Illegitimität gerade methodisch um­ gehen.1358 Einerseits würde diese Unterscheidung unweigerlich die Frage nach der richtigen politischen Ordnung evozieren, die wiederum nicht oh­ ne den Rückgriff auf für wahr gehaltene Annahmen zu thematisieren wä­ re. Andererseits müsste man dann der Intentionalität des Subjekts wieder den Vorrang einräumen.1359 Wenn auch die Normativität als solche nicht zu vermeiden ist, sobald man die Unterscheidung zwischen Macht und Gegen-Macht durch die Gegenüberstellung von Macht und Widerstand ersetzt und sie somit normativ auflädt, so verlagert Foucault sie doch auf eine Ebene, die zumindest ohne einen unmittelbaren Wahrheitsbezug auszukommen scheint: die Bestimmtheit der Machtbeziehungen. Foucault denkt die Bestimmtheit der Macht dabei als Kontinuum, dessen Extrema jeweils Konflikt/Antagonismus und Herrschaft darstellen. – Ein Antagonismus ist eine symmetrische Konfliktbeziehung, in der die Akteure ihre Möglichkeitsbereiche nur durch Aktion und Reaktion begrenzen; in der keine Manipulation oder direkte Beeinflussung des Handelns möglich ist. Die Akteure stehen sich als Gegner gegenüber. – Ein Agonismus ist eine asymmetrische Machtbeziehung, in welcher der Möglichkeitsbereich des einen Akteurs durch das Handeln des anderen Akteurs begrenzt ist.1360 Eine solche Machtbeziehung basiert auf Mani­ pulation und Beeinflussung des Handelns. Das Verhältnis der Akteure zueinander ist jedoch reversibel.1361 – Herrschaft hingegen ist eine asymmetrische Machtbeziehung, in der das Handeln nicht nur manipuliert oder beeinflusst wird, sondern der Möglichkeitsbereich aufgelöst oder zumindest nur auf eine Option

1357 In RdL, S. 113 stellt er diese Tatsache als Spezifikum seiner Vorgehensweise heraus. 1358 Hier sei insbesondere auf DE III, S. 682 verwiesen. Foucault kennzeichnet seine Philosophie als „Gegen-Macht“, die ohne die Unterscheidung von gut und böse, legitim und illegitim auskommen will. 1359 Für eine philosophische Lesart von Widerstand, die die Intentionalität der Akteure ernst nimmt, sei auf Obenauer/Zehnpfennig 2021 verwiesen. 1360 Zu dem Aspekt der Asymmetrie innerhalb einer Machtbeziehung: Foucault 2016, S. 102. 1361 Diese Reversibilität von Machtbeziehungen betont Foucault immer wieder, z. B. DE IV, S. 899.

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2. Macht: Widerständige Freiheit

reduziert ist1362: „Wenn es einem Individuum oder einer gesellschaftli­ chen Gruppe gelingt, ein Feld von Machtbeziehungen zu blockieren, sie unbeweglich und starr zu machen und jede Umkehrung der Be­ wegung zu verhindern – durch den Einsatz von Instrumenten, die sowohl ökonomischer, politischer oder militärischer Natur sein mögen –, dann steht man vor etwas, das man als einen Herrschaftszustand bezeichnen kann.“1363 Das Verhältnis der Akteure zueinander tendiert zu einer dauerhaften Irreversibilität.1364 Fluide Machtbeziehungen, die potenziell immer eine Umkehrung der Machtbeziehungen implizieren, können zu Herrschaftsverhältnissen gerinnen. Bei entsprechender Dau­ erhaftigkeit und Institutionalisierung entwickeln sich so massive und verallgemeinerte Herrschaftsblöcke. Das Kontinuum Antagonismus – Macht (Agonismus) – Herrschaft weist dementsprechend eine zunehmende Bestimmtheit unter Ausschluss von Unbestimmtheit des Handelns auf: Der geringste Intensitätsgrad nicht in der Wahl der Mittel, sondern in der Wahrscheinlichkeit auf Erfolg der Beeinflussung findet sich in antagonistischen Beziehungen; der höchste in Herrschaftsbeziehungen. Machtbeziehungen bilden den Mittelbereich. Widerstand besteht folglich darin, einen Zustand höherer in einen Zu­ stand niederer Bestimmtheit bzw. einen bestimmten in einen unbestimm­ ten Zustand zu transformieren. Vor allem geht es Foucault um ein „Mini­ mum an Herrschaft“.1365 Analog zur „theoretischen Philosophie“, in der die Bestimmtheit eines Begriffs durch die Erweiterung seines Begriffsumfangs verringert werden soll, wird im Politischen die Bestimmtheit des Handelns dadurch verrin­ gert, dass das Möglichkeitsfeld des Handelns erweitert wird. Die Proble­ matik besteht hier genauso wie auf der theoretisch-begrifflichen Ebene darin, dass Erkennen bzw. funktionierende Kommunikation ebenso wie um Realisation bemühtes Handeln im Übergang von bloßer Möglichkeit zur Wirklichkeit auf Bestimmtheit angewiesen ist. Ansonsten ist weder Kommunikation noch Handeln möglich. Reine, nicht einmal durch logi­ sche Widersprüchlichkeit begrenzte Möglichkeit und Wirklichkeit stehen so auch im Bereich des Praktisch-Politischen in Widerspruch zueinander. Während die fortwährende Arbeit an der Freiheit sich im Theoretischen in der immer wieder neu ansetzenden Auflösung der begrifflichen Bestimmt­

1362 1363 1364 1365

Vgl. DE IV, S. 891. DE III, S. 878. Vgl. DE IV, S. 891. DE IV, S. 899.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

heit realisiert, so ist das Praktisch-Politische durch das stetige Widersetzen gegen soziale Normen gekennzeichnet – insbesondere gegen die Normen, nach denen man sich selbst richtet. Die begriffliche Unbestimmtheit des Machtbegriffs (und die damit ver­ knüpfte Omnipräsenz) führt dann allerdings dazu, dass bereits die alltäg­ lichste Normenabweichung als Widerstand klassifiziert werden kann.1366 Noch problematischer scheint allerdings zu sein, dass Widerstand, dessen Legitimität gewöhnlicherweise in Zweifel gezogen wird, nicht mehr von legitimem Widerstand zu trennen ist: Extremismus in Demokratien wäre auf die gleiche Stufe mit Widerstand in Unrechtsregimen gesetzt. Selbst wenn man von diesen Unstimmigkeiten abstrahiert, bleibt es aus Fou­ caults eigener Perspektive heraus schwierig, Widerstand zu begründen. Erstens unterscheidet sich Widerstand als solcher nicht kategorial von Macht. Widerstand kann sich nur dadurch realisieren, dass er auf das Handeln des anderen einwirkt. Um Widerstand erfolgreich zu machen, muss diese Einwirkung dauerhaft sein. Damit etabliert sich Widerstand, wenn er erfolgreich ist, wiederum selbst als Macht: „Für eine Auseinandersetzung, in der es nicht gerade um Leben und Tod geht, stellt die Herstellung einer Machtbeziehung einen Ziel­ punkt dar, an dem die Auseinandersetzung erfolgreich zum Abschluss gebracht, aber zugleich auch in der Schwebe gehalten wird.“1367 Foucaults historische Untersuchungen der Machttechniken zeugen an­ schaulich von dieser Logik. So geht er zum Beispiel davon aus, dass das Disziplinarsystem seine Ursprünge im religiösen Widerstand hat. Die religiösen Disziplinartechniken werden dann jedoch zu Macht- bzw. Herr­ schaftstechniken verallgemeinert.1368 Gegen den Widerstand, der erfolg­ reich ist und sich als Macht etabliert, gilt es dann, selbst erneut Widerstand zu üben. Dieser Prozess ist als solcher nie abschließbar. Man kann ihm

1366 Exemplarisch DE III, S. 525: „Überall ist Kampf – zum Beispiel die ständige Revolte des Kindes, das bei Tisch den Finger in die Nase steckt, um seine Eltern zu ärgern. Auch das ist Rebellion, wenn Sie so wollen.“ 1367 DE IV, S. 292. 1368 Exemplarisch: ÜS, S. 304. Sehr plastisch beschreibt dies auch Bublitz 2003b, S. 102: „Von Foucault stammt auch die Einsicht, dass die Käfige von heute oft mit denselben Werkzeugen geschmiedet werden, mit denen die Ketten von gestern zerschlagen wurden.“

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nur dann normativen Sinn abgewinnen, wenn man ihn als Entwicklung zu einem Mehr an Unbestimmtheit und damit Freiheit versteht.1369 Allerdings – und das ist der zweite Punkt – sind, wie wir gesehen haben, Möglichkeitsbereiche als solche gar nicht miteinander vergleichbar. Es gibt kein gemeinsames Maß, an dem man Freiheit messen könnte. Wider­ stand kann sich deswegen immer nur lokal und partiell verwirklichen und immer nur gegen, aber nie für etwas sein.1370 Damit wird allerdings der normative Anspruch sogleich wieder relativiert. Dass gegen Macht bzw. Herrschaft überhaupt Widerstand zu leisten ist, scheint darüber hi­ naus überhaupt nicht selbst-evident: Insbesondere dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass Macht vor allem positive Effekte hervorbringt.1371 Während es im Theoretischen zu einer Relativierung des eigenen Wahr­ heitsanspruchs kommen muss, so wird im Politischen eine Relativierung des Anspruchs auf normative Richtigkeit deutlich: „Die Kritik hat nicht die Prämisse eines Denkens zu sein, das abschlie­ ßend erklärt: Und das gilt es jetzt zu tun. Sie muss ein Instrument sein für diejenigen, die kämpfen, Widerstand leisten und das, was ist, nicht mehr wollen. Sie muss in Prozessen des Konflikts, der Konfrontation, des Widerstandsversuchs gebraucht werden. Sie darf nicht das Gesetz des Gesetzes sein.“1372 Foucault kann also nur eine Begründung für diejenigen liefern, die bereits davon überzeugt sind, dass sie das, „was ist, nicht mehr wollen.“1373 Han­ deln setzt zwar rein begrifflich Freiheit voraus, aber diese Freiheit zum Widerstand zu nutzen, lässt sich ausgehend von Foucaults Prämissen aus der Freiheit selbst heraus nicht rechtfertigen.1374

1369 Foucault argumentiert analog in Bezug auf den politischen Widerstand durch sexuelle Praktiken: DE IV, S. 915. 1370 Vgl. VG, S. 20, DE II, S. 384. 1371 Vgl. DE IV, S. 899: „Machtbeziehungen [sind] nicht etwas an sich Schlechtes […], wovon man sich frei machen müsste. […] [N]ehmen wir etwas, das Gegenstand von oft berechtigten Kritiken gewesen ist: die pädagogische Insti­ tution. Ich sehe nicht, was schlecht sein soll an der Praxis desjenigen, der in einem bestimmten Wahrheitsspiel mehr weiß als ein anderer und ihm sagt, was er tun muss, ihn unterrichtet, ihm ein Wissen übermittelt, ihm Techniken mitteilt“. 1372 DE IV, S. 41, Hervorhebung B. H. 1373 DE IV, S. 41. 1374 Zur normativen Selbstrelativierung Foucaults in Bezug auf die Widerstands­ thematik: Klass 2008, S. 165.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

2.4 Zwischenfazit Freiheit hat sich auf der begrifflichen Ebene des Wissens als Unbestimmt­ heit gezeigt. Diese Unbestimmtheit konkretisiert sich in Bezug auf das Verhältnis der Subjekte zueinander als Möglichkeitsbereich des Handelns, als So-oder-anders-handeln-Können. Indes ist dieser Möglichkeitsbereich des Handelns in seiner gesellschaftlichen Faktizität stets beschränkt – und zwar nicht nur regulativ durch die Festlegung verschiedener Verhältnisse zwischen den Subjekten, sondern auch konstitutiv: Subjektivität als solche ist gesellschaftlich vermittelt. Diese Bestimmtheit drückt sich in (bewuss­ ten und unbewussten) gesellschaftlichen Normen aus, die einen darauf festlegen, so und nicht anders zu handeln. Im Gegensatz zu Kant versucht Foucault gerade von der Frage zu abstra­ hieren, was Macht legitimieren könnte, da diese Frage nur im Rekurs auf Annahmen begründbar wäre, dessen Wahrheit er schon im Vorhinein relativiert hat. Stattdessen wird gegen den unbedingten Anspruch der Machtausübung die relative Unbestimmtheit des Ereignisses einer Macht­ beziehung geltend gemacht. Nicht nur sind die Arten von Machtbeziehun­ gen historisch kontingent, sondern darüber hinaus bedingen sich Macht und Freiheit gegenseitig: Ebenso wie Machtausübung als handelndes Ein­ wirken auf Handeln Freiheit voraussetzt, so kann sich Freiheit in einem sozialen Kontext immer nur als Einwirken auf das Handeln anderer, d. h. als Macht realisieren. Damit bleibt aber unklar, warum man überhaupt Machtwirkungen kritisieren soll. Foucault versucht dieses Problem dadurch zu lösen, dass er Machtbezie­ hungen nach dem Grad ihrer Bestimmtheit zu differenzieren versucht. Der genuine Gegenstandsbereich der politischen Freiheit besteht davon ausge­ hend darin, relativ bestimmte Machtbeziehungen (Herrschaft) in relativ unbestimmte Machtbeziehungen durch Widerstand zu transformieren. Widerstand ist dabei in der Aktualisierung des Möglichkeitsbereichs als Gegenmacht zu verstehen. Wenn Widerstand jedoch erfolgreich ist, dann realisiert er sich als Macht – als Macht gegen die wiederum Widerstand möglich ist. Letztlich hat die Abstraktion von der Legitimitätsfrage ebenso wie die Abstraktion von der Wahrheitsfrage eine nie abschließbare Arbeit an der Freiheit zur Konsequenz – eine Arbeit an der Freiheit, welche die Idee einer absoluten Unbestimmtheit als normatives Leitideal impliziert. Diese Arbeit an der Freiheit kann sich jedoch weder durch Wahrheit noch durch Normativität argumentativ ausweisen: Das führt einerseits dazu, dass man die Richtigkeit von Widerstand immer schon voraussetzen muss, denn ebenso legitim wäre es, in den Herrschaftsverhältnissen zu verharren.

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3. Ethik: Nicht-identitäre Freiheit

Andererseits müsste man den Widerstand gegen den Widerstand ebenso akzeptieren.

3. Ethik: Nicht-identitäre Freiheit „Die Freiheit ist die ontologische Bedingung der Ethik. Aber die Ethik ist die reflektierte Form, die die Freiheit annimmt.“1375 Das oben dargestellte Implikationsverhältnis von Handlung und Freiheit ermöglicht es Foucault nicht nur, Freiheit und Macht zusammenzuden­ ken, sondern eröffnet auch eine eigenständige Thematisierung der dritten Achse der Subjektivität – die Ethik. Diese Achse war vorher aus metho­ dischen Gründen weitestgehend ausgeblendet oder wurde nur als aus Machtverhältnissen abgeleitet verstanden.1376 Um zu erfassen, was Ethik in diesem Kontext bedeutet, ist es zentral, das Thema der Ethik nicht als grundsätzlichen Bruch mit den machtanalytischen Untersuchungen zu verstehen, sondern als deren konsequente Fortführung bzw. Weiterent­ wicklung.1377 Die Kontinuität besteht darin, dass mit der Negation des souveränen Machtsubjekts durch die Machtanalytik eine Art Leerstelle erscheint: „Während sich die Theorie der politischen Macht als Institution ge­ wöhnlich auf ein juristisch konzipiertes Rechtssubjekt bezieht, so erscheint mir, daß der Analyse der Gouvernementalität – d. h. der Analyse der Macht als Ensemble reversibler Beziehungen – eine Ethik zugrunde liegen muß“.1378 Formal macht die Negation des souveränen Subjekts der juristischen Machtkonzeption, das per se als unbedingt frei und handlungsfähig ge­ dacht wird, eine eigenständige Thematisierung des relativ freien Subjekts der Machtanalytik nötig. Während – wie wir bei Kant gesehen haben – die Vorstellung eines unbedingt freien Subjekts die Trennung von ethischer und rechtlicher bzw. politischer Sphäre ermöglicht, müssen bei einem

1375 DE IV, S. 879. 1376 Hier sind vor allem Foucaults Ausführungen zur Rolle der Kreativität interes­ sant, die er in Abgrenzung zu Noam Chomsky vorbringt: DE II, S. 596ff. Saar 2007, S. 249 argumentiert ihn eine ähnliche Richtung. 1377 Vgl. DE IV, S. 969. Hierzu erhellend auch Gros 2004, S. 404 und Bublitz 2003b, S. 107. 1378 HS, S. 314.

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III. Foucault: Die Unvereinbarkeit von Freiheit und Notwendigkeit

relativ freien Subjekt, beide Bereiche in Beziehung zueinandergesetzt wer­ den.1379 Das bedeutet, die Möglichkeit der Ausübung der äußeren Hand­ lungsfreiheit tangiert die innere Freiheit. Die inhaltliche Ausfüllung dieses Zusammenhangs nimmt Foucault insbesondere im Rückgriff auf antike Denker vor. Sie besteht darin, dass Machtausübung über andere nicht nur an die Art der Relation zwischen den Akteuren gebunden ist, sondern ebenso an die Beziehung zu sich selbst.1380 „Die Individuen, die versuchen, die Freiheit der anderen zu kontrollie­ ren, zu bestimmen und zu begrenzen, sind selber frei, und sie verfügen über bestimmte Instrumente, um die anderen regieren zu können. All dies beruht also auf der Freiheit, auf der Beziehung des Selbst auf sich selbst und auf der Beziehung zu anderen.“1381 „Der Berührungspunkt, an dem die Art und Weise, wie Individuen von anderen geführt werden mit der Art und Weise, wie sie sich selbst lenken, verbunden ist, ist das, was wir […] Regierung nennen können.“1382 Ethik wird daher weniger als Reflexion über das verstanden, was aus mora­ lischen Gründen richtig oder falsch ist;1383 vielmehr wird sie bei Foucault ganz allgemein als „die Beziehung seiner selbst zu sich definiert“.1384 Die Verknüpfung von Fremd- und Selbstverhältnis bleibt jedoch nur ein analytisches Raster, weil sie inhaltlich nicht durch die für die Antike eigen­ tümliche Ausrichtung auf die Tugend bzw. das Gute angereichert wird. Dies würde nämlich einen objektiven Maßstab für normative Richtigkeit implizieren, auf dessen Geltung sich Foucault analog zur Wahrheit im

1379 Dass auch bei Kant die Thematisierung des Rechtssubjekts und des ethischen Subjekts unter dem Dach der Moral und somit des Selbstverhältnisses gesche­ hen muss, haben wir oben gesehen. Es handelt sich also um eine äußerst diffizile Separierung. 1380 Vgl. DE IV, S. 731, SW2, S. 178 sowie DE IV, S. 826 und DE IV, S. 705: „Man weiß natürlich, dass die Herrschaft über die Dinge über die Beziehung zu den anderen erfolgt; und dies impliziert immer auch Beziehungen zu sich, und umgekehrt.“ 1381 DE IV, S. 901. 1382 Foucault 2016, S. 25f, eigene Übersetzung: „The contact point, where the way individuals are driven by others is tied to the way they conduct themselves, is what we can call, I think, government.” 1383 Diese allgemeine Definition von Ethik bietet Pauer-Studer 2020, S. 14 an. 1384 HS, S. 314, Hervorhebung B. H.

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Wissen und zur Legitimität der Macht gerade nicht einlassen will.1385 Die Ethik wird daher weniger von der Warte ihres normativen Maßstabs her erfasst, bzw. dieser Maßstab erscheint nur als rein historische Deskription. Damit zeigt sich auch im Bereich der Ethik analog zu den anderen Achsen der Subjektivität ein systematischer Wertentzug: Nicht der Anspruch, ein authentisches Verhältnis zu sich selbst herzustellen, wird geprüft, sondern der Maßstab der Authentizität für das Selbstverhältnis wird historisch rela­ tiviert.1386 Stattdessen geht es darum, Ethik als die Möglichkeit zu betrach­ ten, auf sich selbst Macht auszuüben. Das bedeutet nach der obigen Explika­ tion des Machtbegriffs, auf sich selbst, respektive sein eigenes Handeln ein­ zuwirken.1387 Dieses Einwirken geschieht über „die in allen Kulturen anzutreffenden Verfahren zur Beherrschung oder Erkenntnis seiner selbst, mit denen der Einzelne seine Identität festlegen, aufrechterhalten oder im Blick auf bestimmte Ziele verän­ dern kann oder soll.“1388 Ethik ist also ein Selbstverhältnis, das sich durch Selbsttechniken oder -praktiken formen und verändern lässt.

3.1 Ethik als Einwirken auf sich selbst Aus diesem Gedanken sollte sich also die Kontinuität der Perspektive erschließen, die Foucault in seiner Beschäftigung mit verschiedenen Selbst­ verhältnissen gegenüber den Wissens- und Machtanalysen sieht. Das legt es nahe, den methodischen Zugriff erneut anhand des Ereignisbegriffs zu

1385 Wie in DE IV, S. 471 deutlich wird, erkennt er diese Ausrichtung jedoch zumindest analytisch. 1386 Zu Foucaults Auffassung von Authentizität siehe SW, S. 326: Unsere Vorstel­ lung von Authentizität liegt in „einer tieferen Wahrheit, die es zu erkennen gilt und die den Untergrund, den Sockel, den Boden unserer Subjektivität bilden soll.“ Ebenso DE IV, S. 758: „Das Thema der Authentizität verweist explizit oder nicht auf eine Seinsweise des durch seine Übereinstimmung mit sich selbst bestimmten Subjekts.“ Neben Vogelmann 2014, S. 76ff verweisen auch Thomä 2014, S. 119, Rajchman 1985, S. 123f und Hebel 1990, S. 236 auf die Abgrenzung Foucaults zum (Sartreschen) Authentizitätsgedanken. 1387 Zu diesem für Foucaults Ethikverständnis konstitutiven Gedanken auch Vo­ gelmann 2014, S. 82. 1388 DE IV, S. 259.

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systematisieren.1389 Hierbei ist auf folgende Aspekte zu verweisen: 1) auf die aus der Negation des einheitlichen Substanzcharakters resultierende praktische Mannigfaltigkeit des singulären Selbst, 2) seine Unbestimmt­ heit und 3) die Gegnerschaft gegenüber der Bewusstseinsfunktion. 1) substanzielle Einheit vs. singuläre Mannigfaltigkeit: Das Selbst(-verhält­ nis) ist keine Substanz.1390 Foucault lehnt auch im Bereich der Ethik eine allgemeine und universell gültige Theorie des Subjekts ab.1391 Das bedeutet zweierlei: Das Selbst ist weder eine Einheit noch eine persistente Entität oder ein gleichbleibendes Verhältnis zu sich selbst.1392 Statt einer Einheit ist das ethische Subjekt erstens eine Mannigfaltigkeit: „So wie es unterschiedliche Formen der Sorge gibt, so gibt es auch unterschiedliche Formen des Selbst.“1393 Dieser Gedanke steht in unmittelbarem Zusam­ menhang damit, dass das Selbst zweitens als etwas begriffen wird, das nur im Vollzug existiert: Die Ethik „ist die Sorge um die Aktivität, nicht die Sorge um die Seele als Substanz.“1394 Das Selbst ist das Korrelat von realen und insbesondere nicht-diskursiven Praktiken, die Foucault als Selbsttechni­ ken bzw. Selbstsorge bezeichnet1395: Es ist „nicht zufrieden stellend zu behaupten, dass das Subjekt in einem symbolischen System konstituiert wird. Es wird in wirklichen Praktiken – historisch analysierbaren Praktiken – konstituiert. Es gibt eine Technologie der Selbstkonstitution, die die symbolischen Systeme

1389 Die Kontinuität der Perspektive wird insbesondere in Foucault 1994 herausge­ stellt. 1390 Vgl. DE IV, S. 888: Diese Stelle, die wir bereits bei der Machtanalytik ange­ führt haben, verweist ebenso auf die anderen Achsen der Subjektivität. 1391 Vgl. HS, S. 563. Hierin sieht auch Hebel 1990, S. 229 die Kontinuität zu den Macht- und Wissensanalysen: „Zur Idee des Menschen als substantieller Ein­ heit, deren traditioneller Kritiker Foucault ist, kehrt er auch und gerade mit einer Ästhetik der Existenz nicht zurück.“ Hierzu auch Saar 2015, S. 327. 1392 Vgl. Hebel 1990, S. 230: „In der Beziehung zu sich wird nicht eine Seelensub­ stanz (und ebensowenig eine des Körpers) rehabilitiert, sondern ‚nur‘ ein Bo­ gen über eine Leere gespannt, die als solche nichts auszusagen hätte. […] Hier entsteht der Ort eines ständig sich wandelnden Selbstverhältnisses, dem nicht von den Strukturen der Macht- und Wissensformationen seine unwandelbare Gestalt zugewiesen wird.“ Hierzu auch Oksala 2005, S. 163. 1393 DE IV, S. 972. 1394 DE IV, S. 976, Hervorhebung B. H. 1395 Holme 2018, S. 8 spricht in diesem Zusammenhang bei Heidegger, Arendt und Foucault von einer „praxeologischen Geste“.

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zugleich verwendet und durchkreuzt. Das Subjekt wird nicht nur im Spiel der Symbole konstituiert.“1396 So wird es auch nachvollziehbar, warum Foucault Tätigkeiten wie Medita­ tion, Schweigen, Lesen und Schreiben als ethische Selbsttechniken behan­ delt. Problematisch ist im Gegensatz zu den Wissens- und Machtanalysen allerdings die genaue Ebene der Deskription. Foucault geht es nämlich weder darum, den Moralcode noch das Moralverhalten zu beschreiben. Der Moralcode ist der präskriptive Aspekt der Moral, verstanden als „ein Ensemble von Werten und Handlungsregeln, die den Individuen und Gruppen mittels diverser Vorschreibapparate – Familie, Erziehungsinstitu­ tionen, Kirchen usw. – vorgesetzt werden.“1397 Durch ihn wird festgelegt, welches Verhalten gestattet oder verboten ist.1398 Das bedeutet, alles, was für das Subjekt als verbindliches Gebot auftritt, gilt als moralisch.1399 Das Moralverhalten hingegen bezeichnet „das wirkliche Verhalten der Individu­ en in seinem Verhältnis zu den Regeln und Werten, die ihnen vorgesetzt sind“.1400 Diesen zwei Dimensionen wird nun eine dritte an die Seite gestellt, die wir bereits als Ethik (auch: Subjektivierungsformen, Selbsttechniken usw.) kennengelernt haben. Es handelt sich in Abgrenzung zu den anderen Aspekten um „die Art und Weise, wie man sich führen und halten – wie man sich selber konstituieren soll als Moralsubjekt, das in bezug auf die den Code konstituierenden Vorschriften handelt.“1401 Die so verstandene Ethik setzt sich wiederum aus vier Elementen zusammen: – Die ethische Substanz beschreibt den „Anteil seiner selbst oder das Ver­ halten, der oder das in einem Verhältnis zu einer moralischen Verhal­ tensführung steht.“1402 So können beispielsweise die Gefühle oder die mit den moralischen Handlungen verbundenen Absichten zentraler Gegenstand der Moral sein. – Die Unterwerfungsweise (mode d’assujetissement) ist der Modus, gemäß dem die Individuen die moralische Verpflichtung durch den Code anerkennen. Exemplarisch ist hier die Wahrung der Tradition, das

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DE IV, S. 773. SW2, S. 36. Vgl. DE IV, S. 759. Vgl. Saar 2007, S. 257. SW2, S. 36. SW2, S. 37. DE IV, S. 760.

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Streben nach sozialer Akzeptanz oder der Glauben an ein göttlich offenbartes Gesetz zu nennen. – Die Praxis des Selbst oder die Askese beschreibt die Mittel, durch welche die jeweilige ethische Substanz bearbeitet und geformt wird. Hier sind Verhaltenskontrolle, Verzicht, Selbstbeobachtung usw. zu nennen. – Schließlich komplettiert die moralische Teleologie die Ethik. Diese lässt sich als die angestrebte Seinsweise des moralischen Subjekts verstehen, die sich durch die Bearbeitung der ethischen Substanz ergeben soll. So kann beispielsweise die asketische Unterdrückung (c.) seiner Begierden (a.) auf die vollkommene Selbstbeherrschung (d.) ausgerichtet sein. Wir wollen für den Moment von dem inhaltlichen Gehalt des SelbstsorgeBegriffs abstrahieren, da dieser sich nur in Bezug auf die konkreten histori­ schen Untersuchungen Foucaults konkretisieren lässt und uns stattdessen auf die für die Ethik relevanten strukturellen Merkmale fokussieren. Dabei sollte nach den bisherigen Ausführungen verständlich sein, welche unmit­ telbaren Konsequenzen sich aus den obigen Prämissen ergeben. 2) Unbestimmtheit: So darf die angesprochene Betonung der Freiheit der Ethik nicht missverstanden werden. Foucault lässt auch in Bezug auf das Selbstverhältnis keine unbedingte Freiheit zu. Die Selbstpraktiken ent­ springen daher weder der Spontanität des Subjekts noch stehen sie zu seiner freien Verfügbarkeit: „[W]enn ich mich jetzt für die Form interessiere, in der sich das Sub­ jekt auf aktive Weise, durch Praktiken des Selbst, konstituiert, [würde ich sagen,] dass diese Praktiken dann trotzdem nicht etwas sind, was das Subjekt selbst erfindet.“1403 Vielmehr handelt es sich bei den Selbstpraktiken um „Schemata“, die das Subjekt nicht nur einfach „in seiner Kultur vorfindet“, sondern die ihm sogar „vorgegeben, von seiner Kultur, seiner Gesellschaft, seiner Gruppe aufgezwungen sind.“1404 Das Selbst und die damit einhergehenden Techni­ ken sind in diesem Sinn ambivalent bzw. unbestimmt. Ebenso wie die Techniken zur freien Stilisierung des Selbst benutzt werden können, sind sie nur in einem gesellschaftlichen Kontext realisierbar, der sie anbietet und zulässt. So liegt das einzige Kriterium dafür, dass sich eine Technik (in Abgrenzung zu den Machttechniken) als Selbsttechnik qualifizieren

1403 DE IV, S. 889, Übersetzung leicht modifiziert. Im frz. Original heißt es: „ces pratiques ne sont pas néanmoins quelque chose que l'individu invente luimême.“ 1404 DE IV, S. 889. Hierzu auch Saar 2007, S. 264.

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lässt, darin, dass Individuen sie auch „gegenüber sich selbst zum Tragen“ bringen können.1405 Es handelt sich dabei nicht um ein Einwirken eines anderen, sondern um eine „Einwirkung des Subjekts auf sich selbst“.1406 Mit dieser Einwirkung auf sich selbst ist, sofern das Selbst nichts anderes als ein Korrelat von Praktiken ist, der Einfluss auf sein eigenes Handeln gemeint, dem ein Feld von Möglichkeiten zugrunde liegt. Erfolgt diese Selbsteinwirkung reflektiert, so konstituieren wir uns als „ethisch Han­ delnde“.1407 Die „reflektierte Form, die die Freiheit“ in diesem Zusammen­ hang annimmt, lässt sich allgemein als handelndes Einwirken auf sich selbst verstehen, welches eine bestimmte Seinsweise des Selbst zum Ziel hat.1408 3) Bewusstsein: Allerdings besteht die Reflexivität der Ethik nicht primär in einer Erkenntnisbeziehung, auch dann nicht, wenn sie eine spezifisch praktische Form annimmt. Diese Art der Erkenntnisbeziehung lässt sich traditionellerweise als praktisches Selbstbewusstsein verstehen – ein Selbst­ bewusstsein, dessen Moralität darin bestehen würde, einen universellen Moralcode zu erkennen bzw. sich ein Gesetz, das unmittelbar gegeben ist, bewusst zu machen.1409 Von dieser Konzeption wird eine doppelte Abgrenzung vorgenommen: Einerseits ist es keinesfalls notwendig, die Ethik, das Selbstverhältnis, als Erkenntnisbeziehung zu denken. Insbesondere trifft das für Foucault na­ türlich auf die Moderne zu, in der die ethische Erkenntnisbeziehung maß­ geblich auf der „Erfassung des Ungedachten“ beruht;1410 ganz unabhängig davon, ob sich dieses Ungedachte in einer philosophischen Theorie oder als Untersuchungsgegenstand der Humanwissenschaften manifestiert. Andererseits nimmt der Inhalt dieser Beziehung zum Selbst nicht zwangsläufig die Form eines Gesetzes an. Obwohl uns dieser Modus der Ethik als selbstverständlich erscheinen mag, ist das Gesetz für Foucault „im Grunde nur einer der möglichen Aspekte der Technologie des Subjekts in bezug (sic!) auf sich selbst. Genauer gesagt: Das Gesetz ist nur ein Aspekt dieser langen Geschichte, in deren Verlauf sich

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SW, S. 364. DE IV, S. 876. DE IV, S. 759. DE IV, S. 879 sowie DE IV, S. 968. Die damit verbundene anti-kantianische Wende erkennt auch Riefling 2013, S. 124. 1410 OD, S. 395.

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das abendländische Subjekt in der Form, in der wir es heute vor uns haben, herausgebildet hat.“1411 Damit werden nicht nur deontologische Ethiken verworfen, sondern auch Tugendethiken einer Kritik unterzogen. Letztere weisen zwar in Bezug auf konkrete Handlungen keinen Gesetzescharakter auf, jedoch sind die anzustrebenden Tugenden sehr wohl allgemein verpflichtend. Wie wir noch eingehender sehen werden, ist es folglich eines von Fou­ caults Hauptanliegen, gerade diese zwei Grundpfeiler der Ethik zu proble­ matisieren. Diese Problematisierung vollzieht sich als diametrale Umkeh­ rung der genannten Aspekte: Die Beziehung zu sich ist dementsprechend nicht die zu einem vorgängig Erkennbarem, sondern die zu einem mate­ riell-praktisch Herzustellenden.1412 Mithin besteht die Reflexivität in der bewussten Hervorbringung einer spezifischen Form des Selbst – einer Existenz, die einer selbstgewählten Ästhetik entspricht.1413 Subjektivität ist das praktische Selbstverhältnis des Sich-Führens, das seinen Ort im Etwas-Ausführen hat. Ein Subjekt im moralischen Sinn zu sein und etwas tun zu können, ist daher dasselbe.1414

1411 HS, S. 149 sowie HS, S. 390f. Insbesondere HS, S. 392 ist hier aufschlussreich: Das „Subjektivitätsdispositiv, welches das unsere ist und das, wie ich glaube, von der Frage der Selbsterkenntnis des Subjekts und der Unterwerfung des Subjekts unter das Gesetz beherrscht ist“. 1412 Vgl. DE IV, S. 682: Jede moralische Handlung „impliziert auch ein bestimm­ tes Selbstverhältnis; dieses ist nicht einfach nur ‚Selbstbewusstsein‘, sondern Selbstkonstitution als ‚moralisches Subjekt‘“. 1413 Vgl. DE IV, S. 462. 1414 Vgl. Menke 2003, S. 286, der diesen Gedanken in der Parallelisierung von dis­ ziplinarischer und ästhetischer Subjektivität entwickelt. Er wird insbesondere in DE IV, S. 969 deutlich: Jede von den Technologien (der Produktion, von Zeichensystemen, der Macht und des Selbst) „impliziert bestimmte Formen der Schulung und der Transformation, nicht nur in dem offenkundigen Sin­ ne, dass gewisse Fertigkeiten erworben werden, sondern auch im Sinne der Aneignung von Einstellungen.“ Wie Foucault in DE IV, S. 731 darlegt, ist die Möglichkeit des Ausführens wiederum an „Erkenntnisweisen (Selbsterkennt­ nis und Erkenntnis der verschiedenen Bereiche der Aktivität)“ gebunden, wo­ durch sich nicht nur eine Verbindung zur Macht, sondern auch zum Wissen ergibt.

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3.2 Ethiksysteme: Zwei Imperative der Ethik Entsprechend der Wissens- und Machtanalysen vollzieht sich auch die Beschäftigung Foucaults mit dem Bereich, den er Ethik nennt, über ein so genau wie möglich abgestecktes historisches Feld.1415 Im Gegensatz zu den anderen genannten Untersuchungskomplexen setzt er jedoch nicht beim Übergang von der Renaissance über die Klassik zur Moderne an. Stattdessen rückt die Entwicklung von der klassischen Antike zum Helle­ nismus und vom Hellenismus zum Frühchristentum in den Fokus. Diese Verlagerung darf jedoch nicht mit einer Abkehr von der Reflexion auf „unsere moderne Seinsweise als Subjekt“ verwechselt werden.1416 Foucault konstatiert entscheidende Veränderungen in der Neuzeit, auch wenn er sie nicht eingehender untersucht. Die grundsätzlichen Weichenstellungen seien indes bereits in der frühen Formationsphase der abendländischen Kultur geschehen. Die geschichtliche Analyse soll auch in diesem Kontext zeigen, dass die moderne Seinsweise „überhaupt nicht notwendig […] und weder an die menschliche Natur noch an irgendeine anthropologische Notwendigkeit gebunden war.“1417 Thematisch fokussiert sich Foucault in seinen veröffentlichten Büchern der 80er Jahre auf die Sexualität und deren ethische Dimension.1418 Die Sexualität ist jedoch nur ein – wenn auch privilegierter – Fall für die Transformation der Art und Weise, wie das Selbstverhältnis thematisiert wurde.1419 Sie stellt eine spezifische ethische Substanz im obigen Sinn dar.1420 Insbesondere in Foucaults Vorlesung „Hermeneutik des Subjekts“ im Jahr 1982 wird deutlich, dass diese Ethik der Sexualität in einen breite­ ren Kontext eingebettet ist.1421 Den Hintergrund wollen wir im Folgenden etwas näher beleuchten, weil hieraus ersichtlich wird, wie Foucault sein eigenes Philosophieren situiert. 1415 1416 1417 1418

Vgl. HS, S. 239. HS, S. 25. DE IV, S. 470. Wie Gros 2004, S. 402 zutreffend feststellt, liegt ein Problem dieser Bücher aber auch darin, dass sie kaum über die sorgfältige Lektüre der behandelten Quellen hinausgehen und somit wenig über die ‚Metaperspektive‘ verraten, die Foucault in den Vorlesungen vorstellt. 1419 Vgl. Foucault 1994, S. 701, DE IV, S. 461. 1420 Vgl. DE IV, S. 476. 1421 Vgl. HS, S. 16: „Ich möchte auf keinen Fall die historische Dimension, in die ich die Problematik von Subjektivität und Wahrheit einzubetten versucht habe, ausschalten oder auslöschen, ich möchte sie aber in viel allgemeinerer Gestalt erscheinen lassen.“

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Die Kernthese besteht darin, dass es neben dem ethischen Imperativ des ‚Erkenne dich selbst‘ (gnothi seauton) ein zweites Leitprinzip gibt – die Sorge um sich (epimeleia heautou): „Die Sorge um sich war in der griechischrömischen Welt die Art und Weise, in der sich die individuelle Freiheit […] als Ethik reflektierte.“1422 Selbsterkenntnis und Selbstsorge sind für die Antike nicht unabhängig voneinander oder einander widersprechend, sondern notwendig aufeinander bezogen: „Sie haben hier also eine dyna­ mische Verflechtung: Gnothi seauton und epimeleia heautou (Selbsterkennt­ nis und Selbstsorge) rufen sich gegenseitig auf den Plan.“1423 Man kann Selbsterkenntnis nur dadurch erlangen, dass man sich um sich selbst sorgt; und vice versa dient die Selbstsorge immer auch der Mög­ lichkeit, sich selbst zu erkennen. Was bedeutet das aber nun konkret? Der Sorge um sich liegt der Gedanke zugrunde, dass es der Veränderung, der Umkehr oder der (Um-)Gestaltung des Subjekts bedarf, um einen wahren Zugang zu sich zu erlangen: „Die epimeleia heautou (Sorge um sich selbst) bezeichnet genau dieses Ensemble geistiger [spirituel] Bedingungen, das Ensemble der Selbst­ transformationen, welche die notwendige Voraussetzung für den Zu­ gang zur Wahrheit bilden.“1424 Die Selbstsorge bezeichnet folglich den Aufruf dazu, umzukehren und sich zu wandeln sowie zugleich die dafür notwendigen Prinzipien. Nach Foucaults Interpretation beginnt sich im frühen Christentum diese in der Antike als notwendig gedachte Verbindung von Selbstsorge und Selbster­ kenntnis zu lösen. Die Selbsterkenntnis wird der Selbstsorge übergeord­ net, bis schließlich in der Moderne die Möglichkeit der Selbsterkenntnis vollständig von der Selbstsorge getrennt wird, so dass der Zugang zur Wahrheit von da an in der Erkenntnis allein und nur in ihr angesehen wird.1425 Es wandelt sich also nicht nur das Verhältnis von Selbsterkennt­

1422 DE IV, S. 879. 1423 HS, S. 97. 1424 HS, S. 34. Wie Foucault in HS, S. 32 darlegt, hat Geistigkeit (spiritualité) hier jedoch eine besondere Bedeutung. Es handelt sich um „jene Suche, Praxis und Erfahrung […], durch die das Subjekt an sich selbst die notwendige Verände­ rung vollzieht, um Zugang zur Wahrheit zu erlangen.“ Hierzu auch DE IV, S. 893. 1425 Vgl. DE IV, S. 973: „In der Moderne […] verkörpert die Selbsterkenntnis das fundamentale Prinzip.“

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nis und Selbstsorge zueinander, sondern auch deren konkreter Inhalt.1426 Dieser Wandel ist jedoch nicht radikal, sondern erfolgt kontinuierlich durch Bedeutungsverschiebungen, welche sich bereits bei den Epikureern und Stoikern beobachten lassen.1427 Auch ist er nicht total in dem Sinn, dass die eine Form der Selbstsorge einfach durch die andere ersetzt worden wäre. Verschiedene Formen bleiben parallel zueinander erhalten. Was sich jedoch ändert, ist die dominante Form.1428 Zweitens geschieht die Verän­ derung eben nicht auf der Ebene des Moralcodes oder des -verhaltens, sondern auf der Ebene der Selbsttechniken: „Man beschuldigt generell das Christentum, eine recht tolerante grie­ chisch-römische Lebensweise durch eine strenge Lebensweise ersetzt zu haben, die durch eine ganze Reihe von Entsagungen, Untersagun­ gen und Verboten charakterisiert wird. Doch kann man beobachten, dass in dieser Aktivität von sich an sich (sic!) die alten Völker eine gan­ ze Reihe von Praktiken der Strenge entwickelt hatten, die die Christen ihnen unmittelbar entlehnten.“1429 Diese wohl wichtigste Form der abendländischen Selbstsorge als Umkehr oder Hinwendung1430 zu sich wollen wir im Folgenden in ihrer Chronolo­ gie darstellen: Ausgangspunkt ist die griechische Klassik des 5. – 4. Jahrhun­ dert v. Chr. mit der platonischen Epistrophe (3.2.1). Eine erste grundlegende Veränderung des Topos findet im Hellenismus und der römischen Kaiserzeit statt (1. – 2. Jahrhundert n. Chr.). Sie firmiert bei Foucault unter dem Begriff der Konversion (3.2.2). Ein zweiter Übergang von der Konversion zur Metanoia zeichnet sich im 4. – 5. Jahrhundert n. Chr. ab und ist um das Christentum zentriert (3.2.3). Schließlich wollen wir mangels weiter­

1426 Foucault bestimmt eines der Hauptziele der Vorlesung darin, dem Grundsatz ‚Erkenne dich selbe‘ eine variable historische Bedeutung zu geben, die niemals universell gültig ist: HS, S. 563. Zur Aussage, dass sich auch der Inhalt ändert: HS, S. 309. 1427 Hierzu Foucaults Kritik an Hadot 1953 Zweier-Schema aus Epistrophe und Metanoia: HS, S. 273f. 1428 Dieses Verständnis der Diskursformationen hatte sich bereits in Bezug auf das Machtverständnis angedeutet, wird jedoch auch in Bezug auf die Selbsttechni­ ken in HS, S. 264 bekräftigt. 1429 DE IV, S. 486. Diese Aussage versteht Foucault übrigens als direkte Kritik an Nietzsche: DE IV, S. 770. 1430 Vgl. HS, S. 262: „Jedenfalls stellt diese Vorstellung der Umkehr, der Rückkehr, der Hinwendung zu sich selbst […] eine der wichtigsten Technologien des Selbst dar, die das Abendland gekannt hat.“

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führender Ausführungen Foucaults in einem großen historischen Sprung die Entwicklung der Neuzeit kurz skizzieren (3.2.4).

3.2.1 Griechische Klassik: Epistrophe Die Selbstsorge der griechischen Klassik ist vor allem ein elitäres Konzept, dass den wenigen gut situierten Adeligen vorbehalten ist. Es greift insbe­ sondere im Übergang vom Knaben- zum Mannesalter, weil sich hier die Frage nach der Eignung des Heranwachsenden stellt, ein politisches Amt zu übernehmen. Er ist unter der Bedingung geeignet, dass er nicht den Status eines Sklaven hat. Kein Sklave zu sein, ist indes nicht nur mit der sozialen und rechtlichen Position verknüpft. Vielmehr ist dies in einem sehr weiten Sinn zu verstehen, d. h. weder „einer anderen Polis“ noch denjenigen, „die einen umgeben, die einen regieren oder seiner eigenen Leidenschaften“ unterworfen zu sein.1431 Nicht unterworfen zu sein und sich auch nicht unterwerfen zu lassen, ist ausschließlich dann möglich, wenn man sich um sich selbst sorgt. Selbstsorge und Selbsterkenntnis ste­ hen hier in einem Implikationsverhältnis zueinander: „Sich um sich selbst sorgen heißt sich selbst erkennen.“1432 Die Selbsterkenntnis ist jedoch ge­ genüber der Selbstsorge privilegiert.1433 Die Selbstsorge manifestiert sich fast ausschließlich als Selbsterkenntnis. Inhaltlich stellt Foucault die Selbst­ techniken der griechischen Klassik unter das Zeichen der platonischen Epistrophe.1434 Diese sieht er insbesondere durch vier Merkmale charakteri­ siert: 1) Abkehr von der sinnlichen Welt: Die Epistrophe besteht zuerst in einer Abwendung von etwas – und zwar in einer Abwendung von dem Bereich der wandelbaren Erscheinungen. Mit dieser allgemeinen Abwendung von der Welt des Scheins ist auch die genuin körperliche Dimension des Selbst berührt, wie sie beispielsweise in Form von Kleidung, Werkzeugen, Be­ sitztümern usw. in Erscheinung tritt.1435 Diese Abwendung vom Körper

1431 DE IV, S. 880. 1432 HS, S. 112. So betont Foucault exemplarisch in DE IV, S. 977 die Überordnung der Selbsterkenntnis über die Selbstsorge bei Platon. 1433 Vgl. HS, S. 264. 1434 Bemerkenswert sind auch hier die Anmerkungen Foucaults zu Aristoteles: Für Aristoteles besaß die Selbstsorge die geringste Bedeutung. Allerdings sei er auch „nicht der Höhepunkt der Antike, er stelle darin die Ausnahme dar“ (HS, S. 35). 1435 DE IV, S. 976, RdL, S. 197f.

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interpretiert Foucault wohl als vor allem erkenntnistheoretisch begründet, da die Eindrücke des Körpers der von Platon angestrebten intellektuellen Erkenntnis entgegenstehen.1436 2) Hinwendung zum Selbst: Diese Abwendung von sich impliziert zu­ gleich eine Hinwendung zu sich. Dieses ‚sich‘ ist das Prinzip der Erschei­ nung, d. h. der Grund dafür, warum wir in dieser oder jener Form in Er­ scheinung treten. Das Prinzip selbst ist nicht-körperlich, sondern seelisch. Die Seele – und das ist für Foucault entscheidend – tritt dabei als Prinzip der Aktivität (Subjekt) in den Blick und nicht als Substanz: Platon hat „keineswegs die Substanz-Seele entdeckt[]: Er entdeckte die Subjekt-See­ le.“1437 3) Selbsterkenntnis als Wiedererinnerung: Die Hinwendung zu der als Prinzip der Aktivität verstandenen Seele ist an eine spezifische Form der Selbstprüfung gebunden. Hiermit ist der sokratische Dialog angespro­ chen.1438 Der Dialog besteht für den Dialogpartner im Aufzeigen seines Nichtwissens, d. h. des Mangels an Begründetheit seines Wissens. Die An­ erkennung der eigenen Unwissenheit stellt dabei den Ausgangspunkt für die Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstsorge dar.1439 Die Selbstsorge als Hinwendung zu sich vollzieht sich über die Selbsterkenntnis: „Für Platon gilt es, die Wahrheit zu entdecken, die in uns ist.“1440 Die Selbst­ erkenntnis besteht allerdings nicht in einer Art Introspektion, sondern in der Erkenntnis des Göttlichen: „Man muß sich in einem göttlichen Element betrachten, um sich selbst erkennen zu können; man muß das Göttliche erkennen, um sich selbst zu erkennen.“1441 Diesen Modus der Selbsterkenntnis deutet Foucault als Wiedererinnerung (anamnesis). Selbst­ sorge, Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis sind im Platonischen somit deckungsgleich.1442 4) Ziel der Identität: Durch diese Erkenntnis des Göttlichen vollzieht sich schließlich die Rückkehr zur ontologischen Heimat – mit der Erkenntnis des Göttlichen erkennt man das Göttliche in sich: „Indem die Seele sich daran erinnert, was sie gesehen hat, entdeckt sie, was sie ist. Und indem sie

1436 Die Platon häufig unterstellte Leibfeindlichkeit in Bezug auf die Selbstsorge diskutiert Fröhlich 2021, S. 146f kritisch. 1437 HS, S. 83. Diesen Punkt betont Foucault mehrmals, so beispielsweise DE IV, S. 974. 1438 Vgl. DE IV, S. 981. 1439 Vgl. HS, S. 264 sowie HS, S. 317. 1440 DE IV, S. 985, HS, S. 95. 1441 HS, S. 100. 1442 Vgl. HS, S. 509.

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sich daran erinnert, was sie ist, findet sie Zugang zu dem, was sie gesehen hat.“1443 Der Mensch ist identisch mit sich selbst. Er ist das, was er sein soll und somit vollkommen.1444 Weil er das ist, was er sein soll, kann er auch seine Rolle in der Gemeinschaft erfüllen. Die Sorge um sich selbst ist so­ mit mit der Sorge um die anderen (wie sie sich im Politischen zeigt) ver­ knüpft.

3.2.2 Hellenismus und jüngere Stoa: Konversion Die Sorge um sich erfährt vom Hellenismus bis zur jüngeren Stoa eine massive Ausweitung.1445 Sie wird zu einem allgemeinen und unbeding­ ten Grundsatz. Das betrifft einerseits den spezifischen Zeitpunkt ihrer Anwendung: Standen in der griechischen Klassik die Heranwachsenden besonders im Fokus, so wird die Selbstsorge nun auf das gesamte Leben der Individuen ausgeweitet.1446 Andererseits scheint sie als „universelles Prinzip aufzutreten, das sich an alle richtet und für alle verbindlich ist.“1447 Das bedeutet nicht, dass zu dieser Zeit tatsächlich alle Selbstsorge betrie­ ben hätten, aber zumindest ihre Beschränkung auf die soziale Oberschicht löst sich auf. Mit dieser Ausweitung kommt es auch zu einer Verschiebung in Bezug auf das Thema der Regierung. Die Selbstsorge ist nicht mehr Voraussetzung, um regieren zu können; sie bezweckt nicht etwas anderes, sondern ist Selbstzweck.1448 Damit stellt sich eher die Frage, wann man sich aus der Politik zurückziehen soll, um ausreichend Raum für die Be­ schäftigung mit sich selbst zu haben.1449 Das Thema der Selbstsorge erfährt jedoch nicht nur eine quantitative Veränderung. Ihr bisheriger Gehalt – die Selbsterkenntnis – wird in ein Ensemble aus anderen Praktiken einge­ bettet. So kommt es im Vergleich zur griechischen Klassik gerade zu einer Inversion des Verhältnisses von Selbstsorge und Selbsterkenntnis: Das Pri­ mat liegt auf Seiten der Sorge um sich.1450 Diese Verschiebungen treffen dann auch die in den Selbsttechniken vollzogene Umkehr, die Foucault in

1443 HS, S. 317, RdL, S. 198. 1444 Vgl. HS, S. 107 und HS, S. 264. 1445 Foucault selbst spricht der Einfachheit halber vom hellenistischen Modell: HS, S. 316. 1446 Vgl. HS, S. 164, SW3, S. 62. 1447 HS, S. 148. 1448 Vgl. HS, S. 114. 1449 Vgl. DE IV, S. 976. 1450 DE IV, S. 977.

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Abgrenzung zur platonischen Epistrophe Konversion nennt.1451 Wir wollen versuchen, das Konzept anhand der vier oben genannten Merkmale zu systematisieren. 1) Abkehr vom Unverfügbaren: Auch die Konversion ist mit einer Form der Abkehr verknüpft. Jedoch erfolgt diese Abwendung nicht von der Welt der Erscheinung. Stattdessen vollzieht sie sich sozusagen in der Im­ manenz der Welt: „Dieser Einschnitt, durch den das Selbst sich von sich selbst trennt, auf sich verzichtet, um nach einem metaphorischen Tod anders wiederge­ boren zu werden, befindet sich nicht innerhalb des Selbst. Wenn es einen Bruch gibt – und es gibt ihn –, dann findet er im Verhältnis zu dem statt, was das Selbst umgibt. Damit das Selbst nicht mehr Sklave, nicht mehr abhängig ist und Zwängen unterliegt, muß es den Bruch mit dem, was es umgibt vollziehen. […] Es gibt also einen Bruch für das Selbst, einen Bruch um das Selbst herum, zugunsten des Selbst, aber nicht im Selbst.“1452 Wir sollen uns von dem abwenden, was nicht in unserer Macht steht und uns zu dem hinbewegen, worüber wir Macht haben bzw. erlangen kön­ nen.1453 Dies geschieht nicht plötzlich, sondern ist ein fortwährender Pro­ zess.1454 Dieser Prozess beschreibt ein Zurücktreten, ein Abstand-gewinnen zur eigenen Perspektive. Ziel ist es, sich selbst als notwendigen, aber eben nur wenig bedeutsamen Punkt in einem Gesamtgefüge zu verstehen.1455 2) Hinwendung zum Verfügbaren: Die Hinwendung besteht darin, die Macht, die wir haben, über uns selbst auszuüben: Es geht um eine Bünde­ lung der Kräfte, die Körper und Seele gleichermaßen betrifft.1456 Damit kommt dem Körper, von dem sich nach der Foucaultschen Interpretation

1451 Jedoch ist Foucault (HS, S. 264) nur unter Einschränkungen gewillt, von einem einheitlichen Konzept zu sprechen: „[I]ch glaube nicht, daß es sich um einen strukturierten, in sich geschlossenen, abgeschlossenen und wohldefinier­ ten Begriff handelt“. 1452 HS, S. 267f. 1453 Vgl. HS, S. 265. 1454 Vgl. HS, S. 270: „Die Konversion ist ein langer und fortgesetzter Prozeß, den ich nicht eine Transsubjektivierung, sondern eine Selbstsubjektivierung [autsubjectivation] nennen würde.“ 1455 Foucault macht dies am Beispiel von Seneca recht anschaulich: HS, S. 351. 1456 Vgl. HS, S. 279: „Es geht nicht darum, sich selbst zu dechiffrieren, sondern um die Übung der Konzentration auf sich selbst, die darin besteht, daß das Subjekt alles Handeln, alle Aufmerksamkeit auf jene Spannung sammelt, die es zu seinem Ziel führt.“

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die platonische Epistrophe abgewendet hatte, eine andere Stellung zu. Die Selbstsorge stellt folglich „keine Befreiung vom Leib dar, sondern besteht eher in der Herstellung einer umfassenden, vollendeten und an­ gemessenen Beziehung zu sich selbst.“1457 Das impliziert wiederum eine Veränderung in der Art und Weise, in der sich die Selbstsorge manifestiert. Anstelle der Selbsterkenntnis im sokratischen Dialog tritt die Askese als wichtigste Form der Selbstsorge.1458 Askese ist hier allerdings nicht in dem engen heutigen Verständnis zu verstehen. Es handelt sich eher um eine Form der seelischen und körperlichen Praxis und Übung.1459 Diese Übungen zielen auf die Selbstbeherrschung und zwar nicht durch Verzicht auf die Welt, sondern durch „Erwerb und Aufnahme von Wahrheit.“1460 Die Wahrheit wird also im Gegensatz zum Platonismus „nicht innerhalb der menschlichen Person gesucht.“1461 Sie liegt im Gegenteil in den „lo­ goi, den Lehren der Lehrer.“1462 Die Aneignung der Wahrheit über sich erfolgt dementsprechend nicht dialektisch, sondern über die Praktik des Zuhörens und Schweigens bzw. der Reflexion:

1457 HS, S. 265. Dieser Aspekt wird auch dadurch untermauert, dass es, wie Fou­ cault in SW3, S. 75f schildert, eine Verknüpfung von Selbstsorge und Medizin gibt. 1458 Was jedoch nicht so verstanden werden darf, als ob die Erkenntnis keine Rolle mehr spielen würde. Vielmehr nimmt sie, wie in HS, S. 390 deutlich wird, die spezifische Form einer „geistigen Modalisierung“ des Subjekts an: „Wenn man in jener Selbstkultur der hellenistischen und römischen Epoche nach dem Ver­ hältnis von Subjekt und Erkenntnis fragt, dann stellt man sich nie die Frage, ob das Subjekt objektivierbar ist, ob sich auf das Subjekt derselbe Erkenntnis­ modus anwenden läßt, den wir auf die Dinge der Außenwelt anwenden, ob das Subjekt tatsächlich zu diesen erkennbaren Dingen der Welt gehört. Dies können Sie im griechischen, hellenistischen und römischen Denken nie fin­ den. Wenn nach dem Verhältnis Subjekt/Welterkenntnis gefragt wird, stoßen wir […] auf die Notwendigkeit, das Wissen von der Welt derart abzuwandeln, daß es für das Subjekt, in der Erfahrung des Subjekts, für das Wohl des Subjekts eine bestimmte geistige Form und einen bestimmten geistigen Wert annimmt. Diese geistige Modalisierung des Subjekts ist die Antwort auf die allgemeine Frage: Wie sieht das Verhältnis von Subjekt und Welterkenntnis aus. Das wollte ich Ihnen zeigen.“ 1459 Vgl. HS, S. 265. 1460 DE IV, S. 985. 1461 DE IV, S. 811. 1462 DE IV, S. 985.

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„Man merkt sich, was man gehört hat, und verwandelt das Gehörte in Verhaltensregeln. Das Ziel dieser Techniken ist die Subjektivierung der Wahrheit.“1463 3) Selbstprüfung durch Askese: Der Aspekt der Prüfung des Selbst tritt auch hier wieder zutage, aber in einem anderen Kontext: Man prüft nicht die Geltung seines Wissens an der Begründungsfähigkeit, sondern die Diskre­ panz zwischen dem, was man entsprechend der angeeigneten Verhaltens­ regeln tun sollte bzw. wollte und dem, was man tatsächlich getan hat. Geprüft werden daher nicht Gedanken, sondern Handlungen.1464 Wich­ tig ist jedoch zu verstehen, wie diese Handlungen geprüft werden: Die Abweichungen bzw. Verfehlungen, die man in diesem Prozess feststellt, sind „nicht moralischer, sondern strategischer Natur.“1465 Die Handlungen haben nicht den Status eines Selbstzwecks, sondern sind stets Mittel zum Zweck – und an diesem Zweck müssen sich die tatsächlich vollführten Handlungen messen lassen. Es handelt sich also um hypothetische und nicht um kategorische Imperative. Auch hier spielt der Aspekt der Wie­ dererinnerung eine zentrale Rolle, jedoch in anderer Art und Weise als in der platonischen Epistrophe: „Das Subjekt ist nicht das Operationsfeld für den Prozess des Entzif­ ferns, sondern der Ort, an dem die Verhaltensregeln in der Erinnerung zusammenkommen. Das Subjekt bildet den Schnittpunkt zwischen Handlungen, die der Regelung bedürfen, und Regeln für das, was getan werden sollte.“1466 Kurzgefasst besteht die Wiedererinnerung in einem Ins-Gedächtnis-rufen der gelernten Regeln. In dieser Besinnung auf die Regeln, denen man sich verpflichtet sieht, liegt die Wahrheit über das Selbst.1467 4) Ziel der Selbst-Konstitution: Was ist jedoch das Ziel dieser Vergegen­ wärtigung der Regeln? Es besteht keineswegs darin – und hierauf insistiert Foucault mit großem Nachdruck –, sich einem Gesetz zu unterwerfen:

1463 DE IV, S. 985. 1464 Vgl. DE IV, S. 995, RdL, S. 396 sowie DE IV, S. 980: So betont der Stoiker Marc Aurel, „was er getan, und nicht, was er gedacht hat. Darin liegt der Unterschied zwischen der Praxis in der hellenistischen Periode bzw. in der Kaiserzeit und der mönchischen Praxis. Auch bei Seneca dominieren Taten, nicht Gedanken.“ 1465 DE IV, S. 984. 1466 DE IV, S. 984. 1467 Vgl. DE IV, S. 993.

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„Die askesis ist nicht eine Weise, das Subjekt einem Gesetz zu unter­ werfen; die askesis stellt vielmehr eine Art und Weise dar, das Subjekt an die Wahrheit zu binden.“1468 Das Subjekt bindet sich freiwillig an eine bestimmte Wahrheit.1469 Es wird weder von einem Gesetz dazu genötigt noch besteht die Bindung in einer Selbstaufgabe. Diese Bindung des Subjekts in der Askese hat das Ziel, sich selbst in einer bestimmten Art und Weise zu konstituieren.1470 Diese Konstitution dient dabei aber immer einer persönlichen Zurüstung (paras­ keue): Die Askese „stattet aus, sie rüstet aus.“1471 Worin besteht jedoch die Zurüstung und zu welchem Zweck? Grundsätzlich besteht das Ziel darin, „ein erfülltes, vollendetes und umfassendes Verhältnis zu sich selbst herzu­ stellen.“1472 Das Selbst wird so zum Selbstzweck der Selbstsorge. Es ist so auch gewissermaßen von der Sorge um die Gemeinschaft abgekoppelt, die bei Platon eine zentrale Rolle gespielt hat.1473 Dieses Selbstverhältnis stellt sich aber nur dann ein, wenn man für alle Unwägbarkeiten des Lebens gewappnet ist bzw. ihnen gleichgültig gegenüberstehen kann. Die asketi­ sche Übung besteht also darin, dass man sich Weisheiten aneignet und präsent hält, die einem in einer bestimmten Situation helfen können, mit dieser umzugehen.1474 Insgesamt kann man die Askese im Hellenismus also als Prozess verstehen, der „aus dem Wahr-sprechen eine Seinsweise des Subjekts“ macht.1475 1468 HS, S. 389. 1469 Vgl. HS, S. 515: „Sein Leben zum Gegenstand einer techne, sein Leben also zu einem Werk zu machen – zu einem schönen und guten Werk (wie jedes mittels einer guten und vernünftigen techne hergestellte Werk zu sein hat) – hat notwendigerweise zur Voraussetzung, daß der, der die techne anwendet, frei ist und frei wählen kann.“ 1470 Vgl. HS, S. 392, DE IV, S. 985 Allerdings ist für Foucault (HS, S. 269) in die­ sem Zusammenhang eine gewisse Ambivalenz des hellenistischen und römi­ schen Denkens spürbar: „Und zwar glaube ich, daß in diesem hellenistischen und römischen Denken nie ganz klar und nie ganz entschieden ist, ob das Selbst etwas ist, zu dem wir zurückkehren, weil es von vornherein gegeben ist, oder ob das Selbst ein Ziel ist, das wir uns setzen und das wir, sofern wir je die Weisheit erlangen, möglicherweise irgendwann erreichen.“ 1471 HS, S. 393. 1472 HS, S. 393. 1473 Foucault betont hier die Trennung von Selbstsorge und Sorge um den ande­ ren: HS, S. 225. 1474 Foucault verweist hier auf die Unterscheidung von melete und gymnasia, die zwei verschiedene Art und Weisen der Zurüstung im obigen Sinne repräsen­ tieren: HS, S. 516ff, DE IV, S. 986ff. 1475 HS, S. 401.

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3.2.3 Christentum: Metanoia Mit der Ausbreitung und Durchsetzung des Christentums (3. und 4. Jahr­ hundert n. Chr.) vollzieht sich für Foucault ein fundamentaler Wandel in der bisherigen Konzeption der Selbstsorge: Es kommt förmlich zu einer „Umkehrung der antiken Selbstkultur“;1476 was jedoch nicht bedeutet, dass keine Elemente dieser Kultur übernommen worden wären. Diese erhalten jedoch vor dem Hintergrund, in den sie sich einfügen, eine neue Funktion. Die Ethik der Antike ist im Wesentlichen die Suche nach einer persönlichen Ethik, im Sinne einer „Ausarbeitung seines eigenen Lebens als ein persönliches Kunstwerk“. Im Christentum geht man hingegen zu einer „Moral als Gehorsam gegenüber einem System von Regeln über.“1477 Folglich unterscheidet sich die Metanoia, das christliche Konzept der Selbsttransformation, sowohl von der platonischen Epistrophe als auch von der hellenistischen bzw. stoischen Konversion. Entscheidend ist hier­ bei auch die Einbettung der Umkehr in einen neuen institutionellen Rahmen (der Kirche), die der antiken Vorstellung zumindest in dieser konkreten Form fremd ist. So ist die Metanoia für Foucault nicht nur eine individuelle, sondern primär eine kollektive Praxis. Besonders anschaulich lassen sich diese Entwicklungen in Rahmen der Reflexion auf das Mönch­ tum darstellen. Das Kloster und die damit verbundenen Regeln bilden einen Brennpunkt der philosophisch-theologischen Diskussion.1478 Insge­ samt kehrt sich das Verhältnis von Selbstsorge und Selbsterkenntnis um: Beide sind nicht mehr identisch wie bei Platon, sie sind getrennt und doch aufeinander bezogen. Aber im Gegensatz zum hellenistischen Modell ist im Christentum die Selbstsorge der Selbsterkenntnis untergeordnet. 1) Abkehr als Selbstverzicht: Die Metanoia implizierte ebenso wie die anderen Formen der Selbsttransformation einen Moment der Abkehr. Die Lossagung vollzieht sich jedoch nicht mit bzw. in der Welt, sondern es handelt sich um eine „Abkehr vom Ich“1479 bzw. um einen Bruch inner­ halb des Selbst. Im Gegensatz zur fortwährenden Arbeit an sich vollzieht sie sich plötzlich und radikal, indem sich die „Seinsweise des Subjekts grundlegend verändert.“1480 Es handelt sich dabei um das Bekenntnis der eigenen Mangelhaftigkeit, der eigenen Sündhaftigkeit. Diese Entsagung ist

1476 1477 1478 1479 1480

DE IV, S. 487. DE IV, S. 905. Zur zentralen Rolle des Klosters und des Mönchtums insgesamt: HS, S. 227. DE IV, S. 993. HS, S. 266.

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für das Christentum notwendig, weil „man sich mit einer Bindung an sich selbst dem Willen Gottes entgegenstellen würde“.1481 Man würde sich damit nicht dem Maßstab Gottes unterwerfen, sondern sich selbst zum Maßstab machen.1482 Folglich ist das eigene Wollen zu eliminieren und diese Eliminierung ist an eine noch näher zu erläuternde Pflicht, alles zu offenbaren, gekoppelt.1483 2) Hinwendung zur Transzendenz: Das Moment der Hinwendung liegt folglich in der Transzendenz; die allerdings nicht einfach als eine Ausrich­ tung auf das Himmelreich als Leben nach dem Tod verstanden werden darf, sondern vor allem als eine Unterwerfung unter einen höheren, d. h. göttlichen Maßstab. Diese Ausrichtung geschieht in der Kontemplati­ on.1484 Damit eröffnet sich eine weitere Perspektive, die der antiken Selbst­ sorge fremd ist – nämlich die einer Pflicht zum Gehorsam: Während in der antiken Selbstsorge der Gehorsam immer von zeitlich begrenzter und instrumenteller Natur war, um sich eine bestimmte téchne anzueig­ nen,1485 so ist der Gehorsam im Christentum von Dauer und besteht als Selbstzweck.1486 Er ist Selbstzweck, weil er in der Unterordnung unter ein System von Regeln und Gesetzen besteht, die Ausdruck des göttlichen Willens sind.1487 3) Prüfung der Wahrhaftigkeit: Die Selbstprüfung nimmt in diesem Kon­ text eine vollkommen andere Form an.1488 Der vorrangige Zweck der christlichen Erkenntnisübungen besteht im Gegensatz zum Platonismus nicht darin, „sich als göttliches Element zu erkennen, sondern [es handelt sich] im Gegenteil um Übungen – der Erkenntnis und Selbsterkenntnis –, de­ ren Aufgabe und Zweck es war, auf einen selbst bezogen zu sein.“1489

1481 DE IV, S. 487, RdL, S. 411. 1482 Das Problem des Maßes (discretio) für das Christentum diskutiert Foucault eingehend in RdL, S. 390f. 1483 Vgl. RdL, S. 354. 1484 DE IV, S. 995. 1485 DE IV, S. 994 sowie DE IV, S. 811. 1486 Der Unterschied zwischen der antiken und der christlichen Form des Gehor­ sams wird in RdL, S. 360f besprochen. 1487 DE IV, S. 905. 1488 Es handelt sich hierbei jedoch nicht um die einzige Form der christlichen Selbsttechnik. Foucault stellt der Selbstenthüllung (exagoreusis) noch die exo­ mologesis gegenüber. Das Gewicht der Argumentation liegt jedoch eindeutig auf ersterer: DE IV, S. 994 sowie DE IV, S. 998. 1489 HS, S. 512.

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Dieser Selbstbezug unterscheidet sich jedoch auch vom hellenistischen Modell. So werden nicht Handlungen an Regeln gemessen, sondern die Gedanken als solche sind Element der Prüfung.1490 Auf was werden die Gedanken geprüft? Hierzu muss man sich vergegenwärtigen, dass das Christentum von der Sündhaftigkeit des Menschen ausgeht. Diese Sünd­ haftigkeit ist allgegenwärtig und im Diesseits niemals gänzlich überwind­ bar. Vielmehr ist sie sogar mit der Subjektivität verschränkt.1491 Hieraus ergibt sich das Problem der Täuschung, und zwar der Täuschung darüber, was der göttliche Wille ist. Es bedarf mithin einer Unterscheidung (discre­ tio) zwischen guten (von Gott) und schlechten (teuflischen) Gedanken. „[W]ährend die discretio der antiken Weisheit sich im Wesentlichen auf Dinge erstreckte, auf den Wert der Dinge, erstreckt sich das Prob­ lem der discretio bei der […] christlichen Vollkommenheit auf mich selbst, auf das, was sich in mir abspielt, und auf die Gedanken, die mir kommen, die mir zu Bewusstsein kommen. Nicht der Wert der Dinge ist zu erkennen, sondern die Geheimnisse des Bewusstseins sind zu entschlüsseln.“1492 Es geht dabei nicht wie im hellenistischen Modell um eine nachträgli­ che Reflexion, sondern der ständige Fluss der Gedanken ist im Moment seines Auftretens zu evaluieren. Die Prüfung erfolgt also simultan zum Auftauchen der Gedanken.1493 Was genau wird aber geprüft? Statt der Wahrheit bzw. der normativen Richtigkeit (platonisches Modell) oder der strategischen Adäquatheit (hellenistisches Modell) steht die Wahrhaftigkeit des Gedankens im Zentrum: „Es geht nicht um die Wahrheit dessen, was ich denke, sondern um die Wahrheit von mir, der ich denke.“1494 Bin ich tatsächlich derjenige, der diesen Gedanken denkt? Stammt dieser Gedanke von mir oder ist er eine böse Eingebung?1495 Die strukturelle Problematik, die hieraus folgt, besteht darin, dass der Christ nicht selbst Maßstab für die Wahrhaftigkeit seiner Gedanken sein

1490 Diesen wichtigen Punkt betont Foucault immer wieder, so auch exemplarisch Foucault 2016, S. 65. 1491 Vgl. RdL, S. 393. 1492 RdL, S. 394f. 1493 Vgl. RdL, S. 400, DE IV, S. 995: „Da der Mönch sein Denken nachdrücklich auf Gott zu richten hat, muss er den Strom seiner Gedanken unablässig prü­ fen. Die Prüfung besteht in der Unterscheidung der Gedanken, die zu Gott hinführen, von solchen, die dies nicht tun.“ 1494 RdL, S. 403. 1495 Vgl. Foucault 2016, S. 67, HS, S. 369.

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kann. Andernfalls würde er sich auf die gleiche Stufe wie Gott stellen, worin gerade der Kern seiner Sündhaftigkeit begründet liegt. Die einzige Lösung besteht darin, sich einer Person zu unterstellen, der gegenüber man seine Gedanken verbalisiert.1496 Entgegen dem, was man vielleicht annehmen könnte, prüft der andere diese Gedanken jedoch nicht auf ihre Wahrhaftigkeit hin. Auch zeichnet sich der andere im Unterschied zur Antike nicht notwendig durch ein Mehr an Kompetenz aus. Es ist parado­ xerweise so, dass die Verbalisierung in Form eines Geständnisses selbst das Prinzip der Unterscheidung ist: „Sie sehen, bei all diesen Mechanismen spielen die Beschaffenheit desjenigen, zu dem man spricht, die Ratschläge, die er geben konnte, seine Erfahrung keine Rolle. Es ist tatsächlich einzig die Tatsache des Sprechens, die das Prinzip der Unterscheidung, der Sortierung, der Austreibung des Bösen und die Annahme des Guten begründet.“1497 Dieser Logik liegt die Annahme zugrunde, dass ausschließlich ein Gedan­ ke, der rein (d. h. nicht sündig) ist, vorbehaltlos ausgesprochen werden kann. Das bedeutet im Umkehrschluss, allein dass es Vorbehalte gibt, etwas zu sagen, deutet bereits auf die Unreinheit eines Gedankens hin.1498 Einen solchen unreinen Gedanken dann gegen alle (psychischen) Wider­ stände auszusprechen, ist bereits eine Form der Loslösung von diesem Gedanken – ein Ablassen von der Sünde oder sogar eine Art Exorzismus. Nichtsdestotrotz ergibt sich durch die nie auszulöschende Gefahr der Sün­ de die Notwendigkeit der ständigen Selbstprüfung mit einer entsprechen­ den Verbalisierung im Geständnis. Das Verständnis der Selbsterkenntnis, das sich hier ausdrückt, versteht Foucault gerade als Umkehrung der pla­

1496 Zur Lösung des christlichen Paradoxons in der Praxis des Geständnisses: DE IV, S. 997, RdL, S. 404f. 1497 RdL, S. 407, DE IV, S. 997. 1498 Wie sehr die säkulare Form dieser Idee immer noch die Grundlage für die positive Konnotation der Öffentlichkeit ist, bedarf wohl keiner näheren Er­ läuterung. So exemplarisch in der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts bei Kant (ZeF VIII, S. 381): „Alle auf das Recht anderer Menschen be­ zogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht. […] Denn eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheim­ licht werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende Gegenarbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht.“

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tonischen Epistrophe: nicht das Gute (das Göttliche) ist Inhalt der Selbster­ kenntnis, sondern in der Selbsterkenntnis wird das Böse (die Sünde) er­ kannt. Diese Form der Reinigung durch die Selbstprüfung ist zwar die Voraussetzung für die Gotteserkenntnis, mit ihr aber nicht identisch.1499 4) Ziel des Selbstverzichts: Aus dieser Trennung von Selbst- und Gotteser­ kenntnis folgt, dass im Gegensatz zu den antiken Selbsttechniken das Ziel der Vollkommenheit in der Reinigung und die Kontemplation nie dauer­ haft erreichbar ist. Es besteht stets die Gefahr des Rückfalls, die Gefahr der Sünde. Damit kommt es zu der für das Christentum charakteristischen Trennung von Heil und Vollkommenheit: Im Diesseits kann es keine Erlösung geben.1500 Die Voraussetzung für eine Erlösung im Jenseits ist das „Vorhandensein von Authentizität, einer tieferen Wahrheit, die es zu erkennen gilt und die den Untergrund, den Sockel, den Boden unserer Subjektivität bilden soll.“1501 Die Authentizität liegt, wie wir oben erläu­ tert haben, in der Anerkennung seiner eignen Sündhaftigkeit. Hierin zeigt sich für Foucault eines der großen Paradoxa der abendländischen Kultur, dass mit dem Christentum Wahrheit über das Selbst nur durch Verzicht auf das Selbst erreichbar geworden ist.1502

3.2.4 Neuzeit: cartesianisches Moment Die Konstellation der Selbstsorge in der Neuzeit1503 hat Foucault nie systematisch entfaltet. Wir können uns aus vereinzelten Versatzstücken nur ein grobes Bild erschließen. Zentral ist dabei die These, dass es zum endgültigen Bruch mit der antiken Konstellation der Selbstsorge kommt, als die Selbsterkenntnis nicht nur gegenüber der Selbstsorge privilegiert, sondern die Selbsterkenntnis aus sich selbst heraus Garant für die Erkennt­ nis im Allgemeinen wird. Das Subjekt ist so a priori, d. h., weil es das ist, was es ist, zur Wahrheit fähig. Diese Entwicklung vollzieht sich jedoch

1499 Zum Verhältnis von Gottes- und Selbsterkenntnis im Christentum: HS, S. 318, RdL, S. 413. 1500 Vgl. RdL, S. 413. 1501 SW, S. 326. 1502 Vgl. Foucault 2016, S. 75: „no truth about the self without a sacrifice of the self.” 1503 Der Begriff der Neuzeit wird hier bewusst in Abgrenzung zu der Systematisie­ rung der Wissens- und Machtsysteme gewählt, weil Foucault im Gegensatz zu diesen Bereichen nicht trennscharf zwischen Klassik und Moderne differen­ ziert.

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nicht plötzlich, sondern sie ist bereits in der Struktur der christlichen Metanoia angelegt. Trotzdem sind bis „zum 16. Jahrhundert […] Askese und Zugang zur Wahrheit in der abendländischen Kultur stets mehr oder weniger dunkel miteinander verbunden gewesen.“1504 Zum Bruch kommt es erst im 17. Jahrhundert. Den Übergang nennt Foucault den „cartesia­ nischen Moment“.1505 Kant habe diese Entwicklung dann ergänzt und vollendet.1506 „Ich glaube, daß die Neuzeit der Geschichte der Wahrheit in dem Augenblick beginnt, wo das, was den Zugang zur Wahrheit gewährt, die Erkenntnis und die Erkenntnis allein ist. Das heißt in dem Au­ genblick, wo der Philosoph (oder der Gelehrte oder einfach der Wahr­ heitssuchende), ohne daß ihm irgend etwas anderes abverlangt wird, ohne daß sich sein Subjektsein in irgendeiner Weise verändern oder wandeln muß, fähig ist, die Wahrheit in sich und allein mittels seiner Erkenntnisakte zu erkennen und Zugang zu ihr zu haben.“1507 Das heißt jedoch nicht, dass das Subjekt keine Voraussetzungen zu erfül­ len hätte, um erkennen zu können. Aber diese Bedingungen betreffen „keinesfalls das Subjekt in seinem Sein […]: sie betreffen nur das Individu­ um in seiner konkreten Existenz, nicht aber die Struktur des Subjekts als solches.“1508 Von diesem Punkt an konnte das Subjekt „unmoralisch sein und trotzdem die Wahrheit erkennen.“1509 Es handelt sich um eine Vor­ stellung, die in einer Kultur undenkbar wäre, in der (Selbst-) Erkenntnis und Selbstsorge notwendig miteinander verknüpft sind. Für Foucault geht Kant noch insofern über den cartesianischen Moment hinaus, als er die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis gerade in den Bereich des Intelligiblen und damit nicht im strengen Sinn Erkennbaren setzt: das Subjekt kann gerade deswegen erkennen, weil es sich nicht

1504 DE IV, S. 497. 1505 HS, S. 31. Descartes ist hierbei entsprechend der foucaultschen Methodologie nur der Name für eine bestimmte Konstellation und nicht deren Erfinder. Sachlich findet sich dieser Gedanke auch in DE IV, S. 999. Zur Stellung Des­ cartes bei Foucault im Vergleich zu Heidegger: Holme 2018, S. 48f. 1506 Kants Stellung wird in HS, S. 46 Fn sowie HS, S. 49 kurz angedeutet. 1507 HS, S. 35. 1508 HS, S. 36. 1509 DE IV, S. 497. Unmoralisch ist hier wohl in einem sehr weiten Sinn zu verste­ hen. Das Prädikat bezieht sich auf die Konstanz der Seinsweise des Subjekts, die im engeren Sinn auch moralische Qualitäten umfassen kann.

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selbst erkennen kann.1510 Allerdings – und hier zeigt sich die Sonderstel­ lung Kants in Foucaults Werk erneut – hat dieser Aspekt nur für die theoretische Erkenntnis seine uneingeschränkte Berechtigung. Kant trennt nämlich strikt zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. In der praktischen Philosophie ist „eine ethische Haltung“ erforderlich – „ebenje­ ne Beziehung zu sich, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft vorlegt.“1511 Das Thema der Selbstsorge tritt nun in neuer Gestalt wieder auf, allerdings strikt von der (theoretischen) Erkenntnis getrennt. Man möchte nach unserer eigenen Analyse von Kants praktischer Philosophie jedoch einwenden, dass es hierbei keineswegs um die Selbstveränderung des Subjekts gehen kann, sondern dass das Subjekt schon immer das ist, was es sein soll. Es bedarf nur ein durch den kategorischen Imperativ vermitteltes Bewusstsein seines moralischen Selbst. Der Fokus liegt also nicht auf einer praktischen Konstitution, sondern auf einer praktischen Erkenntnis des Selbst. Foucault scheint mit unserer Analyse insofern kon­ form zu gehen, als er davon ausgeht, dass Kant eine „neue zusätzliche Bahn in unsere Tradition ein[führt], dank welcher das Selbst nicht einfach gegeben, sondern in einem Selbstverhältnis als Subjekt konstituiert ist.“1512 Die charakteristische Trennung dieser Sphären macht Kant für Foucault erneut zum Philosophen an der Schwelle der Moderne.1513 Diese Schwelle wird in der Philosophie des 19. Jahrhunderts analog zur Episteme über­ schritten werden. Die Philosophien von Hegel, Schelling, Schopenhauer usw. „zeichnen sich dadurch aus, daß durch eine gewisse geistige Struktur versucht wird, die Erkenntnis, den Akt des Erkennens, die Bedingungen und Auswirkungen dieses Aktes an eine Veränderung im Sein des Subjek­ tes zu koppeln.“1514 Die Selbsterkenntnis wird hier also wieder mit der

1510 Vgl. HS, S. 242. Zur dieser Lesart Kants auch ein unveröffentlichtes Manu­ skript zur Vorlesung aus dem Gros 2004, S. 637 zitiert: „Der Grund, warum das Subjekt, so wie es ist, erkennen kann, bedingt zugleich, daß es sich nicht selbst erkennen kann.“ 1511 DE IV, S. 498. 1512 DE IV, S. 498. 1513 Das zeigt sich bereits in OD, S. 395, als Foucault davon spricht, dass das Abendland nur zwei Formen der Ethik gekannt hat – eine alte und eine moderne Form: „Der kantische Augenblick bildet den Angelpunkt zwischen beiden [Formen der Ethik, B. H.]; es ist die Entdeckung, daß das Subjekt, soweit es vernünftig ist, sich sein eigenes Gesetz gibt, das das allgemeine Gesetz ist.“ 1514 HS, S. 49. Foucault hatte diese Deutung der Moderne bereits in etwas allge­ meinerer Form in der OD, S. 395f angedeutet, wenn er davon spricht, dass die Philosophie der Moderne „nie reine Spekulation gewesen ist.“ Sie war

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Selbstsorge verknüpft. Allerdings wird das Selbst entgegen der christlichen Tradition nicht als etwas verstanden, dem man entsagen muss. Vielmehr tritt das Selbst als positive Figur auf: „ I think that one of the great problems of Western culture has been to find the possibility of founding the hermeneutics of the self not, as it was in the case of early Christianity, on the sacrifice of the self but, on the contrary, on a positive, on the theoretical and practical, emergence of the self.”1515 Dieses positive Selbst findet seinen Ausdruck nicht nur in den philosophi­ schen Anthropologien – zu denen Foucault bekanntlich große Teile der nachkantianischen Philosophie bis Sartre rechnet –, sondern auch in den Humanwissenschaften („sciences humaines“). Letztere haben gerade durch die ehemals christlichen und nun säkularisierten Techniken der Verbalisie­ rung die „Herausbildung eines neuen Selbst“ aktiv herbeigeführt.1516 Es zeigt sich also, wie Foucault die Geschichte des Macht-Wissens durch­ aus komplementär zur Geschichte der Selbsttechniken angelegt hat. Ent­ scheidend scheint dabei nicht nur der Gedanke zu sein, dass (Selbst-)Er­ kenntnis und Selbstsorge immer in einem bestimmten Verhältnis zueinan­ der gestanden haben, sondern dass die gesamte abendländische Kultur von dem Gedanken der Einheit des Selbst (Ichs) durchzogen war: entweder als Zielpunkt der über die Selbsterkenntnis vermittelten Selbstsorge oder als gesetzter Ausgangspunkt der Erkenntnis.

sich schon immer der Einheit des Denkens bzw. Erkennens und des Tuns explizit oder implizit bewusst: „Noch bevor es [das moderne Denken, B. H.] vorschreibt, eine Zukunft skizziert, sagt, was man tun muß, noch bevor es ermahnt oder Alarm schlägt, ist das Denken auf der einfachen Ebene seiner Existenz, von seiner frühesten Form an, in sich selbst eine Aktion, ein gefährli­ cher Akt.“ 1515 Foucault 2016, S. 75, Hervorhebung B. H. 1516 DE IV, S. 999, Foucault 2016, S. 75f. Zur Wichtigkeit des Geständnisverfahrens für die modernen Humanwissenschaften exemplarisch HS, S. 315: „[S]tellt also die Umkehr zu sich selbst nicht die erste Form dessen dar, was später die Geisteswissenschaften […] genannt werden kann?“.

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3.3 Freiheit als Differenz seiner selbst „Im großen und ganzen geht es darum, sich auf die Suche nach einer anderen kritischen Philosophie zu machen: einer Philosophie, die nicht die Bedingungen und Grenzen der Objekterkenntnis definiert, sondern die Bedingungen und die unbegrenzten Verwandlungsmög­ lichkeiten des Subjekts.“1517 Der begriffliche Kern der Freiheit als Unbestimmtheit und ihre politi­ sche Konkretisierung in der Möglichkeit zum Widerstand hat den theoreti­ schen Raum eröffnet, die Ethik als Selbstverhältnis zu thematisieren, das der relativ freien Gestaltung des Subjekts zugänglich ist: Wie wir gesehen haben, beschreibt die Ethik für Foucault ein Selbstverhältnis und zwar ein Selbstverhältnis, das nicht primär eine Erkenntnisbeziehung darstellt, son­ dern ein Korrelat von Handlungen. Grundsätzlich impliziert Freiheit ein So-oder-anders-handeln-Können. Ethische Freiheit besteht dementsprechend darin, sich nicht durch das Einwirken anderer auf sein Handeln als Sub­ jekt zu konstituieren, sondern die Handlungen und die angestrebte Form des Selbstverhältnisses selbst zu wählen.1518 Das ist keine grundsätzliche Abkehr davon, dass diese Beziehung auf vielfältige Weise gesellschaftlich vermittelt ist. Aber wenn das Selbstverhältnis auf Handlungen beruht und Handlungen und Freiheit in einem Implikationsverhältnis zueinander ste­ hen, so ist auch das Selbstverhältnis – als handelndes Einwirken auf sich selbst – offen für Widerstand. Es ist nicht einfach extern festgelegt. So kon­ statiert Foucault, dass es keinen „ersten und letzten Punkt des Widerstands gegen die politische Macht gibt als die Beziehung seiner selbst zu sich.“1519 Der Widerstand bestünde dann darin, zu sich ein anderes Selbstverhältnis einzunehmen als jene Identität, die gesellschaftlich gefordert wäre1520: „Das Hauptziel besteht heute zweifellos nicht darin, herauszufinden, sondern abzulehnen, was wir sind. Wir müssen uns vorstellen und konstruieren, was wir sein könnten, wenn wir uns dem doppelten po­

1517 Aus einem unveröffentlichten Vortragsmanuskript Foucaults im Jahr 1980, das nach Gros 2004, S. 642 zitiert ist. 1518 Rustemeyer 2004, S. 89 fasst den ethischen Freiheitsbegriff prägnant zusam­ men: „Freiheit als Selbstkonstitution bedeutet eine ateleologische Bewegung der erprobenden Veränderung.“ 1519 HS, S. 313. Das heißt allerdings nicht, wie Foucault in DE IV, S. 900f klarstellt, das Widerstand nur über das Selbstverhältnis erfolgen kann. 1520 Diese Form des Widerstandes hebt Foucault besonders im Aufsatz „Subjekt und Macht“ (DE IV, S. 274) hervor.

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litischen Zwang entziehen wollen, der in der gleichzeitigen Individua­ lisierung und Totalisierung der modernen Machtstrukturen liegt.“1521 Hierbei haben insbesondere Foucaults Äußerungen zur Lebenskunst, die an das hellenistische Modell angelehnt scheinen, große Resonanz gefun­ den. Bezugspunkt ist dabei der Anspruch, aus sich selbst und seinem Leben ein ‚Kunstwerk‘ zu machen: „Ich denke, dass es nur einen einzigen praktischen Ausgang für diese Idee des Selbst gibt, der nicht vorweg ge­ geben ist: Wir müssen aus uns selbst ein Kunstwerk machen.“1522 Das scheint prima facie gut zu dem dargelegten ethischen Freiheitsbegriff zu passen. Ein Kunstwerk hat normalerweise eine materielle und praxeologi­ sche Wirklichkeit, da es durch Handlungen in der Welt hervorgebracht wird. Dadurch dass der Einzelne sich sozusagen selbst zum Material seiner Kunst macht, ist konsequenterweise auch die Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben. Zudem gibt es wohl kaum einen Gegenstandsbereich, der die Kreativität des Einzelnen so sehr betont wie die Kunst. Auch wenn man diese Kreativität nicht als etwas Absolutes verstehen darf, weil der Künstler immer im Rahmen gegebener Traditionen und ästhetischer Vorstellungen, was Kunst überhaupt ist, tätig wird. Eine schlichte Rückkehr zur antiken Moral – d. h. zu der Vorstellung, die Foucault von der antiken Moral vertritt – hat er indes stets abgelehnt. So fällt er insgesamt ein negatives Urteil über die antike Ethik. Diese sei für ihn weder bewundernswert noch beispielhaft, sie sei sogar ein „gründlicher Irrtum“ gewesen.1523 Exemplarisch sei hier auf ein Interview verwiesen, das den Grund für diese Ablehnung klar benennt: „Sie meinen, dass die Griechen eine andere, eine verlockende und plausible Wahl anbieten? – Nein! Ich suche keine Lösung durch Auswechslung; man findet nicht die Lösung eines Problems in der Lösung eines anderen Problems, das in einer anderen Epoche von anderen Leuten gestellt wurde. Was ich machen will, ist nicht eine Geschichte der Lösungen.“1524

1521 DE IV, S. 280. 1522 DE IV, S. 311, 473. Hierzu exemplarisch Schmid 1992, der allerdings eine durchaus differenziertere Position vertritt, als dies in der Sekundärliteratur gerne behauptet wird. 1523 DE IV, S. 861. 1524 DE IV, S. 750f. Es handelt sich übrigens um einen Topos, der regelmäßig, d. h. nicht nur in Bezug auf die Ethik, an Foucault herangetragen wurde. Eine grundsätzliche Zurückweisung der Rückkehr findet sich bspw. In DE IV, S. 334: „Das ist vielleicht keine Antwort auf Ihre Frage, aber ich meine, wir

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Vielmehr geht es darum – und hierin zeigt sich eine der großen Konti­ nuitäten in Foucaults Werk –, von der historischen Warte aus die NichtNotwendigkeit des Bestehenden und den Raum der Möglichkeit aufzuzei­ gen.1525 Es geht schlicht darum zu zeigen, dass nicht „eine bestimmte Form unserer Ethik zum Muster und Prinzip der Freiheit erklärt“ werden darf.1526 Das Modell für eine solche Ästhetik der Existenz kann daher nicht einfach aus der Vergangenheit übernommen werden. Die Geschichte dient vielmehr als Medium der Erkenntnis der Unbestimmtheit. Diese Unbestimmtheit ist, wie wir gesehen haben, das genuine Moment der Freiheit. An diesem Punkt jedoch bei der Betrachtung von Foucaults Ethik stehenzubleiben, würde deren Anspruch unzulässigerweise verkürzen.1527 Viele seiner in Interviews und Vorträgen geäußerten Bemerkungen zur Ethik blieben schlichtweg unverständlich oder nicht systematisch an die theoretischen Schriften angebunden.1528 Wenn das Leben und das lebende Selbst nämlich im obigen Sinne Praxis ist, dann kann man nicht in diesem Moment der ‚Kontemplation‘ der Unbestimmtheit verharren. Diese Unbe­ stimmtheit muss in der sozialen Praxis – analog zu Wissen und Macht – wieder zu Bestimmtheit werden. Es stellt sich dann allerdings die Frage, ob Foucault über dieses reine Panorama der Möglichkeiten nicht doch hin­ ausgeht und sogar hinausgehen muss, allein schon durch die Tatsache, dass er sich selbst als Intellektueller in gewisser Weise gestaltet hat. Aber selbst wenn man Foucault unterstellt, eine eigene Form der Selbststilisierung zu propagieren, so bleibt das Problem des Maßstabs: An welchen Kriterien

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sollten unter allen Umständen jeglicher Art von Rückkehr misstrauen. Einer der Gründe für dieses Misstrauen liegt auf der Hand: Es gibt keine Rückkehr. Die Geschichte und das auf Genauigkeit drängende Interesse an Geschichte sind gewiss der beste Schutz gegen das Thema der Rückkehr.“ Es sei nur als Randbemerkung angeführt, dass Foucault hier wieder einen neuen Begriff („Problematisierung“) ins Spiel bringt. Sachlich sieht aber bspw. Riefling 2013, S. 129 oder auch Vogelmann 2014, S. 76ff eine Kontinuität des Spätwerks zu den restlichen Teilen. DE IV, S. 965. Insbesondere zielt Foucaults Kritik auf den allgegenwärtigen Humanismus seiner Zeit. Diese Problematik wird von Riefling 2013 leider nicht erfasst. Er verkürzt damit das Ethik-Verständnis Foucaults auf den rein historisch-deskriptiven Part. Der Lösungsvorschlag von Suárez Müller 2004, S. 188 diesen Äußerungen nur den Status eines „legitimierenden Telos“ zuzubilligen, scheint noch zu wenig zu sein. Vielmehr muss Analytik und ‚Ethik‘ – die Anführungszeichen bestehen bewusst – zusammengedacht werden.

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können wir messen, ob wir ein gelungenes, glückliches und möglichst wenig fremdbestimmtes Leben führen? Foucault kann und will auf diese Frage keine allgemeinverbindliche Antwort geben: „Die Suche nach einer Form von Moral, die für alle annehmbar wäre – in dem Sinne, dass alle sich dem zu unterwerfen hätten –, erscheint mir als eine Katastrophe.“1529 Diese Ethik der Existenz ist daher auch nicht philosophische Ethik, im Sinn einer normativen Begründung des richtigen Lebens, die allgemein richtig und verbindlich wäre, sondern philosophisches Ethos, d. h. bloße Haltung.1530 Hierin zeigt sich analog zur Wahrheit und zur Legitimität erneut eine Relativierung des eigenen Anspruchs – in diesem Fall eine Relativierung des Anspruchs auf normative Richtigkeit. Foucaults Ethos erschöpft sich allerdings nicht darin, jedem einzelnen zu überlassen, wie er sein Selbstverhältnis nach seinen eigenen Maßstäben ästhetisieren will. Denn nicht nur jeglicher Maßstab, auch ein vermeint­ lich eigener, birgt die Gefahr, unbewusst der oktroyierte Maßstab eines anderen zu sein, sondern auch ein selbst gegebener Maßstab kann zum Zwang werden – im Sinne eines zwanghaften Verhaltens. Die Pointe be­ steht indes darin, dass er die Forderung, überhaupt sein Selbstverhältnis einem allgemeinen Maßstab zu unterstellen, für den Ausdruck der spezi­ fischen Konstellation der Ethik des Abendlandes hält.1531 Dabei geht es immer darum, durch eine Konversion1532 ein dauerhaftes Selbstverhältnis herzustellen, das einen identisch mit sich selbst werden lässt: Man ist durch die Zeit hindurch derselbe, indem man nach einem einheitlichen Maßstab denkt und handelt. Gegen diesen Gedanken der Identität des Selbstverhält­ nisses wendet sich Foucault dezidiert: „[D]ie Beziehungen, die wir zu uns selbst unterhalten müssen, sind keine Identitätsbeziehungen; sie müssen eher Beziehungen der Differen­ zierung, der Schöpfung und der Innovation sein. Es ist sehr langweilig,

1529 DE IV, S. 872. Vgl. DE IV, S. 1000: „[Ich halte] es für eine Anmaßung, den Menschen gleichsam mit der Geste des Propheten vorzuschreiben, was sie zu glauben haben. Mir ist es lieber, sie ziehen die Schlüsse selber und machen sich ihre eigenen Gedanken aufgrund der Probleme, die ich bei der Analyse speziellen historischen Materials aufwerfe. Darin, so scheint mir, bekundet sich Achtung vor der Freiheit des anderen, und das entspricht meiner Art.“ 1530 DE IV, S. 699. 1531 Geuss 2003, S. 151ff scheint im Ansatz in eine ähnliche Richtung zu argu­ mentieren, ohne allerdings die notwendigen Schlüsse für Foucaults Ethik zu ziehen. 1532 Hier ist nicht die spezifische Form der Umkehr im Hellenismus gemeint, sondern der Umkehrgedanke in seiner historischen Vielgestaltigkeit.

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immer derselbe zu sein. Wir […] dürfen diese Identität nicht als universa­ les ethisches Richtmaß betrachten.“1533 Dieser Verpflichtung zur Identität im Gedanken der Konversion wird die Nicht-Identität, die Differenz des Selbst entgegengesetzt1534: „Was kann die Ethik eines Intellektuellen sein […], wenn nicht dies: sich permanent fähig zu machen, sich von sich selbst loszulösen (was das Gegenteil zu der Haltung eines Konvertiten ist)? […] Diese Arbeit an der Veränderung des eigenen Denkens und dem der anderen scheint mir die Daseinsberechtigung der Intellektuellen zu sein.“1535 „Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. […] Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, dass ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor.“1536 „Das Motiv, das mich getrieben hat, ist sehr einfach. Manchen, so hoffe ich, könnte es für sich selber genügen. Es war die Neugier […]: nicht diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, son­ dern die, die es gestattet, sich von sich selber zu lösen.“1537 Damit ist der Gedanke der „endlose[n] Arbeit an der Freiheit“1538 auch auf der Ebene der Ethik reflexiv eingeholt. Er findet seine Konkretisierung jedoch nicht in einem fiktionalen Umgang mit der Wahrheit wie im Wis­ sen und auch nicht unmittelbar im fortwährenden Widerstand wie in den Machtbeziehungen, sondern in der fortwährenden Abkehr von sich: eine Abkehr ohne Zuwendung zu sich.1539 Ethische Freiheit besteht mithin

1533 DE IV, S. 914, Hervorhebung B. H. Zum Thema der Selbstveränderung bei Foucault: Schmid 1992, S. 341f, Ruhstorfer 2004, S. 18ff. 1534 Hierbei ergibt sich natürlich ein ähnliches Problem wie beim Widerstand, dass jede Form der Selbstveränderung per se als positiv bewertet wird: Rustemeyer 2004, S. 88. Vertreter der Postmoderne wie Butler 2021, S. 37f greifen diesen Gedanken jedoch affirmativ auf. 1535 DE IV, S. 832, Hervorhebung B. H. Obwohl dieses Thema der Selbstverände­ rung erst in der Spätphase seine konkrete ethische Ausarbeitung findet, ist der Topos als solcher schon bereits früh im Werk von Foucault präsent. Hier ist vor allem die berühmte Stelle aus zu der AW, S. 30 nennen: „Man frage nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes […].“ 1536 DE IV, S. 52. 1537 SW2, S. 15f, Hervorhebung B. H. 1538 DE IV, S. 703. 1539 Kritisch Ruhstorfer 2004, S. 57 sowie affirmativ Rustemeyer 2004, S. 87: „Die Zumutung der Personenveränderung […] nimmt hier die Gestalt einer perma­ nenten, kontrollierten, aber ateleologischen Selbstveränderung an.“

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darin, sich nie einem Maßstab dauerhaft unterzuordnen. Vielmehr müs­ sen wir die (unbewussten) Maßstäbe, nach denen wir auf uns selbst hin handeln und so unser Selbstverhältnis konstituieren, offenlegen und uns von ihnen abwenden. Foucaults ‚Ethik‘ – jetzt in einem weiteren Sinn ver­ standen – besteht daher in einer „permanente[n] Kritik unseres geschicht­ lichen Seins“1540 bzw. in einer „permanente[n] Kritik unserer selbst“1541 Damit sind wir wieder auf den methodischen Ausgangspunkt verwiesen, vor dessen Hintergrund wir Foucaults Freiheitsbegriff entwickelt haben. Indes haben wir Foucaults Ethik dadurch noch nicht in ihrer Gänze er­ fasst. Denn es bleibt wie auf den beiden vorherigen Achsen der Subjektivi­ tät das Problem, dass die Ablehnung der Wahrheit zugunsten der Fiktion, die Negation der Macht zugunsten des Widerstands sich ebenso wie die Überwindung der Identität zugunsten eines vielgestaltigen Selbst aus sich selbst heraus nicht mehr rechtfertigbar scheint. Wenn die Fiktion wieder zur Wahrheit, der Widerstand wieder zur Macht und die Überwindung des ethischen Maßstabs selbst wieder zum Maßstab wird, warum sollte man nicht einfach im Bestehenden verharren? Zum einen ist Veränderung als solche ambivalent. Es kann eine Veränderung zum Guten wie zum Schlechten geben. Zum anderen scheint das Verharren im Zustand der naturwüchsigen Unmittelbarkeit so viel weniger Anstrengung zu verlan­ gen als die unendliche Arbeit an der Freiheit. Foucault scheint zumindest in Bezug auf die Ethik eine Antwort auf diese Frage geben zu wollen, indem er die Ästhetik, die in einer solchen Existenz zu finden sein soll, auf ihren griechischen Wortstamm – aisthesis (Wahrnehmung, Empfindung) – zurückführt. Die fortwährende Abkehr von sich ist nämlich nicht Selbst­ zweck. Sie dient der Freiheit – und zwar einer Freiheit, die darin besteht, die Möglichkeit zu haben, vielfältige Formen der Lust zu empfinden. Das wird besonders in einem Zitat deutlich, von dem aus systematischen Gründen vorhin nur ein Teil präsentiert wurde: „Wir dürfen die Identität nicht ausschließen, sofern die Leute auf dem Umweg über ihre Identität ihre Lust finden, aber wir dürfen diese Identität nicht als ein universales ethisches Richtmaß betrachten.“1542 Nicht die Selbstveränderung als solche ist Selbstzweck, sondern sie ist nur Mittel zum Zweck. Der Zweck liegt, wie Foucault an anderer Stelle deutlich macht, in der Maximierung der Lust:

1540 DE IV, S. 699. 1541 DE IV, S. 700. 1542 DE IV, S. 914, Hervorhebung B. H.

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„[Der Mensch] muss glücklicher sein können, er muss die Menge an Lust, zu der er in seinem Dasein fähig ist, vergrößern können.“1543 Foucault ist jedoch klug genug, um aus dieser hedonistischen Ausrichtung nicht auf eine Substanzialität des Körpers (sei es auch in einen an Nietz­ sche angelehnten Energetismus) zu schließen.1544 Das Kokettieren mit sol­ chen Vorstellungen scheint eher eine antithetische Funktion innerhalb der genealogischen Methodologie zu erfüllen.1545 Eine solche materialis­ tische Substanzialisierung würde nämlich offensichtlich den Einsichten der Machtanalytik widersprechen. Vielmehr ist es auch hier so, dass das, was Lust bereiten kann, gesellschaftlich vermittelt ist. So sind auch hier neue Formen abseits etablierter und gesellschaftlich anerkannter Bahnen zu suchen.1546 Nichtsdestotrotz sind wir dadurch bei der Kategorie ange­ kommen, die bei Foucault zumindest formal – unter all den genannten Einschränkungen – als Letztbegründung fungiert. Der Topos der Lust verweist uns so nicht nur auf das subjektive Moment im Selbstverhältnis, sondern zugleich zurück auf die intersubjektive Di­ mension des Macht-Wissens. Ein großer Teil der Auslebung unserer Lust geschieht nämlich intersubjektiv und damit für Foucault verbunden über unsere Machtverhältnisse, die untrennbar mit den Erkenntnisbeziehungen verbunden sind. Es zeigt sich dann auch, dass sich der Impetus zum Wider­ stand gegen die Herrschaftsverhältnisse aus diesem Hedonismus speist: „Je freier die Menschen in ihren Beziehungen zueinander sind, desto größer ist ihre Lust, das Verhalten des jeweils anderen zu bestimmen. Je offener das Spiel, desto verlockender und faszinierender ist es.“1547 Macht ist nicht nur Mittel zum Zweck der Lustausübung, sondern Macht­ ausübung ist selbst Lust. Damit wird in einer dauerhaft asymmetrischen Beziehung zwischen Individuen, dem einen nicht nur die Lust an sich

1543 DE II, S. 993. 1544 Suárez Müller 2004, S. 62f bringt Foucault in die Nähe des Energetismus von Nietzsche, Bataille und Blanchot. 1545 Die These von einer solchen rhetorischen Dramatisierung bei Foucault hat insbesondere Saar 2007, S. 130f in der Rückführung auf Nietzsches Genealogie fruchtbar gemacht. 1546 Vgl. DE IV, S. 203: „Mir scheint, wir sollten nicht so sehr an der Befreiung unseres Begehrens arbeiten, sondern versuchen, uns selbst unendlich empfäng­ licher für Lust zu machen. Wir müssen die beiden vorgefertigten Formeln der rein sexuellen Begegnung und der Identitätsverschmelzung in der Liebe hinter uns lassen.“ 1547 DE IV, S. 902, Hervorhebung B. H.

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selbst, sondern auch die Lust am anderen vorenthalten. Die Problematik, die sich hierin zeigt, besteht allerdings darin, dass Foucault weder in Bezug auf den einzelnen noch auf das Verhältnis der Individuen zueinander qualitative Kriterien angeben kann. Foucault sieht zwar, dass die Sorge um sich mit der „Sorge um die anderen“1548 analytisch verbunden sein muss, allerdings bleibt dieser Bezug inhaltlich unausgefüllt.1549 So bietet Foucault keine Anhaltspunkte dafür, dass wie bei Kant die Freiheitsberei­ che (in der Möglichkeit, seine Lust auszuleben) irgendwie sozialverträglich zu harmonisieren wären. Freiheit kann deshalb niemals etwas anderes sein „als ein aktuelles Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten, ein Verhältnis, bei dem das Maß des ‚zu wenig‘ an bestehender Freiheit durch das ‚noch mehr‘ an geforderter Freiheit bestimmt wird.“1550 Ausgehend von dieser Vorstellung des Selbstverhältnisses gestaltet sich das soziale Zusammenleben, wenn nicht als Kampf, so doch als agonales Verhältnis, das einer Befriedung nie zugänglich ist; dessen Befriedung aber auch nicht wünschenswert wäre.1551 Dieses Panorama, das sich im Großen – d. h. der Gesellschaft – zeigt, gilt im verstärkten Maße im Kleinen: dem Verhältnis der verschiedenen Lüste zueinander im Selbst. Da die Auslebung der Lust nicht an einen all­ gemeinen Maßstab rückgebunden ist, kann es auch keine Hierarchisierung der Lüste und damit Harmonisierung in der zeitlichen Identität eines ein­ heitlichen Selbst geben. Der Mensch würde seinen unmittelbar gegebenen Antrieben folgen. Foucault kann diesen Widerspruch im Rahmen seines Denksystems jedoch nicht mehr adäquat problematisieren.1552

1548 Dieser Begriff findet sich bspw. in HS, S. 252 und DE IV, S. 883. 1549 DE IV, S. 468: „Was ich als Frage stellen will, ist: Sind wir heute fähig, eine Moral der Akte und der Lüste zu haben, die auf die Lust des anderen Rück­ sicht nehmen könnte? Ist die Lust des anderen etwas, das in unsere Lust einge­ schlossen werden kann, ohne dass man auf das Gesetz […] Bezug nimmt?“ 1550 GBP, S. 97. 1551 Foucault verwendet die Gegenüberstellung von Antagonismus und Agonis­ mus selbst in DE IV, S. 287. 1552 Mit Blick auf die postmoderne Ethik im Allgemeinen kommt Zima 2016, S. 218 zu dem Schluss, dass ein „grundsätzlicher Widerspruch“ aufgezeigt wer­ den kann. Die postmoderne Ethik ist „genötigt, die Frage nach allgemeingülti­ gen Grundsätzen aufzuwerfen, lehnt es aber ab, diese Grundsätze begrifflich zu formulieren und redigiert ins Affektiv-Partikulare.“

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3. Ethik: Nicht-identitäre Freiheit

3.4 Zwischenfazit Foucaults Ethik ist weder eine Ethik als Rückgriff auf andere ethische Theorie noch eine ‚Ethik‘ im substanziellen Sinn. Ethik ist stattdessen die Thematisierung des Selbstverhältnisses. Dieses Selbstverhältnis ist im wesentlichen Sinn ein praktisches: das Selbstverhältnis manifestiert sich jedoch nicht in Handlungen, sondern gerade umgekehrt – die Praxis kon­ stituiert das Selbstverhältnis. Diese Vorrangigkeit der Praxis löst die Ethik aus dem Implikationsverhältnis zur Erkenntnis. Vor diesem Hintergrund lässt sich die als Freiheit verstandene Unbe­ stimmtheit als Möglichkeitsraum des Selbstverhältnisses auffassen. Dieser Möglichkeitsraum ist, weil er im eben beschriebenen Sinne ein praktischer ist, als handelndes Einwirken auf sich selbst zu verstehen. Die Möglich­ keiten des Einwirkens auf sich selbst sind jedoch stets gesellschaftlich vermittelt und somit wesentlich limitiert. So scheint es Foucault charakte­ ristisch für die abendländischen Gesellschaften zu sein, dass das praktische Einwirken (Selbstsorge) und die (Selbst-)Erkenntnis auf spezifische Weise miteinander verknüpft gedacht werden. Unabhängig von der historischen Konkretisierung dieses Verhältnisses ist das Ziel oder der Ausgangspunkt immer die Einheit des Selbst. Dieser Einheit setzt Foucault eine Mannigfaltigkeit entgegen, die sich als fortwährende Abkehr von sich realisieren soll. Die Unbestimmtheit und damit Freiheit im Selbstverhältnis besteht darin, stets ein anderer werden zu können – ein anderer, der nicht an sein Denken und seine Handlungen gebunden ist; der sich dem gesellschaftlichen Zwang der Identität widersetzt; der vollkommen in seiner Unmittelbarkeit aufgeht. Diese Unmittelbarkeit zeigt sich wesentlich durch die Fokussierung auf das Lustempfinden bestimmt. Selbst die Lust ist jedoch nicht als ursprüng­ liche Erfahrung aneigenbar. Deshalb bedarf es einer stetigen Ausweitung des Möglichkeitsraums der Lust, einer Suche nach neuen Lüsten. Theore­ tisch stößt Foucaults Denken an seine Grenzen, wenn man sich die Frage stellt, wie die Unbestimmtheit des einen mit der Unbestimmtheit des anderen als vereinbar gedacht werden kann. Die Unbestimmtheit bleibt deshalb auch hier nur regulative Idee in normativer Gestalt – eine Idee, die in letzter Konsequenz unbegründet bleiben muss. Denn auch im Rahmen der Ethik hat sich gezeigt, dass ein solches Denken sich systematisch die Möglichkeit entzieht, sein eigenes Handeln und Denken zu rechtfertigen. Damit kann Foucault allerdings auch seine eigene Ethik nicht begründen.

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IV. Schlussfolgerungen

Methodisch streben wir in den Schlussfolgerungen die Umkehr des bis­ her vollzogenen Analysegangs an: Wir haben versucht, die allgemeine Forschungsfrage nach dem modernen und postmodernen Verständnis von Freiheit möglichst stark zu konkretisieren – erst durch die Auswahl von Immanuel Kant und Michel Foucault als paradigmatische Vertreter dieser Denkströmungen; dann durch die Entwicklung von Leitthesen zur Inter­ pretation; schließlich durch eine Ausdifferenzierung des Freiheitsbegriffs dieser Denker hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen, moralischen und gesellschaftlichen Dimension. Im Gegensatz dazu wird nun im Schlussteil eine schrittweise Verallgemeinerung angestrebt. Der erste Schritt dieses Verfahrens besteht darin, die Einzelergebnisse durch eine systematische Gegenüberstellung zu vergleichen (1). Im zweiten Schritt wollen wir auf Basis dieses Vergleichs einige allgemeine Überlegungen zum modernen und postmodernen Freiheitsbegriff anstellen (2).

1. Vergleich: (Selbst-)bestimmte und unbestimmte Freiheit Unsere Leitthesen haben sich insofern als fruchtbar erwiesen, als gezeigt werden konnte, dass sich Kants Auseinandersetzung mit der Freiheit als Kompatibilismus mit inkompatibilistischem Freiheitsbegriff und Fou­ caults Ansatz als Inkompatibilismus mit kompatibilistischem Freiheitsbe­ griff systematisieren lässt.1553 Im Bereich der Erkenntnis, der Moral und des Rechts konnte gezeigt werden, dass Kant einen starken Freiheitsbegriff verficht, den er mit den jeweiligen Modi der Notwendigkeit als vereinbar denkt. Entsprechend der gegenläufigen These verhält es sich bei Foucault gerade umgekehrt. Er hält auf Basis eines schwachen Freiheitsbegriffs Frei­ heit und Notwendigkeit im Wissen, in der Ethik und in den Machtbezie­ hungen für unvereinbar. Nun gilt es, ausgehend von dieser systematischen Perspektive die drei Dimension der Freiheit in Beziehung zueinander zu setzen. Wir wollen uns im Wesentlichen auf die zentralen Überlegungen beschränken, die die Art und Weise einsichtig machen, in der die Freiheit thematisiert wird. Zur Tragfähigkeit der jeweiligen Argumente wurden 1553 Zur Erläuterung dieser Thesen sei auf die die Kapitel I.2.1 und I.2.2 verwiesen.

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1. Vergleich: (Selbst-)bestimmte und unbestimmte Freiheit

in den dementsprechenden Abschnitten bereits kritische Anmerkungen gemacht. Im Folgenden wollen wir diese Kritikpunkte zu einem Hauptwi­ derspruch verdichten. Der Vergleich soll aber insofern über eine reine Gegenüberstellung der Freiheitsbegriffe hinausgehen, als sich am konkreten Inhalt veranschauli­ chen lässt, dass hier geradezu entgegengesetzte Vorstellungen von dem am Werk sind, was Philosophie ihrer Form nach ist. Es wird also versucht, die konkrete inhaltliche Ausgestaltung der Freiheitsbegriffe von Kant und Foucault auf die in der Einleitung skizzierte Art des modernen bzw. post­ modernen Philosophierens rückzubeziehen.1554 Das betrifft zum einen die Wahrnehmung, was ein philosophisches Problem ist und zum anderen die Herangehensweise, das festgestellte Problem zu lösen. Man könnte ver­ suchen, Problemperzeption und -lösung durch die Begriffe Bestimmtheit und Unbestimmtheit zu fassen. Bestimmt ist ein Gegenstand dann, wenn er so und nicht anders ist. Ihm wird also ein Prädikat unter Ausschluss seines Gegenteils zugesprochen. Zwei sich widersprechende Prädikate können dann nicht in derselben Hinsicht gültig sein. Unbestimmtheit liegt gerade umgekehrt vor, wenn ein Gegenstand so oder anders sein kann. Zwei widersprechende Prädikate sind in derselben Hinsicht gültig. Während für Kant als Vertreter der Moderne Philosophieren gerade darin besteht, einen Zustand der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit zu führen, verhält es sich bei Foucault umgekehrt. Sein postmodernes Philosophieren besteht darin, Gegenstände oder Begriffe in die Unbestimmtheit zu überführen. Ausgehend von diesen Vorüberlegungen wollen wir einen Vergleich der Denker wagen. Die Darstellung erfolgt entlang der drei Gegenstandsberei­ che: 1) Erkenntnis/Wissen, 2) Moral/Ethik und 3) Recht/Macht. Wie die Reihung der Begriffe verrät, soll jeweils zuerst Kant und dann Foucault behandelt werden. Dies liegt in dem Bezug der Postmoderne auf die Mo­ derne begründet. Die Darstellung der verschiedenen Freiheitsdimensionen nach Kant und Foucault folgt dabei der Logik ihres Philosophierens: von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit bzw. von der Bestimmtheit zur Unbestimmtheit. 1) Erkenntnis/Wissen: Ausgangspunkt beider Denkansätze ist ein – im weitesten Sinn – erkenntnistheoretisches Interesse. Kant versucht, die Objektivität des Gegenstandsbezugs in der Erkenntnis philosophisch zu begründen. Foucault beabsichtigt, die historische Relativität des Bezugs auf einen Erkenntnisgegenstand aufzuzeigen, der in einer gesellschaftlich

1554 Dieses Strukturprinzip des Denkens haben wir in der Hinführung von Kap I. eingeführt.

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IV. Schlussfolgerungen

geregelten Konstruktion hervorgebracht wird. Diese Überlegungen bilden den Horizont, vor dem sich entwickeln lässt, was Freiheit für beide Denker ist. a) Für Kant setzt das Freiheitsproblem mit der Unbestimmtheit ein; der Unbestimmtheit im Übergang von logischer zu realer Möglichkeit. Die Vernunft befindet sich scheinbar im Widerspruch mit sich, weil sie zu zwei gleichermaßen gültigen Urteilen kommt: Der Mensch ist gänzlich determiniert; der Mensch ist absolut frei. Diese Antinomie will Kant aufheben und somit zur notwendigen Be­ stimmtheit führen. Die Vernunft soll einen endgültigen Schiedsspruch sprechen, der die Naturnotwendigkeit und die Freiheit des Menschen mit­ einander vereinbar macht. Kants Lösung besteht darin, zwei Welten bzw. Perspektiven zu differenzieren.1555 Der Mensch ist determiniert und frei, aber nicht in derselben Hinsicht. Beide Urteile können ihre Gültigkeit be­ haupten, indem ihr Gegenstandsbereich eingeschränkt wird. Der Mensch ist determiniert, insofern er Teil der Natur ist bzw. man ihn als solchen be­ trachtet. Denn die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis ist, dass die Zustände der Natur kausalgesetzlich miteinander verknüpft sind, so dass der vorhergehende Zustand den folgenden bestimmt. Determiniertheit ist hier also so zu verstehen, dass der Mensch immer nur in einem bedingten Sinn Ursache sein kann. Sein Handeln und Denken, durch das er als Ursa­ che in die Welt eingreift, fängt nicht bei ihm selbst an, sondern ist wiede­ rum selbst verursacht. Er ist also in letzter Konsequenz fremd-bestimmt. Der Mensch ist frei, insofern man bei ihm eine Kausalität denken kann, die nicht zeitlich verursacht ist. Er ist unbedingte Ursache, wenn er sich nur durch das Gesetz seiner Vernunft, d. h. durch Gründe, zum Handeln bestimmt. Hierin liegt seine unbedingte Freiheit. Es handelt sich jedoch keineswegs um eine unbestimmte, sondern um eine bestimmte Freiheit; der Mensch bestimmt sich selbst durch das Gesetz seiner Vernunft (Auto­ nomie). Diese Bestimmung hat aber in der theoretischen Philosophie nur den Status einer regulativen Idee. Sie ist denkbar (logisch möglich), aber nicht erkennbar. Denn nur das ist erkennbar (real möglich), was in der Erfahrung gegeben werden kann. b) Für Foucault liegt das Freiheitsproblem gerade umgekehrt in der notwendigen Bestimmtheit – und zwar der Bestimmtheit im Übergang von

1555 Die genaue Lösung des Freiheitsproblems ist auf der Ebene der strukturellen Betrachtung, die hier vorgenommen werden soll, unerheblich.

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1. Vergleich: (Selbst-)bestimmte und unbestimmte Freiheit

realer Möglichkeit1556 zur Wirklichkeit: Dort wo aus der bloßen Möglich­ keit Wirklichkeit wird; dort wo eine Unentschiedenheit durch ein endgül­ tiges Urteil aufgehoben wird; dort wo ein Handlungsspielraum durch den tatsächlichen Beginn einer Handlung aufgelöst wird.1557 Wenn wir diesen Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit als notwendig bestimmt denken, so Foucault, kann es keine Freiheit geben. Freiheit und Notwen­ digkeit sind unvereinbar. Die Lösung des Freiheitsproblems liegt im wesentlichen Sinn in der Unbestimmtheit, d. h. der Gleichzeitigkeit von zwei sich widersprechenden Urteilen, dem nicht-festgelegt-Sein, der Möglichkeit so oder anders han­ deln und denken zu können. Begrifflich versucht Foucault den Gedanken der Unbestimmtheit im Konzept des Ereignisses zu fassen. Es gilt daher: Wenn der Mensch als determiniert erscheint, ist er ebenso frei. Allerdings gilt auch umgekehrt: Wenn der Mensch als frei erscheint, ist er ebenso unfrei. Im Gegensatz zu Kant haben die Prädikate ‚frei‘ und ‚determiniert‘ nicht voneinander separierte Gegenstandsbereiche, sondern sie gelten in derselben Hinsicht. Der Mensch ist also tatsächlich beides zugleich. Wie ist dieser Gedanke zu verstehen? Allem voran ist es wichtig zu begreifen, dass der Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit nicht absolut ist. Deshalb kann es nur relative Freiheit (und relative Determiniertheit) geben. Der Gedanke konkretisiert sich darin, dass die Wirklichkeit für Foucault eine sozial vermittelte ist. Der Möglichkeitsbereich unseres Handelns und Denkens ist immer (sozial) beschränkt. Aber diese Beschränkung ist eben­ so ermöglichend. Es kann keinen Sinn und kein verstehbares Handeln ohne einen strukturellen Rahmen geben. Das tatsächlich Gesagte bzw. Gedachte und das Getane erscheinen in Bezug auf diese Struktur in der Vergangenheit und der Gegenwart als notwendig bestimmt. Dieser als Struktur beschreibbare Bereich der realen Möglichkeit und der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit ist für Foucault jedoch kontingent.

1556 Es sei hier nochmals darauf verwiesen, dass Foucault (DE IV, S. 960) davon ausgeht, dass „die „Art, wie Menschen wirklich denken, […] sich nicht ange­ messen mit universellen logischen Kategorien erschließen [lässt].“ Der Begriff der realen Möglichkeit wird in diesem Kontext weiter gefasst, als dies Kant in der theoretischen Philosophie tut. Er umfasst bei Foucault neben der Erkenn­ barkeit schon immer die Vorstellung der Ausführbarkeit, die bei Kant erst in der praktischen Philosophie ins Spiel kommt. Erkenntnis und praktische Hervorbringung fallen bei Foucault in eins. 1557 Vgl. Keil 2017, S. 110: „Das Sattfinden der Handlung verschließt vorher beste­ hende alternative Möglichkeiten, denn niemand kann einmal faktisch Gewor­ denes ungeschehen machen.“

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IV. Schlussfolgerungen

Da die Struktur zwar eine andere sein, Sprechen bzw. Handeln aber nie strukturlos sein kann, bleibt die Unbestimmtheit der Freiheit bei Foucault ebenso wie die Bestimmtheit bei Kant nur eine regulative Idee. Man kann gegen die notwendige Bestimmtheit der Vergangenheit und Gegenwart immer nur deren historische Kontingenz, deren Möglichkeitsraum, aus dem sie entstanden sind, geltend machen, um sich für die Zukunft die Veränderbarkeit einsichtig zu machen. 2) Moral/Ethik: Beide Denker wagen ausgehend von diesen theoretischen Prämissen den Sprung in die Praxis. Denn weder für Kant noch für Fou­ cault ist die Freiheit einer theoretischen Erkenntnis zugänglich. Während Kant allerdings eine spezifisch praktische Erkenntnis der Freiheit für mög­ lich hält und sie bereits in dieser Erkenntnis real möglich wird, ist für Foucault die Freiheit losgelöst von jeglicher Erkenntnisbeziehung nur als Korrelat einer realen Praxis wirklich. a) Die ethische Problemeröffnung liegt bei Kant in der Unbestimmtheit des Willens. Diese Unbestimmtheit leitet sich wesentlich durch das Stre­ ben nach Glückseligkeit ab. Glückseligkeit bezeichnet die Totalität der an­ gestrebten Gegenstände zur Erfüllung der Neigungen. Diese Art der Moti­ vierung des Willens ist für Kant Fremdbestimmung. Letztere liegt darin, dass das Subjekt sich nicht durch sich selbst bestimmt, wenn es nach der Hervorbringung eines wirklichen Gegenstandes strebt. Vielmehr lässt es sich durch die angestrebten Objekte zur Handlung fremdbestimmen, denn der letzte Grund der Bestimmung ist ein sinnlicher: Wir streben nach der Lust, welche die Wirklichkeit des Objekts in uns hervorruft. Das gilt selbst dann, wenn der Mensch den unmittelbaren Impuls durch ein Objekt sus­ pendiert und eine durch hypothetische Imperative geleitete Zweckverfol­ gung anstrebt. Damit ist zwar eine relative, aber keine absolute Freiheit im Sinne einer unbedingten Letztverursachung möglich. Fremdbestimmung geht in Unbestimmtheit über, weil der Wille zwar im jeweiligen Moment tatsächlich (extern) bestimmt ist, aber in der zeitlichen Kontinuität doch unterschiedliche, sich widersprechende Zwecke angestrebt werden. Der begehrende Mensch ist dann keine Einheit, sondern eine Mannigfaltigkeit. Durch die Diskontinuität des Begehrens läuft der Mensch Gefahr, dass er sozusagen durch seine gegenteiligen Bestrebungen zerrieben wird. Gegen diese Unbestimmtheit des Willens macht Kant dessen Bestim­ mung geltend. Die Bestimmtheit des Willens ist mit der unbedingten Freiheit vereinbar, weil sie nicht durch etwas Externes, sondern durch das Subjekt selbst erfolgt – als Selbstbestimmung. Das Subjekt ist nur dann selbstbestimmt – und nur dann bildet es als begehrendes Wesen eine Einheit mit sich –, wenn es seinen Willen vom moralischen Gesetz a priori

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1. Vergleich: (Selbst-)bestimmte und unbestimmte Freiheit

leiten lässt. Das moralische Gesetz enthält keinen empirischen Gegenstand als Materie. Es ist die reine Form der Allgemeinheit. Die Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz entfaltet sich negativ, insofern die konkreten Zwecke auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit geprüft werden. Die Verallgemeinerungsfähigkeit bildet somit den Maßstab für die Zusam­ menstimmung der Zwecke zu einem einheitlich begehrenden Ich. Indem wir nur Zwecke verfolgen, die miteinander vereinbar sind, verwirklichen wir das moralische Gesetz, das uns von der Vernunft gegeben ist. Insofern wir unserer Vernunft folgen, verwirklichen wir das, was wir eigentlich sind – unser eigentliches Selbst, welches uns a priori gegeben ist. Durch die praktische Erkenntnis des moralischen Gesetzes erkennen wir uns als freies und selbstbestimmtes Wesen, das wir schon qua Anlage immer sind. So kommen Selbstbestimmung und notwendige Bestimmtheit überein. Problematisch bleibt allerdings, dass die reale Möglichkeit (Ausführbar­ keit) der Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz für Kant zwar bewiesen werden konnte. Sogar für uns selbst muss aber unerkenn­ bar bleiben, ob wir tatsächlich allein aufgrund des moralischen Gesetzes gehandelt haben.1558 b) Genau gegensätzlich verhält es sich bei Foucault. Problematisch ist für ihn gerade das Streben nach einem authentischen, eigentlichen Selbst. Denn dieser Gedanke impliziert ein universell gültiges Selbstverhältnis. Diese Art von Selbstverhältnis gibt uns durch ein Gesetz vor, wie wir zu sein und was wir zu tun haben. Da uns dieses Gesetz schon immer gegeben ist, müssten wir es uns nur noch bewusst machen. Richtiges Tun ist aus der Sicht Foucaults dann primär Erkenntnis und kein Handeln. In dieser Erkenntnis sind wir identisch mit uns selbst. Eine solche notwendige Bestimmung steht aus der Perspektive des von Foucault vertretenen Inkom­ patibilismus mit der Freiheit gerade in Widerspruch. Denn das Selbst ist immer gesellschaftlich vermittelt und somit wesentlich heteronom: Das bedeutet, dass die Maßstäbe unseres Handelns uns nie ganz transparent werden können. Das Subjekt kann sich nie mit letzter Gewissheit als Ur­ heber seiner Handlungsmaximen und damit seiner Handlung überhaupt verstehen. Gegen die Bestimmtheit des Selbst setzt Foucault dessen Unbestimmtheit. Das Selbst ist keine universelle Einheit. Es ist eine wandelbare Mannigfal­

1558 Exemplarisch GTP VIII, S. 284 Es ist für Kant klar, „daß kein Mensch sich mit Gewißheit bewußt werden könne, seine Pflicht ganz uneigennützig ausgeübt zu haben“. Das bedeutet, der Mensch kann nicht das Bewusstsein erlangen, sich allein durch das moralische Gesetz zur Handlung bestimmt zu haben.

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IV. Schlussfolgerungen

tigkeit. Das Selbst erkennen zu wollen, bedeutet, es vielmehr zu gestalten; es praktisch (und materiell) hervorzubringen. Natürlich ist auch die Selbst­ gestaltung nur relativ frei. Sie ist in ein historisch-kulturelles Möglichkeits­ feld eingebettet, das in der abendländischen Kultur wesentlich von einem Identitätsimperativ geprägt ist. Die relative ethische Freiheit kann sich nur durch eine fortwährende Ablösung von sich und den damit verbun­ denen gesellschaftlichen Maßstäben verwirklichen. Der Maßstab für die Selbstveränderung ist gerade keine objektivierbare Erfahrung, sondern die Quantität an körperlicher Lust. Allerdings ist auch Lust gesellschaftlich vermittelt, wodurch eine dauerhafte Bindung oder Hierarchisierung der Lüste nur probeweisen Charakter haben kann. Es gilt, immer wieder an­ dere und neue Möglichkeiten der Lustempfindung zu finden, die gerade mit den sozialen Konventionen brechen sollen. Dieser Prozess kann kein endgültiges Ziel erreichen, sondern muss ins Unbestimmte fortgehen. 3) Recht/Macht: Das Selbstverhältnis, das in der Ethik thematisiert wird, ist für beide Denker in einen Kontext unvermeidbarer Sozialität eingebet­ tet. Die Sozialbeziehungen sind deswegen problematisch, weil das Han­ deln der anderen zumindest mittelbar auf unser eigenes Handeln einwirkt und so unsere Freiheit potenziell gefährdet. Die Art und Weise, in der die Dimension der Intersubjektivität allerdings betrachtet wird, ist erneut gegensätzlich angelegt. a) Ausgangspunkt der Überlegungen Kants ist die Frage nach der Legiti­ mität der Verpflichtung anderer bzw. der Legitimität des Zwangs durch das Recht. Die Legitimität des Rechts versucht Kant vor dem Hintergrund der Unbestimmtheit des Handelns zu entwickeln. Die Unbestimmtheit auf gesellschaftlicher Ebene erfasst Kant im Gedankenexperiment des Na­ turzustandes. Der Naturzustand ist die Idee eines vorstaatlichen Zustan­ des, in dem zwar die Vernunftprinzipien gelten, die das freiheitliche Zusammenleben der Menschen garantieren sollen, diese Vernunftprinzipi­ en allerdings nicht mit der notwendigen Bestimmtheit ausgestattet sind: Einerseits bleibt die Durchsetzung provisorisch, solange sie nicht durch einen kollektiven und damit unüberwindbaren Zwang mit Notwendigkeit durchgesetzt werden können. Andererseits tritt einem im vorstaatlichen Zustand der Wille des anderen, der rechtmäßig zu einer Handlung zwingt, nicht als eigene, sondern als fremde Vernunft gegenüber. Wir erfahren uns solange im legitimen Zwang des anderen nicht als selbstbestimmt, solange wir uns nicht als Teil eines einheitlichen kollektiven Willens begreifen können. Wichtig ist allerdings zu betonen, dass selbst im Naturzustand das Defizit an äußerer Freiheit der Handlungen unsere Willensfreiheit als solche nicht tangiert. Fremdzwang ist für Kant nämlich stets nur vermit­

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1. Vergleich: (Selbst-)bestimmte und unbestimmte Freiheit

telt durch Selbstzwang realisierbar. Selbstzwang kann aber nicht extern erzwungen werden. Von dieser Unbestimmtheit des Naturzustandes ausgehend versucht Kant die (Selbst-) Bestimmtheit des rechtlichen Zustandes zu rechtfertigen – und, wie sich gleich zeigen wird, nicht die Wirklichkeit, sondern die reale Möglichkeit der Selbstbestimmung. Analog zum moralischen Gesetz in Bezug auf den Zweck soll das Rechtsprinzip die äußeren Handlungen der einzelnen Individuen so miteinander vereinbar machen, dass sie zu einem einheitlichen kollektiven Willen zusammenstimmen können. Unter dieser Bedingung kann kollektiver Zwang als Selbstzwang verstanden werden. Denn es darf nur dasjenige Gesetz werden, zu dem jeder Bürger seine Zustimmung hätte geben können (auch wenn er es faktisch nicht getan hat). Es ist sowohl für den Souverän als auch für den Untertan in einer staatlichen Ordnung das Erkenntnisprinzip des gerechten Handelns. Das Rechtsprinzip bietet somit einen Maßstab, die Eingriffe anderer in meine Handlungsfreiheit durch Wahrung des Freiheitsbereichs aller zu rechtferti­ gen; allerdings ist umgekehrt auch mein mit dem Freiheitsbereich aller vereinbarer Möglichkeitsraum des Handelns vor illegitimen Eingriffen ge­ schützt, weil er staatlich erzwingbar ist. Die Möglichkeit dieses kollektiven Zwangs und die Vereinigung in einem kollektiven Willen ist überhaupt die gedankliche Bedingung, unter der sich die äußere Handlungsfreiheit aller entfalten kann. Daher schließt Kant Widerstand prinzipiell aus – selbst dann, wenn die Wirklichkeit der staatlichen Zwangsausübung nicht dem Rechtsprinzip entspricht. b) Bei Foucault ist Kants Lösung wiederum das Ausgangsproblem: die Bestimmtheit unseres Handelns. Er fragt nicht danach, was den Eingriff der anderen in unser Handeln rechtmäßig machen könnte. Vielmehr erscheint ihm jegliches Handeln, das auf unser Handeln einwirkt als prinzipiell ille­ gitim; und zwar deshalb, weil er vorab die Möglichkeit eines notwendigen Maßstabs negiert, der dieses Einwirken legitimieren könnte. Im Gegensatz zu Kant wird das Einwirken daher nicht in der Kategorie des Rechts, son­ dern der Macht erfasst. Die Machtverhältnisse in rechtlichen Kategorien beschreiben zu wollen, verschleiere gerade deren wirkliche Funktionswei­ se. Statt nach einem Erkenntnisprinzip der Rechtmäßigkeit zu fragen, geht man von der wirklichen Praxis der Formung des Möglichkeitsbereichs der Handlung aus. Problematisch ist dabei weniger die Bestimmtheit des Handelns in Machtbeziehungen als solche. Schließlich hält Foucault eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse für unmöglich. Denn das würde eine Form von Sozialität erfordern, bei der niemand Einfluss auf das Handeln des anderen ausübt. Vielmehr kritisiert Foucault den notwendigen Status,

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IV. Schlussfolgerungen

den die Macht durch ihre Legitimität zugesprochen bekommt: Wir müs­ sen bzw. mussten notwendig so und nicht anders handeln. Die Überführung der notwendigen Bestimmtheit des Handelns in einen Zustand der relativen Unbestimmtheit ist das Ziel der Machtanalytik. Da der Begriffsumfang von Macht jegliches Einwirken auf unser Handeln um­ fasst, kann Foucault behaupten, dass überall Macht präsent ist. Da Macht und Freiheit keine absoluten begrifflichen Gegensätze darstellen können, muss es überall auch Freiheit geben: wir können bzw. konnten stets so oder anders handeln. Diese bloße Möglichkeit zum Anders-handeln-Kön­ nen scheint analytisch in unseren Handlungsbegriff eingelassen zu sein. Foucault beschreibt sie als Widerstand, als ein Anders-handeln als man soll. Die Problematik ist hierbei, dass unter Vernachlässigung normativer Kriterien der Widerstand selbst sich wiederum bloß als Einwirkung auf den anderen beschreiben lässt. Er ist also bloße Gegen-Macht. Macht und Gegenmacht stehen unvermittelt nebeneinander. Die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich so nur als fortwährende Konfliktbeziehungen be­ schreiben. Ziel ist eine Gesellschaftsordnung, die einen möglichst hohen Grad an Unbestimmtheit aufweist; in der die Machtverhältnisse fluide und somit jederzeit umkehrbar sind und sogar verändert werden müssen. Schließlich besteht die Freiheit gerade in der fortwährenden Überwindung bestehender Normen. Statt der bei Kant als Idee gedachten Verständigung zu einem gemeinsamen Willen zeichnet sich (wenn auch unscharf) als Leitideal eine agonale Gesellschaftsordnung ab.1559 Dass der Konflikt sich jedoch nur als gewaltfreier „Agonismus“ und nicht als gewalttätiger „Anta­ gonismus“ manifestiert, kann die Theorie selbst nicht mehr begründen.1560 *

1559 Dem scheint auch Welsch 2008, S. 246f zuzustimmen: „Eine postmoderne Politik […] tritt weder für das eine Partikulare noch für das eine Universale ein, sondern bemüht sich um die Entfaltung vieler partikularer Möglichkeiten, von denen sie weiß, daß sie universal konfligieren. Das ist schließlich der gravierende Unterschied gegenüber Kant. Wenn es diesem um die ‚Freiheit für jeden‘ zu tun war, ‚seine Glückseligkeit selbst, worin er sie immer setzen mag, zu besorgen, nur daß er anderer ihrer gleich rechtmäßigen Freiheit nicht Abbruch tut‘, so erkennt die Postmoderne eben dies als eine strukturell un­ einlösbare Forderung. Nur solange man von einem Konkordanzmodell der Lebensentwürfe ausgehen konnte, ließ sich annehmen, diese könnten reali­ siert werden, ohne einander ‚Abbruch zu tun‘. Postmodern aber sieht man die Heterogenität und damit die Unvermeidlichkeit des ‚Abbruchs‘.“ Dass Unvermeidlichkeit des Abbruchs allerdings nichts anderes als fortwährender Konflikt bedeuten kann, bleibt hier unerwähnt. 1560 Diese Begrifflichkeiten finden sich explizit in DE IV, S. 287.

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1. Vergleich: (Selbst-)bestimmte und unbestimmte Freiheit

Man kann also konstatieren: Die Denkbewegung beider Philosophen entwickelt sich gegensätzlich. Das betrifft in allgemeinster Form ihre logi­ sche Struktur – von der Unbestimmtheit zur Bestimmtheit und umgekehrt – und die daraus abgeleiteten Konkretisierungen. Auf der theoretischen Ebene wird Freiheit als Selbstbestimmung (Kant) und Unbestimmtheit (Foucault) gedacht. Auf der praktisch-moralischen Ebene entfaltet sich bei Kant die Selbstbestimmung als Befolgung des moralischen Gesetzes, durch das sich der Mensch als vernünftiges Wesen zeigt, dessen Begehren eine Einheit bildet. Bei Foucault erscheint die Unbestimmtheit als fortwähren­ de Selbsttransformation und Nicht-Identität des Ichs, das an keinem allge­ meinen Maßstab festhalten kann. Schließlich strebt Kant eine dauerhafte gesellschaftliche Ordnung unter Ausschluss von Widerstand an, während Foucault den dauerhaften Widerstand unter dem Ausschluss einer notwen­ digen gesellschaftlichen Ordnung zum Ziel erhebt. Allerdings muss für beide Denker die angestrebte Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit nur unerreichbares Ziel (regulative Idee im Kantischen Sinne) bleiben: Auf der theoretischen Ebene kann es keine Erkenntnis der Freiheit geben (Kant), weil Freiheit der empirischen Erkenntnis nicht zugänglich ist; keine Unbestimmtheit des Begriffs der Freiheit geben (Fou­ cault), weil sich der Möglichkeitsraum zur Bestimmtheit schließt, sobald Denken verstehbar und Sprechen mitteilbar werden soll. Auf der Ebene der Moral ist zwar das moralische Gesetz durch praktische Erkenntnis zu­ gänglich, ob der Wille allerdings wirklich alleinig vom moralischen Gesetz geleitet wird, entzieht sich der menschlichen Erkenntnis (Kant). Ebenso erweist sich das Selbstverhältnis bei Foucault immer als ein gesellschaftlich bestimmtes, das stets immer nur wieder in eine andere Form überführt werden kann, ohne jedoch das Ziel der absoluten Unbestimmtheit je erreichen zu können. Schließlich bleibt bei Kant die Wirklichkeit des kollektiven Willens, als dessen Teil sich jeder Bürger verstehen können muss, unerreichbar, weil die Willensbildung nicht an einen wirklichen ge­ samtgesellschaftlichen Prozess gebunden ist. Der Foucaultsche Widerstand kann sich immer nur perpetuieren und muss sich, wenn er konsequent bleiben will, immer wieder gegen sich selbst wenden. Beide Denkbewegungen erweisen sich damit als defizitär: Anspruch und Wirklichkeit fallen im einen wie im anderen Fall auseinander. Während Kants Denken an der Wirklichkeit seiner Praxis scheitert, stellt Foucault eine Praxis vor, deren es an Begründung mangelt.

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IV. Schlussfolgerungen

2. Moderne und postmoderne Freiheit Wir haben Moderne und Postmoderne nicht als abgegrenzte Epochen aufgefasst, sondern als entgegengesetzte Art und Weise mit Problemen philosophisch umzugehen. Daher kann modernes und postmodernes Den­ ken auch nebeneinander existieren. Welche Konsequenzen sich aus den unterschiedlichen Arten des Philosophierens ergeben, haben wir anhand eines der lebensweltlichen Zentralbegriffe – der Freiheit – näher in den Werken Kants und Foucaults erörtert. Das Erkenntnisinteresse der Unter­ suchung speist sich allerdings nicht bloß aus der Bedeutung des Konzepts der Freiheit aus der Innensicht beider philosophischer Systeme. Vielmehr sollte dadurch etwas Allgemeines erfasst werden: die moderne und post­ moderne Vorstellung von Freiheit. Diese wollen wir vor dem Hintergrund unserer bisherigen Ergebnisse im Folgenden kurz skizzieren. Allerdings gilt es zu berücksichtigen, dass trotz der paradigmatischen Stellung, die Kant und Foucault für die moderne und postmoderne Philosophie zweifel­ los einnehmen, die folgenden Überlegungen nur eine beschränkte Verall­ gemeinerbarkeit beanspruchen können. Moderne Freiheit: Die moderne Vorstellung der Freiheit, wie wir sie aus­ gehend von Kant rekonstruiert haben, liegt wesentlich in der Bestimmtheit: der Bestimmtheit des Selbst oder der Selbstgesetzgebung (Autonomie). – Die Selbstbestimmtheit scheint nun allerdings auf den ersten Blick mit der Bestimmtheit der Natur, der Moral und der Gesellschaft in Wider­ spruch zu stehen. Diesen Widerspruch will die Moderne auflösen. – Die Auflösung besteht darin, dass zwischen den externen Gesetzen und Regeln (Natur, Moral und Gesellschaft) und dem, was wir uns selbst als Gesetz auferlegen (Autonomie) kein grundsätzlicher Bruch besteht. Vielmehr sind die Gesetze der Natur, der Moral und der Gesellschaft immer vom Menschen her zu denken. – Der Mensch kann sich diese Gesetze als seine aneignen, sofern er sich auf das besinnt, was ihn von der restlichen Natur unterscheidet – die Vernunft. Die Vernunft ist sein eigentliches Selbst. Sie ist das, was ihm eigen ist. Der Mensch muss sich seiner Vernunft nur bewusst werden, weil er bereits (zumindest prinzipiell) vernünftig ist. In dieser Reflexion auf die eigene Vernunft kommen Freiheit, im Sinne von Selbstbestimmung, und Notwendigkeit überein, weil sich der Mensch als Urheber von Notwendigkeit überhaupt verstehen kann. – Freiheit ist also wesentlich als Verhältnis zur Natur (Erkenntnis), zu sich (Moral) und zum anderen (Recht) im Denken zu verstehen. So können wir zwar unsere psychischen Dispositionen sowie die sozialen

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2. Moderne und postmoderne Freiheit

Umstände, in denen wir leben, nicht oder nur bedingt ändern. Aber wir haben immer die Freiheit, uns zu diesen Umständen zu verhalten. Man kann die philosophische Moderne folglich als Versuch deuten, Frei­ heit und Notwendigkeit miteinander zu versöhnen, indem Notwendigkeit als gedachtes Weltverhältnis verstanden wird. Postmoderne Freiheit: Die postmoderne Konzeption der Freiheit, die wir uns über das Werk von Foucault erschlossen haben, lässt sich als Un­ bestimmtheit charakterisieren. Unbestimmtheit wird als unabschließbarer Möglichkeitsraum verstanden. – Auch für die Postmoderne tritt dem Menschen die Welt als bestimm­ te entgegen. Der Anspruch auf Unbestimmtheit (Freiheit) und die Be­ stimmtheit der Welt bleibt als unüberbrückbares Spannungsverhältnis bestehen. – Dieses Spannungsverhältnis wird ebenso wie in der Moderne vom Menschen her gedacht. Allerdings tritt der Mensch hier nicht als Ver­ nunftwesen in den Blick, sondern als vergesellschaftetes Wesen, das in einer unweigerlichen Abhängigkeit zu anderen steht. – Der Mensch erfährt die Gesetze und Regeln der Natur, der Moral und der Gesellschaft stets als etwas Fremdes. Er kann sie nicht als etwas Eigenes erfassen. Denn die Rationalität, die er sich allgemein denkt, ist stets nur Ausdruck partikularer gesellschaftlicher Umstände. Sie ist damit nicht der Ausdruck des Eigenen, sondern des anderen. Für die Postmoderne gibt es kein eigentliches Selbst des Menschen, das man erkennen könnte. – Da es kein Eigenes des Menschen gibt, bleibt zur Einlösung der Frei­ heit, nur die Auflösung des anderen. Freiheit kann es nur in der fort­ währenden Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse und durch diese vermittelt in der Abkehr von sich selbst geben. Freiheit ist daher kein endgültiges geistiges Verhältnis, sondern eine nie abschließbare Praxis der Veränderung der äußeren Umstände und darüber vermittelt auch seiner selbst. Freiheit und Notwendigkeit stehen sich in der Postmoderne unversöhnt gegenüber. Was bleibt ist – in den Worten Foucaults – die ‚endlose Arbeit an der Freiheit‘, die immer nur das Auflösen kann, was schon besteht. Bei genauerem Blick zeigt sich hinter dem begrifflichen Bezug auf die Freiheit, den Moderne und Postmoderne teilen, eine fundamentale Dif­ ferenz der zugrunde gelegten Sache. Im Gegensatz zur Perspektive der Postmoderne erweist sich diese Differenz allerdings nicht als beliebig. Ein Gegenstand kann nur dann durch seine historische Relativität als unbestimmt erscheinen, wenn man den argumentativen Dialog, aus dem

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IV. Schlussfolgerungen

heraus ein spezifisches Denken entstanden ist, vernachlässigt. Dass sich die moderne und postmoderne Vorstellung von Freiheit antithetisch zueinan­ der verhalten, kann gerade als Beleg gegen die Beliebigkeit des Denkens angeführt werden. Beachtet man diesen argumentativen Zusammenhang, muss sich allerdings auch die Frontstellung beider Denkrichtungen zuein­ ander relativieren. Denn auch die Moderne selbst ist ja wiederum aus einem ebensolchen Dialog entstanden: Sie versteht sich als Überwindung der Antike bzw. des Mittelalters und deren transzendente Maßstäbe. Die Moderne will „ihre Normativität aus sich selber schöpfen“1561 und findet den Quell ihrer Normativität in der Immanenz des Subjekts. Das Subjekt wird dabei als ein Besonderes gedacht, das durch seine Vernunft Anteil an der Bestimmung des allgemein Menschlichen hat. Gerade dieses Allge­ meine versichert dem Besonderen seine Individualität und Freiheit. Die Postmoderne trennt das Subjekt vom Allgemeinen ab und macht es da­ mit zum Singulären – eine Besonderheit, die nicht auf ein Allgemeines reduziert werden kann und nicht die konkrete Manifestation von etwas Allgemeinen darstellt. Dadurch ist das Subjekt zurückgeworfen auf sein körperliches und gesellschaftliches Dasein, das man im Begriff der Kultur zu fassen versucht. Von dieser Warte aus erscheint die Postmoderne trotz ihrer antithetischen Stellung zur Moderne, die wir geltend gemacht haben, als deren Radikalisierung. Sie ist der Übergang vom immanent Allgemei­ nen zum immanent Singulären. Die zeitgenössischen Sozialwissenschaften knüpfen an diese Entwick­ lung an: Einerseits ist zunehmend die Tendenz feststellbar, dass dem Sin­ gulären gegenüber dem Individuellen als Analysekategorie der Vorrang eingeräumt wird.1562 Die Untersuchungsgegenstände sollen in ihrer ma­ teriell-kulturellen Besonderheit als gesellschaftlich hervorgebracht erfasst werden. Andererseits werden immer mehr Stimmen laut, welche die zunehmende normative Ausrichtung der Sozialwissenschaften beklagen. Statt der Erforschung der sozialen Wirklichkeit stehe deren Veränderung im Vordergrund. Ansatzpunkt sind hierbei insbesondere Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse.1563 Beide Aspekte – Singularität und Norma­ tivität – kann man vor dem Hintergrund unserer Analyse als zwei Seiten

1561 Habermas 1986, S. 16. 1562 Exemplarisch Reckwitz 2017a, der das Analysekonzept der Singularität auch begrifflich als solches erfasst. 1563 Es sei beispielsweise auf die gegenwärtige Lage der Sozialwissenschaften in Frankreich verwiesen. Hier prallen derzeit die unterschiedlichen Wissen­ schaftsverständnisse in besonderer Intensität aufeinander: Altwegg 2021.

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2. Moderne und postmoderne Freiheit

derselben Medaille auffassen: die zunehmende Dominanz eines postmo­ dernen Wissenschaftsverständnisses, das im Versuch, einen Gegenstand begrifflich zu erfassen, bereits eine unzulässige Reduktion des Singulären und damit einen Machteffekt erblickt – und, das umgekehrt die Auflösung von Begriffen und Gegenständen durch historisch-kulturelle Relativierung als Akt der Befreiung begreift. Wie wir gesehen haben, scheitert ein solches Denken allerdings daran, den normativen Anspruch, den es erhebt, argu­ mentativ einzulösen.

355

V. Siglen

Kant

Kants Schriften werden mit Ausnahme der Kritik der reinen Vernunft (KrV) gemäß den Band- und Seitenangaben der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben Akademie-Ausgabe (AA), Berlin, 1900ff. zitiert. Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der A- bzw. B-Auflage zitiert. Die jeweils verwendete Textausgabe wird im Literaturverzeichnis gesondert aufgeführt. Anth VII GMS IV GTP VIII KdU V KpV V KrV Log IX Prol IV RGV VI RL VI SdF VII TL VI ZeF VIII

Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, S. 117– 333. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 385–463. Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, AA VIII, S. 273–313. Kritik der Urteilskraft, AA V, S. 165–485. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, S. 1–164. Kritik der reinen Vernunft. Logik. Ein Handbuch zur Vorlesung, AA IX, S. 1–150. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, AA IV, S. 253–383. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, S. 1–202. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, AA VI, S. 203–372. Der Streit der Fakultäten, AA VII, S. 1–115. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, AA VI, S. 373–493. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, AA VIII, S. 341–386.

Foucault

Foucaults Werke werden mit Ausnahme von Die Geburt der Klinik (GdK) und Die Ordnung des Diskurses (ODis) gemäß den Seitenangaben des Suhr­ kamp Verlages zitiert. Grundlage der Zitation von GdK und ODis ist die Ausgabe des Fischer Verlags. Foucaults Aufsätze, Interviews und Vorträge

357

V. Siglen

werden nach Band- und Seitenangaben der Textsammlung Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits (DE) angegeben. AW DE I-IV DE I DE II DE III DE IV EKA GBP GdK HS MP MW OD ODis RdL RSA SG STB SW SW1

358

Archäologie des Wissens (frz. L’Archéologie du savoir). Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Band I: 1954–1968. Band II: 1970–1975. Band III: 1976–1979. Band IV: 1979–1988. Einführung in Kants Anthropologie (frz. Introduction à l’Anthropologie de Kant). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementa­ lität II. Vorlesung am Collège de France 1978–1979 (frz. Naissance de la biopolitique). Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (frz. Naissance de la clinique). Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France 1981/82 (frz. L’Herméneutique du sujet). Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973–1974 (frz. Le Pouvoir psychiatrique). Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84 (frz. Le Courage de la vérité). Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwis­ senschaften (frz. Les Mots et les choses). Die Ordnung des Diskurses (frz. L’Ordre du discours). Die Regierung der Lebenden. Vorlesung am Collège de France 1979–1980 (frz. Du Gouvernement des vivants). Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83 (frz. Le Gouvernement de soi et des autres). Die Strafgesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1972–1973 (frz. La Société punitive). Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gou­ vernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1977–1978 (frz. Sécurité, territoire et population). Subjektivität und Wahrheit. Vorlesung am Collège de France 1980–1981 (frz. Subjectivité et vérité). Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (frz. La Volonté de savoir).

V. Siglen

SW2 SW3 ÜS ÜWW VG WG WK

Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2 (frz. L’Usage des plaisirs). Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3 (frz. Le Sou­ ci de soi). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (frz. Surveiller et punir). Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970–1971 (frz. Leçon sur la volonté de savoir). In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975–1976 (frz. Il faut défendre la société). Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (frz. Histoire de la folie). Was ist Kritik? (frz. Qu’est-ce que la critique?).

Nietzsche

Nietzsches Schriften werden gemäß den Band- und Seitenangaben der Kritischen Studienausgabe (KSA), München: dtv zitiert. KSA 4 KSA 5

Also sprach Zarathustra. Jenseits von Gut und Böse, S. 9–244. Zur Genealogie der Moral, S. 245–412.

Heidegger

Heideggers Schriften werden gemäß den Band- und Seitenangaben der Gesamtausgabe (GA), Frankfurt am Main: Klostermann zitiert. GA 1 GA 3

Frühe Schriften. Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie.

359

VI. Literaturverzeichnis

1. Primärliteratur Foucault, Michel 1978: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve. Foucault, Michel 1982: The Subject and Power, in: Critical Inquiry, 8 (4), S. 777–795. Foucault, Michel 1988: Power, Moral Values, and the Intellectual, in: History of the Present (4), S. 1–2. Foucault, Michel 1992: Was ist Kritik?, Berlin: Merve. Foucault, Michel 1994: Autobiographie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 42 (4), S. 699–702. Foucault, Michel 1996: Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia, Berlin: Merve. Foucault, Michel 2001: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975–76, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2002: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band II: 1970–1975. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2003: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970, Frankfurt am Main: Fischer. Foucault, Michel 2003: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band III: 1976–1979. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2004: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Vorlesungen am Collège de France 1977–1978, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2004: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopoli­ tik. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2004: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82), Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2005: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band IV: 1980–1988. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2010: Einführung in Kants Anthropologie, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel 2011: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main: Fischer. Foucault, Michel 2012: Der Mut zur Wahrheit. Vorlesung am Collège de France 1983/84, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel 2012: Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, Berlin: Suhrkamp.

361

VI. Literaturverzeichnis Foucault, Michel 2012: Über den Willen zum Wissen. Vorlesungen am Collège de France 1970/71, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel 2014: Die Regierung der Lebenden. Vorlesungen am Collège de France 1979–1980, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel 2014: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band I: 1954–1969. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2015: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2015: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973–1974, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2015: Die Strafgesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1972– 1973, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel 2016: About the beginning of the hermeneutics of the self. Lectures at Dartmouth College 1980, Chicago: The Univ. of Chicago Press. Foucault, Michel 2016: Subjektivität und Wahrheit. Vorlesung am Collège de France 1980–1981, Berlin: Suhrkamp. Foucault, Michel 2017: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2017: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2018: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2018: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissen­ schaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, Michel 2018: Entretien Inedit avec Michel Foucault 1979, in: Foucault Stu­ dies, 25 (2), S. 351–378. Foucault, Michel 2019: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frank­ furt am Main: Suhrkamp. Kant, Immanuel 1968: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Gesammelte Schrif­ ten. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, VII, Berlin: Reimer, S. 117–333. Kant, Immanuel 1968: Der Streit der Facultäten, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, VII, Berlin: Reimer, S. 1–115. Kant, Immanuel 1968: Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren erwie­ sen, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, II, Berlin: Reimer, S. 45–62. Kant, Immanuel 1968: Handschriftlicher Nachlaß. Metaphysik. Zweiter Teil, in: Ge­ sammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, XVIII, Berlin: Reimer. Kant, Immanuel 1968: Handschriftlicher Nachlaß. Metaphysik. Erster Teil, in: Gesam­ melte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, XVIII, Berlin: Reimer. Kant, Immanuel 1968: Logik. Ein Handbuch zur Vorlesung, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, IX, Berlin: Reimer, S. 1–150.

362

1. Primärliteratur Kant, Immanuel 1968: Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik, in: Gesam­ melte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, XX, Berlin: Reimer, S. 333–351. Kant, Immanuel 1968: Metaphysik L1, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, XXVIII, Berlin: Reimer, S. 167–350. Kant, Immanuel 1968: Metaphysik L2, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, XXVIII, Berlin: Reimer, S. 525–610. Kant, Immanuel 1968: Moral Mrongovius, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußi­ schen Akademie der Wissenschaften, XXVII, Berlin: Reimer, S. 1395–1581. Kant, Immanuel 1968: Moral Mrongovius II, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, XXIX, Berlin: Reimer, S. 595–642. Kant, Immanuel 1968: Naturrecht Feyerabend, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, XXVII, Berlin: Reimer, S. 1317–1394. Kant, Immanuel 1968: Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova diluci­ datio [dt. Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnisse], in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, I, Berlin: Reimer, S. 385–416. Kant, Immanuel 1968: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wis­ senschaft wird auftreten können, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, IV, Berlin: Reimer. Kant, Immanuel 1968: Vorarbeiten zu Die Metaphysik der Sitten, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, XXIII, Berlin: Rei­ mer, S. 371–420. Kant, Immanuel 1968: Vorlesung über Moralphilosophie. Metaphysik der Sitten Vigi­ lantius, in: Gesammelte Schriften. Hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaf­ ten, XXVII, Berlin: Reimer, S. 479–732. Kant, Immanuel 1998: Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. Jens Timmermann, Ham­ burg: Meiner. Kant, Immanuel 2003: Kritik der praktischen Vernunft. Hg. v. Horst D. Brandt und Heiner F. Klemme, Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel 2009: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Heiner F. Klemme, Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel 2016: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. v. Bernd Kraft und Heiner F. Klemme, Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel 2017: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Hg. v. Bettina Stangneth, Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel 2017: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Hg. v. Bernd Ludwig, Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel 2017: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Hamburg: Meiner.

363

VI. Literaturverzeichnis Kant, Immanuel 2017: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Hamburg: Meiner. Kant, Immanuel 2018: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Hg. v. Bernd Ludwig, Hamburg: Meiner.

2. Sekundärliteratur Agamben, Giorgio 2008: Was ist ein Dispositiv?, Zürich: Diaphanes. Allais, Lucy 2004: Kant's One World: Interpreting 'Transcendental Idealism', in: British Journal for the History of Philosophy, 12 (4), S. 655–684. Allais, Lucy 2010: Transcendental Idealism and Metaphysics: Kant's Commitment to Things as They are in Themselves, in: Kant Yearbook, 2, S. 1–31. Allais, Lucy 2019: The Given in Theoretical and Practical Cognition. Intuition and the Moral Law, in: Palmquist, Stephen (Hg.) 2019: Kant on intuition. Western and Asian perspectives on transcendental idealism, New York: Routledge. Allen, Amy 2008: The politics of our selves. Power, autonomy, and gender in contem­ porary critical theory, New York: Columbia Univ. Press. Allison, Henry E. 1990: Kant's theory of freedom, Cambridge: Cambridge Univ. Press. Allison, Henry E. 1996: Idealism and freedom. Essays on Kant's theoretical and prac­ tical philosophy, Cambridge: Cambridge Univ. Press. Allison, Henry E. 2004: Kant’s Transcendental Idealism, New Haven: Yale Univ. Press. Allison, Henry E. 2011: Kant's groundwork for the metaphysics of morals. A commenta­ ry, Oxford: Oxford Univ. Press. Altwegg, Jürgen 2021: Herrschen und Strafen. Gezückte Messer, gewetzte Pamphlete: Frankreichs Intellektuelle im Streit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.06.2021, S. 11. Bachmann, Viktoria 2013: Der Grund des guten Lebens. Eine Untersuchung der para­ digmatischen Konzepte von Sokrates, Aristoteles und Kant, Hamburg: Meiner. Balke, Friedrich 2008: Episteme, in: Kammler, Clemens/Parr, Rolf/Schneider, Ul­ rich Johannes/Reinhardt-Becker, Elke (Hg.) 2008: Foucault Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart: Metzler, S. 246–249. Baum, Manfred 2013: Freiheit und Recht bei Kant, in: Bacin, Stefano/Ferrarin, Alfre­ do/La Rocca, Claudio/Ruffing, Margit (Hg.) 2013: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin: De Gruyter. Bauman, Zygmunt 2009: Postmoderne Ethik, Hamburg: Hamburger Ed. Beck, Lewis White 1985: Kants "Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar, München: Fink.

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2. Sekundärliteratur Beyme, Klaus von 1989: Postmoderne und politische Theorie, in: Politische Vierteljahres­ schrift, 30 (2), S. 209–229. Bieri, Peter 2013: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt am Main: Fischer. Boghossian, Paul Artin 2015: Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus, Berlin: Suhrkamp. Bojanowski, Jochen 2006: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitie­ rung, Berlin, New York: De Gruyter. Bojanowski, Jochen 2007: Kant und das Problem der Zurechenbarkeit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, 61 (2), S. 207–228. Bojanowski, Jochen 2012: Ist Kant ein Kompatibilist?, in: Brandhorst, Mario/Hah­ mann, Andree/Ludwig, Bernd (Hg.) 2012: Sind wir Bürger zweier Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus, Hamburg: Meiner, S. 59–76. Bojanowski, Jochen 2019: Können wir uns selbst gegenüber moralisch verpflichtet sein? (§§ 1–4), in: Höffe, Otfried (Hg.) 2019: Immanuel Kant: Metaphysische Anfangs­ gründe der Tugendlehre, Berlin: De Gruyter, S. 79–100. Brandhorst, Mario/Hahmann, Andree/Ludwig, Bernd 2012: Einleitung, in: Brand­ horst, Mario/Hahmann, Andree/Ludwig, Bernd (Hg.) 2012: Sind wir Bürger zwei­ er Welten? Freiheit und moralische Verantwortung im transzendentalen Idealismus, Hamburg: Meiner. Brieler, Ulrich 1998: Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln: Böhlau. Brieler, Ulrich 2019: Bruderschaft der Kritik: Adorno und Foucault, in: Bittlingmayer, Uwe H./Demirovic, Alex/Freytag, Tatjana (Hg.) 2019: Handbuch Kritische Theo­ rie, Wiesbaden: Springer, S. 507–537. Bublitz, Hannelore 1999: Foucaults Archäologie des kulturellen Unbewußten. Zum Wissensarchiv und Wissensbegehren moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main: Campus. Bublitz, Hannelore 2003a: Diskurs, Bielefeld: Transcript. Bublitz, Hannelore 2003b: Foucaults Genealogie der Moral und die Macht, in: Junge, Matthias (Hg.) 2003: Macht und Moral. Beiträge zur Dekonstruktion von Moral, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 101–118. Burggraf, Volker-Herbert 2003: Interessen und Imperative bei Kant, Univ. Diss: Bonn. Butler, Judith 2002: Was ist Kritik?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 50 (2), S. 249–266. Butler, Judith 2003: Noch einmal: Körper und Macht, in: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.) 2003: Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 52–70. Butler, Judith 2015a: Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschli­ chen, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Butler, Judith 2015b: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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