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German Pages 518 Year 2018
Mitteleuropa denken: Intellektuelle, Identitäten und Ideen
Mitteleuropa denken: Intellektuelle, Identitäten und Ideen Der Kulturraum Mitteleuropa im 20. und 21. Jahrhundert Herausgegeben von Walter Pape und Jiří Šubrt
Der Druck wurde mit Mitteln aus den Partnerschaftsfonds der Universität zu Köln gefördert.
ISBN 978-3-11-053501-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053600-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053508-2 Library of Congress Control Number: 2018960722 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Golden Terraces in Warshaw. Alex Potemkin / E+ / Getty images Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
IX
Walter Pape Einleitung: Mitteleuropa als Verlusterfahrung und Utopie
1
1 Formation einer mitteleuropäischen Kultur Norbert Nußbaum Der ‚mitteleuropäische‘ Charakter der Prager Residenzarchitektur 25 um 1500
2 Politische Geschichte: Mitteleuropäische Neuorientierungen im 20. Jahrhundert Miloš Havelka Tomáš Garrigue Masaryk: Ein mitteleuropäischer Europäer
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Manfred Alexander ‚Mitteleuropa‘ als politischer Begriff? Friedrich Naumanns Mitteleuropa und Tomáš G. Masaryks Das Neue 59 Europa. Der slavische Standpunkt im Vergleich Martin Jeřábek Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Österreich als selbständiger „zweiter deutscher Staat“ in Mitteleuropa in den Jahren 1932 – 1934 75 Miloš Havelka Václav Havel: Ein Mitteleuropäer mit „weltbürgerlicher Absicht“
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VI
Inhalt
3 Europäische Soziologie und Ideengeschichte in Mitteleuropa Werner Binder Karl Mannheim: Sociological Reflections on Intellectuals and the Crisis of Liberalism in Central Europe 105 Marek Skovajsa Crushed by History: Czechoslovak Sociologist Heinz Otto Ziegler Dušan Janák and Johana Wyss Ernest Gellner’s Habsburg Dilemma
119
137
Jaroslav Bican and Jan Coufal Bipolar Concept in the Work of Karel Kosík from the Point of Historical-Sociological Perspective 147 Dennis Smith Norbert Elias and André Breton: Surrealism, Shock and the Civilizing 159 Process Christoph Reinprecht und Nora Walch Zur Verortung von Otto Neurath im Feld der empirischen Soziologie
171
Jiří Pešek Julie Moscheles (1892 – 1956): Eine jüdische Geographin zwischen dem Prager 187 deutschen und tschechischen Milieu
4 Schriftsteller und Kultur(politik) Milan Tvrdík Max Brod – Zionismus und Kulturvermittlung
203
Štěpán Zbytovský Georg Mannheimer: Ein Mitteleuropäer zwischen Deutschjudentum, Zionismus und Tschechoslowakismus 223 Jörg Schulte Der hebräische Humanismus in Odessa und Warschau
245
VII
Inhalt
Lenka Anna Rovná Political Thinking of Karel Čapek: Between Czech and European Miroslav Paulíček National Character According to Ferdinand Peroutka
273
5 (Wert)Systeme: Sprach- und Literaturwissenschaft Karl-Heinz Göttert Deutsch als Brückensprache in Mitteleuropa Franz Thierfelders Bestandsaufnahme von 1938
287
Jiří Šubrt Eduard Goldstücker, Kafka, and Reform Communism
297
Csaba Szaló Ethical Commitments and Modes of Temporality in later Georg Lukács 309 Andrea Rebb Die „Verengerung der Seele“ Das Dämonische in Lukács’ Theorie des Romans
323
6 Mitteleuropäische Literatur: Textanalysen Manfred Weinberg Franz Kafka als Europäer
339
Claudia Liebrand Tertium semper datur Konstellationen des Hybriden in Franz Kafkas Die Sorge des Hausvaters 349 Jakub Mlynář Robert Musil and The Man Without Qualities On the Plurality of Identities in Contemporary Society
361
259
VIII
Inhalt
Matthias Bickenbach Robert Musils Kakanien und die Psychotechnik der Nationen als Identitätskonstruktion 373 Antje Arnold Das Drama von Flucht und Integration aus der Perspektive Mitteleuropas 391 Max Zweigs „Medea in Prag“ von 1949
7 Literatur und (mittel)europäische Identität Johann P. Arnason Elias Canetti and Franz Baermann Steiner: A Central European Parting of Minds 405 Christoph Steker Danilo Kiš und Mitteleuropa
431
Milka Car Miroslav Krležas Mitteleuropa? Liisa Steinby Kunderas Zentraleuropa
443
465
Renata Cornejo Jiří Gruša – ein mitteleuropäischer Denker, Sprach- und 487 Kulturvermittler Die Beiträgerinnen und Beiträger
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Vorwort „Die andere Hälfte Europas“ war vor dreiunddreißig Jahren Thema der Nr. 81 des Kursbuchs. Im ersten Beitrag machte György Dalos, der 2010 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2015 das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland erhielt, einen Vorschlag zu einer „Ostmitteleuropäischen Konföderation“, gebildet von einem „Bund freier und demokratischer Staaten“. Das Kursbuch schließt mit György Konráds – 1991 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2003 Großes Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland – oft zitiertem Essay „Mein Traum von Europa“, den er zunächst auf Mitteleuropa beschränkt: „Ja, es gibt noch einen Traum von Mitteleuropa. Er erfordert jedoch einige Bildung, historische Einsicht und philosophische Unvoreingenommenheit. Die Massenkulturen sind national. Der mitteleuropäische Traum ist kein massenkulturelles Phänomen, er ist romantisch und subversiv.“ Wenige Jahre später, nach den Ereignissen der Jahre 1989/1990 erlebte der Begriff ‚Mitteleuropa‘ dann auch eine Renaissance. 1984 benutzt Dalos die vor 1989 vorherrschende politische Begrifflichkeit ‚Ostmitteleuropa‘, Konrád spricht 1984 nicht nur von ‚Mitteleuropa‘, er spricht auch anders, geht vom Individuum, seiner Bildung und seinem historischen Wissen aus. 2013 dehnt Konrád in seinem neuen Essay Europa und die Nationalstaaten seinen mitteleuropäischen Traum auf ganz Europa aus: „Suchen wir aber eine Antwort auf die Frage, was Europa zusammenhält, dann sage ich, ohne zu zögern: seine symbolische Kultur, die Künste, das Schreiben und in diesem Rahmen die religiöse und weltliche Literatur Europas, die Jahrhunderte, Jahrtausende früher entstanden ist als das wirtschaftlich-politische Bündnis unseres Kontinents.“ Die Analyse, die Deutung, der ‚Wirklichkeitsbezug‘ und die Auswirkungen solcher ‚Träume‘ und Ideen Einzelner sowie die Frage nach einer kollektiven Identität der Mitteleuropäer standen 2016 im Mittelpunkt einer gemeinsamen Konferenz der Univerzita Karlova v Praze und der Universität zu Köln im Rahmen der Global Network Partnership; sie hat den vorliegenden Band angeregt. Es konnten darüber hinaus Beiträger auch aus anderen Ländern gewonnen werden, die das Themenspektrum der Soziologen, Historiker, Politikwissenschaftler, Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler erweitern. Die Prager Konferenz wurde von beiden Universitäten organisatorisch und finanziell unterstützt, Jiří Šubrt übernahm, unterstützt von Zuzana Hocková (Odbor zahraničních vztahů), die Organisation vor Ort. Der Rektor Tomáš Zima hatte die Schirmherrschaft für die Konferenz übernommen. Die Einrichtung des Bandes übernahm Walter Pape. https://doi.org/10.1515/9783110536003-001
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Vorwort
Im Tschechischen gibt es von fast allen Verben so genannte „Aspektpaare“: Der unvollendete Aspekt bezeichnet eine nicht abgeschlossene Handlung in ihrem Verlauf oder Wiederholung. Der vollendete Aspekt bezeichnet eine abgeschlossene Handlung, das Resultat, den Beginn oder einen Einzelfall. Der Schriftsteller Jiří Gruša, der an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität promovierte und der als erster tschechischer Botschafter in Deutschland nach der samtenen Revolution von 1989 in Erinnerung ist, hat einmal in Bezug auf diese grammatische Form gesagt: Es komme darin das „Noch-nicht-da-Seiende und das Nie-fertig-Erzählte als Substanz“ der tschechischen Sprache und damit der tschechischen Mentalität zum Ausdruck. Irgendwie muss das aber auch für die Deutschen gelten: In der Vorrede zum Atta Troll spottet Heine, es sei dem Kölner Dome „wie allen großen Werken der Deutschen“ gegangen: „er ward nicht fertig“. Oder: Goethe kommentierte seine Arbeit an der Iphigenie: „So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muß sie für fertig erklären, wenn man nach Zeit und Umständen das möglichste getan hat.“ Den vorliegenden Band Mitteleuropa denken: Intellektuelle, Identitäten und Ideen haben die Herausgeber durch die Veröffentlichung für fertig erklärt, obwohl es auch in Wissenschaft und Forschung (wie bei Intellektuellen, Identitäten und Ideen) nie Fertiges gibt, sondern immer nur Zwischenergebnisse. Und deshalb soll das Gespräch zwischen den Prager und den Kölner Wissenschaftlern und Studierenden sowie Gästen aus allen Ländern nicht aufhören, in dem Sinne, wie es beim Mitteleuropäer Hugo von Hofmannsthal heißt: „Durchs Reden kommt ja alles auf der Welt zustande.“ Nicht zuletzt Konferenzen. Und Bücher. Univerzita Karlova v Praze – Universität zu Köln, im September 2018 Jiří Šubrt und Walter Pape
Walter Pape
Einleitung: Mitteleuropa als Verlusterfahrung und Utopie 1 Vergebliche Warnung Ein Rezensent zweier wichtiger Werke zur avantgardistischen Kunst und Literatur Mitteleuropas¹ stellt fest: „‘Central Europe’ is so indefinite, so blurry, in its contexts of use that it corresponds to no meaning-conferring form of life.“ Und er warnt ironisch davor: „taking the risk of engaging with the Central Europe question and of accepting the conflicts of interpretation that necessarily arise within and about this framework.“² Im Grunde hatte schon Milan Kundera wie viele andere Mitteleuropäer vor jeder Art von exakten Grenzziehung gewarnt: „It would be senseless to try to draw its borders exactly. Central Europe is not a state: it is a culture or a fate. Its borders are imaginary and must be drawn and redrawn with each new historical situation.“³ Der vorliegende Band will deshalb keineswegs in die Debatten über Grenzen und Wesen Mitteleuropas einsteigen oder Partei ergreifen. Die Beiträger sind Historische Soziologen, Historiker, Politische Wissenschaftler, Kunsthistoriker, Literaturwissenschaftler aus Tschechien, Kroatien, Österreich, Großbritannien, Finnland, Australien und Deutschland und alle begreifen Mitteleuropa vornehmlich als besonderen Kulturraum. Diesen kennzeichnen wechselseitige Konflikte, kulturelle Interaktionen und Hybridität sowie unterschiedliche Traditionen, religiöse Orientierungen, nationale Interessen, Ideologien und Ideen. Das führte und führt zwar zu zahlreichen Kontroversen, Spannungen und Konflikten, schuf aber auch ein – auf seine Weise einzigartiges – intellektuell stimulierendes und kulturell inspirierendes Umfeld. Milan Kundera hat sicher Recht, wenn er zu Superlativen für das Mitteleuropa nach 1900 greift: „At the beginning of our century, Central Europe was, despite its political weakness, a great cultural center, perhaps the greatest.“⁴ Kulturelle Vielfalt (Sprache, Religion, Kunst, Literatur)
Und zwar Benson (ed.): Central European Avant-Gardes, ein Band der Essays und Manifeste enthält, sowie der Ausstellungskatalog Benson, Forgács (eds.): Between Worlds. A Sourcebook of Central European Avant Gardes. Tyrus Miller: Rethinking Central Europe, S. 561. Kundera: The Tragedy of Central Europe, S. 35. Siehe dazu auch Höhne: Mitteleuropa. Zur konzeptionellen Karriere eines kulturpolitischen Begriffs. Ebenda, S. 34. Siehe dazu auch den Beitrag von Liisa Steinby, S. 465 – 486. https://doi.org/10.1515/9783110536003-002
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Walter Pape
und ethnische Minderheiten wurden innerhalb der mitteleuropäischen Staaten bis in das frühe 20. Jahrhundert gesetzlich protegiert, zumindest jedoch als existenzberechtigt angesehen. Dieses Umfeld prägte und prägt noch immer viele Persönlichkeiten, Politiker, Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler und andere Repräsentanten der Kultur – und diese prägten wieder ihr Umfeld durch ihr politisches, gesellschaftliches, wissenschaftliches und künstlerisches Wirken. Und so unterscheidet sich der Fokus des Bandes, in dem Sie gerade lesen, von den meisten bisherigen Studien zu Mitteleuropa⁵: Er liegt auf solchen Persönlichkeiten, die als ‚hybride‘⁶ Grenzgänger den Kulturraum Mitteleuropa prägten, und auf den Ideen, kulturellen Formen und politischen Diskursen, die diesen umkreisen, beschreiben und hinterfragen; Ziel der einzelnen Beiträge wie des ganzen Bandes ist demnach nicht eine retrospektiv analytische Bestandsaufnahme der entstandenen interkulturelle Konflikte und Kämpfe, sondern vielmehr, an dem Wirken oder Werk einzelner Persönlichkeiten dieses intellektuelle Erbe und diesen Beitrag zur gemeinsamen europäischen Kultur bis in die heutige Gegenwart hinein zu verdeutlichen und zu aktualisieren.
2 Geophysik und deutsche Politik Am 6. August 2018 machte der Astronaut Alexander Gerst von der ISS aus Aufnahmen, twitterte und teilte die Aufnahmen der ESA: „Konnte eben die ersten Bilder von Mitteleuropa und Deutschland bei Tag machen, nach mehreren Wochen von Nacht-Überflügen. Schockierender Anblick. Alles vertrocknet und braun, was eigentlich grün sein sollte.“⁷ Es sind Bilder des geographischen Mitteleuropa, die Alexander Gerst getwitttert hat, Bilder, die aus der Ferne die drohende Klimakatastrophe deutlicher machen als aus der normalen Nähe der Betroffenen. Wichtig ist jedoch, dass der studierte Geophysiker und Vulkanologe
Siehe vor allem Le Rider: Mitteleuropa. Auf den Spuren eines Begriffs (1994); Plaschka et al. (Hrsg.): Mitteleuropa-Konzeptionen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1995); Höhne: Mitteleuropa. Zur konzeptionellen Karriere eines kulturpolitischen Begriffs (2000); Schmidt: Die Wiedergeburt der Mitte Europas. Politisches Denken jenseits von Ost und West (2001; mit drei Abschnitten zu Milan Kunderas, György Konráds und Václav Havels „Rekonstruktionen der Mitte Europas“); Schmitz (Hrsg.): Zwischeneuropa – Mitteleuropa: Sprache und Literatur in interkultureller Konstellation (2007); Fiala-Fürst (Hrsg.): Mitteleuropa: Kontakte und Kontroversen (2013). Zu einer kurzen Diskussion des schillernden Hybrid-Begriffs siehe den Beitrag von Claudia Liebrand in diesem Band S. 349 – 360, besonders 354– 356. Alexander Gerst: Verifizierter Account @Astro_Alex, 6. Aug. (Zugriff: 18. August 2018).
Einleitung: Mitteleuropa als Verlusterfahrung und Utopie
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Mitteleuropa und Deutschland trennt, entgegen heutigen politischen Trends in der Bundesrepublik und – wie wir sehen werden – in der EU.
Abb. 1: „Die Dürregebiete erstrecken sich von Polen über Tschechien und Deutschland“ – Bildquelle: ESA/NASA-A.Gerst
Es ist sicher Absicht, dass auf der offiziellen Homepage der Bundesregierung im Lead des Artikels steht: „Die Dürregebiete erstrecken sich von Polen über Tschechien und Deutschland.“⁸ So hat denn auch die deutsche promovierte Physikerin und Bundeskanzlerin seit 2015 nur in einer Regierungserklärung, der vom 28. Juni 2018, den Begriff ‚mitteleuropäisch‘ benutzt: Dort sprach sie in der üblichen Weise von den „ost- und mitteleuropäischen Verbündeten“⁹. In einer Pressekonferenz vom Juli 2018 mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán wird Mitteleuropa nur von diesem im militärischen Kontext angesprochen: „Zum einen gibt es ein Nato-Divisionskommando Mitteleuropa in Mitteleuropa Gerst: Dürre auf der Erde von ISS zu sehen – https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Arti kel/2018/08/2018 - 08 -15-gerst-duerre-erde.html?nn=393146 (Zugriff: 31.08. 2018 17:20). Zitate von den offiziellen Webseiten der Regierungen werden in den Anmerkungen mit der URL belegt. Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel, Datum: 28. Juni 2018, in Berlin vor dem Deutschen Bundestag (Protokoll des Deutschen Bundestages) – https://www.bundeskanzlerin. de/bkin-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzlerin-merkel-1140170 (Zugriff: 16.10. 2018 16:46).
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noch nicht.“¹⁰ Mit dem starken Verweis auf Mitteluropa weist er indirekt die Frage nach einer gemeinsamen europäischen Armee als „philosophische Frage“ zurück. Auch in der viel zitierten Pressekonferenz der Bundeskanzlerin von 31. August 2015, wo es um die Flüchtlingsströme durch Mitteleuropa geht, kommt der Begriff nicht vor, dafür aber Grundsätzliches zur „Eurozone“: „Ich habe ja schon vor Jahr und Tag darüber gesprochen, dass die Eurozone eine vertiefte Ausprägung braucht.“ Oder zu ihrem Land: „Deutschland ist ein starkes Land.“¹¹ In diesem ‚starken‘ Land kann es kein einheitliches Bild vom politischen oder geographischen Mitteleuropa oder vom oft synonym verwendeten ‚östlichen Europa‘ geben. In einer Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters vom Juni 2017 zur Tagung „Erinnerung bewahren – Zukunft gestalten. Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“¹² verwendet die Staatsministerin den Begriff „Deutsche“ nur in ethnischem Sinne, wobei die Zugehörigkeit zu einem Staat, einer Region indirekt unterschlagen wird, wenn schlicht von „deutscher Geschichte“ (ethnisch) die Rede ist, aber von „der Geschichte Polens“ (politisch) usf.: Wer ein Ohr hat für das, was Orte von der Vergangenheit erzählen, wird gerade in Mittel- und Osteuropa einen vielstimmigen Chor der Erinnerungen an das wechselvolle 20. Jahrhundert vernehmen. Hier liegen Orte der deutschen Geschichte, die gleichzeitig auch Orte der Geschichte Polens, Ungarns, Tschechiens, der baltischen Republiken oder auch der Nachfolgestaaten der Sowjetunion sind. […] Die Auseinandersetzung mit dem deutschen Kulturerbe in Mittel- und Osteuropa kann darüber hinaus auch helfen, nicht nur die Geschichte ganz Europas besser zu verstehen, sondern auch die Krisen und Konflikte, in deren Angesicht Europa sich heute neu bewähren muss.
Die begrifflich unscharfe Rede vom „einstigen Kulturraum Mitteleuropa“ und vom „geschärften Bewusstsein für den Wert des deutschen Erbes im östlichen Europa“ sowie von ganz „Europa als Kulturraum und Wertegemeinschaft“ vermischt die historisch wechselvollen politischen bzw. staatlichen Verfasstheiten ‚Deutsch-
Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán im Bundeskanzleramt – https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/ Pressekonferenzen/2018/07/2018-07-05-pk-merkel-orban.html (Zugriff: 03.09. 2018 10:50). Sommerpressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel; Thema: Aktuelle Themen der Innenund Außenpolitik – https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferen zen/2015/08/2015-08-31-pk-merkel.html (Zugriff: 02.09. 2018 15:59). Rede der Kulturstaatsministerin Monika Grütters zur Tagung „Erinnerung bewahren – Zukunft gestalten. Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“, Datum: 12. Juni 2017, Ort: Berlin – https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/rede-der-kulturstaatsministerin-mo nika-gruetters-zur-tagung-erinnerung-bewahren-zukunft-gestalten-kultur-und-geschichte-derdeutschen-im-oestlichen-europa-795734 (Zugriff: 16.10. 2018).
Einleitung: Mitteleuropa als Verlusterfahrung und Utopie
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lands‘. Doch eine vergleichbar vage Rede wäre in mitteleuropäischen Staaten kaum denkbar. Vergessen sind in der Rede eine ganze Reihe von ethnischen oder religiösen Gruppen: Denn Mitteleuropa „connects the cultural traditions of all those who inhabited Central Europe, including, but not limited to, ethnic Germans, Austrians, Hungarians, Poles, Czechs, Slovaks, Roma and Jews“¹³. Jaques Le Rider hatte bereits für die 1980er Jahre eine naive Weise des Umgangs mit dem Begriff Mitteleuropa gebrandmarkt, als es für die meisten publizistischen und politischen Debatten als ausgemacht galt, „daß Deutschland nicht nur ein Teil Mitteleuropas, sondern dessen kultureller, politischer und wirtschaftlicher Mittelpunkt sei.“¹⁴ Der ungarischen Regierung beispielsweise ist hingegen völlig klar, was Mitteleuropa war, ist und künftig sein soll, folgt man dem Premierminister Victor Orbán: Central Europe is a region which also has a special culture. It is different from Western Europe. Let us build it up, and gain recognition for it. In order that Central Europe can occupy the place in Europe that it deserves, it is worth clarifying a few tenets. I have formulated five tenets for the project of building up Central Europe.¹⁵
3 „An uncertain zone of small nations between Russia and Germany“ Unvergessen nicht nur im heutigen Mitteleuropa sind dabei die „deutschen Pläne zur europäischen Neuordnung“¹⁶, die zwischen den Weltkriegen von „deutschen Rechtsintellektuellen“ entwickelt wurden – so Jürgen Elvert¹⁷, der drei Autoren „konservativ-revolutionärer Neuordnungsvorschläge“ eigene Abschnitte widmet: Karl Hoffmann (1876 – 1935), Walther Vogel (1880 – 1938) und Max Hildebert Boehm (1891– 1968)¹⁸. Schon im zu Lebzeiten nicht veröffentlichen „geheimen zweiten Buch“ von Mein Kampf formulierte Hitler seine außenpolitischen Ziele, in Siehe den Beitrag von Dušan Janák und Johana Wyss: Ernest Gellner’s Habsburg Dilemma, in diesem Band S. 137– 145. Siehe auch Miller: Rethinking Central Europe. Le Rider: Mitteleuropa, S. 153. Prime Minister Viktor Orbán’s speech at the 29th Bálványos Summer Open University and Student Camp, 28 July 2018 – http://www.kormany.hu/en/the-prime-minister/the-prime-ministers-speeches/prime-minister-viktor-orban-s-speech-at-the-29th-balvanyos-summer-open-universi ty-and-student-camp (Zugriff: 03.09. 2018 21:46). Elvert: Mitteleuropa!. Ebenda, passim. Ebenda, S. 56 – 73; der Antisemit und ‚Volkstumspolitiker‘ erhielt 1956 das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland.
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denen die konservativen Revolutionäre ihre „Idee Mitteleuropa“ hätten wieder finden können: „Solange Deutschland als oberstes Ziel seiner Außenpolitik die Erhaltung der Freiheit und Unabhängigkeit unseres Volkes ansieht und diesem Volk Voraussetzung zum täglichen Leben sichern will, so lange wird sein außenpolitisches Denken von der Raumnot unseres Volkes bestimmt werden.“¹⁹ Die Erblast des Mitteleuropa-Konzepts der „Rechtsintellektuellen“ und vor allem der nationalsozialistischen Politik des „Neuen Europa“²⁰ überschatteten lange Zeit nach 1945 den Begriff: In Deutschland wird der Begriff „Mitteleuropa“ noch immer als politisch kontaminiert verstanden. Insbesondere im Zusammenhang mit den Staaten, die einst Objekt und Opfer reichsdeutscher Expansionspläne waren, dürfe der Begriff nicht wieder an die deutschen Untaten erinnern, so die immer wieder zu hörende Mahnung.²¹
Der britische Historiker Timothy Garton Ash bringt die Unterschiede des Mitteleuropakonzepts 1986 in seinem berühmten Essay „Does Central Europe Exist?“ auf den Punkt: In German-speaking lands, the very word „Mitteleuropa“ seemed to have died with Adolf Hitler, surviving only as a ghostly „Mitropa“ on the dining cars of the Deutsche Reichsbahn. Even in Austria, as ex-Chancellor Fred Sinowatz has remarked, „until ten years ago one was not permitted so much as to mention the word „Mitteleuropa.“ In Prague and Budapest the idea of Central Europe continued to be cherished between consenting adults in private, but from the public sphere it vanished as completely as it had in „the West“.²²
Und doch kommt das ‚politische Mitteleuropa‘ innerhalb der EU offensichtlich (aus diesen veralteten und verdrängten hegemonialen Gründen?) ohne die Bundesrepublik nicht aus – oder es ist genau gegen die von Ash angesprochenen Vorbehalte konzipiert. Während der von Bildern faszinierte Astronaut noch zwischen Deutschland und Mitteleuropa trennt, werden – allerdings unter „Regionalpolitik“ – auf der offiziellen Website der EU als zu den „förderfähigen Gebieten [Hervorhebung von mir]“ Mitteleuropas alphabetisch aufgezählt: „Austria, Croatia, Czech Republic, Germany [mit der Nennung von 7 östlichen Bundesländern], Hitler: Das Geheime Zweite Buch, S. 216 (https://archive.org/stream/HitlerAdolf-DasGeheime ZweiteBuch/HitlerAdolf-DasGeheimeZweiteBuch1928146S.Text_djvu.txt – Zugriff: 02.09. 2018 21:36). Vgl. auch Greiner: Der „Mitteleuropa“-Plan und das „Neue Europa“ der Nationalsozialisten in der englischen und amerikanischen Tagespresse. Schuch: Plädoyer für Mitteleuropa. OstOstmittel – MOE?, S. 117. Ash: Does Central Europe Exist?, S. 45. Zum deutschen Mitteleuropa-Begriff siehe auch Meyer: Mitteleuropa in German Thought and Action 1815 – 1945.
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Hungary, Italy (Nord ovest), Poland, Slovakia, Slovenia“ oder – auf deutsch (und Deutschland zuerst) auf der bayrischen Web-Seite Europäischer Fonds für regionale Entwicklung – „Teile Deutschlands (Baden-Württemberg, Bayern, Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern), Teile Italiens, Kroatien, Österreich, die Slowakische Republik, Slowenien, Polen, die Tschechische Republik und Ungarn“²³. Dass die ganze östliche Hälfte der Bundesrepublik Mitteleuropa zugeschlagen wird, widerspricht dem traditionellen Verständnis, nicht nur der nicht-deutschen Mitteleuropa-Länder: Für Milan Kundera ist vor dem politischen Hintergrund die Ausdehnung Mitteleuropas eindeutig: „What is Central Europe? An uncertain zone of small nations between Russia and Germany.“²⁴ György Konrád sieht das differenzierter, spricht jedoch nicht von ‚Deutschland‘, sondern vom „deutschen Volk“: „Zu Mitteleuropa gehört eigentlich auch das deutsche Volk, das mehrere Male vergebens versuchte, die umliegenden Völker zu unterwerfen, während die eigene Selbstbestimmung chronisch krank war.“²⁵ Die „Hauptziele“ der im Rahmen der EU geförderten Territorial co-operation Central Europe werden nüchtern genannt: Transnationale Zusammenarbeit in Mitteleuropa ist der Katalysator für die Umsetzung von intelligenten Lösungen für regionale Herausforderungen in den Bereichen Innovation, CO2arme Wirtschaft, Umwelt, Kultur und Transport. Sie schafft regionale Kapazitäten im Rahmen eines integrierten Bottom-up-Ansatzes, wobei entsprechende Akteure aller Verwaltungsebenen einbezogen und koordiniert werden.²⁶
Alles, was ‚Mitteleuropa‘ geschichtlich gesehen bedeutet, ist hier auf den unbemerkten Widerspruch zwischen „transnationaler Zusammenarbeit“ und „regionalen Herausforderungen“ geschrumpft.Was man auf regionaler Ebene als Kultur versteht, wird deutlich, wenn zum EU-geförderten Besucherzentrum „Naturatrafoi“ des Nationalparks Stilfserjoch ausgeführt wird: „Naturafoi [zusammengesetzt aus ’Natura’ und ’Trafoi’, ein Dorf am Fuße des Ortler] ein gelungener Mix aus Tourismus, Forschung, Kultur und Ökologie, dürfte sich im Hinblick auf Beschäftigung, Dienstleistungen und Gedankenaustausch als Strukturinstrument sowohl für die lokale Bevölkerung als auch für den gesamten Nationalpark
Transnationale Zusammenarbeit – Programmraum Mitteleuropa. Kooperationsgebiet Mitteleuropa – https://www.efre-bayern.de/europaeische-territoriale-zusammenarbeit/transnationalezusammenarbeit/programmraum-mitteleuropa/ (Zugriff: 01.09. 2018 16:34). Kundera: The Tragedy of Central Europe, S. 35. Konrád: Mein Traum von Europa, S. 186. Central Europe. Territorial co-operation – http://ec.europa.eu/regional_policy/de/atlas/pro grammes/2014-2020/Austria/2014tc16rftn003 (Zugriff: 31.08. 2018 11:04).
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Abb. 2: Kooperationsgebiet Mitteleuropa (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung)
Stilfserjoch erweisen.“²⁷ Dieses Projekt ist ein Teilprojekt des großen Projektes „Europäische territoriale Zusammenarbeit 2007– 2013 Mitteleuropa“, von dem es in unübertroffener Amtssprache über das „kulturelle Erbe“ heißt: „Die Inwertsetzung des Kulturerbes soll außerdem zu einer Attraktivitätssteigerung der Städte und Regionen beitragen.“²⁸ Eigentlich ist der Kulturraum Mitteleuropa, der in den Strukturfonds – der Natur zuliebe – Auszüge: – http://ec.europa.eu/regional_policy/de/pro jects/italy/structural-funds-for-a-natural-park (Zugriff: 31.08. 2018 11:43). Europäische territoriale Zusammenarbeit 2007 – 2013 Mitteleuropa – Operationelles Programm – http://www.interreg.de/INTERREG2014/DE/Service/Veroeffentlichungen/DL/DL_Aus zuegeOPMitteleuropa.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (Zugriff: 31.08. 2018 16:24).
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Beiträgen dieses Bandes verhandelt wird, auch „ein gelungener Mix“, wie György Konrád einen Konsens des nichtdeutschen Mitteleuropa zusammenfasst: In unserer Gegend ist der homogene Nationalstaat die Ausnahme und als Norm nicht brauchbar. Zu unserer heterogenen Wirklichkeit passen keine homogenen Vorstellungen und Formen. Wir sind nicht einsprachig, verschiedene Wertsysteme und Denkweisen bestehen nebeneinander. Die mitteleuropäische Idee bedeutet die blühende Vielfalt der Bestandteile, des Selbstbewußtseins der Diversität.²⁹
„Unsere Gegend“, das ist für Konrád und andere ein Mitteleuropa, das schwer zu fassen ist und das eben nicht (nur) geographisch, politisch, religiös oder national zu bestimmen ist, sondern kulturell (und eben nicht ethnisch). Und so mag gelten, dass die jeweilig geltende Zuordnung von Regionen oder Staaten „von der jeweiligen geschichtlichen Entwicklung und Situation genauso abhängig [ist] wie von der Entscheidung der sich zugehörig fühlenden Personengruppen und Regionen.“³⁰ Dann ist Mitteleuropa jedoch, wie nicht nur hier zu lesen ist, „ein diffuser Begriff“³¹; und das ist ein Dilemma.
4 „truly shocking“ Vor 1989 blickte man auf ‚Mitteleuropa‘ zurück als etwas Vergangenes und Utopisches, politisch, sozial und vor allem kulturell: Es stimmt, dass ‚man‘ in den 1980er Jahren „mithilfe des Begriffs ‚Mitteleuropa‘ Gegenentwürfe und Alternativstrategien zur damals bestehenden politischen Ordnung“³² zu entwerfen versuchte, allerdings nur, wie gesagt, in den heute oft ‚osteuropäisch‘ genannten Staaten. Jacques Le Rider überschreibt sein Kapitel für die Zeit von 1933 bis 1989 „Von der Zerstörung Mitteleuropas zur deutschen Wiedervereinigung“³³. Die frühere Solidarität trug sicher die große Wende von 1989/1990. Noch die Gründungsakte der Visegrád-Gruppe (tschechisch Visegrádská čtyřka) vom 15. Februar 1991 hebt in der Euphorie des Wandels hervor, dass die Präsidenten,
Konrád: Mein Traum von Europa, S. 186. Horst Haselsteiner: Mitteleuropa und das Gestaltungsprinzip Föderalismus. – In: Plaschka et al. (Hrsg.): Mitteleuropa-Konzeptionen, S. XIX–XXVII, hier S. XIX. Wolfgang Mommsen: Die Mitteleuropaidee und die Mitteleuropaplanungen im Deutschen Reich vor und während des ersten Weltkrieges. – In: Plaschka et al. (Hrsg.) Mitteleuropa-Konzeptionen, S. 3 – 24, S. 4. Vgl. auch: Le Rider: Mitteleuropa. Franke: György Konráds „Mein Traum von Europa“. Die Mitteleuropadiskussion der 1980er Jahre. Le Rider: Mitteleuropa, S. 149 – 165.
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die Premierminister die Außenminister und Mitglieder der Parlamente der Tschechoslowakischen Republik, der Republik Polen und der Republik Ungarn einen Prozess einleiten wollen, „of creating foundations and new forms of political, economic and cultural cooperation of these countries in the altered situation in the Central Europe.“³⁴ Doch im Hinblick auf die ‚Flüchtlingskrise‘ (2015/17) sind das heutige (Mittel‐) Europa wie die Visegrád-Gruppe der Kritik ausgesetzt. Wie Alexander Gerst 2018 über den Anblick der Dürre Deutschlands und Mitteleuropas vom Weltraum aus „schockiert“ war, so nannte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein, im September 2016 die Einwanderungspolitik eines EU-Mitgliedstaates „xenophobic“ und die Bilder von „women and young children being assaulted with tear gas and water cannons at Hungary’s border with Serbia […] truly shocking.“³⁵ Der bulgarische Politologe Ivan Krastev weitete diese Momentaufnahmen aus, indem er 2016 den Blick auf die größeren historischen Zusammenhänge richtete, in denen Mitteleuropa steht: Vor drei Jahrzehnten war „Solidarität“ das Symbol Mitteleuropas, und intellektuelle Dissidenten behaupteten, der Unterschied zwischen Ost und West liege darin, dass der Osten wirklich an die Europäische Union glaube, während der Westen lediglich dazugehöre.Wie ist es möglich, dass die Mitteleuropäer sich den für die Europäische Union fundamentalen Werten so sehr entfremdet haben und nicht bereit sind, Solidarität mit anderen leidenden Menschen zu üben?³⁶
Am 21. Mai 2017 diskutierten in Warschau vor einem teilweise erschütterten Publikum die „‚Grand seigneurs‘ des österreichischen und polnischen Journalismus“, Paul Lendvai und Adam Michnik, über die „Zukunft Mitteleuropa“: Ethnischer Nationalismus, Populismus, Provinzialismus und EU-Skepsis bis -Ablehnung gepaart mit einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft ohne Verständnis- und Dialogbemühungen scheinen auf dem Vormarsch zu sein. Die noch vor kurzem unvorstellbar
Visegrad Declaration 1991 – http://www.visegradgroup.eu/documents/visegrad-declarations/ visegrad-declaration-110412 (Zugriff: 27.08. 2018 14:54). Hungary violating international law in response to migration crisis: Zeid – https://www.ohchr. org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=16449, vom 17.9. 2015 (Zugriff: 29.08. 2018 17:22). Vgl. auch Flüchtlingskrise: Ungarn baut Zaun an der Grenze zu Kroatien – http://www.faz. net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlingskrise-ungarn-baut-zaun-an-der-grenze-zu-kroa tien-13810213.html, Aktualisiert am 18.09. 2015 (Zugriff: 29.08. 2018 17:07). Ivan Krastev: Zerfällt Europa (3). Vgl. auch die Äußerung des UN Hochkommissars für Flüchtlinge: „Zeid urges Czech Republic to stop detention of migrants and refugees“ vom 22.10. 2015 – https://www.ohchr.org/en/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=16632&Lan gID=E (Zugriff: 29.08. 2018 17:59).
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gewesenen Entwicklungen in einigen mitteleuropäischen Staaten und auch einiger mitteleuropäischer Politiker ließen auch Langzeit-BeobachterInnen erschrecken und zu völligem Umdenken zwingen.³⁷
„Ist das über die Ost-West-Grenze vereinende Prä-1989-Mitteleuropakonzept nur mehr von historischem Interesse?“ fragt sich der Berichterstatter dieses Gesprächs. Katya Adler, für Europa zuständige Redakteurin der BBC, kommentiert diese Entwicklung im Januar 2018: „But the spoke in the wheels of that EU motorvehicle scenario comes from central Europe and the so-called Visegrad group of former communist states: Hungary, Poland, Slovakia and the Czech Republic.“³⁸ Während eines Treffens der Premierminister Ungarns und Tschechiens, Viktor Orbán und Andrej Babiš, am 1. September 2018 unterstützte Orbán dessen Resolution zur europäischen Migrations-Krise, wobei er betonte, dass er es begrüße, diesen Vorschlag von einem „non-traditional politician“ zu hören, und nicht von „conventional politicians“, die immer dasselbe europäische Geschwätz nachplapperten.³⁹ Eigentlich war das zu erwarten: Bereits in der Erklärung der Premierminister der Visegrád-Gruppe von 2016 heißt es auf der Website der Regierung Tschechiens: „The situation in Europe has changed significantly since that time. While the 1990s were marked by the spirit of optimism and vision of the emerging European house as the common goal, nowadays we witness signs of erosion of mutual trust and emergence of new dividing lines.“⁴⁰
5 Intellektuelle, Identitäten und Ideen: Mitteleuropa denken Diese „dividing llines“ sind aber keineswegs neu, sondern kennzeichnen die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichende Mitteleuropa-Diskussion. Am
Paul Lendvai und Adam Michnik diskutierten Mitteuropa in Warschau – https://www.bmeia. gv.at/oeb-warschau/aktuelles/detail/article/paul-lendvai-und-adam-michnik-diskutierten-mitt europa-in-warschau/ (Zugriff: 04.09. 2018 18:19). Adler: Visegrad: The clash of the euro visions. Hungary supports the Czech prime minister’s proposal on migration – http://www.kormany. hu/en/the-prime-minister/news/hungary-supports-the-czech-prime-minister-s-proposal-on-mi gration (Zugriff: 04.09. 2018 19:46): „He also stressed that he was interested to hear an opinion on the issue of migration from a non-traditional politician, because conventional politicians parrot the same European ’blather’, and adopt the same approach.“ Premiers of the V4 countries have adopted a joint declaration formulating their joint position on the issues of migration and the UK referendum – https://www.vlada.cz/en/media-centrum/ak tualne/declaration-of-the-visegrad-group-premiers-8-6-2016-145207/ (Zugriff: 31.08. 2018).
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Beispiel von Architektur macht der einleitende Beitrag deutlich, wann die Formation eines mitteleuropäischen Kulturraums einsetzte. Norbert Nußbaum zeigt, warum das Prager Œuvre Benedikt Rieds, des Hofarchitekten Wladislaw II. Jagiello (1456 – 1516), „als eines der wichtigsten Einfallstore der Renaissance in die Architektur Mitteleuropas zu werten“ ist.⁴¹ Er führt uns damit auch ein wichtiges Kapitel der böhmischen Architektur und ihres Wissens anschaulich vor Augen. Mitteleuropa wurde damals als „Wirtschafts- und Wissensraum“ entdeckt und der ‚mitteleuropäische‘ Raum als „Potential supranationaler Waren- und Kommunikationswege“ (S. 44) verstanden. Im Abschnitt Politische Geschichte: Mitteleuropäische Neuorientierungen im 20. Jahrhundert geht es um die Diskussion der neuen politischen und gesellschaftlichen Situation nach dem Ende des deutschen Kaiserreichs und der Gründung der Weimarer Republik mit entsprechenden Gebietsabtretungen im Westen und Osten und nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie. Der erste Präsident der Tschechoslowakei, Tomáš Garrigue Masaryk, setzte nach dem Kriege seine bisherigen Pläne einer politischen Integration Europas bzw. Mitteleuropas fort. Miloš Havelka zeigt, wie Masaryk vom damaligen Selbstverständnis der Mitteleuropäer und im Kontext der Diskussion von anderen MitteleuropaKonzepten ausging. Masaryk sei überzeugt gewesen, dass sein Konzept „der prinzipiellen Demokratisierung und Humanisierung einer künftigen europäischen politischen Ordnung“ diene (S. 56). Dass Friedrich Naumanns wirtschaftspolitisch orientierte Schrift Mitteleuropa (1915), auf die sich Masaryk ausdrücklich bezieht, und sein Das neue Europa. Der slawische Standpunkt (1917/1922) als Pole unterschiedlicher und kontrovers diskutierter Betrachtungen einer politischen Neuordnung Mitteleuropas am Ende des Ersten Weltkrieges gesehen werden müssen, legt auch Manfred Alexander in seinem engagierten Beitrag dar. Er betont jedoch, dass beide auf Denkmuster des 19. Jahrhunderts zurückgreifen und zeigt, welche Stilmittel und Argumentationsmuster die Texte bestimmen. – Dass auf österreichischer Seite der umstrittene Engelbert Dollfuß der nationalsozialistischen Vorstellung eines großdeutschen Reiches mit dem Konzept eines unabhängigen ‚Austrianism‘ als Bewahrung unbefleckter germanischer Identität begegnete und damit einen österreichischen Mythos mitbegründete, arbeitet Martin Jeřábek heraus. Es wird deutlich, dass während seiner Kanzlerschaft 1932– 1934 das „schicksalshafte Verhältnis der Deutschen und der Österreicher in Mitteleuropa“ festgeschrieben wurde.“ (S. 86) Václav Havel (1936 – 2011) hätte auch in das Kapitel 6. Mitteleuropäische Literatur: Textanalysen oder 7. Literatur und (mittel)europäische Identität eingeordnet
Vgl. Nußbaum: Ried von Piesting, Benedikt. – In: Neue Deutsche Biographie (2003).
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werden können. Doch Miloš Havelka zeigt, dass seine politische Einstellung komplexer ist als bisher angenommen; er verortet ihn zunächst sozial und betont, dass er im „Erfahrungshorizont des Stalinismus“ (S. 92) aufwuchs. Er stand lange Zeit beiden Systemen, dem kommunistischen wie dem kapitalistischen, kritisch gegenüber und entwickelte seine Theorie des „Post-Totalitarismus“. Anders als viele seiner Zeitgenossen hatte er eine „distanzierende und implizit kritische Einstellung zur Mitteleuropaidee“, die er für nicht mehr zeitgemäß hielt (S. 96). Einen Grundkonsens in der Soziologie gab es noch nicht, sie formierte sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständige Wissenschaft.⁴² Die Beiträge im Kapitel Europäische Soziologie und Ideengeschichte in Mitteleuropa verzichten mit Absicht auf einen wichtigen Soziologen wie Gumplowicz, da seine Theorien kaum spezifisch mitteleuropäisch geprägt erscheinen. Der hingegen von Werner Binder auf den gebürtigen Ungarn Karl Mannheim (1893 – 1947) gerichtete Blick zeigt diesen deutlich als typischen mitteleuropäischen jüdischen Intellektuellen und ‚hybrid border crosser‘, der eine Reihe von soziologischen Konzepten entwickelte, die besonders geeignet sind, die Rolle der Intellektuellen und die Krise des Liberalismus im Mitteleuropa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu analysieren – und vielleicht auch die gegenwärtige Krise Europas. Ganz ähnlich, aber doch mit anderem Schwerpunkt erweist sich der tschechoslowakische Soziologe Heinz Otto Ziegler (1903 – 1944), Sohn eines konvertierten Prager Juden, als durchgängig von der kulturellen Hybridität Mitteleuropas geprägt, was sich auch eindrücklich in seiner Biographie niederschlägt, wie Marek Skovajsa zeigt. Ihm zufolge kann Hybridität auch zu subversivem Denken anstacheln und zu Widerstand gegen die herrschende Sozialstruktur oder Kultur. Der wesentlich jüngere Philosoph und Sozial-Anthropologe Ernest Gellner (1925 – 1995) gehört zu den rückblickenden Interpreten des österreichisch-ungarischen mitteleuropäischen Erbes. Dušan Janák und Johana Wyss nehmen ihren Ausgang von Gellners letzten postum veröffentlichten Buch Language and Solitude: Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma. Auch dafür gilt, was der amerikanische Sozial – und Wirtschaftswissenschaftler Thomas Sowell festgestellt hat: „The, principle that a culture is most stridently defended when it is irretrievably lost applies beyond issues of ethnicity.“⁴³ Das gelte auch für andere (meist jüdische) Intellektuelle Mitteleuropas. Jaroslav Bican und Jan Coufal fokussieren in ihrem Beitrag das unterschiedlich geprägte philosophische Konzept Karel Kosíks (1926 – 2003). Kosík ist der Ansicht, dass eine kleine Nation nicht nur um ihre Existenz bangen müsse,
Vgl. auch Havelka: Von einer Philosophie der Geschichte der Soziologie. Sowell: Race and Culture, S. 29.
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sondern hauptsächlich um den Sinn ihrer Existenz. Historisch gesehen interpretierten Deutschland und Russland die Rolle Tschechiens völlig unterschiedlich. Norbert Elias (1897– 1990), so Dennis Smith, knüpfe mit seiner Figurations-Soziologie im Rahmen des Prozesses der Zivilisation an Karl Mannheim an; dabei geht er der Bedeutung des ‚Schocks‘ für Elias im Vergleich mit André Bretons Surrealismus-Konzeption nach: „[…] both acknowledged and deployed the capacity of shockingly hybrid, ‘out of place’ or unexpected phenomena to disrupt and reorder people’s perceptions.“ (S. 169) Ganz im Sinne komplexer Identitäten in Mitteleuropa überschritt vor allem der Wiener Nationalökonom Otto Neurath (1882– 1945) in seiner Wissenschaftstheorie stets die disziplinären Grenzen. Christoph Reinprechts und Nora Walchs Beitrag geht dieser facettenreichen Forscher- und Politiker-Persönlichkeit auf den Grund. Neurath fühle sich am ehesten der neu aufstrebenden Disziplin der Soziologie mit ihrem streng empirischen und nach-metaphysischen Selbstverständnis zugeordnet. Eine archivgestützte biographische Skizze von Julie Moscheles (1892– 1956) beschließt das Kapitel. Juli Moscheles war Kind einer berühmten Prager jüdischen Familie, Spezialistin für physische und soziale Geographie und Klimatologie, „die sich im Prag der Zwischenkriegszeit gleich zwischen mehreren verschiedenen Milieus bewegte“ (S. 187) und deren Vater im Ghetto Theresienstadt 1943 ums Leben gekommen war. Der Historiker Jiří Pešek nennt sie „eine der kreativsten und produktivsten Vertreterinnen der Prager Wissenschaftslandschaft, […] eine deutsch-tschechische Repräsentantin der Masaryk’schen multiethnischen Tschechoslowakischen Republik, mit der sie sich voll identifizierte.“ (S. 187) Der vierte Abschnitt Schriftsteller und Kultur(politik) zeigt, dass nicht nur im Vorfeld und während der nationalsozialistischen Herrschaft politisch engagierte, insbesondere jüdische Schriftsteller in Mitteleuropa gefährlich lebten. Der in Prag wirkende Österreicher Georg Mannheimer (1887– 1942) starb 1942 im KZ Dachau; der Prager Ferdinand Peroutka war von 1939 – 1945 in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald inhaftiert; Max Brod (1884– 1968) emigrierte nach Palästina, Robert Musil (1880 – 1942) in die Schweiz; Eduard Goldstücker (1913 – 2000) emigrierte; der in Prostějov (Mähren) geborene Max Zweig (1892– 1992) musste 1934 Deutschland verlassen, ging nach Prag und emigrierte schließlich nach Tel Aviv. Aber auch unter den Wissenschaftlern mussten viele emigrieren: Karl Mannheim, Norbert Elias, Heinz Otto Ziegler, Ernest Gellner; Karel Kosík war 1944 in Theresienstadt inhaftiert. Eine Reihe von jüdischen Schriftsteller und Journalisten wie Leo Herrmann, Max Brod und Georg Mannheimer gehörten zur Prager zionistischen Bewegung. Einer der bedeutendsten Kulturvermittler und Zionist war ein anderer Freund Kafkas, Max Brod (1884– 1968), der sich, frei von jedem Ressentiment, insbe-
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sondere in der ersten Tschechoslowakischen Republik nach 1918 den Beziehungen von Tschechen, Deutschen und Juden widmete. Max Brod, so fasst Milan Tvrdík zusammen, war lebenslang auf der „Suche nach der jüdischen Identität vor dem Hintergrund der zugespitzten Auseinandersetzungen seiner Zeit zwischen jüdischer Emanzipation, Assimilation und Antisemitismus“ (S. 203). Er wurde wie kein anderer „zum Vermittler der Prager deutschen und auch der tschechischen Kultur im gesamteuropäischen Maßstab.“ (S. 221) Nicht von Anfang an war der Prager Journalist und Schriftsteller Georg Mannheimer (1887– 1942) Zionist. Štěpán Zbytovský zeigt in seinem Essay zu Mannheimer, dass er sich stets der deutschen Kultur, aber ebenso – wie für Prag und die böhmischen Länder üblich – auch der Tschechoslowakei zugehörig fühlte. Zbytovský versteht das zu Recht nicht als „Belege einer ‚Hybridität‘ auf der Schnittstelle mehrerer kultureller Zugehörigkeiten“, sondern „als Bestandteil eines kontinuierlichen ‚konfliktuellen Aushandelns von Identität‘“ (S. 241). Ebenfalls in der zionistischen Bewegung engagierten sich der Warschauer Salomon (Shlomo) Dykman (1917– 1965) und sein Lehrer, der in Dobromil, Galizien, geborene Edmund (Menachem) Stein (1893 – 1943); beide arbeiteten gemeinsam zur Tradition des hellenistischen Judentums oder des hebräischen Humanismus in Warschau, wie Jörg Schulte zeigt. Sein Lehrer Edmund Stein war Judaist und auch am Institut für Klassische Philologie der Universität Warschau tätig, er wurde im Warschauer Ghetto eingesperrt, ins Zwangsarbeitslager Trawniki und im November 1943 ins KZ Majdanek deportiert, wo er ermordet wurde. Ihre Ideen des „hebräischen Humanismus als kulturelles oder heuristisches Konzept“ fanden wohl deshalb keine Nachfolger, weil das Hebräische keine lebendige Sprache in Mitteleuropa war. Am Beispiel des Journalisten, Schriftstellers, Fotografen und Malers Karel Čapek (1890 – 1938), der den ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik, Tomáš Garrigue Masaryk, unterstützt hatte und seinem Weg von einer „czechness“ zum Europäertum ging, zeigt der Beitrag von Lenka A. Rovná, wie stark politisches Handeln und kulturkritische Reflexion in der Zeit der neu entstandenen Tschechoslowakischen Republik verbunden waren. Auch der angesehene Journalist und Schriftsteller Ferdinand Peroutka (1895 – 1978) – von 1939 bis 1945 war er in Dachau und Buchenwald inhaftiert – spielte in den 1920er Jahren in Prag nicht nur als erster Chefredakteur der Zeitung Přítomnost (Gegenwart) eine bedeutende Rolle, er war auch Sprecher von Präsident Masaryk. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte er sich mit dem Konzept einer politischen und kulturellen mitteleuropäischen Nation. Miroslav Paulíček arbeitet heraus, dass viele Texte Peroutkas auch soziologisch interessant seien.⁴⁴
Der wichtigste tschechische Medienpreis ist nach ihm benannt; Miroslav Paulíček hat in
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Sprach- und Literaturwissenschaft kommen auch heute noch oft ohne latente oder offene Wertungen nicht aus, wobei politische und ethische Orientierungen eine wichtige Rolle spielen. Im kurzen Abschnitt (Wert)systeme: Sprach- und Literaturwissenschaft mag man den Literarhistoriker Josef Nadler (1884– 1963), der in Neudörfl bei Reichenberg (Österreich-Ungarn, heute Österreich, an der Grenze zu Ungarn) geboren wurde und in Prag studierte, vermissen. Doch hat, wie Irene Ranzmaier in ihrer herausragenden Monographie hervorhebt, „die einseitige Perspektive, unter welcher dieser Ansatz als Vorläufer bzw. durch weitere Radikalisierungen als Höhepunkt der national-völkischen Germanistik analysiert wurde, zahlreiche Facetten des Nadlerschen Konzepts unbeachtet gelassen.“⁴⁵ Auch wird in den zahllosen Forschungsbeiträgen „kaum […] aus dem Lauftext seiner literaturgeschichtlichen Werke zitiert“,⁴⁶ und somit selten wahrgenommen, dass sich sein Werk durch freilich umstrittene „stark interdisziplinär geprägte wissenschaftliche Grundlegung“ verfügt: „Unter Ablehnung der Trennung spezifisch geisteswissenschaftlicher von naturwissenschaftlichen Methoden verteidigt Nadler die Geltung von Kausal- und Determinismusdenken auch in historisch-philologischen Disziplinen. Zusätzlich reihte er sich mit den von ihm genannten Nachbar- und Hilfswissenschaften Geographie, Volkskunde bzw. Ethnographie, Stammeskunde und Karl Lamprechts Konzept von Kulturgeschichte in bestimmte sozial- oder kulturwissenschaftliche Traditionen des 19. Jahrhunderts ein.“⁴⁷ Dieser Ausflug in das komplexe und verminte Themenfeld ‚Nadler‘ sollte andeuten, warum dieser „Außenseiter“⁴⁸ im vorliegenden Band fehlt, obwohl bei ihm naturgemäß die deutschsprachige Literatur Mitteleuropas thematisiert wird, und er diese Staaten auffordert, sich „zu einem neuen Aufbau Mitteleuropas bereit zu machen“⁴⁹ – wie er sich das vorstellt, bleibt jedoch unklar.
seinem Beitrag die Verleumdung Peroutkas durch den Staatspräsidenten Zeman angesprochen: Näheres dazu vgl. Christoph Haacker: Die Tragödie der Tschechoslowakei. – In: Neue Zürcher Zeitung vom 2.6. 2016: „Es war der tschechische Präsident Zeman, der im letzten Jahr den Journalisten und Autor Ferdinand Peroutka (1895 – 1975), Inbegriff eines aufrechten Demokraten, ins Gespräch, vielmehr ins Gerede, brachte. Dieser habe, ganz im Banne des Nationalsozialismus, einen Artikel ‚Hitler ist ein Gentleman‘ verfasst, den habe er mit eigenen Augen gesehen. Den Beleg blieb er schuldig.“ Siehe auch Niels Köhler: Verzweifelt gesucht: „Hitler ist ein Gentleman“. – In: prag aktuell vom 25.6. 2015. Ranzmaier: Stamm und Landschaft: Josef Nadlers Konzeption der deutschen Literaturgeschichte, S. 1. Ebenda S. 4. Ebenda, S. 14 und 16. Füllenbach: Ein Außenseiter als Sündenbock? Der Fall Josef Nadler. Siehe Ranzmaier: Stamm und Landschaft, S. 287: in einem Brief von Nadler an August Sauer (ÖNB Nachlaß Nadler, Briefe Sauer 415/1– 440, Düdingen 25.1.1924).
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Auf den ersten Blick gehört Franz Thierfelder (1896 – 1963) als Sachse vermeintlich auch nicht in dieses Buch. Er stand dem Nationalsozialismus zeitweise nahe und er scheint mit dem Titel seiner Schrift Deutsch als Weltsprache. Band 1.: Die Grundlagen der deutschen Sprachgeltung in Europa (1938) hegemoniale Bestrebungen zu unterstützen. Karl-Heinz Göttert versucht den Kerngedanken dieser Untersuchung jedoch differenzierter zu sehen: Thierfelder bejaht sowohl den Wert der Nationalsprache wie den der Brückensprache. Bei den Beiträgen zu den beiden anderen Literaturwissenschaftlern dieses Abschnitts, Goldstücker und Lukács, spielt die kommunistische Orientierung eine zentrale Rolle. Unbestritten ist die Rolle des Juden Eduard Goldstücker (1913 – 2000) als einer der wichtigsten europäisch orientierten Germanisten, der 1989 in seiner Autobiographie Prozesse. Erfahrungen eines Mitteleuropäers die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa betonte. Jiří Šubrt skizziert die Bedeutung des in Podbiel in der Slowakei Geborenen im Kontext seines politischen und literaturwissenschaftlichen Wirkens, das eng mit der Karls-Universität verbunden ist, wo er studierte und von 1958 bis 1968 die Germanistik vertrat. 1969 ging er zum zweiten Mal nach 1939 in die Emigration nach Großbritannien. Csaba Szaló sieht in seinem Beitrag über Georg Lukács (1885 – 1971) die Möglichkeit, die zentrale Bedeutung der Aufspaltung der europäischen Intellektuellen in für Modernisierung offene Liberale und auf Unabhängigkeit pochende Nationalisten zu verdeutlichen. Wie andere Intellektuelle war er nach der Auflösung der Habsburger Monarchie mit der Wahl zwischen revolutionärem Terror individueller Ethik gestellt. Andrea Rebb zeigt in ihrem Beitrag zu Lukács, dass er „nicht an gesellschaftliche Umwälzungen, sondern an kulturelle Erneuerungen glaubt“ (S. 323). Dennoch gebe es zwei Phasen seines Lebens, als bürgerlicher Kulturkritiker und als marxistischer Revolutionär, ein „Mitteleuropäer, der sich zuerst nach Westen und dann nach Osten orientiert.“ (S. 324) Wenn ein Abschnitt Mitteleuropäische Literatur: Textanalysen heißt, erwartet man eine mitteleuropäische Spurensuche in literarischen Texten. Dass hier Kafka und Musil jeweils zwei Beiträge gewidmet sind, ist vor allem den unterschiedlichen methodischen Ansätzen geschuldet, sind doch die Forschungen zu Franz Kafka (1883 – 1924) ein Musterbeispiel für die germanistische Methoden- oder besser Theorievielfalt. Dabei geschah das in der Regel „abgekoppelt von den sozialen und kulturellen Kontexten“, wie Manfred Weinberg feststellt. „Beizukommen“, so Weinberg, sei „Franz Kafkas Werk aus meiner Sicht nur, wenn man es – im Bewusstsein seines regionalen Entstehungskontextes – als Teil der mitteleuropäischen Literatur versteht.“ (S. 346) Und so betont auch Claudia Liebrand, dass Kafka in einem durch sprachliche, religiöse und kulturelle Vielfalt gekennzeichneten Umfeld lebte und dass in seinen Werken infolgedessen immer wieder Konfigurationen des Hybriden aufzuspüren seien: „Wie Die Sorge des Hausvaters
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setzt sich Beim Bau der chinesischen Mauer mit Kulturkontaktphantasien auseinander.“ (S. 358) Jakub Mlynář weist darauf hin, dass Roman Der Mann ohne Eigenschaften des Wieners Robert Musil (1880 – 1942) von soziologischem Interesse sei und Musil als mitteleuropäischer Autor angesehen werden könne, der viele der Themen, Spannungen und Widersprüche des Konzepts ‚Mitteleuropa‘ aufgenommen hat und sie auch verkörpert. „Das Wort Mitteleuropa fällt in Musils Werken allerdings nur ein einziges Mal – und dies nur wie nebenbei“ (S. 373), so Matthias Bickenbach. Musils im August 1913 beginnender Roman sei auf weite Strecken eine „ausführliche Gesellschaftsanalyse der damaligen Zeit“; gerade der KakanienKomplex mache deutlich, dass Musil „hier exakt die Problematik eines Vielvölkerstaates aufgreift und mit der Problematik der Identifikation verbindet.“ (S. 375) Der in Prostějov (Mähren) geborene Max Zweig (1892 – 1992), ein Vetter von Stefan Zweig „habe das Wort ‚Mitteleuropa‘ geliebt, berichtet Harald Weinrich, nachdem er ihn im Exil in Jerusalem besucht hat.“ Und doch, stellt Antje Arnold in ihrem Beitrag fest, muss er erleben, wie „die gelebte kulturelle Diversität Mitteleuropas zerfällt“. (S. 392) Antje Arnold analysiert sein Drama Medea in Prag und verortet den Text und den Kontext des kommunistischen Prag des Jahres 1948 unter interkultureller Perspektive neu und bezieht die anthropologische Konstante des Erzählers über Flucht auf die gegenwärtige globale ‚Flüchtlingskrise‘. Elias Canettis, Danilo Kišs, Miroslav Krležas, Milan Kunderas und Jiří Grušas sind und waren in unterschiedlichen Sprachen und Ländern ‚zuhause‘.Wie deshalb und gerade dennoch Literatur und (mittel)europäische Identität bei ihnen zusammengehen, bildet den Abschluss dieses Bandes. Die Vorfahren Elias Canettis (1905 – 1994) kamen als sephardisch-jüdisch Flüchtlinge von der iberischen Halbinsel im 15./16. Jahrhundert ins Fürstentum Bulgarien, seine Muttersprache war das Judenspanisch (Djudeo-Espanyol). Nicht nur dadurch, dass er in Österreich, der Schweiz und Deutschland in der transnationalen ‚Brückensprache‘ Deutsch aufwuchs, wurde er zum Mitteleuropäer. Johann Arnason legt einen seiner Schwerpunkte auf den engen Kontakt mit seinem Diskussionspartner und Antipoden Franz Baermann Steiner (1909 – 1952), der als Sohn jüdischer Eltern in Karlín (Karolinenthal) geboren wurde und den man zur letzten Generation der Prager deutschen Literatur zählt. Zu Recht nennt Christoph Steker die Biographie von Danilo Kiš (1935 – 1989) eine paradigmatisch mitteleuropäische, die sich im Kontext der verschiedener Sprachen und Religionen, Staaten und Kulturen dieser Region herausgebildet hatte. Er wurde in Subotica (Königreich Jugoslawien) geboren, die Mutter war serbisch-orthodoxe Montenegrinerin, der Vater ungarischer Jude, der in Auschwitz starb.Wie auch für andere Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg war Kišs Mitteleuropakonzept eine Idee: „Suche und Verlusterfahrung, als geistiger Inhalt und intellektuelle Tradition“ (S. 436). Folgt man Milka Car über den kroati-
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sche/jugoslawischen Schriftsteller Miroslav Krleža (1893 – 1981), so ist sein Werk „ein gescheiterter Versuch zu einer literarisch-essayistischen Begründung einer supranationalen Staaten(bund)bildung im südöstlichen Europa“. Mitteleuropa verstehe er als Ausdruck einer „westlich dominierten Kultur“. (S. 459 – 460) Der meistzitierte Mitteleuropa-Befürworter ist der gebürtige Brünner Milan Kundera (*1929); in seinem berühmten Essay von 1984 heißt es: „Central Europe longed to be a condensed version of Europe itself in all its cultural variety, a small arch-European Europe, a reduced model of Europe made up of nations conceived according to one rule: the greatest variety within the smallest space.“⁵⁰ Liisa Steinby zitiert Kunderas Klage darüber, dass „die Kultur ihre frühere Bedeutung im europäischen Bewusstsein verloren“ habe. Deshalb sei heutzutage (1984) derjenige Europäer, „der nach Europa Heimweh“ habe (S. 483). Jiří Gruša (1938 – 2011), im ostbömischen Pardubice geboren, kommt aus einer bürgerlich und katholisch geprägten Beamtenfamilie. Renata Cornejo zeichnet die wichtigen Stationen seines Lebensweges nach, der als „permanente Auseinandersetzung mit dem Macht-Ohnmacht-Diskurs verstanden werden“ könne. Viele seiner auf Deutsch geschriebenen Werke seien eine „Vorarbeit zur Verbesserung von Verhältnissen in Mitteleuropa“ (S. 495). *** Wer oder was wollte oder könnte angesichts der im ersten Teil dieser Einleitung geschilderten Verfasstheit Europas zur ‚Verbesserung‘ von Mitteleuropa beitragen? Vielleicht der Wiener Oswald Wiener (*1935)? Bereits 1969 erschien sein die verbesserung von mitteleuropa, roman, kein traditioneller Roman, sondern ein schwer verstehbarer Text, in dessen Zentrum jedoch die Sprach- und Erkenntniskritik steht. Für Wiener hat sich die Wirklichkeit „zur Sprache verflüchtigt“⁵¹, ganz in dem Sinne, wie Nietzsche den Begriff urteilte, „den letzten Rauch der verdunstenden Realität“⁵². Der vorliegende Band weiß um dieses Problem von Begriffen – „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen“⁵³ – und hat deshalb auf irgendeine Fixierung des Begriffs ‚Mitteleuropa‘ nicht nur wegen seiner vielfältigen Aspekt verzichtet: „Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige
Kundera: The Tragedy of Central Europe, S. 33. Kühn: Gescheiterte Sprachkritik. Fritz Mauthners Leben und Werk, S. 11. Nietzsche: Götzendämmerung: Die „Vernunft“ in der Philosophie – Sämtliche Werke, Bd. 6, S. 76. Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne – ebenda, Bd. 1, S. 879.
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Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herren derselben zu machen.“⁵⁴ Welche Lösung gibt es da angesichts der Begriffsvielfalt, des Begriffsstreits, der unterschiedlichen Sprachen in und außerhalb verschiedenster Disziplinen? Was schlägt Wiener als Lösung vor? „Mitteleuropas endliche Verbesserung“⁵⁵ könne nur durch einen Verzicht auf Sprache gelingen: eine eingehendere beschäftigung mit den denkvorschriften der sprache, ja sogar schon das provisorische setzen der sprache als instanz (die sprache als form der wirklichkeit gewissermassen) müsste diese höhensonnen der wahrheit auspusten, diese begriffgebäude zum einsturz bringen, die doch, als tintenburgen, nur aus endlosen korridoren bestehen⁵⁶
Dann doch lieber, wie wir oben gesehen haben, ein „clash of the euro visions“, den eine Britin konstatiert hat.
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1 Formation einer mitteleuropäischen Kultur
Norbert Nußbaum
Der ‚mitteleuropäische‘ Charakter der Prager Residenzarchitektur um 1500 Unter dem Blickwinkel der Residenzforschung betrachtet, stehen die Prager Jahrzehnte um 1500 unter dem Stern der jagiellonischen Dynastie, die 1386 die polnische Königskrone erstritten hatte und im Lauf des 15. Jahrhunderts nach Süden expandierte. Wladislaw II. Jagiello wurde 1471 zum böhmischen, 1490 dann zum ungarischen König gewählt. Bis zum Tod seines Sohnes und Nachfolgers Ludwig II. Jagiello im Jahr 1526 wurden beide Monarchien mit den ihnen anhängenden Ländern in Personalunion regiert. Im Verbund mit dem Königreich Polen reichte das Dominium der Dynastie vom Deutschordensland im Norden bis nach Kroatien und Siebenbürgen im Süden. Für einige Jahrzehnte war Mitteleuropa damit als flächengrößte Herrschaft Europas unter der Ägide eines im Ursprung litauischen Adelsgeschlechtes umschrieben, das in Krakau und Buda/Ofen Hof hielt. In Prag als Hauptort Böhmens nahm Wladislaw nur ausnahmsweise und für kurze Zeit Aufenthalt − nach seiner Übersiedlung nach Ungarn im Jahr 1490 lediglich dreimal in den Jahren 1497, 1502 und 1509 – 1510. Doch hinterließ er auf dem Hradschin als Stellvertreter seiner abwesenden Majestät eine phänomenale Residenzarchitektur, ausgezeichnet durch die heraldischen Zeichen seiner Person. Weil Wladislaws Quartiere in Ofen die massiven kriegerischen Auseinandersetzungen der nachfolgenden Zeiten nicht überdauerten, bilden die Prager Bauten die heute noch anschaulichen Zeugnisse der jagiellonischen Hofarchitektur in den neu erworbenen Territorien, wurden sie auch kaum jemals in Gebrauch genommen, sondern lediglich vorgehalten für den zu erwartenden Landesherrn.
1 Stellvertreter des Fürsten Maßstab eines modernen Adelssitzes war zu jener Zeit in Mitteleuropa die Meißener Albrechtsburg, die sich die Wettiner Ernst und Albrecht seit 1471 durch Arnold von Westfalen hatten errichten lassen. Hochmodern war in Meißen die Entscheidung, mehrräumige Wohneinheiten und Säle öffentlicher Funktion zu einem Cluster zu vereinen, dem ein expressives, radikal mit den Stillagen der internationalen Gotik brechendes Architekturvokabular eignet. Jenes erfasst Pfeilerformen, Fensterkonturen, komplexe Treppenformationen und dramatische Gewölbelandschaften, lässt also kaum ein Bauteil unberührt. Weil das Bauwerk nie als Residenz genutzt wurde, stand es den Zeitgenossen vor allem als Hohttps://doi.org/10.1515/9783110536003-003
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Abb. 1: Meißen, Albrechtsburg. Im rechten Vordergrund das Nordostappartement
heitszeichen der Wettiner Kurfürstenwürde vor Augen und hatte insofern eine in hohem Maße emblematische Funktion. Dies verbindet die Albrechtsburg mit dem Prager Hradschin Wladislaws II. Markant in der Außenwirkung war in Meißen der Kunstgriff, das Nordostappartement in den Hang des Burgberges vorzuschieben und derart aus dem Hauptbaukörper herauszudrehen, dass es auf drei Seiten durchfenstert werden konnte (Abb. 1). Aus diesen Räumen boten sich also in drei Himmelsrichtungen weite Blicke übers Land. Vielleicht waren es ursprünglich Gastgemächer – empfahlen sie sich doch dafür, dem dort Logierenden das weitläufige Territorium der Hausherrn vor Augen zu führen.¹ Das Beispiel der Wettiner machte in Zentraleuropa Schule in Hinblick sowohl auf die Entscheidung, Repräsentanz durch exklusives architektonisches Detail auszudrücken als auch auf die Konzeption von ebensolchen Flügeln, die sich wie
Hoppe: Die funktionale und räumliche Struktur, S. 35 – 77.
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Abb. 2: Der Prager Hradschin, von der Karlsbrücke aus gesehen. Mitte und rechts: Ludwigstrakt und Wladislawsaal
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jener der Albrechtsburg aus den üblicherweise geschlossenen und befestigten Fronten lösen und einen mehrseitigen Ausblick von erhöhter Position aus gewähren². Zu den Projekten, die in beiderlei Aspekten mit der Albrechtsburg konkurrieren, zählt abermals der jagiellonische Umbau der Prager Burg (Abb. 2).³ Wladislaw selbst gibt uns zur Bestimmung des Umbaus über die Logierfunktion hinaus den sichersten Hinweis. In einem 1504 an seinen Burggrafen Heinrich von Jindřichův Hradek gerichteten Schreiben formulierte er: „Unser Schloss haben wir für uns selbst um jene Räume ausgebaut, deren Zimmer wir benutzen, mit besonderen, sehr großen und vortrefflichen Aufwendungen, uns und dieser Krone zur Rechtschaffenheit, zu unsrem und den zukünftigen böhmischen Königen Vergnügen und Anmut und zu Ehren dieses Königreiches“⁴. Für die Präsenz des Königs in der Kathedrale St. Veit auf dem Prager Burgberg ließ Wladislaw eine neue Herrscherempore mit höchst artifiziellem Astwerkdekor installieren (Abb. 3), und der alte Königspalast an der Südkante des Plateaus wurde grundlegend umgestaltet. Der noch aus hochmittelalterlicher Zeit überkommene, nach Brand 1303 unter Karl IV. wiederaufgebaute Saalgeschossbau nahm nun den größten Saal Mitteleuropas auf, den durch Bauinschrift an der Hoffassade 1493 datierten Wladislawsaal, für dessen Gründung das gesamte Gefüge des Altbaus konstruktiv ertüchtigt werden musste – eine an Maßstab und Imposanz unvergleichliche aula regia (Abb. 4). Die den Saalbau einfassenden Risalit-Flügel beherbergten die Audienz- und Wohngemächer, die das Schreiben Wladislaws von 1504 wohl anspricht. Markenzeichen des Umbaus sind neben konventionelleren Ziergewölben vor allem solche Gewölbebildungen, die mit komplexen Schlingrippenfigurationen operieren, und die in der zum Saal hinaufführenden Reiterstiege aufs Virtuoseste gesteigert anmuten (Abb. 5). Daneben treten in geradezu radikaler formaler Konfrontation Portale und Fensterfronten mit antikischen Ordnungen, welche die in Italien aktuelle Kunst in eigenwilliger Weise uminterpretieren (Abb. 6). Durchaus fraglich ist, ob diese frühe Adaption von Renaissanceformen unmittelbaren Kontakten nach Italien zu verdanken ist oder über den Hof in Buda/ Ofen vermittelt wurde, wo bereits vor Wladislaws Königtum italienische Künstler bezeugt sind⁵. Unzweifelhaft scheint hingegen, dass der Prager Saaltrakt in einem großen Saalbau der Burg von Buda ein direktes Vorbild hatte. Dies legt ein in die Südwand des Wladislawsaales in den frischen Putz eingeritztes Graffito nahe, das die Prager Burg in einer Ansicht von Südwesten ab Hoppe: Der Schloßbau Ottheinrichs, S. 202– 212. Einen Überblick der Bauaktivitäten bietet Benešovská: Between the Gothic and the Renaissance. Zit. nach Kuthan: Splendor et Gloria Regni Bohemiae, S. 545. Hierzu zusammenfassend Bischoff: Benedikt Ried: Forschungsstand und Forschungsproblematik. – In: Wetter (Hrsg.): Die Länder der Böhmischen Krone, S 85 – 98.
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Abb. 3: Prag, Veitsdom. Oratorium Wladislaws II.
bildet (Abb. 6), und zwar gedeckt mit einer Staffel steiler Zeltdächer. Dieses Dachwerk fiel 1541 dem Brand der Prager Burg zum Opfer und wurde in dieser elaborierten Form nicht wiedererrichtet⁶. Ein solches Dach muss die Königsburg in Buda bereits 1493 besessen haben. Jedenfalls zeigt ein Holzschnitt mit der Ansicht Budas in der Weltchronik des Hartmann Schedel die Burg bereits in diesem Zustand (Abb. 7).⁷
Auch archivalisch ist die Form des ersten Daches ziemlich eindeutig belegt. Auf Wladislaws Anweisung hin sollten die „fünf Dächer auf dem neuen Palas hier auf dem Prager Schloss“ 1498 in Blei gedeckt werden (Schreiben des königlichen Baumeisters Andreas Skalský von Ratibor an Bernhard Smydeln: Bürgermeister zu Eger, Prag 29. November 1498). Quellennachweis und Rekonstruktion des Daches bei Kotrba: Baukunst und Baumeister der Spätgotik, S. 199 – 200. Hartmann Schedel: Registrum huius operis libri cronicarum cu [cum] figuris et imagibus [imaginibus] ab inicio mudi [mundi]. Nürnberg: Koberger 1493. Zur Interpretation der Ansicht Szilárd Papp:
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Abb. 4: Prag, Hradschin. Wladislawsaal
Die Stilbeziehungen der Burgkapellen in Siklós (Südungarn). – In: Wetter (Hrsg.): Die Länder der Böhmischen Krone und ihre Nachbarn zur Zeit der Jagiellonenkönige (1471– 1526), S. 197– 208, hier S. 204– 205. Der Verfasser bereitet zusammen mit Thomas Bauer und Jörg Lauterbach eine Studie zum typologischen und stilistischen Kontext des Prager Wladislawsaales vor, in der weitere Argumente zu den Beziehungen zwischen Prag und Buda diskutiert werden sollen.
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Abb. 5: Prag, Hradschin. Grundrissausschnitt der Burg und des Domchores mit den markantesten Gewölben Benedikt Rieds. Farbig angelegt die durch Bauer/Lauterbach/Nußbaum tachymetrisch vermessenen Partien. 1 Wladislawsaal, 2 Böhmische Kanzlei, 3 Reiterstiege, 4 Wladislaw-Oratorium
Nicht weniger spektakulär als der große Saal, doch in seiner Bedeutung für die Genese der frühneuzeitlichen Residenzarchitektur kaum erkannt ist der so genannte Ludwigstrakt, der wohl bald nach 1500 als nach Süden in den Berghang hineingebauter Querflügel am Westende des Saales konzipiert wurde (Abb. 2). An diesem Trakt zeigt sich im Anschluss an die Neuerungen der Meißener Albrechtsburg exemplarisch die radikale Wende im Verständnis herrschaftlicher Repräsentanz, welche die Transformation des befestigten Adelssitzes zur offenen,
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Abb. 6: Wladislawsaal, Grafitto auf der Südwand mit Ansicht der Prager Burg
Abb. 7: Weltchronik des Hartmann Schedel. Ansicht von Buda. Die Burg mit ihren gelb angelegten Zeltdächern befindet sich unterhalb des Schriftzuges.
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durchlichteten Schlossfront einleitete. Hatte der Umbau der Prager Burg unter Wladislaw II. zunächst mit der Befestigung der langen Nordflanke des Burgberges begonnen, so zeigen die Maßnahmen auf dieser stadtzugewandten Südseite das genaue Gegenteil einer Fortifikation, nämlich das Freistellen eines Wohnflügels, der den Burgbering durchbricht und die Stadt am Fuß des Berges wie von einer Kanzel aus in den Blick nehmen lässt. Innen ist für bestmöglichen Komfort gesorgt. Eine Podesttreppe modernster italienischer Bauart verbindet die Geschosse und verbannt die engen Spindeltreppen der mittelalterlichen Burgen in die Degagements (Abb. 8) Der Flügel war dem 1506 geborenen jagiellonischen Thronfolger Ludwig zugedacht, wie dessen Monogramm in den Supraporten der Innenportale bezeugt (Abb. 9). 1502 hatte Wladislaw Anne de Foix-Candale geheiratet, die nach dem Tod ihres gräflichen Vaters Gaston II. seit 1500 am französischen Königshof verweilte. König Ludwig XII., dem der Erhalt der Jagiellonen-Dynastie in Böhmen und Ungarn gegen den drohenden Erbfall dieser Länder an das konkurrierende Haus Habsburg ein dringendes Anliegen war, stattete die Braut mit einer Mitgift von 40.000 Dukaten aus. Teile dieses Geldes könnten dazu verwendet worden sein, die Wohngemächer der Prager Burg für die nunmehr vergrößerte Hofhaltung zu erweitern. Der Ludwigstrakt ist das eindrucksvolle Resultat dieser Bemühungen. Es erscheint paradigmatisch, dass Wladislaw II. seinen Architekten für den Umbau des Hradschin nicht etwa aus den Reihen der zünftig gebundenen Werkmeister rekrutierte, sondern auf einen Auswärtigen zurückgriff, dessen vorherige Tätigkeit im bayerischen Donauraum wir lediglich durch Kenntnisnahme seines Repertoires annehmen können, während archivalische Nachweise fehlen. Ein gewisser Benedikt Ried erscheint erstmals 1489 in einem Schreiben der Prager Steinmetzzunft an den Senat der Stadt Kuttenberg auf der Prager Szene⁸. Unter anderem beklagen die Steinmetzen der Hauptstadt die hohe Gunst, welche die „Meister der Burg“ – in deren Reihen auch Ried erwähnt ist – bei den Repräsentanten des Kuttenberger Stadtregimentes genießen, wohingegen sie die Prager Zunft „beschimpfen, als wenn von ihr die Ordnung nicht gehörig gehandhabt würde“.Wir werden hier Zeuge einer Emanzipation des frühmodernen Hofkünstlers, der sein Prestige in der Tat vielerorts auf Kosten der althergebrachten Handwerkerverbände zu steigern wusste und – wie auch im Fall Rieds bezeugt – zum begehrten Gutachter in solchen Streitfällen avancierte, die nach einer von Interessenskonflikten zwischen den Berufsverbänden unberührten Autorität verlangten. Überdies konnte nicht allein Ried, den sein Bauherr Wladislaw einer Zeugenaussage aus dem Jahr
Transkription und archivalischer Nachweis bei Fehr: Benedikt Ried, S. 72– 73.
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Abb. 8: Prag, Hradschin. Podesttreppe des Lundwigstraktes
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Abb. 9: Prag, Hradschin. Monogramm Ludwigs II. über dem raumtrennenden Portal der Böhmischen Kanzlei
1590 zufolge „zum Ritter gürtete“⁹, für getreue Dienste mit einer Standeserhöhung rechnen¹⁰.
2 Ars versus Ingenium Nicht allein in bautypologischer und kunstsoziologischer Hinsicht zeichnet der Umbau der Prager Burg zur Residenz einen Weg der mitteleuropäischen Herrschaftsarchitektur in die Neuzeit nach. Deutlicher noch erhellt diesen Vorgang die offenkundige Auffassung des Architekten und seines Auftraggebers von der Baukunst als diskursives Metier, das sich vortrefflich eignet für spekulative Versuche mit dem Repertoire normativ tradierter Formen. Auch in dieser Hinsicht nahm Ried Maß am Meißener Werk Arnolds von Westfalen. Doch erweitert er den
Zur Quelle Winter: Beneš z Loun, jeho erb a rod, S. 79. Zur verbreiteten Praxis der Standeserhöhung von Hofkünstlern Warnke: Hofkünstler.
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Diskursrahmen über den Formversuch hinaus durch ein Nachdenken über das Räumliche als die unsicherste der Dimensionen. Der spatial turn der jüngsten Jahrzehnte ist ein schwacher Widerschein jener Entgrenzung des Mikro- und Makrokosmos, die damals, als immer stärkere optische Geräte die Auflösungsfähigkeit des Blickes radikal steigerten und die Erde zur kleinen, die riesige Sonne umkreisenden Kugel wurde, das Bild von der Welt erschütterte. In jener Welt des neu zu bestimmenden Raumbezugs aller Gegenstände – von Dürers „Rasenstück“ bis zur Verortung der Kontinente – war es an der Architektur, raumbildende Kreativität als ihre Kernkompetenz unter Beweis zu stellen, doch gab es keinen Konsens darüber, wie dies zu bewerkstelligen sei. Es konkurrieren in den Jahrzehnten um 1500 in Europa zwei widersprüchliche Strategien um die Modernisierung der Architektur. Die eine versucht, Ordnung(en) zu schaffen durch die korrekte Anwendung von Regeln, die andere demonstriert im Gegenteil, wie instabil solche Ordnungen sind, indem sie deren Grundlagen dynamisiert. Sowohl die nun erstmals versuchten Wiederbelebungen römisch-antikischer Säulenordnungen als auch die der Normativität modellhafter Pragmatik verpflichteten Werkmeisterbücher der deutschen Spätgotik unterwerfen das Potential individueller künstlerischer Begabung – des ingeniums – nachdrücklich dem Regulativ der ars, die alle erlernbaren Prinzipien der Kunstübung und ihr gesammeltes Wissen umfasst.¹¹ Doch bleiben diese Regulative nicht unwidersprochen. Früher als der Widerspruchsgeist des „Manierismus“ in Italien artikuliert sich gerade in Mitteleuropa ein unbändiges Interesse an der ironisierenden Revision der gotischen Entwurfslehre. Deren Credo der Visualisierung von Konstruktion durch die architektonische Form und der Formfindung durch geometrische Verfahren wird in gebauten Gegenbeweisen auf ihre Plausibilität hin überprüft und im Wortsinn dekonstruiert.¹² Systematisches Bemühen um Kodifizierung der Architektur und kalkulierter Regelbruch stehen sich also südlich wie nördlich der Alpen in Koinzidenz gegenüber, beide ein je eigenes Feld „wissenschaftlichen“ Entwerfens und Konstruierens für sich beanspruchend. Die
Zu ars und ingenium als Diskursbegriffen in der italienischen Kunsttheorie des 14. und 15. Jahrhunderts Pfisterer: Donatello, S. 68 – 79. Zur Bewertung der gleichzeitigen nordalpinen Architektur Nußbaum. Patterns of Modernity. Zur intellektuellen Disposition spätgotischer Formkonzepte und deren Wirkungsabsichten umfassend Kavaler: Renaissance Gothic. Zur Erforschung dekonstruktiver Gewölbeentwürfe der Jahrzehnte um 1500 kooperiert der Verfasser eng mit Thomas Bauer und Jörg Lauterbach, Dresden, mit dem Ziel des differenzierten Nachweises der zeichnerischen und baulichen Konstruktionsverfahren. Die Arbeitsgruppe nutzt konsequent die transdisziplinäre Interaktion zwischen geistes- und technikgeschichtlicher Perspektive.
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anthropologische Metaphorik Vitruvs wiederentdeckend, wird der Renaissance die menschenähnliche Säule zum liebsten Modellfall, während die der Licht- und Firmamentmetapher verschriebene Gotik nach wie vor im Gewölbe jene Sphäre erkennt, in der Technologie und Sinnstiftung ihrer Bauweise kulminieren. Wer in diesem Metier Neues präsentieren wollte, der musste die mustergültigen, als homogen-ornamentale oder figurative Netze konzipierten Bogenformationen des Rippengewölbes aufbrechen und dynamisieren. Probate Verfahren für die Strategie waren: – Überspielen der Steinmaterialität und ihrer konstruktiven Eigenschaften – Aufbrechen und Verfremden der geometrischen Grundrissfigur – Regellose Lagerung des Gewölbes im baulichen Gefüge. – Dreidimensionale Torsion der Rippenbögen. – Fragmentieren der Rippenbahnen durch ihre Aufspaltung. Diese Maßnahmen thematisieren gleichsam den Freiheitserwerb der gekrümmten Decke von jeglicher konstruktiv-funktionalen Verpflichtung für die Sicherung des Baubestandes. Deren neue Aufgabe ist es, das Entbinden des Raumes von seiner materiellen Hülle zu visualisieren, was man als eine emanzipatorische, weil entgrenzende Idee im Sinne der Kunsttheorie der frühen Neuzeit bezeichnen könnte. Benedikt Ried spielte so virtuos wie kein anderer auf dieser Klaviatur. All seine Rippengewölbe auf dem Prager Hradschin beherzigen gleich mehrere Varianten der Demontage. Gemeinsam bilden sie ein einzigartiges Kompendium, das mit Fug und Recht als der wichtigste Beitrag Mitteleuropas zur frühmodernen Architekturdebatte bezeichnet werden kann. Den Kanon der gotischen Baugeometrie dekonstruieren am radikalsten das Gewölbe über der Reiterstiege, die in den Wladislawsaal hinaufführt, sowie jenes über dem Obergeschossraum des Ludwigstraktes, der später als „Böhmische Kanzlei“ fungierte (Abb. 10 und 11).¹³ In beiden Fällen sind die Formbezüge so vehement aufgesprengt und zersplittert, dass lediglich gekrümmte (Reiterstiege) oder gerade Rippenstücke (Böhmische Kanzlei) den Eingriff überlebten. Im letzteren Fall erläutern diese Stücke ihre Vereinzelung dadurch, dass sie um eine ihnen eingeschriebene, jedoch exzentrische Achse rotieren.
Nach dem baldigen Erbfall Böhmens an Habsburg und dem Burgbrand 1541 war im 2. Obergeschoss die 1527 durch Ferdinand I. gegründete Böhmische Kanzlei untergebracht. Jene wurde 1618 Ort des Prager Fenstersturzes, der den Dreißigjährigen Krieg auslöste.
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Abb. 10: Prag, Hradschin. Gewölbe der Reiterstiege
Abb. 11: Prag, Hradschin. Gewölbe der Böhmischen Kanzlei
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3 „Epistemische“ Objekte Gerne wüsste man mehr darüber, wie bei Hofe das exklusive Raffinement solcher Erfindungen wahrgenommen wurde. Gab man sich damit zufrieden, sie als irritierende „Raumwunder“ zu bestaunen? Betrachtet man Genese und Nachleben der Riedschen Werke, so stechen sie aus ihrem Umfeld heraus als eine beispiellos kühne Aufforderung an das Auge, die verlorenen Formbezüge durch Übergang von simultaner Wahrnehmung in ein analytisches Separieren der Fragmente und anschließendes Wiederherstellen der Verbindungen zu heilen – sie also mit scharfem Auge und nachkonstruierendem Verstand gedanklich zu erfassen. Die Frage „Was ist das?“ reicht demnach für das Verständnis dieser Artefakte nicht hin. Eine zweite Frage muss folgen: „Wie wurde das gemacht?“. Die Antwort bedarf der systematischen Rekapitulation aller Planungs- und Konstruktionsprozesse.¹⁴ Hier sei nur so viel angemerkt: Die Dekonstruktion des Rippengewölbes bewerkstelligt Benedikt Ried mit den genuinen Mitten der gotischen Baugeometrie, indem er die Prozeduren der Formauflösung mit Zirkel und Richtscheit festlegt, und zwar durch systematische Verschiebung von Referenzpunkten und –achsen im zweidimensionalen Entwurf. Indessen wird die Präzision und Regelhaftigkeit durch die scheinbare Regellosigkeit der Formresultate verschleiert. Eine Dichotomie zwischen strenger Werkplanung und ästhetischer Sprengkraft ist demnach eine der Spannungen, die Rieds Gewölbeerfindungen auszeichnet. Sie sind durch Umschreibungen der älteren Kunstgeschichte, die sie zu „virtuosen Kabinettstücken“ degradierten, gänzlich fehlbewertet. Ich würde sie gern nobilitieren zu „epistemischen“ Objekten – zu Exemplifikaten von Wissen. Was zeichnet epistemische Objekte aus? Ich will diesen zeichen- und informationsphilosophisch eingeführten Begriff ¹⁵ für unsere Zwecke seiner komplexen hermeneutischen Einbettung entkleiden und für das Wissensfeld der Architektur vorschlagen, dass von solchen Objekten die Rede sein soll, wenn der Gegenstand in besonderer Weise darauf ausgerichtet ist, ein forschendes Nachdenken des Betrachters über sein Zustandekommen anzuregen, indem er An-
Dieser Aufgabe widmet sich eine Serie dreier Analysen, die der Verfasser gemeinsam mit Thomas Bauer und Jörg Lauterbach vorlegte. Bauer/ Lauterbach/ Nußbaum: Das Gewölbe der Böhmischen Kanzlei; Dieselben: Benedikt Rieds Rippengewölbe; Dieselben: Das WladislawOratorium des Prager Veitsdomes. Grundlegend: Abel: Epistemische Objekte – was sind sie; Ders.: Epistemische Objekte als Zeichen- und Interpretationskonstrukte.
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strengungen visueller Kognition und anschaulicher Urteilskraft von ihm einfordert. Nehmen wir den experimentellen Charakter von Rieds Gewölben ernst, dann sind ihre Entwürfe Versuchsanordnungen, deren toolbox eben aus jenen Verschiebungen, Torsionen und Überlagerungen besteht, von denen wir Kenntnis nahmen. Wissen wird an ihnen erprobt, technisch umgesetzt, ästhetisch artikuliert und semantisch kommuniziert. Die von Ried verfolgte investigative Strategie ist diejenige einer Änderung der Versuchsanordnung, nämlich einer punktuellen Überschreitung und Aushebelung konventionalisierter Entwurfspragmatiken, die einen phänomenalen Effekt zeitigen. In der lingua franca der Steinmetzen, der darstellenden Geometrie, gibt uns Ried auf einer der freien Enden seiner gekappten Rippen in der Böhmischen Kanzlei einen ebenso überraschenden wie einprägsamen Hinweis auf die Parameter seines Vorgehens, der erstaunlicherweise der langen Auseinandersetzung mit diesem Gewölbe bislang entgangen ist und erst durch die messende und nachkonstruierende Analyse des Gewölbes als eine Art versteckte „Konstruktionsanweisung“ für den Betrachter dechiffriert werden konnte:¹⁶ Er zeichnet die Profilachse seiner Rippe ein, die Lage des rotierenden Profils zur Raumsenkrechten am konkreten Punkt der offenen Fuge, den Konstruktionsmittelpunkt des Profils und seinen vom Mittelpunkt abweichenden Drehpunkt. Er markiert ferner sogar diagrammatisch die Dimension des Rohblocks, den der Steinmetz benötigt, um das Profil exzentrisch rotieren zu lassen (Abb. 12). Diese Ritzzeichnung ist Signatur und diagrammatische Dokumentation der Entwurfsschritte zugleich. Sie indiziert in verblüffend reduktiver Plausibilität die Absicht des Urhebers, uns ein epistemisches Objekt zu hinterlassen. Rieds Gewölbe sind demnach nicht zuletzt Nachweise eines überlegenen Ausbildungsstandes. Ihm und seinen Berufsgenossen drohte die Verdrängung von einem Markt, den sie bislang unangefochten dominiert hatten. Denn Ihre bewunderten baugeometrischen Konstrukte waren der Marginalisierung durch das Vokabular der wiederbelebten Antike ausgesetzt, das sie zunächst noch ironisierend in Augenschein nahmen (Abb. 13), das sich aber alsbald über das Medium des bebilderten Traktates konsumentenfreundlich verbreiten sollte und die Baugeometrie zu einem Expertenwissen marginalisierte, dessen Exklusivität bald nurmehr den Freimaurerlogen attraktiv erschien.
Bauer, Lauterbach, Nußbaum: Das Gewölbe der Böhmischen Kanzlei, S. 74.
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Abb. 12: Prag, Hradschin. Freies Rippenende im Gewölbe der Böhmischen Kanzlei. Die roten Pfeile deuten auf eine Anreißlinie, welche die Raumsenkrechte markiert, die gelben auf die ebenfalls angerissene Profilachse. Der Schnittpunkt beider Linien (violett) ist der Drehpunkt der um ihre Achse rotierenden Rippe. Das Kreisdiagramm rechts gibt Hinweise auf die Größe des Rohblocks im Verhältnis zum Drehpunkt.
4 Eine Architektur Mitteleuropas? Die Forschung tat sich schwer, die Kunst Benedikt Rieds einzugliedern in ihre Systematik der Epochen- und Nationalstile. Bemessen am Maßstab des gotischen Gliederkanons, war sie dem Verdikt dekadenter Deformation unterworfen.¹⁷ Als Exponent eines „sondergotischen“ Stilcharakters ließ sie sich allenfalls von der deutschen Historiographie vereinnahmen, so wie es Götz Fehr 1961 unternahm,¹⁸ denn der Protagonist schien offenkundig im Umkreis der süddeutschen und donauländischen Architektur sozialisiert. Die tschechischen Autoren kämpften lange Zeit mit dem Problem, dass nicht allein der Schöpfer der Werke kein Tscheche war, sondern darüber hinaus die jagiellonische Dynastie als interimistische Fremdherr Einen knappen Forschungsüberblick bietet DaCosta Kaufmann: Will the Jagiellonians again have their Day? Fehr: Benedikt Ried. Schon der Untertitel der Monographie pocht auf die deutsche Herkunft des Künstlers.
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Abb. 13: Wladislawsaal, Portal zur Landrechtstube mit gedrehtem Pilaster
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schaft auf böhmischem Boden misskreditiert, so dass der Ausbau des Prager Burgberges als Ganzes nur schwer in die Synopse der nationalen Kulturhistoriographie einzugliedern war.¹⁹ Jenen, die genauer hinschauten, war indessen schon vor Jahrzehnten klar, dass sowohl die Voraussetzungen für die Prager Erfindungen als auch deren Auswirkungen nicht an territoriale Grenzen gebunden waren, sondern als Elaborate einer transnationalen Steinmetzkunst anzusprechen sind, die sich durch die per Profession erzwungene Wanderschaft der Planenden und Ausführenden über einen größeren Raum verbreitete.Wie in anderen Baukonjunkturen auch definierte sich dieser Raum zuvorderst durch die zeit-örtliche Verteilung der großen Bauaufträge, die entsprechend ehrgeizige Bauziele und die Akkumulation großer finanzieller Mittel voraussetzen – mögen diese Mittel wie jene der sächsischen Wettiner unmittelbar aus der Kasse der frühkapitalistisch wirtschaftenden Fürsten stammen, oder wie jene der böhmisch- ungarischen Jagiellonen durch eingetriebene Abgaben und Verschuldung aufgebracht worden sein.²⁰ Die königlichen Projekte zogen solche des ständischen Adels und der königlichen Städte nach sich. So baute Ried offenbar für Zdeněk Lev von Rožmitál auf Schloss Blatná, für die Herren Schwihau von Riesenburg auf den Burgen Schwihau/Švihov und Raby/Rábí, und für Karl von Münsterberg auf Frankenstein/ Ząbkowice in Schlesien.²¹ In der Silberstadt Kuttenberg vollendete er die Barbarakirche, für die Stadt Laun/Louny entwarf er die Nikolauskirche. Die Folgegeneration begabter Architekten und Steinbildner, die teilweise als jüngere Kooperationspartner Rieds bezeugt sind, fanden bald lukrative Aufträge in den benachbarten Territorien Sachsen, Schlesien und Österreich. Sie waren unabhängige Unternehmer, längst den traditionellen Hüttenorganisationen und deren Regularien entbunden²² und sind als jene Akteure zu bezeichnen, die nach 1500
Zu diesem Dilemma Jiří Faijt: Das Zeitalter der Jagiellonen in den Ländern der böhmischen Krone und die tschechische Historiographie. – In: Wetter (Hrsg.): Die Länder der Böhmischen Krone und ihre Nachbarn zur Zeit der Jagiellonenkönige (1471– 1526), S 85 – 98, hier S. 16 – 17. Nach der Jahrhundertmitte waren die wettinischen Landesherren, wirtschaftlich gestärkt durch den Erzbergbau in den südlichen Landesteilen, die finanzkräftigsten Fürsten im Reich. Verglichen mit westdeutschen Territorien wie Kurköln oder Kurpfalz stand dem Fürsten mehr als das Tausendfache an Bargeldüberschuss zur Verfügung. Droege: Die finanziellen Grundlagen des Territorialstaates, S. 155 – 161. Jiří Faijt: Das Zeitalter der Jagiellonen in den Ländern der böhmischen Krone und die tschechische Historiographie. – In: Wetter (Hrsg.): Die Länder der Böhmischen Krone und ihre Nachbarn zur Zeit der Jagiellonenkönige (1471– 1526), S 85 – 98, hier S. 21– 22. Hubala: Palast- und Schlossbau, S. 32 spricht im Zusammenhang dieser Entwicklung noch von einem „[…] beispiellose[n] Aufstieg der Prager Burgbauhütte, der wahrhaft Epoche gemacht hat.“ Zur Individualisierung der professionellen Architektenbiografien aspektreich diverse Beiträge in Bürger/Klein: Werkmeister der Spätgotik.
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Mitteleuropa als einen Wirtschafts- und Wissensraum für sich entdeckten, der weniger durch Ländergrenzen zu umschreiben ist als durch ein Potential supranationaler Waren- und Kommunikationswege. Es sind dies die Wege der Frühen Neuzeit, an denen Mitteleuropas Architekturschaffen in besonderem Maße partizipierte.
Bildnachweise: Abbildungen 1, 3, 4 – 6, 8 – 13 Abbildung 2 Abbildung 7
Thomas Bauer/Jörg Lauterbach, Dresden und Norbert Nußbaum, Köln Petr Chotěbor, Prag aus: Hartmann Schedel: Registrum huius operis libri cronicarum, 1493
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2 Politische Geschichte: Mitteleuropäische Neuorientierungen im 20. Jahrhundert
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Tomáš Garrigue Masaryk: Ein mitteleuropäischer Europäer Das „Europäische“ ist eine Art konkretes Apriori. Der europäische Bereich ist e i n e letzte Ruhestation für den Erkennenden […].¹
Um Masaryks‚mitteleuropäischen Europäismus‘ besser zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die unterschiedlichen Traditionen tschechischer Herangehensweise an ethnische, nationale und politische Fragen, die das Zusammenleben verschiedener Nationen im mitteleuropäischen Raum und dessen politische Spezifika betreffen. Die Tschechen sahen „Mitteleuropa“ meistens im Kontext der eigenen historischen und kulturellen Identität als Existenzproblem einer kleinen Nation im geopolitisch exponierten Raum zwischen Deutschland und Russland. Solche Sichtweise einer Zwischenposition begegnet man auch – wenn auch manchmal mit Verspätung – bei anderen mitteleuropäischen Nationen: Für Polen bedeutete Mitteleuropa meistens ein Intermarium, einen Raum zwischen Dneprmündung und der Ostsee², für die Magyaren sind es die Gebiete im Karpatenbogen³, beziehungsweise – wie beim Historiker Jenö Szüsc – ein geschichtliches Territorium, das die „[…] östliche Grenze von Westeuropa im kulturellen Sinne und eine westliche Grenze von Osteuropa im politischen Sinne bildet“⁴. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs verstanden Slowaken Mitteleuropa als einen Donauraum ⁵, für Österreicher bedeutete es meistens die Gebiete, die die alte K.u.K.-Monarchie bildeten usf. Das, was diese mitteleuropäischen Mitteleuropa-Konstruktionen gemeinsam haben, ist eine Situierung dieses Raumes auf einer Nord-Süd-Achse zwischen Ost und West, und zwar in Unterschied zur überwiegend deutschen Auffassung, die eine West-Ost Achse präferierte und in der Mitteleuropa später auf Ostmitteleuropa verengt wurde. Britische Politologen und Historiker sprechen dagegen immer über ein Central Europe, in dem sich beide Orientierungen sozusagen durchkreuzen. Als Ausgangspunkt des tschechischen Denkens über Mitteleuropa könnte man bereits den sog. Landespatriotismus der Vormärzzeit erwähnen, für den Zu-
Fischer: Der Realismus und das Europäertum, S. 106. Zieliński: Handschrift. Vgl. Literaturvezeichnis. Gönz: Dúha a fatamorgána (Ein Regenbogen und die Fara Morgana). – In: Gönz: Karpaty a prilahlý vesmír, S. 114. Szücs: Die drei historische Regionen Europas, S. 48. Hodža: Federácia v strednej Európe. https://doi.org/10.1515/9783110536003-004
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gehörigkeit zum Land und eine territoriale Herkunft wichtiger schienen⁶ als eine ethnische Zugehörigkeit und Sprachunterschiede. Betont wurde also eine politische Nation gegenüber der ethnischen. Das setzt sich fort im sog. föderalistischen Austroslawismus, der die Selbständigkeit von ‚Westslaven‘ gegenüber dem russischen Imperialismus und dem deutschen Expansionismus zugleich schützen sollte, dessen Grundintention František Palacký – einer der Begründer der modernen tschechischen Politik und Geschichtsschreibung – im April des Revolutionsjahres 1848 formulierte: „Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müßte im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen […].“ In einem bonmot komprimierte der kroatische Banus Jelačić die gleiche Ansicht: „Wenn es kein Österreich gäbe, wahrlich, jetzt müßten wir’s schaffen.“⁷ Austroslawismus stand dann lange Zeit, bis zu dem Ersten Weltkrieg, nicht nur im Hintergrund der tschechischen Mitteleuropareflexionen⁸, die immer stärker politologisch als kulturwissenschaftlich waren, was sonst – wie auch die meisten tschechischen Politikkonzepte – mit der traditionellen kulturellen, aber auch politischen Orientierung der Tschechen auf Frankreich zusammenhing. In diesem Sinne war tschechische Politik lange Zeit „mitteleuropäisch“ orientiert. Noch während des ersten Weltkrieges glaubten freilich die meisten Repräsentanten damaliger tschechischen Politik, dass es keine politische Zukunft für Tschechen außerhalb eines mitteleuropäisch starken, zugleich föderalisierten, modernisierten und vor allem demokratisierten österreichischen Staates gebe.⁹
Neben dem Philosophen und Mathematiker Bernard Bolzano (1781– 1848), dem Linguisten Josef Dobrovský (1753 – 1829), den Politikern Leo Grafen Thun (1809 – 1870) und Naturwissenschaftler Kašpar M. Šternberk (1761– 1838) u. a. war gewisse Zeit auch der Begründer moderner tschechischen Geschichtsschreibung František Palacký (1798 – 1876) ein Anhänger des Landespatriotismus. Die Habsburger Monarchie (1848 – 1918), Bd. III, 1, S. XIII und XIV – zit. bei Stieg: Sein oder Schein: Die Österreich-Idee von Maria Theresia bis zum Anschluss, S. 67. Während des Zweiten Weltkrieges, dessen Verlauf die Ergebnisse tschechischer Befürchtungen um die Selbständigkeit und Freiheit von ‚kleinen Nationen‘ in dieser exponierten Zone zu bestätigen schien, wurde ein politischer Mitteleuropabegriff als staatspolitische Nachkriegsperspektive restituiert und weiter entwickelt. Die Aufsätze von Beneš’s Mitarbeiter Hubert Ripka (1895 – 1958) über eine Konföderation mit Polen (z. B. Ripka: Česko-slovensko-polská konfederace), legen es nahe, dass sogar Edvard Beneš (1884– 1948) sich in der ersten Phase seiner Verbannung einige Zeit mit politischen Möglichkeiten dieses Konzepts beschäftigte, doch am Ende hat er sich leider für eine prosowjetische Lösung entschieden. Diese traditionellen geopolitischen Orientierungen stießen freilich schon vor dem Kriege auf verstärkte Emanzipationsbemühungen der breiteren Schichten der damaligen tschechischen nationalen Gesellschaft, die an die Möglichkeit des nationalen Zusammenlebens mit Österreichern und Magyaren nicht mehr glaubten und die sich im Verlauf des Krieges (und besonders
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Eindeutig gegenläufig zu ähnlichen tschechischen überwiegend pragmatisch politischen (und lange Zeit zirkulierenden) Mitteleuropavorstellungen standen die politischen und philosophiegeschichtlichen Überlegungen von Tomáš Garrigue Masaryk (1850 – 1937), die er in Nová Evropa (1920) und teilweise auch in Světová revoluce (1925) entwickelte und die er schon in älteren Publikationen, z. B. in Česká otázka (1895) und Ideály humanitní (1902), vorbereitet hatte. Diese Distanz Masaryks hatte mehrere Gründe. Seine ethnische Herkunft und nationale Identität waren nicht ganz eindeutig, was für mehrere mitteleuropäische Intellektuelle damaliger Zeit gilt, und seine Mentalität wurde einige Male eher als slowakisch charakterisiert. Er selbst entwickelte den sog. Tschechoslowakismus als Idee einer Nation von zwei, nur durch Sprache sich unterscheidenden Stämmen von Tschechen und Slowaken. Nationalismus hielte er für eine ganz ungenügende philosophisch-theoretische Grundlage jeder Politik, obwohl er sonst ein großes Verständnis für die Kämpfe slawischer Nationen für die Selbstbestimmung in der Doppelmonarchie und gegen den Wiener Zentralismus hatte, den er letztes Ende als eine Form von Minderheitsherrschaft über die Mehrheit ablehnte. Nation war für ihn im Prinzip mit Gesellschaft identisch und deswegen nicht so stark substantiell konzipiert. Er akzeptierte zwar die im 19. Jahrhundert entstandene Vorstellung des Nationalstaates, die er freilich für zeitbedingt hielt. Näher lag ihm im Falle der neu entstandenen Tschechoslowakei die Idee der „schweizerischer Konföderation“. Masaryk stammte aus Hodonín (Göding), das in Südostmähren an der Grenze zu damaligen ‚Oberungarn‘ lag. Sein Vater war Slowake und die meisten seiner Verwandten waren hinter der Grenze lebende Slowaken. Die Mutter war eine Mährin aus Haná (Hana), wo es auch deutsche Schulen gab. Zu Hause wurde mit mährisch-slowakischen Dialekt gesprochen. Er selbst absolvierte die deutsche Realschule in Hustopeče (Auspitz) und das deutsche Gymnasium in Brno (Brünn). Als Student bewegte er sich längere Zeit als Hauslehrer in deutsch-französischem Milieu, hatte eine Amerikanerin geheiratet und neben dem Tschechischen und Deutschen und gute Kenntnisse der klassischen Philologie. Er sprach fließend Französisch, später auch Russisch und Englisch, wobei er seine Sprachkenntnisse immer mit einem tiefere Verständnis der entsprechenden nationalen Literatur als einer Vermittlerin der Kultur, Lebensweise und Mentalität verband. Masaryks zerstreute Bemerkungen über die Sprache als Mittel für ein „Eindringen in den Geist entsprechenden Nationen“¹⁰ komprimierten seine Interpreten in eine oft
nach 14-Punkte-Programm von Woodrow Wilson vom Anfang 1918) mit der sog. Auslandsaktion von T. G. Masaryk, E. Beneš und M. R. Štafánik identifizierten. Vgl. Čapek: Hovory, S. 49.
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wiederholte Parole: „Je mehr Sprachen du kennst, desto mehr bist du ein Mensch“. Philosophie studierte er in Wien, wo er sich auch – nach zweijährigem Aufenthalt in Leipzig – habilitierte. Mit zweiunddreißig Jahren zog er auf Dauer nach Prag, wurde außerordentlicher und dann ordentlicher Professor an der KarlFerdinands-Universität. Im Herbst 1918 wurde er zum Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik gewählt. Die tschechische politische Kultur seiner Zeit kritisierte er als provinziell, im Ganzen historisch wenig erfolgreich und deswegen auf lange Sicht auch keine Orientierung bietend, das öffentliches Leben hielt er für wenig kultiviert. Die Ziele der Parteien waren für ihn zersplittert und ungenügend, weil mit Wunschbildern verbunden – z. B. durch den Glauben an die Echtheit und legitimierende Kraft von sog. alttschechischen ‚Handschriften‘. Die Interessen und Forderungen damaliger politischen Akteure, die überwiegend aus nationalistisch gesinnten Mittelschichten stammten (was freilich der stratifikatorisch unvollständigen tschechischen Nationalgesellschaft jener Zeit entsprach), musste Masaryk zwar realistischer Weise respektieren und mit ihnen auch einen Konsensus suchen, doch die Zusammenarbeit dauerte meistens nicht sehr lange. Den im 19. Jahrhundert sich durchsetzenden Nationalliberalismus lehnte er philosophisch wegen seiner Untauglichkeit ab, allgemeingültige Werte zu begründen und überzeitliche Ideen zu verfolgen.Von dieser Position aus setzte sich Masaryk wiederholt nicht nur mit der Entwicklung und dem Zustand der tschechischen Politik auseinander, sondern auch mit der oberflächlichen Diskussion nationalistischer Fragen im öffentlichen Raum, wie er es z. B. in seiner Broschüre Naše nynější krize (1895) tat. Für seinen politischen und kulturellen Aktivismus, der gesinnungsethische mit verantwortungsethischen Argumenten kombinierte, waren eher intellektuelle, oft mit journalistischen Kreisen verbundene Eliten wichtig, daneben dann aber auch Repräsentanten der neuen Generation, die im Kontext des Aufschwungs der tschechischen Gesellschaft und Kultur in 1880er und 1890er Jahren aufwuchs und in denen Masaryk Akteure künftiger Veränderungen sah, was ihm wiederholt die Kritik einbrachte, er verderbe die Jugend. Pointiert gesagt: Masaryk wollte nicht irgendeiner politischen, die österreichische Monarchie umwälzenden Bewegung einfach beitreten, sondern eher langfristig – teilweise auch unausgesprochen – eine Systemveränderung vorbereiten. Dem entsprach nicht nur seine Kritik an den politischen Skandalen der Wiener Regierung, an den Kämpfen mit Außenminister Ahrenthal oder am Streit mit österreichischen Katecheten, in seiner Ablehnung des religiösen Aberglaubens (z. B. des jüdischen Ritualmordes) und der tschechischen Nationalmythen (der erwähnte Handschriften) usf. In diesen Kontext gehört auch sein Sozialisierungs- und Bildungskonzept einer „unpolitischer Politik“ in einer Nation ohne eigenen Staat, die auf fortschreitende Emanzipation, Bildung und Kultur des
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Volkes zielt, unabhängig von innenpolitischen Kämpfen. Auch legitimierte eine aristokratische Herkunft für ihn keinen Vorrang in Kompetenz und Moral. Die heutige Hochschätzung der Wiener Kultur und Lebensweise um die Jahrhundertwende¹¹ oder der damaligen maßgebenden geistigen Produktivität des österreichischen fin du siècle¹² u. a. würde Masaryk nicht akzeptieren. Seinen eigenen moralischen Überzeugungen entsprechend bewertete er die Wiener Kultur um 1900 eher als Ausdruck kulturpolitischer Dekadenz und spezifisch wienerischer Heuchelei, moralischer Oberflächlichkeit und öffentlicher Verantwortungslosigkeit und stand damit eher dem kritischen Scharfblick des jüngeren Karl Kraus näher. Gegen den main stream national beschränkter und ‚historizistisch‘ engstirniger tschechischer Politik versuchte er wiederholt seine philosophische Auffassung zu formulieren. Sie zielte auf einen universalisierten „Sinn der tschechischen Geschichte“ ab, der fassbar wurde in der tschechischen Reformation (Jan Hus, Petr Chelčický, Jan Amos Komenský) und der nationalen Wiederbelebung am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts (Josef Dobrovský, Jan Kollár, František Palacký, Karel Havlíček) und schließlich in allgemein verbindlichen, politisch orientierenden und inhaltlich anspruchsvollen Ideen von Demokratie und Humanität mündete. Solche ‚überzeitliche‘ Begründung tschechischer Politik und ihrer Einheit sollte verinnerlicht werden und sich auch im Zusammenleben mit anderen Nationen auf längere Sicht deutlicher ausformen. Masaryk zufolge sollten soziale Probleme, wirkende Ursachen und konkrete politische Entscheidungen nie pragmatisch behandelt werden, sondern prinzipiell auf das Wesen des Menschen bezogen werden und gerade dadurch sich in allgemeine Kontexte der Weltgeschichte einbinden lassen. Seine Hauptideen verstand er als moral-politische Reifikation der ursprünglich christlichen Nächstenliebe. In moderner Zeit sollten sie immer stärker zu einem allgemeinen Konzept nicht nur der Politik, sondern auch des geistigen Lebens überhaupt werden und so eine Chance für Durchsetzung einer künftigen europäischen Einheitskultur herausbilden. Gerade durch solche Ideen bemühte er sich auch ein ethnisch und nationalpolitisch gefärbtes tschechisches austroslawisches Mitteleuropaverständnis zu ersetzen. Masaryks oft betonter politischer „Konkretismus“, seine Fähigkeit, Probleme direkt zu identifizieren und ihren Kern kritisch zu entlarven, beruhte – für uns vielleicht überraschender Weise – auf seinem philosophischen Platonismus, der ein immerwährendes Wirken solcher Ideen (ante rem) in Ereignissen voraussetzte Vgl. Johnston: Austrian Mind und Schorske: Fin-de-Siécle. Vgl. Magris: Habsburský mýtus; Kosík: Kafka a Hašek. Rozhovor o próze, eine erweiterte Fassung: Kosík: Hašek a Kafka neboli groteskní svět; Kosík: Střední Evropa; Kundera: Únos Západu.
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und auf Asymmetrien zwischen den Idealen und der als selbstverständlich gesehenen Wirklichkeit aufzeigen konnte. Die Ideale zeigten sich vor allem als spezifische, nicht nur gesellschaftliche, doch vor allem persönliche Verpflichtung. Das Bemühen sie zu verwirklichen schlägt sich in den verschiedenen historisch individuellen, kulturellen Konstellationen, politischen Bewegungen und historischen Erscheinungen nieder. Gesellschaftliche Kritik wird hier zugleich Bedingung demokratischer Gleichheit und Freiheit. Den uns interessierenden Mitteleuropabegriff benutzte Masaryk ganz selten, er sprach fast immer über ein „zentrales Europa“¹³, was er überwiegend geographisch bzw. geopolitisch verwendete als Bezeichnung „einer Zone von kleineren und kleinen Nationen, die sich zwischen West und Ost, zwischen Deutschen und Russen ausdehnen“¹⁴ und auf einer Achse zwischen Trieste und Helsinki liegen. Daneben sprach er von einer Reorganisierung des östlichen Europa ¹⁵. Nicht verwirklichen ließ sich ein politisches Konzept von Zentral- und Osteuropa, das Masaryk am 26. Oktober 1918 zu entwickeln versuchte und das eher aus der Idee der Demokratie als aus der Betonung von Spezifika und Selbständigkeiten hervorgegangen ist und vor dem Hintergrund seiner Befürchtungen eines Chaos formuliert wurde. Die Folge war dann das im Jahre 1921 entstandene militärischpolitische Abkommen der sog. Kleinen Entente, die von der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien gemeinsam unterschrieben wurde. Irgendeine staatspolitische Umbildung und eine deutsch-österreichische Erweiterung Mitteleuropas kam für ihn prinzipiell nicht in Frage, was sich am deutlichsten in Masaryks Polemik gegen eine national-liberale Mitteleuropa-Auffassung – sozusagen more germanico – von Friedrich Naumann zeigte. Naumanns Buch erschien Anfang des Ersten Weltkriegs (im Herbst 1915) als ein sozusagen ‚deutsches Programm‘ für die Neugestaltung Europas nach dem Sieg der Zentralmächte. „Mitteleuropa“, dessen Vorstellung Naumann mit historischen Rekurs auf das Heilige Römische Reich und auf den Deutschen Bund entwarf ¹⁶, sollte jetzt aus Staatsgebilden von Holland im Westen über Deutschland, Tschechien, die Slowakei, Polen, Österreich, Slowenien und Rumänien bis hin zur Ukraine im Osten bestehen und als selbstständiger politischer Raum ebenso dem Westen (England, Frankreich, Amerika) wie auch dem Osten (Russland) wirtschaftlich und militärisch gegenüberstehen. Für die deutsche Position in diesem Ganzen beanspruchte Naumann die Rechte eines ‚liberalen Imperialismus‘: Der Zusammenschluss, oder – wie es Soziologen nennen – die ‚innere
Z. B. Masaryk: Nová Evropa, S. 26. Ebenda, S. 39. Ebenda, S. 71. Naumann: Mitteleuropa, S. 44.
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Kohäsion‘ dieses mitteleuropäischen Gebildes sollte freilich nicht rein machtpolitisch oder einfach nationalistisch begründet werden, zumal die Nationen an sich Naumann zufolge langfristig abstürben, sondern eher sozialdarwinistisch und besonders wirtschaftlich. Dabei sollten freilich regionale (und auch nationale) Autonomierechte der aktuell existierenden Nationen respektiert werden. Eine innere Voraussetzung dieses Zusammenwachsens einzelner Nationen und Gruppen sollte die vorgebliche Existenz einer sich weiter kultivierenden ‚wirtschaftlichen Mentalität‘ gewährleisten, die alle Mitteleuropäer gemeinsam hätten. Die politische Emanzipation und die Selbständigkeit der Völker sollten so bei Naumann durch Wohlstand und zivilisatorische Entwicklung ersetzt werden, eine Strategie, der man teilweise auch in der österreichischer Politik des Ministerpräsidenten Eduard Taaffe in dem letzten Fünftel des 19. Jahrhunderts begegnen konnte.¹⁷ Der deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern versuchte Naumanns Thesen zu Mitteleuropa als eine „Alternative der Zivilisten zu dem wilden Annexionismus der Militärs“¹⁸ zu historisieren. Die betreffenden mitteleuropäischen Nationen und auch Masaryk selbst sahen jedoch darin immer noch nur eine pangermanische Schwärmerei. Zwei Jahre nach Naumann und ihm gegenüber explizit polemisch hat Tomáš G. Masaryk eine andere Vision eines Nachkriegseuropa entwickelt¹⁹, die auf einer asymmetrischen Voraussetzung gründete und den ganzen Kontinent, nicht nur sein Zentrum umfassen wollte. Im Verlauf des Jahres 1917 schienen sich nämlich Masaryks frühere Analysen zu bestätigen, dass nämlich die Zentralmächte – besonders nach dem Kriegseintritt der USA – den Krieg verlieren würden. Das danach kommende Neue interpretierte Masaryk als eine umwälzende ‚Weltrevolution‘, in der die Dominanz der alten theokratischen, moralisch und gesellschaftlich verbrauchten Systeme (Deutschland, Österreich-Ungarn und auch Russland) abgeschafft würde und eine völlig neue, integrative und demokratische Europaordnung herausgebildet werden müsse.
Vgl. dazu Gellner: Encounter with nationalism, S. 74– 81. Stern: Bethmann Hollweg und der Krieg, S. 29 – 30. Es gibt zwei Versionen von Masaryks Buch Das neue Europa. Die erste ist in wenigen Wochen während des zweiten Masaryks Aufenthaltes in Petersburg im September und Oktober 1917 entstanden und wurde im selben Jahr im Kiew beendet. Das Buch ist dann ohne Masaryks Kenntnis in 40. Fortsetzungen in einem Periodikum tschechischer Legionäre Československý deník erschienen und sollte ihre militärische Tätigkeit in Russland und auch im Westen (Frankreich und Italien) legitimieren und propagieren. Masaryk hielt diese Handschrift für verloren und aufgrund von alten Notizen schrieb er eine neue komplexere und gründlicher argumentierende Version des Textes, die 1918 in USA in Form eines Memorandums für die amerikanische Öffentlichkeit erschien und die das tschechische nationale Programm komplex im Rahmen der Kriegsziele der Entente und der Nachkriegsgestaltung des Kontinentes vermitteln sollte.
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Masaryk war überzeugt, dass er mit seinen Forderungen von 1915 der prinzipiellen Demokratisierung und Humanisierung einer künftigen europäischen politischen Ordnung die Kriegsziele der Entente zu formulieren half: „[…] wir haben den Verbündeten ein Programm gegeben: das ist keine Übertreibung, weil unsere Freunde in Frankreich, in England und in Amerika es selbst bekennen“²⁰. Und zugleich glaubte er, dass ein solches Programm die tschechischen Schicksale stärker mit dem main stream des weltgeschichtlichen Fortschrittes zur Demokratie und Humanismus verbinden würde. Eine wichtige Rolle in diesem neuen System sollten seiner Auffassung nach die west- und zentraleuropäischen ‚kleine Nationen‘ (wie Niederländer, Dänen, ‚Tschechoslowaken‘, Polen, Rumänen usw.) spielen, weil für sie demokratische Verhältnisse sozusagen eine Überlebensfrage bedeuteten. Und deswegen seien diese ‚kleine Nationen‘ imstande, in demokratischen Verhandlungsprozessen allgemeinmenschliche Interessen zu thematisieren und ihre Gleichheit durchzusetzen. Das Problem ‚Mitteleuropa‘ in Form der Unabhängigkeit und der geopolitischen Stabilität kleiner Nationen zwischen Russland und Deutschland wollte Masaryk also „europäisieren“²¹. Er wollte die allgemeine europäische Zusammenarbeit (einschließlich Deutschlands und Russlands) und den Frieden auf einer neuen Grundlage prinzipieller demokratischer Gleichheit aller Staaten reformulieren, was für ihn später eine notwendige Voraussetzung für die allmähliche, jedoch immer fortschreitende Vereinigung Europas bedeutete²². Man sollte natürlich nicht die Schwächen der Argumentation übersehen, die sich schon im Untertitel Slavischer Standpunkt des Buches Neues Europa verbirgt. Der Untertitel weist auch auf das slawische beziehungsweise neo-slavische Vorkriegs-Selbstverständnis zurück, als das Slawentum nicht nur als natürlicher Gegenspieler des Pan-Germanismus gesehen wurde, sondern zugleich als eine spezifisch zivilisatorische Entität, deren politische, mit verschiedenen Selbstillusionen verbundene Rollen sich noch erfüllen sollten. Obwohl Masaryk ähnlichen Gedanken gegenüber privat sehr kritisch war, im Hinblick auf die patriotisch-nationalistische Stimmung der Freiwilligen der tschechoslowakischen Auslandsarmee (sog. Legien), aber auch aus taktischen Gründen hinsichtlich des
Masaryk: Světová revoluce, S. 450. Vgl. auch Fischer: Masaryk realista a Evropan, S. 40, der in diesem Zusammenhang über Notwendigkeit einer „Europäistik“ als neu zu begründende politologische Disziplin spricht. Masaryk: Světová revoluce, S. 56 – 57. In der Zwischenkriegszeit wirkten ähnliche Gedanken wie die Masaryks in verschiedenen intellektuellen und pazifistischen Kreisen, z. B. in Pan-Europabewegung, obwohl Masaryk ihr Föderalismusprojekt zurückhalten beurteilte. In Deutschland propagierte z. B. der schon zitierte, doch heute eher vergessene Indologe und Philosoph Ernst Hugo Fischer den „Europäismus“ Masaryks.
Tomáš Garrigue Masaryk: Ein mitteleuropäischer Europäer
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russischen anti-bolschewistischen Milieus in damaligen Russland, mit dem er zusammenarbeitete, hob er in dem Buch diesen allgemeinen Begriff des Slawentums hervor. Zusammengefasst: Masaryk wurde sich bewusst, in welchem Maße jede Politik eigentlich eine Verwirklichung von ausdiskutierten Gedanken und geteilten Überzeugungen ist. Seine Mitteleuropavorstellung entwickelte sich aus mehrfachen Gegenpositionen zu den zeitgenössischen Vorstellungen und steuerte auf ein „Europäertum“ zu, das auf demokratischer Zusammenarbeit und demokratischer Diskussion gründet sein sollte: Das Misstrauen den Habsburgen und den österreichischen Deutschen gegenüber hinderte ihn den traditionellen tschechischen Austro-Slawismus zu unterstützen, der nach Demokratisierung, Föderalisierung und Modernisierung des Reiches als Garantien nationalen Gleichberechtigung und Unabhängigkeit von Mitteleuropa strebte. Er konnte deshalb weder eine nur wirtschaftlich begründete, mit angeblichen Pan-Germanismus verbundene Integration befürworten, noch den russischen Pan-Slawismus (beziehungsweise den „schwächeren“ einheimischen Neo-Slawismus), hinter dem er Ambitionen sowohl der russischen Orthodoxie als auch des Zarismus vermutete. Mit gewissen Sympathien verfolgte er die Pan-europäische Bewegung von Coudenhove-Kalergi, doch dessen Gedanken einer allgemeinen Föderalisierung von Europa konnte er nicht akzeptieren. Ein Europa demokratisch zusammenarbeitenden und innerlich wie äußerlich demokratisch geordneter Nationalstaaten hielt er – zumindest für die drei nächsten Generationen – in der Nachkriegssituation für das Maximum des Möglichen.
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‚Mitteleuropa‘ als politischer Begriff? Friedrich Naumanns Mitteleuropa und Tomáš G. Masaryks Das Neue Europa. Der slavische Standpunkt im Vergleich Es ist manchmal reizvoll, alte Texte wieder zu lesen; dabei geht es nicht unbedingt darum, etwas Neues aus ihnen zu erfahren, sondern darum, in den Texten einer anderen Zeit vielleicht etwas zu finden, dass auch in die heutige Zeit passt. Friedrich Naumanns Mitteleuropa und Tomáš G. Masaryks Das Neue Europa. Der slavische Standpunkt sind schon oft verglichen worden, wobei auf verschiedenen Reflexionsebenen jeweils gemeinsame Schnittmengen oder Unterschiede herausgearbeitet worden sind. Dies ist deswegen gerechtfertigt, weil Masaryk sich ausdrücklich auf den Text von Naumann bezieht. Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema soll hier nur ein Titel erwähnt werden: eine Diplomarbeit von 2014 von Petra Pokorná aus Pilsen¹. Die Verfasserin listet alle Gemeinsamkeiten der Texte auf, von der Entstehung der Schriften im Krieg bis hin zu Äußerlichkeiten, und sie arbeitet auch die entgegengesetzten Tendenzen der Schriften heraus, die sich aus der unterschiedlichen Zukunftserwartung der Autoren und ihrer Empfehlung für eine praktische Politik ergeben. Im Wesentlichen leiten beide aus der Geschichte politische Ansprüche ab, die aber jeweils anders verstanden werden. Ausgangspunkt ist bei beiden der dynastische Staat, bei Naumann unhinterfragt und dauerhaft, bei Masaryk dagegen als Instrument der Unterdrückung zur Zerstörung verurteilt. Der Hauptunterschied der vorgelegten Texte liegt in ihrem jeweiligen Ziel, das entsprechend je eigene Stilmittel erforderte. Beiden gemeinsam ist, dass sie aus den Ideen des 19. Jahrhunderts geschöpft haben: Naumann nimmt den Zusammenschluss von dynastischen Staaten als Vorbild für eine mögliche Entwicklung Mitteleuropas und kann sich dabei auf Italien und Deutschland als Beispiele stützen, aus denen jeweils ein moderner Staat geformt wurde; Masaryk betont die Bedeutung der Ethnien, also der Sprachgemeinschaften oder der Völker, die er gegen den dynastischen Staat zu Nationalstaaten formen möchte. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage in Europa und besonders in Mitteleuropa gewinnen beide Texte neue Aktualität. Ein Blick auf die Herkunft und die Werke beider Autoren macht bereits die unterschiedlichen Standpunkte deutlich: Friedrich Naumann (1860 – 1919) war evangelischer Theologe und liberaler Politiker und zweimal Abgeordneter im Petra Pokorná: Koncepce Střední Evropy. https://doi.org/10.1515/9783110536003-005
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Deutschen Reichstag (1907– 1912 und seit 1913). 1915 veröffentlichte er die Schrift Mitteleuropa ², in der er sich über die möglichen Kriegsziele der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn Gedanken machte und die rasch eine große Verbreitung fand. Das Buch entstand in der Anfangsphase des Weltkrieges, als große militärische Erfolge gegen Russland zu verzeichnen waren und die Belastungen noch nicht schwer wogen. Naumann schlug darin vor, das Verteidigungsbündnis, das sich im Krieg ergeben hatte, in ein einheitliches Wirtschaftsgebilde umzuformen, also Österreich mit seinen verschiedenen Ländern und insbesondere das multinationale Königreich Ungarn mit dem Deutschen Reich zu einem Machtfaktor zusammenzuschließen. Daraus würde ein „Großstaat“ entstehen, der vom Militär zusammengehalten würde und in dem die kleinen Nationen sich zu fügen hätten³. Wenn er auch selbst von einer notwendigen Selbstbeschränkung der Deutschen sprach, so war für ihn doch die Vorherrschaft des deutschen Elementes eine Selbstverständlichkeit. Zwar lehnte er eine Germanisierung der Slaven ab und befürwortete einen pfleglichen Umgang mit der „Vielfalt“ der österreichischen Teilgebiete, aber auch hinter der nüchternen Betrachtung scheint das Bewusstsein der deutschen Überlegenheit im „Wirtschaftstemperament“⁴ und der Arbeitsdisziplin durch. Das Ziel der Entwicklung sollte ein „Oberstaat“⁵ mit dem politischen Zentrum in Prag sein, der neben den Weltmächten USA, Großbritannien und Russland die vierte Stelle einnehmen könnte; den kleinen staatlichen Gebilden, die er als „Planetenstaaten“⁶ bezeichnete, gestand er zwar eine regionale Regelung ihrer Probleme zu, aber eine wirkliche Souveränität lehnte er für sie ab. Sein Plan, der als wissenschaftliche Beweisführung ohne nationales Pathos vorgetragen wurde, sollte als „Kriegsfrucht“ die Gemeinsamkeiten der Schützengräben zu einer dauerhaften Verbindung der unterschiedlichen Teile Mitteleuropas festigen. Tomáš Garrigue Masaryk als ehemaliger Professor der tschechischen Universität Prag und Führer der tschechoslowakischen Auslandsaktion im Weltkrieg wird in deutschen Schulbüchern so gut wie gar nicht genannt. Dabei ist Das Neue Europa in einer Lebensphase des späteren Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik entstanden, in der er an einer kritischen Stelle stand: Im revolutionären Russland war er als politischer Vertreter der tschechischen-slowakischen Legion unterwegs, die sich aus den tschechischen älteren Siedlern im russischen Reich und aus Überläufern oder Kriegsgefangenen gebildet hatte; er
Friedrich Naumann: Mitteleuropa. Ebenda, S. 2. Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 229. Ebenda, S. 165.
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spielte für eine gewisse Zeit als Vertreter der Alliierten eine militärische Rolle in dem Chaos nach dem Sturz des Zarenregimes. Was sich später als Heldengeschichte der Legionäre darstellen ließ, war zur Zeit seiner Reise durch die russische Provinz eine unsichere Sache, denn die vergleichsweise kleine militärische Einheit stand zwischen den Fronten des russischen Bürgerkrieges und war in sich ideologisch keineswegs einheitlich, sondern bestand aus einerseits sehr national eingestellten Männern und andererseits aus solchen mit bolschewistischen Neigungen. Ziel des Textes war es darum, den Legionären den Sinn des Krieges zu verdeutlichen, ihnen ein festes Feindbild zu vermitteln und den Kampfeswillen im Hinblick auf eine nationale Selbstbestimmung der Heimat zu stärken. Der Autor selbst hat den Text eine „Kampfschrift“⁷ genannt. Der folgende Vergleich soll sich hier auf zwei Fragestellungen konzentrieren, einmal auf die Frage nach dem Adressaten der Texte, was den jeweils gewählten Stil der Ausführungen präjudizierte, und zum anderen auf die zugrunde liegende Vorstellung vom Staat, als Großstaat oder als kleiner Nationalstaat. Naumann verfasste einen Text mit wissenschaftlichem Charakter, der von vornherein zur Veröffentlichung bestimmt war. Daraus ergeben sich die Art der Gedankenführung, die begründende Argumentation, die Verweise auf die Literatur und die Aufnahme vieler Statistiken. Naumann richtet sich an ein interessiertes und gebildetes Publikum und macht einen Vorschlag, wie aus dem „Verteidigungsbündnis“ und der – in diesem Augenblick – günstigen Kriegslage eine dauerhafte Friedenslösung werden könnte, um diesen Erfolg zu stabilisieren. Die Verbindung von Deutschem Reich und der österreichisch-ungarischen Monarchie ist dabei die Ausgangslage, und die Rolle der Deutschsprachigen wird als selbstverständlich dominant vorausgesetzt, ohne dass dies ausführlich begründet wird, sie ergibt sich für Naumann schlicht aus der Kriegslage und dem Zahlenverhältnis der Menschen. Viele Gedanken richtet er auf die problematische Situation des ungarischen Reichsteils der Doppelmonarchie, die aufgrund der Vielzahl der Ethnien und besonders wegen der Rückständigkeit der Wirtschaft besonderer Rücksichtnahme bedarf. Aber die Gesamteinschätzung Österreichs in dieser Verbindung ist ambivalent, denn für Österreich gelte das Prinzip des „Partikularismus“ in der Politik, für Deutschland dagegen der „Zentralismus“, und auf österreichischer Seite sei außerdem von einem antipreußischen Ressentiment auszugehen, das aus dem Konzept der kleindeutschen Lösung und dem Konflikt mit Preußen herstamme. Erscheint das Bündnis für Deutschland vor allem aus wirtschaftlichen Gründen als vorteilhaft, weil es eine halbkoloniale Vorherrschaft in Ungarn und auf dem Balkan begründen kann, so ist es seiner Meinung nach für
Masaryk: Das neue Europa, S. 1 in der „Vorbemerkung“.
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Österreich eine zwingende Notwendigkeit zur eigenen Selbsterhaltung. Dies bedeutet, dass die kleinen Ethnien keine eigene Souveränität erlangen dürfen, denn dies widerspräche der ökonomischen Gesamtgestaltung und den militärischen Erfordernissen; ein „tschechisches Heer“ beispielsweise erscheint ihm schlicht undenkbar⁸. Die aktuellen Gedanken der Kriegseinheit werden durch die Erinnerung an vergangene Gemeinsamkeiten im Mittelalter ergänzt, die helfen sollten, die Verlagerung des Kraftzentrums von Wien nach Berlin anzuerkennen. Aber auch für Preußen lasse sich aus der österreichischen Gegenwart einiges Positive erlernen, nämlich die Achtung vor der Vielfalt und die Tatsache, dass „die gegenseitige Gerechtigkeit ein Volk erhöht“⁹. Dies bedeutet aber nicht die volle Anerkennung der „kleinen Völker“, denn die Deutschen, besser die deutschsprachigen Bewohner der Monarchie, seien das „erweiterte Vorwerk des Deutschtums“, in dem die „wild nachwachsenden Bevölkerungsstaaten“¹⁰ ihren Gegenpol finden sollten. Welche Teile des geographischen Mitteleuropa zu diesem Großstaat gehören sollten, sagt der Text nicht, denn die kritische Frage nach einem polnischen Staat bleibt ungelöst, ist doch zu diesem Zeitpunkt – im Sommer 1915 – von einer Wiederherstellung Polens noch keine Rede. Dagegen erscheint der Balkan als deutsche Einflusszone offen zu liegen, gewissermaßen als der weiche Bauch des ungarischen Königreiches. Naumanns Text ist keine Orgie von germanisch-deutschem Imperialismus; er ist eine nüchterne Bestandsaufnahme der aktuellen Machtverhältnisse und entwirft eine Zukunft, die den anderen Nationalitäten Raum zu eigener Entwicklung geben soll. Allerdings sei die Dominanz der Deutschen unbestreitbar, aber zu diesem Zeitpunkt auch durch die militärische Lage gut begründet. Diese Zusammenschau verschiedener Motive machte den Text nach seinem Erscheinen zu einem viel gelesenen Werk mit großer Resonanz, das auch in zahlreichen Übersetzungen vorliegt; dabei verlor es den Charakter der einzelnen Stimme eines Politikers und wurde als eine amtliche Verlautbarung deutscher Kriegsziele verstanden, was dann entsprechende Entgegnungen zu Folge hatte. Ganz anders ist der Text von Masaryk zu bewerten, den er während seiner Reise durch Russland, unter erschwerten Bedingungen und ohne Hilfsmittel rasch heruntergeschrieben hat. Als er als Staatspräsident endlich die Früchte seiner Auslandsarbeit ernten konnte, war die Veröffentlichung für ihn zunächst obsolet,
Naumann: Mitteleuropa, S. 25. Ebenda, S. 73. Ebenda, S. 83.
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bis er ihr aus Gründen der historischen Wahrheit zustimmte, da es sich um ein Zeitdokument handelte. Adressat des Textes sind primär die tschechisch-slowakischen Legionäre in Russland, aber darüber hinaus auch Leser im Lager der Alliierten, für die er in seiner Mission in Russland tätig ist. Daraus ergibt sich ein polemischer Ton in seinen Ausführungen, teilweise belehrend, aber immer aggressiv; Masaryk betreibt Agitation, und so nannte er seinen Text selbst eine „Kampfschrift“¹¹, die sich im Stil von seinen sonstigen Veröffentlichungen stark unterscheidet. Um die Bereitschaft zum Krieg fern der Heimat, aber für die Heimat, zu stärken, dämonisiert er den Gegner, hier ganz allgemein als „die Deutschen“ verstanden. Masaryk verwendet alle Schlagworte, die sich in der Polemik gegen die Deutschen finden lassen, vom „Drang nach Osten“¹² eines angeblich imperialistisch gesinnten deutschen Volkes¹³, über „Berlin-Bagdad“ als Plan einer Eisenbahnlinie, die Englands Interessen bedrohen würde¹⁴, bis hin zum „Willen zur Macht“¹⁵, was aus der Philosophie von Friedrich Nietzsche mit ganz anderer Konnotation stammt. Die deutsche Kultur wird diffamiert, ja eigentlich geleugnet¹⁶; Wien erscheint gar als Hassobjekt¹⁷. Alles was die Gegenseite der Mittelmächte ausmacht, wird negativ gedeutet: mittelalterliche Strukturen, die Verbindung zur katholischen Kirche, die Bedeutung der Dynastie und des Adels¹⁸, der Großstaat als Wirtschaftsraum vieler Völker. Die gemeinsame Kultur dieses Reiches, mit dem Wiener Kaffeehaus als gemeinsames Band über alle Sprachgrenzen hinweg, wird gar nicht erwähnt. Dies gilt auch für die vermittelnden Stimmen der vielen zwei- und mehrsprachigen Bürger der Monarchie, von denen nur die Juden kurz genannt werden. Masaryks Hauptargument ist der Begriff der Demokratie. Denn innerhalb der historischen Staaten der Habsburger Monarchie, von denen Masaryk als Grundmuster ausgeht, stellten die Slaven oft die Mehrheit der Bevölkerung, dort waren die Deutschsprachigen also in einer ungerechten weil bevorzugten Stellung. Konkret wird dies mehrfach am Beispiel Böhmens ausgeführt, wo die „Deutschen“ nur ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, wohingegen die Tschechen in Politik,
Siehe Anm. 8. Masaryk: Das neue Europa, S. 7, S. 22, und öfter. Ebenda, Kap. 16, S. 72– 79. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 12. Als „einseitiger Intellektualismus“ und nur „äußerlich“ bezeichnet, ebenda, S. 79. Ebenda, S. 88. Den alten dynastischen Staat der Habsburger nennt er einen „klerikalen Imperialismus“, ebenda, S. 64.
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Verwaltung und Militär keinen entsprechenden Einfluss besaßen. Mit der Forderung nach Demokratie innerhalb der einzelnen Länder konnte er die nationalen Bestrebungen der kleinen Völker der Habsburger Monarchie in den großen Rahmen der alliierten Politik einfügen, die im Kampf gegen die „mittelalterlichen Vielvölkerreiche“ standen¹⁹. Die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit der kleinen Nationen wird so unter der Hand zum Kriegsziel der Alliierten erklärt, was zu diesem Zeitpunkt keineswegs der Fall war. Dies führt zum zweiten Hauptargument Masaryks für einen zu gründenden Staat der Tschechen: die Vorzüge des kleinen Staates. In einem überschaubaren kleinen Staat sei die Humanität besser zu verwirklichen, als in dem zentralisierten Vielvölkerreich Habsburger Prägung. Dass kleinräumige Wirtschaftskörper in der modernen Welt von Nachteil waren, wie dies die Angelsachsen immer betont haben, wird gar nicht erwähnt, wie überhaupt der ökonomische Faktor in den Darlegungen völlig fehlt. Diese beiden Texte stehen weder am Anfang einer Diskussion über die Bedeutung von „Mitteleuropa“ als einer politischen Region, noch endete mit ihnen diese Diskussion; vielmehr verkörpern beide die Pole eines Grundmusters, das sich in der Folge immer neu wiederholen sollte. Der Mustercharakter dieser beiden Texte zeigt sich bereits in der Definition des Objektes ihrer Betrachtung: für Naumann ist „Mitteleuropa“ – überspitzt formuliert – Deutschland und die Länder des alten Habsburger Staates, und je weiter weg von der Grenze Deutschlands gelegen, desto eher ist es nur Objekt. Für Masaryk sind die kleinen Völker der Habsburger Monarchie dagegen das Subjekt der kommenden Geschichte; Deutschland erscheint als Hauptgegner einer entsprechenden Entwicklung und wird in der Neugestaltung überhaupt nicht erwähnt. Auch in späteren Darlegungen der Tschechoslowakischen Republik sollte bei Betrachtung der mitteleuropäischen Politik Deutschland nie als Teil dieser Überlegungen genannt werden, wie der langjährige Außenminister Edvard Beneš immer wieder erklärt hat: Für ihn gehörte Deutschland nie zu „Mitteleuropa“ (Střední Evropa)²⁰. Nach den Friedensverträgen von Paris wurde die Diskussion über Mitteleuropa von den Großmächten dominiert: Deutschland und Russland hatten beide den Krieg verloren und damit Gebiete, auf die sie jedoch alte Ansprüche aufrechterhielten und somit die Gefahr einer Revision der neuen Verhältnisse heraufbeschworen. Die Neuordnung Mitteleuropas wurde in der deutschen Publizistik oft verächtlich gemacht, indem die neuen Staaten als „Zwischeneuropa“ bezeichnet wurden, dessen „Saisonstaaten“ durch Deutschland und Russland ein
Ebenda, S. 22 und S. 33; als „künstliche Staaten“, S. 38 und „Theokratien“, S. 130 bezeichnet. Eduard Beneš: Problémy nové Evropy.
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Ende bereitet würde²¹. Teilweise chaotische Verhältnisse im Inneren der neu gegründeten Staaten, ihre Grenzkonflikte mit den Nachbarn und die häufige Missachtung von Rechten der dortigen Minderheiten schienen ein Beleg dafür, dass die vorgeblichen Nationalstaaten ein Eingreifen der ordnenden Großmächte auf beiden Seiten erforderlich machten. Zur Verhinderung einer solchen Revision der Grenzregelungen galt das System der französischen Außenpolitik, das im Völkerbund und in zweiseitigen Verträgen die rivalisierenden Verbündeten (besonders Warschau und Prag) zusammenband. Die Brüchigkeit dieser Konzeption zeigte sich in der Weltwirtschaftskrise, besonders seit dem Jahre 1932, als die Konfrontation an Schärfe zunahm. Das von den Nationalsozialisten regierte Deutschland strebte nach Erweiterung seines wirtschaftlichen und politischen Einflusses in den neuen Staaten, was dann mit deren Eroberung und Beherrschung im Zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt fand. Aus diesem Konflikt ging jedoch die Sowjetunion als Nachfolgerin des machtpolitischen Gegenpols Russland als Gestaltungskraft dieses Teils Europas hervor, das oft als „Ostblock“ bezeichnet wurde. In den Texten von Naumann und Masaryk wird der Begriff „Mitteleuropa“ auf unterschiedliche Weise verwendet, wobei sie gewissermaßen in der bis heute dauernden Diskussion wie einander entgegengesetzte Pole erscheinen. Naumann benutzt den Begriff scheinbar im geographischen Sinn, indem er damit die Länder in der Mitte Europas meint, aber de facto geht er von dem damals deutsch-beherrschten Teil Europas aus; die Frage nach einem geographischen Punkt in der Mitte Europas interessiert ihn nicht. Masaryk definiert seinen Gegenstand offen nach politischen Kriterien, indem er Deutschland ausschließt und nur die Gebiete zwischen Deutschland und Russland meint, also eine „Zone“, die von Estland im Norden bis Griechenland im Süden die Heimat vieler kleiner Völker ist²². Diese Bezeichnung als „kleine Völker“²³ – was für Polen unzutreffend ist und war – erscheint als zweiter Punkt in seiner Polemik gegen die multinationalen Großmächte, die er durch Nationalstaaten ersetzen möchte. In der realen Politik haben sich jedoch die Politiker aus diesem Teil Europas in der Zwischenkriegszeit auf keine gemeinsame Linie einigen können; selbst die Kleine Entente, die die Länder Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien zu einer Kooperation gegen
Vgl. Giselher Wirsing und den Tat-Kreis unter Hans Zehrer; siehe Hecker: Der Tat-Kreis. Vgl. den Brief des Generals von Seeckt am 11. September 1922: „Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muss verschwinden und wird verschwinden durch eigene innere Schwäche und durch Russland – mit unserer Hilfe“ – in: Jacobson (Hrsg.): Misstrauische Nachbarn, S. 33. Masaryk: Das Neue Europa, S. 24; daraus soll eine „Kette freier Nationen“ werden, S. 116. Ebenda, Kap. 8 und 9, S. 40 – 49.
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Ungarn zusammengeführt hatte, blieb ein fragiles Gebilde²⁴. In der Diskussion der Fachleute hat sich in den letzten Jahrzehnten für diesen Teil Europas der Begriff „Ostmitteleuropa“²⁵ durchgesetzt, wobei als Kuriosum zu vermerken ist, dass ihm kein Westmitteleuropa gegenüber steht und die Verbindung ‚Ost-‘ weder den Polen noch den Tschechen sympathisch ist. Wie willkürlich die Benennungen aber sind, erhellt schon aus der Tatsache, dass in Wien die Städte Prag und Brünn als Gegenstand der „osteuropäischen Geschichte“ behandelt werden²⁶, obwohl beide Städte westlich von Wien gelegen sind, das im wesentlichen zum „Westen“ gerechnet wird. Zur Abgrenzung von „Mitteleuropa“ ist auch die Kulturgeschichte bemüht worden, verläuft doch durch den Kontinent die alte Scheidelinie zwischen der römisch-katholischen Religion und der griechisch-orthodoxen. Diese Trennlinie, die in der Verwendung der modifizierten griechischen Schrift (kyrillisch) sofort ins Auge springt, beinhaltet aber wesentlich mehr als eine je eigene Form der Bekreuzigung der Gläubigen. Sie bestimmt das Denken und die Rechtsvorstellung, das Verhältnis von Staat und Religion bis heute. Diese Trennlinie ist sehr tiefgehend und bedeutet etwa für Polen und Kroaten das Bekenntnis zur lateinischwestlichen Welt als antemurale christianitatis ²⁷, was jeweils zur Ablehnung des orthodoxen Nachbarn im Osten (die Polen gegen die ,Moskowiter‘, die Kroaten gegen die Serben) geführt hat. Dazu kommt ein weiterer Faktor einer kulturgeschichtlichen Definition von Mitteleuropa, hier als ,Zwischeneuropa‘, verstanden. Seit Beginn schriftlicher Überlieferungen treten uns die Städte östlich der geschlossenen deutschen Sprachgrenze der bäuerlichen Bevölkerung als mehrsprachig entgegen. Durch Heiraten der Adeligen, Übernahme der christlichen Religion, durch Wanderungen von Bevölkerungsgruppen (z. B. die Juden) oder Flucht aus verschiedenen Gründen, Ansiedlung zur Kolonisation des Landes, Übertragung von Rechtssystemen in Handel und Lehre: Überall ist bis in die Neuzeit eine Lage entstanden, in der einer einheimischen Bevölkerung eine oder mehrere Minderheiten gegenüberstanden. Für Prag gilt, dass es dort schon im 9. Jahrhundert fremde Kaufleute mit ständiger Ansiedlung gab; bis ins 20. Jahrhundert wurden auf dem Markt von Czernowitz neun Sprachen gesprochen. Als weiterer Faktor der Besonderheit Mitteleuropas wäre zu nennen, dass die politische Organisation über Jahrhun-
Vgl. Reichert: Das Scheitern der Kleinen Entente, und Ádám: Richtung Selbstvernichtung. Eberhard u. a. (Hrsg.): Westmitteleuropa – Ostmitteleuropa. So die mündliche Antwort in einem Habilitationsverfahren in Wien. Der Begriff wird bei der Abgrenzung von den Mongolen und Muslimen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bis zur nationalen Diskussion im 19. Jahrhundert mit unterschiedlicher Zielsetzung verwendet.
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derte durch einige wenige Dynastien in vielsprachigen Großreichen erfolgte.Wenn Masaryk in seinem Text gegen das „römische Reich“ polemisiert, dann erwähnt er nicht, dass dieses eben nicht nur „deutscher Nation“ war, sondern viele Gebiete mit anderssprachigen Bewohnern umfasste. Und bei seiner Ablehnung der „deutschen Habsburger“ hätte er hinzufügen können, dass die Habsburger die Erben des litauischen Herrschergeschlechts der Jagiellonen auf den polnischen, ungarischen und böhmischen Königsthronen waren, ferner, dass die Umgangssprache am Wiener Hof zwischen Deutsch, Spanisch, Italienisch und Französisch wechselte. In diese bunte und vielgestaltige Welt ist durch die Thesen Herders von der Muttersprache als konstitutivem Element der „patriotischen Bildung“ eines „Volkes“²⁸ ein Spaltpilz gekommen, der in allen Ländern Mitteleuropas das Streben nach einem Nationalstaat geweckt hat²⁹. Im Prozess einer „Wiedererweckung“ der eigenen Nation nach manchmal Jahrhunderten einer angeblichen oder tatsächlichen Unterdrückung in übernational organisierten Reichen ist eine Generation von „Erweckern“ und „Erziehern“ der kleinen Nationen tätig geworden, wie dies in den Forschungen von Miroslav Hroch belegt und Allgemeingut geworden ist³⁰. Diese Spannung zwischen multinationalen Großreichen und kleinen Völkern, die alle ihre sprachliche Homogenität und eigenständige politische Organisation anstrebten, ist der wirkmächtigste Faktor am Ende des 19. Jahrhunderts geworden. Als Ergebnis des Ersten Weltkrieges waren die Großreiche verschwunden: das Habsburger, das Deutsche, das Russische und das Osmanische Reich. Masaryks Vision hatte also offenbar gesiegt, wie der Blick auf die Landkarte mit den Staatsgebilden in verschiedenen Farben zeigte. Auf den zweiten Blick wurde indes rasch klar, dass dies eine Fiktion war, denn die vielsprachige Bevölkerung war dieselbe geblieben und nur in kleineren Staaten organisiert, in denen die Machtverhältnisse umgekehrt worden waren. Der folgende innerstaatliche Streit
Vgl. besonders die Briefe zur Beförderung der Humanität:„Ohne eine gemeinschaftliche Landes- und Muttersprache, in der alle Stände als Sprossen Eines Baumes erzogen werden, gibt es kein wahres Verständnis der Gemüter, keine gemeinsame patriotische Bildung, keine innige Mit- und Zusammenempfindung, kein vaterländisches Publikum mehr.“ Herder: Werke in zehn Bänden, Bd. 7, S. 306. Durch die französische Revolution war das Bekenntnis zu den politischen Idealen (liberté, egalité, fraternité) als für alle Menschen gültig zur Zugehörigkeit zur „nation une et indivisible“ erklärt worden; Französisch galt als die Sprache der Vernunft. Herder erklärte dagegen die Muttersprache als angeblich unveräußerliches und objektives Merkmal einer Zugehörigkeit zu einem „Volk“; Zwei- und Mehrsprachige galten dann als unzuverlässig weil national nicht festgelegt. Siehe Sundhaussen: Der Einfluss der Herderschen Ideen. Zuletzt Hroch: Das Europa der Nationen.
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zwischen der jeweiligen Mehrheitsnation und den Minderheiten führte in der Zwischenkriegszeit in den meisten Staaten zur Beschädigung der Demokratie, manchmal zur offenen Diktatur. Die Gegenbewegung wurde zunächst durch Ideologen vorbereitet, die wegen einer angeblichen Kulturüberlegenheit der großen Völker die politische Unterwerfung Mitteleuropas forderten³¹. Die Wirklichkeit sollte aber bald alle Theorien übertreffen, denn die Nationalsozialisten haben diese Vorstellung im Zweiten Weltkrieg mit grauenhafter Konsequenz umzusetzen begonnen und mit der Vision eines Großdeutschen Reiches bis an den Ural den Mord vieler Millionen Menschen zu verantworten. Mit dem Sieg der Alliierten und der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland war das Pendel zurückgeschlagen; die russischen Truppen in Berlin waren der Anfang einer Neuorganisation Mitteleuropas im Sinne der sowjetischen Ideologie. Damit einher ging eine zweite Welle einer ethnischen Säuberung, die mit der Vertreibung, Flucht und Massenumsiedlung von Millionen Menschen in weiten Teilen Mitteleuropas jene ethnische Einheit erst schuf, von der die Befürworter der Nationalstaaten geträumt hatten: Fast alle Staaten – mit Ausnahme von Jugoslawien – wurden einsprachig und so homogen wie nie zuvor in ihrer Geschichte. Zugleich aber verloren sie ihre eigene Gestaltungsfreiheit, und die Grenze Mitteleuropas war an die Elbe und den Bayrischen Wald vorgerückt; Europa war in West und Ost geteilt, und die Grenze wurde als „Eiserner Vorhang“ bezeichnet, der den angeblichen „Ostblock“ abtrennte und mit der DDR auch einen Teil des verbliebenen deutschen Sprachgebietes dem Osten zuwies. Damit war auch Masaryks Definition von einem Mitteleuropa ohne Deutschland obsolet geworden. Diese knappe Darstellung dürfte verdeutlicht haben, dass alle angeführten Kriterien einer Bestimmung dessen, was „Mitteleuropa“ über die reine geographische Bezeichnung hinaus bezeichnen kann, unzureichend sind. Die Kategorien einer inhaltlichen Deutung lassen sich nicht sauber voneinander trennen, so dass die Interessenlage des Betrachters wichtiger ist als die Situation seines Objektes. Im Grunde ist die Suche danach, was „Mitteleuropa“ eigentlich ist, keine Suche nach einem realen Phänomen, sondern nach einer Chimäre; statt einer Definition (Abgrenzung) gibt es eine In-finition (Entgrenzung), „anfällig für Instrumentalisierung und Ideologisierung“³². Und trotzdem ist die Diskussion über Mitteleuropa auch mit dem ideologischen Ost-West-Konflikt und der sowjetischen Herrschaft nicht ganz erloschen. Im sogenannten Ostblock geschah in der Mitte der achtziger Jahre überraschend eine
Zum deutschen „Tat-Kreis“ siehe Hecker: Die Tat und ihr Osteuropa-Bild 1909 – 1939. Höhne: Mitteleuropa, S. 282.
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Wiedergeburt des Mitteleuropagedankens. Der Ungar György Konrád benutzte in einem Aufsatz 1985 diesen Begriff, der seit 1945 vergessen schien, und der Tscheche Iván Kundera griff das Stichwort auf. Beide benutzten den Begriff „Mitteleuropa“ als Gegenbegriff zu einem Europa unter sowjetischer Führung und zugleich als Abgrenzung gegenüber dem Westen; inhaltlich bezogen sie sich auf die Tradition der katholischen Kirche und auf das Erbe des Habsburger Reiches, das gegenüber der alten Verleumdung als „Völkerkerker“ nun nostalgisch aufgewertet wurde³³. Die Bundesrepublik Deutschland blieb in dieser Konzeption außen vor, und die Existenz der DDR wurde ausgeklammert. Die antisowjetische Ausrichtung entfiel dann mit dem Zusammenbruch des Moskauer Zwangssystems, aber die Suche nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten auf dem komplizierten Weg zurück zu Demokratie und Marktwirtschaft führte am 15. Februar 1991 zu einer Konferenz in Visegrád, in der Polen, Ungarn und die (Noch‐)Tschechoslowakei eine Zusammenarbeit beschlossen, die ihre Interessen bezüglich eines möglichen Beitritts zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft koordinieren sollten. Daraus ist jedoch keine politische Organisation erwachsen, denn die gelegentlichen Treffen und Abkommen zu Kultur- und Stipendienfragen zeitigten nur eine geringe Erfolgsbilanz. Nach dem Beitritt zur NATO erfolgte zum 1. Mai 2004 der Beitritt der (nun) vier Staaten zur Europäischen Union, wo sie sich mit der Zeit eher als Bremser in der Frage einer Weiterentwicklung erwiesen haben. Die Betonung des Nationalstaates, populistische Forderungen und insbesondere die Ablehnung einer Aufnahme von Flüchtlingen haben die Staaten zwar zusammengebracht, aber die Distanz zum Rest der Union vergrößert. Dass sie auch untereinander nicht immer einig sind, zeigt die Haltung gegenüber Moskau, das in Polen traditionell misstrauisch beäugt wird. Eine Anknüpfung an die Definition von „Mitteleuropa“ im Sinne von Masaryk erscheint obsolet, weil hier nur ein Teil des Gebietes erfasst ist und Österreich ausgeschlossen bleibt. Gerade aus der Sicht Österreichs ist aber 2016 eine Publikation mit dem anspruchsvollen Titel „Geschichtsbuch Mitteleuropa. Vom Fin de Siècle bis zur Gegenwart“ erschienen, die abschließend vorgestellt werden soll³⁴. Der Leiter des Wiener Instituts für Konfliktforschung Anton Pelinka hat zusammen mit einigen Mitarbeitern ein Projekt entworfen, das aus Anlass des 100. Todestages von Kaiser Franz Josef (21. November 2016) die aktuellen Geschichtsbilder in einigen Staaten aus dem Erbe des Habsburger Reiches aufzeigen sollte. Historiker und Publizisten
Zu dieser Diskussion: Schulze-Wessel: Die Mitte liegt westwärts; Plaschka u. a. (Hrsg.): Mitteleuropakonzeptionen. Pelinka u. a. (Hrsg.): Geschichtsbuch Mitteleuropa.
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aus den betroffenen Ländern waren gebeten worden, das „historische Narrativ“ ihres Landes zu beschreiben, das Erbe des Habsburger Reiches darzustellen, die Beziehungen zu ihren jeweiligen Nachbarn zu reflektieren und die europäische Dimension nach dem Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft unter dem Stichwort „Rückkehr nach Europa“ zu erörtern. Unter „Mitteleuropa“ waren hier die Staaten verstanden, deren Bewohner in der Monarchie zusammengelebt hatten; es fehlten nur die Ukrainer und die Bosnier; Polen wurde als Ganzes hinzugenommen. Was als „historisches Narrativ“ ermittelt werden sollte, erhellt nur aus einer Nebenbemerkung, dass hierunter nämlich das in der jeweiligen Öffentlichkeit gültige Geschichtsbild von „hegemonialen Gruppen“³⁵ gemeint war, also einer national bewussten Minderheit von Intellektuellen. Im Ergebnis liegen dann Länderberichte vor, in denen vornehmlich die nationalen Traumata im Geschichtsbild erörtert werden, wobei tief in die Geschichte zurückgegriffen und historische Konstrukte als konstitutiv ausgegeben werden: bei den Slowaken das Großmährische Reich im 10. Jahrhundert, bei den Tschechen die Hussitenbewegung im 15. Jahrhundert und bei den Slowenen Bauernaufstände aus dem 15. Jahrhundert. Bemerkenswert ist, dass alle diese Länderberichte nur die innere Geschichte behandeln, dabei die Minderheiten vernachlässigen und die ganze Geschichte oft als „Opfergeschichte“ verstehen. Die Bearbeiter im Wiener Institut für Konfliktforschung, die dann als Herausgeber des Buches auftreten, haben diese Einzelberichte bearbeitet und auch korrigierend zusammengefasst, schließlich daraus historische Querschnitte für vier Zeitepochen gezogen: Die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, dann bis zum Ende des Zweiten, anschließend bis zum Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems und endlich bis zur Gegenwart. Das Ergebnis hat die Herausgeber überrascht, denn von einem Fortleben der alten Monarchie im Sinne einer „imaginierten Einheit“ von „bundesstaatlichen Ansätzen“³⁶ konnte nirgendwo die Rede sein. Der Nationalstaat wurde als selbstverständlich hingenommen, seine Einbettung in die übernationalen Organisationen kaum reflektiert, das Verhältnis zu den jeweiligen Nachbarn nur gestreift. Dieser überraschende Provinzialismus lässt sich dann auch in den abgedruckten Literaturlisten wiederfinden. Ein Gefühl für ein gemeinsames „Mitteleuropa“ fehlt, und selbst ein aktueller Bezug auf die Visegrád-Konferenzen findet sich kaum. Das Buch handelt also von etwas, das es für die Berichterstatter als eigenes Phänomen gar nicht gibt – allerdings mit zwei Ausnahmen: In der zusammenfassenden Betrachtung
Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 13.
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findet sich auch ein Beitrag über die verbindende Rolle der Juden in der alten Monarchie und ein anderer über die kulturstiftende Rolle der Stadt Wien. Was können uns die Texte von Naumann und Masaryk einhundert Jahre nach ihrer Entstehung heute noch vermitteln? Aus der knappen Darlegung dürfte das Grundmuster deutlich geworden sein: „Mitteleuropa“ als eine Region der ethnischen und religiösen Vielfalt – bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – hat Phasen der Zusammenfassung in Großstaaten oder Staatenbündnissen sowie auch deren Aufteilung in nationale Mittel- und Kleinstaaten erlebt. Wirtschaftliche Überlegungen zugunsten einer Großräumigkeit, wie von Naumann gefordert und von den Angelsachsen immer befürwortet, standen im Widerspruch zu nationalen Anliegen; Autarkie wurde gegen offene Handelsbeziehungen angestrebt. Die Bedeutung der Sprachnation hat in den einzelnen Staaten Ostmitteleuropas nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreicht, als die Staaten so homogen wie nie zuvor in ihrer Geschichte geworden sind. Hierin liegt ein Widerspruch zu der Entwicklung der Globalisierung, die Migration und Technisierung, Handelsaustausch und internationale Arbeitsteilung befördert hat. Die vorgestellten Texte spiegeln diesen Grundkonflikt auch heute noch wider, nur mit verändertem Akzent: Masaryks Betonung der Werte des „kleinen Volkes“ erscheint überlebt, wenn man die Verkehrsströme durch Europa und die Vernetzung der Menschen über die Staatsgrenzen hinweg sieht; Naumanns Wirtschaftskörper umfasst heute tendenziell ganz West- und Mitteleuropa. Der Vorwurf der Zentralisierung ist derselbe wie bei Masaryk, nur dass an die Stelle von Wien heute Brüssel getreten ist und die Regierungen in zahlreichen Konferenzen diese Politik selbst bestimmt haben. Ob schließlich die Humanität in kleinen Staaten besser gepflegt wird als in deren Zusammenfügung zu einem größeren politischen Gebilde, kann durchaus kontrovers diskutiert werden. Was Masaryk das „neue Europa“ genannt hat, die Welt der kleinen Nationalstaaten, kann heute als das „alte Europa“ verstanden werden; es steht jedenfalls einer möglichen Überwindung der Nationalstaaten durch einen freiwilligen Zusammenschluss der europäischen Staaten im Westen Eurasiens vielfach skeptisch gegenüber.
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Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Österreich als selbständiger „zweiter deutscher Staat“ in Mitteleuropa in den Jahren 1932 – 1934 1 Einleitung
In der Person des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß spiegelten sich mehrere Dimensionen der Neuordnung Mitteleuropas nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920er und 1930er Jahre wider.¹ Es war die sogenannte Anschlussfrage, die das selbständige Bestehen des neuen „kleinen“ Österreichs bestimmte. Weiterhin stand in Mitteleuropa nach 1918 die Demokratiefrage, die das innenpolitische System von Österreich betraf, im Vordergrund. Diese beiden Fragen zeigen das Grundproblem der historischen Betrachtung von Engelbert Dollfuß auf; den Januskopf, das ambivalente Ansehen der Regierung Dollfuß. Einerseits bewirkten die treibenden Kräfte der Regierungskoalition, der rechte Flügel der Christlichsozialen Partei und die Heimwehrbewegung, eine verhängnisvolle innenpolitische Veränderung. Diese führte zur Errichtung einer autoritären Regierungsform, zur Beseitigung der Sozialdemokratischen Partei und zum Bürgerkrieg in Österreich am 12. Februar 1934. Andererseits leitete der Kanzler Dollfuß in den Jahren 1933 – 1934 den österreichischen Staatswiderstand gegen die Aggressionspolitik Hitlers. Der erste Versuch des Dritten Reiches, mit innenpolitischem Druck und Terrorhilfe der österreichischen Nationalisozialisten, Österreich an Deutschland anzuschließen, scheiterte de facto schon Monate bevor Bundeskanzler Dollfuß am 25. Juli 1934 beim misslungenen Putsch der Nationalsozialisten in Wien ermordet wurde. Dank der entschlossenen Haltung der Regierung Dollfuß wurde 1934 die österreichische Unabhängigkeit (allerdings nur vorübergehend!) abgesichert.
Dieser Beitrag wurde vom Charles University Research Centre Program No. 9 unterstützt. Der Begriff „Mitteleuropa“ wird in diesem Beitrag vom Autor als neutral betrachtet und im kultur-räumlichen Sinne genutzt, um den „mitteleuropäischen“ Raum (nach 1918 das Gebiet vom Deutschen Reich und vom ehemaligen Österreich-Ungarn) geographisch, kulturell und politisch einzugrenzen. https://doi.org/10.1515/9783110536003-006
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Die Republik Österreich entstand 1918 als Nachfolgestaat von ÖsterreichUngarn. Die Gegensätzlichkeit und die Widersprüche der Ersten Republik zeigen sich anschaulich in der Persönlichkeit Engelbert Dollfuß. Der Bauernsohn aus Niederösterreich übernahm die Regierungsgeschäfte im Mai 1932. Es war im Moment der unaufhaltsamen Wirtschaftskrise, auf dem Höhepunkt der ideologischen Kluft der beiden entscheidenden politischen Lager in Österreich (den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten) und kurz nachdem die Nationalsozialisten im April 1932 in den Landtagswahlen in Niederösterreich, Salzburg und Wien deutliche Erfolge erzielt hatten.² Das deutsche nationale Milieu, das in den 1920er Jahren von der Großdeutschen Volkspartei (bis 1932 in der bürgerlichen Koalition mit der Christlichsozialen Partei) dominiert wurde, wandte sich politisch dem Nationalsozialismus hin.³ Die Problematik der Ersten österreichischen Republik im mitteleuropäischen Kontext beinhaltet, wie oben angedeutet, mehrere Facetten. In diesem Beitrag wird jedoch nur die Frage behandelt, welche die Argumente der Regierung Dollfuß, die für ein unabhängiges Österreich und Österreichertum als „besseres und wahres Deutschtum“ plädierten, betrifft. Diese Einstellung von Engelbert Dollfuß zeigt sowohl die mitteleuropäischen Beziehungen und Konzeptionen als auch die Wahrnehmung von Identität in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert auf. Damit der notwendige Kontext der 1930er Jahre klar wird, soll auch die mit der Person des Bundeskanzlers eng zusammenhängende Politik Österreichs in den Jahren 1933 – 1934 behandelt werden. Ein unverzichtbarer Bestandteil der vorliegenden Darstellung ist ein Abriss der Wurzeln der „Österreich“-Ideologie und eine Kurzbiographie von Engelbert Dollfuß.
2 Die Wurzeln – die Jugend von Engelbert Dollfuß Engelbert Dollfuß wurde am 4. Oktober 1892 in Texing in Niederösterreich als unehelicher Sohn von Josefa Dollfuß und dem Müllergesellen Josef Weniger geboren.⁴ Während seiner Jugendzeit lernte er das harte Bauernleben kennen. Er stand unter dem Einfluss seines Stiefvaters Leopold Schmutz. Die traditionelle bäuerliche Gesellschaftsordnung wurde für Engelbert zur Schlüsselverankerung –
Im April 1933 fanden die Gemeinderatswahlen in Innsbruck. Im Vergleich zu 1931 stiegen die Nationalsozialisten von 3,82 % auf 41,21 %!, was sich dem Ergebnis der NSDAP (43,9 %) in den Reichstagswahlen am 5. März 1933 näherte. Vgl. Bruckmüller: Das österreichische Bürgertum zwischen Monarchie und Republik, S. 75. Die Jugend von Engelbert Dollfuß schildert (als eine der wenigen Darstellungen) am besten die Dissertation; Jagschitz: Die Jugend des Bundeskanzlers Dr. Engelbert Dollfuß.
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nicht nur für seine weitere Studienzeit, sondern auch für seine spätere politische Karriere. Engelbert Dollfuß bekam mit elf Jahren ein Studienplatz auf dem Knabenseminar in Oberhollabrunn,⁵ wo er eine gute humanistische Ausbildung genoss. Später studierte er an der Universität in Wien. Im Krieg diente er seit 1914 den Kaiserschützen als Freiwilliger an der italienischer Front und erlangte den Dienstgrad Oberleutnant. Nach dem Ersten Weltkrieg beendete er in Wien sein Jurastudium mit einem Doktortitel im Jahre 1923. Die ersten zwölf Jahre seiner Jugendzeit auf dem Bauernhof in Kirnberg prägten Dollfuß‘Persönlichkeit entscheidend. Die tragische und umstrittene Laufbahn war eine Nachwirkung genau dieser Lebensjahre. In Dollfuß‘ späteren politischen Schritten, egal wie diese historisch bewertet werden, erwies sich seine Zugehörigkeit zum Boden und zum gemeinsamen Betrieb, mit dem dieser Boden bearbeitet wurde, sein Fleiβ, seine beinahme „mystische Mittelalterlichkeit“,⁶ und sein Bestreben, das verbitterte politische Leben durch die Wiederherstellung der christlichen Ordnung im Sinne Austriam instaurare in Christo zu reinigen, als Maβgebend. Die Vorstellung der sozialen Ordnung speiste sich aus Dollfuß Erfahrung, wie auf dem Bauernhof Sattlehen Nr. 4 der Bauer und seine Familie, natürlich auch der Knecht, nach der gemeinsamen Arbeit aus dem gemeinsamen Suppentopf aßen.⁷ Die Realität der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts im Schatten der Agrarkrise, der gewaltigen Nachkriegsnot in Österreich, der Inflation, ideologischer Polarisierung und politischer Radikalisierung (in Österreich verstärkt nach dem 15. Juli 1927)⁸ und der Zerstörung der traditionellen mitteleuropäischen Wirtschaftsräume sah allerdings anders aus. Die Politik änderte nichts daran, dass der tiefe katholische Glaube Dollfuß sein ganzes Leben beeinflusste, und grundlegend seine Vorstellungen prägte. Katholizismus und Bauerntum gingen für ihn Hand in Hand.⁹ Gleich am Anfang seiner Studienzeit im Jahre 1913 trat er der katholischen Burschenschaft Franco-Bavaria bei, eine aktive Rolle spielte er als Mitglied im katholischen Cartell-Verband (C. V.). In den 1920er Jahre wurde anerkannter Agrarexperte (auch Mitbegründer der Niederösterreichischen Landwirtschaftskammer) und 1931 Minister für Landwirtschaft in der Regierung Otto Ender. Im Zusammenhang mit der vorliegenden Frage des „Österreichertums“ ist hervorzuheben, dass die katholischen Studentenverbindungen sich neben der
Ebenda, S. 39 – 40. Shepherd: Engelbert Dollfuß, S. 24 f. Ebenda, S. 23. Zur politischen Gewalt in Österreich in der Zwischenkriegszeit: Botz: Krisenzonen einer Demokratie. Gewalt, Streik und Konfliktunterdrückung in Österreich seit 1918. Miller: Engelbert Dollfuß als Agrarfachmann, S. 23 – 25.
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Betonung des Deutschtums eindeutig für die multinationale Habsburgermonarchie eingesetzt hatten. Die junge Generation von Politikern in der Christlichsozialen Partei (Kurt von Schuschnigg, Engelbert Dollfuß, Otto Ender, Richard Schmitz, Carl Vaugoin) betrachtete eine „berufsständische“ Gesellschaftsordnung im Sinne der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo anno von 1931 als eine mögliche Lösung der dringenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme. Demgegenüber orientierten sich die deutschnationalen Verbindungen ausschließlich am Deutschen Reich als Mittelpunkt aller Deutschen in Mitteleuropa. Besonders an den Universitäten (Wien, Graz, Innsbruck) formierten sich schon vor dem Ersten Weltkrieg militante Vertreter des völkischen Deutschnationalismus, die sich gegen Kirche, Juden, Sozialdemokraten und Slawen stellten. Dieses Milieu mündete dann (folglich) spätestens 1933 in den Nationalsozialismus.¹⁰ An der Wiener Universität beeindruckten Dollfuß die Vorlesungen von Othmar Spann. Obwohl sich quellenmäßig keine Verbindung zwischen Spann und der von der Regierung Dollfuß eingesetzten ständischen Maiverfassung („christlicher Ständestaat“) vom 1. Mai 1934 nachweisen lässt, waren Dollfuß die philosophischen und wirtschaftstheoretischen Ideen Othmar Spanns nicht fremd. In einigen Fragen gingen ihre Auffassungen allerdings stark auseinander, beispielsweise in Hinblick auf die genossenschaftliche Bewegung, die Dollfuß vorbehaltlos anerkannte. In der Genossenschaft sah Dollfuß die Möglichkeit, die gemeinschaftlichen Ziele mit persönlicher Freiheit zu verbinden.¹¹ Zugleich hatte Dollfuß mit Spann auch einiges gemeinsam: die antiliberale, antimarxistische und antikapitalistische Einstellung und vor allem die Ablehnung der geistlichen und gesellschaftlichen Entwicklung seit der französischen Revolution. Diese Zäsur von 1789 betrachtete Dollfuß als Anfang vom Ende der traditionellen Gesellschaftsordnung.¹² Othmar Spann näherte sich mit seiner universalistischen Ständestaatslehre dem „romatischen Konservativismus“,¹³ der teilweise auch die Programmatik der Christlichsozialen Partei prägte.¹⁴ In seiner Konzeption spiegelten sich die Ängste des Wiener Bürgertums, der Mittelschicht der kleineren Besitzer sowie der Intellektuellen und Beamten wider. Sie waren nämlich die tatsächlichen ökonomischen Verlierer des Krieges und der Revolution 1918. Othmar Spann empfand ideologisch eine gewisse Sympathie für die Autoren der „konservativen Revolution“ (Ernst
Gerhard Jagschitz: Die österreichischen Nationalsozialisten. – In: Stourzh u. a. (Hrsg.): Österreich, Deutschland und die Mächte, S. 229 – 262, hier S. 232. Vgl. Miller: Engelbert Dollfuß als Agrarfachmann, S. 32. Dollfuß: Dollfuß an Österreich, S. 21. Schneller: Zwischen Romantik und Faschismus, S. 106 f. Vgl. Staudinger: Zu den Bemühungen katholischer Jungakademiker.
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Jünger, Oswald Spengler) in der Weimarer Republik.¹⁵ In Österreich war vor allem der militante Antimarxismus und die autoritäre Hierarchie im Werk von Othmar Spann¹⁶ für die führenden Ideologen der Heimwehr (Walter Heinrich, Hans Riehl) und den Tiroler Heimwehrführer Richard Steidle attraktiv. Der österreich-patriotisch orientierte Flüger der Heimwehrbewegung unter Führung von Ernst Rüdiger Starhemberg wurde später zum wichtigen Koalitionspartner der im Mai 1932 gebildeten Regierung Dollfuß.¹⁷
3 Die österreichische „Identität“ nach 1918 Das Jahr 1918 wurde eine klare Zäsur besonders im Hinblick auf die Rolle Österreichs in Mitteleuropa. Die „neue“ staatliche Identität nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie sah die Bevölkerung (fühlte sich mehrheitlich als Deutsche) nicht in der eigenen Staatlichkeit,¹⁸ sondern in Verbindung mit den Deutschen aus den sogenannten Sudetengebieten der alten Monarchie (DeutschÖsterreich) und im Anschluss an das Deutsche Reich. Das einzige, was (demgegenüber) gegen den Anschluss sprach, war die traditionelle Rivalität zwischen Preussen und Österreich und das Misstrauen gegen den deutschen Protestantismus. Die Anschlussfrage wurde allerdings von den Allierten 1919 schnell gelöst. Der Zusammenschluss vom Deutschen Reich und Österreich wurde verboten und der Anschlussverbot im Art. 88 des Vertrages von Saint-Germain verankert (neu Republik Österreich).¹⁹ Mitteleuropäisch betrachtet war Österreich das Erbe des alten Habsburgerreiches. Die Habsburgermonarchie stellte seit dem 18. Jahrhundert in Mitteleuropa ein Gegenpol zu Preussen dar. Die preussische Monarchie seit Friedrich dem II. symbolisierte den Zentralismus, den Protestantismus und den Militarismus. Der föderale Gedanke und der Katholizismus waren demgegenüber in Österreich zu Hause. Seit 1815 hatte das österreichische Kaiserreich den politischen Vorsitz im Deutschen Bund, und wurde mithin schon 1848 mit der deutschen „nationalen Frage“ konfrontiert. Die Lösungen der deutschen Einheit konnten grundsätzlich zwei sein; eine „großdeutsche Lösung“ als Zusammenschluss aller Deutschen in der Mitte Europas im Sinne der habsburgischen Vorstellungen (mit dem Haupt-
Zur politischen Kultur und Ideologie in der Weimarer Republik: Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Spann: Der wahre Staat. Britz: Die Rolle des Fürsten Ernst Rüdiger Starhemberg, S. 33 f. Vgl. Andics: Der Staat, den keiner wollte. Österreich 1918 – 1938. Suppan: Der Vertrag von St. Germain 1919.
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zentrum in Wien), oder aber eine aus Berlin gesteuerte „kleindeutsche Lösung“, welche die Einbeziehung der Deutschen aus der Habsburger Monarchie nicht vorsah. Mit der Reichsgründung von 1871 setzte Otto von Bismarck die „kleindeutsche Variante“ durch. Ein großer Teil der Deutschnationalen in Österreich(Ungarn) sah jedoch intensiv bis in den Ersten Weltkrieg hinein im Deutschen Reich das erfolgreiche und zukunftsfähige Vorbild für die Ausgestaltung der Rolle der Deutschen in Mitteleuropa.²⁰ Alle drei politischen Lager in Österreich waren nach 1918 für den Anschluss und bekannten sich öffentlich zu jenem traditionellen Nahverhältnis zu Deutschland. Die Sozialdemokraten (Otto Bauer, Karl Renner) und die Christlichsozialen, die am Anfang der Republik (nur bis 1920!) mühsam und mit vielen Kompromissen eine Proporzregierung geführt hatten, sahen den einzigen Ausweg aus der katastrophalen wirtschaftlichen Lage in einer Vereinigung mit der Weimarer Republik. Die Großdeutschen argumentierten ideologisch und national, später betrachteten sie den Anschluss auch als eine wirtschaftliche Notwendigkeit. In den konservativen Bundesländern wie Salzburg oder Tirol gab es eine starke Anschlussbewegung, die Motive waren aber eher negativer Natur (Los vom „roten“ Wien).²¹ Auch Engelbert Dollfuß war ein aufrichtiger Anschlussfreund, noch vor seiner politischen Karriere. Dollfuß war persönlich mit dem Deutschen Reich verbunden, studierte 1920 – 1921 politische Wissenschaft in Berlin und heiratete Alwine Glienke aus Pommern. Nach seiner Amtsübernahme als Bundeskanzler sprach er sich klar für die Gemeinsamkeiten von Deutschland und Österreich aus. Die Idee vom selbständigen Österreich akzentuierte Dollfuß seit Frühling 1933, erstmals unter Druck der Nationalisozialisten auf die österreichische Regierung und auf seine Person („Millimetternich“).²² Schließlich wurde ein Revolverattentat auf Dollfuß am 3. Oktober 1933 verübt. Auch in dieser Phase der harten Konfrontation mit Deutschland betonte Dollfuß allerdings ausdrücklich, dass die Österreicher zur „christlich-deutschen“ Kultur gehörten und dass Österreich ein „deutsches Land“ sei.²³
Ausführlich zu den österreichischen Reaktionen: Rumpler, Helmut – In: Kolb, Eberhard (Hrgs.): Europa und die Reichgründung, S. 147. Näher Steininger: Der Anschluss Österreichs – Stationen auf dem Weg zum März 1938. – In: Aus Politik und Zeitgeschichte, S. 24. Jagschitz: Die Jugend des Bundeskanzlers Dollfuß, S. 197; die gleiche Auffassung: Edmonson: The Heimwehr and Austrian Politics 1918 – 1936, S. 177. Dollfuß: Dollfuß an Österreich, S. 37; Wiltschegg: Österreich – der „zweite deutsche Staat“, S. 156 f.
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4 Geschichtlicher Hintergrund der Politik der Regierung Dollfuß Von 1922 bis 1929 führte in Österreich der christlichsoziale Prälat Ignaz Seipel die Regierung. Seipel stellte eine bürgerliche Mehrheit ohne die Sozialdemokraten. Sein Ziel war eine Stabilisierung von Österreich ohne Anschluss und eine Anpassung an die neue Situation (im Sinne der „Vernunftrepublikaner“). Er überzeugte die Repräsentanten der Bundesländer davon, die Realität der Republik und des Vertrags von Saint-Germain zu akzeptieren.²⁴ Dank der Aktivität Seipels waren auch die Allierten bereit zu helfen. Im Jahre 1922 bekam Österreich nach komplizierten Verhandlungen in Genf vom Völkerbund eine Anleihe, die wegen der schwierigen Lage der österreichischen Wirtschaft notwendig war. Österreich pflegte von Anfang der Republik an korrekte Beziehungen zur Weimarer Republik. Die Sozialdemokraten waren von der Notwendigkeit größerer Wirtschaftsräume überzeugt, sie hätten am liebsten eine Vereinigung mit dem „roten“ (sozialdemokratisch regierten) Deutschland gesehen. Dollfuß bemühte sich 1932 um eine Zusammenarbeit mit dem konservativen Präsidialregime mit Franz von Papen als Reichskanzler.²⁵ Bis 1933 stand Österreich trotz aller vorsichtigen Anschlussbemühungen (der gescheiterte Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion von 1931) im Schatten des großen deutschen Nachbarn. Die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland am 30. Januar 1933 veränderte die Situation jedoch dramatisch. Das Dritte Reich wurde zur direkten Bedrohung für Österreich. Österreich war nach dem Deutschen Reich das zweite Land, in dem sich der Nationalsozialismus am Anfang der 1930er Jahre politisch etablierte.²⁶ Für die österreichischen Nationalsozialisten war Engelbert Dollfuß, der die Unterstützung der Heimwehrbewegung (Fürst Starhemberg) suchte, seit seinem Amtsantritt unakzeptable. Die NSDAP erklärte bereits im Mai 1932, sie werde mit allen ihr zur Verfügung stehenden zulässigen Mitteln in den Landesregierungen, den Landesparlamenten und im Bundesrat, wo sie nun vertreten war, gegen diese Regierung kämpfen. „Das Ziel, das die nationalsozialistische Partei mit äußerster
Helmut Wohnout: Middle-class Governmental Party and Secular Arm of the Catholic Church, S. 173. Zu der Endphase der Weimarer Republik: Mommsen: Die verspielte Freiheit. Die ideologischen Wurzeln der NSDAP waren im Grunde in Österreich. Im Jahre 1904 wurde im deutschen nationalen Milieu in Österreich bereits die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) gegründet.
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Kraftanstrengung erstrebt, heißt Sturz der Regierung Dollfuß.“²⁷ Die Nationalsozialisten wollten um jeden Preis (entweder Neuwahlen oder eine Terrorwelle seit Mai 1933) an die Macht in Österreich kommen. Die Verhandlungen zwischen Dollfuß und dem von Hitler zum Landesinspekteur ernannten Theo Habicht scheiterten. Die NSDAP-Hitlerbewegung wurde von der Dollfuß-Regierung verboten. Am 19. Juni 1933 wurden die NS-Zeitungen eingestellt, das Vermögen der Partei beschlagnahmt und die nationalsozialistischen Abgeordneten ihrer Mandate für verlustig erklärt.²⁸ Der offizielle Anlass war ein Sprengstoffattentat gegen eine 56 Mann starke Abteilung der christlichdeutschen Turner in Krems.²⁹ Die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten strichen den Anschlussparagraphen aus ihren Programmen. Eine gemeinsame schwarz-rote Abwehrfront wurde aber nicht gebildet, weil sich Engelbert Dollfuß bereits nach dem 4. März 1933 vom Parlamentarismus abkehrte und eine Notstandsdiktatur gegen die Sozialdemokratie (Staatsstreich auf Raten)³⁰ riskierte statt einen Konsens der Proporzdemokratie³¹ zu suchen. Dollfuß weitete eine eher marginale Geschäftsordnungslücke des Nationalrats (den in der Geschäftsordnung nicht vorgesehenen Abtritt der drei Nationalratspräsidenten K. Renner, R. Ramek, S. Straffner am 4. März 1933) zur Fundamentalkrise des österreichischen Parlametarismus aus.³² Die Rechtsgrundlage für die seit dem 7. März 1933 erlassenen Verordungen bildete das noch im österreichischen Rechtssystem bestehende kaiserliche „Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz“ vom 24. Juli 1917. Nachdem im Frühling 1933 eine massive Unterstützung (geheime Finanz- und Materialquellen) aus dem Dritten Reich kam, hat eine NS-Offensive gegen Österreich begonnen, mit dem Ziel, den Anschluss auf schnellstem Wege herbeizu Salzburger Volksblatt vom 24. Mai 1932, S. 1. An den Parteiverbot knüfte auch eine Fahnenverordnung, die den öffentlichen Gebrauch von Fahnen und Standarten mit dem Hakenkreuz ausnahmlos verbot. Näher zu den Maβnahmen der österreichischen behörden gegen die detschen Farben, Flaggen und Symbole: Bericht der Deutschen Gesandschaft in Wien vom 28. September 1933, Archiv des Auswärtiges Amtes, Abt. II, Pol 29. Ausführlich zu der Tätigkeit der Nationalsozialisten in Österreich: Jagschitz: Der Putsch, die Nationalsozialisten 1934 in Österreich, S. 30 – 32. Peter Huemer geht von der planmäβigen Ausschaltung des Nationalrats durch die Bundesregierung aus. Huemer: Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich; ähnliche Interpretation: Emmerich Tálos und Walter Manoschek: Zum Konstituierungsprozeß des Austrofaschismus. – In: Tálos (Hrsg.): Austrofaschismus, S. 32– 53. Laut Franz Schausberger wurde die letzte Chanze auf eine „Proporzregierung“ bei der Bildung der Regierung Dollfuß I im Mai 1932 versäumt. Schausberger: Letzte Chanze für die Demokratie. Die Bildung der Regierung Dollfuß I im Mai 1932, S. 99 – 101. Zur Analyse staatsrechtlicher und politischer Aspekte der Demokratiekrise siehe Kluge: Der österreichische Ständestaat 1934– 38, S. 56 – 60.
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führen. Idealerweise sollten die österreichischen Nationalsozialisten innenpolitisch eine Machtbeteiligung oder die ganze Macht erringen und eine Gleichschaltung erzwingen. Die NSDAP forderte seit Mai 1932 ständig Neuwahlen. Nach der Ausschaltung des Parlaments am 4. März 1933 musste aber zuerst die Regierung Dollfuß gestürzt werden. Der deutsche Druck sollte hauptsächlich ohne eine offizielle „reichsdeutsche“ Beteiligung erfolgen. Die Aktion bestand aus einer massiven NS-Propaganda, einem Bombenterror, einem Wirtschaftskrieg und aus der Bildung der „Österreichischen Legion“ bei München. Im Mai 1933 verhängte Hitler die sog. Tausend-Mark-Sperre über Österreich. Damit sollte der Fremdenverkehr und die Touristenbranche in Österreich getroffen werden.³³ Die Dollfuß-Regierung wehrte sich sowohl praktisch als auch ideologisch (siehe unten). Der sich verschärfende NS-Terror führte zu weiteren Maßnahmen der Regierung. Im November 1933 wurde Standrecht eingeführt, im Juni 1934 die Todesstrafe sogar auf den bloßen Besitz von Sprengstoff. Nirgendwo in Europa wurde der Nationalsozialismus so stark unterdrückt wie in Österreich (Anhaltelager Wöllersdorf). Die Positionierung der Heimwehren lässt sich mit der Aussage vom Regierungsmitglied Odo Neustädter-Stürmer veranschaulichen: „Wir können den Nationalsozialismus in Österreich schlagen, indem wir ihn ‚überhitlern‘.“³⁴ Damit war gemeint, dem Konkurrenten die Waffe des Antimarxismus zu entwinden. Der radikale Antibolschewismus sollte sowohl zur schrittweisen Entmachtung der Sozialdemokratie (vom 4. März 1933 bis zum Parteiverbot am 12. Februar 1934) führen als auch helfen, die „braune“ Welle aufzufangen. In diesem Sinne entwickelte sich auch die Zusammenarbeit mit Italien. Im April 1933 bekam Dollfuß die notwendige Rückendeckung für den Kampf um die österreichische Unabhängigkeit. Mussolini versprach sich von der Unterstützung der österreichischen Regierung mehr Einfluss Italiens im Donauraum, drängte aber massiv auf eine „Faschisierung Österreichs“ und „Maßnahmen gegen die Sozialdemokratie“.³⁵ Dollfuß führte jetzt einen Zweifrontenkrieg gegen die Sozialdemokraten und die Nationalsozialisten. Diese Periode der österreichischen Zeitgeschichte endete im Bürgerkrieg am 12. Februar 1934 und am 25. Juli 1934.
Eine gründliche Analyse des österreichischen Abwehrkampfes und der Methoden der deutschen „Österreich-Politik“ 1933 – 1934: Kindermann: Hitlers Niederlage in Österreich. Goldinger (Hg.): Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932– 1934, S. 204 (Besprechung am 25. März 1933). Vgl. Mussolini: Geheimer Briefwechsel Mussolini-Dollfuß, S. 18 – 19.
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5 Die „Österreich“-Ideologie und Österreichs „deutsche Sendung“ In der Situation existenzieller Gefahr für die österreichische Unabhängigkeit wurde die „Österreich“-Ideologie³⁶ zum offiziellen Staatsgedanken des „christlichen Ständestaates“. Der ehemalige de facto katholische Großdeutsche Dollfuß ergriff nun die Initiative zur Neuformierung des österreichischen Selbsverständnisses. Dies sollte seiner Regierung helfen, die staatliche Souveränität Österreichs in Europa zu verteidigen. Im Hinblick auf die Rechtfertigung der Zweiten Republik nach 1945 wurde später genau diese Phase der Betonung der eigenständigen Identität als Argument für eine „Opferthese“ (Österreich als „Hitlers erste Opfer“) eingeschätzt.³⁷ Nach dem Mord von Dollfuß am 25. Juli 1934 wurde der Bundeskanzler zur Personifikation des österreichischen Gedankens. Sein Vermächtnis pflegte der Ständestaat bis 1938 sorgfältig. Dollfuß wurde zum „Heldenkanzler“ und zum heiligen Märtyrer der „österreichischen Idee“.³⁸ Der wichtigste Eckpfeiler (dieser Argumenation) der Regierung Dollfuß war die ruhmreiche Geschichte und die tausendjährige Tradition „Alt-Österreichs“ (geschichtliche Rückbesinnung). Bundeskanzler Dollfuß und Heimwehrführer Fürst Starhemberg betonten die übernationale „Reichsidee“ des Habsburger Vielvölkerstaates und erinnerten an die Leistungen deutschsprachiger Österreicher für die ganze Donaumonarchie. Anlässlich des Jahrestages (250 Jahre) der Befreiung Wiens von der Türkenbelagerung 1683 fand im Mai 1933 eine Massenkundgebung der Heimwehren im Schloss Schönbrunn statt.³⁹ Für Dollfuß war es die Stunde der Entstehung des „neuen“ Österreichs. Die österreichische Idee sollte zum neuen staatstragenden Gefühl werden. Wenige Wochen später äußerte sich Fürst Starhemberg zum Dritten Reich: „Wir Österreicher sind gezwungen, unser Österreichertum gegen andere Deutsche zu verteidigen!“.⁴⁰ Die Argumentation lautete, die Österreicher integrierten in der Geschichte vielseitige Kultureinflüsse
Kritischer Beitrag: Anton Staudinger: Austrofaschistische „Österreich“-Ideologie. – In: Tálos (Hrsg.): Austrofaschismus, S. 287– 315. In der ausführlichen gemeinsamen Dokumentation der ersten ÖVP und SPÖ Koalitionsregierung aus dem Jahre 1946, die als Rot-Weiß-Rot-Buch bezeichnet wird, stand: „Österreich hat der Aggressionspolitik Hitlers als erster Staat praktischen Widerstand geleistet, dies tat fünf Jahre lang als einziger Staat.“ Vgl. Jagschitz: Der Putsch, die Nationalsozialisten 1934 in Österreich, S. 190. Neuere Forschungen zur Heimwehr: Höbelt: Die Heimwehren und die österreichische Politik 1927– 1936. Britz: Die Rolle des Fürsten Ernst Rüdiger Starhemberg, S. 56.
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und seien deshalb geeignet, eine Mission „als Kulturträger und Mittler im Südosten“ zu erfüllen und „die Kulturarbeit im Dienste des gesamten Deutschtum“ zu machen.⁴¹ Laut Dollfuß sollte das „wahre Deutschtum“ (Österreicher als „bessere“ Deutsche) in Form des Österreichertums für ganz Europa und das Abendland bewahrt werden. Das Österreichertum wurde mithin zur deutsch-europäischen Synthese und sollte zum „Bollwerk christlich-deutscher Kultur“ gegen den „braunen Bolschewismus“ (Nationalsozialismus) werden und diesen Widerstandskampf im Dienste Europas durchzustehen.⁴² Die vom Dollfuß-Regime im Jahre 1933 neu gegründete „Vaterländische Front“ (Kruckenkreuz-Symbol) wurde als eine Bewegung, „die alle, die sich zu Österreich als ihrem deutschen Vaterlande bekennen, in sich schliessen will …“⁴³ verstanden. Die christlich-katholische Mission und die universelle Idee des römischen Katholizismus kamen noch deutlicher während des Allgemeinen Deutschen Katholikentages im September 1933 in Wien zum Ausdruck. Dollfuß erklärte: „Wir wollen den sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich. […] Wir glauben, dass wir ehrliche deutsche Kultur in diesem christlichen Teile Mitteleuropas zu erhalten und zu hüten und in österreichischer Form die christlichdeutsche Kultur in diesem Lande zu gestalten haben.“⁴⁴ Dollfuß benutzte das Forum des Katholikentages für seine programmatische Rede auf dem Trabrennplatz am 11. September 1933 und sprach: „Wir brauchen uns nur an die letzten Enzykliken des Heiligen Vaters zu halten; sie sind uns Wegweiser für die Gestaltung des Staatswesens in unserer Heimat. Die jetzige Regierung ist einmütig entschlossen, im christlich-deutschen Geist die Erneuerung von Staat und Wirtschaft in die Wege zu leiten.“⁴⁵ Kurt von Schuschnigg sprach vom „katholischen Österreich“ als Voraussetzung für die Erfüllung der Sendung des deutschen Volkes im christlichen Abendland. Laut Schuchnigg sei „die österreichische Aufgabe nur im Rahmen des wirklichen gesamtdeutschen Gedankens“ zu verstehen.⁴⁶ Nach 25. Juli 1934 knüpfte Kurt von Schuschnigg als Nachfolger des ermordeten Bundeskanzlers Dollfuß an diese Ideen an. Er bestätigte ideologisch Österreich
Eder: Kanzler Dollfuß. Seine österreichische Sendung, S. 27. Zur Interpretation vgl.: Kindermann: Hitlers Niederlage in Österreich, S. 48 – 50. Dollfuß: Dollfuß an Österreich, S. 40. Ebenda, S. 36 f. Die sog. Trabrennplatz-Rede vom 11. September 1933. – In: Berchtold (Hrsg.): Österreichische Parteiprogramme 1868 – 1966, S. 431; vgl. Ernst Hanisch: Der Politische Katholizismus als ideologischer Träger des „Austrofaschismus“. – In: Tálos (Hrsg.): Austrofaschismus, S. 53 – 75, hier S. 61. Bericht vom Deutschen Konsulat an das Auswärtige Amt in Berlin, am 10. Mai 1933, Archiv des Auswärtigen Amtes, Österreich, pol. 5., Bd. 12, Innere Politik, Parteiwesen 2/33 – 12/33.
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als „zweiter deutscher Staat“ und „Kern eines neuen Mitteleuropas“, von dem eine „Katholisierung“ ausgehe.⁴⁷ Darin lag laut offizieller Ideologie die europäische Aufgabe des „christlichen Ständestaates“ Österreich 1934– 1938.
6 Zusammenfassung Im breiteren Zusammenhang spiegelte Österreich während der Dollfuß-Kanzlerschaft 1932– 1934 das schicksalshafte Verhältnis der Deutschen und der Österreicher in Mitteleuropa wider. In der Konfrontation Österreichs mit dem nationalsozialistischen Deutschland ging es nicht um den Kampf des „Österreichertums“ gegen das Deutschtum, sondern um den Kampf um das wahre Bild vom Deutschtum in Mitteleuropa und seine Bedeutung für den ganzen europäischen Kontinent. Dabei stellte die österreichische Selbständigkeit, die Betonung der Rolle des „österreichischen Menschen“ für das Gesamtdeutschtum und mithin die Erhaltung der staatlichen Unabhängigkeit Österreichs das zentrale Anliegen der Regierung Dollfuß dar. Das autoritäre Dollfuß-Regime war gleichzeitig mit der von ihm verursachten Zerstörung der Demokratie seit März 1933 in Österreich verbunden. Unter Gesichtspunkt der Demokratiefrage ist es kompliziert, den Bundeskanzler Dollfuß als Menschen und Politiker zu würdigen („Arbeitermörder“ oder „Märtyrer“).⁴⁸ Aus heutiger Sicht gibt es klare Tatsachen, wie die Ausschaltung des Parlamentarismus und die Errichtung der Diktatur, die zu kritisieren sind. Allerdings gibt es auch Tatsachen, wie der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die wir wahrnehmen müssen, bevor wir den von Dollfuß proklamierten und gegründeten „autoritären Ständestaat“ pauschal verurteilen. Die Erfüllung der „österreichischen Mission“ bei gleichzeitiger Betonung der österreichischen Identität und deren positiven Rolle für das Gesamtdeutschtum war in der Kostellation der 1930er Jahre in Mitteleuropa praktisch nicht durchführbar. Sowohl die innenpolitische Lage in Österreich als auch das dringende Bedürfnis der Sanierung der Wirtschaft und die Situation in Europa steuerten dagegen.⁴⁹ Darin lag auch ein Teil der Tragik der geschichtlichen Rolle von En-
Vgl. Wiltschegg: Österreich – der „zweite deutsche Staat“, S. 157. Zur Diskussion und historischen Einordnung von E. Dollfuß: Neisser: Zur Bedeutung von Engelbert Dollfuß. Die Lösungsvarianten der „österreichischen Frage“ beschrieb in einem Exposé vor dem Parlament der tschechoslowakische Auβenminister Edvard Beneš im März 1934; ausführlich Gerald Stourzh: Die Aussenpolitik der österreichichen Bundesregierung gegenüber der nationalsozialistischer Bedrohung. – In: Stourzh u. a. (Hrsg.): Österreich, Deutschland und die Mächte, S. 320; kritische Analyse vom Exposé im Bericht von Dr. Koch von der Deutschen Gesandschaft in
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gelbert Dollfuß. Österreich erwies sich als „brüchiges Bollwerk“ gegen den Nationalsozialismus. In Folge der Ereignisse der Jahre 1933 – 1934 waren nahezu zwei Drittel der Bevölkerung aus den politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Dies schwächte schon mittelfristig die tatsächliche Widerstandsfähigkeit des „Ständestaates“ gegenüber der nationalen Volksgemeinschaft des Dritten Reiches (Anschluß am 12. März 1938). Der Widerspruch der „Österreich“-Ideologie bestand darin, dass die Erfüllung der „Sendung Österreichs“ paradoxerweise nur in enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich möglich wäre. Die kompromisslose Position Adolf Hitlers und die Politik des Dritten Reiches verhinderte jedoch ein modus vivendi. Österreich sollte laut Hitler zu „Ostmark“ werden statt eine „integrierende“ Brücke zwischen dem Deutschtum und den anderen Nationen im Donauraum und Mitteleuropa zu bilden. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass Engelbert Dollfuß (und sein Nachfolger Kurt von Schuschnigg) bei ihrer Argumentation nie den „Boden“ der deutschen Nation und des Deutschtums (Deutschnationalismus) verlassen haben. Ihre Bemühungen stellten in den Jahren 1933 – 1938 den österreichischen Patriotismus zwar unmissverständlich in den Vordergrund, setzten aber keine eigene Staatsnation voraus. Dieser Weg zur von der Bevölkerung mehrheitlich als eigenständig empfundenen „österreichischen Nation“ dauerte noch mehrere Dutzend Jahre.⁵⁰ Die Vollendung dieses Entwicklungspozesses erforderte mindestens noch die bitteren Erfahrungen der Österreicher während des Zweiten Weltkriegs 1938 – 1945.
Literatur- und Quellenverzeichnis Ungedruckte Quellen Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin Drucksachen: Abt. II, Pol. 29; Österreich, pol. 5., Bd. 12, Innere Politik, Parteiwesen 2/33 – 12/33; Tschechoslowakei/Österreich Beziehungen, Abt. II, Pol. 3, Band 3.
Prag an das Auswärtige Amt in Berlin; Archiv des Auswärtigen Amtes, Tschechoslowakei/Österreich Beziehungen, Abt. II, Pol. 3, Band 3. Bei einer Umfrage im Jahre 1987 in Österreich antworteten die Befragten auf die Frage: „Sind Sie Deutscher? mit 87 % „Ich bin Österreicher.“; mit 6 % „Ich bin Deutscher.“; mit 3 % „Ich bin Deutscher aus Österreich.“; 2 % teilten die Zugehörigkeit zu einem Bundesland mit; Stourzh: Vom Reich zur Republik, S. 101.
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Gedruckte Quellen und zeitgenössische Literatur und Presse Dollfuß, Engelbert: Dollfuß an Österreich. Eines Mannes Wort und Ziel. Hrsg. von Edmund Weber. Wien: Reinhold 1935. Berchtold, Klaus (Hrsg.): Österreichische Parteiprogramme 1868 – 1966. München: R. Oldenbourg 1967. Eder, Julius: Kanzler Dollfuß. Seine österreichische Sendung. Wien: Manzsche Verlags- und Universitäts-Buchhandlung 1933. Mussolini, Benito: Geheimer Briefwechsel Mussolini-Dollfuß. Mit einem Vorwort von Vizekanzler Dr. Adolf Schärf. Erläuternder Text von Karl Hans Sailer. Anhang: Aus den Memoiren Starhembergs. Wien: Wiener Volksbuchhandlung 1949. Goldinger, Walter (Hrsg.): Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932 – 1934. Studien und Quellen zur österreichischen Zeitgeschichte. Wien: Verlag für Geschichte und Politik 1980. Salzburger Volksblatt vom 24. Mai 1932. Spann, Othmar: Der wahre Staat. Wien: Quelle & Meyer 1921.
Darstellungen Andics, Helmut: Der Staat, den keiner wollte. Österreich 1918 – 1938. Wien: Herder 1962. Botz, Gerhard: Krisenzonen einer Demokratie. Gewalt, Streik und Konfliktunterdrückung in Österreich seit 1918. Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag 1987. Britz, Werner: Die Rolle des Fürsten Ernst Rüdiger Starhemberg bei der Verteidigung der österreichischen Unabhängigkeit gegen das Dritte Reich. Frankfurt a. M.: Peter Lang 1993. Bruckmüller, Ernst: Das österreichische Bürgertum zwischen Monarchie und Republik. – In: Zeitgeschichte 20 (1993) H. 3 – 4, S. 60 – 83. Edmonson C. Earl.: The Heimwehr and Austrian Politics 1918 – 1936. Athens: University of Georgia Press 1978. Höbelt, Lothar: Die Heimwehren und die österreichische Politik 1927 – 1936. Vom politischen „Kettenhund“ zum „Austro-Fascismus“? Graz: Ares-Verlag 2016. Huemer, Peter: Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie. München: R. Oldenbourg 1975. Jagschitz, Gerhard: Die Jugend des Bundeskanzlers Dr. Engelbert Dollfuß. Ein Beitrag zur geistlich-politischen Situation der sogenannten „Kriegsgeneration“ des 1. Weltkrieges (Dissertation). Universität Wien 1967. Jagschitz, Gerhard: Der Putsch, die Nationalsozialisten 1934 in Österreich. Graz: Styria 1976. Kindermann, Gottfried Karl: Hitlers Niederlage in Österreich. NS-Putsch, Kanzlermord und Österreichs Abwehrsieg 1934. Hamburg: Hoffmann und Campe 1984. Kluge, Ulrich: Der österreichische Ständestaat 1934 – 38. Entstehung und Scheitern. Wien: Oldenbourg 1984. Kolb, Eberhard (Hrsg.): Europa und die Reichsgründung. Preussen-Deutschland in der Sicht der grossen europäischen Mächte 1860 – 1880. München: R. Oldenbourg Verlag 1980. Miller, James William: Engelbert Dollfuß als Agrarfachmann. Eine Analyse bäuerlicher Führungsbegriffe und österreichischer Agrarpolitik 1918 – 1934. Wien, Köln: Böhlau 1988. Mommsen, Hans: Die verspielte Freiheit, Frankfurt a. M., Berlin: Propyläen 1990.
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Miloš Havelka
Václav Havel: Ein Mitteleuropäer mit „weltbürgerlicher Absicht“ Leben, Denken und Aktivitäten von Václav Havel waren politisch, kulturell und auch personell deutlich mitteleuropäisch situiert, und zwar in mehrfachem Sinne. Havel stammte aus einer bedeutenden bürgerlichen Pragerfamilie von Bauunternehmern, die lange Zeit zahlreiche gesellschaftliche Kontakte pflegte und die sich aktiv für Kunst und Literatur interessierte – Havels Großvater stand im Briefkontakt mit einigen Künstlern seiner Zeit, sein Onkel z. B. war in der Vorkriegszeit ein wichtiger Filmproduzent. Vor dem Kriege gehörte sein Vater zu den Mitgliedern der linksliberalen sog. Barrandov-Gruppe von Politikern und Intellektuellen, die intensiv diskutierte: über Probleme des Kapitalismus und seiner Krisen, über Möglichkeiten eines „wirtschaftlichen Parlaments“, das die Nationalwirtschaft als ein gesellschaftspolitisches System mitgestalten könnte, oder über eine „qualitative Demokratie“, die die soziale Individualität, Traditionen und regionale Unterschiede stärker berücksichtigen sollte. Einige Konzepte, wie z. B. die „Amalgamisierung allgemeiner Positiva der Entwicklung“, die auf Konvergenzmöglichkeiten damaliger politischen Systeme hinwiesen, oder eines „konkreten“, in Richtung des Möglichen und des Wünschenswerten orientierten „Aktivismus“ versuchte dann Havels Vater noch, wenn auch in engerem Kreis von Freunden, für das Leben in den 1950er Jahren zu aktualisieren¹. Politische Imagination schien damals wichtiger als „sozialistische“ Realität. Nachklänge davon sind auch im Denken vom jungen Václav Havel zu finden. Nach dem kommunistischen Putsch 1948 wurden ähnliche Familien – nicht nur die bürgerlichen, sondern auch z. B. die von Grundbesitzern oder die aus Kreisen der Staatsverwaltung aber auch die von praktizierenden Christen auf verschiedenen Ebenen als politisch oder ideologisch unverlässlich betrachtet. Sie wurden enteignet, sozial ausgegrenzt und degradiert, manchmal zwangsweise umgesiedelt oder auch strafrechtlich verfolgt, was zur Zerstörung ländlicher Gemeinschaften und auch des in langer Zeit sich herausgebildeten städtischen und kulturellen Lebens führte. Václav Havel durfte nicht studieren, er lernte durch eigene Lektüre, durch Diskussionen im Freundeskreis (Josef Škvorecký, Jan Zábrana, Pavel Švanda, Josef Topol, Viola Fischerová u. a.) und in wiederholten Kontakten mit interessanten Kosatík: „Ústně více“. Šestatřicátníci, S. 79. Die Übersetzungen aus dem Tschechischen sind, wenn nicht anders angegeben, von mir. https://doi.org/10.1515/9783110536003-007
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Persönlichkeiten der damaligen kulturellen Szene (Josef Šafařík, Vladimir Holan, Jaroslav Seifert, Jan Grosmann, Alfréd Radok, Jiří Kolář u. a.), die in den 1950er Jahren einen verborgenen und passiven Dissens verkörperten. In einer solchen sozialen und geistigen Situation war freilich Václav Havel nicht allein. Eine ganze Generation von zwischen 1935 und 1945 Geborenen wuchs so wie er mit dem Erfahrungshorizont des Stalinismus auf, der nach dem Februarumsturz 1948 in der Tschechoslowakei herrschte. Wie er lebte diese Jugend auf Grund ihrer Herkunft in einem Milieu der Unterordnung und Diskriminierung; viele Möglichkeiten blieben ihnen verwehrt, sie durften nicht oder nur bestimmte Fächer studieren und wurden danach auf den schlechtesten Stellen „platziert“. Kulturelle Verbote engten ihre Welt ein. „Für die grundlegende Erfahrung meiner Generation“ – machte sich Havel bereits gegen Ende der 1950er Jahre bewusst – „halte ich das nachdrückliche Durchleben der realisierten kommunistischen Vorstellung vom Sozialismus und das grundsätzliche und wie niemals zuvor […] durchdachte Verhältnis zu ihr, das leider zum größten Teil negativ war.“². Dass Havels Einstellungen durch die Erfahrungen einer ganzen Generation geprägt wurden, sollte nicht übersehen werden. Die Mentalität der Generation Havels begann sich relativ früh nach dem Februarumsturz im Milieu kleiner Freundeskreise, deren Angehörige aus geächteten bürgerlichen Familien stammten, intellektuell und politisch zu profilieren. Die Zeit nach dem Krieg und besonders nach dem Februarumsturz erlebten sie völlig anders als die Angehörigen der älteren sog. „Milan Kundera-Pavel Kohout-Generation“, die sich aktiv und initiativ an den damaligen politischen und kulturellen Veränderungen beteiligte³. Ein ‚Horizont der Generationserfahrung‘ (Karl Mannheim)⁴ von Havels Generation wurde so bestimmt durch die Repressionen des Regimes, die Verfolgung der Familien, das Verwehren von Bildung und die Behinderung der persönlichen Karrieren, begleitet von einer Entleerung der Kultur und der Manipulation des öffentlichen Raumes, doch auch durch die Misserfolge des ökonomischen und kulturellen „Aufbaus des Sozialismus“, wenn auch einige Mitglieder dieser Generation im Sozialismus eine zivilisatorische Orientierungsmöglichkeit sahen, die stärker wirkten als ihre sozialpolitisch kritische und kulturell komparative Stellungsnahmen.
Havel, Brief an Jiří Paukert, Poststempel 28. August 1958 (Knihovna Václava Havla, ID 1622), zitiert nach Žantovský: Havel, S. 99. Vgl. dazu z. B.: Havelka: Der „Prager Frühling“ in einer Perspektive generationsspezifischer Erwartungen. Vgl. Mannheim: Das Problem der Generationen (1928).
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Václav Havels Generation hat sich literarisch und politisch mit Verspätung durchgesetzt⁵, eigentlich nur für kürzere Zeit in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und politisch erst während der ‚samtenen Revolution‘ und unmittelbar danach, als mehrere ihre Repräsentanten⁶ auf verschiedenen Ebenen zu ihren Sprechern wurden. Unter dem Druck der politisch-administrativen und gesellschaftlichen Institutionen, Normen und Regeln in der Zeit des ‚Aufbaus‘ des Sozialismus (und besonders dann während Husáks Normalisierungsregime der 1970er und 1980er Jahre) bildete sich schrittweise kulturelles Kapital der Generation Havels heraus, die eine so wichtige Rolle nach dem November 1989 spielte, in einer Situation also, in der das tschechoslowakische ‚sozialistische‘ Regime sich nicht mehr – wie z. B. im Jahre 1968 – von der Begeisterung, Hoffnung und Ergebenheit ernährte, sondern dem man mit Gleichgültigkeit, Resignation, Apathie und Aussichtslosigkeit gegenüberstand. Von dieser Generation wurden stets Freiheit, Identität und Demokratie betont und man erwartete von der kommenden politischen Veränderung aufgrund der divergierenden Vorstellungen vom gesellschaftlichen Leben einen Wandel der Werte und Normen, man warnte vor Prozessen, die an Bestehendes anknüpften wollten, und dergleichen mehr. Der Grund für die Unterstützung oder zumindest für die Sympathie einer breiteren Öffentlichkeit für Václav Havel waren seine kommunizierten eigenen Erfahrungen, seine kritische und stets opponierende Beurteilung und Kommentierung von politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen seiner Zeit. Allerdings lag er auch in einer Reihe von Fällen im Konflikt und Dissens mit den Überzeugungen, Erwartungen und Erfahrungen einiger seiner älteren und jüngeren Mitstreiter (und später auch Partnern in der Politik). Etwas überspitzt gesagt: Václav Havel und seine Weggefährten mussten im November, Dezember 1989 niemanden mehr für sich gewinnen und brauchten die Öffentlichkeit nicht erst von ihren Ansichten der Notwendigkeit des Wandels zu überzeugen. Es ist unmöglich, universalistisch bzw. ‚weltbürgerlich‘ orientierte Aspekte von Václav Havels Denken zu übersehen und zu unterschätzen, die er wiederholt
Ihr Auftritt in der Öffentlichkeit stand in der Mitte der 1960er Jahre im Zusammenhang mit der Entstehung von Zeitschrift Tvář (Das Antlitz). Bald wurden ihre Mitglieder mit verschiedenen weltanschaulich ‚nichtmarxistischen‘ Positionen (Christentum, Existenzialismus, Liberalismus) in Verbindung gebracht oder mindestens als Störenfriede der Reformversuche betrachtet, weil sie angeblich den ‚hartes Kern‘ der Partei provozierten. Als nachträgliches Manifest dieser Generation kann man den von Karel Hvížďala herausgegebenen Sammelband Generace 35 – 45 ansehen. Neben Václav Havel waren es z. B. Václav Benda, Petr Pithart, Jan Sokol, Milan Uhde, Petr Vopěnka, Václav Žák und auch die anderen, die zwar nicht zu ihrem ‚engeren Kreis‘ gehörten, doch die aus ähnlichen Generationserfahrungen hervorgegangen sind, z. B. Václav Klaus, Petr Uhl, Miloš Zeman, Josef Zieleniec, u. ä.
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mit Kritik zivilisatorischen Wirklichkeiten zu verbinden sich bemühte und die auch seine politische (manchmal auch kritisierte) Position in der tschechischen Gesellschaft bestimmten. Zu deren Schwäche gehörte freilich ein Unverständnis für die sozialökonomische Dimension der Probleme. Das Paradox dieser spezifischen intellektuellen Orientierung könnte man vielleicht als einen Versuch bezeichnen, so etwas wie eine kritische, ethisch begründete, in manchen Aspekten „links-demokratisch“, beziehungsweise „links-liberal“ geprägte Überzeugung aufzubauen, die sich sowohl von dem tschechischen „Reform-Kommunismus“ als auch dem Breschnews „realexistierenden Sozialismus“ unterschied, und die bei Havel – mindestens bis Anfang der 90er Jahre – zwischen Sozialismus- und Kapitalismus-Ideologien offen schwankte. Havel lehnte sowohl den auf eine Diktatur gegründeten Sozialismus, als auch „formalisierte und ritualisierte Bindungen in Post-demokratischen Strukturen“ der westlichen Welt ab.⁷ Beides waren für ihn damals nur zwei verschiedene Erscheinungsformen einer „konsumorientierten industriellen Gesellschaft“⁸. In direkter Berufung auf Augsteins Spiegel-Interview mit Martin Heidegger kritisierte er sowohl am Sozialismus als auch an der westlichen Welt ihre „Verfallenheit an das Seiende“⁹, nämlich: den zivilisatorisch krisenhaften Charakter des Industrialismus, den dominierenden Konsumerismus und abgeflachte Werte, entäußertes Leben und eine sich verbreitete Massenkultur, manipulative Mechanismen in der Politik und die Entstehung der falscher Eliten u. Ä. Eine Alternative zu beiden „entfremdeten Systemen“ sah er dann in Aktivitäten der Individuen, die eine „existentielle Revolution“ in Richtung sittlicher Rekonstruktion der Gesellschaft anstreben¹⁰ und in der die Werte wie „Identität“, „Authentizität“, „Bürgerlichkeit“, „Solidarität“, „Gedächtnis“, „Integriertheit“, „Gemeinschaftlichkeit“, Unabhängigkeit, das Vor-politische u. Ä. aktualisiert und schrittweise verwirklicht werden. Nach Havels oft problematisierter und als moralisierende Illusion diskreditierter Maxime sollte das „Leben in der Wahrheit“ vor allem auf die Notwendigkeit hinweisen, aktiv zu werden und sich durchgreifend, kritisch, verantwortlich und besonders anti-ideologisch zu den Wirklichkeiten der gegenwärtigen Welt zu verhalten. Bestehende Spannungen zwischen Zwangsmaßnahmen des „sozialistischen“ Staates und den Praktiken des Alltagslebens, die sich im Sozialismus auf Grund
Havel: Moc bezmocných, S. 322. Ebenda, S. 229. Heidegger: „Nur noch ein Gott kann uns retten“. Spiegelgespräch mit Martin Heidegger am 23. September 1966; das Spiegel-Gespräch mit Rudolf Augstein und Georg Wolff im September 1966 wurde erst am 31. Mai 1976 veröffentlicht; das Zitat mit dem Hinweis auf Sein und Zeit auf S. 209. Havel: Moc bezmocných, S. 324.
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der verschiedenen „Kapitale“ (des „politischen“, „sozialen“, „kulturellen“ usw.) formierten und die zur Entstehung verschiedener parallelen Institutionen und spezifischen Zusammenstellungen führten, die quer durch die Gesellschaft wirkten, haben eine neue Folie für verschiedene Formen der oppositionellen Tätigkeiten herausgebildet und ihnen auch neue innere Kraft und verschiedene Chancen gegeben – Václav Havel versuchte das in seinem berühmten Essay „Die Macht von Ohnmächtigen“ (Moc bezmocných) zu zeigen. Eine Schlüsselbedeutung hatte darin ein ausgearbeitetes Konzept des „PostTotalitarismus“¹¹. Er wurde bei ihm nicht mehr durch Gewalt und physische Unterdrückung – wie es während des Stalinismus der Fall war – charakterisiert, vielmehr durch eine Übermacht und Selbsttätigkeit¹² der Ideologie, die am Ende als Max Webers oft zitiertes ‚Gehäuse der Hörigkeit‘¹³ sich das Leben von allen – so wohl der Beherrschten als auch der Herrschenden – durch verschiedene Abhängigkeitsformen unterwirft. Auf den Post-Totalitarismus-Begriff beziehen sich alle andere Kategorien von Havels Ausführungen, wie die des „Dissenses“ und seinen Möglichkeiten („parallele Polis“, „alternative Kultur“), des Widerspruchs zwischen den „Intentionen des Lebens“ und den „Intentionen des Systems“, der Angst, des Seinsgedächtnisses, der „Schwerkraft des Systems“ u. Ä. Václav Havels Analysen des „Post-Totalitarismus“ überschritten oft in ihrer Intentionen tschechische, beziehungsweise mitteleuropäische Situierung und wurden dann von einigen westlichen Zeithistorikern und Zivilisationskritikern (z. B. Marci Shore, André Glucksmann oder Juan Linz¹⁴) in verschiedene Kontexte weiter extrapoliert. Der polarisierenden und oft spontan dialektischen Art und Weise von Havels intellektueller Einstellung entsprach auch eine Form seiner
Ebenda, S. 230. Es ist nicht zu übersehen, wie oft Havel in seinen Texten die Vorsilben ‚selbst-‘ und ‚auto-‘ für Bezeichnungen der systemspezifischen, in manchem Sinne ‚autopoietischen‘ (Niklas Luhmann) Energien des post-totalitären Systems verwendet. Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland: „Im Verein mit der toten Maschine ist sie [die bürokratische Organisation] an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden“ – Gesammelte politische Schriften, S. 332. Juan Linz und Alfred Stepan benutzen z. B. „post-totalitarianism“ als Bezeichnung der Entwicklung in Osteuropa zwischen der zweiten Hälfte 1970er Jahre und dem Jahre 1989 – Linz und Stepan: Problem of Democratic Transitions and Consolidation, S. 42– 51. Ähnlich Shore: Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa. – In seinen späteren Texten versucht auch der französische „neue Philosoph“ André Glucksmann Havels Analysen des „Post-Totalitarianismus“ wiederholt als Bezeichnung des verborgenen Wirkens von antiliberalen, staatsmanipulativen und kulturprägenden Tendenzen in westlichen Gesellschaften zu benutzen.
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Konzeptualisierungen, die er für die Analyse und Kritik des Totalitarismus und des Sozialismus ausgearbeitet hat: Er benutzte oft Metaphern und Paradoxa, Antinomien, Asymmetrien, die auf (scheinbar) widersinnige Schlagworte des sozialistischen Systems zielten, wie „nichtpolitische Politik“, „Macht von Ohnmächtigen“, „Hoffnung der Hoffnungslosen“, „Veränderung des Unveränderlichen“ u. ä. Man sollte solche Paradoxien nicht eindeutig bzw. nur metaphorisch verstehen. Claude Lévi-Strauss analysierte in einem anderen Kontext ähnliche Ausdrücke als „korrelative Gegensätze“, die „im doppelten Rhythmus gesteigerter Solidarität und verschärfter Antagonismus“ entstehen und die nach ihm auf Kompensierungsbedürfnisse von Schwächen und Beherrschten und ihre Hoffnungsbedürfnisse hinweisen¹⁵. Bei Havel wurden sie freilich stärker durch Erlebnisse der Antinomien, Paradoxen und fundamentaler Absurdität des Regimes in 70er und 80er Jahren geprägt. Vom Mainstream der Inlands- und Exil-Debatten 80er Jahre unterschied sich Václav Havel unter anderen durch seine distanzierende und implizit kritische Einstellung zur Mitteleuropaidee. Darin bestand sicher auch seine innere Distanz zu Themen und Überzeugungen der vorherigen Generation der ‚Erbauer‘ und dann der Reformer des Sozialismus, die in 60er Jahren besonders durch Schriftsteller wie Milan Kundera, Pavel Kohout, Ludvík Vaculík oder Philosoph Karel Kosík und weitere Intellektuelle und Publizisten repräsentiert wurden. Allgemein gesehen sind moderne Mitteleuropa-Diskussionen in Tschechien parallel und unabhängig von ihrer „westlichen“ Gestalt entstanden, die in 60er und 70er Jahren mit Büchern von Claudio Magris (Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur; 1966), William Johnston (The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848 – 1938; 1972), Stephen Toulmin und Allan Janick (Wittgenstein’s Vienna; 1973) oder mit Aufsätzen von Carl E. Schorske (Wien: Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, 1982) u. a. verbunden war. In diesen Texten wird Mitteleuropa als natürlich entstandene, unabhängig existierende kulturhistorische Einheit und selbstständige Quelle geistiger Produktivität angesehen. Das thematisierte als einer der ersten Mitteleuropa-Essayisten Anfang der 60er Jahre der tschechische Philosoph Karel Kosík. Er imaginierte ein Treffen von Kafkas Josef K. und Jaroslav Hašeks Josef Schwejk in der Prager Nerudova Ulice unterhalb der Burg und wollte diese Zusammenkunft als Symbol der Möglichkeiten eines gegenseitigen Verstehens tschechisch-deutsch-jüdischen Zusammenlebens in Mitteleuropa sehen¹⁶, ein Motiv, das dann in Tschechien in den 80er
Lévi-Strauss: Kannibalen, S. 32 u.33, Hervorhebung C.L-S. Vgl. Kosík: Rozhovor o próze und Kosík: Hašek a Kafka.
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Jahren wieder auftauchte. In Hašek a Kafka neboli groteskní svět (Hašek und Kafka oder eine groteske Welt) stellt Kosík 1963 folgende Fragen: Könnten sich diese beiden menschlichen Typen, Josef K. und Josef Schwejk, bei der Begegnung irgendwie erkennen? Könnten sie sich über ihr Schicksal verständigen? Was verbindet die beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Menschentypen? Kosíks positive Antwort auf diese Fragen geht auf seine Vorstellung eines allgemein Menschlichen zurück, das die beiden Romanhelden trotz all ihrer Verschiedenheit als Zeugen einer entfremdeten Welt verkörpern, jener Epoche der Krise der Menschlichkeit, die auch z. B. der Wiener Dichter und Publizist Karl Kraus anprangerte. Doch bei Karel Kosík begegnet man noch einer anderen Vorstellung, die sich mit der Zeit immer deutlicher zeigte: Mitteleuropa sei eine Region, die ihre eigene Bestimmung und eigenes Kulturerbe habe, das besonders eine vom Osten verschiedene Mentalität habe. Deswegen sollten die mitteleuropäischen Völker das Recht haben, den Sozialismus auf einem von der Sowjetunion verschiedenen Wege aufzubauen. Mit diesen Argumenten versuchte Kosík etwas später und besonders in zweiter Hälfte des Jahres 1968 den tschechischen Reformsozialismus zu verteidigen. Vor diesem Hintergrund kehrten Mitteleuropareflexionen nach der russischen Okkupation „68“ verstärkt zurück. Historische Individualität, kulturelle und soziale Einzigartigkeit mitteleuropäischer Nationen sollten damals als Argument gegenüber der falschen Universalität des russischen Bolschewismus dienen und ein mitteleuropäisches Recht auf einen eigenen Weg zum Sozialismus legitimieren, der von dem russischen wesentlich verschieden sein müsse. Eine zwar indirekte, doch wichtige Bedeutung für Weiterentwicklung tschechischer Diskussionen zu diesem Thema hatten einige Texte von Jan Patočka vom Ende der 1960er Jahre.¹⁷ Hier wurden manche ideologisch und politisch petrifizierten tschechischen Vorurteile, besonders über nationale Wiedergeburt im 19. Jahrhundert, problematisiert oder mindestens durch breitere Kontexte relativiert: Die Frage nach mitteleuropäischen Zusammensein wurde in neuen Kontexten gestellt. Im Zusammenhang damit wurde dann im Samisdat (Selbstverlag) besonders der tschechische Nationalismus diskutiert und daneben auch die Vertreibungsproblematik. Seit dem Anfang der 1980er Jahre wurde dann das tschechische Mitteleuropaverständnis im Zusammenhang mit Milan Kunderas Únos Západu (wörtlich: Die Entführung des Westens; deutsche Fassung: Die Tragödie Mitteleuropas) entwickelter starker These aktualisiert: Die echten europäischen Werte und Impulse,
Vgl. Patočka: Dilema v našem národním programu – Jungmann a Bolzano. – In: Patočka: Češi, S. 293 – 306 und Patočka: Náš národní program a dnešek. – Ebenda, S. 334– 339.
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die der Westen schon vergessen habe – sei es wegen seiner konsumorientierten Lebensweise, sei es wegen der Versuche, sich mit der Sowjetunion zu verständigen – hätten eigentlich nur in dem von Russen beherrschten Mitteleuropa und ihrer Kultur überlebt; der Westen solle das als Mahnung verstehen. Wie die breite internationale Diskussion war, zeigen Kunderas Thesen, die nicht nur als eine Warnung vor einem russifizieren Mitteleuropa gelesen wurden, sondern auch und vor allem als kultur-historisches Potential dieses Konzeptes. Neben sozusagen ‚liberal-emanzipatorischen‘ Mitteleuropavorstellungen, die Karel Kosík und etwas später auch Milan Kundera verkörperten, begegnete man freilich in Tschechien seit den 1970er Jahren immer öfter auch einem eher ‚traditionalistisch-konservativen‘ beziehungsweise einem ‚radikalen‘ Mitteleuropabegriff, mit dessen Hilfe man versuchte, sich von allen Sozialismusvorstellungen überhaupt zu befreien. In dieser Auffassung wurde die kulturelle und politische Selbständigkeit Mitteleuropas einseitig betont und damit auch die eigenen tschechischen, auf die Zeit vor dem ersten Weltkrieg zurückweisenden politischen Traditionen akzentuiert.¹⁸ Für Václav Havel und mit ihm eigentlich fast für die ganze Charta 77 waren ähnliche mitteleuropäische historische Reminiszenzen und Traditionen eher partikularisierender Natur, und die Schlüsse, die man daraus ziehen wollte, nahmen sie als illusionistisch wahr, nicht nur in Hinsicht auf das post-totalitäre Gefüge des ost-mitteleuropäischen politischen Raumes, sondern auch im Hinblick auf die allgemeine Situation des „kalten Krieges“. Nicht Mitteleuropa, sondern das ganze – und das hieß zugleich: – „vereinigte“ Europa sollte als Thema der Diskussion hervorgehoben werden. In einer freundschaftlichen Vorrede zum politischem Essay Snění o Evropě (Träumen von Europa) von Jiří Dienstbier – nach der „samtenen Revolution“ Außenminister der Tschechoslowakischen Republik – erinnert sich Václav Havel, wie sie oft beide (wenn es unter den herrschenden Umständen möglich war) während ihrer Gefangenschaft in Mírov, dem nicht nur in den 1980er Jahren berüchtigten Gefängnisse, über Möglichkeiten einer neuen politischen Gestaltung des Kontinents miteinander sprachen: Sie diskutierten über die Rolle der USA und der Sowjetunion, über die Verschiebung der Schwerpunkte der Wirtschaft und Politik in den pazifischen Raum, über Universalität der europäischen Zivilisation mit ihren Werten wie Freiheit, Aktivismus,
Als Vorläufer solcher konservativen Mitteleuropa-Auffassung im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts könnte man z. B. die Historiker Jaroslav Goll (1846 – 1929) und Josef Pekař (1870 – 1939) nennen. Als Tribüne eines solchen konservativen Mitteleuropakonzeptes wirkte die seit dem Ende der 1970er Jahre bis heute – ursprünglich im Selbstverlag – erscheinende Zeitschrift „Střední Evropa“ (Mitteleuropa).
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Zielstrebigkeit, Emanzipation u. ä. und „träumten“ dabei vor allem von einen „vereinigten Europa“¹⁹. Schon damals sahen sie und mit ihnen auch andere Dissidenten als Voraussetzung für politische Veränderungen in Richtung Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Identität, Emanzipation, Bürgerlichkeit usf. nicht die Betonung mitteleuropäischer Spezifika, was noch in 60en Jahren den Sozialismusreformer so wichtig schien, sondern die Werte und Ideen eines vereinigten Europa. Mindestens seit dem sog. „Prager Aufruf. Dokument der Charta77, Nr. 5, 1985“, das bei Gelegenheit eines Friedenskongresses im Amsterdam verfasst wurde, ist für sie in diesem Zusammenhang eine Lösung der sog. „deutschen Frage“, d. h. vor allem der deutschen Vereinigung wichtig geworden. „Wenn wir die deutsche Frage nicht demokratisch artikulieren werden, dann unterstützten wir nur jene, die sie begrenzt nationalistisch erfassen wollen“, kommentierte z. B. einer der Reformkommunisten und Mitglied der Charta, Jaroslav Šabata²⁰. Noch eindeutiger ist Václav Havel: „Die Deutschen haben das Recht, sich zu vereinigen und des vereinigtes Deutschland sollte zu einem Motor der Vereinigung des ganzen Europa werden“.²¹ Václav Havel verstand allerdings solche Themen weniger politisch, sondern mehr ethisch. Es gehörte zu seinem intellektuellen Naturell, dass er meistens nicht historisch-genetisch, sondern fast ausschließlich systematisch oder normativ argumentierte, was seinem Bestreben entsprach, seinen Aussagen eine allgemeinere Geltung zu verleihen. Ethik war für ihn stets ein allgemein gültiger Ausgangspunkt für die Analyse aller menschlichen Handlungen, er hielt sie für eine Grundlagenwissenschaft überhaupt, wenngleich er zugleich ein großes Einfühlungsvermögen für Kausalitäten, Begründungen und für innere Logik von Ereignissen hatte. Er machte auf den globalen Charakter der ökologischen Probleme aufmerksam und verstand die Kritik der Lage von Dissidenten in aller Welt als notwendige moral-politische Dimension jeder internationalen Politik. Er verwies auf die Verletzung der Menschenrechte in China, in Tibet, in Burma hin, unterstützte Salman Rushdie, war mit dem Dalai-Lama befreundet, und dennoch stimmte er, im Geiste seiner These vom „humanitären Interventionismus“, der Bombardierung Serbiens währen der Balkankrise zu. Ein vereinigtes Europa sah er als permanente und stets zu perfektionierende Aufgabe. Auf universellen Inhalt dieser Aufgabe, aber auch auf ihre einzelnen Aspekte pflegte er in seinen Reden immer wieder zurückzukommen. Europa war
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für ihn immer etwas mehr als ein nur am Wohlstand orientiertes Gefüge, nämlich der Anfang einer auch für die „Mitteleuropäer“ sich öffnenden Zukunft: Ich glaube an die Idee der europäischen Integration. Man darf sicher verschiedene Vorstellungen von ihrer Form, ihrem Tempo und ihrem Charakter haben, doch im Prinzip ist es der entscheidende Weg, stetige Konflikte aufgrund von Nationalinteressen zu verhindern, die aufgrund einer ethnisch legitimierten Staatskonzeption des 19. Jahrhunderts entstand und eine Quelle von unendlichen Konflikten und Kontroversen war. Das soll nicht bedeuten, die Nationen, Regionen und verschiedenen Gemeinwesen ihrer Identität zu berauben, sondern ihnen ermöglichen, sich an einen Tisch zu setzen.²²
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3 Europäische Soziologie und Ideengeschichte in Mitteleuropa
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Karl Mannheim: Sociological Reflections on Intellectuals and the Crisis of Liberalism in Central Europe Karl Mannheim is not only an exemplary Central European intellectual and hybrid border crosser; he also developed a variety of sociological concepts, such as world-view, generation and intelligentsia, which are particularly useful to describe the role of intellectuals and the crisis of liberalism in Central Europe in the first half of the 20th century – and maybe even the crisis Europe is facing today. Born into a Jewish-bourgeois family in Budapest in 1893, Mannheim studied in Hungary, Germany and France. In 1919, after the conservative counter-revolution in Hungary, Mannheim left for Germany, where he obtained his habilitation in Heidelberg in 1926 and became a salaried professor in Frankfurt in 1930. Only three years later, in 1933, he was forced to leave Nazi Germany for London, where he died prematurely in 1947 at the age of 53.¹ This short biography not only portrays Mannheim as a border crosser, but also problematizes the concept of Central Europe as an intellectual and cultural space.² Does Paris, where Mannheim listened to lectures of Bergson, belong to Central Europe? Or England, which according to Mannheim was relatively isolated from the continental intellectual discourse? For the purpose of this study, we can think of Central Europe, at least at the turn of the 20th century, as a multilingual cultural space in which German functioned in many contexts as a lingua franca (similar to English in the academia nowadays). Far from being homogeneous, Central Europe should rather be understood as a hybrid cultural space in which different languages and discourses were able to cross-fertilize each other. Geographically, Central Europe designates approximately the former lands of the German Empire and the Habsburg Monarchy. This use of the concept “Central Europe” should not make us ignorant of its intellectual ties and cultural exchange with the rest of the continent, France and Russia in particular. Not only had Central Europe fuzzy boundaries, it was also
For biographical information on Karl Mannheim see Woldring: Karl Mannheim, pp. 5 – 67 and Loader: The Intellectual Development of Karl Mannheim. Two rivaling conceptions of Central Europe at Mannheim’s time were Naumann: Mitteleuropa and Masaryk: Nová Evropa. For more recent reflections on the concept and its problems see Delanty: The Historical Regions of Europe and Wallerstein: The perpetual redrawing of cultural boundaries. https://doi.org/10.1515/9783110536003-008
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an integral part of a larger Europe. Like many German-speaking intellectuals of his time, Mannheim read Dostoevsky and had a good command of French, which he was teaching in addition to German in his student years in Budapest. Nevertheless, it was German as a widely shared language that facilitated the movement of ideas and people and thus constituted the intellectual and cultural space of Central Europe, otherwise characterized by hybridity and openness. It should be noted that the term “Central Europe” was seldom used by Mannheim and many of his contemporaries maybe because it was too closely associated with Friedrich Naumann’s Pan-Germanic and economistic conception of Mitteleuropa, which was published during World War I. In addressing the contemporary crisis of culture, intellectuals preferred to speak of “Europe” or “European civilization”. It was only toward the end of his life, in 1942, when Mannheim gave a talk in London titled “Cultural Reconstruction of Central Europe. Planning for the Eradication of the Fascist Mentality in Europe”.³ Here we can see that the concepts of Central Europe and Europe are almost used interchangeably. After World War II, in a Europe divided by the Iron Curtain, the notion of Central Europe gained popularity and new meanings, particularly in and through dissident discourses: Czech intellectuals, such as Milan Kundera, employed “Střední Evropa” as a nostalgic reference to the “good old times” before communism – and as a political tool highlighting the European heritage of Central European countries in the Soviet sphere of influence.⁴ Interestingly, for many intellectuals of Mannheim’s generation, and older generations as well, “Europe” and “European civilization” had a nostalgic reference too: It stood for “the world of yesterday” (Zweig), the Belle Époque that ended with World War I. In the last decades before the Great War, Europe was characterized by growing economic prosperity, a strong belief in progress and the near-absence of borders. A beautiful illustration for the latter can be found in the book The Rites of Passage by the French anthropologist Arnold van Gennep – himself a hybrid border crosser, being born in 1873 in Ludwigsburg, Germany, to a Dutch mother: Except in the few countries where a passport is still in use, a person in these days may pass freely from one civilized region to another. […] But not so long ago the passage from one country to another, from one province to another within each country, and, still earlier, even from one manorial domain to another was accompanied by various formalities.⁵
Woldring: Karl Mannheim, p. 60. Delanty: The Historical Regions of Europe, p. 15; Kundera: The Tragedy of Central Europe; see also Konrád: Is the Dream of Central Europe still alive? Van Gennep: The Rites of Passage, p. 15.
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In 1909, van Gennep could still take the right to travel for granted and discuss “passports” and formal rites of “territorial passage” as features of primitive societies, which have been overcome by the European civilization. Fifty years later, his English translator, writing at a very different time, felt compelled to add the following footnote: “It should be remembered that van Gennep wrote in the first decade of the century”. Only now, with the European Union and the Schengen agreement, Europe has again reached the stage of civilization, which van Gennep and also the young Mannheim once took for granted. In the following, we will discuss sociological aspects of Manheim’s biography and his work as a Central European intellectual. Through a reconstruction Mannheim’s life and his time, this essay contributes to the reconstruction of Central Europe as an intellectual space, which was not only created by the movement of ideas, but also formed by massive flows of migration across the continent. Furthermore, we will explore the usefulness of some of Mannheim’s sociological categories to analyze the role of intellectuals and the crisis of liberalism in Central Europe. Last but not least, this reconstruction and analysis can be used to reflect upon the crisis of Europe and liberalism at the beginning of the 21st century. What are the similarities, what are the differences between now and then? Can Mannheim’s sociology help us to understand the contemporary crisis?
1 Being a Central-European Intellectual ‒ Class and Culture Being an intellectual in the first half of the 20th century in Central Europe was to a considerable degree a matter of class ‒ notwithstanding Mannheim’s conception of a “free intelligentsia” (freischwebende Intelligenz), which supposedly recruits itself among all classes.⁶ Born in Budapest as the eldest child of a Hungarian-Jewish father, a textile merchant, and a culturally minded German-Jewish mother, Mannheim grew up in a relatively wealthy family of the “good Jewish bourgeoisie”, famously described by Stefan Zweig,⁷ who had like many other Central European intellectuals a similar upbringing. Zweig characterized in his memoirs the Jewish Bourgeoisie as quintessentially European (note: not Central European!). This, of course, made it easy for compatriots to question the patriotism and the loyalty of the European Jews which fueled anti-Semitic resentments in times of rampant nationalisms. Mannheim: Ideology and Utopia. Zweig: The World of Yesterday, especially pp. 10 – 32.
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The importance of the relative affluence of Mannheim’s family, and the families of other Central European intellectuals, of Jewish as well as non-Jewish backgrounds, should not be underestimated. Their contemporaries from less affluent backgrounds were often married wealthy, which was crucial to support them as unpaid lecturers hoping to get one of the few salaried professorships or as young artists waiting for their commercial breakthrough. To become an intellectual, academic or artist was not as “democratic” as Mannheim portrays it in his writings. On the one hand, class was clearly a determining factor in academic and artistic professions, as it is still today, at least in providing the material means and the financial security necessary to follow one’s own interests. On the other hand, anti-Semitism, often career-threatening for Jewish scholars and artists, was widespread in most spheres of society. It is an intriguing question, why the offspring of wealthy merchants and industrialists, often from Jewish families, decided to take up academic professions or to follow an artistic calling in the first place. The extraordinary contribution of scholars and artists of Jewish origin to the constitution of Central Europe as cultural space has to be accounted for additionaly. As Kundera has rightly pointed out, “no other part of the world has been so deeply marked by the influence of the Jewish genius”.⁸ The role of the “Jewish genius” in Central Europe calls for a sociological explanation, especially if one considers the fact that anti-Semitism was not at all uncommon in Central European intellectual circles. In his autobiography, Zweig tried to account for this phenomenon, appealing to an intellectual drive inherent to Jews: The real determination of the Jew is to rise to a higher cultural plane in the intellectual world. […] And that is why among Jews the impulse to wealth is exhausted in two, or at most three, generations within one family, and the mightiest dynasties find their sons unwilling to take over the banks, the factories, the established and secure businesses of their fathers. It is not chance that a Lord Rothschild became an ornithologist, a Warburg an art historian, a Cassirer a philosopher, a Sassoon a poet.⁹
From a sociological point of view, Zweig’s essentialist explanation is questionable and should primarily be understood as a riposte to the anti-Semitic stereotype of the materialist Jew, unable to create cultural values. Nevertheless, the generational twist observed by Zweig, the conversion of economic capital into cultural and symbolic capital, was not at all uncommon − and not just found among Jews. The majority of Marxist intellectuals came from bourgeois families,
Kundera: The Tragedy of Central Europe, p. 35. Zweig: The World of Yesterday, p. 20 f.
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which clearly shows in sharp contrast to the dogmas of Marxism that ideal interests are relatively independent from material class interests. Precisely the fact that young intellectuals came primarily from the bourgeoisie, trading a possible business future for an uncertain career in arts and sciences, might have encouraged them to embrace leftist ideas and the utopia of a socialist society, in which economic capital will lose its dominance eventually. Mannheim, who was leftist, but never subscribed to orthodox Marxism, clearly saw that interests are never fixed, but subject to shifting meanings and cultural change: “Under what circumstances do people who were formerly striving for economic gains, for raising their standard of life, invert their scale of values in a relatively short time, and now seem to rank the honour, prestige, and the glory of their country far higher than before?”¹⁰ Although Mannheim discusses this problem in the context of World War I and the subsequent rise of nationalism and fascism, summarizing the question as “why do people sometimes prefer guns and sometimes butter?”, we can recast the question to address our case: Why does bourgeois offspring sometimes prefer arts and sciences over business? To account for these life choices, a detailed analysis of biographies as well as social and cultural contexts is necessary. We cannot offer such an in-depth analysis here, but it seems clear that in the case of Mannheim in Budapest very similar to Zweig in Vienna the early exposure to a stimulating intellectual environment had been crucial. Among the material evidence of his early intellectual engagement is the translation and subsequent publication of two smaller writings of Hegel into Hungarian before he even entered the university. Entering the university in 1912, he started to participate in different intellectual circles – among them the Galileo Club founded by Karl Polanyi –and became close friends with already influential figures such as George Lukács. ¹¹ The fact that Polanyi and Lukács had also a Jewish-bourgeois background and we could easily add more names to the list not only confirms the class factor, but also highlights the importance of being Jewish. The intellectual biography of Mannheim is likely part of a broader Jewish story: Going against the anti-Semitic stereotypes of Jews as materialistic and uncultured, a younger generation of European Jews fought for their full recognition, in their respective societies,
Mannheim: Man and Society in the Age of Reconstruction, p. 120. Borrowing from Randall Collins’ sociology of intellectuals, which focusses on the social context and dynamics of intellectual change, we can say that Mannheim was able to position himself as an intellectual due to his early and successful participation in the Hungarian intellectual networks as well as in intellectual “interaction rituals”, for example discussions and presentations. See Collins: The Sociology of Philosophies.
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through honors in sciences and arts that their parents, despite their business success, were still deprived of. This story, however, can only take place in societies where culture, arts and science are valued highly, not only by the bourgeoisie, but also in the wider population. Zweig famously described how the “fanaticism for art, and for the art of the theatre in particular, touched all classes in Vienna”.¹² Zweig’s Vienna might have been exceptional regarding the intensity of its cultural and intellectual life, but it was not an exception with regard to the cultural ideals that were widely shared across Central Europe at the turn of the 20th century. We can also think of the trajectory of an intellectual or artist, following Arthur Schnitzler, as a “road to the open”,¹³ a process of liberation from the constraints of bourgeois culture (and often: from the constraints of the Jewish community) with more than a little help from the economic and cultural capital of the bourgeoisie. Endowed with money, which Erich Maria Remarque rightly called “minted freedom” (“geprägte Freiheit”), the offspring of the Central European bourgeoisie was able to pursue cultural and intellectual activities, which were widely regarded as the highest actualization of freedom – in accordance with Hegel, the bourgeois philosopher par excellence. This quintessential bourgeois Bildungsroman, from inherited riches to a well-rounded cultured personality, was already a well-established cultural pattern, most influentially probably in Goethe’s Wilhelm Meisters Lehrjahre, where the profession of an actor is portrayed as liberation from the social conventions of bourgeois society and as approximation to the life-style of the aristocracy.
2 Mannheim’s Generation and the Crisis of European Culture The wealth of his family allowed Mannheim to continue his studies, from 1913 on, in Germany, in particular Berlin, where he was exposed to the teachings of Georg Simmel. In spring 1914, he visited a friend in Paris and used this opportunity to attended lectures of Henri Bergson, just a few months before the First World War broke out. The World War had not only a tremendous impact on the economic, political and cultural space of Central Europe, but became also a defining event for Mannheim’s generation, which still knew Zweig’s “world of yesterday”. Zweig: The World of Yesterday, p. 24. Schnitzler: Der Weg ins Freie.
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If class designates the position of a group in a social space, generation refers to their temporal location. Both concepts make only sense in similar cultural and historical contexts: Being bourgeois meant something different in at the end of the 19th century than at the beginning of the 21st century and a cohort that spend their formative period during the First World War in secluded rural villages were not necessarily part of the same generation as urban intellectuals. According to Mannheim, generations are shaped by shared or at least similar experiences during their formative years and this presupposes a certain the degree of cultural proximity and social interaction.¹⁴ It follows that the talk of a Central European inter-war generation of intellectuals presupposes Central Europe as a shared cultural and intellectual space. In this respect, Mannheim’s biography is not exceptional. Children of the Central European bourgeoisie were encouraged to travel and study abroad. This, among other things, accelerated the cultural proliferation of ideas, authors and theories that could be discussed all over Europe. Mannheim’s generation, who still grew up in “the world of yesterday”, experienced World War I and the inter-war years as a time of crisis. Although post-war Europe was divided by nationalisms and borders, the war did not (yet) mark the end of Central Europe as a cultural space. To the contrary: The political upheavals following the war, for example the October revolution and the breaking apart of the Habsburg Empire, set people and ideas into motion. The intellectual encounters and academic collaborations between mobile (and more sedentary) intellectuals facilitated the immense creativity of the inter-war period. A good example is the Prague Linguistic Circle, founded by Central European scholars and Russian emigres such as Roman Jakobson and Nikolai Trubetzkoy, where Russian formalism, Saussure’s semiology and other intellectual strands such as phenomenology engaged in a productive dialogue. With the outbreak of the war, Mannheim returned to Budapest, where he wrote his dissertation on “The Structural Analysis of Epistemology”. After the end of the war, he experienced the turbulent period of political unrest that shook Hungary after the Habsburg Empire fall apart. In a few months, the moderate government that proclaimed national independence was swept away by the revolutionary movement of the communist Bela Kun, which again was dethroned by the conservative counter-revolutionary Hortý, who established an openly antiSemitic authoritarian regime. Under Hortý, Hungary established a numerus clausus for Hungarian students, which forced many Hungarian Jews to study in Cze-
Mannheim: The Problem of Generations – Mannheim: Essays on the Sociology of Knowledge, pp. 276 – 322.
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choslovakia, Austria or Germany. Mannheim had been named by the communist government as a university lecturer, probably due to his affiliation with Lukász. With the conservative counter-revolution, however, it became unlikely that he would be able to continue to work at the university in Budapest. In 1919, Mannheim fled, along with many intellectuals, to Vienna, where he met (in a refugee camp!) his future wife Julia Lang, who also came from a Jewish-Hungarian bourgeoisie family. Both continued towards Germany and finally settled in Heidelberg in 1921. Already before the outbreak of World War I, Alfred Weber, professor in Heidelberg and younger brother of Max Weber, called for a cultural sociology juxtaposing culture and civilization.¹⁵ The concept of “culture” referred to distinct world-views and ways of life, while “civilization” was perceived as linear process and progress. The civilizational catastrophe of the Great War, upending the naïve belief in “progress”, which Zweig described as the “religion” of the generation of his parents,¹⁶ contributed to a growing intellectual attractivity of Weber’s historical and pluralistic account of culture among the younger generation of scholars – including Mannheim, who became Weber’s protégé in Heidelberg. The crisis of “European civilization” was at the same time a crisis of liberalism, the political world-view dominant among the Central European bourgeoisie, whose decline gave rise to competing political ideologies all over Europe. Although Mannheim was a fervent critic of the laissez-faire liberalism of his time, he remained a liberal and a reformist throughout his life, never giving up the hope for a cultural restoration and reconstruction of society. It should be noted, however, that the generation of Mannheim experienced the crisis of Europe not in a purely negative sense. The crisis did not only lead to extreme ideological polarizations, but also harbored a utopian potential for reform and revolution.
3 Ideologies and Intellectuals Already in Hungary, Mannheim was contemplating the contemporary crisis of culture from an intellectual perspective. After his arrival in Germany, he developed a more political concern which finds its clearest expression in Ideology and Utopia, published originally in 1929, in which Mannheim tries to understand the ideological polarization of the post-war period that manifested itself in opposing political world-views. These diverging world-views do not just reflect
Loader: Alfred Weber. Zweig: Die Welt von Gestern, p. 14.
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the (economic) interests of specific classes, but go deeper, they have an existential basis. In Mannheim’s time, the concept of “ideology” was discovered as an intellectual weapon to either disqualify the opponent’s arguments as being based on interest, what Mannheim calls “particular conception of ideology”, or to aim for the total destruction of one’s intellectual enemy – as “total conception of ideology”.¹⁷ For Mannheim, the total concept of ideology was sociologically more interesting, because it promised insights into the social conditions of political knowledge. By universalizing the concept of total ideology, Mannheim effectively aimed to disarm the intellectual debates of his time. Being no longer the ultimate weapon of intellectual annihilation, ideology critique is effectively neutralized and discussants have to find a common ground. Mannheim argues that the reflexivity of reasoning allows participants in a discourse to reflect upon the social roots of their own beliefs and detach themselves from them to a certain extent. According to Mannheim, the realization of the social grounds of one’s arguments does not lead to relativism. Relativism presupposes the conception of a socially unbound and therefore absolute truth – which is impossible for Mannheim.¹⁸ Rather, the different perspectives have to be regarded as complementary, being part of a higher social totality. Mannheim’s analysis thus exhibits the Central European spirit that György Konrád described as “an aesthetic sensibility that allows for complexity and multilingualism, a strategy that rests on understanding even oneʼs deadly enemy,” a spirit that “consist of accepting plurality as a value in and of itself.”¹⁹ At the end of the 1920s, Mannheim considered the intellectual as the crucial figure for overcoming Europe’s cultural crisis. Mannheim’s “free intelligentsia” was able to represent the universal interest of society, because its members were recruited supposedly from all social classes, able to reflexively relate to the rootedness of their own beliefs and capable of engaging in a rational debate with each other. This conception of an ideal intellectual discourse probably reflects some of Mannheim’s own personal experiences in different intellectual circles, but it did not match the realities of his time, not only regarding the class background of most intellectuals, but also considering the acrimoniousness of many contemporary intellectual disputes. Mannheim’s sociological argument on ideology and intellectuals received a lot of criticism from all sides of the political spectrum: Liberals accused him of being a Marxist giving up the objectiv-
Mannheim: Ideology and Utopia, pp. 57 ff. Ibid., p. 70 f. Following Le Rider: Mitteleuropa as a lieu de mémoire, p. 40; see also Konrád: “Is the Dream of Central Europe still alive?”
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ity of science, whereas Marxists accused him of being a relativist forsaking the historical mission of the proletariat.²⁰ Being part of the refugee waves after World War I, the concern for culture and integration affected Mannheim also in private matters. Throughout his life, Mannheim understood himself as a Hungarian, European and citizen of the world. Nevertheless, in 1926, he had to apply for German citizenship, because the senate of the University of Heidelberg regarded it as prerequisite for the position of an unpaid lecturer (Privatdozent). According to Henk Woldring, Mannheim’s naturalization process did not go smoothly: In response to the post-World War I flood of refugees from Eastern Europe to the West, the Regional Government of Baden followed a somewhat different naturalization process from Württemberg. […] Württemberg maintained that anyone living in Germany from 1920 could not be ready for citizenship. Taking in foreigners on a large scale would mean that “a certain kind of people with a strange culture” would from [sic] “foreign sub-cultures” among the German people and these subcultures would increasingly threaten the German way of life. Baden was of the opinion that, although Mannheim was a Jew, he came from Budapest, was a loyal subject of the Austrian-Hungarian crown, and thus inherited predominantly German cultural ethos.²¹
At the end, Mannheim got the German citizenship – not just because of his German mother, but also due to a social imaginary of a Central Europe under German cultural hegemony, which even found its supporters among bureaucrats. After the success of Ideologie und Utopie, Mannheim was able to become professor at the University of Frankfurt, unfortunately not for long. Once the NSDAP came into power, Mannheim, now a German Jew, quickly realized that his academic future in Germany was compromised and that his citizenship would not be of much use either. After his emigration to England, Mannheim seemed to have abandoned the hope that intellectuals could overcome the contemporary cultural crisis and turned towards matters of democratization and education. He practiced what we nowadays call public sociology, publishing popular essays and giving radio talks for the broader public. Nevertheless, his main concern remained the same, the reconstruction of society in times of a crisis of liberalism. Mannheim’s idea of a sociology of knowledge, which was broadly discussed in the Germanspeaking world, was most likely the inspiration for the seminal work of the Polish-Jewish physician and biologist Ludwig Fleck, Die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache in 1935. This is a good example for the traveling of ideas in Central Europe, although there is no direct evidence: Despite using Mannheim’s concepts of “thought style” (“Denkstil”) and “thought collective” (“Denkkollektiv”), Fleck never quotes him, which was not uncommon at that time; see Fleck: Genesis and Development of a Scientific Fact. Woldring: Karl Mannheim, p. 28.
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4 “Generation Erasmus” or Europe in the 21st Century Reading Stefan Zweig’s The World of Yesterday or Karl Mannheim’s Ideology and Utopia today, it is difficult not to think of the present situation in Europe and the world. The fall of the iron curtain brought neither the “end of history”, celebrated by liberals like Francis Fukuyama, nor the end of ideology. Again, liberalism faces a crisis. We not only witness growing ideological polarizations, within Europe as well as outside of Europe, but also the rise of self-proclaimed “illiberal democracies” and authoritarian regimes, for example in Mannheim’s native Hungary, where the government of Viktor Orbàn rehabilitated the Hortý regime, the reason for Mannheim’s emigration. On April 25, 1933, days before his second emigration, this time from Nazi Germany, Mannheim wrote to his old mentor, Oscar Jászi: [I]t is a pity that everything is in shambles here; a progressive generation that could have channeled history within the German nation in a different direction was successfully brought together. But it was too late. This is the second time I am living through something like this, but I always have the strength to start anew, unbroken.²²
Something similar could be said about contemporary Europe, in which the socalled “generation Erasmus” enjoys as the first in a long time what was normal for Mannheim’s generation: To move across Europe and study in places like Budapest, Paris, Berlin and Heidelberg. For this new generation, Europe is not only an intellectual and cultural space, but also a place to work and fall in love. We know that the Brexit referendum has been decided by the older generation, partially due to the relative political inactivity of the younger generation. Considering just the demographic change, this was the last time that such a referendum could have succeeded ‒ but it did, and it did with probably irreversible consequences. It is too soon to tell, if the generational change will come to late also for the rest of Europe, which is not only threatened by the centrifugal forces of nationalism, but also by populism and authoritarianism. And there is not much to expect from intellectuals, which Mannheim once hoped would be the agents of progressive change. Not only is their influence waning, in times of post-factual politics even the trust into experts and scientifically established facts is dwindling. In times like this, a cultural-sociological analysis of political discourses might not offer a solution, but it is the first step towards understanding the problem. Kettler, Meja, Nico: Introduction to: Mannheim: Conservatism, pp. 1– 26, here p. 22.
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Crushed by History: Czechoslovak Sociologist Heinz Otto Ziegler Prague and the Bohemian lands in the first half of the twentieth century offer a good illustration of how sharp national, cultural, social and economic divisions produce very complex conditions for identity formation. Hybridity is a useful concept for analysing the mixed nature of and contradictions inherent within many identity projects which develop under such conditions. Hybrid identity can certainly give rise to subversion and resistance against the dominant social structure and culture. But it is also true, as Scott Spector has argued, that “[w]hile the hybrid is introduced as something potentially subversive, it is perhaps only so within the terms […] of the system it is supposed to resist”.¹ To further complicate this line of thought, let us consider the particular case when two or more structures of domination clash and become enmeshed in one another. The hybrid actor caught in between them is at risk of becoming even more conflicted in relation to the question of loyalty and resistance. Resistance against one power structure can become acceptance of the other power structure and vice versa. But since the hybrid individual is alien to both power structures, s/he is all too often on the losing side. There are many tragic – but also fascinating – biographies fitting this pattern. I have chosen (as one example here) a little-known German-Jewish sociologist and political scientist from Prague, Heinz Otto Ziegler. Ziegler had a sharp mind and, despite adverse circumstances, left behind an important body of work. Yet, his thinking was profoundly marked by what can be called a pre-reflexive allegiance to the dominant powers of the old regime that collapsed in 1918: in the first place, to the German-speaking aristocracy whose ideals and lifestyle the prosperous bourgeois milieu to which Ziegler belonged eagerly imitated. The social position of his family in between the aspiring bourgeoisie and the upper class as well as between the newly dominant Czechs and the Czechoslovak Germans can explain both his neoconservative political leanings and his insen-
The author’s research for this chapter was supported by a grant from the Czech Science Foundation, Grant No. 13 – 15802S. He is grateful to Christian Fleck and Christian Dayé for their valuable comments. Materials from the archives of the Rockefeller Foundation are quoted with the permission of the Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow, New York. Spector: Mittel-Europa?, p. 38. https://doi.org/10.1515/9783110536003-009
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sitivity to the dangers inherent to the German nationalist thought of the 1930s. He wasn’t the most typical example of a “mediator”² between cultures, a role often ascribed to Jews in Bohemia. But, if nothing else, he did play a minor mediating role in the development of Czech sociology. Ziegler’s complex identity is mirrored in the widely disparate evaluations of his person and work that can be found in the literature. Some commentators write him off as a marginal neoconservative publicist or even as Carl Schmitt’s “fellow reactionary”, but then wonder how this same person could have sacrificed his life in the war against Hitler’s Germany.³ Others view him as a “young and talented sociologist” who wrote excellent books on modern nationalism and the authoritarian state, but they tend to downplay the neoconservative tone of his work.⁴ Another, more material source of uncertainty about Ziegler is that there exists no complete biography of this sociologist. His biographical details are scattered among various dictionary entries and editorial notes, which are not wholly reliable and put together only an incomplete picture.⁵ The key source of information about Ziegler’s life is the biography of English novelist Mary Wesley.⁶,⁷ I have attempted in this chapter to compile a more complete academic biography of Heinz Otto Ziegler than the previous literature has done drawing both on this literature and on archival records.
1 Family and university education, 1903 – 1925 Ziegler was born Heinrich Otto Ziegler in Prague on 11 March 1903 into a well-todo Jewish household. His mother, Alice Ziegler, née Bondy (*1880), came from a family of wealthy entrepreneurs well situated in the German-Jewish bourgeois community of the Bohemian capital.⁸ Notable figures among close relatives in-
Ibid., p. 34. Scheuerman: Carl Schmitt: the End of Law, pp. 101, 287, endn. 38. Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, p. 207. Lieber: Ziegler, p. 511; Nešpor: Ziegler, pp. 456 – 457. Marnham: Wild Mary. Patrick Marnham’s book is the only publication that provides details on Ziegler’s family background, his life in British exile, and his death in the RAF. Although not academic, it is based on archive research and interviews. Ziegler’s principal role in the biography is that of one of Wesley’s lovers and the likely biological father of her second son, Toby Eady. Another valuable source of information on Ziegler is Breuer’s Carl Schmitt im Kontext, but only as he figures in relation to Carl Schmitt. See http://www.holocaust.cz/en/database-of-victims/victim/136146-alice-zieglerova/ (21 May 2017).
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cluded her mother Charlotte’s second husband, the liberal German politician, writer, journalist and theatre director Heinrich Teweles, or Alice’s half-sister Ottilie Bondy, who was married to the industrialist and philanthropist Max von Kahler. Heinz’s father, JUDr. Ernst (Arnošt) Ziegler (*1871), came from Polička, a small town on the Bohemian-Moravian border.⁹ While it can be assumed that his family background was much humbler than that of his wife, Ernst Ziegler made a successful career in the banking industry. Until 1918, he was the director of the Prague branch of Österreichische Credit-Anstalt, the largest bank in Austria-Hungary. After 1918, when the Czechoslovak branches of Credit-Anstalt were taken over by Böhmische Escompte-Bank,¹⁰ Ernst Ziegler became one of the directors of this prominent bank (second largest in Czechoslovakia), a position he retained until the mid-1930s. Both of Heinz’s parents were Lutheran. Heinz was the eldest of the three Ziegler sons: Hans, who became a banker like his father, was born in 1905 and Paul, a banker and later a Benedictine monk in Quarr Abbey on the Isle of Wight, in 1908.¹¹ Heinz attended the German high school in Prague’s New Town (Grabengymnasium), from which he graduated in 1921. One of his classmates was Hermann Grab (1903 – 1949), who hailed from the family of a wealthy Jewish industrialist knighted by the Austrian emperor. In 1935, the lawyer, musician, and writer Grab published an autobiographic novel about his childhood, The Town Park, in which Heinz Ziegler is depicted in the character of the precocious, intelligent, and sensual Felix Bruchhagen.¹² The novel’s action is centred around the eponymous Town Park (renamed Vrchlický Park in 1913) in front of the Main Train Station in Prague, near to which the Zieglers had their apartment. By the early 1920s, Ernst Ziegler had bought a Baroque estate in the village of Lojovice to the south of the capital. In 1921, Ziegler entered the University of Frankfurt am Main, which had just been established in 1914, to study political economy and sociology with Franz Oppenheimer (1864– 1943), the first person to hold a chair in sociology in Germany.¹³ Either earlier in Prague or now in Frankfurt he became acquainted with Hermann Grab’s close friend Theodor W. Adorno and, as the occasional mentions of his name in the correspondence indicate, he was also known to Siegfried Kraca-
See http://www.holocaust.cz/en/database-of-victims/victim/136150-arnost-ziegler/ (21 May 2017). Lacina: Die multinationale Böhmische Escompte-Bank und Credit-Anstalt. Marnham: Wild Mary, pp. 67, 250. Grab: Der Stadtpark; see the note of the editors in Adorno und Horkheimer: Briefwechsel, Band II: 1938 – 1944, p. 392. Lichtblau und Taube: Franz Oppenheimer, pp. 57– 61, 64.
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uer, Max Horkheimer, Paul Tillich and other people in Adorno’s orbit. Ziegler must have had extensive connections with social and cultural elites across the German-speaking world. Among others, he maintained ties, possibly through the von Kahlers, with the conservative circles around Stefan George in Munich.¹⁴ According to his CV,¹⁵ Ziegler stayed in Frankfurt for only one year and then went to Berlin, where he expanded the scope of his studies to include also philosophy and law. After another year he moved again, this time to Heidelberg, where he studied with Alfred Weber (1868 – 1958) and, among others, professor of constitutional law Richard Thoma (1874– 1957). Ziegler graduated from Heidelberg University in 1925 with a doctoral degree. His doctoral thesis, titled “The Importance of the Current Election Procedure for the Political Structure of Germany”, which he wrote under the supervision of Alfred Weber, was published in 1926 as an article in Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. ¹⁶
2 The Frankfurt and Berlin years, 1926 – 1933 After completing his doctorate in Heidelberg, Ziegler spent the autumn and winter of 1925 travelling, mostly in France, and then in 1926 returned to Frankfurt to begin his work as an assistant to Franz Oppenheimer in the sociological seminar of the Faculty of Economic and Social Sciences. Among younger lecturers, Gottfried Salomon (later Salomon-Delatour, 1892– 1964) was the person closest to Ziegler; he also seems to have had the most influence on him.¹⁷ In his first two years in Frankfurt Ziegler taught preparatory courses with Oppenheimer and Salomon and worked on his Habilitationschrift titled “Nation and Democracy”. This thesis, reviewed by Oppenheimer, was accepted and in the winter semester of 1928 Ziegler became a Privatdozent of sociology. The course catalogues of Frankfurt University list Ziegler’s courses in the sociological seminar for the first time in the winter semester of 1928 and then every semester until the summer semester of 1933 (by which time he had fled Germany for Prague).¹⁸ It is on the
Marnham: Wild Mary, p. 72. “Curriculum vitae”, Heinrich Otto Ziegler, unsigned, undated, probably from 1932, 2 pgs. (folder Heinrich Otto Ziegler 1932– 1938, collection Faculty of Law of the German University in Prague, Archive of Charles University, Prague). Ziegler: Die Bedeutung des geltenden Wahlverfahrens. Henning: “Der übernationale Gedanke der geistigen Einheit”, pp. 64– 65, 71; Wagner: Gottfried Salomon-Delatour, pp. 72, 77. See http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/solrsearch/index/search/searchtype/collection/id/ 17036/start/100/rows/100/sortfield/year/sortorder/desc (21 May 2017).
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safer side, and consistent with the information Ziegler himself provided in various documents, to conclude that he worked as a lecturer in Frankfurt from 1928 until 1932, with interruptions in the winter semester of 1931 and the winter semester of 1932 when he was granted a leave of absence to do research in Berlin. Among the subjects of the courses he taught were theories of the state and society, the sociology of revolutions, the state and the economy, and, even more indicative of his research interests at that time, the concept of ideology, the nation and nationality problems, and types of political leadership. Ziegler’s first important publication from his Frankfurt period was another article in the Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. If his first article in this journal revealed the influence of his teacher Alfred Weber, but it also offered strong evidence of Ziegler’s capacity for independent thinking, the second article did the same with respect to his academic superiors in Frankfurt – namely, Gottfried Salomon and, less directly, Franz Oppenheimer. Salomon published in the journal Jahrbuch für Soziologie, of which he was editor, an article in which he attempted to interpret Karl Marx’s concept of ideology in the terms of an empiricist-sensualist theory of knowledge.¹⁹ Ziegler’s article, which appeared the following year, was framed as a further development of Salomon’s ideas while fiercely attacking Karl Mannheim, Wilhelm Dilthey, Ernst Troeltsch, and other representatives of the “historical sociology of culture” for their idealism and blind faith in history (Geschichtsgläubigkeit). The approach that Ziegler advanced in opposition to Mannheim’s was a “naturalist, generalising sociology” which claimed above all Vilfredo Pareto and, among German authors, Friedrich Nietzsche and Max Scheler, as its representatives.²⁰ Ziegler’s taking sides with Salomon against Mannheim in the dispute about ideology may have had negative personal and professional consequences for him when, in 1929, it was Mannheim, and not Salomon, who succeeded Oppenheimer as the new professor of sociology in Frankfurt. Like Salomon, who grew increasingly alienated from the sociological seminar and began to move the bulk of his activities elsewhere after Mannheim assumed the chair in Frankfurt,²¹ Ziegler also seems in his academic and professional plans to have been increasingly drawn to other centres of gravity. No doubt this change had much to do with the evolution of his political thought, which he presented in the most elaborated form in the published version of his habilitation thesis.
Salomon: Historischer Materialismus und Ideologienlehre. Ziegler: Ideologienlehre, pp. 696 – 697. Henning: Der übernationale Gedanke der geistigen Einheit, pp. 80 – 82; Wagner: Gottfried Salomon-Delatour, pp. 75 – 77.
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That book, The Modern Nation,²² is Ziegler’s most accomplished work. It was met with some critical acclaim in the first years after its publication, and then, for many years, it almost disappeared. But in the past two decades it has enjoyed a renewed presence in German-language literature on political theory and nationalism.²³ One part of its lasting appeal is that, as Erich Voegelin observed in his review,²⁴ it was the first study to approach the problem of the nation from a Weberian perspective. Central to Ziegler’s analysis was the concept of legitimacy, understood in the sociological and not the philosophical or legal sense as the actual ‘social obligation’ (soziale Verbindlichkeit) of certain ideas, rules, or institutional arrangements, in contrast to their normative, legal, or ethical validity.²⁵ Framing the study of the nation in terms of legitimacy as an empirical category allowed Ziegler to propose an original research problem: why is it that the nation, of all historically existing forms of association (sozialer Zusammenschluss), has become the one whose social binding force is stronger than that of any other form of association?²⁶ “The history of the modern nation can thus be grasped as the formation of exactly this primacy of social legitimacy.”²⁷ The book, as well as Ziegler’s articles from the same period,²⁸ gave evidence of his deep disappointment with the post-Versailles political arrangements in Central Europe and, in particular, in Czechoslovakia. Ziegler’s concept of Central Europe referred to the former Austria-Hungary, to Germany and possibly also to some other territories situated between Western Europe (most notably France and the United Kingdom) and Eastern Europe (Russia).²⁹ The core of his Mitteleuropa was, unmistakably, the former Habsburg Empire. The decomposition of Austria-Hungary into a number of small states in 1918 was, according to Ziegler, a historical fact with the gravest negative implications. He saw Central Europe as a territory characterized by an extremely complex mixture of peoples and ethnic groups, by “difficult conflict-laden ethnographic con-
Ziegler: Die moderne Nation. Examples of recent positive reception of this book in Germany are Niethammer: Kollektive Identität, pp. 107– 112; Anter: Die Macht der Ordnung; and Volk: Die Ordnung der Freiheit. Volk goes so far as to claim that Ziegler had exerted important influence on Hannah Arendt’s thinking about nationalism and democracy (pp. 71– 72, 157– 158). Voegelin: Ziegler: Die moderne Nation, p. 507. Ziegler: Die moderne Nation, pp. 13 – 17, 58 – 60. Ibid., pp. 54, 58 – 59. Ibid., p. 69. Ziegler: Zur Souveränität der Nation; Ziegler: Das neue Gesicht der Nationalitätenfrage. Ziegler: Die moderne Nation, pp. V, 2– 8, 17, 132– 134, 206, 288 – 289, 304– 305; Ziegler: Das neue Gesicht der Nationalitätenfrage, pp. 190 – 192, 198, 208.
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ditions”,³⁰ which raised with utmost urgency the political and legal problem of fair treatment of national minorities. Ziegler’s most original argument concerning Central Europe was that the Central European societies represented a different type of society from Western Europe and, consequently, had to be ruled by a different type of political regime. He distinguished between three different zones in Europe characterized by distinct evolutionary trajectories of parliamentary democracy that were determined by prevailing socioeconomic conditions. The first zone consisted of the countries that had avoided the process of democratic nationalization: United Kingdom, the Netherlands and the Nordic states; the most typical country in the second zone was France, the purest embodiment of the principle of national democracy; the third zone included most other European states with the exclusion of the special case of Switzerland. This third zone was roughly equivalent to “an enlarged Central Europe”, which was, again, centred around the successor states of Austria-Hungary.³¹ The purpose of this typology was to provide support to Ziegler’s claim that the “new nations” which populated Central Europe (Germans in the first place) were called to establish a new form of government adequate to their specific political and socioeconomic situation. Because of different conditions on the ground, it was pointless for this form of government to imitate the British political system. But the new regime also had to be “postdemocratic” in the sense that it could not copy the French model of a unitary national democratic state.³² Ziegler saw vague contours of a new political order arising in Italian Fascism, but his own blueprint for a “postdemocratic” political reorganization of Central Europe, which became the subject of his next book, was aimed in a somewhat different direction. Another important publication that falls within Ziegler’s Frankfurt period but is more closely related in its substance to his time in Berlin is a short book entitled Authoritarian or Total State. ³³ In this work, Ziegler further elaborated his critical thoughts on the modern nation, which he now applied to the question of the most appropriate political regime for Germany and other European countries. The main author of reference for Ziegler became Carl Schmitt, whose work he must have become acquainted with in the late 1920s and who was already one of the authors he cited most in his previous book. According to Schmitt’s diary, Ziegler and Schmitt met in Berlin several times between October 1931 and March 1933. Schmitt’s notes reveal his initial enthusiasm for
Ibid., p. 208. Ziegler: Die moderne Nation, pp. 288 – 289. Ibid., pp. 294– 295. Ziegler: Autoritärer oder totaler Staat.
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this brilliant visitor and his writings, but eventually anti-Semitic prejudice prevailed.³⁴ In Authoritarian or Total State, Ziegler argued, against Schmitt,³⁵ that the total mobilisation of society in a total state, far from being the hoped-for cure for the ills of democracy, was the actual fulfilment of democracy in its only presently viable form, that is, as “national democracy”. As an alternative to national democracy and the total state, Ziegler proposed an authoritarian state ruled by an elite “similar to the aristocracy” and erected on the key principles of “personality, independence, authority and personal responsibility of the government”.³⁶ The presence of Schmitt may have been the most important intellectual enticement for Ziegler to spend time in Berlin, but there were certainly others as well. In his writings from this period, all of which addressed the subject of the nation and nationality, Ziegler approvingly referred to the work of the co-director of the Institute for Border and Foreign Studies (Institut für Grenz- und Auslandsstudien) in Berlin, Max Hildebert Boehm. The obvious point of common interest between this völkisch theorist and Ziegler was the political status of the Sudeten Germans in Czechoslovakia with whom Ziegler largely identified. Stefan Breuer has conjectured that in the early 1930s Ziegler was thinking of pursuing a career at Boehm’s institute or at the more respectable Deutsche Hochschule für Politik where Boehm taught “ethnopolitics”.³⁷ Of these two options, the Hochschule, which until 1933 retained a significant number of liberal and Jewish faculty members, seems the more likely one. Ziegler’s booklet on the authoritarian state has certainly done more than any other work to cement his reputation as a neoconservative and anti-democratic thinker.³⁸ But the book is no outlier in Ziegler’s output. Many of its ideas can be found in his other academic publications, including Die moderne Nation, and are expressed even more pointedly in the less academic articles he published in the conservative journals Europäische Revue and Der Ring. ³⁹ It is tempting to defend him as a liberal deeply disappointed by the post-1918 developments in Europe and his diatribes against “national democracy” as destroying individual
Schmitt: Tagebücher 1930 – 1934, passim; see Breuer: Carl Schmitt im Kontext, p. 161. For the position of this criticism in relation to the development of Schmitt’s thought, see Breuer: Carl Schmitt im Kontext, pp. 155 – 165. Ziegler: Autoritärer oder totaler Staat, pp. 29, 39. Breuer: Carl Schmitt im Kontext, p. 156, fn. 83. So is Ziegler’s exposition of the dilemma between authoritarian and total state given the dubious pride of place as an intermediary stadium between the Weimar and the Nazi state in Geschichtliche Grundbegriffe – Boldt et al.: Staat und Souveränität, pp. 93 – 94. Ziegler: Nation und Politik; Ziegler: Die westeuropäische Nationidee.
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liberties do indeed carry a certain liberal undertone.⁴⁰ But his prevailing orientation towards neoconservative themes is unmistakable. As the victory of National Socialism in Germany was approaching, Ziegler, the proponent of an authoritarian overhaul of the political order, was in an increasingly hopeless situation, driven as he was by his political allegiances closer and closer to those who on racial grounds would soon be denying his very right to live. Probably in March 1933⁴¹ he left Germany and returned to his home town.
3 Refuge in Prague, 1933 – 1938 A snapshot of the still well protected life of the Ziegler family in Prague at the time when the Nazis came to power in Germany was provided by the British travel writer Patrick Leigh Fermor, who had befriended Hans Ziegler: [Prague] was a bewildering and captivating town. The charm and the kindness of Hans’s parents and his brothers were a marvellous enhancement of it, for an articulate enthusiasm for life stamped them all […] Heinz, the eldest brother, a professor of political theory at the University, looked more like a poet or a musician than a don and the ideas he showered about him were stamped with inspiration.⁴²
Fermor also recollects the presence of “Heinz’s dark and beautiful wife,” Marie Blanche von Gans (1905 – 1988), the daughter of a German aristocrat, Ellinka Freiin von Fabrice, and the automobile and aviation pioneer Paul von Gans. She had been married twice before and had a daughter from one of these previous marriages. The couple married in March 1933, remained childless, and split in 1938 when Heinz Ziegler fled to England and von Gans to Paris. She asked for a divorce before leaving for South America where she married again in 1940. Back in Czechoslovakia, Ziegler attempted to secure a continuation of his academic career with an appointment at the German University in Prague. Sociology was almost non-existent at this university, but some lectures or seminars on sociology of law and political sociology could be held at the Faculty of Law and State Sciences. Ziegler had submitted his habilitation application to this
Friedrich August von Hayek noted that Ziegler was the first author to state clearly that the opposite of totalitarianism was liberalism, but not democracy. Hayek: The Constitution of Liberty, p. 385, endn. 1. Carl Schmitt noted in his diary his last meeting with Ziegler in Berlin on 7 March 1933. – Schmitt: Tagebücher 1930 – 1934, p. 268. Fermor: A Time of Gifts, p. 228; see Marnham: Wild Mary, pp. 67– 68.
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faculty at the end of 1932.⁴³ In May 1933, he gave, with a positive outcome, his lecture to the professors about the “foundations of the social theory of the state”. But when the appointment request from the faculty reached the Czechoslovak Ministry of Education, the response was a long list of formal objections and the process began to drag out. Eventually, in March 1934, Ziegler was granted his second venia docendi in sociology with specialization in political sociology and general theory of the state. Even though Ziegler had pursued his entire academic career at German institutions, was publishing in Germany, and wrote extensively on German issues, as a native of Prague he probably had a good command of the Czech language and could not have lived completely cut off from Czech society. Almost nothing is known about his Czech contacts, with one exception: his collaborations with Czech sociologists. The available evidence shows that Ziegler was on close terms with Jan Mertl (1904 – 1978), who had studied with him in Frankfurt in 1928 – 1929, and Zdeněk Ullrich (1901– 1955).⁴⁴ It was mainly through these two that he played the role of cultural mediator which has been often ascribed to Prague Jews. Between 1927 and 1934 three of Ziegler’s articles appeared in Czech translation in the publishing outlets of Prague sociologists.⁴⁵ Each of them restated in a language attuned to the different sensibilities of Czech readers the problems, which Ziegler was addressing in his German publications from that time: the sociology of knowledge, ideology, and a critique of historicism; the German debates about the crisis of democracy; the crisis and reform of party democracy in Czechoslovakia. Ziegler’s contribution to Czech sociology was limited, but not insignificant: he was instrumental in transmitting to his Czech colleagues certain powerful intellectual impulses from Germany, most notably the work of Max Weber. He was among the first authors to discuss some of Max Weber’s central ideas in Czech and it was his friend Mertl who, in 1929, did the first Weber translation into Czech (Politik als Beruf). Another author whom he helped to bring to the Czech scholars’ attention was Carl Schmitt. Ziegler attempted to arrange for a Czech translation of Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, but for unknown reasons this translation never appeared.⁴⁶
This section draws on documents from the folder Heinrich Otto Ziegler 1932– 1938, collection Faculty of Law of the German University in Prague, Archive of Charles University, Prague. Nešpor: Jan Mertl, p. 345. Ziegler: Současné úkoly empirické sociologie; Ziegler: Krise parlamentní demokracie; Ziegler: Dnešní společnost a staré ústavní formy. The plan is mentioned by Schmitt in a letter from 1931, quoted in Breuer: Carl Schmitt im Kontext, p. 156, fn. 85.
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After his habilitation in Prague, Ziegler was a Privatdozent again, and he could and did teach. But, like before in Frankfurt, there was no salaried position for him. This might explain why in June 1936 he submitted to the German University’s Faculty of Law a request to have his venia docendi extended to include statistics. He based this application on a new book which appeared that same year, The Professional and Social Structure of the Population in Czechoslovakia. ⁴⁷ Ziegler analysed the data from past censuses which had been made available to him by Czech officials at the State Statistical Office, and one of them, the sociologist Zdeněk Ullrich, assisted him with the calculations. The book provided a detailed statistical description of the subject, but its purpose was more ambitious. Ziegler argued that class conflict no longer defined the present society. Therefore, there was a need for new statistical categories that divided the population into units characterised by shared working and living conditions, such as rural society, industry and crafts, or the state sector, rather than by antagonistic positions in the market economy.⁴⁸ The official reviewer of the book was Rudolf Schránil, a professor of administrative and financial law. His negative review was unsparing in its criticism. In July 1937, the faculty turned down Ziegler’s request, citing as one of the reasons that his book belonged in the field of sociography rather than statistics. Ziegler had to wait another year, until June 1938, to obtain a promotion to the rank of unsalaried extraordinary professor of sociology. The dean who proposed his promotion, Fritz Sander (1889 – 1939), had to act against the wishes of several professors who, in their minority votes, expressed misgivings not so much about Ziegler as about the wisdom of creating a professorship of sociology at their faculty. This concern proved unnecessary, for Ziegler fled Czechoslovakia and never returned. The precarity of Ziegler’s academic position in Prague after his return from Germany in 1933 translated into academic publications that did not match the quality of his two articles in the Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik and the two books published at the end of his Frankfurt period. A possible exception was his article on domination (Herrschaft) and legitimacy, written in 1934, that was eventually included in a Slovenian Festschrift.⁴⁹ In it Ziegler developed his ideas on political authority in the modern state, and this time the anti-democratic tendency present in his earlier writings was less pronounced. Another text by Ziegler in this subject area entitled ‘Constitutional Theory and tur
Ziegler: Die berufliche und soziale Gliederung; see also Ziegler: Statistisches zur Berufsstrukder Prager Bevölkerung. Ziegler: Die berufliche und soziale Gliederung, pp. 31– 37. Ziegler: Herrschaft und Legitimität. This article is available in libraries only as an offprint.
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the Sociology of State’, which is mentioned in his personal papers from 1938 as being “in print”, was probably never published and is lost. In 1936 – 1938, three of Ziegler’s articles⁵⁰ appeared in the political monthly of the Sudeten German Party (SdP) Volk und Führung, in which the conservative faction of the SdP, orientated toward Othmar Spann’s vision of an authoritarian corporate state, held the upper hand over the National Socialists.⁵¹ These articles restated in more journalistic language his earlier criticisms of Czechoslovak “national democracy”, focussing in particular on the democratic state’s tendency to succumb to unrestrained centralism and on the pathologies of the principle of majority rule in multi-ethnic settings. While he called for Sudeten German political autonomy and a “federal–constitutional” reorganisation of Czechoslovakia, there was no word of support for the Nazis and very little of the political reforms with an authoritarian bent that Ziegler had proposed earlier.
4 Exile in England, 1938 – 1944 The escalation of German pressure on Czechoslovakia and the National Socialist radicalisation of the Sudeten Germans that by late 1937 reached high levels could not fail to alert the Ziegler family. Hans and Paul had for some time already been working for banks in the United States and England, respectively. Heinz had not left Czechoslovakia yet, but that moment was coming. Early in 1938, he approached the Paris office of the Rockefeller Foundation (RF) with recommendations from the American Consul in Prague and from Moritz Julius Bonn, an influential Weimar-era German economist who was now in exile in London. In March he submitted a formal application for a one-year Rockefeller fellowship in international relations, which he planned to spend at Harvard or some other Ivy League university, and then at Oxford and LSE. His research proposal addressed the contrast of the “modern centralistic and unitary Nation-State versus federative structure of political organization”,⁵² the same problem that was the central subject of the articles he published in Volk und Führung. He intended to familiarise himself with what American and British students of politics had to say on the ways in which the power of central government could be held in check; based on
Ziegler: Mehrheit und Minderheit; Ziegler: Die viel berufene “Demokratie”; Ziegler: Demokratie und Nationalitätenstaat. See Lemberg: Tschechen und Deutsche, p. 55. Application for a Rockefeller fellowship, Heinz Otto Ziegler, 20 March 1938, (RF, RG 2, General correspondence, 1938, series 712 Czechoslovakia, box 167, folder 1215; Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow, New York).
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his findings, he planned to write a “comprehensive” book in which the AngloSaxon political theories would be confronted with continental European and especially German literature. The RF office in New York was from the very beginning hesitant to grant Ziegler a fellowship on the grounds that his subject did not fall under international relations, but, above all, because they suspected that Ziegler’s tenure in Prague was at grave risk. The Czechoslovak crisis put in question his ability to comply with one crucial condition of regular RF fellowships – that the recipients return to the academic post they held in their country of origin. Despite this scepticism, references about the applicant were requested. Legal theorist Rudolf Smend’s (professor at Göttingen) recommendation was highly positive, whereas the reference from Carl Joachim Friedrich, a German professor of government at Harvard University, who like Ziegler graduated under Alfred Weber in Heidelberg in 1925, was ambiguous. Friedrich recognised the worth of Ziegler’s academic work, but he thought that his project was confused. He also raised a “question of policy”: should “the only [!] son of a leading banker in Prague” be awarded a fellowship for which there are many other applicants, less financially secure?⁵³ The RF rejected this consideration as irrelevant, but the fellowship was not granted. Ziegler called again at the Paris office of the foundation in October 1938, declaring that he considered himself now an exiled academic. This new circumstance could qualify him for a Deposed Scholar grant, but for reasons impossible to trace down in his RF file, this possibility wasn’t given serious consideration by the foundation. The last years of Ziegler’s life had a novel-like quality.⁵⁴ He went into exile in London where his brother Paul was working for the Warburg bank. Heinz became a collaborator of the foreign policy advisor to the British government, Sir Robert Vansittart, who, at that time, ranked among the fiercest opponents of the appeasement of Hitler’s Germany. Ziegler was on friendly terms with Jan Masaryk, formerly Czechoslovak Ambassador to the United Kingdom and, since 1940, foreign minister of the Czechoslovak government in exile. One of his closer acquaintances among German emigrants was the conservative nationalist politician Hermann Rauschning, who, before defecting, had served Hitler as the governor of Danzig. There is no evidence that Ziegler continued his scholarly work or that he made further attempts to obtain an academic position. Instead, in 1940, he joined the Royal Air Force as an interpreter. He was first in a Czech
A letter from Carl Joachim Friedrich to Tracy B. Kittredge, see also Friedrich’s letter to Sydnor H. Walker, both 22 June 1938 (the same source as above). This section draws heavily on Marnham: Wild Mary.
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squadron, but later he arranged to be transferred to a British squadron. His parents, who had decided to stay in Czechoslovakia, became victims of the Nazi extermination machinery. The bank in which Ernst Ziegler had worked for several decades fell into Reichs-German hands and was thoroughly entjudet. ⁵⁵ In July 1942 both parents were deported to Theresienstadt. Ernst Ziegler died there in January 1943. Alice Ziegler was killed in Auschwitz in December of the same year. In Britain, Heinz moved to an operational unit and was trained as an air gunner. He joined the 104 RAF Squadron, which in October 1943 went to North Africa, before relocating to Southern Italy at the end of the year. On 5 May 1944, Heinz Otto Ziegler was killed when his bomber was shot down by a German night air fighter over Budapest. The name inscribed on his gravestone is “Henry Osbert Zetland”, his military alias.
5 Conclusion Heinz Otto Ziegler’s biography is not a typical one for the Bohemian Jews of his generation, but it offers a valuable example of how unsettled the patterns of Jewish cultural and political allegiances became in the eventful time period spanning the final years of the Habsburg monarchy to the dismemberment of the First Czechoslovak Republic. To get a clearer picture of the extent of this unsettling, it might be helpful to recall the most significant transformations that had taken place in the previous decades. As Spector has shown,⁵⁶ toward the end of the nineteenth century, the German-speaking Prague Jews were part of a German minority in the city (as well as in Bohemia) where the Czechs were increasingly becoming a majority, but this German minority still ruled the country and was dominant also in the cultural and economic sphere. Most elements of this constellation stayed intact in the decade preceding WW I when Franz Kafka‘s generation (i. e., those born in the 1880s) reached adult age. The members of this generation saw themselves confronted with the rising tide of illiberal German and Czech nationalism, but they were still able to benefit from the privileged position of the German language group in Austria. If it was true of Kafka and his contemporaries that they were trapped “between identities inside and outside of the power structure”,⁵⁷ this description of their ambivalent status is even more apposite for Ziegler’s generation (born in the 1900s). This cohort entered adult life in a
Kubů, Novotný and Šouša: Proces “odžidovštění”. Spector: Mittel-Europa?, pp. 29 – 30. Ibid., p. 30.
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completely different political situation after 1918 in which political power relations were turned upside down. The Czechs were the dominant group and the German speakers a minority. Ziegler was genuinely disappointed with what he thought had been an unjust political reorganization of Central Europe created by the Versailles system, unjust especially for Germany and the German ethnic groups outside Germany. Equally genuine was his support for the Sudeten German federal autonomy within Czechoslovakia (“Verschweizerung”) in the late 1930s. These choices seem to “logically” follow from his identification with German culture, but this would be too simple an explanation. Rather than being a German nationalist, Heinz Ziegler was someone who yearned to revive, to use Stefan Zweig’s famous phrase, “the world of yesterday”. In his backward-looking interpretation of the developments of his time, he wanted to see as many as possible of the social and economic privileges of the old elites from before 1918 preserved in the new Czechoslovak state. The underlying motivation for his identification with Sudeten Germans was a nostalgia for an irretrievably lost Austrian yesterday. It is questionable if cases like Ziegler’s are to be approached using concepts such as cultural hybridity or hybrid identity. Of course, it is possible to qualify him as a hybrid Bohemian German or – if, just for the sake of the argument, Czechoslovak Germans are for a short moment labelled “hybrid Czechoslovaks” – as a doubly hybrid Czechoslovak. The problem with this terminology is that it portrays the “hybrid” individual as a deficient instance of the “full” species. But the existence and identity of hybrid individuals are no less full than those of presumably “full” specimens. It might be thus more adequate to characterize Ziegler’s tragic case in terms of a complex identity wedded to conflicting, and sometimes outright antagonistic, power structures. His allegiance to the formerly dominant German speakers made him increasingly an outsider both politically and culturally in Czechoslovakia after 1918, even though this identification continued to generate important cultural, social and economic benefits for him. His efforts to establish himself professionally in Germany and to integrate into German society – based not on the ethnic principle, but on the principle of social eminence as he understood it – were thwarted by the rise of the Nazis in early 1930s. The same sort of failure, with even more dramatic consequences, was the result of his striving to find acceptance among the Sudeten Germans. In what might appear as a paradox, but is more likely a fairly typical occurrence for individuals with conflicted identities, Ziegler’s quest for recognition seemed if not satisfied, then at least temporarily neutralized, in his final years as he, an exile among exiles, lived with people not different from him.
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Dušan Janák and Johana Wyss
Ernest Gellner’s Habsburg Dilemma Introduction
As a geographical, sociocultural and political space, Central Europe has a long and complex history. To understand that history better and learn from it, it is vital to explore the work and lives of the intellectuals who inhabited this geospatial sphere. In particular, the present paper is interested in Central European intellectuals active in the last days of the Austria-Hungarian Empire and its aftermath, specifically, Ludwig Wittgenstein, Bronisław Malinowski, Karl Mannheim and Ernest Gellner. According to the last of these, in the Central European realm of the late Habsburg monarchy: There [were] two fundamental theories of knowledge. These two theories [stood] in stark contrast to each other. They [were] profoundly opposed. They [represented] two poles of looking, not merely at knowledge, but at human life. Aligned with these two polar views of knowledge, there [were] also related, and similarly contrasted, theories of society, of man, of everything.¹
This tension between these two distinct positions, which Gellner dubbed the Habsburg Dilemma, involved “the confrontation of an abstract, universalistic individualism on the one hand and a romantic communalism on the other”². In this paper, we argue that this theoretical concept of Gellner, the Habsburg Dilemma, can be used as a theoretical framework in examining the work and lives of other Central European intellectual elites, thus extending its reach beyond the work of Malinowski and Wittgenstein, to which it was originally applied. In order to demonstrate this argument, we provide a brief illustration of how the Habsburg Dilemma can be employed as an analytical tool with regard to the life and work of Karl Mannheim, a prominent Central European sociologist of the first half of the twentieth century.
This research was supported by the Czech Science Foundation (Grant No. 15 – 04099Y: Sociology in Central Europe before World War II in Comparative Perspective). Direct all correspondence to: Dušan Janák, Centre for Empirical Research, Faculty of Public Policy SU, Bezručovo nám. 14, Opava 74601, e-mail: [email protected] Gellner: Language and Solitude, p. 3. Ibid., p. 86. https://doi.org/10.1515/9783110536003-010
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Dušan Janák and Johana Wyss
1 Central Europe and Ernest Gellner The common cultural space that is Central or ‘Middle’ Europe is one that evokes more than simply nostalgia for the residual connectivity of the former German and Habsburg empires: it connects the cultural traditions of all those who inhabited Central Europe, including, but not limited to, ethnic Germans, Austrians, Hungarians, Poles, Czechs, Slovaks, Roma and Jews. Perhaps the concept most commonly associated with the contested idea of Central Europe is the notion of Mitteleuropa, which gained increasing popularity in the two closing decades of the nineteenth century and remains a contentious point of reference for different nuances of European thinking in the twentieth century as well.³ Ernest Gellner (1925 – 1995), a world renowned philosopher and social anthropologist, had a strong bond with Central Europe, where he spent the first and last years of his life. However, the influence of Central European culture was deeply embedded in his scholarship throughout his whole intellectual life. Although Gellner’s most critically acclaimed work revolves around the study of nationalism, his research interests were wide and varied, and the body of his work depicted this clearly. It ranged from an interest in the anthropology of religion, modernisation theory in sociology, philosophical and epistemological issues related to rationality and relativism, and historical-sociological inquiry into the history of social and philosophical thought. However, in this paper we concentrate on Gellner’s posthumously published manuscript, Language and Solitude: Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma. The central concern of Gellner’s inquiry here is the tension between the two antagonistic world views, which draw upon two opposing philosophical theories of knowledge. These two theories of knowledge are related to other, similarly contrasting theories, about human nature, society, politics, morality and so forth. This binary opposition is what Gellner calls ‘the Habsburg Dilemma’, referred to in the title of his book. Perhaps more importantly, it is this notion of the ‘Habsburg Dilemma’ that Gellner uses as an interpretive tool when analysing Wittgenstein’s and Malinowski’s thinking. To inform his argument and discussions, Gellner draws on his expert knowledge of Central European nationalism, his knowledge of the history of social thought and his study of rationalism and criticism of relativism, as well as presenting his own epistemological ideas. Gellner’s interpretation of both thinkers follows two main lines of argumentation. The first consists in a philosophical analysis of their concepts against the background of two opposed epistemolog Cf. Greiner: Articulating Europe during the Great War; Stirk: Mitteleuropa.
Ernest Gellner’s Habsburg Dilemma
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ical views, which Gellner labels individualism (or atomism) and organicism. This distinction also lays the groundwork for the presentation of Gellner’s own ideas about cognition, rationality and the problems of relativism. The second line of argumentation situates Wittgenstein’s and Malinowski’s thinking within the Central European socio-cultural context, that is, from the perspective of the historical sociology of knowledge. Gellner argues that the tension between the individualistic and organicist world views reflects the basic features of social and political life in the late Austro-Hungarian Empire. Throughout the book, Gellner works with the tensions between individualism and organicism on various levels, as shown in Tables 1– 4. Tab. 1: THE HABSBURG DILEMMA IN A GENERAL WORLD VIEW Atomism / individualism
Romantic organicism / communalism
Individual liberals Gesellschaft (‘society’) Universalism Mathematics Reason
Community Gemeinschaft (‘community’) Particularism Poetry Emotions
Tab. 2: THE HABSBURG DILEMMA IN THE POLITICAL LIFE OF AUSTRIA-HUNGARY Atomism / individualism
Romantic organicism / communalism
Universalistic liberalism Cosmopolitanism Vienna’s Café Central German as an official universal language
Particularistic nationalism Separatism Carpathian Village Languages of small nations and dialects
According to Gellner, the dynamic competition between individualism and organicism was the driving force underlying everyday political life in the AustroHungarian Empire. Not even Wittgenstein or Malinowski were able to escape it. It is precisely this analytical distinction between individualism and organicism on the cosmological, political, and epistemological levels which Gellner contributed to the field of historical sociological knowledge.
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2 ‘Early’ and ‘Later’ Wittgenstein Tab. 3: THE HABSBURG DILEMMA IN WITTGENSTEIN’S THOUGHT atomismus/individualismus
Romantic organicism / communalism
Tractatus Logico-Philosophicus One language as the world’s mirror (‘picturing’)
Philosophical Investigations The plurality of language games (pragmatic theory of language)
Wittgenstein’s philosophical school of thought is traditionally divided into two separate periods. The first is represented by the Tractatus, which Wittgenstein finished during the First World War. Here, Wittgenstein presents the notion of ‘picturing’, which is related to the branch of philosophy dealing with logical positivism and physicalism. His second period is represented by the Philosophical Investigations, published after the Second World War, in which Wittgenstein advocates the pragmatic theory of language. According to Gellner, ‘early’ Wittgenstein argues for an extreme individualistic understanding of the world, which Wittgenstein expressed in an absolutely abstract version of linguistic philosophy. The ‘later’ Wittgenstein, on the other hand, pushes an extreme version of the organicist understanding of the world, again projected into the field of analytical philosophy. Here, Gellner argues that the reason for the radical dichotomy between the ‘early’ and ‘later’ Wittgensteins is a reflection of the Habsburg Dilemma in the last decades of its existence.
3 Balancing Malinowski Tab. 4: THE HABSBURG DILEMMA IN MALINOWSKI′S THOUGHT atomisms/individualism
Romantic organicism
Positivism Liberal Modern social anthropology Political universalism
Romanticism Organic Folklore Cultural nationalism
Although extremely critical of Wittgenstein, Gellner relates to, and appreciates, Malinowskian thinking. Even though the Habsburg Dilemma is also prominent in Malinowski’s work, according to Gellner, Malinowski “got it right, all in
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all”⁴. For Gellner, it was Malinowski who most creatively bridged the great Austro-Hungarian divide between the romantic relativists and the heirs of the Enlightenment tradition. Malinowski was brought up a romantic. His father studied peasant folklore in Carpathian villages for nationalistic reasons, and Malinowski was brought up to admire the tolerant multi-ethnic late Empire of Franz-Josef. He adapted these thoughts and theories of the tradition of nationalist folklore studies to the investigation of exotic others, the Trobriand Islanders, whom he represented as living within a seamless traditional culture, while somehow concurrently operating in much the same way as an individualistic Viennese. In Gellner’s view, Malinowski, as an “empiricist organicist, a positivist romantic, and a synchronic holist”, found a balance between atomism and communalism.⁵ Gellner’s own scholarship was profoundly permeated with elements of Malinowskian functionalism. He was greatly concerned with the ways and means by which ideas were used; they had a life of their own in society, which, according to Gellner, could be grasped ethnographically. Conversely, he refused to treat the cosmologies of the societies he studied simply as ideologies. Each, Gellner argued, also has to be evaluated as a philosophy. Malinowski spoke to him so strongly, perhaps, because he shared something of the same background. Like Gellner himself, who built his career in Britain, Malinowski also found a second spiritual home in Britain, in his case at the London School of Economics (LSE). But more fundamentally, they were both the intellectual offspring of Franz-Josef’s Vienna. Gellner remarked that Malinowski’s Cracow and his own Prague were intellectual suburbs of Vienna.⁶ His account of modernity is rooted in his understanding of the Austro-Hungarian Empire in its waning years. Similarly, Wittgenstein, against whose ideas he battled throughout his career, also identified with the Viennese prototype. In addition to his research interests and academic career, Gellner’s personal life also contained parallels to both Wittgenstein’s and Malinowski’s especially in his upbringing in secular Central European society; in addition, Gellner and Wittgenstein shared Jewish backgrounds. More importantly, Gellner expressed very similar feelings of ‘otherness’, of being an outsider. In an interview for Current Anthropology in 1991, Gellner stated: “I miss being a member of a community, but I don’t miss being a member of a religion”⁷. Gellner’s social background increased his sensitivity to nationalism-related problems, which were an important part of the social conditioning of Wittgenstein’s philosophy
Gellner: Language and Solitude, p. 188 Ibid., p. 136 Ibid. David: An Interview with Ernest Gellner, p. 71.
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and Malinowski’s anthropology. His historical-sociological analysis of their thought is impressive and very plausible. In this respect his work continues to be inspiring, not least because it provides an insightful sociological framework for further research in the history of sociological thought. To demonstrate this, in the following section, we use Gellner’s ‘Habsburg Dilemma’ as a tool of analysis with reference to a prominent Central European intellectual, the Hungarian sociologist Karl Mannheim.
4 Mannheim between ‘Ideology and Utopia’ Mannheim’s sociology of knowledge, which is rather abstract in nature, was developed in an attempt to ascertain whether or not politics can be thought of as a ‘science’. This idea can clearly be seen in Mannheim’s magnum opus, Ideology and Utopia. ⁸ In Mannheim’s case, the Habsburg Dilemma is clearly manifest in the key theoretical question of his sociology of knowledge. According to Mannheim, the sociology of knowledge is based around a thesis that there exist ways of thinking that cannot be adequately understood in so far as their social origins remain covered in darkness: in other words, if we cannot shed light on the relevant social origins, then there are things we simply cannot know. Here, knowledge is not an individual performance, nor the function of the human body, but a function of the social group, paralleling Gellner’s organicist views, which are woven through the Hapsburg Dilemma. According to Mannheim, it is not people themselves who think, but individuals in particular groups who produce thought in endless streams of interaction. In his analysis of knowledge, Mannheim draws on, but also develops further, Marx’s concept of ideology as false consciousness. The key development is Mannheim’s introduction of a dichotomy between the ‘particular’ concept of ideology and the ‘total’ concept of ideology. Particular ideology points out that we do not trust certain ideas and concepts of an individual as such, as we believe them, whether consciously or unconsciously, to be clouding the actual state of affairs, mainly with respect to that individual’s interests. Total ideology points to the structure of consciousness (and thereby the knowledge) of a whole historical period or social entity and draws attention to the conditionality of knowledge within it. Each body of knowledge is understood as being socially conditioned. At the centre of the discipline of the sociology of knowledge is the idea that behind all knowledge are deeply embedded ideologies.
Mannheim: Ideologie a utopie.
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Consequently, Mannheim’s contribution lies in the fact that he revealed the ideological patterns underlying the sociology of knowledge. Having hailed from a specific historical period and a particular social context, Mannheim also had to deal with the question of relativism, which he did in two ways. First, he drew a distinction between the evaluative and non-evaluative use of the total concept of ideology. Secondly, he tried to find a subject of knowledge that lay beyond the bounds of ideology. The former led Mannheim to distinguish between relativism and relationalism. Relativism exposes the conditionality of each truth and ends up in scepticism over the truth of knowledge. Relationalism overcomes relativism by consigning it to history as a temporally conditioned type of knowledge. The relationalistic position equates thinking with being, yet it does not see it as a source of error. The problem of adequate knowledge is one of a synthesis of various points of view, which will always, according to Mannheim, be relative with regard to the dynamics of both the process of learning and the studied subject, and consequently their mutual relationship. Demanding an absolutely timeless synthesis would be a step backwards, reverting to the much criticised static picture of the world. Even the relative synthesis is trying (or should be trying) to capture the most comprehensive picture possible of a whole at a given time. The other way in which Mannheim attempted to evade the trappings of relativistic thinking was to find an empirical solution to theoretical problems. Since knowledge is the function of a social group, it is necessary to look for a collective holder of the synthesis. Nevertheless, as Stanislav Hubík has noted, no such collective subject reasonably exists⁹. That is why Mannheim abandons logic in his search for a befitting subject, which he seeks in history and finds in the form of the intelligentsia, a group which is, to varying degrees, socially unrooted, drifting, as it were, through social space¹⁰. While Mannheim’s studies of the relatedness between cognizance and being have gained wide recognition, his analysis of the intelligentsia as a relatively loosely rooted social formation has been heavily criticised. In 1995, with reference to Mannheim’s work, Radim Marada completed a thorough study of the issues of possible synthesis, taking into account both logical and historical considerations.¹¹ He arrives at the conclusion that, although we find some guidelines in Mannheim’s work as to what such a synthesis should fulfil, he ultimately provides no concrete guidance in recognising that the synthesis has actually attained it. In other words, we do not actually know how to determine a synthesis or how to tell a better synthesis from a less satisfactory one. The
Hubík: Sociologie vědění. Ibid. Marada: Can theory rationalize politics; Marada: Intelektuálové a ideologie.
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balancing of two syntheses requires a measure and a theoretical viewpoint which are capable of determining the level of correctness and which must necessarily be anchored in society, in particular when political doctrines are being considered. Mannheim assumed that this could be resolved by means of the sociology of knowledge, but he did not succeed in transcending the contradictions mentioned above. The Habsburg dilemma in Mannheim’s sociology of knowledge has only become clearer in assuming the form of a logical contradiction. The plausibility of Gellner’s historical sociology of knowledge is also suggested by Mannheim’s personal history, which to some extent connects him with both Gellner and Wittgenstein. Mannheim was born into a Jewish German-Hungarian family in Budapest and spent most of his life in emigration.¹² When he lived in Hungary, he focused on problems related to works of art, adopting an anti-positivist social philosophy which closely resembles the organicist world view.¹³ After emigrating to Germany, his interests shifted towards the sociology of knowledge, which would later begin to bridge the plurality of his world views. For the reasons outlined above, however, this focus did not quite achieve its end. His following move, from Germany to Britain to flee Nazism, drew his attention to the issues of the reconstruction of democratic society, with a focus on achieving a social consensus on values, and the question of the production and reproduction of desirable cultural values through education.¹⁴ Instead of looking for possibilities to attain universal truths, the circumstances resulting from two world wars brought the necessity of the survival of a particular cultural area to the fore. Therefore, the Habsburg Dilemma was finally resolved pragmatically.
Conclusion This paper has explored Central European cultural spaces on several levels. First, it conceptualises Ernest Gellner as a Central European thinker. Secondly, it deals with his reflections on other thinkers with similar backgrounds in the Habsburg Empire. Gellner interprets their work in the socio-political context of
On Mannheim’s biography related to his work, see Coser: Masters of sociological thought, pp. 440 – 449 or Remmling: The Sociology of Karl Mannheim. An interesting study on the shifts in Mannheim’s work, useful for the application of Gellner’s concept of the Hapsburg Dilemma, is Green: Karl Mannheim. Cf. Kettler and Meja and Stehr: Rationalizing the Irrational; Karácsony: Soul–life–knowledge. Mannheim: Man and Society in an Age of Reconstruction; Mannheim: Diagnosis of Our Time; for an analysis, see Loader and Kettler: Karl Mannheim’s Sociology as Political Education.
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that time, paying special attention to the deep polarisation of Habsburg society and sensibility. Ultimately, this paper has discussed the Habsburg Dilemma and proposed its use as a significant theoretical framework through which we can understand not only Wittgenstein and Malinowski, but also other central European thinkers trapped between ‘atomism and communalism’, such as Karl Mannheim.
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Jaroslav Bican and Jan Coufal
Bipolar Concept in the Work of Karel Kosík from the Point of Historical-Sociological Perspective Karel Kosík, without no doubt, is one of the most important Czech philosophers. The following analysis focuses his movement along the axis between a strong influence of Marxism-Leninism and Stalinism, and influences of phenomenology and existential-hermeneutic thinking. Karel Kosík was born on June 26th, 1926. After his parents’ divorce, he lived only with his mother: “We were not a proletarian family living in poverty. We were a family that was dependent on the work of my mother – a dressmaker that was dependent on her customers. I remember that in the times of crisis, there were moments when mother had nothing to do.”¹ As a child he wanted to play soccer in AC Sparta Prague. When he was 13 – that was in 1939 –, his father took him to a parade at the first demo after the Czechoslovak occupation. At the parade, a life-changing movement happened in the soul of the 13-year-old boy. This was when he found out that his mission is to realize the human desire for freedom; that “now it is crucial to read poets and not to play soccer”.² An important attribute of Kosík’s childhood was Sokol – a Czech sporting association that occupied the position of the greatest and the most successful sporting association in the history of Czech and Slovak physical education. The leading philosopher of the second half of the 20th century dedicates the following memory to Sokol: The most important thing was that it allowed children from various social strata to come to exercise; that it wiped out the difference between the rich and the poor; that everyone was equal there. Poorer children got great discounts so that they could also participate in summer camps. I used to go to Planá nad Lužnicí […].³
Karel Kosík grew up in a historically demanding epoque – in times of Nazi terror. As a student of a grammar school in Prague, he often demonstrated anti-Nazi youthful revolt and joined an anti-Nazi resistance organization of Communist
All translations from the Czech are ours. Kašpar: Čest demokratů je v poctivosti (rozhovor s Karlem Kosíkem), p. 11 Ibid., pp. 1– 3. Ibid., p. 12. https://doi.org/10.1515/9783110536003-011
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Jaroslav Bican and Jan Coufal
youth “Předvoj” (The Vanguard). He also was an editor of an illegal magazine Boj mladých (Fight of the Youth). In 1944, when he was 18, he was arrested by the Gestapo. Immediately he was accused of participation in an illegal Communist party and alleged preparation of treason. As a result, he spent some time in Pankrác prison. From the end of January to May, he was confined to the prison in the so-called Small Fortress Terezín. There he started having health issues. In 1945, he was admitted to Bulovka hospital in Prague. Regarding the serious typhoidal disease, Kosík finished his secondary education with a final exam in September 1945.⁴ As a prisoner in Terezín concentration camp, Kosík was confronted with death on a daily basis, and it influenced his philosophical work as well. In post-war years 1945 – 1947 he studied at the Faculty of Arts, Charles University in Prague. There, his fields of study were Philosophy – History and Philosophy – and Social Science. Later in 1947, he left to study at philosophical faculties in the Soviet Union. He stayed both in Moscow and Leningrad. After his return in 1949, he taught at the Faculty of Arts, Charles University in Prague. In 1958, he participated in a preparatory committee of a conference about the history of Czech philosophy, “Liblice Conference”. In the following year 1959, he attained a degree of Candidate of Sciences in Philosophy. Kosík participated in a few international scientific conferences as an internationally renowned philosopher, e. g. at the 13th International Philosophical Congress in Mexico City or at international symposia in Rome or USA. In 1960s, he also joined the political effort to democratize; for his open and authentic Marxism, he also became an ideological pioneer (philosophical speaker) of so-called Socialism with a human face. What also helped a lot was the fame of his most translated book Dialektika konkrétního. Studie o problematice člověka a světa (Dialectics of the Concrete. Studies on the Problems of Man and the World). After political changes in April 1969, Karel Kosík became an uncomfortable person for the newly emerging regime. He had to leave the academic sphere, and from 1972 to 1990 he made his living by translating books or as a private teacher. In times of normalization he even had to endure a few house searches. The practice of Czechoslovak State Security was also described in an open letter from Kosík to Jean-Paul Sartre: “Am I guilty? […] Therefore, I have to presume that I could be arrested for 1 to 5 years according to § 98 of Rules of Criminal Procedure. I do not understate the reach of the threat but what is the dearest to me
Tomeš: Český biografický slovník XX. Století, pp. 131– 132.
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is the destiny of letters that were confiscated.”⁵ Sartre did not even receive the letter, and, at first, only read a short piece in the centre-leftist evening paper Le Monde. His answer to Kosík was, however: “No, you are not guilty. […] No government is empowered to judge thoughts of a citizen.”⁶ It is also interesting that Karel Kosík did not sign the anti-regime document Charta 77 since he considered it a purely political gesture without a philosophical overlap.⁷ In 1990, he began to lecture at the Faculty of Arts, Charles University, and since 1992 he was a research worker at Institute of Philosophy at Czech Academy of Sciences. Karel Kosík passed away due to a serious disease on February 21, 2003 in the Motol hospital. To frame the whole paper, a key element is one of Kosík’s essays that were published in the book Století Markéty Samsové (A century of Markéta Samsová), titled Co je střední Evropa (What is Central Europe). Kosík says here that a small nation should not only care about its existence but also mainly about the sense of its existence. The Czech issue, therefore, becomes a historical struggle for a starting point in the global context. “Of course, a nation gets to situations when it has to defend itself from being destroyed but it is a nation only if it struggles for something more than pure existence. The pure existence cannot form a programme and a sense of a nation. If the pure existence means everything, the nation becomes nothing; i. e. it stagnates as a biological unit or a historically random formation.”⁸ Kosík mentions that the Central European area has two historically different interpretations from the point of view of two hegemons, i. e. Germany and Russia. The substance and idiosyncrasy of the space is based on a conflict. “Central Europe is a controversial area and an area of controversy: the controversy is about the answer to what the area actually is.”⁹ The German interpretation stresses the fact that ‘Mitteleuropa’ (Central Europe) is their territorial claim. Germany has a role of a protector, perceives the region as a sphere of interest and as a historical claim. Culturally, Czechia is a German country, peculiarly named “Böhmerland”. Russian historical explanation of Central Europe is very different from the German one. Central Europe was only considered as a “transit”, a passage through which Russians travel to Europe. In Russian politics, the Central Europe region also has a secondary role. “In calculations of strategists,
Dopisy Sartre – Kosík. File, Právo, 28.6. 2001 – In: SDS – Online – http://www.sds.cz/docs/ prectete/tisk/ kos_sart.htm (23 April 2017). Ibid. Taněv: Causa Karel Kosík, pp. 68 – 72 Kosík: Století Markéty Samsové, pp. 36 – 37. Ibid., p. 68.
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the space is only a forefield and a buffer zone; an outer circle that can resist from a war attack as a rampart and protects the core of the empire […] For both powers, Central Europe is related to their interests, usually completely different from each other; it is not an idiosyncratic historical space but only a service area the value of which is defined in their capitals – out of the space, somewhere else.”¹⁰ It is worth mentioning that Kosík completely omits the question of Hungary or the Austro-Hungarian empire and only concentrates on Russia and Germany. Karel Kosík approaches the idea of Central Europe as a unique European cultural sphere and a specific way of new political and national self-reflection. Central Europe is a historical space marked with an indelible stamp of idiosyncrasy and originality, that is based on mutual contacts and conflicts with nations that cultivated the soil, founded towns, and shared folk culture (tales, songs) in this region for centuries. Calling for the sense of nation and pointing to the uniqueness of a specific cultural sphere was, especially on the beginning of 1960s, associated with a ‘spiritual breakthrough’ of the interest in a Central Europe idea. Kosík originally and symbolically wrote about a multicultural coexistence in the Central Europe area, which he explained with the example of Josef K., the main character of Franz Kafka’s The Process, and Josef Švejk, the most famous character by Jaroslav Hašek.¹¹ Their encounter was presented as an interpretation of the uniqueness of the Czech-German-Jewish historical coexistence within the same space. The Philosopher and sociologist Miloš Havelka points out that Kosík’s interpretation of cultural and historical uniqueness of Central Europe served as an argument against the false universality of Russian Bolshevism during the Soviet occupation in 1968. It was supposed to legitimate the right of Central European nations to have their own way to socialism that would be very different from the Russian one. “In the disability to make other Central European nations interested in ideas of ‘Prague Spring’, and together with them to emancipate from Soviet Union of the time, Kosík saw the main reason of collapse of the whole reform movement in autumn 1968.”¹² Kosík’s effort has to be perceived on the background of long-term reflections on the Czech nation, its existence, sense and relationship to powerful European countries. These reflections reach back to the second half of 19th century. The fragility of the position of the Czech nation in this space, in which German and Russian influences are clashing, as well as the dangers to which such a small nation
Ibid., pp. 69 – 70. Ibid., pp. 121– 145. Havelka: Ideje – dějiny – společnost, pp. 211– 213.
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is exposed to in its relation to powerful countries, were formulated with great insistence by e. g. Hubert Gordon Schauer in 1886. His article Naše dvě otázky (Our Two Questions) was published in ČAS (TIME) magazine. Schauer describes the fear of the Czech nation being swallowed by the German element: “What if Austria profoundly changed from its current state due to an unexpected amount of conditions; what if the German sea totally besieged and flooded us? Do we have any guarantees against such option? They say: ‘Russia would not allow this!’ But who could tell that Russia would once be omnipotent; that it would not have to count on general or at least major European coalition against itself?”¹³ continues Schauer. Furthermore, he questions the image of Russia as a powerful country that could help the Czech nation defend itself against the German predominance. In his text that aroused furious reactions, Masaryk’s student Schauer further asks whether Russia really is “the friendly state”, and whether Russians really are “our brethren who would willingly save us at every cost.” Schauer crowns his doubts with a statement that it is rather possible that Russians will sacrifice “us” for Galicia or the Balkans. At the same time, he also mentions the danger that Russians could ‘Russify’ Czechs and deprive them of political independence: I know there are people who are exhilarated by such thought; but there are also people who would not like to be Russificated just as Germanized, who dislike the brotherly yoke just as much or even more than a foreign one; people, who being presented a dilemma: to be Germanized, or to be Russified, would first cold-bloodedly wonder which side would bring them more of a cultural capital.¹⁴
It is obvious from his text how serious Czech thinking was about the position of the Czech nation among the abovementioned powerful countries; and that part of the thinking was due to the effort to occupy an independent position in the space between German and Russian influence.¹⁵ In that respect, Karel Kosík was interested in the historian and politician František Palacký who also participated significantly in formulating the idea of a Czech nation’s position and its constitutional arrangement. Kosík also paid attention to Palacký because he defined the idea of Central Europe. Karel Kosík concentrated mostly on the Idea of the Austrian state, in which Palacký presented his concept of a historical space between Russia and Germany. In this space of creative “contact, connection and clash of cultures and languages,” Kosík sees the idea of defining man in condi-
Schauer: Naše dvě otázky, p. 2. Ibid., pp. 2– 3. Znoj, Havránek, Sekera: Český liberalismus.
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tions of the modern era.¹⁶ Karel Kosík understood the meaning of František Palacký mainly in his effort to preserve Austria as a reformed Central European federation. This arrangement, according to which nations were mutually equal, was potentially an effective counterbalance against the concepts of tsarism and Pan Germanism.¹⁷ Similarly, to František Palacký, Tomáš Garrigue Masaryk attempted to grasp the problem of the small Czech nation in his České otázce (1895, The Czech Question) as well and make its existence reasonable. The idea of Czech existence was grounded in the tradition of Czech reformation, National revival and general principles of humanity. For Masaryk, the key was humanism that he found in the Hussites movement and National revival. In the context of abovementioned efforts, Kosík’s attempt to grasp Marxism specifically in the Central European perspective can be perceived as a continuous effort of a small nation to establish its place in relation to powerful countries, but at the same time, to follow its own path in the field of philosophy and, moreover, to develop the Czech humanistic tradition that is inevitably connected with Czech lands. Karel Kosík was a leftist radical since his student years. The beginning of Kosík’s years in the humanities was also strongly influenced by radical leftist thinking, more specifically, by radical Marxism-Leninism. This influence was remarkable, especially in 1951– 1954, when Karel Kosík published e. g. in the Communist cultural-political magazine Tvorba (Creation). For this period, two texts are typical that have Soviet Union in the title and adore Stalinism and revolution. In the article Sovětský svaz – bašta marxismu-leninismu (Soviet Union – Stronghold of Marxism-Leninism) Kosík accents Soviet Union as an example how to build socialism: J. V. Stalin not only managed and organized building socialism in Soviet Union but also ingenuously generalized the experience. Laws of transition from capitalism to socialism and laws of building a socialist society – formulated by Stalin – become an infallible compass for countries that transit from people’s democracy to socialism.¹⁸
The Czechoslovakian philosopher emphasizes Stalin’s credits regarding Marxist theory. As an example of “great creative Marxism”, Karel Kosík presents Stalin’s definition of scientific socialism that generalizes the whole historical epoque of the international revolutionary movement and accents the meaning of Marxism-
Adam: Karel Kosík in the Context of Marxism, p. 175. Zouhar: Dějiny českého filozofického myšlení do roku, p. 155. Kosík: Sovětský svaz – bašta marxismu-leninismu.
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Leninism not only as a theory but also as a strategy and tactics of the labour movement.¹⁹ Kosík also appreciates another feature of Soviet Bolshevism that is, from his point of view, unconditionally true. Accordingly, it is necessary to put it into effect in all people’s democracies transiting to socialism: the law of aggravated class struggle: Marxist-Leninist theories about aggravated class struggle mobilize the working class also in our country not to ease up their revolutionary attention and watchfulness at their constructive work. Marxism-Leninism is a powerful weapon in the hands of workers that helps them reveal and restrain contra-revolutionary conspirators such as Šling, Švermová, Clementis and other traitors and saboteurs.²⁰
In another text from this period called Stalin nás učí lásce k vlasti a nenávisti k jejím nepřátelům (Stalin teaches us to love our country and hate its enemies), Karel Kosík attempts to synthesize Marxist revolutionary practice and patriotism. As an example worth following, there is again the Soviet Union and J. V. Stalin, proudly seconded by his “great student” Klement Gottwald. “Comrade Stalin teaches us that socialist patriotism grows from an implicit devotion to the working class of one’s own country; it is nourished with unbreakable trust for revolutionary powers and creative abilities of people.”²¹ In the conclusion of his article, the philosopher states that in the core of Czech patriotism there is love for the Soviet Union: “Socialist patriotism of our people is also based on love and fidelity towards the socialistic homeland of all working people, the invincible stronghold of peace – Soviet Union, on love for the great Stalin.”²² Paradoxically, a homeland other than ours becomes the object of our patriotism. From Kosík’s writing at that time it is obvious that he considers Marxism applied in the Soviet Union to be the example, which should be transferred to Czech lands, as closely as possible. After Karel Kosík started working at the Czechoslovak Academy of Sciences in 1953, his leftist radicalism slowly started to set off from the scene. However, in 1954 he once more attacked Masarykian traditions.²³ A remarkable shift in the character of Kosík’s scientific work occurred in 1958 when Česká radikální demokracie (Czech Radical Democracy) was published.²⁴ Using the concept of “a new
Ibid., p. 1118. Ibid. Kosík: Stalin nás učí lásce k vlasti a nenávisti k jejím nepřátelům. Ibid. See Kosík: O sociálních kořenech a filosofické podstatě masarykismu. Kosík: Česká radikální demokracie.
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interpretation” of Czech 19th century history, Kosik prefers the role of radical democrats such as Karel Sabina or J. V. Frič over the role of conservative politicians, such as František Palacký. Czech Radical Democracy connects leftist radicalism with the effort to reach authentic Marxism. As Josef Zumr points out, the book avows Marxism but at the same time calls into question categories of interpretation, commonly used until that time – e. g. linear class conditionality of social phenomena.²⁵ In Czech Radical Democracy, there are also echoes of the later book Dialetika konkrétního (Dialectics of the Concrete). He already used e. g. the concept of specific totality, although in a slightly different context than later in the Dialectics: Marxist theory of social awareness as a specific historical totality created by social groups in different conditions of existence enables to understand various spheres of this awareness, philosophy, political attitudes, emotions, and ideals as specific displays of a certain view of the world.²⁶
In this publication Karel Kosík reflects a materialistic understanding of history and, at the same time, exhibits a noticeable effort to reach sustainable Marxism that dwells on specific influences, typical for Czech lands and the Central Europe area. The period that had begun with publishing of Czech Radical Democracy culminated in 1963 when Dialectics of the Concrete was published.²⁷ This monograph was translated in many world languages and connected the effort to reach sustainable Marxism with influences of existential-hermeneutic thinking; more specifically, it connects Marxism with the philosophical influence of Martin Heidegger and Edmund Husserl.²⁸ The book was also inspired by Lukács’s thinking, and, above all, by his publication Dějiny a třídní vědomí (History and Class Awareness), that helped Kosík formulate the concept of specific totality. Kosík had mainly sustainable and authentic Marxism in mind. There is still an open question whether Kosík’s Marxist thinking was more influenced by Hegel or phenomenology. What does Kosík attempt to reach in his work? Marxist philosophy cannot be reduced to a simple methodology, gnoseology, logic or a simple ideology. It is mostly ontology, for which Marxist gnoseology also becomes meaningful and Marxist understanding of the world and man is clarified. Kosík, when searching for the explanation of reality [resp. of what authentic Marxism is – J. C.], de-
Hrubec, Pauza, Zumr (eds.): Myslitel Karel Kosík, p. 22. Kosík: Česká radikální demokracie, p. 138. Kosík: Dialektika konkrétního. Hrubec, Pauza, Zumr (eds.): Myslitel Karel Kosík, pp. 79 – 96.
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constructs a number of “pseudo-concepts, pseudo-ideas and pseudo-interpretations” of dogmatic Marxist philosophy. In other words, he “breaks the world of pseudo-concreteness.”²⁹ He fights anything that distorts, impoverishes, and trivialized ‘totality of reality’³⁰ [ontology – J. C.] Facts are understanding of reality if they are comprehended as facts of a dialectic whole. This interpretation is expressed not only as a method of recognizing reality but also as a reality itself. It constructs so-called specific totality, i. e., a whole that is structured and therefore not chaotic; a whole that continuously constructs itself. Specific totality in Kosík’s interpretation means a theory of reality. To understand the human reality and to open the truth of reality, there are two means: philosophy and art. Both have a specific and irreplaceable meaning for man. Kosík’s analyzes the crisis of those days. From his point of view, human reality itself is misinterpreted in its wholeness and what is presented as totality is only an abstraction. Kosík is also concerned with the methodology of the humanities and with art in Dialectics. According to Kosík, particular areas of knowledge are analyzed by particular disciplines. The human reality is only dealt with by philosophy and art. A piece of art presents ‘wholesome recognition.’³¹ Artwork expresses the world as far as it creates the world; as if it discovers the truth about reality. In the artwork, reality addresses man. A Grecian temple, a medieval cathedral, a Renaissance palace create perfect works of art; create reality that persists in the historicity of ancient, medieval and Renaissance world. In this manner, Kosík explains a timeless character of artwork. It depends on the rhythm of timing a piece. Whether the piece of art has something to tell anytime to any generation or whether it only talks to a specific historical period; or if it has to be forgotten first to be awaken later. In the third chapter “Philosophy and economics”, Kosík analyzes consequences between social being and economical categories. He attempts to find human relationships beyond the economic ones. The inspiration for him was early Marx’s works. He opens the question of philosophy of work and puts it in connection with the question “what is man?” The analysis of work leads him to specify what economics is and why it has a central role in human life. Economics present a sphere of necessity in which presumptions of human liberty are created. Later, he also gets to the central category of Marxist philosophy: philosophy of praxis. In the chapter “Praxis and totality”, he refuses various singular concepts of praxis and reveals its ontological essence. Praxis is a definition of
Popelová: Karel Kosík: Dialektika konkrétního, pp. 433 – 438. Ibid. Ibid.
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human being and its reality. There, the openness of man to reality is created (praxis has an ontological background). Practice as an ontocreative process (practice as a process that creates being). is closely related not only to the question “what is man?” but also to the relationship of man to nature. Kosík refused an isolated concept of man. Man, as a social being humanizes nature but also accepts it as “absolute totality,” self-sufficient “causa sui” that creates a condition and a presumption of humanization.³² Dialectics of the Concrete became an inspiration and rehabilitation of Marxism as philosophy. At the same time, it can be understood as an expression of a different way to socialism, other than the Soviet one and, therefore, can serve as a theoretical background for attempts to reach socialism in the Central Europe area; at least in the context of the 1960s. Kosík’s effort to have sustainable Marxism, characteristic for his work in the late 1950s / early 1960s, has to be viewed on the background of his understanding of Central Europe as a culturally and historically unique area. Kosík’s project of sustainable Marxism is a part of Central European nations’ effort to keep their own way to socialism that is going to differ from Russian Bolshevism. Therefore, Kosík’s movement on the axis of influences of Marxism-Leninism and Stalinism to phenomenology on one side, and existential-hermeneutic thinking on the other, can be interpreted as a movement from Soviet-type Marxism – the universality of Russian Bolshevism – to an independent project of sustainable Marxism that emerges in Central Europe and is derived from its uniqueness.
References Primary Sources Kosík, Karel: Česká radikální demokracie. Příspěvek k dějinám názorových sporů v české společnosti 19. století. Praha: Stàtni Nakladatelstvi Politické Literatury 1958. Kosík, Karel: Dialektika konkrétního. Studie o problematice člověka a světa. Praha: Naklad. Českosl. Akademie Věd 1963. Kosík, Karel: O sociálních kořenech a filosofické podstatě masarykismu. – In: Filosofický časopis 1954, č. 3, pp. 196 – 215. Kosík, Karel: Sovětský svaz – bašta marxismu-leninismu. – In: Tvorba, č. 47, November 22, 1951, p. 1117. Kosík, Karel: Stalin nás učí lásce k vlasti a nenávisti k jejím nepřátelům. – In: Tvorba, č. 51, December 22, 1951, pp. 1211 – 1212. Kosík, Karel: Století Markéty Samsové. 2., opravené vyd. Praha: Český spisovatel 1995.
Ibid.
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Masaryk, Tomáš Garrigue: České otázce. Praha 1895. Sartre, Jean-Paul: Dopisy Sartre – Kosík. Dokument, Právo, 28. 6. 2001 – In: SDS – Online (http://www.sds.cz/docs/prectete/tisk/kos_sart.htm (23. April 2017).
Secondary Sources Adam, Marek: Karel Kosík in the Context of Marxism (Personality and Analysis of Work). Master’s thesis. University of South Bohemia in České Budějovice 2010. Havelka, Miloš: Ideje – dějiny – společnost. Studie k historické sociologii vědění. Brno: Centrum pro studium demokracie a kultury 2010. Hrubec, Marek, Miroslav Pauza, and Josef Zumr (eds.): Myslitel Karel Kosík. Praha: Filosofia 2011. Kašpar, Jan: Čest demokratů je v poctivosti (rozhovor s Karlem Kosíkem). – In: Pravo (Salon), December 23, 1999, č. 147, pp. 1 – 3. Popelová, Jiřina: Karel Kosík: Dialektika konkrétního. – In: Filosofický časopis 1964, č. 3, pp. 433 – 438. Schauer, Hubert Gordon: Naše dvĕ otázky. – In: ČAS. List věnovaný veřejným otázkám 1 (1886), č. 1, 20 December, pp. 1 – 4. Taněv, Pavel: Causa Karel Kosík. – In: Reflex, November 2003, č. 45, pp. 68 – 72. Tomeš, Josef: Český biografický slovník XX. Století, Bd. 2: K–P. Praha: Paseka 1999, pp. 131 – 132. Znoj, Milan, Jan Havránek und Martin Sekera: Český liberalismus: texty a osobnosti. Praha: Torst, 1995. Zouhar, Jan: Dějiny českého filozofického myšlení do roku 1968. Brno: Academicus 2008.
Dennis Smith
Norbert Elias and André Breton: Surrealism, Shock and the Civilizing Process 1 Setting the Scene Norbert Elias (1897– 1990) was a German Jew born in Breslau, now Wroclaw, who was trained in philosophy, medicine and sociology. He was the standard bearer for a figurationist approach to the so-called civilizing process, which, as he saw it, brought pacification, detachment, and self-control throughout societies. By contrast, André Breton (1896 – 1966) was a French poet and novelist, and a leading promoter of the surrealist movement. He was committed to bringing the creative influence of cultural shock, disruption and disorientation to bear on European society and beyond. What did they have in common?¹ One standard surrealist ploy was to engineer unexpected juxtapositions such as a lobster and a telephone. This created hybrid phenomena whose elements were drawn from mutually incompatible contexts, disrupting normal expectations. The intention was to trigger the following sequence: hybridity→shock→increased creativity. Ironically, as a German Jew in a society ridden with anti-Semitism, Elias belonged by birth to a culturally hybrid category that seriously disrupted the composure of many fellow citizens. The outcome under the Nazis is well known. Breslau’s particular geopolitical situation within Central Europe intensified the disruptive character of German Jewish hybridity after 1918. Before 1914 Breslau’s middle-class Jews exercised considerable political and economic power within the city. As Til van Rahden points out, the Jews lost much of this power after 1918.² By that time, the frontier’s westward shift had made Breslau appear the bastion of Germanic influence in the East, one whose social stability was disrupted by two factors: the arrival of refugees from Polish Upper Silesia,
For further details on the lives and works of Elias and Breton see, for example, on Elias: Dunning and Hughes: Norbert Elias; Elias: Reflections; Elias: Interviews; Mennell, Norbert Elias; Smith, Norbert Elias; Smith, Court Society; Hackenschmidt: The Torch Bearer; Trom: Elias sur l’antisémitisme; Radostina: Soziologie und Lebensstil; and Chancer and Andrews: The Unhappy Divorce. On Breton see, for example: Breton: Manifestoes; Breton: Conversations; Polizzitti: Revolution; Rosemont: Jacques Vaché; Sanouillet: Dada in Paris; Haan et al.: Neurology and Surrealism. Van Rahden: Jew and Other Germans, p. 232. https://doi.org/10.1515/9783110536003-012
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and the influx of violent anti-Semitic paramilitary organizations such as the Freikorps. In Breslau, as elsewhere, the political shock generated by right-wing revulsion against Jewish hybridity was reflected back upon the Jews themselves in an intense form. Elias suffered his own most profound moment of shock in the early 1940s when he realised his mother was destined for death in Auschwitz. In this case the sequence hybridity→shock did not trigger creativity. On the contrary, beginning in the early 1940s Elias suffered a writer’s block that lasted till the early 1960s. Like a watercolour painting in process, the two figures of Elias and Breton wash into each other. Both belonged to degenerate categories in Nazi eyes. Hitler and Goebbels surely saw surrealism as an unwanted potential rival to their own mission of luring the German population into an irrational dream world. The Nuremberg rallies were theatrical events designed to make the audience as disoriented as Dorothy in a Kansas cyclone. In that condition, they were transported to a land of Oz where their conceptual universe was reconfigured, and the unbelievable made to seem inevitable. It worked. The audience “subconsciously surrendered themselves en masse to the high drama and mystical euphoria of the moment”, dazzled by “[…] the visually exhilarating effects of massed blocks of uniformed marching men and women, phalanxes of flags and standards, and the surreal effects cast by thousands of flickering torches”³ . This was surrealism plus son et lumière given massive traction and penetrative power by modern technology and highly effective bureaucracy. The rallies always ended with Hitler’s speech, made to a mass that had been well cooked, so to speak, by the preceding visual and sonic effects, relentlessly applied. Elias once attended a big Nazi rally in disguise, wearing an upper-class Aryan monocle. This paper has two objectives. One is to bring to the surface a fascinating pattern of convergences, complementarities and conflicts between the writings of Elias and Breton, especially during the 1920s and 1930s. The other objective is to explore two potentially connected facts. The first is that in the first volume of The Civilizing Process Elias quoted some very shocking passages taken from medieval and early modern manners books. They contained explicit sexual and scatological material relating to bodily functions in the lavatory, bathroom and bedchamber⁴. To respectable eyes and ears, many of these passages were indelicate, improper or indecent. Even today, they are a sure-fire way of engaging
Hargen and Ostergren: Spectacle, p. 161. Elias: Civilizing Process, pp. 68 – 156.
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the attention of a fractious first-year college class and persuading them that sociology is worth looking into. The second fact is that Elias wrote this volume shortly after his stay in Paris between 1933 and 1935. Could the tone and content of these distinctive passages be explained, in part at least, by Elias’s likely exposure to surrealist cultural influence in France during the early 1930s and, even before that, in Germany? In other words, did French surrealism make any contribution to Elias’s analysis of the civilizing process, including his representation of some of its more shocking aspects? The young Elias and the young Breton both thought conventional, inter-war bourgeois European society aspired to an oppressive ideal: a life that was conformist, hierarchical, orderly, and dull. Elias saw that Germany was under-performing against this intolerable standard because of the progressive breakdown of society under the Weimar regime. This created zones of freedom, but also brought the threat of anarchy. By contrast, France was over-performing. Breton experienced French society as a pressure cooker, relentlessly imposing conventional thought and behaviour, imposing mass boredom upon the populace. Elias and Breton each plotted ways out of their frustrating situation. Elias discerned the possibility of equalizing shifts within the civilizing process. In his view, established groups, i. e. advantaged insiders, and relatively disadvantaged outsider groups were likely to undergo mutual convergence in their values and practices as they became more interdependent and integrated. This would open up opportunities for individuals from outsider backgrounds to improve their relative situation, approaching equality with their established superiors. By implication, greater equality combined with increased social diversity might permit more relaxed attitudes towards personal conduct and a reduction of harmful repression. This sequence was not guaranteed to happen but a combination of verifying historical evidence and optimism about the future gave Elias hope. He thought socio-historical processes in French society were highly favourable and well worth investigating. The Court Society and The Civilizing Process were a result of this approach, embodied in historical research and sociological analysis. The first book was completed in 1933, the second between 1936 and 1939. Between those dates, as noted, Elias lived in Paris. Breton was more direct. He wanted to make dramatic interventions to stimulate transformations of attitude and behaviour. While Elias looked enviously from Germany towards ‘civilized’ France, Breton gazed from his boyhood home in suburban Paris towards Berlin and Zurich during and after World War One. That was where the Dadaist movement initially born in New York en-
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gaged in an inventive cultural blitzkrieg, shocking the bourgeoisie through their lightning strikes in theatres, streets and restaurants.⁵ The surrealist movement borrowed from Dada but its intentions were less destructive. The surrealists hoped that dreams and reveries evoked by cultural shock would release imaginative resources previously buried inside the unconscious. These new intuitions would provide a treasure trove of surreal experiences, widening the range of options available for creative personal experiment and social action. This was the ambition of the French surrealist movement that Breton established in Paris during the mid 1920s. During the war Breton, who had studied medicine, spent time in Nantes working on hospital wards treating soldiers from the front line with ‘shellshock.’ Breton was amazed by the fantastic accounts these men gave of their experiences. To him, it was excellent poetry, far better than he could produce. At Nantes Breton read Freud’s writings. In 1917, he was for a while a pupil of Joseph Babinski, the neurologist trained by Jean-Martin Charcot, who also taught Sigmund Freud and William James.⁶ Compare Elias, in uniform on the other side of the lines. He had a nervous breakdown apparently due to shell shock in 1917 and was sent back to Breslau, first as a patient, later helping on the hospital wards. Elias went on to study medicine and philosophy at Breslau University. Like Breton, Elias was deeply impressed by Freud’s work on human affects and drives.
2 Between Freud, Marx and Weber Freud’s book Civilization and its Discontents (1930) pointed to an issue that preoccupied both Elias and Breton. However, during the 1920s and 1930s the strong magnetic pull exerted on both writers by Freud’s work was balanced by other influences: in Breton’s case, Karl Marx; in Elias’s case, Max Weber. By 1924 Breton had decided to merge poetry with science in surrealism. Language was the principal avenue and the main instrument for surrealist exploration, as Breton saw it. For six months in 1924, his Bureau of Surrealist Research invited members of the public to provide reports of “the mind’s unconscious activity”⁷. He also published a journal, La Revolution Surréaliste (1924– 1929), ini-
On Dada see Polizzotti: Revolution, pp. 102– 150; Sanouillet: Dada in Paris; Soupault: Lost Profiles. See Haan, Koehler, and Bogousslavsky. Neurology and Surrealism. Quoted in Polizzotti: Revolution of the Mind, p. 196.
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tially a popular science magazine but later increasingly political, committing the surrealists to work for the coming proletarian revolution. For half a decade, Breton tried to drill through the protective walls of the unconscious by harnessing together two tools: sophisticated language skills and rather amateurish science. By the late 1920s, that brace of tools had not delivered the promised rewards. Breton had tried to win Freud’s acknowledgement and support but without success. Furthermore, the reign of the word, Breton’s forte, within French surrealism was being challenged by the increased prominence of surrealist painting, surrealist sculpture, surrealist photography and surrealist film. Hitler’s rise divided the French surrealists. Breton sashayed leftwards towards Stalin but could not abide the discipline French communists wanted to impose upon him. Others drifted to the right, including Salvador Dalí. In February 1934, Dalí was summoned to Breton’s apartment to defend himself before fellow surrealists against the charge of having fascist tendencies. Dalí emerged unscathed and soon established a competing power base within surrealism, branding his own name and style upon it. In response, Breton teamed up with Trotsky in Mexico. Together they drew up a Manifesto for an Independent Revolutionary Art, arguing that complete freedom for creative artists was inseparable from the mission of emancipating the proletariat. But Trotsky was dead by August 1940. A year later, Breton was exiled in the United States where Dalí reigned.⁸ Let us catch Breton before the fall, in the years of his pomp during the early 1930s. The surrealists met regularly in the Cyrano de Bergerac café in the Place Blanche, Montmartre. The Cyrano was next to the Moulin Rouge and a few minutes from André Breton’s apartment at Rue Fontaine. Breton would meet his surrealist colleagues at the café on most nights. They were overwhelmingly men, and by the early 1930s they included not just avant-garde poets and painters but also filmmakers, photographers, sculptors and other cultural adventurers. Meetings at the café took place between six-thirty and seven-thirty. Breton presided, taking the lead in conversation, setting the tone, and deciding what they would drink. In due course, everyone would then go for an inexpensive dinner somewhere close by then stroll back to Breton’s apartment where various surrealist games and experiments were conducted in a rather serious spirit. Dreams were described, dislocating conjunctions of phenomena were conjured up, and, sometimes, rapid passages of automatic writing were attempted. Finally, Breton and his wife would retire to bed while the others retired to the local bars.
On Breton, Dalí and Trotsky see Polizzotti: Revolution, pp. 352– 359, pp. 409 – 419.
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These occasions had a competitive spirit. The men around Breton were like courtiers attending a monarch who sat in judgment over them, raising one, expelling another. Breton’s word was law. One-time close allies like Antonin Artaud and Louis Aragon, later head of the French Communist Party, were forced out of the group at Breton’s insistence. Meanwhile, new people came in, for a while at least, such as Salvador Dalí and Alberto Giacometti. Where was Norbert Elias during the early 1930s? Quite often at the Café Laumer on the Escher Landstrasse in Frankfurt’s university district with its narrow streets and pleasant suburban villas. Students, teachers, artists and journalists from many places and backgrounds spent time there. The table talk was intense and left-inclined but relatively undogmatic. This was where Karl Mannheim would often bring his students. In the gathering, they might find Max Horkheimer or Theodor Adorno. Also, of course, Norbert Elias, Mannheim’s assistant and official key-holder for the so-called ‘Marxburg’, a building that contained both the sociology department and the Institute for Social Research. Elias would be in his element: playing a vital role, liked by the students, accepted by his colleagues, deeply engaged in his research on court society, well en route for his habilitation degree and, even, perhaps, in line for a solid and secure university post. Ilse Seglow, later a leading psychotherapist, remembered the congenial atmosphere of those days: “there was little formality […] we had the coffee-house, mixed company, University staff and students sitting talking together on an equal footing”.⁹ So, two cafés with two figurations. In Paris, Breton had a quasi-monarchical role. He was surrealism’s Louis XIV. Elias in Frankfurt had a different position. He was an academic Figaro, the factotum that made things work. He knew where the keys were kept. He was able to keep his own counsel. He was no one’s master but also no one’s servant. At that time, Elias was working on his Habilitationsschrift, later published as The Court Society. During the mid-1920s Elias broke free from the neo-Kantian philosophy prevalent at Heidelberg, which had greatly influenced Max Weber. He was more comfortable with Karl Mannheim’s approach to knowledge as a socio-cultural product shaped by power structures and historical experience. However, Weber’s brother and widow were powerful figures in his professional formation and in the early 1930s Elias presented his work on the French court as an attempt “to test the correctness” of Max Weber’s view that “ʻLuxury’ in the sense of a rejection of the purposive-rational orientation of consumption
Seglow: Work at a Research Programme, pp. 16 – 17; see Smith: Norbert Elias, p. 9.
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is, to the feudal ruling class, not something ‘superfluous’, but one of the means of its social self-assertion”¹⁰. Elias wanted ‘to bring the problem posed’ by Weber ‘some steps towards a conclusion’. By examining ‘the social structure of the court as a whole’ he intended to ‘make the isolated phenomenon of luxury comprehensible’ (38). En route he retained the Weberian concept of charismatic authority. At the same time, by delineating the complex functions of court etiquette (i. e. ‘use-function, prestige-function and power or state function’), he believed he had demonstrated some limitations of the Weberian ‘polarity… of purpose-rationality and value-rationality’ (85). In effect, Elias was still gradually breaking out of his Weberian shell, a process underway since the 1920s. This half-in, half-out condition gave him the freedom and confidence to produce an exhilarating text on French court society. Much of The Court Society reads like a film script, or movie ‘treatment.’ We are given vivid depictions of specific people, places and situations: visiting a typical early eighteenth century noble residence, tracking across the bustling bassecours, through the noisy kitchen, noticing the Swiss Guards. Then, a little later, up and away to Versailles itself with its grand Marble Court and massive wings, soon arriving in the King’s bedroom. We find ourselves in the midst of the levée, observing the different entrées, and the precise ceremonial, continuing till the king is finally fully dressed. This is, indeed, rather surreal: the sudden shift from the architectural panorama to the close-ups of royal nakedness, the strange combination of rigid formality and the apparently trivial activity of getting dressed, the weird mixture of closeness and distance. The presentation is peppered with frequent shifts and disruptions. We get collage and repeated interruption of the flow by snippety glimpses of scenes scattered across time and space. We come out of the space created by the book with our imaginations startled and reshaped.¹¹ The cinematic tone of The Court Society echoes some aspects of Les Mystères du Château de Dé (1929) by the surrealist photographer and director Man Ray, or Rene Claire’s Sous les Toits de Paris (1930). In some ways, Elias also anticipates the repertoire of techniques used by Orson Welles in Citizen Kane (1941). This work is celebrated for its continual shifts back and forwards in time, and the way it intersperses long tracking and panning shots with sudden switches to deliberately unsettling dramatic close-ups, homing in on mysterious objects or
Elias: The Court Society, pp. 37– 38. See also Smith: Court Society.
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curious events. In fact, rather like Elias in The Court Society. Perhaps both men had caught a whiff of the powerful surrealist breeze in the 1930s.
3 Civilizing Processes and De-civilizing Events Before turning to Elias in Bohemian Paris, let us briefly identify some specific overlaps and complementarities between Breton and Elias. On the one hand, Elias is searching for instances of civilizing processes but is aware of the constant possibility of de-civilizing processes that reverse the trend towards increased self-control, objectivity and rationality. On the other hand, Breton is hostile to the stifling character of modern urban-industrial civilization and is searching for instances of de-civilizing events that trigger strange images and subversive feelings evoking creative possibilities for individuals and whole societies. Both men rely on four active forces: excitement, shock, receptivity and discipline. But these are imagined in different ways. In The Civilizing Process Elias narrates how the excitement of feudal combat among warriors may culminate in the shock of their defeat and utter subjugation at the hands of a new royal overlord. This has the effect of increasing their receptivity to the discipline of life in the royal court, which, in turn, leads to the cultivation of a civilized habitus, hopefully balanced by opportunities for controlled release of inner tensions. Elias assumes that a breakdown of social- and self-discipline would increase the likelihood of new shocking and exciting events that would, in turn, enhance the receptivity of everyone concerned to irrational and unpredictable inclinations and emotions, producing widespread disorder and danger. For his part, Breton’s mission is not only to encourage the ‘decivilizing’ sequence just described [shock→excitement→receptivity] but also – and this is a crucial part of his vision – to harvest for revolutionary purposes the cultural gains flowing from the outburst of surrealist insights triggered by the disruption of conventional order. That meant imposing discipline on the community of surrealist visionaries as they carry out their creative tasks. Where would that discipline come from? Breton had two answers: from his personal authority as leader of the French surrealist movement; and from a close alignment with the French Communist Party. In practice, neither approach worked. In effect, the visions of Elias and Breton dovetail with each other quite closely. We might also bring in evidence two books by Breton and a paper by Elias. Consider Breton’s Communicating Vessels (1932), his guided tour of the surrealist universe as he saw it with his poetic eyes, including the realm of wakefulness and the sphere of sleep, dreaming, and the unconscious. This work was not ‘Eliasian’; it did not trace the origin and long-term development of psychological
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processes. However, Communicating Vessels demonstrated Breton’s belief that it was “necessary to take account not only of the ‘unconscious’ or the ‘conscious’ functions alone, but of the continuous circulation of impulses from one to the other.” That last quotation is taken from Elias’s The Civilizing Process ¹². However, it might equally well have been written by Breton seven years earlier in Communicating Vessels. Published four yours before that, Breton’s most famous book, Nadja (1928), depicts his youthful escapades around Paris. In one passage, Breton describes a visit to one of the movie houses then opening in Paris in old-established theatres converted to show films. The ‘disciplined’ audiences sat in silent rows.¹³ Breton describes how, with his friend he “would settle down to dinner in the orchestra of the former ‘The´atre des Folies-Dramatiques’, opening cans, slicing bread, uncorking bottles, and talking in ordinary tones, as if around a table, to the great amazement of the spectators, who dared not say a word”¹⁴. The shock of seeing something ‘out of place’ is a typical surrealist effect. This creation of a deliberately disturbing meal scenario, unexpectedly relocating an informal event (a picnic) to an incongruous place and time where formality reigns, falls into the same category as Elias’s shocking intrusions into the ‘private’ lives of our medieval and early modern ancestors. Did Elias read Nadja, the most famous book by the most famous French surrealist, during his sojourn in one of the most bohemian parts of Paris at the height of surrealist influence in France? It is not impossible. In any case, Elias’s 1935 paper entitled ‘Kitsch-style and the age of Kitsch’ displays his close familiarity with the surrealist scene. Elias conveyed the essence of Breton’s central message when he suggested that, as bourgeois societies transformed themselves, artists and public would hopefully become closer, enabling artists to express the dreams and emotions of themselves and ordinary people. In the meantime, however, Elias saw conflicts arising between conservative and progressive elements within artistic communities. This was written in the year of the split between the socialist Breton and the more right-wing Salvador Dalí.
Elias: The Civilizing Process, p. 489. See Ezra, Cinemising Process. Breton: Nadja, p. 37.
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4 Elias in Bohemian Paris When the Nazis came to power in Germany in 1933 Elias saw it was time to go. In Paris, he lived on his wits, haunting the cheapest of hotels. He got a small grant from a Dutch Jewish charity and, along with two friends, tried his hand in the toy trade. This project failed and by 1935 Elias was reduced to asking fellow customers in cafes for handouts. He was indeed down and out in Paris. However, Elias later recalled how much he enjoyed this Parisian interlude. Based in or near Montparnasse, Elias kept in contact with Gisèle Freund, the photographer whose research he had supervised in Frankfurt. Freund took Elias’s photograph in 1935. He adopted a dramatic sideways pose throwing his shadow across a wall, a style often used by photographer Man Ray, also living in Montparnasse. Did Gisèle Freund introduce Elias to Man Ray? It is almost certain that she mentioned his surrealist ideas. Freund became deeply involved with Adrienne Monnier who owned the La Maison des Amis des Livres, a famous bookshop on the rue d’Odéon, which Breton and members of his circle often visited. Monnier knew Freund well enough to arrange a marriage of convenience for her in 1935.¹⁵ The two women later moved in together. The social circles of Elias and the surrealists evidently overlapped quite closely. By 1960, a quarter of a century later, Elias was installed at Leicester University where he became involved in a major research study on the “adjustment of young workers to work situations and adult roles” Elias suggested to his fellow researchers that the transition from school to work was a “shock experience”, disrupting adolescents’ “rather unrealistic perception of the adult world and of their life in it”.¹⁶
5 Conclusion Elias had evidently brooded over the years on the part played by shock on people’s imaginations and behaviour. In 1917, the shock of battle had given him, briefly, a nervous breakdown. By the early 1930s, Elias had learned to live with threat and anxiety. He tested himself by going to a Hitler rally. He became an impresario in the field of managing minor and controlled shock effects in his texts: bringing cinematic excitement to The Court Society; and delivering a thrill On Freund, see Freund: Photography and Society. Goodwin and O’Connor: Norbert Elias’s Lost Research, p. 159.
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ing sense of transgression to the reader of volume one of The Civilizing Process. Surrealism showed the way and legitimised such practises, even though Elias did not subscribe to that movement’s subversive goals. However, in 1941, his mother’s letter, written on the way to Auschwitz delivered a shock that Elias could not easily handle. By the 1960s he had, so to speak, resurfaced. Not surprisingly, one of the first major projects he undertook at that time focused once again upon shock experiences. To conclude, Norbert Elias and André Breton came from contrasting politicocultural backgrounds in early-twentieth century Germany and France but both acknowledged and deployed the capacity of shockingly hybrid, ‘out of place’ or unexpected phenomena to disrupt and reorder people’s perceptions. Both explored patterns of interplay among excitement, shock, receptivity and discipline. Each responded to the inspiration provided by Freud and the challenge imposed by the surreal nightmare of Nazism.
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Zur Verortung von Otto Neurath im Feld der empirischen Soziologie 1 „The strongest personality“ Otto Neurath war eine facettenreiche Persönlichkeit: Wissenschaftstheoretiker und Ökonom, Soziologe und Sozialreformer, Volksbildner und (gemeinsam mit Gerd Arntz und Marie Reidemeister) Schöpfer der Isotype-Bildsprache, ein vielseitiger und unkonventioneller Grenzgänger zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, aber auch zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, ein energischer Vortragender und Organisator, ein Mensch von geradezu unerschöpflichem intellektuellem Potential, aber auch Lebenslust, den William M. Johnston in seiner Österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte zu den intellektuell einflussreichsten Persönlichkeiten der 1920er Jahren zählte¹ – und der doch viele Jahrzehnte lang, von verstreuten Fachdiskursen um die Geschichte des Wiener Kreises oder die Weiterentwicklung der Bildsprache abgesehen, weitgehend vernachlässigt, ja vergessen wurde. Nach Karl Popper (1973) war Neurath „the strongest personality“ des Wiener Kreises², jenes philosophischen Diskussionszirkels, der sich anfänglich, ab 1907, in eher losen Zusammenhängen traf und nach 1924, auf Initiative von Otto Neurath, dem Philosophen Moritz Schlick und dem Mathematiker Hans Hahn, eine wissenschaftstheoretische Bewegung bildete, deren Ziel es war, den logischen Empirismus als nach-metaphysische, d. h. als der Welt zugewandte und der Lösung echter Probleme dienende „Wissenschaftliche Weltauffassung“ zu begründen und zu propagieren. Der Kreis hatte große Anziehungskraft auf junge Intellektuelle und WissenschaftlerInnen. Zu ihm zählten Personen wie der Philosoph Rudolf Carnap, die Mathematiker Ernst Menger und Kurt Gödel oder der Soziologe Edgar Zilsel. Ludwig Wittgenstein oder Karl Popper bewegten sich in seinem Umfeld, das zugleich mit anderen bedeutsamen intellektuellen Strömungen und Milieus dieser Zeit wie der reinen Rechtslehre (Hans Kelsen), der Nationalökonomie (Schumpeter, Polanyi) oder der Psychoanalyse in Austausch stand. Neurath, von dem der Name Wiener Kreis stammte, war zu dieser Zeit ohne akademische Position (diese erlangte er erst im englischen Exil). Aber er war (seit 1920) Vorsitzender des Siedlerverbandes und
Johnston: Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Popper: Memories of Otto Neurath. https://doi.org/10.1515/9783110536003-013
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Begründer des Museums für Siedlung und Städtebau (1923), das 1925 erweitert und zum Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum umbenannt wurde, wo in den Jahren danach die Isotype-Bildsprache entwickelt werden sollte, die schließlich Weltgeltung erlangen sollte und heute in Form von Leitsystemen und Piktogrammen veralltäglicht ist. „Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf“, formuliert Neurath in dem gemeinsam mit Carnap und Hahn verfassten programmatischen Manifest Wissenschaftliche Weltauffassung. ³ Unmittelbar davor heißt es: „Wir erleben, wie die wissenschaftliche Weltauffassung in steigendem Maße die Formen persönlichen und öffentlichen Lebens, des Unterrichts, der Erziehung, der Baukunst durchdringt, die Gestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens nach rationalen Grundsätzen leiten hilft“.⁴ Wie kein anderes Mitglied des Wiener Kreises hat Neurath dieses Prinzip auf sich selbst und das eigene Leben angewandt: als eine rationale Form der Lebensführung, in der auch das geistige Leben, das Denken und Schreiben, als Teil einer ganzheitlichen sozialen Praxis zu verstehen ist, d. h. nicht nur gesellschaftlich definiert ist, sondern auch in die Gesellschaft interveniert und mit allen anderen Bereichen des Lebens verwoben ist.
2 Otto Neurath und das soziale Feld der Sozialwissenschaften Es war wohl nicht der Marxismus allein, der, wie Kurt Rudolf Fischer meinte, Neurath zum Verhängnis wurde.⁵ Begreifen wir mit Michel de Certeau das Schreiben der Geschichte als die Herstellung einer „Beziehung zwischen einem Ort (einer Rekrutierung, einem Milieu, einem Beruf etc.), analytischen Verfahren (einer Disziplin) und der Konstruktion eines Textes (einer Literatur)“⁶, dann rücken die Besonderheiten eines Wissenschaftsfeldes in den Mittelpunkt, in der sich der Grenzgänger Neurath am ehesten der neu aufstrebenden Disziplin der Soziologie mit ihrem streng empirischen und nach-metaphysischen Selbstverständnis zugeordnet fühlte. In Wien hatte die Soziologie gegen Ende wie auch im Nachhall des überaus regen Geisteslebens der multikulturellen Metropole des Habsburgerreichs ein frühes und vielstimmiges Aufblühen erlebt mit einer dich-
Verein Ernst Mach (Hrsg.): Wissenschaftliche Weltauffassung, S. 27. Ebenda, S. 27. Kurt Rudolf Fischer: Analytische Philosophie und Marxismus. Der Fall Otto Neurath. – In: Stadler (Hrsg.): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit, S. 88 – 93, hier S. 89. De Certeau: L’Ecriture de l’Histoire, S. 72.
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ten Selbstorganisation in Form von Vereinsgründungen, Diskussionszirkeln, Studiengruppen und Innovationen in der Theorie- und Methodenentwicklung, bei gleichzeitig nur partieller und unvollständiger Etablierung an den Universitäten.⁷ Wien hatte seine zentrale Rolle als kulturelles Zentrum daraus bezogen, dass entscheidende Impulse aus den Rändern Mitteleuropas kamen, oftmals von Angehörigen kultureller Minderheiten, die in der Metropole die Chance auf Emanzipation und Befreiung suchten und so zu Erneuerern wurden. Aber es waren ungleiche und konkurrierende Stränge, in Bezug auf ihren epistemologischen und theoretischen Hintergrund, ihre Methoden, ihre Forschungsagenden und Publikationsorgane, welche diesen Erfahrungszusammenhang prägten. Ganz besonders unversöhnlich war der Gegensatz zwischen einer katholisch bis faschistisch geprägten sozialphilosophischen Gesellschaftslehre einerseits, die an der Universität verankert war, mit dem Kreis um Othmar Spann als Referenz, und einer dem Empirismus verpflichteten Soziologie andererseits, zu deren wissenschaftstheoretischer Begründung Neurath maßgeblich beisteuerte. Die neue, innovative Methoden der empirischen Sozialforschung entwickelnde und anwendende Soziologie war überwiegend außeruniversitär, marxistisch, jüdisch und weiblich – hier wären etwa Käthe Leichter, Marie Jahoda, Lotte Schenk-Danzinger oder Else Frenkel-Brunswik zu nennen – und wurde als solche auch von den Universitäten verbannt.⁸ Diese „multiple, intersektionale Marginalisierung“⁹, mit der die empirische Soziologie in Wien von Anfang an konfrontiert war, kann als eines ihrer konstitutiven Merkmale angesehen werden. Erst im Exil konnte diese Randposition aufgebrochen und überwunden werden. Wie Paul Lazarsfeld in einem Rückblick auf jene Zeit formuliert, war es freilich gerade diese Erfahrung der Marginalisierung, die Innovationen ermöglichte: Bei den Institutionenbildnern handelt es sich um einen Sonderfall einer wohlbekannten soziologischen Erscheinung: der randständigen Person, die Teil zweier verschiedener Kulturen ist. Sie lebt unter gegenläufigen Einflüssen, die sie in verschiedene Richtungen drängen. Je nach Begabungen und den äußeren Umständen wird aus ihr vielleicht ein Revolutionär, ein Surrealist, ein Verbrecher. In einigen Fällen verwandelt sich die Marginalität möglicherweise in die Antriebskraft für die Bildung von Institutionen.¹⁰
Lazarsfelds Beschreibung des marginal man als einem aus einem Zwischenraum heraus agierenden Neuerer und Institutionenbildner ist in ganz besonderer Weise Norden, Reinprecht, Froschauer: Frühe Reife, späte Etablierung. Zur Universität Wien als Hochburg des Antisemitismus siehe Taschwer: Hochburg des Antisemitismus. Kranebitter, Reinprecht: Editorial: Marxism Underground. Lazarsfeld: Eine Episode in der Geschichte der empirischen Sozialforschung, S. 177.
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für Otto Neurath zutreffend. Neurath, der 1882 in Wien in eine bürgerliche, säkularjüdische Familie hineingeboren wurde, entwickelte nach Beendigung seines Studiums der Mathematik und Physik in Wien und der Ökonomie, Geschichte und Philosophie in Berlin, wo er 1906 mit einer Arbeit über antikes Wirtschaftsdenken mit Auszeichnung promovierte, eine überaus bunte, ereignisreiche berufliche und persönliche Lebensgeschichte, in der in un- wie außergewöhnlicher Weise die Lust an theoretisch-wissenschaftlicher Kontroverse mit einer Leidenschaft für praktische Anwendung und innovative Problemlösung gepaart war. In einer berühmten Passage der Wissenschaftlichen Weltauffassung heißt es dazu: Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt keine unlösbaren Rätsel. Die Klärung der traditionellen philosophischen Probleme führt dazu, dass sie teils als Scheinprobleme entlarvt werden, teils in empirische Probleme umgewandelt und damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft unterstellt werden.¹¹
In einer gesellschaftspolitischen Auslegung des Postulats, wonach alles, was nicht als empirische Fragen formuliert werden kann, ein Scheinproblem darstellt, womit freilich die Philosophie ihren Gegenstand verliert, entwickelte sich Neuraths Weg im Feld der Soziologie als konsequente Verschränkung von wissenschaftstheoretischem Engagement und gesellschaftspolitischem bzw. sozialreformerischem Gestaltungsinteresse. Nach seiner Rückkehr aus Berlin nimmt Neurath 1907 eine Stelle an der Neuen Wiener Handelsakademie an, wo er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Politische Ökonomie unterrichtet. Gleichzeitig nimmt er aktiv an den Zusammenkünften des ersten Wiener Kreises teil und begründet – gestützt auch auf Material zu den Kriegen am Balkan, den er als Stipendiat der CarnegieStiftung wiederholt bereiste – die Kriegswirtschaftslehre als Teilgebiet der Nationalökonomie. Aufgrund dieser Expertise wird Neurath 1916 ins wissenschaftliche Komitee für Kriegswirtschaft im k.u.k. Kriegsministerium berufen, während in Leipzig mit der Einrichtung eines Kriegswirtschaftsmuseums begonnen wurde, das Neurath 1918 zuerst als Ausstellungsleiter, dann als Direktor übernahm und nach dem Kriegsende in ein Wirtschaftsmuseum umwandelte. In der Zwischenzeit hatte sich Neurath 1917 in Heidelberg in Politischer Ökonomie habilitiert, und zwar ebenfalls mit einer Arbeit zur Kriegswirtschaftslehre. Als der Zentralrat der bayrischen Republik im April 1919 die Räterepublik ausruft, wird er zum Präsidenten des Zentralwirtschaftsamtes bestellt. Neurath hatte die Einrichtung dieses Amtes der Räteregierung empfohlen, und er nutzte seine Funktion, um seine Vorstellungen einer „Vollsozialisierung“ im Sinne einer gemeinwirtschaftlichen Organisation aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche in die Tat umzuset Verein Ernst Mach (Hrsg.): Wissenschaftliche Weltauffassung, S. 12.
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zen. Nach der Niederschlagung der Räterepublik wird Neurath wegen Beihilfe zum Hochverrat verhaftet, verurteilt und eingesperrt, aber nach Interventionen des damaligen Staatskanzlers Karl Renner und Außenministers Otto Bauer nach vierzig Tagen Haft freigelassen und – bei Verlust der Privatdozentur in Heidelberg sowie belegt mit einem Aufenthaltsverbot für Deutschland – nach Österreich abgeschoben.
3 Angewandte Soziologie Was als Kriegswirtschaftslehre und nach dem Kriegsende als Sozialisierungstheorie tituliert war, war freilich angewandte Soziologie. Neurath interessierte sich für die soziologische Funktion alternativer Wirtschaftssysteme und arbeitete an einem Gegenentwurf zum kapitalistischen Wirtschaftsbegriff. In der von Neurath entwickelten Konzeption von Naturalwirtschaft („geldlose Wirtschaft“) und Naturalrechnung bilden moderne sozialwissenschaftliche Methoden (insbesondere Statistik) die methodisch angemessenen Mittel für die rationale Organisation und Planung der gesellschaftlichen Entwicklung. Ein zentraler Ausgangspunkt war die Kritik an der Geldrechnung als einem unzulässigen Maß zur Abbildung der Reichtumsverhältnisse. In seiner 1910 erschienenen Schrift Zur Theorie der Sozialwissenschaften heißt es: „Will man jedoch den Zustand eines Menschen charakterisieren, so muss man die Güter und die Übel nebeneinander nennen“.¹² Als Maß zur Bewertung gesellschaftlichen Wohlergehens gelten nicht Unternehmenserfolg oder ein abstrakter gesellschaftlicher Reichtum, sondern die konkrete Lebenslage der Menschen, als „Inbegriff all der Umstände, die unmittelbar die Verhaltungsweise eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen“.¹³ Neurath formuliert in dieser frühen Schrift erstmals systematisch Grundlagen einer soziologischen Lebenslagenforschung aus und gilt daher zurecht als Pionier heutiger Lebensqualitäts- und Glücksforschung. Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage, auch die Menge der Malariakeime, die bedrohlich wirken. Sie ist die Bedingung jenes Verhaltens, das wir als Lebensstimmung kennzeichnen. Wir sprechen von einer schlechteren Lebenslage, wenn die Stimmung eines Menschen durch solche Lebenslage im allgemeinen herabgedrückt wird. Das setzt freilich voraus, dass man Lebensstimmungen in eine Reihe bringen kann, dass man von mehr oder
Neurath: Zur Theorie der Sozialwissenschaften – Gesammelte philosophische und methodologische Schriften Bd. 1, S. 39. Neurath: Empirische Soziologie, S. 212.
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minder glücklichem Ausdruck eines Menschen zu sprechen sich getraut, dass man sogar die Verhaltungsweisen zweier Menschen in diesem Sinne zu vergleichen wagt.¹⁴
In seinem Artikel „Die Entstehung der Soziologie in Österreich 1885 – 1935“ schreibt John Torrance: „Nirgendwo anders nämlich entwickelte sich die soziologische Perspektive so ausschließlich unter der Ägide des Marxismus […], und nirgendwo sonst wurde der Marxismus derart konsistent als Soziologie interpretiert“.¹⁵ Nach Torrance war dafür nicht zuletzt die zutiefst konservative, antidemokratische und anti-modernistische Haltung der bürgerlichen Klasse ausschlaggebend, die – „mentalitätsmäßig vom Sieg der Gegenreformation gezeichnet“¹⁶ – statt die Entstehung postmetaphysischer, also empirischer Sozialwissenschaften zu unterstützen, in einer Position des Widerstands gegen soziologische Neuerungen und deren Bekämpfung verharrte, während der Austromarxismus einen hervorragenden Anhaltspunkt für ein Verständnis von Wissenschaft als soziale Praxis bot.¹⁷ Die empirische Soziologie sollte über die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur aufklären, sondern zugleich zu einer Verbesserung der Lebenslagen, ja zur Überwindung der herrschenden Ungerechtigkeitsordnung beitragen. Auch Neurath verstand sich als Marxist, wenn auch keineswegs dogmatisch. Er plädierte für „eine Soziologie auf materialistischer Basis“, da nur diese „anderen Realwissenschaften ebenbürtig“ sei.¹⁸ Ganz im Sinne der positivistischen Perspektive der „wissenschaftlichen Weltauffassung“, aber auch unter Einfluss der zu seiner Zeit noch hegemonialen Planungsund Gestaltungsutopien vertrat Neurath einen „soziologischen Physikalismus“, womit nicht gemeint war, dass soziale Phänomene ihrer Natur nach physikalischen Phänomenen ähneln, sondern dass soziale Phänomene raum-zeitlich verortete Gebilde darstellen, die, wie Neurath darüber hinaus betont, „als Produkt ihres Zeitalters auch Mitbedingungen sind für das was ausgesagt wird“.¹⁹
Ebenda, S. 212. Torrance: Die Entstehung der Soziologie in Österreich, S. 452. Langer: Allgemeine gesellschaftliche Hintergründe für die Entwicklung der Soziologie in Österreich, S. 20. Was nicht bedeutet, dass alle Soziologie in Österreich marxistisch war. So kamen wichtige Beiträge von Wissenschaftlern aus geographischen und sozialen Randgebieten, etwa Gumplowicz und seine Soziologie der Rassenbeziehungen, Eugen Ehrlichs Soziologie des Rechts, Gustav Ratzenhofers Soziologie des Gruppenkonflikts; zu erwähnen sind aber auch sozialreformerische Ansätze in der katholischen Tradition wie bei Ernst Karl Winter oder Proponenten des liberalen Lagers wie Alfred Schütz. Neurath: Empirische Soziologie, S. 224. Ebenda, S. 218.
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Ähnlichkeiten mit den Überlegungen von Pierre Bourdieu sind auch in dieser Hinsicht nicht von der Hand zu weisen.²⁰ Neuraths Soziologie ist konsequent und radikal anti-subjektiv und schließt alle inneren, psychologischen Elemente wie Motive, Absichten, Bedeutungen oder Emotionen aus, um soziales Handeln zu erklären. Gegenstand der soziologischen Untersuchung sind stattdessen die Gewohnheiten (in der Terminologie der aktuellen Soziologie „soziale Praktiken“), die von Gruppen geteilt werden und sich im Laufe der Zeit verändern. Individuelle und kollektive Handlungen können nicht aus den Motiven und Sinnleistungen der handelnden Akteure, sondern müssen aus Situationen, z. B. den konkreten Klassenverhältnissen, abgeleitet werden. Der Gesellschaftsbegriff bezieht sich insofern auf eine raum-zeitlich gegebene Konstellation gruppenbezogener Praktiken (Neurath verwendet den Begriff „Lebensordnung“), und die Aufgabe der empirischen Soziologie besteht darin, diese Konstellation als Beziehungszusammenhang zwischen Gruppen zu entdecken, indem sie ihre Praktiken vergleicht (die empirisch durch ihre konkreten Manifestationen beobachtet werden müssen), um Schlussfolgerungen in Bezug auf die Zukunft zu ziehen. Dies ist zweifellos ein deterministisches und marxistisch inspiriertes Programm. Und die Funktion der Soziologie ist die einer Gesellschaftstechnik, die dazu beitragen wird, Zusammenhänge wissenschaftlich festzustellen und zu prognostizieren. „Am weitesten kommen wir mit Prognosen“, schlussfolgert Neurath, „die sich auf Organisation, Produktionsverhältnisse, Klassen und ähnliches beziehen“.²¹ Die Aussagekraft der Prognosen ist allerdings in mehrfacher Weise eingeschränkt, unter anderem weil jede wissenschaftliche Untersuchung raum-zeitlich gebunden ist, d. h. nicht auf abstrakten theoretischen Überlegungen aufbaut, sondern auf einem bestimmten Kenntnisstand beruht, so wie auch der Soziologe bzw. die Soziologin Teil der Lebensordnung ist, die er bzw. sie untersucht. Auch verfährt jede Untersuchung notwendigerweise selektiv, da aus der Vielzahl möglicher Zusammenhänge, die empirisch zu überprüfen sind, aus pragmatischen Gründen immer nur einige wenige ausgewählt werden können. Will man sich ausmalen, was alles für Veränderungen eintreten können, so muß man von der jetzigen Einstellung ausgehen. Es kann aber sein, daß die Zukunft durch Menschen anderer Gewohnheiten, anderer Blickpunkte bestimmt wird, deren man sich vorausschauend meist erst dann bemächtigen kann, sobald sie in erheblichem Ausmaß bereits vorliegen.²²
Balog: Neurath als systematischer Soziologe. Neurath: Empirische Soziologie, S. 224. Ebenda, S. 217.
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Der vielfach zitierte Satz: „Die Solidarität des Schicksals führt zur Solidarität des Verhaltens, führt zur Pflege wissenschaftlicher Soziologie, die den Massen sagt, was ihnen die Zukunft bringt“²³ suggeriert eine Präferenz für eine „soziale Physik“, der Neurath allerdings selbst mit viel Skepsis gegenübersteht. Neurath vertritt eine radikal anti-metaphysische und fallabilistische Position, Offenheit gegenüber Irrtümern und unerwarteten Ergebnissen und das Fehlen von Letztbegründungen sind für ihn genuine Merkmale empirischen Forschens, ob in den Naturwissenschaften oder der Soziologie. Die Soziologie kann durch die Art der Fragestellung die Chancen zuverlässiger Prognose erhöhen, und sie wird dann erfolgreicher sein, wenn sie nicht individuelle, sondern kollektive, aggregierte Phänomene (Lebensordnungen, soziale Gebilde, Gewohnheiten) zum Gegenstand der Untersuchung macht; aber ihre Vorhersagen werden auch dann fehleranfällig bleiben.
4 Stadt, Wohnen, Bildung 1920 schrieb Otto Neurath: „Heute, da der Sozialismus vor der Tür steht, ist es von größter Wichtigkeit zu wissen, wie die neue Lebensordnung aussieht, die man verwirklichen will“.²⁴ In „Lebensgestaltung und Klassenkampf“ (1928) aber heißt es: „Es ist heute schwer möglich, sich eine Vorstellung von Gemeinschaftsleben der Zukunft zu machen“.²⁵ Was war in diesen acht Jahren geschehen? Nach der Rückkehr aus München sollte für Neurath eine Periode intensiver Auseinandersetzung mit den Themen Wohnen und Stadtplanung beginnen. Bereits 1917 war Neuraths Aufsatz „Das umgekehrte Taylorsystem“ erschienen, in welchem er ein Konzept neuer Organisations- und Lebensformen vorstellte, das sich, auf hohe Funktionalität zielend, an industrielle, technische Produktionsweisen anlehnen, und aus einer Kombination aus zentralisierten top down und emanzipierenden bottom-up Strategien zusammengesetzt sein sollte.²⁶ Die „wilden SiedlerInnen“, die am Stadtrand Wiens aus ihren Notlagen heraus – provisorisch und mit allem was sie finden konnten – kleine Hütten und Gärten errichteten, inspirierten Neurath zur Ausarbeitung städte- und wohnbaulicher Konzepte auf gemeinwirtschaftlicher Grundlage. 1920 wurde unter seiner Mitwirkung das Forschungsinstitut für Gemeinwirtschaft ins Leben gerufen, an dem unter anderen die Sozio Ebenda, S. 222. Neurath: Wirtschaftsplan, Planwirtschaft, Landesverfassung und Völkerordnung, S. 224. Neurath: Lebensgestaltung und Klassenkampf – Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. 1., S. 227– 293, hier S. 242. Neurath: Das umgekehrte Taylorsystem.
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login Käthe Pick (spätere Leichter) und der Soziologe Rudolf Goldscheid wirkten, und er übernahm eine führende Rolle in der SiedlerInnenbewegung. Neuraths organisatorische Leistung bestand aus der Zusammenführung all der Vereine und Gruppen unter einen Dachverband, den Österreichischen Verband für Siedlungsund Kleingartenwesen (ÖVSK), dem Neurath ab 1920 als Generalsekretär diente. Konzeptuell definierte er drei Säulen der gemeinwirtschaftlichen Idee für das Siedlungswesen, nämlich die Prinzipien des geteilten Besitzes, der gemeinsamen Infrastruktur, sowie der unentgeltlichen Arbeitsleistungen der SiedlerInnen beim Erbauen der Siedlungen. Die Umsetzung sollte in den Händen von Gilden liegen, einem Zusammenschluss der Werktätigen unter Gesichtspunkten von Selbstverwaltung und Selbstorganisation. Neurath greift hier die damals im angelsächsischen Raum stark rezipierten Ideen des Gildensozialismus auf, die auch im Austromarxismus eine gewisse Resonanz hatten. Zur Unterstützung der SiedlerInnenbewegung im Sinne einer organisierten Selbsthilfe wurden Bildungsangebote gesetzt, in der 1921 ins Leben gerufenen Siedlerschule arbeitete Neurath eng mit Persönlichkeiten wie Margarethe Schütte-Lihotzky, Adolf Loos und Josef Frank zusammen.²⁷ Inhaltlich orientierte sich Neurath an Vorstellungen des Gemeinschaftslebens: Im Gegensatz zur vereinzelten Lebensweise des Bürgertums mit ihrem „Streben nach Besonderung“, ist „nicht ein einzelnes Haus [ist] Gegenstand der Gestaltung, sondern die Häusergesamtheit. Das einzelne Haus ist wie ein Ziegel in einem Gebäude. Eine neue Gemeinschaft entsteht hier aus der Klassensolidarität der Arbeitermassen heraus.“²⁸ Neurath, der, konträr etwa zur Auffassung von Max Adler²⁹, wonach die „Bewusstseinsarbeit“ und damit die Frage, „welchen Geistes und Willens das Proletariat ist“³⁰, der entscheidende Faktor sei, die These vertrat, dass sich Menschen stets kongruent zu den gesellschaftlichen Bedingungen verhalten, sie sich also quasi von selbst in die gesellschaftliche Entwicklung fügen, war davon überzeugt, dass „[d]ie Arbeiter- und Angestelltenschaft, gewohnt, gleiches Schicksal zu haben und für gleiches Schicksal zu kämpfen, […] ganz von selbst dazu [kommt], planmäßig und zielbewußt sich gleiches Leben zu sichern und damit die Voraussetzungen für Gemeinsamkeit zu schaffen.“³¹ Einen Höhepunkt erreichte die SiedlerInnenbewegung mit einer 1923 im Wiener Rathaus stattfindenden Ausstellung, aus der in der
Vossoughian: Otto Neurath. The Language of the Global Polis, S. 32. Neurath: Gildensozialismus, Klassenkampf, Vollsozialisierung, S. 34. Max Adler (1873 – 1937) war es 1920 als einzigem Soziologen im Umfeld des Austromarxismus gelungen, sich an der Universität Wien zu habilitieren. Sein weiterer akademischer Werdegang scheiterte jedoch am Widerstand von Othmar Spann. Adler: Praktischer und unpraktischer Klassenkampf, S. 62. Neurath: Österreichs Kleingärtner- und Siedlerorganisation, S. 34.
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Folge das sogenannte Siedlungsmuseum hervorging, das 1925 in das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums umgewandelt wurde.³² Diese Ausstellung war die größte unter einer Serie mehrerer Ausstellungen, die über die ganze Stadt verteilt, oftmals in Arbeitervierteln, gezeigt wurden. Neben Tafeln, die in Otto Neuraths Sprache der Bildstatistik Abläufe und Zusammenhänge verständlich erklären wollten, gab es im Rathaus auch lebensgroße Prototypen von Siedlungshäusern, um den zahlreich erschienenen BesucherInnen das Leben in einem Siedlungshaus näher zu bringen.³³ Diese Ausstellungen waren mit ihrem volksbildnerischen Ansatz immer auch politische Veranstaltungen, ging es hier doch auch darum, „der unterprivilegierten und proletarischen Massenbevölkerung den Zugang zu Bildung und zu zentralen demokratischen Inhalten zu ermöglichen, um eine Grundlage für die individuelle Lebensgestaltung und ein Werkzeug für die Beurteilung politischer Umstände zu geben“.³⁴ Dass nur wenige Monate nach der Ausstellung der Gemeinderat das Wiener Wohnbauprogramm beschloss, in dem der großflächigen Errichtung von Superblocks Vorrang gegeben wurde, unterstreicht erneut die Randposition Otto Neuraths: Auch im Roten Wien war Neurath Grenzüberschreiter, vor allem aber Außenseiter, wie sein Sohn Paul Neurath (1982) schreibt.³⁵ Nach der politischen Zurückweisung der großteils autonom organisierten SiedlerInnenbewegung trat Neurath 1925 von seiner Funktion zurück, ohne jedoch der „kooperativen, partizipatorischen Euphorie“³⁶ abzuschwören, die diese Bewegung von unten charakterisiert hatte. Ein letztes Zeugnis dieses Engagements bildet seine Beteiligung am „Bilston Experiment“, einem Sanierungsprojekt in der kleinen englischen Industriearbeiterstadt Bilston, wo Neurath, der seit 1940 im englischen Exil lebte, als Experte eingeladen war und die „volle Partizipation der betroffenen Bevölkerung in allen Belangen“ forderte.³⁷
5 Intellektuelle Praxis als kollektives Projekt Bereits im deutschen Kriegsmuseum in Leipzig hatte Neurath mit visueller Bildungsarbeit zu experimentieren begonnen, im 1925 gegründeten (und aus dem
Wahl: Information als Allgemeingut, S. 179. Hochhäusl: Otto Neurath – City Planning, S. 32 f. Wahl: Information als Allgemeingut, S. 179. Paul Neurath: Otto Neurath und die Soziologie. Wolfgang Hösl und Gottfried Pirhofer:. Otto Neurath und der Städtebau – In: Stadler (Hrsg.): Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit, S. 157– 161, hier S. 160. Ebenda, S. 161.
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Siedlungsmuseum hervorgegangenen) Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum wurde diese Arbeit gemeinsam mit seiner späteren Ehefrau Marie Reidemeister und dem Grafiker und Künstler Gerd Arntz systematisch weitergeführt. Mit dem volksaufklärerischen Ziel (Zugang der Arbeiterklasse zu wirtschaftlichem, sozialem und politischem Wissen) verknüpft sich ein Anspruch auf Demokratisierung des Wissens.Wie Sandner betont, lässt sich am Beispiel Neuraths der Unterschied zwischen einer Popularisierung und Humanisierung der Bildungsarbeit aufzeigen: Neurath lehnt herkömmliche Formen der Wissenschaftspopularisierung ab, da diese versucht, komplizierte Sachverhalte in eine einfache Sprache rückzuübersetzen, während es darum ginge, beim Wissensniveau und der Alltagssprache der Menschen anzusetzen. Wissensaneignung sollte auf diese Weise „vom Einfachen zum Komplizierten“ ermöglicht werden.³⁸ In allen Schaffensbereichen Otto Neuraths lassen sich Gemeinsamkeiten in der Arbeitspraxis finden, die sehr wahrscheinlich maßgeblich zu seiner hohen Produktivität beitragen konnten und die zugleich sein Verständnis des Programms der Einheitswissenschaft als kooperatives Forscherkollektiv zum Ausdruck bringen. Sowohl seine frühen Arbeiten, seine Auseinandersetzungen mit dem Siedlungs- und Städtebau, als auch die Phase der Entwicklung der wissenschaftlichen Einheitssprache und der Bildstatistik unter anderem in der Arbeit am Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum waren arbeitsteilig organisiert und auf Offenheit und Zusammenarbeit aufgebaut. Die Kooperationen waren durch eine flache Hierarchisierung gekennzeichnet, wobei als besonders bemerkenswert hervortritt, wie viel Raum und Einfluss Frauen in und auf Otto Neuraths Schaffen hatten. Hatten Frauen zur Zeit seines Wirkens durch die konstruierte Differenz der Geschlechter mit all ihren vollzogenen Konsequenzen mit einer weiteren Marginalisierungsdimension zu kämpfen, so scheint es, als wären Otto Neuraths Arbeitskontext und -praxis für Männer und Frauen gleichermaßen offen gewesen. So spielte beispielsweise die Architektin Margarethe Schütte-Lihotzky nicht nur als Freundin, sondern auch in der Siedlungsbewegung eine entscheidende Rolle für Neurath und seine Ideen und auch mit Käthe Leichter kam es auf politischer sowie auf wissenschaftlicher Ebene immer wieder zur Zusammenarbeit – beispielsweise durch die Anfertigung des statistischen Materials für einige von Leichters empirischen Studien über die Lebenssituationen der arbeitenden Frauen.³⁹ Besonders stark war der intellektuelle Einfluss auf Otto Neurath durch seine Lebensgefährtin und erste Ehefrau Anna (geborene Schapire). Sie war unter
Sandner: Otto Neurath. Siehe Hochhäusl: Otto Neurath – City Planning; Sandner: Otto Neurath; Vassoughian: The Language of the Global Polis.
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anderem vortragende und publizierende Feministin, Schriftstellerin und Sozialwissenschaftlerin und trug seit ihrem Kennenlernen 1903 an der Universität Wien entscheidend zu Otto Neuraths Politisierung bei. Schapire war fünf Jahre älter als Neurath, was Sandner und Dogramaci dadurch erklären, „dass weibliche Studierende, die vor 1900 geboren waren, im Durchschnitt älter waren als ihre Kommilitonen, da sie häufig soziale Widerstände und Bildungshürden überwinden mussten.“⁴⁰ Aus ihrer Zusammenarbeit ging auch das 1910 erschienene Lehrbuch zur Volkswirtschaftslehre hervor. Bedeutsam daran ist auch, dass dieses Lehrbuch in seiner Systematik bereits das, später in zahlreichen anderen Kontexten zum Tragen kommende, spezifische Unterrichtsverständnis von Otto Neurath spiegelte.⁴¹ Kurz nach dem frühen Tod Anna Neuraths 1911 heiratete Otto Neurath Olga Hahn, die als dritte Frau mit einer philosophischen Dissertation an der Universität Wien promoviert hatte und sich im selben intellektuellen Umfeld wie ihr Mann bewegte, an zahlreichen Diskussionsrunden teilnahm und immer wieder „unterstützend, aber auch korrigierend auf seinen Lebensweg einzuwirken“⁴² versuchte. Aus der intensiven und produktiven Kooperation zwischen der Mathematikerin Marie Reidemeister und Otto Neurath in der Entwicklung der Ausstellungen und Bildstatistiken für das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum und seine Folgeprojekte ging schließlich Otto Neuraths dritte Ehe hervor. Marie Reidemeister (spätere Neurath) war seit 1925 ständige Mitarbeiterin in Otto Neuraths Team und leitete später die „Abteilung Transformation“ im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Sie war in alle Entwicklungen und Erweiterungen des Museums und seiner verwandten Projekte – auch im Exil – eingebunden, gründete das Isotype Institut in Oxford mit und arbeitete auch nach Otto Neuraths Tod an der Weiterentwicklung der Bildstatistik.
6 Im Exil Der in diesem Beitrag unternommene Versuch einer Verortung Otto Neuraths im Feld der sich etablierenden empirischen Soziologie im Wien der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sollte zeigen, dass Neuraths erstaunliche intellektuelle Vielfältigkeit und Vitalität auch einer Randposition geschuldet war, die für seinen Werdegang, aber darüber hinaus auch für die empirische Soziologie insgesamt Dogramaci, Sandner: Rosa und Anna Schapire: eine intellektuelle Doppelbiographie. – In: Dogramaci, Sandner (Hrsg.): Rosa und Anna Schapire, S. 7– 37, hier S. 16. Siehe Sandner: Otto Neurath. sowie Sandner: Anna Schapire: ein intellektuelles Porträt. – In: Dogramaci, Sandner (Hrsg.): Rosa und Anna Schapire, S. 119 – 141. Sandner: Otto Neurath, S. 186.
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bestimmend war. Damit teilt Neurath eine Erfahrung vieler mitteleuropäischer Intellektueller, die diesem Raum ihr unangepasstes und immer wieder die Grenzen auslotendes und überschreitendes Potential verdanken, dessen destruktive Kräfte ihnen jedoch verunmöglichten, ihre Randpositionen zu überwinden. Im Unterschied zur provinziellen Beschränkung der an der Universität verankerten Gesellschaftswissenschaften entwickelte sich die empirische Soziologie von Anfang an international ausgerichtet und verschränkt. Die Isotype-Bildsprache wurde international rezipiert und im Rahmen von Ausstellungen und Kongressen ab den späten 1920er Jahren in Paris, Berlin, Dresden oder Athen eingesetzt und präsentiert. 1932 gründete Neurath in den Haag das „Mundaneum Institut“ und rief die Unity-of-Science-Bewegung ins Leben. Im Februar 1934, als der Bürgerkrieg endgültig das Ende der ersten Republik besiegelte, hielt sich Neurath im Isostat-Institut in Moskau auf. Neurath und ein Großteil des Teams emigrierten nach Holland, 1936 publizierte Neurath mit International Picture Language eine detaillierte Einführung in die Methode der Bildstatistik. Nach der Invasion der Nazi-Truppen 1940 folgte das Exil im Vereinigten Königreich, wo er 1945 überraschend starb. Die Methode der Visualisierung von Statistik und ihre grundlegenden Prinzipien werden bis heute angewandt. Sie reflektiert den wissenschaftstheoretischen Anspruch auf eine empirische, „neutrale“ Sprache, um Wissenschaft auf diese Weise transparent und gesellschaftlich verfügbar zu machen und eine Kommunikation zwischen Laien und ExpertInnen zu ermöglichen.⁴³ Die Methodik der Bildsprache nimmt die heute höchst aktuelle Thematik einer demokratischen Wissenskultur vorweg.
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Julie Moscheles (1892 – 1956): Eine jüdische Geographin zwischen dem Prager deutschen und tschechischen Milieu Wie gestaltet sich die Identität eines Menschen? Wir wissen allgemein, dass die Rolle der Familie, besonders der Mutter, weiter der Einfluss der Schule bzw. Hochschule, des Lebensmilieus oder der Vereine, in denen man sich sozialisiert, sowie der Einfluss der Politik der Umbruchzeiten in dieser Hinsicht groß bis prägend ist. Im Folgenden soll von einer Persönlichkeit die Rede sein, die sich im Prag der Zwischenkriegszeit gleich zwischen mehreren verschiedenen Milieus bewegte. Julie Moscheles war eine der kreativsten und produktivsten Vertreterinnen der Prager Wissenschaftslandschaft, eine begabte, innovative Geographin, die mit ihren Werken auch internationalen Erfolg hatte, eine Frau, die in die Männerdomäne Universität vorzudringen versuchte, eine Jüdin, die wie so viele in dieser Zeit zu der Religion der Mehrheitsgesellschaft konvertierte, eine deutschtschechische Repräsentantin der Masaryk’schen multiethnischen Tschechoslowakischen Republik, mit der sie sich voll identifizierte. Sie war eine Außenseiterin, die so recht in keine Schublade passte, aber konsequent ihren Weg ging – allen Widrigkeiten zum Trotz. Die böhmische ebenso wie die europäische Wissenschaft waren sehr lange arm an originellen, profilierten, produktiven und selbstständigen Frauen im akademischen Bereich. Zwar erfolgte die Zulassung von Frauen an den Universitäten im Habsburgerreich ‚schon‘ im Jahre 1897; erst in der Zeit des ‚Großen Krieges‘ von 1914 bis 1918 jedoch setzten sich die für ihre Fächer begeisterten, leistungsfähigen und zielbewussten Frauen an den Universitäten definitiv durch. In Prag bildeten die Töchter der gehobenen jüdischen Familien eine sehr bemerkenswerte Gruppe dieser ersten Generation selbstständiger, insbesondere naturwissenschaftlich orientierter Wissenschaftlerinnen. Uns wird im Folgenden eine (in den Kriegsjahren junge) Dame interessieren: Julie Moscheles.¹ Man könnte zwar ihren Spuren durch das ganze Europa und gar nach Australien folgen, wir werden jedoch hier versuchen, mindestens die Überlieferungen in den Prager Archiven systematisch zu erfassen.
Ein relativ gelungenes Kurzporträt bietet Martínek: Radost z poznání nemusí vést k uznání. Julie Moschelesová. https://doi.org/10.1515/9783110536003-014
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Moscheles wurde als Tochter eines gut situierten Prager deutsch-jüdischen Rechtsanwalts am 21. August 1892 in der böhmischen Hauptstadt geboren. Da ihre Mutter blind war, wurde Julie zur Erziehung zu Verwandten nach England geschickt, wo sie auch die Schule besuchte. Mit ihrer ‚Ersatzfamilie‘, dem Maler und Pazifisten Felix Moscheles und seiner Frau Margaret, unternahm Julie bereits in dieser Zeit viele Europa- und Nordafrika-Reisen, die offenbar ihr Interesse an der Geographie weckten. Im Rahmen einer dieser Reisen begegnete Julie dem berühmten norwegischen Geographen und Geologen Hans Henrik Reusch (1852– 1922), der u. a. eine Gastprofessur in Harvard innehatte und 1907 zum Ehrendoktor der Oxford University ernannt worden war. Auf seine Einladung hin übernahm sie nach dem Schulabschluss eine Stelle als Sekretärin und Übersetzerin im Norwegischen Geologischen Institut (Norges geologiske undersøkelse) in Oslo, wo sie auch ihre ersten Schritte in der Wissenschaft, konkret in der Geologie und Geomorphologie, unternahm. Gerade in Oslo traf sie dann den Prager Geographen, Geologen und Hydrologen Alfred Grund, der sie überredete, Abitur zu machen und dann ein Universitätsstudium unter seiner Leitung aufzunehmen – was auch geschah.² Julie Moscheles zog wieder bei ihren Eltern in der Palatzkygasse 14 in der Prager Neustadt ein und inskribierte sich 1912 an der Prager deutschen Karl-Ferdinands-Universität als ordentliche Hörerin der Philosophischen Fakultät. Die im Universitätsarchiv erhaltenen so genannten Nationale-Bände, in die die Studenten jedes Semester ihr Studienprogramm eintragen mussten, vermitteln uns, dass Julie Moscheles am Anfang ihres Studiums nicht nur ihre naturwissenschaftlichen Lieblingsfächer belegte, sondern im Hinblick auf das Rigorosum auch Logik, Geschichte der Philosophie und eine Einführung in die Psychologie bei Prof. Oskar Kraus hörte sowie gar eine Vorlesung über Buddha und Buddhismus bei dem Orientalisten Moritz Winternitz besuchte.³ Später wurden ihre Semesterprogramme aber monotoner: Sie konzentrierte sich fast ausschließlich (bis auf einige Ausnahmen aus dem Gebiet der Physik) auf die Veranstaltungen ihres Förderers Prof. Grund und auf die Kurse, die Prof. Franz Wähner aus der Geologie und Paläontologie anbot. Moscheles studierte konzentriert und schnell. Schon am Ende des achten Semesters ersuchte sie um die Erlaubnis, die Dissertation einreichen und das Rigorosum ablegen zu können. Ihre von Alfred Grund sehr früh initiierte Disser-
Vgl. eine kurze Autobiographie von Julia Moscheles aus dem Jahre 1946 in: Ústav dějin University Karlovy – Archiv (weiter: Archiv UK). Bestand: Přírodovědecká fakulta Univerzity Karlovy 1920 – 2013, Personálie profesorů a docentů, Julie Moschelesová 1946 – 1955. Archiv UK, Německá universita, Nationale – Philosophen Wintersemester 1912/13.
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tation trug den Titel „Die Postglazialzeit in Skandinavien“.⁴ Diese musste sie jedoch ohne dessen Betreuung bzw. bei einem neuen Doktorvater fertigstellen: Grund wurde kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges zum Heer einberufen und starb schon im November 1914 bei dem Angriff der österreichischen Armee auf Belgrad. Sein Nachfolger, Prof. Fritz Machatzek, kam erst zwei Jahre nach der Lehrstuhl-Sedisvakanz von der Wiener Universität nach Prag.⁵ Die interdisziplinäre Arbeit (zwischen Geologie und Geographie) wurde von Machatschek und Wähner positiv begutachtet. Moscheles absolvierte schließlich am 24. Mai 1916 ihre Prüfungen in der Geographie, der Geologie und der Paläontologie ebenso wie in der Philosophie mit einem für die damaligen Umstände eigentlich unvorstellbaren Ergebnis: alle ausgezeichnet! Aus bisher nicht geklärten Gründen wurde sie dann aber erst nach anderthalb Jahren, am 3. Oktober 1917, promoviert.⁶ Ihre Dissertation erschien 1917 in der Leipziger Zeitschrift für Gletscherkunde. ⁷ Die Kriegsjahre, an der Prager deutschen Universität mit einer großen kriegerisch-nationalen Begeisterung der Studenten und Professoren verbunden, waren für die in London pazifistisch erzogene Moscheles sicher nicht gerade einfach. Sie arbeitete in dieser Zeit als wissenschaftliche Hilfskraft bei Prof. Machatschek, seit dem 1. November 1917 dann als dessen bezahlte Assistentin. Vor allem aber forschte sie weiter auf verschiedenen Feldern und pflegte, solange dies im Krieg möglich war, ihre internationalen Kontakte.⁸ Überdies begann sie eine rege Publikationstätigkeit. Es ist interessant zu sehen, dass diese in ihrem Fach sehr kreativ und methodologisch innovativ denkende Spezialistin für die geologische Geomorphologie der Landschaft parallel dazu in ihren Arbeiten auch die geographisch fundierte Klimatologie Prags und des Balkans sowie die soziale
Disertace pražské university II., Praha 1965, S. 42, Nr. 107. Formell wurde Machatschek schon 1915 nach Prag berufen, real gesehen begann er seine Prager Tätigkeit im Jahre 1916. Zu ihm vgl. Schaefer: Fritz Machatschek. Vielleicht könnte das mit ihrer Tätigkeit als freiwillige Krankenpflegerin des Roten Kreuzes in der Kriegszeit zusammenhängen. Vgl. Národní Archiv Praha, Policejní ředitelství 1941– 1951, Karton 7613, Sign. M 3452/4 Julie Moschelosová. Korrespondenz zur Ausstellung eines Reisepasses 1915. Moscheles: Die Postglazialzeit in Skandinavien. Vgl. Archiv UK, Německá universita, Rigorosní protokol filosofické fakulty NU pro období 30.11.1912– 5.12.1929. Protokoll über die Akte zur Erlangung der Doktorswürde an der philosophischen Fakultät der k. k. deutschen Universität zu Prag S. 54, Zahl 107, am 24. Mai 1916. Schon vor dem Kriege begann Moscheles eine Fachkorrespondenz mit der Schlüsselperson der US-amerikanischen Geomorphologie, William Morris Davis, zu den Fragen der Beziehung der Geologie und Geographie, über das Alter der Relief-Formen und über die Terminologie. Diese setzte sich offenbar bis 1917 fort und wurde dann Ende 1918 schnell wiederaufgenommen. Vgl. Raška: Julie Moschelesová.
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Geographie intensiv thematisierte. In den ersten drei Jahren ihrer Publikationstätigkeit erschienen die Studien in verschiedenen deutschen und österreichischen Zeitschriften, eine größere Studie über das Prager Klima veröffentlichte sie dann in der altehrwürdigen Prager deutschen naturwissenschaftlichen Zeitschrift Lotos ⁹. Ihr erstes Buch wiederum behandelte das Klima von Bosnien und Herzegowina im Kontext der Balkanhalbinsel.¹⁰ Moscheles hatte offensichtlich vor, sich mit dem letztgenannten Buch (es erschien 1918 in Sarajevo) – wahrscheinlich direkt nach Kriegsende – zu habilitieren. Ihr mutiges Vorhaben scheiterte allerdings schon auf der Ebene der Habilitationskommission: Ihr Doktorvater Machatschek unterstützte zwar seine Assistentin, die anderen zwei Mitglieder der Kommission, der Geologe Wähner und der Professor für kosmische Physik und Meteorologie Rudolf Spitaler, lehnten ihre Arbeit allerdings ab. Leider sind keine Akten zu dieser Angelegenheit erhalten, über die Gründe dieser negativen Kommissions-Entscheidung können wir also nur rätseln. Die einfachste Erklärung wäre, dass dem Physiker und Astronomen Spitaler die empirisch-geographisch-geologische Betrachtungsweise des Klimas fremd war und er daneben das Vordringen der Geographen auf sein Gebiet verhindern wollte. Weitere mögliche Gründe wären schon heikler: Es wäre ebenso denkbar, dass Moscheles ihre Religion wie ihr Geschlecht zum ‚Verhängnis‘ wurden und sich der in Prag zu dieser Zeit durchaus virulente Antisemitismus mit einem ausgeprägten Antifeminismus verband. Schließlich rechneten die Herren Professoren bisher noch nicht mit der realen Möglichkeit, dass ein Wesen weiblichen Geschlechts gar habilitieren könnte. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die vollständige Gleichberechtigung der Frauen erst in der ersten tschechoslowakischen Verfassung (29. Februar 1920) verankert wurde. Danach dauerte es dann noch bis zur Mitte der Zwanzigerjahre, bis es zu den ersten Habilitationen von Frauen kam.¹¹ Trotz dieser sicher schmerzhaften Enttäuschung ließ sich Moscheles nicht beirren und publizierte schon 1919 im Münchner Allgemeinen Statistischen Archiv einen Aufsatz, der ein neues Forschungsgebiet dieser allseitigen Geographin offenbarte: die Siedlungsstatistik und Stadtgeographie von Prag.¹² Sie bewegte
Moscheles: Das Klima von Prag. Moscheles: Das Klima von Bosnien und der Hercegovina. Die erste habilitierte Frau auf österreichischem Gebiet war zwar Elise Richter, die schon 1906 (und damit im Übrigen zwei Jahre vor der allgemeinen Studienerlaubnis für Frauen in Preußen) an der Wiener Universität in der Romanistik habilitierte. Sie stellte aber eine absolute Ausnahme dar. Vgl.: Christmann: Frau und „Jüdin“ an der Universität, die Romanistin Elise Richter. Moscheles: Siedlungsstatistik und Stadtgeographie von Prag; Moscheles: Prague. A geographical sketch of the town (1920).
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sich mit diesem seitdem von ihr systematisch und mit großem Einsatz behandelten Thema auf dem Gebiet der Sozialgeographie bzw. zeitgenössisch der „Anthropogeographie“, die sie mit der Wirtschafts- und Siedlungsgeographie kombinierte (ohne allerdings ihre älteren Themen der Geomorphologie und der Klimatologie zu verlassen). Mit den Ergebnissen dieser Forschungen feierte sie in der Zwischenkriegszeit große Erfolge in ganz Europa wie auch in den USA.¹³ Ihre berufliche Situation war in dieser Zeit allerdings alles andere als stabil, was zunächst u. a. auf die Position der Prager deutschen Universität in der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückzuführen war. Diese weigerte sich nämlich nach Kriegsende fast ein Jahr lang, die Hoheit der neuen Republik Tschechoslowakei anzuerkennen. Vielmehr verfolgte ihr „eiserner Rektor“, der Theologe August Naegle, Gedankenspiele über eine Extraterritorialität der deutschen Universität oder ihre Übertragung nach Deutschland bzw. mindestens in das als Hauptstadt einer unabhängigen Provinz „Deutschböhmen“ angedachte Reichenberg (Liberec). Es dauerte bis zum Herbst 1919, bis auf Veranlassung einer pragmatisch orientierten Gruppe um den Germanisten August Sauer dem neuen Staat zähneknirschend die Treue geschworen wurde – zum einen, um den „Prager historischen deutschen Boden“ nicht zu verlassen, zum anderen, um die staatliche Finanzierung der Universität und die allgemeine Gültigkeit ihrer Diplome zu sichern…¹⁴ Die allgemeine Situation in Prag, im Lande, im Parlament und natürlich auch bei den Verhandlungen der Universität mit der Regierung war in dieser Zeit sehr angespannt. Während die deutschen Politiker die Arbeit an der republikanischen Verfassung boykottierten, übertrug die so genannte „Lex Mareš“ vom 19. Februar 1920 alle historischen Rechte der ehemaligen Karl-Ferdinands-Universität auf die tschechische Karls-Universität. Die nun so genannte „Deutsche Universität Prag“ ging also als symbolische Verliererin aus diesem nationalpolitischen Kampf hervor.¹⁵ Auf der tschechischen wie auf der deutschen Seite der verfeindeten nationalen und kulturellen Lager gab es in diesen Jahren nationalistische und antisemitische Rhetorik, Publizistik und – im europäischen Vergleich zwar geringe, aber dennoch schmerzhafte – Ausschreitungen. Die Exzesse des Prager tschechischen Nationalismus gipfelten 1920 in den Attacken des Pöbels auf das jüdische Rathaus und in der gewaltsamen Besetzung des bis dahin deutschen
Moscheles: Landeskunde der Britischen Inseln (1925), spanische Ausgabe 1929. Besonders prestigevoll war ihr Beitrag in der New Yorker Zeitschrift der American Geographical Society: Moscheles: Natural Regions of Czechoslovakia (1924). Kavka and Petráň (eds.): A History of Charles University. Vol. 2, S. 245 – 247. Gesetz vom 19. Februar 1920, Nr. 135/1920, über die Beziehung beider Prager Universitäten.
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Ständetheaters.¹⁶ Eine massive Präsentation des deutschen aus der Provinz und dem Ausland kräftig unterstützten antirepublikanischen Hasses und vor allem des Antisemitismus ist dann mit der Amtszeit des von den Studenten hart bekämpften jüdischen Rektors der deutschen Universität, Samuel Steinherz, im akademischen Jahr 1922/23 verbunden.¹⁷ Es überrascht nicht, dass auch die innere Atmosphäre in der Philosophischen bzw. seit dem Wintersemester 1920/21 der verselbstständigten Naturwissenschaftlichen Fakultät der Nachkriegsjahre vergiftet war. An der Prager deutschen Universität trafen in dieser Zeit verschiedene Wellen demobilisierter junger Männer, Ausländer und durch Pogrome und Bürgerkrieg aus Osteuropa vertriebener jüdischer Studenten aufeinander. Die Mittel waren knapp, die innere Konkurrenz groß – und der Antisemitismus wurde zur Alltäglichkeit. Julie Moscheles konvertierte (im Unterschied zu ihren Eltern) in dieser Zeit vom mosaischen Glauben zur evangelisch-augsburgischen Konfession. Inwieweit ihr dieser Schritt, den so viele jüdische Akademiker nicht nur in Prag wagten, Schutz vor den radikalisierten Kollegen und Studenten gewährte, ist allerdings fraglich. Julie Moscheles war überdies niemand, der in der Masse zu verschwinden versuchte. Im Gegenteil: Sie war eine moderne, selbstbewusste, die traditionellen modischen Vorstellungen ignorierende Kettenraucherin, die gleich nach dem Kriege ihre Kontakte nach England, Skandinavien, Frankreich und in die USA wiederaufleben ließ. Gravierender für ihre Position an der Fakultät war allerdings, dass sie seit 1921 relativ intensive Kontakte mit der Kanzlei des Präsidenten Masaryk, später auch mit dem Außenministerium der Republik unterhielt. Die Initiative dazu kam offensichtlich von Moscheles, wurde aber sehr willig akzeptiert, und zwar vor allem im Kontext der Außendarstellung der jungen Tschechoslowakischen Republik. Die Väter der Republik hielten es nämlich für notwendig, den demokratischen und sozialen Charakter des neuen Staates im Ausland zu erklären sowie die reale Lage der nationalen Minderheiten zu beschreiben, um der deutschen und vor allem der magyarischen antitschechoslowakischen Propaganda (ohne mit dieser direkt zu polemisieren) entgegenzuwirken. Die tschechoslowakischen Botschaften in den alliierten Staaten und vor allem in Großbritannien, wo sich diese Probleme am deutlichsten manifestierten, leisteten eine immense (selbstverständlich politisch konnotierte) Informationsarbeit in dieser Richtung.¹⁸ Die Mitarbeiter Präsident Masaryks und etwas später
Ledvinka und Pešek: Prag, S. 567 f. Gold: Samuel Steinherz zum 80. Geburtstage, S. 53. Vgl. für Großbritannien: Pousta: Jaroslav Císař – astronom a diplomat v Masarykových službách.
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auch die Beamten des neu gegründeten Außenministeriums suchten aber intensiv nach weiteren Möglichkeiten, um die Außendarstellung der neuen Republik durch die Unterstützung „unabhängiger“ Vertreter zu stärken.¹⁹ In diesem Sinne war es also eine günstige Fügung des Schicksals, als Ende November 1921 in der Kanzlei des Präsidenten ein Brief einging, in dem „Dr. Julie Moscheles, Assistent am Geographischen Institut“ um eine „Audienz bei dem Herrn Präsidenten“ bat. Sie hatte mit ihm drei Punkte zu erledigen: Erstens wollte sie ihm ihr Buch Wirtschaftsgeographie der Tschechoslowakischen Republik überreichen.²⁰ Zweitens, und das war das Wichtigste, plante sie, Masaryk einen „Entwurf zur Schaffung einer Landeskundlichen Arbeitsstelle zur Information namentlich des Englisch sprechenden Auslandes über die natürlichen Bedingungen unseres Wirtschaftslebens auf Grund wissenschaftlicher Untersuchungen, in Verbindung mit Vorträgen in englischer Sprache über die Landeskunde der Englisch sprechenden Länder“²¹ vorzulegen. Und schließlich wollte Moscheles dem Präsidenten ein Schreiben vom Prof. Machatschek übergeben. Über den Inhalt dieses Briefes liegen uns keine näheren Informationen vor, es kann jedoch indirekt auf der Basis anderer Aktenstücke vermutet werden, dass es sich um ein Förderungsschreiben für Moscheles handelte. Machatschek musste also wissen, was seine Assistentin vorhatte, und unterstützte sie darin. Schon das war für einen Professor der Prager deutschen Universität sehr unüblich. Moscheles wusste offensichtlich bereits und erörterte dies wohl auch in dem Gespräch mit Masaryk, dass ihr Assistentenvertrag nach dem Ende des akademischen Jahres 1921/22 nicht verlängert werden würde, und suchte einen Ausweg aus dieser Situation. Präsident Masaryk unterstützte ihre Idee eines englischsprachigen landeskundlichen Bildungszentrums und beauftragte seinen Bildungsreferenten Jindřich Říha, mit dem Ministerium für Bildung und Aufklärung in seinem Namen über die Einrichtung einer zusätzlichen Stelle an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität zu verhandeln und gleichzeitig mit dem Direktor des Geographischen Instituts an derselben Fakultät, Prof.Václav Švamebera, über die Möglichkeit zu sprechen, eine Assistentenstelle für Moscheles bei ihm einzurichten. Beides wurde aufgrund der anerkannten wissenschaftlichen Leistungen der Forscherin reibungslos erledigt. Ein Grund für die Entschärfung möglicher nationaler Vorurteile in den hohen Behörden war sicher die Tatsache, dass Julie Moscheles anfangs für eine gebürtige, in Prag lebende Dazu übersichtlich: Dejmek: Pražské ministerstvo zahraničí a sebeprezentace Československa mezi světovými válkami. Moscheles: Wirtschaftsgeographie der tschechoslowakischen Republik. Archiv Kanceláře prezidenta republiky (weiterhin Archiv KPR), Fond: KPR, Inv. Nr. 448, Karton 23, Brief aus dem 26. November 1921, unter der Signatur A 1391/21.
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Engländerin gehalten wurde, die Tschechisch fleißig und mit guten Erfolgen lernt.²² Wir müssen uns an dieser Stelle jedoch fragen, was Moscheles zu diesem gewagten Schritt bewog, aus dem deutschen, antirepublikanischen bis vernunftrepublikanischen Universitätsmilieu in das tschechische zu wechseln, bzw. welche Identität sie in den Jahren des Wechsels von der deutschen zur tschechischen Universität eigentlich hatte. Sie hätte ja auch genauso gut wieder ins Ausland gehen können. Sicher spielten ihre Bewunderung für Masaryk und die Begeisterung für die neue Republik eine ebenso große Rolle wie ihre Abneigung gegen die Atmosphäre und die Umstände, die an der deutschen Universität herrschten. Anderseits war diese leicht exzentrische, pazifistische, emanzipierte (ehemalige) Jüdin mit ihren breiten Kontakten und Beziehungen in ganz Europa und Nordamerika, mit ihren klar formulierten, trotz des Misserfolgs nicht ad acta gelegten Habilitationsambitionen und einer Reihe von erfolgreichen Publikationen in ausländischen Zeitschriften und Verlagen für die konservativen Repräsentanten (und antisemitischen Studenten) der deutschen Naturwissenschaftlichen Fakultät ganz offensichtlich unangenehm. In diesem Kontext muss auch erwähnt werden, dass beide Gutachter ihrer abgelehnten Habilitationsschrift zu jenem Zeitpunkt wichtige akademische Funktionen bekleideten: Franz Wähner war im akademischen Jahr 1920/21 Rektor und im darauffolgenden Jahr Prorektor der „Deutschen Universität Prag“, Rudolf Spitaler war 1920/21 Gründungsdekan ihrer selbstständigen Naturwissenschaftlichen Fakultät.²³ Beide (alte) Herren gehörten dem konservativen Flügel der Professorenschaft an. Die gerade dreißigjährige Geographin, die mit Bravour nicht nur über ‚ihre‘ Themen der Geomorphologie, sondern auch über die Klimatologie und vor allem die Wirtschafts- und Sozialgeographie verschiedener Regionen Europas forschte und publizierte, beherrschte in dieser Zeit das Tschechische im Grunde bereits perfekt, wovon u. a. ihr Schriftwechsel mit den Behörden zeugt. Moscheles identifizierte sich ganz offensichtlich mit den ‚Masaryk’schen‘ Prinzipien der jungen Republik und war gerne bereit, dieser mit der Propagierung besonders in ‚ihrem‘ England zu helfen. Wie ein Referent im Prager Außenministerium später über sie notierte: Sie war von der „Möglichkeit und Notwendigkeit des Zusammenlebens beider Volksstämme“ überzeugt.²⁴ Moscheles nahm also die Masaryk’sche Theorie über die neue Konstruktion der Identität der tschechoslowakischen Staatsbürger
Vgl. Archiv KPR, Aktennotiz zur Nr. A 1391/21 vom 20. April 1922. Havránek und Pousta (Hrsg.): Dějiny Univerzity Karlovy IV. 1918 – 1990, S. 587. Koeltzsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918 – 1938), S. 85 f.
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ernst und dachte in den Kategorien der Tschechisch und der Deutsch sprechenden Tschechoslowaken. Nach fünf Jahren intensiver Arbeit verließ also Julie Moscheles die Fakultät zum 30. September 1922²⁵ und damit gerade in der Zeit, in der Samuel Steinherz als erster amtierender jüdischer Rektor der deutschen Universität sein turbulentes Rektorenjahr begann und die Universität von heftigen nationalistischen und antisemitischen Wirren erschüttert wurde.²⁶ Schon am nächsten Tag trat die Geographin und bisherige Assistentin als wissenschaftliche Hilfskraft („mit den Rechten eines Assistenten“, wie sie später notierte)²⁷ für fremdsprachige Korrespondenz und wissenschaftliche Recherchen am Institut für Geographie der tschechischen Naturwissenschaftlichen Fakultät ihren Dienst an. Ein solcher Seitenwechsel war (nicht nur) in dieser Zeit eine absolute Ausnahme. Beide Universitäten standen im Bann des Nationalismus und kommunizierten nicht miteinander. Die neue Mitarbeiterin am Geographischen Institut wurde daher von ihren Kollegen kaum begeistert empfangen, obwohl sie eine neu geschaffene Planstelle besetzte, also niemanden aus seiner Position verdrängte. Vielmehr wurde sie als eine Professor Švambera politisch „von oben aufgezwungene“ fremde Mitarbeiterin wahrgenommen, die zwar fachlich kompetent war, aber „keine Tschechisch-Kenntnisse“ besaß – wie es ex post ein führender tschechischer Geograph (fälschlich) formulierte.²⁸ Auf Basis des erhaltenen Archivmaterials lässt sich konstatieren, dass Moscheles nach 1922 im Grunde zu einer Tschechin mutierte. Ihr Tschechisch perfektionierte sie schnell, ihre tatkräftige republikanische Überzeugung war musterhaft, dennoch waren ihre Jahre an der tschechischen, stark nationalistisch geprägten Naturwissenschaftlichen Fakultät keineswegs einfach. Vor allem
Walter Ludwig behauptet in seinem Buch von 1934 über 50 Jahre Geographie an der deutschen Universität Prag, dass Moscheles „am 30. September 1922 aus dem Staatsdienst ausgetreten ist“. Die Tatsache, dass sie an die tschechische Karls-Universität wechselte, durfte offensichtlich nicht thematisiert werden. Vgl.: Ludwig: Die Geographie an der Deutschen Universität in Prag seit der Begründung des geographischen Lehrstuhles 1872– 1932, S. 34. Steinherz wurde schon am 21. Juni gewählt und fast sofort danach begannen die Unruhen.Vgl. dazu Arlt: Samuel Steinherz (1857– 1942). Vgl. Osobní výkaz (Fragebogen) aus dem 1. Juli 1946 in: Archiv UK. Bestand: Přírodovědecká fakulta Univerzity Karlovy 1920 – 2013, Personálie profesorů a docentů, Julie Moschelesová 1946 – 1955. Nikolau: Za Prof. Drem Václavem Švamberou, S. 85. Dr. Nikolau war in den Jahren 1920 – 1931 und 1939 – 1945 Vorsitzender der Tschechoslowakischen/Tschechischen Geographischen Gesellschaft und daneben eine der führenden Personen der tschechischen faschistischen Vlajka-Bewegung.
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wurden ihre Hoffnungen auf eine nahe Habilitation bitter enttäuscht.²⁹ So dauerte es unbegreifliche zwölf Jahre, bis ihr 1934 diese endlich ermöglicht wurde.³⁰ Inzwischen habilitierten andere – politisch gut vernetzte (Agrarpartei) – männliche Kollegen, die auch ex post als „durchschnittlich“ bezeichnet wurden und die mit der (internationalen) Produktion von Moscheles keineswegs konkurrieren konnten. Ein möglicher Grund dieser Weigerung, ihre Habilitation zuzulassen, war ihre aus Sicht der ausgeprägt rechtsnationalen Mehrheit der Professoren der Fakultät zu große Nähe zur ‚Burg‘, also zum Präsidenten und dem von Edvard Beneš geführten Außenministerium. Moscheles unterstand dem menschlich offensichtlich netten, wissenschaftlich aber wenig produktiven Prof. Švambera. Dieser konnte ihr kaum Forschungsimpulse geben und schuf auch keinen günstigen Rahmen für die Entfaltung ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Die ihr vielleicht am nächsten stehende Persönlichkeit in der Fakultät war kein Geograph, sondern der nur ein Jahr ältere Professor der Geologie Radim Kettner (seit 1926), mit dem sie offensichtlich schon seit ihrem Fakultätswechsel in enger Kooperation stand. Herzliche Beziehungen pflegte sie auch zu dem Privatdozenten bzw. seit 1928 a.o. Professor der Geomorphologie Václav Dědina. Der einzige unter den damaligen tschechischen Geographen jedoch, der ihr aufgrund seines breiten Forschungshorizonts und seiner internationalen Erfahrung und Vernetzung als Vorbild hätte dienen können, Prof. Jiří V. Daneš,³¹ kehrte erst 1923 aus dem diplomatischen Dienst in Australien nach Prag zurück und verunglückte 1928 in Kalifornien.
Dies betrifft auch ihre – wahrscheinlich von Radim Kettner vermittelten – vorläufigen Verhandlungen mit dem (zwei Jahre älteren) Prof. Bohuslav Stočes von 1923 über eine Habilitation in Geographie an der Bergakademie in Příbram. Wir können nur vermuten, dass hinter diesem Scheitern die Skepsis der – tschechischen – Professorenschaft gegenüber einer Frau stand, die überdies zuvor an der deutschen Universität tätig gewesen war. Vgl.: Archiv KPR, Fond: KPR, Inv. Nr. 448, Karton 23, Brief an den Präsidenten vom 2. Februar 1923, unter der Signatur D 726/23. Nach einem späteren Bericht wurde Moscheles die Habilitation damals angeblich aufgrund einer Intervention von Präsident Masaryk, der dazu wiederum einen Impuls von dem amerikanischen Polarforscher Richard E. Byrd bekommen habe, ermöglicht. Vgl. Národní Archiv Praha, Bestand Archivní a studijní ústav Ministerstva národní bezpečnosti 35 – 98/14, Akte: „Poznatky o Moschelesové Julii“ mit einer ausführlichen Meldung, die der Assistent der Naturwissenschaftlichen Fakultät Dr. Radovan Hendrych an den Polizeiagenten „Hloušek“ am 4. Februar 1948 verfasste. Zu Moscheles‘ Habilitation vgl. Archiv UK – Bestand Děkanství Přírodvědné fakulty UK, Nr. 11/33/34 (17.11.1933) bis Nr. 2825/33/37 (26.4.1934). Es ist symptomatisch, dass auch Daneš als tschechoslowakischer Generalkonsul in Sydney (1919 – 1922) viele populäre Vorträge über die Tschechoslowakei hielt, übrigens ebenso wie bei seiner letzten großen Amerika-Reise 1928. Vgl. Kodera: Jiří V. Daneš. Moscheles enge und gute Beziehung zu Daneš belegt ein Brief vom 28. Januar 1928, in dem sie ihm von Prof. Pierre Deffontaines die Nachricht seiner Ernennung zum Mitglied der Société de Géographie zu Lille und die
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Moscheles war die eindeutig am stärksten international verknüpfte tschechoslowakische Geographin. Sie publizierte fleißig in den tschechischen Fachzeitschriften, darüber hinaus aber auch in Deutschland und in Österreich, in Stockholm ebenso wie in Paris, Lille, Barcelona oder New York. Sie forschte erfolgreich über die Geomorphologie Böhmens und Skandinaviens, thematisierte aber auch tropische Gebiete. Zudem schrieb sie regelmäßig Studien aus dem Bereich der Stadt- und Ländergeographie. Lange Jahre vertrat sie überdies als Nicht-Habilitierte die Fächer Regionalgeographie und Anthropogeographie. Nur habilitieren durfte sie nicht. Zur Gründung der beantragten Landesstelle für die Information des englischsprachigen Auslandes kam es trotz der anfänglichen Begeisterung nicht. Die Kanzlei des Präsidenten und bald auch das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten wussten jedoch die Moscheles’sche Kompetenz und Energie anders zu nutzen: Seit 1922 wurde sie jedes Jahr ein- bis zweimal bei ihren, teilweise durch die Londoner Botschaft vermittelten, später oftmals von ihren englischen Freunden organisierten Vortragsreisen und Summerschool-Dozenturen (z. B. wiederholt in Cambridge) kräftig finanziell unterstützt. Dasselbe gilt für ihre – durch den Londoner tschechischen Diplomaten Jiří Sedmík vermittelte – organisatorische Begleitung einer Gruppe britischer Soziologen aus dem „Le Play House“ in die Slowakei im Jahre 1924.³² Diese Hilfe war notwendig, da Moscheles die Aktivitäten auf eigene Kosten nie hätte realisieren können. So ist z. B. ihr Antrag aus dem Jahr 1925 im Archiv der Kanzlei des Präsidenten erhalten geblieben: Zwei geplante Vortragsaufenthalte in einem Gesamtumfang von sechs Wochen in Cambridge (acht inklusive Reisen) wurden – nach dem von Moscheles gestellten Gesuch – von dem bereits erwähnten Bildungsreferenten Říha bei aller Zurückhaltung auf 10.472 tschechoslowakische Kronen beziffert. Moscheles sollte in Cambridge zwar als Honorar (umgerechnet) 4.640 Kronen erhalten, die fehlende Restsumme von 5.832 Kronen lag aber weit über den damaligen Möglichkeiten einer Hochschulassistentin. (Ausgehend davon, dass der Arbeitertagelohn sich in dieser Zeit um die 30 Kronen brutto bewegte, entsprach die erwähnte Summe also einem Arbeiterlohn für 194 Arbeitstage oder acht Monate). Říha empfahl Masaryk eine Unterstützung für
bevorstehende Ernennung in die Pariser Société de Géographie – gratulierend – vermittelt. Vgl. Archiv der AV ČR, Bestand Nr. 274 Daneš Jiří Viktor, Karton 2. Archiv des Auswärtiges Ministeriums der Tschechischen Republik (Archiv MZV ČR), Bestand: III. Sekce 1918 – 1939, Karton 52. Antrag von Julie Moscheles vom 28. Februar 1925 auf Unterstützung ihrer Vortragsreise nach England.
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Moscheles in Höhe von 5.000 Kronen. Der tschechoslowakische Präsident entschied sich letztlich für eine Subvention von 6.000 Kronen.³³ Es ist kaum anzunehmen, dass Moscheles, die einzige Tochter einer wohlhabenden Prager jüdischen Familie, in der Zwischenkriegszeit Not leiden musste. Das Gehalt einer Assistentin ermöglichte aber weder Forschungsreisen noch großzügige Literatureinkäufe. Moscheles versuchte also, ihre Vortrags- und Forschungsreisen durch regelmäßige Aufträge der Präsidentenkanzlei oder des Außenministeriums bis 1938 (!) zu finanzieren. Ihre große, international angelegte Fachbibliothek baute sie u. a. auf Basis zahlreicher Besprechungsexemplare auf. Viel Zeit musste sie dem bezahlten Übersetzen tschechischer Fachtexte für auswärtige Publikationen widmen. Diese dauerhaft nur beschränkte materielle Unabhängigkeit aufgrund einer fehlenden Festanstellung waren ihr selbstverständlich unangenehm. Trotzdem war sie in dieser Zeit zu außerordentlichen wissenschaftlichen Leistungen in der Lage. Nach der deutschen Besetzung der Rest-Tschechoslowakei musste Moscheles im Sommer 1939 das Land – mit Hilfe englischer Freunde – heimlich verlassen. Über London emigrierte sie schließlich nach Australien, wo sie in Melbourne eine Lehrtätigkeit aufnahm und seit 1942 im Rahmen des Netherlands Forces Intelligence Service als Militärgeographin wirkte. Im Sommer 1946 kehrte sie, begleitet von ihrer dänischen Lebensgefährtin, zurück nach Prag. Die Rückkehr verband sie, deren Vater im Ghetto Theresienstadt 1943 ums Leben gekommen war, mit der Hoffnung, endlich – nicht zuletzt als tschechoslowakische Widerstandskämpferin – anerkannt zu werden und in ihrem geliebten Fach arbeiten zu können. Jedoch täuschte sie sich in der tschechischen Gesellschaft und besonders in ihrer nunmehr nationalkommunistischen ehemaligen Fakultät, die sie erneut schlimmer als stiefmütterlich behandelte. Ihre letzten zehn Jahre bis zu ihrem Krebstod am 7. Januar 1956 waren traurig, im Grunde eine soziale und menschliche Tragödie. Trotzdem dozierte sie weiter, übersetzte, schrieb – allerdings konnten leider nur wenige Werke aus dieser Zeit auch publiziert werden. Der Einsatz der Prager deutsch-englisch-tschechischen Jüdin für den tschechoslowakischen Staat wurde nicht honoriert.
Archiv KPR, Bestand: KPR, Inv. Nr. 448, Karton 23, Brief vom 25. Februar 1925, unter der Signatur D 2527/25 und die folgende Korrespondenz bzw. Aktennotizen bis zum Dankbrief von Moscheles vom 29. April 1925 (Signatur D 4361/25).
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Max Brod – Zionismus und Kulturvermittlung 1 Zionismus und Kulturzionismus Max Brods Leben, Werk und Wirkung waren entscheidend geprägt von seiner Suche nach der jüdischen Identität vor dem Hintergrund der zugespitzten Auseinandersetzungen seiner Zeit zwischen jüdischer Emanzipation, Assimilation und Antisemitismus. Der Prozess der jüdischen Assimilation in der österreichischen Monarchie setzte sich mit der staatsbürgerlichen Gleichstellung der Juden durch, die in der liberalen Verfassung von 1867 verankert war. Die Emanzipation „der aus ihrem Sonderdasein befreiten Juden“¹ ging mit ihrer Angleichung an die Kultur der Umgebung einher, die als Assimilation, manchmal auch als Akkulturation bezeichnet wurde. Diese Assimilation löste aber bald einige Konflikte aus, weil, wie Bärsch anführt, „die gesellschaftlich-moralische Sonderbehandlung der Individuen jüdischer Herkunft und Religion durch die nichtjüdischen Mitglieder der Gesamtgesellschaft nicht aufhörte“² und die Juden als Fremde ohne nationale Zugehörigkeit im gesellschaftlichen Körper bestimmte. Diese antisemitische Erfahrung, die einige Jahrzehnte später die zweite Generation der gleichberechtigten Juden – die sich zunehmend mit dem gesteigerten Judenhass konfrontiert fühlte – fürs Scheitern der emanzipierenden Bestrebungen hielt, ist die Geburtsstunde der jüdischen Nationalbewegung und der nationalistischen Ideologie in Ost- und Mitteleuropa, die man Zionismus nannte. Der Zionismus zielte auf die Wiederbelebung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina. Um 1880 entstand in Russland die Bewegung Zionsliebe (Chabad Sion), deren Ortsvereine sich Zionsfreunde (Chovevej Sion) nannten und auswanderungswillige Juden für gemeinsame Siedlungsprojekte in Palästina sammelten. Sie berief sich auf eine Idee von Leon Pinsker³, der die Errichtung eines
Bärsch: Max Brod, S. 89. Ebenda, S. 91. Leon Pinsker (1821– 1891) war jüdischer Arzt und Journalist in Odessa, Vorbereiter des Zionismus. Nach dem Ausbruch der Pogrome in Odessa und Russland 1881 revidierte er den Gedanken an Assimilation der Juden und nachdem er Europa bereist und sich dort von stark ausgebreitetem Antisemitismus überzeugt hatte, rief er in seiner in Berlin herausgegebenen Schrift Autoemancipation! Mahnruf an seine Stammesgenossen von einem russischen Juden (1882) zur Auferstehung des jüdischen Volkes in Gestalt eines Nationalstaates als der einzigen Möglichkeit https://doi.org/10.1515/9783110536003-015
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jüdischen Nationalstaates in Palästina forderte. Diese Idee formulierte er unter dem Eindruck der Pogrome, die in dieser Zeit in Odessa und in ganz Russland ausbrachen, nachdem er zu der Überzeugung gekommen war, dass nur die Errichtung eines Nationalstaates den Juden allgemeine Achtung einer selbstständigen und selbstbewussten Nation zu schaffen vermochte. Die meisten europäischen Juden aus Ost und West, orthodoxe sowie liberale, standen beide – zwar aus unterschiedlichen Gründen – diesem Gedanken ablehnend gegenüber. Die orthodoxen Ostjuden ihrer Überzeugung wegen, dass Gott selbst, nicht der Mensch in Geschichte eingreifen müsse, um seinem Volk den Staat errichten zu helfen; das menschliche Vorgreifen würde die Erwartungen des Volks des Bundes nur aufhalten. Die liberalen Westjuden, zu denen sich das böhmische Judentum überwiegend zählte, betrachteten sich dagegen als Angehörige ihrer jeweiligen Nationen, im Falle der böhmischen Juden der deutschen oder der tschechischen Nation, und sie traten in ihrem Rahmen für ihre Emanzipation ein, von der sie sich mehr religiöse Toleranz und demokratische Rechte versprachen. Es war der Schriftsteller und jüdischer Aktivist Nathan Birnbaum⁴, der der neuen jüdischen Bewegung den Begriff „Zionismus“⁵ aufprägte. Der Begriff setzte sich schnell als geläufige Bezeichnung für die jüdische Nationalbewegung durch. Birnbaum forderte die ethnisch-kulturelle Gleichberechtigung der Juden in der Diaspora, nicht erst im neugegründeten jüdischen Nationalstaat, und sprach sich für eine jüdische Autonomie im Rahmen der Habsburgermonarchie
der jüdischen Emanzipation auf. Die Errichtung eines jüdischen Nationalstaates wurde nach 1897 zur Hauptforderung des politischen Zionismus. Nathan Birnbaum (1864– 1937) war österreichisch-jüdischer Schriftsteller und Propagator des Zionismus und des Diaspora-Nationalismus. 1884 veröffentlichte er anonym die Schrift Die Assimilationssucht: Ein Wort an die so genannten Deutschen, Slaven, Magyaren etc. mosaischer Confession von einem Studenten jüdischer Nationalität, in der er sich zum ersten Mal gegen die jüdische Assimilation wandte. Birnbaum: Die Ziele der jüdisch-nationalen Bestrebungen. Eine Artikelserie. II. National-politischer Teil. – In: Selbst-Emancipation! Zeitschrift für die nationalen, socialen und politischen Interessen des jüdischen Stammes 3, Nr. 4 (16. Mai 1890), S. 1: „Neben Erwägungen wirtschaftlicher Natur haben auch solche national-politischer Natur den Zionismus hervorgerufen und gereift.“ Die Zeitschrift, die sich auf Pinskers Schrift Auto-Emancipation! von 1882 berief und sich gegen die jüdische Assimilation richtete, gab Birnbaum zwischen 1885 – 86 und 1890 – 93 in Wien heraus. Als Motto der Ausrichtung des zionistischen Presseorgans gegen die jüdische Assimilation kann Birnbaums Aufruf „Erlöschung – Erlösung“ in der ersten Nummer gelten: „Wir müssen […] das Unkraut der Assimilationssucht aus Haus und Schule ausjäten und dorthin den fruchtbaren Samen der Selbstwürdigung verpflanzen. Wir müssen zu diesem Zwecke den jüdischen Geistesproducten eine Stelle in dem Bildungsprogramme unserer Kinder anweisen und die Kenntniß der hebräischen Sprache und der jüdischen Geschichte mit Liebe und Eifer zu verbreiten trachten“ – Selbst-Emancipation 1, Nr. 1 (1. Februar 1885), S. 2.
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aus. Als Nationalsprache der österreichisch-ungarischen Juden schlug er das Jiddische vor, berief sogar nach dem Zerwürfnis mit Theodor Herzl 1908 nach Czernowitz eine Sprachkonferenz ein, auf der das Jiddische als eine der jüdischen Nationalsprachen proklamiert und ihre Förderung in Schulen, an Universitäten und in der Kunst der Monarchie verlangt wurde. Dadurch wandte er sich vom politischen Zionismus Herzls ab und prägte den Zionismus als Kulturbewegung, die sich das Verständnis des jüdischen Nationalerwachens innerhalb der gegenseitigen Kulturvermittlung zum Ziel setzte. Dieser Kulturzionismus, auf den neben Birnbaum Ascher Hirsch Ginsberg⁶ maßgebend Einfluss ausübte, strebte nach einer grundlegenden Erneuerung der jüdischen Kultur als unerlässlicher Voraussetzung des jüdischen Nationalbewusstseins und wuchs im Rahmen der zionistischen Bewegung zu ihrem wichtigen Bestandteil an, indem er die Zukunft des europäischen Judentums mit den neu postulierten Bedingungen der kulturellen Moderne verknüpfte. Die kulturzionistische Bewegung gründete 1901 im Rahmen der Zionistischen Weltorganisation WZO die Demokratisch-zionistische Fraktion, deren Vertreter – der bedeutendste war Martin Buber – sich in Anlehnung an die „junge“ kulturelle Bewegung der Moderne als „jungjüdische Opposition“ betrachteten. Der Kulturzionismus geriet in den folgenden Auseinandersetzungen innerhalb des Zionismus in Distanz zum politischen Zionismus Herzls⁷, der die zionistische Bewegung als Antwort auf den europäischen Antisemitismus und die sozioökonomische Notlage der Ostjuden verstand und deshalb die Errichtung eines jüdischen Staates mit der jüdischen politischen Nation für unentbehrlich hielt. Wie Herzl behaupteten auch Ha’am, Birnbaum oder Martin Buber – der den deutschen Kulturkreis kulturzionistisch beeinflusste und auch auf Max Brod großen Einfluss hatte – dass die Juden eine selbstständige Nation bildeten. Im Gegensatz zu Herzl verstanden sie aber den Antisemitismus nicht als negativen
Ascher Hirsch Ginsberg (1856 – 1927), Hauptvertreter des Kulturzionismus, publizierte 1889 unter dem Pseudonym Achad Ha’am (Einer aus dem Volk) den Artikel „Lo seh ha-Derech“ (Dies ist nicht der Weg), in dem er überstürzte Besiedlung Palästinas (Zion war für ihn ein geistig-kulturelles Zentrum) kritisierte und die erzieherische Arbeit als Schutz gegen die Assimilation der europäischen Juden forderte. Er lebte seit 1884 in Odessa, nahm an zionistischen Kongressen teil, wechselte 1907 nach London, 1922 nach Tel Aviv, wo er starb. Theodor Herzl (1860 – 1904) entwickelte in seiner berühmten Schrift Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage (1896) die Idee einer souveränen staatlichen Organisation, um völkerrechtlich die Siedlungsaktionen der Juden abzusichern. Der Judenstaat sollte entstehen, damit den Juden Möglichkeit gegeben wäre wegzugehen, denn sie seien in der Diaspora nicht gewünscht. Der größte Beitrag Herzls zur jüdischen Frage ist eher seine Fähigkeit, unterschiedliche jüdische Fraktionen zu vereinen und sie von der Notwendigkeit der Gründung eines selbstbewussten jüdischen politischen Staates zu überzeugen.
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jüdischen Nationalismus im Kontext der Nationalismen des 19. Jahrhunderts, dem nach dem Scheitern der Assimilation nichts anderes als Zuwendung seiner ursprünglichen nationalen Identität übrig bliebe, sondern Ha’am, Birnbaum und Buber legten Wert auf den positiven Gehalt einer jüdischen nationalen Identität. Der positive Nationalismus verlange ihrer Meinung nach vor allem die Entfaltung einer spezifisch jüdischen geistig-kulturellen Wesenseinheit. Denn die Krise der jüdischen Identität um die Jahrhundertwende hatte für sie ihren Hauptgrund in der geistigen ‚Entwurzelung‘ der Juden. Nicht der politische Zion in Herzls Sinne war für sie von Bedeutung, sondern ein geistig-kulturelles Zentrum, das die jüdische Kultur auf der ganzen Welt werde entfalten helfen⁸. Die Krise der Identität vor allem der assimilierten Westjuden glaubten die Kulturzionisten in Vermittlung der „reinen, unverbrauchten“ Lebensweise der europäischen Ostjuden gefunden zu haben, die sie für Grundlegung einer neuen gesamtjüdischen Identität hielten. Zu diesem Zweck wurde in Berlin 1901 die Zeitschrift Ost und West ⁹ gegründet, die sich zur Hauptaufgabe setzte, das Westjudentum mit Kultur, jiddischer Literatur und Lebensweise der Ostjuden bekanntzumachen. Die Redaktion der Zeitschrift stellte ihr Programm im Einleitungsaufsatz vor, in dem es hieß: Aus dem Gewirr der von aussen hereingetragenen Tendenzen, die das verflossene Jahrhundert hindurch das Judentum erfüllten, hebt sich ein lange übersehenes Element, die spezifisch-jüdische Kulturnuance, immer deutlicher hervor und fordert sein Recht auf Entwickelung. Das altjüdische Leben, das lange verschmäht und erniedrigt gewesen, erhebt sich, hüllt sich in die Gewänder der neuen Zeit und steigt langsam, aber sicheren Schrittes die Stufen zum Throne empor.¹⁰
In demselben Heft publizierte Martin Buber¹¹ seinen Aufsatz Jüdische Renaissance, der als Manifest einer kulturellen Erneuerung des europäischen Judentums
Vgl. Čapková: Češi, Němci, Židé? [Tschechen, Deutsche, Juden?], S. 186 – 188. Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum erschien in Berlin 1901 bis 1923. Die Redaktion leiteten zuerst Leo Winz (1876 – 1952), kulturzionistischer Journalist und Verleger, der aus Russland stammte, und Davis Trietsch (1870 – 1935), zionistischer deutscher Schriftsteller und Politiker, gemeinsam. Nachdem Trietsch den eigenen Jüdischen Verlag in Berlin gegründet hatte, gab er die Redaktionsarbeit auf. Zu den wichtigsten Beiträgern der Zeitschrift gehörte Martin Buber, der später die Kulturredaktion übernahm und leitete. [anonym] „Ost und West“ – in: Ost und West 1 (1901), H. 1, S. 2. Martin Buber (1878 – 1965) machte sich die größten Verdienste als Entdecker des Chassidismus für die westliche Welt. In seinen Texten zur chassidischen Literatur befasste er sich häufig mit der Trennungslinie zwischen den Begriffen „heilig“ und „profan“ und löste den Widerspruch, als er die Linie durch einen Übergang ersetzte, der für ihn der Chassidismus selbst war. Er verschaffte der chassidischen Literatur ihren Platz in der Weltliteratur.
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in kulturzionistischem Sinne galt. Er setzte sich in einigen Passagen mit dem überwundenen Ghettoleben und der darauffolgenden Assimilation der Juden auseinander, lehnte aber gleichzeitig den politischen Zionismus ab und sprach sich für ein qualitativ neues, inneres Leben des Judentums aus: Der äußeren Erlösung von Ghetto und Golus, die nur durch eine weit über das heute Gewährte hinausgreifende Umwälzung geschehen kann, muss eine innere vorausgehen. Den Kampf gegen die armselige Episode „Assimilation“, der zuletzt in ein wortreiches und inhaltsarmes Geplänkel ausgeartet ist, soll ein Kampf gegen tiefere und mächtigere Zerstörungskräfte ablösen. Dieser soll latente Energien in thätige umsetzen, Eigenschaften unseres Stammes, die sich in seiner Selbständigkeits-Geschichte geäußert haben, um in den Qualen der Diaspora zu verstummen, unserem modernen Leben in dessen Form wiederschenken.¹²
Das Westjudentum soll von seinem Ostbruder „das einheitliche, ungebrochene Lebensgefühl“¹³ lernen und der Wiedergeburt des Judenvolkes durch die Kunst helfen. In den folgenden Jahren trennte Buber eine immer tiefere Entfremdung von Herzls politischem Zionismus. Er zog sich aus der aktiven zionistischen Politik zurück, verließ Deutschland, ging nach Florenz, der Geburtsstätte der Renaissance, und widmete sich intensiv dem Studium des Ostjudentums, vor allem des Chassidismus. In seinen Erinnerungen Mein Weg zum Chassidismus von 1918 charakterisierte er diese Wendung als mystisches Erweckungserlebnis, das sein Leben grundlegend veränderte: Urjüdisches ging mir auf, im Dunkel des Exils zu neu bewusster Äußerung aufgeblüht: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Tat, als Werden, als Aufgabe gefasst. Und dieses Urjüdische war ein Unmenschliches, der Gehalt menschlichster Religiosität. […] Ich erkannte die Idee des vollkommenen Menschen. Zugleich wurde ich des Berufs inne, sie der Welt zu verkünden.¹⁴
Das Erweckungserlebnis trug zu seiner Überzeugung bei, er würde zum Propheten des neuen Judentums und zum Vermittler der jüdischen Werte für die Menschheit. Die Nacherzählungen chassidischer Literatur¹⁵, die in den literarischen und kulturellen Kanon eingingen, stellte er sich als seine Hauptaufgabe. Ihre Bedeutung
Buber: Jüdische Renaissance. S. 9. Ebenda, S. 9. Zitiert nach Davidowicz: Die Kabbala, S. 190 – 191. Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906); Die Legende des Baal Schem (1908). Diesen Anthologien folgte 1909 eine Sammlung mystischer Zeugnisse der Weltreligionen Ekstatische Konfessionen, die mit ihnen eine lose Trilogie bildet, in der Moderne und neue Zeit auf Tradition und Erbe treffen und das Religiöse ästhetisiert wird.
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liegt in Bubers freier Methode, die ostjüdischen Texte zu vergegenwärtigen, sie an den westeuropäischen Textstandard anzugleichen.
2 Max Brod und die Prager deutsche Literatur „Bedenkt man, […] wie sich Prag aus der geistigen Öde in kurzen drei Jahrzehnten zu einem wahren Literaturzentrum hinaufentwickelt hat, so darf man die frohe Hoffnung hegen, dass auch dem deutschen Drama aus der Stadt im Osten noch Licht und Erlösung kommen wird“¹⁶ schrieb 1917 Josef Körner¹⁷ über die deutschsprachige Prager Dichtung in der Wiener Illustrierten Monatsschrift Donauland. Was er unter dem „deutschen Drama“ genau verstand, ist heute nicht mehr ganz klar. Einige vermuten¹⁸, er verstünde unter diesem doppeldeutigen Begriff das literarische Genre, die Literatur als Ganzes, aber er denke dabei auch an die für die Böhmischen Länder damals bezeichnenden politischen und kulturellen Aktivitäten. Denn von der böhmisch-deutschen, vor allem aber der Prager deutschen Literatur ging damals etwas bisher Ungeahntes aus. Während in den literarischen Werken der Autoren aus dem böhmischen Grenzgebiet der deutschnationale Chauvinismus seinen Höhepunkt erreichte, wandten sich die Prager Autoren demonstrativ den tschechischen Kulturkreisen zu. Sie bemühten sich an die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem dominierenden tschechischen Element anzuknüpfen und betraten damit den bisher unbetretenen Weg eines gegenseitigen tschechisch-deutschen Verständnisses. Einer der Hoffnungsträger dieses neuen antinationalistischen Paradigmas war Max Brod (1884– 1968): Max Brod ist vielleicht nicht der begabteste, gewiss aber der vielseitigste unter den Genossen. Menschenscharfen Verstandes und außerordentlich energiebegabt, ein Organisationstalent sondergleichen, ist er zum Führer der Freunde prästabiliert. Er ist zugleich die interessanteste und problematischste Figur seines Kreises. Noch nicht viel über dreißig Jahre alt, hat er schon unzählige Wandlungen hinter sich, und mag man seine lyrischen und erzählenden Erstlinge vom ästhetischen und ethischen Standpunkt aus noch so strenge beund verurteilen, so wird dadurch der Respekt nur größer, den man den letzten Schöpfungen erweisen muß.¹⁹
Körner: Dichter und Dichtung, S. 784. Josef Körner (1888 – 1950) war böhmisch-deutscher Germanist jüdischer Herkunft, der das KZ Theresienstadt überlebte. Er studierte Germanistik in Wien und Prag, war ab 1919 als Gymnasiallehrer in Prag tätig. Er spezialisierte sich auf die Frühromantik, 1929 entdeckte er in der Schweiz Korrespondenz August Wilhelm Schlegels und gab sie in einer dreibändigen Sammlung – Krisenjahre der Frühromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis – 1936, 1937 und posthum 1958 heraus. Vgl. Haring: Modernekritik und literarischer Messianismus, S. 205. Körner: Dichter und Dichtung, S. 784.
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Diesen Kreis bildete die junge Generation der Autoren mit Max Brod an der Spitze, die den deutschen literarischen und kulturellen Diskurs in Böhmen grundsätzlich veränderte. Bemerkenswert war bereits ihre Zusammensetzung: Neben Brod waren es Franz Kafka (1883 – 1924), Franz Werfel (1890 – 1945), Otto Pick (1887– 1940), Rudolf Fuchs (1890 – 1942), Oskar Baum (1883 – 1941), Ernst Weiß (1882– 1940), Egon Erwin Kisch (1885 – 1948), Willy Haas (1891– 1973), Hermann Ungar (1893 – 1929) oder Ludwig Winder (1889 – 1946), junge Männer jüdischer Herkunft. Die neue Generation wurde nicht nur für Prag, sondern auch für die Weltliteratur zum beachtenswerten Phänomen – aus ihrer Mitte, dem kleinen Prager Raum, wuchs eine große Anzahl von Schriftstellern heran, die weltberühmt wurden. An ihrem Drang nach Tätigkeit, daran, wie der Kreis die zionistische Bewegung ins Leben rief, zeigte sich nun klar der unaufhaltsame Verfall des deutschen Liberalismus altösterreichischer Prägung. Die Werte der Revolution von 1848, aus denen die soziale, politische und wirtschaftliche Befreiung und das Assimilationsprogramm für die Juden vor einem halben Jahrhundert hervorging, hielt diese Generation für längst überwunden. Denn das Prager deutschsprachige Großbürgertum, auch jüdischer Herkunft, gestaltete die Revolution von 1848 mit und wollte die Tradition des deutschen demokratischen Freisinns und die revolutionäre Parole „Deutschtum und Fortschritt“ nicht fallenlassen. Durch Festhalten an den überwundenen Idealen unterschied sich das Prager liberale Großbürgertum vom ebenbürtigen deutschen der böhmischen Randbezirke, in denen die gesamte deutschsprachige Bevölkerung um so entschiedener dem kämpferischen Nationalismus anheimfiel, je mehr sich das nationale Selbstbewusstsein und die wirtschaftliche Kraft der Tschechen im 19. Jahrhundert verstärkten. Das deutschsprachige jüdische Prager Großbürgertum war aber auch selbst an der Abkapselung von seiner unmittelbaren Umwelt des tschechischen Prag schuld, da es die von den stets radikaler ausgetragenen nationalistischen Kämpfen bedingte ablehnende Haltung der Tschechen gegen alles Deutsche nicht zu mildern vermochte. 1897 drückt Theodor Herzl zusammenfassend diese Haltung in seinem Urteil über die Rolle der Juden im handgreiflichen tschechischdeutschen Streit in Folge der verpatzten Badeni-Sprachreform folgendermaßen aus: Die Juden in Böhmen sind zum weitaus größten Teile von deutscher Kultur erfüllt. Es hätte ihnen daher selbst von anständigen Tschechen nicht verübelt werden können, wenn sie bei aller Reserviertheit ihre Sympathien dem bildungsverwandteren Volksstamme zugewendet hätten. Die Deutschen wieder wären den Juden wohl dankbar gewesen, wenn diese unter
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Aufrechterhaltung und Betonung ihrer besonderen jüdischen Nationalität ihre Teilnahme an dem Kampf ums Dasein der Deutschen gezeigt hätten.²⁰
Herzls Worte sprachen den jungen Pragern aus der Seele. Als Generation bekannten sie sich nicht mehr mehrheitlich zu Idealen der Aufklärung und der Klassik, die nach Vorstellungen der vorangegangenen Generation das humanistische Erbe auch in der Zukunft retten sollten. Diese Ideale verloren in der technisch fortgeschrittenen, aber moralisch verdorbenen Zeit an Wirksamkeit. Die junge Generation wandte sich mehrheitlich den Ideen des Zionismus und Sozialismus zu. Vor allem der Zionismus in seiner Rückbesinnung auf jüdische Wurzeln und seiner Sehnsucht nach einem modernen nationalen Staat der Juden erschloss den jungen Autoren eine neue Rettungsperspektive. In den 1890er Jahren geriet der Assimilierungsprozess der Juden in eine Sackgasse, die ihre vielversprechende Assimilation in einem der beiden nationalen Lager in Böhmen, von der sie sich ihre völlige gesellschaftliche Anerkennung erhofften, fast unmöglich machte. Schuld daran war der Ausbruch des Antisemitismus in Böhmen 1897, an dem sich die sonst zerstrittenen und gegeneinander kämpfenden politischen Repräsentanten der Tschechen und Deutschen in ungeteiltem Maße beteiligten. Beide Volksgruppen versuchten durch die antisemitischen Ausschreitungen ihre Anhänger von dem Misserfolg ihrer Politik nach der misslungenen Badeni-Sprachreform für das Königreich Böhmen abzulenken. Der Antisemitismus zog sich über mehrere Jahre hinweg und gipfelte in der skandalösen HilsnerAffäre von 1899. In diesem Moment begriffen die jungen jüdischen Intellektuellen, dass die Hoffnung ihrer Väter auf eine gemeinsame politische Repräsentanz mit den Tschechen sowie den Deutschen in die Brüche ging und dass die Ideale der Revolution von 1848 definitiv begraben waren, und sie begaben sich auf Suche nach einer neuen Identifikationsmöglichkeit. Und sie glaubten sie in Herzls nationaler zionistischer Bewegung zu finden. Als ob die junge jüdische Intelligenz dies geahnt hätte, unternahm sie rechtzeitig organisatorische Schritte zur Festigung der jüdischen Unabhängigkeit von der tschechisch-deutschen Majorität in Böhmen: Schon 1893 riefen jüdische Hochschulstudenten in Antwort auf die Gründung der deutschnationalen Burschenschaft Germania den Verein Maccabäa ins Leben, den sie dann 1896 in den Verein der jüdischen Hochschüler umbenannten. 1899 ging aus ihm nach der Fusion mit dem Verein der jüdischen Akademiker der Verein Bar Kochba hervor, die erste zionistische Vereinigung in Böhmen, die dem ebenfalls 1899 gegründeten Verein Zion nahe stand und
Herzl: Die Juden Prags, S. 7.
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bereits von seinen Anfängen die Forderung des Kulturzionismus nach einer inneren Erneuerung des Individuums vertrat. Den Vorstand der Organisation hatten 1901– 1905 Hugo Bergmann (1883 – 1975), Denker und Philosoph, ein Freund von Franz Kafka, und Max Brod inne, der die beiden für die Gedanken des Zionismus auf kultureller Ebene gewinnen konnte. 1904 spaltete sich vom Verein Bar Kochba die Barissia ab, eine nonkonformistische Fraktion, die der Assimilation einen offenen Krieg erklärte und die Anerkennung der jüdischen Nationalität in Österreich-Ungarn anstrebte. Dieses Ziel konnte erst mit der Gründung der unabhängigen Tschechoslowakei erreicht werden. Als Dachorganisation von Bar Kochba und Barissia wurde 1908 die Lese- und Redehalle der jüdischen Hochschüler in Prag gegründet. Seither wurde die zionistische Bewegung bis zur Auflösung der Monarchie und der Gründung der ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 zur führenden Bewegung der jüdischen Intellektuellen in Prag und Böhmen und löste alle liberalen jüdischen Organisationen der Assimilierungsperiode ab. Auf der intellektuellen Ebene kamen von Martin Buber (1878 – 1965) viele Impulse für den Prager Zionismus, vor allem aus seinen Reden über das Judentum ²¹, die nach drei Vorträgen²² von 1909 und 1910 vor dem Publikum der jüdischen studentischen Lese- und Redehalle den Wegweiser der Bewegung für die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts boten. Buber überredete Leo Herrmann²³, der 1909 der Vorsitzende des Vereins Bar Kochba war, zum Besuch in Prag. Er schilderte ihm die Ausgangsposition der Prager Juden, wie sie sich inmitten eines nationalen Konflikts befänden, in dem ihnen für ihre eigenen Interessen keinen Platz mehr übrigbliebe, weil sie mit der deutschen Kultur, mit der sie kein nationales Band binde, innig verbunden seien²⁴. Da sich aber die tschechische Kultur dramatisch verbreite, wendeten sich sehr viele ihr zu. Da
Martin Buber: Drei Reden über das Judentum (1911). Der erste Vortrag „Das Judentum und die Juden“ wurde im Januar 1909, der zweite „Das Judentum und die Menschheit“ im April 1910 und der dritte „Die Erneuerung des Judentums“ im Dezember 1910 abgehalten. Leo Herrmann (1888 – 1951) war böhmischer zionistischer Aktivist, 1908 – 1909 Vorsitzender des Vereins „Bar Kochba“, 1910 – 1913 Redakteur der zionistischen Wochenzeitung Selbstwehr, unter seiner Leitung wurde die Zeitschrift zum respektierten politischen und literarischen publizistischen Organ. Nach 1918 nahm er als Mitglied der tschechoslowakischen Delegation an den Nachkriegsverhandlungen in Versailles teil, in denen die Staatsgrenzen der neuen Republik festgelegt wurden. 1926 setzte er sich nach Palästina ab. Vgl. dazu die Äußerung Brods zu seiner kulturellen Zugehörigkeit: „Mein Verhältnis zum Deutschtum definierte ich als Kulturverbundenheit, denn aufs vertraulichste und entschiedenste war ich in deutscher Kultur erzogen worden, das bedeutete aber von nun an nicht mehr, daß ich mit dem deutschen Volk in eins zu verschmelzen hoffen durfte.“ Brod: Streitbares Leben, S. 46.
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beide Kulturen den Juden nicht gehören – die Juden übernehmen sie nur –, musste man sie mit der jüdischen Geschichte und Traditionen bekanntmachen. Buber zufolge war es ein grober Fehler, dass ein Teil des jüdischen Volkes sich keine neuen geistigen Werte schuf. Nur unter um Preis des Verlustes der eigenen Seele könne es Werte derjenigen Volksgruppen übernehmen, bei denen es nur zu Gast sei. Buber aber kannte die Prager Verhältnisse relativ gut, da er sich mehrmals vor seiner Vortragsreise 1909/1910 in Prag auf Einladung der zionistischen Organisation aufgehalten hatte. Er sprach in Prag über eine neue jüdische Orientierung der Wahrnehmung, die sich in individueller, von der veränderbaren Welt unabhängigen Wahrnehmung präsentieren und eine gemeinsame Substanz in der Seele der Einzelnen schaffen werde. Dazu gehöre ein subjektiver Nationalismus²⁵, der zur Entwicklung der eigenen nationalen Identität keiner einheitlichen Sprache oder geteilter Erfahrungen bedürfe. Bubers Vision des abgetrennten subjektiven Ich von der realen Welt und seiner neuen Eingliederung in die äußere Welt sprach die jungen Prager Juden an, die von den Quellen der jüdischen nationalen Kultur abgeschnitten waren, aber sich nach einer jüdischen nationalen Identität sehnten. Da aber die Juden kein eigenes Land, keine einheitliche Nationalsprache und keine eigene lebendige nationale Gemeinschaft wie andere souveräne moderne Völker besäßen, müssten sie sich ihrer Zugehörigkeit zu einer äußeren Gemeinschaft durch imaginative Projektion ihres eigenen Ich, des Ewigen und Einzigartigen in ihm bewusst werden. Das Judentum warte immer noch auf seine Eingliederung in die reale Welt und verkörpere deshalb die elementare Bewegungskraft des Geistes auf seinem Weg zum universalen Humanismus. Darin liegt nach Buber die Erneuerung des modernen Judentums – um diese geistige Aufgabe zu erfüllen, müsse es zu seiner geistigen, kulturellen Wurzel zurückkehren und mit ihr die anderen Völkergemeinschaften im kulturellen und geistigen Austausch bereichern. Dies sei der echte jüdische Nationalismus, nicht das Ringen der politischen Zionisten um einen selbstständigen jüdischen Staat in Herzls Sinne. Das sich befreiende Judentum sähe sein Ziel in der gegenseitigen Befruchtung mit den die Juden in Diaspora umgebenden Völkern. Es war kein Zufall, dass Brod in dem jüdischen Philosophen Martin Buber seinen Verbündeten erkannte. Er konnte
Wie Brod neue Bubers Auffassung des Nationalismus beeindruckte, davon zeugt seine Erinnerung: „Hugo Bergmann und Oskar Epstein, meine beiden neuen Lehrmeister, waren sehr streng. Buber war etwas konzilianter, gab mehr Offenheiten des Weges. Doch die beiden schieden scharf zwischen einem nur formalen Nationalismus, der sich in Propaganda, im Vereinsleben genugtat, und einem wesenhaften, der einen neuen Menschen des Geistes bilden wollte, das ganze Sein des Individuums, auch seine privatesten Beziehungen, seine Sexualität, seine seelischen Dispositionen mitumfaßte. All das, was nicht den ganzen Menschen und seine wirklichste Wirklichkeit ergriff, wurde als ‚zu billig‘, als Phrasenhaftigkeit, als ‚Papier‘ abgelehnt.“ Ebenda, S. 48.
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sich mit der von ihm verlangten „inneren Wandlung“ und „erlösenden Tat“ jedes einzelnen jüdischen Menschen, der aus der Zerrissenheit der Verhältnisse im europäischen Westjudentum zu den lebendigen Wurzeln seiner Völkerschaft zurückfinden wollte, sofort identifizieren, mehr noch dann mit Bubers Vorstellung von einer jüdischen Renaissance, die eine neue Form von Menschengemeinschaft schaffen werde und heilsam auf das Zusammenleben aller Völker und Nationen wirke. Dieser Gedanke beeinflusste Brods Denken wesentlich.²⁶ Er ließ sich von Bubers Ekstatischen Konfessionen inspirieren und dachte wie er, dass sich das ekstatische Einheitserlebnis des Mystikers in einer Tat vollziehe, in der der Gegensatz von Ich und Welt vorübergehend aufgehoben werde. Die Aufgabe des Dichters sei daher, die Erfahrung der Einheit in der Vielfalt zu erreichen und „den uralten Mythos neu zu dichten.“²⁷ Bubers Konzept des Kulturzionismus in Sachen der „Erneuerung“ der geistigen Autorität, der wesentlich von Herzls Konzept des politischen Zionismus abwich, und das Charisma seiner Persönlichkeit, hinterließ bei den Pragern eine deutliche Spur. Noch eine Person des Zionismus übte Einfluss auf Brod aus, vielleicht einen nicht absichtlichen oder gar gewollten. Aber Brods Idee der Kulturvermittlung als „Distanzliebe“, heute würden wir sie „Interkulturalität“ nennen, basiert zum großen Teil auf einer Idee von Achad ha-Am²⁸, der im Unterschied zu Herzl Palästina nicht als politischen Judenstaat dachte, sondern als Mittelpunkt des jüdischen Geisteslebens, aus dem die Juden in der Diaspora Inspiration schöpfen sollten: „Die geistige Verankerung der Judenheit in Palästina könnte die Distanz zu den Gastvölkern ermöglichen und so der Assimilation vorbeugen“²⁹. Brod deutete den Begriff in seinen Erinnerungsbüchern und weitete ihn auf das Zusammenleben zweier beliebiger Völker aus.³⁰ Im Unterschied zum deutsch- oder tschechisch-böhmischen Patriotismus, zu welchem sich die um Assimilation kämpfende Generation der Väter bekannte, suchte die Brod-Generation kein In-
Vgl. Haring: Modernekritik, S. 206. Buber: Ekstatische Konfessionen, S. 22. Achad ha-Am (Einer aus dem Volk), mit dem eigenen Namen Ascher Cvi Hirsch Ginsberg (1856 – 1927), war ein zionistischer Aktivist und Hauptvertreter des Kulturzionismus und seiner Lehre vom „geistigen Zentrum“ in Palästina.Von 1884 bis 1907 lebte er in Odessa, dann in London, ab 1922 dann in Tel Aviv. Im Artikel „Dies ist nicht der Weg“ (1889), der unter dem Pseudonym Achad ha-Am erschien, kritisierte er die Politik der Besiedlung Palästinas und forderte erzieherische Arbeit als Schutz gegen die Assimilation. Pazi: Max Brod, S. 50. Šrámková: Max Brod, S. 18. Šrámková legte mit diesem Titel das bisher aufschlussreichste Buch über die Vermittlerrolle Brods zwischen der deutschen und tschechischen Kultur vor, in dem sie seine Aktivitäten im Bereich der Musik, Literatur, bildenden Kunst und des Theaters entsprechend würdigt.
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tegrationsmodell mehr, sondern eine auf Distanz ruhende Kulturvermittlung. Mit heutigen interkulturellen Begriffen ausgedrückt zeigte sich bei ihr ein Perspektivenwechsel in der Wahrnehmung des Fremd-Werdens oder des Fremd-WerdenLassens ihres eigenen Selbstverständnisses. Die so gewonnene Distanz setzt Neuorientierung des Bestrebens und der Selbstreflexion voraus.³¹ Max Brod löste für sich diese Frage, indem er sich nicht als Deutschen oder Juden, sondern als deutschsprechenden Juden bezeichnete: Ich fühle mich nicht als Angehöriger des deutschen Volkes, doch bin ich ein Freund des Deutschtums und außerdem durch Sprache und Erziehung […], dem Deutschen kulturverwandt. Ich bin ein Freund des Tschechentums und im Wesentlichen […], dem Tschechentum kulturfremd. Eine einfachere Formel eines jüdischen Diaspora-Daseins in einer national geteilten Stadt ist mir unmöglich“.³²
Er erwähnte und modifizierte dabei auch seine Beziehung zur tschechischen Kultur, indem er sich zu einer gewissen Kulturverwandtschaft mit den Tschechen bekannte, die aber des wesentlichen sprachlichen Zusammenhangs entbehrte. Das neue Modell der Koexistenz nannte Brod die Distanzliebe: Den zentralen Begriff nenne ich ‚Distanzliebe‘. Er gilt nicht nur zwischen Juden und Deutschen, sondern überall, wo zwei Bevölkerungsgruppen räumlich und seelisch zusammenstoßen, die ihren eigenen Charakter haben. Es handelt sich hier nicht um ein Besser- oder Schlechter-Sein, sondern um ein Anders-Sein. Dieses Anders-Sein hat zur Folge, dass eine Distanz zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen empfunden wird – diese Distanz verhindert allzu grobe Intimität […],, schafft aber gleichzeitig, eben aus dem Gefühl der Entfernung heraus, den Wunsch, eine Überbrückung zu vollziehen. Distanzliebe ist also ein dialektischer Begriff. Im Allgemeinen ergibt sich da, wo Liebe ist, zumindest begriffsmäßig keine Distanz – und da, wo Distanz ist, keine Liebe. […] Distanzliebe geht, da sie doch Liebe ist, richtig erfasst, darauf aus, den zwischen zwei Menschengruppen bestehenden Abstand nach Möglichkeit zu verkleinern. […] Liebe also trotz der Distanz – und Distanz trotz der Liebe.³³
3 Max Brod als Kulturvermittler Die von Brod übernommene zionistische Idee der Kulturvermittlung als typisch jüdische Aufgabe für die Humanisierung aller Völker führte zur Umdeutung seiner kulturpolitischen und schriftstellerischen Prioritäten und sicherte ihm die be-
Gutjahr: Alterität und Interkulturalität, S. 352. Brod: Juden, Deutsche, Tschechen. Eine menschlich-politische Betrachtung. – In: Brod: Im Kampf um das Judentum. S. 7– 36, hier S. 15. Brod: Der Prager Kreis, S. 72 ff.
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deutendste Stellung unter den Prager deutschsprachigen jüdischen Schriftstellern. Die Prager und natürlich die böhmisch-deutsche Literatur in den deutsch besiedelten Randgebieten Böhmens orientierten sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zur deutsch-mährischen Literatur an Berlin, Wien war nicht mehr ihr Vorbild. Der Grund war die sozial-politische Situation in Böhmen. Die Prager deutschen Schriftsteller fühlten sich viel mehr als ihre Wiener Kollegen angesichts der andauernden nationalen und sozialen Kämpfe aufgefordert, gesellschaftlich Stellung zu beziehen, „Partei“ zu ergreifen. Die deutsche Literatur des kaiserlichen Wien blieb, obwohl die Stadt mit ähnlichen Problemen wie Prag konfrontiert war – dort durch kaum kontrollierbare Zuwanderung aus allen Himmelsrichtungen der großen Monarchie verursacht –, von den gesellschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen unberührt. Wien blieb mindestens äußerlich und für Außenstehende immer noch eine „Insel der Seligen“. Der Generationenwechsel, der sich in Berlin im Siegeszug des Naturalismus, der „das Neue, Eigene und Besondere an Gedanken,Wünschen und Hoffnungen“³⁴ in den Werken der jungen Autoren brachte, kündigte den Bruch mit der Tradition und der Zuwendung zu sozialen Fragen an. Junge Österreicher erhoben auch ihre Stimmen in den sich rasch ändernden Lebensbedingungen, sie taten es aber ohne Programm, sie verkündeten die ihnen gemeinsamen ästhetischen und ideellen Ziele eher individuell, unter der strengen Ägide Hermann Bahrs, der für die Beibehaltung der österreichischen Tradition resolut eintrat. Sie wollten sie mit neuem Inhalt füllen, aber keineswegs auf sie verzichten, denn sie sahen in ihr das aus deutschen, slawischen, romanischen und jüdischen Wurzeln Zusammengewachsene, das sich jahrhundertelang gegenseitig befruchtet hatte.³⁵ Brod, voll von Bubers Gedanken inspiriert, kehrte jedoch um und begann auch Richtung Wien Ausschau zu halten. Neben Hermann Bahr und Arthur Schnitzler war es aber vor allem Hugo von Hofmannsthal, auf den sich Brods Aufmerksamkeit richtete. Er lud ihn 1912 zu einer Lesung nach Prag ein, um ihn endlich persönlich kennenzulernen. Jahrzehnte später verschmolzen Brods Erinnerungen an diese Zeit mit seinem Bekenntnis zum einst rasch unterbrochenen traditionsreichen Österreichertum, dem er in späteren Jahren des Exils als dem durch Kriegswirren verschwundenen gewünschten Ausgangspunkt für die kulturelle und politische Annäherung der Völker immer mehr nachtrauerte: „Zumindest war es diese Atmosphäre in der Vergegenständlichung des spezifisch SüdlichÖsterreichischen seines Genies, was mich seit vielen Jahren magisch zu ihm hingezogen hat. Denn daß auch ich in Österreich geboren bin, in dem damals österreichischen Prag des
Bahr: Die Überwindung des Naturalismus, S. 163. Vgl. auch Tvrdík: Prager deutsche Literatur und Wiener Moderne. S. 39 – 47.
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Kronlandes Böhmen […], daß ich den längsten Teil meines Lebens in diesem schönen Erdenwinkel verbracht habe, ist zwar doch kein Adelsdokument, ich darf aber wohl aussprechen, daß es mich für die von Hofmannsthal ausgehenden Strahlungen besonders empfänglich macht und gleichsam einen vermittelnden Hauch herangeweht bringt.³⁶
Zu einem solchen Versöhnungston gelangte Max Brod nach fünfzig Jahren seines turbulenten Lebens. Als der Krieg 1914 ausbrach, fand er die Prager jungen Autoren völlig ratlos und verwirrt ihm gegenüber vor. Brods Aktivitäten auf politischem und sozialem Gebiet und sein Streben nach Herstellung einer neuen Identität der jungen jüdischen Generation innerhalb der vielen Völker Österreich-Ungarns entsprachen kaum dem „Habitus deutschsprachiger Kultur (man vergleiche nur die Passivität seines Freundes Kafka, von der reichsdeutschen Mentalität ganz zu schweigen)“³⁷. Brod befand sich auf dem Gegenpol der kriegsbegeisterten deutschen und österreichischen Jugend, hörte nicht auf zum Frieden aufzurufen. Im Aufsatz Organisation der Organisationen forderte er alle „Geistigen“ auf, in politischen Organisationen an der Völkerverständigung mitzuwirken, denn es genüge nicht „selbst zwar ein Heiliger zu werden, die übrigen Menschen jedoch […] ihrem Schicksal zu überlassen“.³⁸ Die Umstände für die Entfaltung seiner humanistischen Friedensideen waren in Prag günstig. Keiner seiner jungen schriftstellerischen Kollegen verherrlichte den Krieg in seinem Werk, so konnten die Beziehungen zu der parallelen tschechischen Landeskultur, die die eher dem Krieg feindlich gesinnten Tschechen repräsentierte, sogar intensiviert werden. Brod erinnerte sich rückblickend: Mit den Tschechen hielten wir gute Nachbarschaft und die tschechischen Dichter liebten wir; da gab es überhaupt nichts, was die Grenze oder Absonderung abgesperrt habe. Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, die uns nicht weniger als die deutsche sagte.³⁹
Der Funke des ursprünglich kulturzionistischen Versuchs einer innerjüdischen Identitätssuche nach dem wahren Individuum sprang auf den allgemeinen Bereich der Kulturvermittlung zwischen den Volksgruppen und Nationen über, die in den Prager und böhmischen Verhältnissen zu einer Form der deutsch-tschechischen Verständigung wurde. Anklänge spürte man bereits vor dem Krieg auf beiden Seiten des nationalen Spektrums. 1913 machte der tschechische Journalist Rudolf Illový in einer tschechischen Zeitschrift auf die „jüngste Generation“ (die
Brod: Mira, S. 292. Bärsch: Max Brod, S. 52. Brod: Organisation der Organisationen, S. 78 – 79. Vgl. Bärsch: Max Brod, S. 53. Brod: Der Prager Kreis, S. 207.
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spätere Generation des „Prager Kreises“) der Prager deutschen Schriftsteller und ihre Sympathien zu den Tschechen aufmerksam: Jene Generation nahm einen von der Richtung der deutschen Politik völlig abweichenden Standpunkt ein. Es sind junge Intellektuelle, die unvoreingenommen auf die Kämpfe der tschechischen Nation und auf ihre kulturellen Bemühungen schauen und am tschechischen Leben als Beobachter teilnehmen im Bestreben, alle seine Erscheinungen kennenzulernen.⁴⁰
In dieser Generation trat eine Wende in der Wahrnehmung der tschechischen Kultur ein. Eduard Goldstücker⁴¹ hat – anders als Max Brod – diese Wende aus soziowirtschaftlicher marxistischer Sicht als das bedrohende Gefühl des schrumpfenden Bevölkerungsanteils der Deutschen in Prag und ihre Angst vor dem drohenden Untergang gedeutet, wobei Barbora Šrámková in ihrer BrodMonographie hervorhebt, „daß es nicht mehr möglich war, den immer stärker und selbstbewußter werdenden Nachbarn zu ignorieren“.⁴² Mit Brod an der Spitze folgten in raschem Tempo Aktivitäten der jungen Autoren, die anfingen das deutsche Publikum mit den zeitgenössisch als Glanzleistungen der tschechischen Kultur empfundenen Werken bekanntzumachen. Mit dem aus Max Brod, Rudolf Fuchs und Otto Pick bestehenden Triumvirat der fleißigen Übersetzer aus dem Tschechischen bildete sich eine Gruppe der Kulturvermittler. Brod widmete sich von Anfang an dem Musik- und Theaterbereich⁴³, dem er bis 1939 treu blieb. Otto Pick⁴⁴ legte bereits 1912 seine Übersetzung Flammen aus den Erzählungen des populären vitalistischen Prosaikers Fráňa
Rudolf Illový: Němečtí básníci pražští a Češi [Prager deutsche Dichter und die Tschechen]. In: Veřejné mínění 2, H. 8 (16.11.1913), S. 2. Zitiert in der Übersetzung von Kurt Krolop aus: Krolop: Zur Geschichte und Vorgeschichte der Prager deutschen Literatur, S. 31– 32. Goldstücker: Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen, S. 30 f. Šrámková: Max Brod, S. 13. Max Brod stellte seine musikalischen Kompositionen, obwohl er eher als Romanautor und philosophischer und theologischer Denker bekannt ist, seinen prosaischen Schriften gleich. Er komponierte musikalische Begleitungen zu seinen Dramen, vertonte daneben seine eigenen Gedichte und die von Goethe, Heine, George, Hugo Salus, Shakespeare u. v. a. Sein musikalisches Oeuvre zählt an 38 Opus-Nummern und 90 Liedern (Vgl. Šrámková: Max Brod und die tschechische Kultur, S. 33). Dem emotionalen Stellenwert der Musik legte er metaphysische Bedeutung bei, weil ihm zufolge nur musikalische Mittel das Unaussprechliche auszudrücken vermögen und deshalb die Musik in der Vermittlung der Kulturgüter eine unabdingbar führende Rolle einnehme. Otto Pick (1887– 1940) konzentrierte sich mit den Übersetzungen der Werke von Karel und Josef Čapek, Otokar Březin oder František Langer fast ausschließlich auf seine Vermittlerrolle. 1920 gab er die Anthologie Tschechische Erzähler heraus. Seit 1921 arbeitete er als Feuilletonredakteur und Literaturkritiker bei der regierungstreuen Prager Presse.
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Šrámek vor, den auch Brod und Kafka persönlich kannten. Rudolf Fuchs⁴⁵ wählte 1916 die Schlesischen Lieder des tschechischen sozialrevolutionären Arbeiterdichters Petr Bezruč, der zu dieser Zeit als Kriegsverweigerer gefangengenommen wurde und im Arrest saß. Max Brod machte nach der Prager Erstaufführung der Oper Její pastorkyňa (Ihre Ziehtochter) von Leoš Janáček im Mai 1916 eine bahnbrechende musikalische Entdeckung, die die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts umschrieb. Seine begeisterte Besprechung der modernen Oper des mährischen Komponisten, der mit der Rezeption seines Werkes bisher auf Mähren beschränkt blieb, öffnete für ihn die Tore Böhmens, wo er bisher nicht akzeptiert war, und später auch Europas. Brod besuchte den Meister in Brünn, wo er mit ihm die Übersetzung des Librettos ins Deutsche besprach und ihm gleich den Verleger anbot. Bis zum Tod des Komponisten 1928 kümmerte sich Brod um internationale Verbreitung seiner Musik. In seiner Übersetzung des Librettos (1917)⁴⁶ betitelte er die Oper Jenůfa. ⁴⁷ Die Übersetzung betrachtete Brod als künstlerische Leistung, die einer eigenständigen Motivation folgt: „Die Übersetzung muß nach meiner künstlerischen Überzeugung auch für sich ein Kunstwerk sein, also kein ‚Operndeutsch‘, sondern eine gesunde volkstümliche Sprache. Mit der Musik muß sie genau im Akzent und im logischen Gewicht harmonieren!“⁴⁸ Das war für Brod eine umso schwierigere Arbeit, als das Libretto Prosa-Charakter hatte (es basiert auf einem Roman von Gabriela Preissová) und darüber hinaus in einem mährischen Dialekt verfasst war. Da Brod die Übertragung in eine deutsche Mundart, wie es der Regisseur der deutschen Uraufführung in Wien verlangte, resolut ablehnte, ist die deutsche Textfassung wesentlich neutraler als das tschechische Original. Nach der Wiener Uraufführung 1918 nahm sich Brod des Komponisten an und begleitete ihn mit seinen unermüdlichen Übersetzungen der Libretti⁴⁹ und seiner Monographie⁵⁰ über ihn auf dem Siegeszug durch deutschsprachige Länder, später auch Europa und die ganze Welt.
Rudolf Fuchs (1890 – 1942) gab darüber hinaus 1926 die Anthologie „Ein Erntekranz. Aus hundert Jahren tschechischer Dichtung heraus und unterstützte Franz Pfemfert bei der Zusammenstellung der expressionistischen Auswahl Jüngste tschechischer Lyrik (1916). Janáček: Ihre Ziehtochter. Oper aus dem mährischen Bauernleben. Šrámková: Max Brod, S. 80. Zitiert nach: Šrámková: Max Brod, S. 82. Max Brod übersetzte und bearbeitete folgende Libretti von Janáčeks Opern: Káťa Kabanová (UA 1922, dt. Übersetzung Katja Kabanowa, 1922), Příhody lišky Bystroušky (UA 1924, dt. Übersetzung Das schlaue Füchslein, 1924), Věc Makropulos (UA 1928, dt. Übersetzung Die Sache Makropulos, 1926), Z mrtvého domu (UA 1930, dt. Übersetzung Aus einem Totenhaus, 1930). Max Brod: Leoš Janáček. Leben und Werk. Zugleich erschien die tschechische Übersetzung von Alfred Fuchs. Max Brod verfasste mehrere Biographien, mit denen er sich für Künstler einsetzte, die er als förderungswürdig schätzte, die aber öfters von der Welt verkannt oder miss-
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Max Brod kommentierte und propagierte für die deutsche Leserschaft auch auf den Seiten des Prager Abendblattes (1921– 24) und des Prager Tagblattes (1924– 39) die tschechische Musik und das tschechische Theater in ihren größten Vertretern bis 1939. Er lobte, kommentierte sachlich und tadelte, immer aber setzte er sich für das gute Werk und seine gelungene Inszenierung vehement ein. Er verhalf František Langer zu Inszenierungen seiner Peripherie (1925) durch Reinhardt in Berlin (1926) und Wien (1927), schätzte phantastische und utopische Stücke von Karel und Josef Čapek (R.U.R., Aus dem Leben der Insekten, Die Sache Makropulos) sowie politisch warnende Stücke (Die weiße Krankheit, Die Mutter) hoch. Mit seinem Vergleich zwischen Langers Peripherie und Kafkas Schloss weitete er die gemeinsamen Wurzeln auf das europäische Kulturerbe aus. Noch eine Leistung Brods darf nicht übersehen werden: sein Einsatz für einen Kolportageroman über den braven Soldaten Schwejk im Großen Krieg, den sein Autor Jaroslav Hašek in Fortsetzungsheften publizierte und persönlich vertrieb. Hašek lebte nach der Rückkehr aus dem Krieg in äußerster Not und verfiel der Trunksucht. Brod wurde auf den Roman von seinem Mitarbeiter im MinisterratsPräsidium, wo er als Kulturreferent arbeitete, aufmerksam gemacht und erkannte sofort seine literarische Qualität. Der heute weltberühmte Hašek war damals „bei der hohen tschechischen Literatur weniger als nicht angesehen, er war überhaupt nicht vorhanden“,⁵¹ klagte Brod, der Hašek nach der Lektüre einzelner Hefte für einen hervorragenden Humoristen hielt, der an Cervantes und Rabelais anknüpfe und sich mit ihnen messen könne. Denn auch ihn umschwebe „das Zweideutige, Hintergründige, Gemischte, das alle unsterblichen Gestalten der Weltliteratur auszeichnet“⁵². Brod kannte den Autor zwar nicht persönlich, es ließ sich keine Beziehung herstellen, wie es bei Janáček der Fall war, aber er knüpfte eine zu der literarischen Figur. 1921 besuchte er eine sketchartige Dramatisierung einzelner Passagen des Romans, die im Cabaret Adria unter Mitwirkung von E. A. Longen gespielt wurde, nachdem der Roman Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války (Die Geschicke des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges) in Prag populär zu werden begann. Die erste deutsche Übersetzung des Romans – Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk während des Weltkrieges – von Grete Reiner erschien 1926 im Prager Verlag Synek. Brod, Pick und Fuchs, die Verdienste in Übersetzungen der tschechischen Literatur verzeichnen konnten, lehnten Reiners Übersetzung ab. Das war auch der Grund, warum Brod und Max Reimann verstanden wurden. Als Beispiele sind u. a. Heinrich Heine dargestellt vor der Folie der jüdischen Assimilation (1934), Franz Kafka (1937), Gustav Mahler (1961) oder der tschechische Librettist und Schriftsteller Karel Sabina (1962) zu nennen. Brod: Streitbares Leben, S. 253. Ebenda, S. 253.
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1927 für die berühmteste deutsche Dramatisierung des Romans auf das tschechische Original zurückgriffen. Ihre Dramatisierung Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk wurde von Erwin Piscator auf seiner Berliner Bühne am 23. Januar 1928 uraufgeführt und leitete den Weltruhm dieses tschechischen Schriftstellers ein.
4 Resümee Max Brod begann mit dem Kulturzionismus, am Ende waren die Früchte mühevoller, hartnäckig verfolgter Arbeit der Versuch gegenseitiger Verständigung im Namen der besseren Zukunft. Brod musste 1939 das bittere Ende seiner Bemühungen erleben. Es war aber gerade der Kulturzionismus, der der neuen dichterischen und intellektuellen jüdischen Generation den Weg zeigte, wie man die Beschränktheit der gegenwärtigen mitteleuropäischen Wirklichkeit durchbrechen kann, wie man die neue Qualität des Lebens erreichen und wie neue menschliche Gemeinschaften geschaffen werden können, in denen man sich schöpferisch ungehindert verwirklichen könnte. Max Brod galt als Bindeglied zwischen dieser neuen Generation und den Jung-Pragern und arbeitete sich allmählich unter Anerkennung aller Zeitgenossen zum bedeutsamen Vertreter der Prager deutschen Literatur empor: „Denn wiewohl er damals erst in den literarischen Anfängen stand, hatten namentlich wir Jüngeren das Gefühl, daß die deutsche Literatur in Böhmen durch ihn zum ersten Mal der Welt ein Talent präsentiere, dessen Prosa vom aktuellen europäischen Rhythmus getragen war. Wir hatten durch Brod aufgehört, Provinz zu sein“,⁵³ erinnerte sich Jahrzehnte später Friedrich Thieberger an jene Jahre. Brods unermüdliche organisatorische Tätigkeit, sein Engagement in der zionistischen Bewegung, seine literarischen und musikalischen Entdeckungen, seine Förderung der tschechischen Kultur, seine Bemühungen um einen vernünftigen Konsensus in den gegenseitigen Beziehungen von Tschechen, Deutschen und Juden in der ersten Tschechoslowakischen Republik nach 1918 weisen auf eine außergewöhnliche Persönlichkeit hin, die um unvoreingenommene Wertung und gerechte Einschätzung aller kulturellen und literarischen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemüht war und dabei das eigene, sehr umfangreiche, literarisch allerdings eher durchschnittliche Schaffen zurückstellte, um die als belangvoll erkannte Literatur von Schriftstellerkollegen hervortreten zu lassen. Ohne Brod gäbe es keinen Kafka, wahrscheinlich auch keinen Werfel oder Torberg, ohne Brod wäre wohl die Welt um die
Thieberger: Die Stimme, S. 100.
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Figur des braven Soldaten Schwejk ärmer, ohne Brod hätte die künstlerische Welt auf die bahnbrechende musikalische Erscheinung Leo Janáčeks verzichten müssen. Max Brod wurde zum Vermittler der Prager deutschen und auch der tschechischen Kultur im gesamteuropäischen Maßstab.
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Georg Mannheimer: Ein Mitteleuropäer zwischen Deutschjudentum, Zionismus und Tschechoslowakismus 1 Identitäten und Zuschreibungen Wird in der neueren Interkulturalitätsforschung der Gedanke in verschiedenen Variationen ausgedrückt, dass „in einer globalisierten Welt Kulturen weder territorial verortet werden können noch an homogene Gemeinschaften gebunden sind“ und dass sich globale Kulturen „durch ihre Fluidität, Grenzverschiebung bzw. -aufhebung aus[zeichnen] und […] dabei auch neue Strategien des Ein- und Ausschlusses“ entwickeln,¹ so lässt sich fragen, wie es mit der Verortung, Abgrenzung, Homogenität und Stabilität von Kulturen und kulturellen Identitäten vor der Globalisierungsepoche beschaffen war, etwa in den mitteleuropäischen Zusammenhängen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Die Forschung und Publizistik zur deutschsprachigen Kultur in den Böhmischen Ländern pflegte lange Zeit diese Szene in festgefügte politische, kulturelle und konfessionelle Formationen zu gliedern, sie in wechselseitigen Abgrenzungen zu homogenisieren und im Sinne eines Systems von semantischen Oppositionen vereindeutigend zu erfassen. So wurde eine Mehrzahl derartiger Konstellationen identitärer Zuschreibungen in verschiedener Art und Weise eingesetzt: Deutsche – Juden – Tschechen, Prager Deutsche – Sudetendeutsche, Aktivisten – Revisionisten etc. Die neueren historiographischen Publikationen² haben indessen nachgewiesen, dass weder die Auffassung dieser Zuschreibungen als stabile Wesenheiten noch eine klare Separierung der mit ihnen verbundenen Sphären den historischen Tatsachen entsprechen. Vielmehr sind derartige ‚Identitäten‘ als Konstrukte aufzufassen, die ständigem Wandel (also ständiger Nicht-Identität) ausgesetzt sind und nicht voneinander getrennt werden können, weil eine klare
Kimmich, Schahadat: Kulturen in Bewegung, S. 8. Da diesem Kulturkonzept ein ebenso komplexes und dynamisches Bild des Selbst entspricht, will Yvette Sánchez eher von situationsabhängigen und versatilen „Prozess der Identifikation“ sprechen und nicht den ergebnisorientierten Begriff ‚Identität‘ verwenden. Sánchez: Transkulturelles Verhandeln, S. 59. Insbes. Koeltzsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918 – 1938); Čapková: Češi, Němci, Žide´? Na´rodni´ identita Židů v Čecha´ch 1918 – 1938. [Engl. Übersetzung: Czechs, Germans, Jews? National Identity and the Jews of Bohemia]. https://doi.org/10.1515/9783110536003-016
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Grenzziehung immer wieder misslingt und das Eine in der Regel erst im Wechselverhältnis zu dem Anderen etabliert wird, so dass schließlich kein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem intra- und interkulturellen besteht.³ Alle Kultur- und Gesellschaftsformationen „hatten regelmäßigen Umgang miteinander, was dazu fü hrte, dass sie stets von Neuem in ein Staunen ü bereinander gerieten, dass sie nicht (oder eben nicht jederzeit) von festgefü gten Bildern des Fremden ausgingen, sondern solche Bilder des nahen Fremden in stetiger Verschiebung hielten.“⁴ Die traditionellen Formeln für die spezifische Interkulturalität der Böhmischen Länder wie die von ‚Deutschen – Juden – Tschechen‘ können auch schon deswegen nicht befriedigend sein, weil sie in sich sehr heterogene Kollektive vereinheitlichen. Ob man sich etwa als konservativer Jude, als assimilierter Deutscher jüdischer Konfession oder Herkunft oder als Zionist deklarierte, stellte für die gesellschaftliche Positionierung und Praxis des Einzelnen einen gravierenden Unterschied dar. Eine (Selbst‐)Kategorisierung auf territorialer, sprachlicher, ethnischer, konfessioneller oder sonstiger kultureller Basis hatte daher nicht nur eine deskriptive Funktion, sondern besaß kulturelle, soziale sowie politische Produktivität. Es wurden nicht selten Fälle nachgewiesen, in denen sich eine Person innerhalb relativ kurzer Zeit den identitären Zuschreibungen gegenüber überraschend ‚promiskuitiv‘ verhielt und offensichtlich je nach strategischer Überlegung die deklarierte Zugehörigkeit wechselte.⁵ Es wäre ebenfalls zu überlegen, inwieweit die Bezeichnungen ‚Zugehöriger‘ oder ‚Akteur‘ einer Formation und ihrer Geschichte mit der Vorstellung einer stabilen oder essentialisierten Identität und des Einzelnen als integraler (gleichsam natürlicher) Bestandteil eines Kollektivs verbunden sind. Beispielsweise Theodor Lessings Verwendung des Begriffs des „Trägers“ der Geschichte eines Kulturkreises könnte inspirativ für die Hinterfragung gängiger Auffassungen der genannten Begriffe gewähren.⁶ Außerhalb jeglicher Essenz-, Herkunfts- und Kohärenzlogik spricht Lessing in seiner Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen von Trägern konkreter Ideen bzw. Konzepte, die zu Trägern der Geschichte eines Kulturkreises werden. Irrelevant bleibt dabei die ideelle, kulturelle oder auch
Es ist evident, dass diese Identitäten von den Trägern verschiedener historischer Diskursformationen immer wieder als homogen, abgegrenzt und stabil vorausgesetzt und deklariert werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich die Inhalte, Zwecke und Adressierungen solcher Aussagen – wie auch in diesem Text belegt werden soll – verändern können und verändert haben. Dieter Heimböckel, Manfred Weinberg: Interkulturalität. – In: Becher, Höhne, Krappmann, Weinberg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, S. 30 – 35, hier S. 34. Vgl. Čapková: Czechs, Germans, Jews? National Identity and the Jews of Bohemia. Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen.
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ethnische Integrität und Integriertheit des Trägers im jeweiligen Kulturkreis. Die Frage nach dem kulturell Eigenen und Fremden verliert dabei an Bedeutung, denn eine solche Rede von Trägern der Geschichte setzt nicht unbedingt Prozesse der Assimilation / Akkulturation voraus, was gerade in Bezug auf die moderne Geschichte des mitteleuropäischen Judentums von eminenter Bedeutung zu sein scheint. Die hier berührten Aspekte der Debatten zum Identitätsbegriff sollen im Folgenden anhand des Wirkens und Werks des Prager Journalisten und Schriftstellers Georg Mannheimer (1887– 1942) diskutiert werden. Seine Tätigkeit und seine Texte wurden bisher keiner systematischen Analyse unterzogen. Der bisher umfangreichsten Beitrag zur Erforschung und Interpretation von Mannheimer stammt von Ines Koeltzsch,⁷ die ihn v. a. als Redakteur der Zeitschrift Die Wahrheit vorstellt und versucht, eine Parallele zwischen der Entwicklung Mannheimers und der Zeitschrift zu finden. Dabei geht sie von der These einer mehr oder weniger gradlinigen Entwicklung Mannheimers vom Vertreter der deutsch-jüdischen Assimilation noch Anfang der 1920er Jahre bis zum Zionisten in den 1930er Jahren aus.⁸
2 In Wien geboren, in Prag sozialisiert Der Wandel von Mannheimers Konzept des Deutschjudentums bei gleichzeitigem Paneuropäismus zum eindeutig zionistischen Standpunkt scheint durch manche seine essayistischen und literarischen Texte bestätigt zu werden. So schreibt er einerseits in seinem Essay „Im Kreuzfeuer der Nationen“ (abgedruckt in der ersten Nummer der Wahrheit im November 1921), dass ein Jude in den Augen der Tschechen meist als „germanisierendes Element, ein Schädling“⁹ wahrgenom-
Koeltzsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag, S. 216, 222– 225, 231 f., 234 f.; vgl. auch Serke: Böhmische Dörfer, S. 413 – 414. Die zunächst einmal im Monat, später vierzehntägig, zehntägig und schließlich wöchentlich erscheinende Zeitschrift brachte regelmäßig Beiträge über die pazifistische Bewegung in Europa, den Paneuropäismus, die Schwierigkeiten und Fortschritte in der inter-nationalen Versöhnungsarbeit und im christlich-jüdischen Dialog, über den Antisemitismus sowie über jüdische Ideen- und Kulturgeschichte. Die Arbeit der Redaktion beschränkte sich nicht nur auf die Herausgabe der Zeitschrift, sondern sie organisierte auch öffentliche Diskussionen und Lesungen, z. B. im deutschen Volksbildungsverein Urania. Das Spektrum der Beiträger von Erzbischof František Kordač über den Philosophen Emanuel Rádl, Karel Čapek, Max Brod, Paul Leppin, Ludwig Winder bis hin zu Johannes Urzidil macht deutlich, dass es sich keineswegs nur um jüdische Intellektuelle handelte, geschweige denn um Zionisten. Mannheimer: Im Kreuzfeuer der Nationen, S. 15 f.
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men werde. Dabei seien die Juden traditionell „Pfeiler des Deutschtums in der Hauptstadt [… und] mit einer Opferwilligkeit, die man der ‚reinrassigen‘ deutschen Provinz nicht eben allzu häufig antrifft, an der Errichtung, der Erhaltung und Ausgestaltung deutscher Kulturstätten ausschlaggebend mit am Werke.“ Diese Rolle habe sich dem Nationalcharakter der Juden tief eingeprägt: „Ist es das äußere Schicksal des Juden stets in der Minderheit zu sein, so ist es sein inneres Schicksal, stets zur Minderheit zu halten.“¹⁰ Mannheimer distanziert sich dabei von „Oktobertschechen“ sowie „Oktoberzionisten“ – Juden deutscher Zunge also, die mit der Gründung der Tschechoslowakei schnell einen vorteilhaften Identitätswechsel vollzogen haben. Dagegen lässt sich seine Gedichtsammlung Lieder eines Juden (1937) stellen, die unmissverständlich zionistisch geprägt und ausdrücklich „allen Kämpfern für den Judenstaat“ gewidmet ist. Betrachtet man insbesondere den ersterwähnten Text und die gesamte Laufbahn Mannheimers näher, so ergibt sich ein deutlich komplexeres Bild der Identitätszuschreibungen und Positionierungen, als dass es von einem linearen Entwicklungsschema erfasst werden könnte. Die hier ausgewerteten Dokumente geben Aufschluss darüber, wie brüchig die in der Forschung bisher tradierten Informationen waren und wie verfehlte Deutung daraus resultieren konnte. Mannheimer wurde geboren am 10. Mai 1887 in Wien als zweites von sechs Kindern des aus Budapest stammenden Versicherungsbeamten der Wiener Assekuranz Gresham und späteren Direktors der Prager Eskomptegesellschaft für Industrie und Handel Berthold Mannheimer (1848 – 1925) und seiner Ehefrau Regina, geb. Gruber (1863 – 1942). Wie die im Archivfonds der Prager Polizeidirektion erhaltenen Aufenthaltsanmeldungen belegen, zog die Familie bereits im Mai 1888 nach Prag.¹¹ Irreführend ist daher die manchmal begegnende Behauptung, Mannheimer sei erst später nach Prag gekommen, sei hier nicht sozialisiert und hätte aufgrunddessen eine von den intellektuellen Cliquen Prags und den historisch geprägten Stellungen der nationalen Lager unabhängige Position zu Gunsten der „nationalen Verständigung“¹² bezogen. Die These, dass Mannheimer
Ebenda, S. 16. Nationalarchiv Prag, Policejní ředitelství (Polizeidirektion) I, konskripce (Konskription), Karton 370, Seite 646. http://digi.nacr.cz/prihlasky2/?session=e8bbef3c5e94bd383fca90de8d48bf 3b2e0d3e867cbddcdcf6c82ec76308c672&action=image&record=3 (6. Juli 2018) Zunächst wohnte die Familie im Haus Nr. 1675 in den Königlichen Weinbergen (damals Nerudova, heute Polská Str.), später wechselte sie mehrmals den Wohnsitz (ggf. mit Abstechern um 1900 nach Probstau bei Teplitz und wahrscheinlich auch Prachatitz, wo Georg laut dem Promotionsprotokoll seine Gymnasialbildung begonnen hat), bis sie sich 1907 in der Pstrossgasse 32 niederließ. Koeltzsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag, S. 223.
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oder sein Mitstreiter aus der Redaktion der Wahrheit, Adalbert Rév, gerade aufgrund ihrer Nicht-Sozialisiertheit in Böhmen die internationalen Konzepte der Verständigung propagiert hätten wie die Paneuropa-Idee und den Pazifismus – und nicht das einheimische Konzept des Bohemismus –,¹³ leistet außerdem unbegründet der Unterscheidung zwischen ‚autochthonen‘ und ‚fremden‘ Ideen Vorschub. Mannheimer besuchte zunächst das Staats-Realgymnasium im südböhmischen Prachatitz, später das K.K. deutsche Staatsgymnasium in den Königlichen Weinbergen in Prag, für das Wintersemester 1905 – 1906 schrieb er sich zum Jura-Studium an der deutschen Universität in Prag ein. Am 23. Mai 1912 um Mittag schloss er sein Studium ab mit der feierlichen Promotion zum JUDr. ab.¹⁴ Mannheimer wurde offensichtlich in einer für das assimilierte jüdische Großbürgertum typischen Konstellation erzogen. Dass ihm die Zugehörigkeit zum Judentum erst in Momenten einer wesentlichen Problematisierung des Zusammenlebens von Juden und Nichtjuden bewusst wurde, deutet das 1915 im März publizierte Gedicht „Rache für Kischinew“ an: Die mit „unberührtem Sinn“ erfahrenen „unendlichen Prairien der Kindheit“¹⁵ werden definitiv zerstört durch die Nachricht über die Pogrome von Kischinew: „In Kischinew werden die Juden geschlagen! […] In Kischinew ward Euere Jugend erschlagen!“¹⁶ In der Gesamtkomposition der späteren Gedichtsammlung Lieder eines Juden (1937) wird dieser Moment als der entscheidende Wendepunkt auf dem Weg zur jüdisch-nationalen Bewusstwerdung dargelegt. Mannheimer engagierte sich schon während seiner Studien auch öffentlich im jüdisch-nationalen Sinne. Seit 1908 ist seine Tätigkeit in der „Rede- und Dazu siehe Steffen Höhne: Bohemismus und Utraquismus. – In: Becher, Höhne, Krappmann, Weinberg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder, S. 329 – 339. Promotionsmatrikel der deutschen Karl-Ferdinands Universität in Prag 1904– 1924, Archiv der Karls-Universität, Register der Deutschen Universität, S. 216, https://is.cuni.cz/webapps/archiv/ public/book/bo/1971898055542710/220/?lang=cs (6. Juli 2018). Erhalten sind ebenfalls die Protokolle von Mannheimers rechtshistorischer Staatsprüfung (https://is.cuni.cz/webapps/archiv/pu blic/book/bo/1694169551654045/382/?lang=cs; 6. Juli 2018), der judiziellen (https://is.cuni.cz/ webapps/archiv/public/book/bo/1443653631421569/292/?lang=cs; 6. Juli 2018) und der staatswissenschaftlichen (https://is.cuni.cz/webapps/archiv/public/book/bo/1606423115026321/93/? lang=cs; 6. Juli 2018). Weitere biographische Daten sind im Prager Nationalarchiv im Nachlassfonds Policejní ředitelství (Polizeidirektion) II zu finden, Všeobecná spisovna (Allgemeine Registratur), 1931– 1940, Karton 8672, M 691/3, Mannheimer Jiří 1887. März 9 (1915), S. 116. Unter dem Titel „Kischinew“ wurde das Gedicht 1937 in die Sammlung Lieder eines Juden aufgenommen, Ebenda, S. 117. Angespielt wird hier auf die Ereignisse des Kischinewer Pogroms vom April 1903, das eine internationale Aufmerksamkeit auf sich zog; dazu vgl. Penkower: The Kishinev Pogrom of 1903.
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Lesehalle jüdischer Hochschüler in Prag“ belegt, einer – wie der repräsentative Sammelband Das jüdische Prag (1917) schreibt – Vereinigung „sämtlicher jüdischnationaler Hochschüler und Hochschülerinnen und ihre Vertretung nach außen“, die in Zusammenarbeit mit den gleichnamigen Vereinigungen in Wien und Brünn „einen Kampf um Anerkennung der jüdischen Nationalität an den Prager Hochschulen“ führte und sich um eine „Reichsorganisation der jüdischen Studentenschaft bemühte“.¹⁷ Offiziell war nur eine Sektion ausgesprochen politisch-zionistisch geprägt, der Zionismus übte in diesem Kreis jedoch einen entscheidenden Einfluss. Mannheimer war im Wintersemester 1908 Mitglied des Ausschusses der „Halle“, der bei den Rektoren der Deutschen Universität und des deutschen Technikums in Prag die Sicherung der Rechte jüdischer Studierende und Ablehnung des wachsenden Antisemitismus in den studentischen Vereinen beansprucht hatte. Laut dem Bericht des Prager Tagblatts äußersten sich die beiden Rektoren eindeutig für die Achtung der „Überzeugungstreue“ und sympathisierten mit der „jüdischnationalen Studentenschaft“.¹⁸ Diesem Engagement Mannheimers entspricht schließlich auch seine Vortragstätigkeit, so fand z. B. im Februar 1911 fand sein Vortrag über die „Volkserzieherische Tendenz der Nationallieder“ am Prager jüdischen Rathaus statt.¹⁹ Gleichzeitig entfaltet sich seine literarische Tätigkeit, bis 1915 (vgl. das Gedicht „Rache für Kischinew“, s.o.) ohne sichtbaren thematischen Bezug zum Judentum oder Zionismus, vielmehr haben die frühen Texte eine Verbindung zu den zeitgenössischen Tendenzen der deutschen Literatur. Von 1908 bis Anfang des Ersten Weltkriegs erscheinen Mannheimers neuromantische Gedichte und kurze Prosastücke in verschiedenen Periodiken, etwa in dem deutschliberalen und in Böhmen auflagestärksten Prager Tagblatt, in der konservativeren Deutschen Zeitung Bohemia, der deutschnationalen Prager Monatsschrift Deutsche Arbeit, der Pilsner Zeitung, der Münchner „Wochenschrift für Schwarzweisskunst und Dichtung“ Licht und Schatten, der Halbmonatsschrift März oder der Wiener satirischen Muskete. Bei öffentlichen Lesungen präsentierte Mannheimer auch nicht erhaltene Texte, etwa die Tragödie Der Abschied. ²⁰ Weder zu dieser Zeit noch später lässt sich ein signifikanter literarischer Durchbruch beobachten, der mit einem nachhaltigeren literaturkritischen Echo oder einer Aufnahme bei der breiteren Leserschaft verbunden wäre. Dennoch wird Mannheimer in den Kulturrubriken
Prager jüdische Organisationen. – In: Das jüdische Prag, S. 57 f., hier S. 58. Die Rede- und Lesehalle jüdischer Hochschüler in Prag bei den Rektoren. – In: Prager Tagblatt32, Nr. 296 (27. Oktober 1908), S. 8. Vgl. Ankündigung im Prager Tagblatt 35 (1911), Nr. 33 (2. Februar), S. 6. Erwähnt im Referat Frauenfortschritt-Feierabend. – In: Prager Tagblatt 41 (1916), Nr. 53 (22. Februar), S. 4.
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böhmischer Periodiken immer wieder als „Prager Schriftsteller“ apostrophiert und als bekannt vorausgesetzt. So berichtet das Prager Tagblatt im März 1911 über eine erfolgreiche Lesung seiner Gedichte von Margarethe von Heller Olah, im Klub deutscher Schriftstellerinnen. Der anonyme Rezensent schrieb von „Poesien, deren plastische Bildkraft durch ein starkes, wenn auch manchmal in EpigonenBahnen wandelndes Temperament innerlich belebt wird“.²¹ Es soll hier kein wertendes Urteil über Mannheimers Werke gefällt werden, dennoch lässt sich festhalten, dass die Mehrzahl der Gedichte Mannheimers der zitierten Wertung zu entsprechen scheint, etwa das Gedicht „Weiße Rose“ von 1913: Weiße Rose. (In memoriam Maria Harnisch.) Weiße Rose, einsam blühst Du unter den andern! Köstliche milde Melancholie haucht deine einsame Blumenseele, und in deines Kelches sanfter Schwellung liegt eine weiche, träumende Andacht. Geht ein Wind durch die weißen Blätter, dann ist’s wie Lächeln um feingeschnittene, schmale, gedankenvolle Beatricelippen …… Weiße Rose, einsam und unverstanden welktest du unter den andern! Aber durch deine weißen, toten Blätter klingt eine traurige, süße, mildverklärte Psalmodie, in die meine tiefste Seele einstimmt: Selig sind die Einsamen ….²²
Einen Teil des ersten Weltkriegs verbrachte Mannheimer als Einjährig-Kriegsfreiwilliger und wird beispielsweise unter den Förderern der staatlichen Kriegsanleihe im Dezember 1916 genannt.²³ Zum Fronteinsatz kam es offensichtlich nicht.²⁴ Noch während des Weltkriegs trat er in die Redaktion der Deutschen Zeitung Bohemia als Parlamentsberichterstatter.
Klub deutscher Schriftstellerinnen. – In: Prager Tagblatt 35 (1911), Nr. 89 (30. März), S. 5. Mannheimer: Weiße Rose. – In: Prager Tagblatt 38 (1913), Nr. 266 (28. September), S. 27. Anonym: Die fünfte Kriegsanleihe. – In: Deutsche Zeitung Bohemia 89 (1916), Nr. 361, S. 12. Mannheimer figuriert unter den Spendern mit der Summe 300,– Kronen und der Militäradresse im Sündböhmischen Mühlhausen (Milevsko). Mannheimer: Eine neue Nebelmaschine. – In: Die Wahrheit 2 (1923), Nr. 10 (Oktober), S. 9.
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3 Jude und Pazifist unter den Deutschen in der Tschechoslowakei Die Deutsche Zeitung Bohemia gehörte nach dem Umsturz von 1918 zu denjenigen Periodika, die der Minderheitenpolitik der tschechoslowakischen Regierung sowie der Ideologie des Tschechoslowakismus²⁵ deutlich kritisch gegenüberstanden. Mannheimers Engagement für die Rechte der Deutschen in der Tschechoslowakei äußerte sich einerseits in Taten: So wurde er im Juli 1919 Mitglied einer Delegation, die die Haftbedingungen der „dreihundert politisch verdächtige[n] deutschböhmische[n] Landsleute“ im Prager Garnisonsarrest kontrollieren sollte; er stellte schließlich fest, dass die Verhafteten trotz grundsätzlichen Zweifeln an der Legitimität der Inhaftierungen „menschlich und ohne überflüssige Chikanen behandelt werden“.²⁶ Andererseits besprach Mannheimer in seinen journalistischen Texten die Situation der tschechoslowakischen Deutschen und das Verhältnis der hiesigen Juden zu ihnen. Mit dem oben erwähnten Artikel „Im Kreuzfeuer der Nationen“ trug er zum thematischen Schwerpunkt der ersten Hefte der Wahrheit bei, der Situation der Juden im Land und in Mitteleuropa. Dabei machte er, wie bereits zitiert, ein besonderes Band zwischen den böhmischen Juden und Deutschen stark. Dass die Juden hierzulande „an der Errichtung, der Erhaltung und Ausgestaltung deutscher Kulturstätten ausschlaggebend mit am Werke“ waren, lässt sich allerdings noch nicht als Ausdruck des Konzepts deutschjüdischer Assimilation deuten. Mit der erwähnten Kritik an den „Oktobertschechen“ und „Oktoberzionisten“ werden nicht etwa das Tschechojudentum oder der Zionismus an sich kritisiert, sondern ein rascher, durch fragliche Kriterien (soziale und ökonomische Vorteile) motivierter Identitätswechsel. Mannheimer idealisiert die Beziehungen zwischen Juden, Deutschen und Tschechen keineswegs. Im Gegenteil, die Position der hiesigen Juden ist extrem prekär: „Vielleicht auf keinem Fleck Erde steht der Jude so mitten drin im erbittertesten Kreuzfeuer zweier Nationen wie in der Tschechoslowakei.“²⁷ Der Ausblick auf Fortsetzung des Bündnisses wird situativ-pragmatisch durch die Tendenz der Juden begründet, „stets
Diese staatstragende Ideologie ging von der Existenz einer tschechoslowakischen Nation und einer tschechoslowakischen Sprache aus. Diese These sicherte den Tschechen und den Slowaken eine dominante Stellung im Staat, wobei die tschechoslowakischen Deutschen mit ca. 3 Millionen zahlenmäßig deutlich stärker waren als die Slowaken. Dazu vgl. Rothenhagen: Identitätsentfaltung im „Tschechoslowakismus“ und der Aufbruch zu neuen Denkmustern. Anonym: Einige Stunden im Kriminal. – In: Deutsche Zeitung Bohemia 92 (1919), Nr. 88, S. 3. Mannheimer: Im Kreuzfeuer der Nationen, S. 15.
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zur Minderheit zu halten“, und zwar aufgrund der historischen Erfahrung mit der (von Mannheimer als vergleichbar präsentierten) systematischen Unterdrückung: Der deutsche Jude begreift, wie kein anderer, das höhnische und grausame ‚Hepp Hepp‘ gewisser tschechischer Chauvinisten gegen die deutsche Sprache. Ist es doch die gleiche Melodie, nur in einem anderen Text, die ihm seit Jahrhungerten in die Ohren geschrieen wird! Das ist der tiefere seelische Grund dafür, daß der deutsche Jude in der Tschechoslowakei die Sache der Sudetendeutschen zu der seinen gemacht hat. Obwohl er mitten drin steht in dem erbitterten Kreuzfeuer der beiden Nationen – – –²⁸
Der Widerstand gegen die „brutal-rücksichtslose ‚Nationalstaats‘-Doktrin“ ist für Mannheimer nicht nur durch Mitleid aufgrund historischer Erfahrungen bestimmt, sondern vielmehr durch die Wahrnehmung potentieller eigener Gefährdung der (gleich ob tschechisch- oder deutschsprachigen) Juden in der Tschechoslowakei. So kann dank der Fortsetzung der strategischen Koalition deutlicher gemacht werden, dass die Propaganda, die etwa Prag für „reinrassige [d. h. deutschen- sowie judenfreie; Anm. Št.Z.] tschechoslowakische Metropole“ auszugeben versuche, die Realität verfälscht. Insbesondere für die Prager Juden gilt daher, dass sie weiterhin Träger und Verteidiger der deutschen Kultur werden sollen, jedoch nicht in Folge einer restlosen Integration in die deutsche Kultur, sondern aufgrund einer Interessengemeinschaft, als Promotoren und Träger einer Kultur im konkreten historischen und territorialen Kontext, einer Kultur, die den Juden nicht unbedingt eigen werden muss und deren Präsenz die kulturelle Vielfalt im Land wahren soll. Im Mai 1922 erscheint in der Wahrheit Mannheimers Aufsatz Deutsche und Tschechen mit einer Kritik an der nationalistischen politischen Rhetorik, die eine „Intoxikation“ des öffentlichen Meinungsaustausches durch inflationären Gebrauch der Leitworte wie „Selbstbestimmungsrecht“ herbeiführt und den Sinn für Realität verschleiert: „Beide Nationen sehen die Wirklichkeit vor lauter Schlagworten nicht mehr: beide Nationen sind durch ihre Schlagworte über ihre tatsächlichen Kräfte und Möglichkeiten vollständig in die Irre geführt worden.“²⁹ Die hiesigen Deutschen stehen dem tschechoslowakischen Staat (immer noch) mehrheitlich ablehnend gegenüber, durch den politischen Negativismus berauben sie sich jedoch der Möglichkeit, Einfluss auf die Regelung ihrer Angelegenheiten zu nehmen. Gleichzeitig lassen sie sich als produktive Bürger des Staats integrieren – und dieses Missverhältnis mache ihre Position denkbar ungünstig: „Während das Deutschtum […] dabei verharrte, theoretisch sich nicht auf den
Ebenda, S. 16. Mannheimer: Deutsche und Tschechen, S. 77.
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Boden dieses Staates zu stellen, hat es sich praktisch nicht nur durch die Erfüllung aller Bürger- und Steuerpflichten auf den Boden des Staates gestellt, sondern es hat sich auch ständig ein Stück Bodens nach dem andern unter den Füssen wegreisen [sic!] lassen.“³⁰ Gleichzeitig polemisierte Mannheimer gegen die scharfe Grenzziehung zwischen den Deutschen und Juden, etwa im Frühling 1923 in einer Kontroverse mit dem Beiträger der Duxer Zeitung Tag, Hans Krebs, der als den entscheidenden Grund der deutsch-tschechischen Polemiken erblickte, dass die Tschechen in den Juden Deutsche sähen. Würde man diesem Irrtum energisch zuvorkommen – durch eindeutige Distanzierung von den Juden –, dann wären Bedingungen für eine deutsch-tschechische Symbiose geschaffen, so dass sie z. B. eine gemeinsame „Hakenkreuzlegion“ bilden könnten. Mannheimer deutet in seiner ironischen Erwiderung darauf hin, dass die Tschechen dann pragmatisch jedes jüdische Kind aus den deutschen Schulen herausnehmen könnten – was ein Anlass sein könnte für weitere, von den Deutschnationalen so oft bemängelte, Drosselung des deutschen Schulwesens in der Tschechoslowakei.³¹ Diese Stellungnahmen können schwerlich als Argumente für die These verwendet werden, Mannheimer habe einen Wandel „von einem Verfechter eines deutsch-jüdischen Identitätskonzepts zu einem Zionisten“ und eine „Abkehr von der deutschen Kultur“ vollzogen, wobei damit zugleich die „Grenzen der Vermittlungsarbeit“ der gesamten Zeitschrift Die Wahrheit abgesteckt wären.³² Obwohl erst später, um die Mitte der 1920er Jahre, seine vorhandene jüdisch-nationale Gesinnung im Sinne des politischen Zionismus konkretisiert wird, gibt es keinen Grund für die Annahme, dass Mannheimer durch die Akzentuierung der Kooperation und der Rolle der deutschsprachiger Juden als Träger der deutschen Kultur unbedingt seinen jüdisch-nationalen Standpunkts aufgegeben hätte. Andererseits kann nicht übersehen werden, dass es in den Jahren nach 1918 an expliziten Äußerungen Mannheimers zur Spezifik und Geschichte der jüdischen Nation mangelt. Aber auch wenn später derartige Äußerungen in unübersehbarer Menge auftauchen (spätestens seit 1925), bekundet Mannheimer parallel dazu bis tief in die 1930er Jahre sein eminentes Interesse für die deutsche Literatur und Kunst³³ und seine Präferenz für den tatkräftigen politischen Aktivismus der Sudeten-
Ebenda, S. 78. Mannheimer: Krebsen-Gehen, S. 12. Koeltzsch: Geteilte Kulturen, S. 235. Vgl. z. B. seine Artikel Das neueste Kisch-Buch. – In: Die Wahrheit 10 (1931), Nr. 6, S. 5 f.; Ein Gentleman ging dahin. – In: Die Wahrheit 10 (1931), Nr. 14 (15. Juli), S. 4 f.; Th. Th. Heines Auferstehung in Prag. – In: Die Wahrheit 12 (1933), Nr. 23 (30. September), S. 11.
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deutschen. Dieser solle nicht nur in den oberen Etagen der Politik stattfinden (wie es seit dem Eintritt deutscher Politiker in die Regierung Antonín Švehlas 1926 geschah), sondern auf praktischer Kooperation auf allen Ebenen beruhen.³⁴ Relativ früh begann Die Wahrheit, die Spannungen innerhalb der deutschsprachigen Kultur und Bevölkerung in der Tschechoslowakei systematisch zu beobachten.³⁵ Sie fanden Ausdruck auch in den Polemiken gegen Die Wahrheit auf Seiten der deutschnationalen sudetendeutschen Presse, etwa der im nordböhmischen Tetschen erscheinenden Sudetendeutschen Tageszeitung (1923 – 1945). Im Mai 1923, einige Monate nach antisemitisch motivierten Protesten deutschnationaler Studenten der deutschen Universität in Prag gegen die Wahl von Samuel Steinherz zum Rektor, bezeichnete die Tageszeitung die Wahrheit als eine „Nebelmaschine“, da sie ein Interview mit dem Bildungsminister Rudolf Bechyně über die Affäre veröffentlicht hatte. Damit heiße die Wahrheit zugleich die „die Verletzung der Autonomie der deutschen Universität durch den tschechischen Unterrichtsminister gut und ermuntert diesen zu weiteren Gewaltmassnahmen und Uebergriffen gegen die Deutschen.“³⁶ Die beiden Prager Akademiker, deren Namen wiederholt positive Erwähnung in der Wahrheit fanden – August Sauer und Christian Ehrenfels – wurden aufgefordert, öffentlich Stellung zu nehmen zur Wertschätzung seitens der Zeitschrift, die ein „Vorkämpfer für den internationalen Zionsstern […] und erbitterter Gegner des Hakenkreuzes“ sei. Die – wie sie von der Wahrheit genannt werden – „Herrn von Hakenkreuz und Dreschflegel“ haben auch den Mitarbeiter Mannheimer angegriffen – und zwar wegen der in der Zeitschrift zwischen Januar und April 1923 als Fortsetzungslektüre abgedruckten pazifistischen Tragikomödie Der Landstreicher auf Atlantis. ³⁷ Dr. Ernst Leibl, aus Graslitz stammender Germanist und 1941– 1944 ordentlicher Professor an der Universität Straßburg, unterstellte Mannheimer, sein Pazifismus sei nur ein Gewand für den „jüdischen Weltimperialismus“. Mannheimer bedankt sich bei Leibl, denn seine Polemik verstehe er als Nachweis, dass die Wirkung des Stücks tatsächlich seiner Absicht entspreche. Wenn Leibl Mannheimer vorwirft, die politische Tendenz (wobei er das pazifistische Engagement des Autors meint) habe
So z. B. im Artikel „Symbiose oder Antibiose“ vom Februar 1937, einer der „Notizen zur Innenpolitik“, die seit 1934 zur festen Rubrik der Wahrheit geworden sind und deren Autor in der Regel Mannheimer war. Seit Ende der 1920er Jahre widmete sich insbesondere Julius Mader diesem Thema. Zit. nach Mannheimer: Die neue Nebelmaschine, S. 8. Die Variation auf das Passionsdrama stellt Christus dar, der in Gestalt des Landstreichers zum Militär angeworben und zum Mord in den Schützengraben kommandiert wird. Sein stellenweise höchst ironisch geschilderter Passionsweg fängt an mit seiner Desertion, nach der er als Hochverräter verurteilt wird.
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die literarischen Qualitäten zurückgedrängt, erwidert Mannheimer, dass der Kritiker den angeblichen Fehler des Autors in einer noch schlimmeren Relation wiederhole und „die Kritik von der Tendenz erschlagen“ lasse.³⁸ Seitdem und wiederholt bis 1938 warnte Mannheimer vor dem strategischen Bund der radikalen Deutschnationalen und „Hakenkreuzler“ in der Tschechoslowakei mit den deutschen Nationalsozialisten.³⁹
4 Zionismus und Tschechoslowakismus 1926 unternahm Mannheimer eine Reise nach Palästina, das er vom Suez bis zur Tiberias durchfuhr, und besuchte dabei die Siedlungsgenossenschaft „Daganja“ in Galiläa am Genezarethsee. Über die Reise referierte er in einem Vortrag im Prager Volksbildungsverein Urania am 11. Dezember 1926⁴⁰ und in einem Artikel für die Wahrheit „Die hebräische Stadt Tel Awiw“.⁴¹ Das Land und das Leben der Kolonisten beeindruckten ihn dermaßen, dass er das Theaterstück Palästina. Drei Akte aus dem Leben deutscher Kolonisten (1928) verfasste. Dabei handelt es sich um ein (sozialistisch‐)zionistisch gestimmtes Stück mit klarem PropagandaDuktus, welches in der Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs spielt und die Geschichte des aus Deutschland kommenden Kolonisten Leser präsentiert. Lesers Ehefrau Lily ist in Berlin zurückgeblieben (wobei Berlin metonymisch für Europa steht), besucht ihn später im Kibbuz und versucht Leser zur Rückkehr zu bewegen. Der Hauptprotagonist kann sich zunächst nicht schlüssig werden, ob er Lily oder Palästina vorzieht, angesichts der Angriffe durch die (eindeutig negativ, ja barbarisch geschilderte) arabische Bevölkerung fällt er doch die Entscheidung für seine neue Heimat. Ein vergleichbares Heimatgefühl und -erlebnis könne Europa einem Juden nie gewähren, trotz (und gleichzeitig wegen) des Projekts der jüdischen Assimilation. Der Rezensent des Prager Tagblatts schrieb dem inzwischen ins Polnische und Jiddische übersetzten Schauspiel freilich eine universalisierende Aussage zu, in dem „Heldentum der Kolonisten“ sehe Mannheimer „nicht nur das Problem ‚Palästina‘, sondern das Problem des Menschentums über-
Mannheimer: Die neue Nebelmaschine, S. 9. Mannheimer: Konrad Henlein. – In: Die Wahrheit 12 (1933), Nr. 25 (14. Oktober), S. 4 f.; ders.: Das Gebot der Stunde. – In: Die Wahrheit 12 (1933), Nr. 30 (18. November), S. 4 f.; ders.: Das Staatsexamen von Böhmisch-Leipa. – In: Die Wahrheit 13 (1934), Nr. 43 (27. Oktober), S. 3 f.; ders.: Die Entdeckung Deutschböhmens. – In: Die Wahrheit 14 (1935), Nr. 18 (20. Juni), S. 3 f. Anonym: Urania. – In: Prager Tagblatt 51 (1926), Nr. 288 (8. Dezember), S. 7. Mannheimer, Georg: Die hebräische Stadt Tel Awiw. – In: Die Wahrheit 6 (1927), Nr. 1 (Januar 1927), S. 5 – 8.
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haupt.“⁴² Das ermöglicht u. a. die argumentative Struktur des Stücks, die von einem natürlichen Verlangen nach Heimat als Legitimationsgrund für den Kampf um Heimatfindung und -wahrung ausgehe.⁴³ Diese Vereindeutigung seiner jüdisch-nationalen Position bedeutete für ihn jedoch keine sichtbare Distanzierung von den tschechoslowakischen Deutschen – wie wir gesehen haben, unterstützte er bis tief in die 1930er Jahre die aktivistische Politik, die einen Anteil an der politischen Macht und damit auch Einfluss auf demokratische Durchsetzung eigener Interessen gewähren sollte. Seine Einstellung zum tschechoslowakischen Staat und seinen Repräsentanten veränderte sich jedoch sichtlich: Seit Ende der 1920er Jahre äußerte Mannheimer seine hohe Wertschätzung der führenden Gestalten der tschechoslowakischen demokratischen Politik, insbesondere derjenigen, die einen Ausgleich mit der deutschsprachigen Bevölkerung anstrebten – des Präsidenten Tomáš Garrique Masaryk, des Außenministers Eduard Beneš, der Ministerpräsidenten Milan Hodža oder Antonín Švehla.⁴⁴ 1930 erschien im Verlag der Wahrheit Mannheimers Theaterstück Masaryk in Genf. Weltkriegslegende in einem Akt. Sehr positiv wird darin Masaryks Gesinnungswandel zugunsten der Idee der staatlichen Unabhängigkeit der Tschechen und Slowaken im Frühjahr 1915 dargestellt. Mag eine eindeutig lobende, ja heroisierende Darstellung des Gründers der Tschechoslowakei bei einem Zionisten unerwartet erscheinen, so lassen sich dennoch gemeinsame Akzente beobachten – z. B. die universalistische (nicht primär nationalhistorische) Begründung der politischen Bestrebungen von Masaryk: „Der Kampf gegen die Lüge war mein kategorischer Imperativ. Diese Lüge hat einmal geheißen Königinhofer Handschrift, einmal Ritualmord, heute heißt sie: Österreich, Wien!“⁴⁵ In dem Einakter präsentiert Mannheimer seine Vorstellung vom grundlegenden
-ef- (1930): „Palästina“ von Georg Mannheimer im deutschen Dilettantentheater. – In: Prager Tagblatt 55, Nr. 248 (21. Oktober), S. 7 f. Am 19. Oktober 1930 wurde das Stück im Vereinstheater der Urania durch eine AmateurTruppe aufgeführt und erlangte einiges Lob seitens des Rezensenten des Prager Tagblatts (‐ef1930). Vgl. etwa: Mannheimer: T. G. Masaryk zum 84. Geburtstag. – In: Die Wahrheit 13 (1934), Nr. 9, S. 6; ders.: Eduard Beneš zum 50. Geburtstag. – In: Die Wahrheit 13 (1934), Nr. 22, S. 6.; ders.: Die zweite Kriegsweihnacht der Demokratie. – In: Die Wahrheit 13 (1934), Nr. 50/52 (20. Dezember), S. 5 etc. Mannheimer: Masaryk in Genf, S. 16. Im Vorwort lässt Mannheimer Masaryks Laufbahn als allgemeingültiges Vorbild erscheinen: „In diese Legende ist das ungeheure Abenteuer eines Mannes eingefangen, der sich, bloß mit einer Idee bewehrt, Millionen Bajonetten entgegenwirft und das Wörtchen ‚Unmöglich‘ aus dem staatsrechtlichen Lexikon streicht. Es gibt kein Unmöglich in der Weltgeschichte, wenn ein heroischer Willen hinter einer heroischen Idee steht.“ Ebenda, S. 5.
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Prinzip des Staates: Der Staat entspringt nicht dem natürlichen Wesen der Nation, eine Staatsordnung liegt nicht in der Natur des Volkes, sondern ergibt sich aus der Übereinkunft seiner Bürger, aus der Willensäußerung seiner Bevölkerung: „Daß ein Staat nur lebt durch den Willen seiner Völker.Wir wollen Österreich nicht, also kann es nicht leben.“⁴⁶ Bis zur letzten Nummer der Wahrheit vom 15. September 1938 bekundet Mannheimer wiederholt seine Loyalität zu und Bewunderung für Masaryk. Angesichts der Entwicklung nach 1933 gewinnen nun die antitotalitaristischen und prodemokratischen Aspekte an Relevanz, beispielsweise im Gedicht T. G. M.: Auch ihm war einst das Zeichen eingebrannt. Auch ihm schrie nach der Pöbel: ‚Emigrant…‘ Auch er trotzt einst, von seinem Licht erhellt, dem großen Wahn, der großen Nacht der Welt. Drum wanket nicht, wenn alles wankt und bricht: auch um ihn war einst Nacht und wurde – Licht.⁴⁷
Im Dezember 1934 und Januar 1935 unternahm Mannheimer eine Russlandreise, deren essayistische Dokumentation das Russische Tagebuch darstellt. Die Begeisterung für Stalin seitens mancher Akteure der linken Kulturszene in Zentraleuropa teilte er nicht, sondern beobachtete die Kontinuitäten dort, wo die Revolution wesentlichen Wandel sah: Der Kreml, in dem heute der rote Zar in der Arbeiterbluse, der Georgier Stalin, residiert. Der rote Zar, dessen Bildnis in überlebensgroßem Format auf jedem Stationsgebäude hängt. Der rote Zar, der erst jüngst seinem ermordeten Liebling Kyrow Hekatomben zum Opfer gebracht hat. Der rote Zar, dessen junge Frau vor einigen Jahren sich unter geheimnisvollen Umständen erschossen hat. Der rote Zar, der jedem Fremden unnahbar bleibt. […] Der rote Zar, der einen Trotzki unbarmherzig in die Verbannung stieß. […] nur ein Tausendstel, sozusagen nur ein Promille Moskaus macht der Kreml aus. Aber wie anno dazumal herrscht wieder hier ein roter Zar und bestimmt das Leben Rußlands von der Geburt bis zum Grab.⁴⁸
Im nächsten Abschnitt wird die Analogie zwischen den alten und neuen Zeiten noch weiter zugespitzt: „Sie haben den lieben Gott abgesetzt. Aber nur scheinbar. Denn sie haben einen neuen Gott, ein neues Evangelium, einen neuen Mythus geschaffen: den roten Gott, das rote Evangelium, den roten Mythus.“ Einerseits sieht Mannheimer den technischen Fortschritt Russlands in den letzten Jahren,
Mannheimer: Masaryk in Genf, S. 15. Mannheimer: T.G.M. Mannheimer: Russisches Tagebuch III, S. 5.
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andererseits ist er nicht bereit, die deklarierten Errungenschaften des Stalinismus einfach zu akzeptieren – etwa die angebliche Absenz jeglichen Antisemitismus: Als ich das Gespräch auf die Glaubensverfolgungen, auf die Unterdrückung des Zionismus brachte, brausten diese jungen russischen Juden auf: Wie, soll es denn vielleicht für den jüdischen Klerikalismus eine Extrawurst geben? Und Zionismus? Das ist ein Nationalismus wie jeder andere Nationalismus – und hier wird so etwas nicht geduldet…⁴⁹
Mit anderen Worten, der Antisemitismus wird beseitigt um den Preis der Aufgabe der Konfession und des Nationalempfindens – eine Voraussetzung, die für den Zionisten Mannheimer nicht akzeptabel werden konnte. In den Jahren der wachsenden politischen Spannung v. a. in den dominant deutschsprachigen tschechoslowakischen Grenzgebieten war Mannheimer auch dort wiederholt als Bote der Völkerverständigung und Friedensbewegung unterwegs. So kündigte etwa die (durchaus nationalistisch eingestellte) Reichenberger Zeitung die Plenarversammlung des örtlichen Abzweigs des tschechoslowakischen „Aktionsausschusses für die Organisierung des Friedens durch kollektive Sicherheit“⁵⁰ an, die zum 18. Jahrestag des Waffenstillstands von 1918 unter dem Titel „Alle für den Frieden – Frieden für alle!“ am 10. November 1936 stattfand und bei der Mannheimer die deutsche und die Übersetzerin Ida Šindelková die tschechische Ansprache zum Thema „Völkerbund, kollektive Sicherheit und die Geschehnisse der letzten Monate“ hielten. Diese Hinweise lassen uns jedenfalls nicht die These aufstellen, Mannheimer würde sich unter dem Eindruck der Nazi-Herrschaft im Dritten Reich und der antisemitischen Tendenzen in der Tschechoslowakei zunehmend nationalisiert und vom tschechoslowakischen Staat und der deutschen Kultur distanziert haben. Es ist keine Radikalisierung von Mannheimers Zionismus zu beobachten. In seinem propagandistisch anmutenden Optimismus liest sich das Stück Palästina zwar deutlich anders als etwa der 10 Jahre später entstandene Gedichtband Lieder eines Juden (1937) und der Gedichtzyklus Ein Jude kehrt heim (1938). Dennoch ändert sich Mannheimers Standpunkt nicht im Sinne einer Vereinseitigung der zionistischen Position, sondern im Sinne ihrer Problematisierung. Die Heimatfindung in Palästina nimmt deutlich tragische Züge an, die Ablösung von der mitteleuropäischen Heimat und von der deutschen Sprache wird fast unmöglich.
Mannheimer: Russisches Tagebuch X, S. 6. Diese Bewegung wurde in der Tschechoslowakei durch den Philosoph Jan Blahoslav Kozák und den ehemaligen Botschafter in Frankreich (und späteren Buchenwald-Häftling 1939 – 45) Lev Sychrava als hiesiger Zweig der weltweiten „Rassemblement universel pour la paix“ gegründet.
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In den Liedern eines Juden kommt zwar im Gedicht „Der deutsche Jude“ eine erzwungene Entfremdung von der deutschen Sprache und Kultur zum Ausdruck: Die Sprache, die ich schon als Kind gelallt, die mit mir wuchs und mit mir wurde alt; die Sprache ward mit einem Mal mir fremd und brennt an mir gleich einem Nessushemd.⁵¹
Schließlich wird jedoch bekräftigt, dass eine Trennung oder auch vollkommene Umwertung des positiven Verhältnisses zum Deutschen kaum denkbar ist: O Gott, wie hast du mich gestraft so schwer, dass ich die Sprache, die mir nahm die Ehr’, dass ich die Sprache, die meine Erzfeind spricht, muss sprechen, lieben, bis mein Atem bricht.⁵²
Die Lieder eines Juden wurden im Mai 1937 von Heinrich Mann besprochen. Die in der Wahrheit abgedruckte Rezension ist in einem persönlichen Ton gehalten und wendet sich direkt an den Autor. Es handelt sich aber keineswegs um bloße Komplimente, sondern vielmehr um den Versuch aufrichtiger Beurteilung und Benennung des Antriebs der literarischen Kreativität Mannheimers. Für einen Lyriker hielt ihn Mann nie: „Sie haben gute, manchmal haben Sie vorzügliche Gedichte geschrieben, ohne daß sie eine poetische Natur wären.“⁵³ Ausschlaggebend seien für ihn die „Ziele Ihres Willens“, nüchtern sei seine Wortwahl, einfach die gedankliche Struktur, überzeugend der Wirklichkeitsgehalt. Es ließe sich ergänzen: der neusachlichen Balladentradition entsprechend. Wenn Mannheimer im Finale seiner „Ballade vom Leutnant Trumpeldor“, die Mann als „Meisterstück“ bezeichnet, reimt: Fünfzig Tote liegen in Reih und Glied. Verklungen der Sang, verklungen das Lied von den Helden, den jüdischen Helden.⁵⁴
nimmt es Mann als einen Beleg, dass der Autor im Unterschied zu den meisten Poeten nicht an „Traum und Weib“ hänge, sondern: „an der Wirklichkeit hängen
Mannheimer: Lieder eines Juden, S. 23. Ebenda. Mann: Über ‚Lieder eines Juden‘. – In: Die Wahrheit 16 (1937), Nr. 10 (1. Mai), S. 8. Mannheimer: Lieder eines Juden, S. 54.
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Sie und haben mehreres mit ihr vor.“⁵⁵ Mann zeigt u. a., dass nicht nur Jüdisches oder Zionistisches diesen Band bestimmen, sondern dass z. B. das Motiv der Emigration relativ selbständig wird. Noch die Enkel eines Ausgewanderten bleiben Emigranten: Meine Väter sind aus Lodz nach Ellis Island gekommen. Sie saßen im Kaftan auf dem Zwischendeck […] Wie weit ist Lodz? Wann kommen Sie, mich zu holen? Ich bin ein Yankee – doch nur ein Yankee auf Borg.⁵⁶
In den der Rückkehr nach Erec Jisrael gewidmeten Gedichten (Lieder der Heimat) wird unmissverständlich der Entschluss zum Ausdruck gebracht, die Heimat auch mit Gewalt zu erobern und zu behaupten („Sie gönnen uns die Heimat nicht. / Mein Browning ist bereit.“⁵⁷) und wenn nötig, dabei auch das Lebensopfer zu bringen. Und dennoch wird der ganze Band mit einem Gedicht namens „Kde domov můj?“ abgeschlossen, in dem die tschechoslowakische Hymne und das symbolische Lied der nationalen „Wiedergeburt“ der Tschechen einerseits ‚zionisiert‘, andererseits eine gleichsam eschatologisch gefärbte Erfüllung findet: O Böhmens Lied! Wie klangst du mir ins Ohr! Wie sang ich dich aus vollem Herzen mit, als ich durch junge Gärten in das Tor der Kolonie Daganja jubelnd schritt. Ein Morgen war’s. Schabbat. Die Lerche stieg noch feucht vom Tau der Nacht den See empor. Die Gräser sangen – doch die Erde schwieg, als horchte sie nach einem fernen Chor. Und hundert Engel tanzten Hand in Hand: Das ist dein Land, das ist dein Heimatland!⁵⁸
Heinrich Mann versteht dies als Universalisierung: „Ihre sachlichen Verse bekommen den rechten Balladenton erst dadurch, daß sie den Menschen überhaupt betreffen. Wer wäre nicht Kampf und auf der Reise? Im Kampf um sein befreites Land und dorthin unterwegs.“⁵⁹ Mithin schafft er eine Verbindung zu seiner eigenen Situation als deutscher Exulant und seinem eigenen Wunsch
Mann: Über ‚Lieder eines Juden‘. – In: Die Wahrheit 16 (1937), Nr. 10 (1. Mai), S. 8. „Yankee auf Borg“ – Mannheimer: Lieder eines Juden, S. 29. Ebenda, S. 64. Mannheimer: Lieder eines Juden, S. 73. Mann: Über ‚Lieder eines Juden‘. – In: Die Wahrheit 16 (1937), Nr. 10 (1. Mai), S. 8.
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nach (Wieder‐)Findung der Heimat. Gleichzeitig halte Böhmen den Autor immer noch fest, ja Böhmen sei das Land, „an dessen Spitze Sie Schicksalsgefährten finden, und das sind keine Juden“⁶⁰. Dass Böhmen die Heimat-Sehnsucht und den Heimat-Begriff des lyrischen Subjekts formtiert, aber gleichzeitig mit äußerst ambivalenten Gefühlen verbunden wird, lässt sich durch das Gedicht „Auf der Prager Brücke“ belegen. Beim Anblick der Kreuzigungsstatue am Altstädter Ende der Brücke mit der schmählichen Überschrift „Aus der Busse des schmähenden Jüden erbaut“ nimmt der Sprecher „geronnenes Blut auf den Quadern“ wahr. Sieht er aber zur Prager Burg hinauf, „darüber die Trikolore fliegt“ (nämlich die tschechoslowakische weiß-rot-blaue Flagge), dann „quillt ein goldenes Licht aus den Quadern, / dann singen die Sterne: ‚Die Wahrheit siegt.‘“⁶¹ In dem Verszyklus Ein Jude kehrt heim ist die tragische Dimension der neuen Heimatfindung bzw. -bildung am deutlichsten artikuliert. Es sind hier nicht mehr erlebte Hindernisse aller Art und der Tod der Gefährten, was den Weg erschwert. Selbst der Hauptprotagonist aus Prag, genauso wie der orthodoxe Ostjude und der polnische Kommunist, findet die Heimat erst im Tod nach einem arabischen Angriff: Die Chaluzim ziehn stumm vorbei und präsentieren das Gewehr. Im offnen Grabe liegen Drei: Der Mann, der Pole, der Schomer. […] Ein Lächeln spielt um ihren Mund. Wer deutet dieses Lächeln, wer? Sie schlafen in der Heimat Grund: Der Mann, der Pole, der Schomer.⁶²
5 Mehrfachidentität? Als eines der Beispiele der „Verjudung“ der deutschsprachigen Zwischenkriegskultur führte Theodor Fritsch in seinem Handbuch der Judenfrage 1944 den Namen Georg Mannheimers an – in alphabetischer Reihenfolge zwischen Klaus Mann und Erich Mühsam aufgelistet. Fritschs angefügte Behauptung – „Heute befinden sich diese Leute fast durchweg im Ausland und schreiben ihre Hetz-
Ebdenda. Mannheimer: Lieder eines Juden, S. 31. Mannheimer: Ein Jude kehrt heim, S. 115 – 116.
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stücke gegen das nationalsozialistische Deutschland.“⁶³ – galt für Mannheimer leider nicht. Am 22. April 1942 wurde er im Konzentrationslager Dachau ermordet. Mannheimer scheint mit seinen Selbstpositionierungen auf den ersten Blick fast beliebig zwischen mehreren Identitätskonzepten zu changieren. Es wäre sehr schematisch und auch heuristisch nicht nutzbringend, wenn man Mannheimers Identität etwa als eine Überlagerung der drei Dimensionen des üblichen TriasModells beschreiben wollte und ihn als Deutschen in sprachlich-kultureller Hinsicht, als Juden in nationaler Hinsicht und als Tschechoslowaken im Sinne der bürgerlich-politischen Zugehörigkeit ausgeben würde. Gerade bei Mannheimer ist sichtbar, dass diese Gebiete nicht separierbar sind, seine Dichtungen sind höchst politisch, sein Engagement für die jüdisch-nationalen Angelegenheiten in deutscher Sprache artikuliert und mit den ‚tschechoslowakischen Fragen‘ verbunden – z. B. auch dem Eröffnungsvers der tschechoslowakischen Hymne. Seine Bekundungen der Loyalität zur deutschen Kultur, zum Zionismus und zur Tschechoslowakei lassen sich auch schwerlich als Belege einer „Hybridität“ auf der Schnittstelle mehrerer kultureller Zugehörigkeiten verstehen. Vielmehr sind sie als Bestandteil eines kontinuierlichen „konfliktuellen Aushandelns von Identität“⁶⁴ wahrnehmbar, welches für Prag und die böhmischen Länder vielleicht besonders typisch war. Die prinzipielle jüdisch-nationale Überzeugung hat Mannheimer wohl nie aufgegeben, allerdings hat sie sich durchaus dynamisch entwickelt und – vor allem – seine öffentlichen Stellungnahmen hingen eng mit der aktuellen Zweckmäßigkeit der Stellungnahmen gegenüber konkreten Herausforderungen und Adressaten zusammen und weniger mit der Zweck der Entfaltung eines in sich stimmigen und ‚monokulturellen‘ Identitätskonzepts. In dieser Perspektive lassen sich die pragmatischen Bündnisse mit dem „nahen Fremden“, z. B. mit der deutschen Kultur in Böhmen, die Reflexion der nicht wegzudenkenden Bindungen, etwa als Zionist und Jude deutscher Zunge gleichzeitig, oder der Identifikationsprozess, in dem mit Versatzstücken des kulturell Anderen hantiert wird – die Frage ‚Kde domov můj‘ als Voraussetzung für die Artikulation der zionistischen Heimatfindung –, nicht als Störfaktoren, sondern als gleichsam natürliche Erscheinungen betrachten.
Fritsch: Handbuch der Judenfrage, S. 204. Ernst: Verwurzelung vs. Bodenlosigkeit, S. 7. Christoph Ernst bezieht sich auf Vilém Flussser, der zwischen mehreren Identitätskonzepten oszillierte.
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Der hebräische Humanismus in Odessa und Warschau Während das italienische Judentum seit dem Beginn der europäischen Renaissance in Berührung mit humanistischer Kultur stand, war dieser Einfluss im aschkenasischen Judentum Mittel- und Osteuropas bis ans Ende des 19. Jahrhunderts kaum wahrzunehmen. Doch als Odessa, Lemberg und Warschau zu den Zentren der säkularen hebräischen Literatur in Europa wurden, rückte das humanistische Erbe in mehrfacher Hinsicht in den Fokus der Reflexion. Die sephardischen Dichter wurden als Vorläufer moderner hebräischer Dichtung entdeckt, gleichzeitig stellte sich die Frage der Verortung der hebräischen Literatur in der europäischen Kulturgeschichte. Der Humanismus war deshalb ein so interessanter Bezugspunkt, weil das Hebräische seit jeher ein Teil des europäischen Humanismus gewesen war. Diese Entdeckung barg eine große Dynamik für die „junge“ hebräische Kultur. Um sie nachzuvollziehen, ist ein Vorurteil zu überwinden, gilt der Begriff „Jüdischer Humanismus“ doch geradezu als Oxymoron;¹ die Geschichte des Vorurteils, dass Judaismus und Humanismus nicht vereinbar sind, ist noch nicht geschrieben. In den Nachschlagewerken der Judaistik ist das Stichwort nicht zu finden. Der europäische Leser kennt die Idee des hebräischen Humanismus allenfalls aus zwei Aufsätzen von Martin Buber² und Emanuel Lévinas³; auch Hans Kohn hat den Begriff als Titel einer Essaysammlung gewählt.⁴ Keines dieser Werke aber sieht den jüdischen Humanismus in einer diachronen Perspektive als Teil der jüdischen oder der europäischen Geistesgeschichte. Die Teilhabe des Judentums am europäischen Humanismus wurde erst gedacht und erforscht, als das Hebräische eine in Europa gesprochene Sprache und eine Sprache europäischer Literatur geworden war. Dies geschah in einer kleinen Gruppe von Hebraisten in Odessa und später in Warschau zwischen etwa 1890 und 1939. Die letzten Früchte ihrer Arbeit waren 1939 zum Druck bereit oder
Niewöhner: Anmerkungen zum Begriff eines jüdischen Humanismus. Aus anderer Perspektive ist dieses Oxymoron formuliert in: Schulte: Noachidische Gebote und Naturrecht. Ein Beispiel für die Verteidigung des Universalismus aus den Quellen des Judentums, S. 142. Buber: Hebräischer Humanismus. Vgl. Schaeder: Martin Buber. Hebräischer Humanismus; Stroumsa: Hebrew Humanism Revisited. Jewish Studies and Humanistic Education in Israel. Lévinas: Pour un humanisme hébraïque. Kohn: L’humanisme juif. https://doi.org/10.1515/9783110536003-017
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bereits gesetzt, die Bücher wurden jedoch nicht mehr gedruckt, die Manuskripte sind seitdem verschollen. Zu ihnen gehört eine zweibändige Edition Żydowska literatura hellenistyczna (Jüdische hellenistische Literatur), die in Lemberg im Verlag des klassischen Philologen Ryszard Gansiniec erscheinen sollte. Den ersten Band hatte der Philologe Edmund (Menachem) Stein (1893 – 1943)⁵ als Monographie verfasst, der zweite Band bestand aus einer Anthologie von Übersetzungen ins Polnische des jungen Salomon Dykman (1917– 1965)⁶. Im selben Verlag sollte Edmund Steins Anthologie Zbiór hebrajskiej poėzji religijnej (Sammlung hebräischer religiöser Lyrik) erscheinen.⁷ Ihre Intention lässt sich aus dem Artikel Ideały narodowe i ogólno-ludzkie w modlitwie żydowskiej (Nationale und allgemein-menschliche Ideale im jüdischen Gebet) erschließen, der mit der Beobachtung schließt, dass die neuesten Entwicklungen der Liturgie die Hoffnung auf Zion mit allgemein-menschlichen Idealen vereinbare, womit sich in der Geschichte des jüdischen Gebets ein Kreis schließe.⁸ Das alexandrinische Judentum, dem das erste der genannten Werke gewidmet war, war der wichtigste Bezugspunkt für die Idee des hebräischen Humanismus. Salomon Dykman hatte die hebräischen Dichter Saul Tschernichowsky (1875 – 1943) und Zalman Shneour (1886 – 1959) ins Polnische übersetzt; auch die Manuskripte dieser Bücher sind nicht erhalten.⁹ Das dichterische Werk des Saul Tschernichowsky war die wohl umfassendste künstlerische Manifestation des hebräischen Humanismus. Wir verfügen jedoch über ausreichend Zeugnisse, aus denen sich die Idee des hebräischen Humanismus rekonstruieren lässt. Edmund Stein, der zugleich an der Universität Warschau und am Instytut Nauk Judaistycznych lehrte, sprach in zwei Interviews in der polnisch-jüdischen Presse¹⁰ explizit über die Idee, die er als Grundlage seines wissenschaftlichen Werkes ansah. Cała moja praca naukowa była prześwietlona wspólną ideą. Jest nią humanizm żydowski. Głęboko jestem przekonany, że przyszłość narodu żydowskiego zależy od tego, czy zdoła wytworzyć on nową syntezę między kulturą ogólno-ludzką a hebrajską. Zwróciłem się więc do tego okresu dziejów naszych, w którym taka synteza została stworzona – do okresu hellenistyczno-żydowskiego.¹¹
Rozenṭal: Menaḥem Sṭein. Löw: Filolog jako artysta. Dykman: Przekłady, wiersze, eseje, listy, S. 6 – 8. Stein: Ideały narodowe i ogólno-ludzkie w modlitwie żydowskiej, S. 27. Marim: Libush ʿivri litsirot yaṿan ṿe-romi. Vgl. Trief: Humanizm hebrajski. Rozmowa z doc. Dr. E. Steinem; Bleiberg: Humanistyczne założenia Judaizmu. Trief: Humanizm hebrajski. Rozmowa z doc. Dr. E. Steinem.
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Meine gesamte wissenschaftliche Arbeit war von einer gemeinsamen Idee durchdrungen. Dies ist der jüdische Humanismus. Ich bin tief davon überzeugt, dass die Zukunft des jüdischen Volkes davon abhängt, ob es ihm gelingt, eine neue Synthese zwischen der allgemein-menschlichen Kultur und der hebräischen Kultur zu schaffen. Deshalb habe ich mich der Epoche unserer Geschichte zugewandt, in der eine solche Synthese geschaffen wurde – jener des hellenistischen Judentums.
Bereits im Jahr zuvor hatte Edmund Stein in einem Aufsatz mit dem Titel Humanista hebrajski (Der hebräische Humanist) offengelegt, wen er als sein Vorbild ansah: Dies war Joseph Klausner (1874– 1958), Historiker des Judentums des Zweiten Tempels und erster Professor für hebräische Literatur an der Hebräischen Universität, der über den Eingang seines Hauses in Talpiyot das Motto gesetzt hatte: Yahadut ṿe-ʾenoshiyut (Judentum und Humanismus); ʾanoshiyut war seine eigene Wortschöpfung. Seine philologische Bibliographie umfasst zahlreiche Titel, die dieses Motto spiegeln.¹² Von Klausner beeinflusst entwickelte Eliezer Meir Lipschütz (Lifshits) ein Konzept der humanistischen Erziehung in hebräischer Sprache, das er 1920 in der von Joseph Klausner herausgegebenen Zeitschrift HaShiloaḥ veröffentlichte.¹³ Lipschütz sah die humanistische Ausbildung mit der Tradition des Beit-Midrash vereinbar. Edmund Stein und sein Schüler Salomon Dykman interpretierten Klausners Motto durch die Verbindung der griechischen Antike mit dem Hebräischen, als Forscher und Übersetzer. In seiner Studie über Philo von Alexandrien, die zunächst auf Deutsch¹⁴, später auf Polnisch¹⁵ und Hebräisch¹⁶ erschien, deutete Edmund Stein ein der Trauer gewidmetes Fest des jüdischen Kalenders, den zehnten Tevet, den Tag, an dem nicht nur die Septuaginta entstanden, sondern auch das Goldene Kalb geschaffen worden war, neu: Według świadectwa Filona obchodzili wspólnie Żydzi i Grecy co roku święto powstania Septuaginty na wyspie Pharos obok Aleksandrii. Dowodzi to, iż Grecy aleksandryjscy przeczuwali doniosłość tego faktu historycznego, że Mojżesz przemówił po grecku do świata helleńskiego. Nach dem Zeugnis des Philo begingen Juden und Griechen jedes Jahr gemeinsam das Fest der Entstehung der Septuaginta auf der Insel Pharos bei Alexandrien. Dies beweist, dass die alexandrinischen Griechen die Erhabenheit des historischen Faktums spürten, dass Moses auf Griechisch zur hellenischen Welt sprach.
Ḳloizner: Yahadut ṿe-ʾenoshiyut. Lifshits: Humanismus ha-yehudi. Stein: Die allegorische Exegese des Philo aus Alexandreia Stein: Filon z Aleksandrji.. Sṭein: Filon ha-ʾAleksandroni.
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Von dieser Tradition hatte Stein aus Philos Vita Mosis ¹⁷ erfahren. An anderer Stelle nennt er das Fest ein „Symbol der erfolgten Synthese zweier Kulturen“ (symbol dokonanej syntezy dwóch kultur).¹⁸ Dieses Fest beging Salomon Dykman als Übersetzer. Von 1933 bis 1939 übersetzte er die Dichter der „hebräischen Renaissance“, Chaim Nachman Bialik, Saul Tschernichowsky und Zalman Shneour ins Polnische; bereits zu dieser Zeit begann er, griechische Lyrik ins Hebräische zu übersetzen. Wie Saul Tschernichowsky¹⁹, über den der als „Hellenen und Humanisten“²⁰ schrieb, war Dykman davon überzeugt, dass Hebräer und Griechen in der Antike in einer gemeinsamen kulturellen Sphäre gelebt hatten.²¹ Sein Lehrer Edmund Stein hatte Ciceros De Senectute und De Amicitia ins Hebräische übersetzt, die Salomon Dykman selbst 1937 rezensiert hatte. Nachdem Salomon Dykman zehn Jahre im sowjetischen Straflager Workuta verbracht hatte (für verborgene zionistische Aktivitäten), übersetzte er Ovids Metamorphosen, die Tragödien des Aischylos, die Äneis des Vergil und De rerum natura des Lukrez ins Hebräische.²² Stein veröffentlichte noch 1939 in Warschau die Ideały judaizmu (Ideale des Judentums), die Kapitel zu „Die Würde des Menschen im Licht des Judaismus“ (Godność człowieka w świetle judaizmu), „Sinai und Olymp“ (Synai i Olymp) und „Philosemitismus in der griechisch-römischen Epoche“ (Filosemityzm w epoce grecko-rzymskiej) umfassten. Das Ideal der griechisch-hebräischen Synthese traf in Warschau auf einen renommierten Widersacher. Dies war Tadeusz Zieliński (1859 – 1944), Edmund Steins Kollege am Institut für klassische Philologie, der gemeinsam mit Stein Dykmans Magisterarbeit über Platon in der jüdischen Philosophie betreut hatte. Zieliński hatte 1927 als dritten und vierten Teil seines monumentalen Werks Religie Świata Antycznego (Die Religionen der antiken Welt) die Studie Hellenizm a Judaizm (Hellenismus und Judaismus) veröffentlicht²³ und die These vertreten, die Religion des Hellenismus habe den menschlichen Geist besser auf die Annahme des Christentums vorbereitet als der Judaismus; der Hellenismus sei somit das
Διὸ καὶ μέχρι νῦν ἀνὰ πᾶν ἔτος ἑορτὴ καὶ πανήγυρις ἄγεται κατὰ τὴν Φάρον νῆσον, εἰς ἣν οὐκ Ἰουδαῖοι μόνον ἀλλὰ καὶ παμπληθεῖς ἕτεροι διαπλέουσι τό τε χωρίον σεμνυνοῦντες, ἐν ᾧ πρῶτον τὰ τῆς ἑρμηνείας ἐξέλαμψε, καὶ παλαιᾶς ἕνεκεν εὐεργεσίας ἀεὶ νεαζούσης εὐχαριστήσοντες τῷ θεῷ. μετὰ δὲ τὰς εὐχὰς καὶ τὰς εὐχαριστίας οἱ μὲν πηξάμενοι σκηνὰς ἐπὶ τῶν αἰγιαλῶν οἱ δ’ ἐπὶ τῆς αἰγιαλίτιδος ψάμμου κατακλινέντες ἐν ὑπαίθρῳ μετ’ οἰκείων καὶ φίλων ἑστιῶνται, πολυτελεστέραν τῆς ἐν βασιλείοις κατασκευῆς τότε τὴν ἀκτὴν νομίζοντες. Philo, Vita Mosis 2, 41. Stein: Hellenizm a Judaizm, S. 513. Vgl. Schulte: From Greek to Hebrew. Dykman: Przekłady, wiersze, eseje, listy, S. 464. ʾElḥanani: ʿIm ḥatne peras Ṭsherniḥovsḳi le-tirgumim. Dykman: Przekłady, wiersze, eseje, listy, S. 484– 486. Zieliński: Hellenizm a Judaizm.
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wahre Alte Testament des Christentums. Auf Hellenizm a Judaizm antwortete Edmund Stein im folgenden Jahr mit der Broschüre Judaizm a hellenizm ²⁴ und wies nach, dass Zieliński weder das von ihm mehrfach zitierte Hebräische verstanden, noch die Quellen des Judentums gelesen oder die judaistischen Standardwerke konsultiert hatte. Seine Kritik zielte vor allem auf die Zielińskis Konzept zu Grunde liegende Annahme, dass die Religion des Hellenismus dem Judentum überlegen sei. Die ausführliche Rezension wurde auch in der polnischjüdischen Presse abgedruckt²⁵ und rief eine breite Kontroverse hervor. In ihrer Folge widersprach Tadeusz Zieliński vehement dem Vorwurf des Antisemitismus. 1935 hielt Edmund Stein seine Version eines Vortrags mit dem Titel Hellenizm a Judaizm, den er mit jenem Gegensatz beginnt, der als Grund für die Unmöglichkeit eines jüdischen Humanismus genannt wird, zwischen den Konzepten homomensura (des Hellenismus) und Deus-mensura (des Judentums).²⁶ Wie vor ihm Armand (Aron) Kaminka²⁷ findet er zahlreiche Berührungspunkte zwischen dem Midrasch und der Stoa und wendet sich dann einem breiten Panorama der hellenistisch-jüdischen Kontakte zu, die er mit den Worten beschließt, dass Japhet und Sem Brüder waren. Die Kontroverse war nicht nur deshalb bedeutsam, weil Tadeusz Zieliński der bekannteste Vertreter der klassischen Philologie in Polen war. Er hatte ein kulturgeschichtliches Modell angeboten, das die Entwicklung der modernen Kulturen aus der klassischen Antike beschrieb. Seinen Kern bildete die Idee einer „dritten Renaissance“: Darin bildeten die italienische und französische Renaissance die „erste Renaissance“ und die deutsche Klassik und Romantik (inspiriert von Johann Joachim Winckelmann) die zweite Renaissance; auf die romanische und germanische sollte eine dritte, slavische Renaissance folgen. Zieliński hatte diese Idee noch in seiner St. Petersburger Zeit entwickelt, wo sich um ihn ein Kreis versammelt hatte, zu dem die Dichter Vjačeslav Ivanov und Innokentij Annenskij ebenso gehörten wie die Brüder Michail und Nikolaj Bachtin und die Philologen Adrian Piotrovskij und Lev Pumpjanskij. Zum ersten Mal schriftlich fixiert findet sich die Idee der dritten Renaissance in einem Aufsatz über den Dichter Apollon Majkov aus dem Jahr 1899.²⁸ Der Aufsatz wurde in den ersten beiden Ausgaben von Iz žizni idej (Aus dem Leben der Ideen) der Jahre 1905 und 1908 erneut
Stein: Judaizm a Hellenizm. Z powodu książki prof. Tadeusza Zielińskiego p. t. „Hellenizm a Judaizm. Stein: Judaizm a Hellenizm. – In: B’nai-B’rith Organ Związku Stowarzyszeń Humanist. Stein: „Hellenizm a Judaizm“, S. 509. Kaminka: Les rapports entre le rabbinisme et la Philosophie stoicienne. Letztmals verwendet Zieliński die Idee der slavischen Renaissance 1935.
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abgedruckt und fand dadurch eine breite Leserschaft. In diesem Aufsatz schrieb Zieliński: Есть два течения в реках океана. Одно легко бросается в глаза: это то, которое производят дующие над поверхностью вод ветры; его направление меняется с каждым днем […] И удивительно если […] пловец, видя вздымающиеся валы […] воображает, что в […] этом верхнем течении и заключается все движение, вся жизнь моря? А между тем, незаметно для глаза под ним проходит другое, мерное и надежное течение, […] которое, начинаясь у раскаленных берегов мексиканского залива, вместе с его голубями волнами уносит на север и благодатную теплоту юга. И вот в то время, как от бурных волн […] первого течения не остается и следа к заре завтрашнего дня, благодаря […] второму побережья Шотландии и Норвегии покрываются несвойственною их широтам зеленью. Второе течение шума не производит и поэтому мало обращает на себя внимание людей; заметное лишь исследователям а не деятелям оно тихо и надежно исполняет свою великую, мировую задачу, перенося живительную теплоту античного юга к дальним широтам современного северного человечества; и вот, благодаря ему и наши края покрываются роскошною зеленью – не южною, разумеется, а тою, которая способна вынести производимое нашим северным небом охлаждение. Это последнее обстоятельство окончательно смущает людей, заставляя их сомневаться в существовании и действительности нашего второго течения; в самом деле, там пинии да кипарисы, у нас ели да дубы – где же тут сходство, где воздействие? Они не понимают того, что не будь постоянного воздействия этого гольфстрема античности – то не дубы и ели, а мхи и лишаи были бы показателями уровня современной культуры. […] Течет оно несколькими руслами; одно из них – поэзия.²⁹ Es gibt zwei Strömungen im Ozean. Die eine ist offensichtlich: Es ist jene, welche die über der Wasseroberfläche wehenden Winde verursachen; ihre Richtung ändert sich mit jedem Tag. […] Überrascht es, wenn der Seefahrer, der die sich auftürmenden Wellen sieht, annimmt, dass in dieser […] Strömung alle Bewegung, alles Leben des Meeres liegt? Unbemerkt für das Auge indessen verläuft unter ihr eine zweite, gemäßigte und zuverlässige Strömung, die an den heißen Ufern der Bucht von Mexiko beginnt und mit ihren blauen Wellen die segensreiche Wärme des Südens nach Norden trägt. Und während von den stürmischen Wellen […] der ersten Strömung am Morgen des nächsten Tages keine Spur verbleibt, […] sind die Ufer Schottlands und Norwegens dank der zweiten Strömung mit für ihren Breitengrad untypischem Grün bedeckt. Die zweite Strömung verursacht kein Geräusch und zieht deshalb wenig Aufmerksamkeit auf sich; nur von den Forschern bemerkt erfüllt sie still und zuverlässig ihre große Aufgabe für die Welt und bringt die belebende Wärme des antiken Südens zu den fernen Breitengraden der nördlichen Menschheit; dank ihr sind unsere Breiten mit üppigem Grün bedeckt – nicht mit südlichem Grün, versteht sich, aber mit einem Grün, das die Kühle, die unser nördlicher Himmel hervorbringt, ertragen kann. Dieses Tatsache irritiert die Menschen und lässt sie an der Existenz unserer zweiten Strömung zweifeln; in der Tat, dort wachsen Pinien und Zypressen, und bei uns Eichen und Fichten – wo ist die Ähnlichkeit, wo ist der Einfluss? Sie verstehen nicht, dass ohne den beständigen Einfluss des
Zelinskij: Antičnyj mir v poėzii Majkova, S. 139 – 141.
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Golfstroms der Antike nicht Eichen und Fichten, sondern Moose und Flechten der Maßstab für das Niveau der modernen Kultur wären. […] Er [der Golfstrom] fließt mit einigen Armen; einer davon ist die Dichtung.
Zieliński schreibt hier Johann Joachim Winckelmann fort: „[…] edle Einfalt und eine stille Größe, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten […]“³⁰. Auch Zielińskis Bild war so eingänglich, dass es die Vorstellung von kulturellen Entwicklungen geprägt hat. So ist es in die Lyrik von Vjačeslav Ivanov ebenso eingegangen wie in seinen viel rezipierten „Briefwechsel aus zwei Zimmerecken“ (Perepiska iz dvuch uglov) mit Michail Geršenzon. Im Gedicht Son Melampa (Der Traum des Melamp) von 1907 finden sich die Hexameter: Поверху волны стремятся на полдень, ниже – на полночь: Разно-текущих потоков немало в темной пучине, И в океане пурпурном подводные катятся реки.³¹ An der Oberfläche strömen die Wellen nach Süden, in der Tiefe – nach Norden: / Ströme unterschiedlicher Richtung gibt es nicht wenige im dunklen Meere, /und im purpurnen Ozean fließen unterirdische Flüsse.
In dem Briefwechsel des Sommers 1920 schrieb Ivanov: Так и в культуре есть сокровенное движение, влекущее нас к первоистокам жизни. Будет эпоха великого, радостного, все постигающего возврата.³² So gibt es auch in der Kultur eine verborgene Bewegung, die uns zu den Ursprüngen des Lebens führt. Es wird eine Epoche der großen, freudigen, alles umfassenden Rückkehr kommen.
Zielińskis Bild des Golfstroms der Antike aber wurde nicht nur in der russischen Kultur rezipiert, sondern auch von Chaim Nachman Bialik, neben Saul Tschernichowsky dem bedeutsamsten Dichter der hebräischen Renaissance. Bialik verfasst 1913 den Aufsatz Letoldot ha-shirah ha-ʿivrit he-ḥadashah (Zur Geschichte der neuen hebräischen Dichtung).³³ Indem er die Geschichte der hebräischen Kultur als eine Geschichte der Diskontinuitäten beschreibt, gelingt es ihm, sein eigenes Werk und das Werk seiner Zeitgenossen an vergangene Epochen
Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, S. 43. Ivanov: Sobranie sočinenij, Bd. 3, S. 169. Ebenda, S. 410. Byaliḳ: Letoldot ha-shirah ha-ʿivrit he-ḥadashah, S. 9 – 18.
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jüdischer Kultur anzuknüpfen. Das Bild, das er wählt, gleicht auf verblüffende Weise jenem von Vjačeslav Ivanov. Die Entwicklung der Literatur nimmt, wie die Entwicklung anderer Disziplinen, zwei Wege: einen offenen Weg und einen verborgenen Weg. Entwickelt sich die Literatur offen, ist sie eine Kette sichtbarer Glieder, aber wenn sie den verborgenen Weg (derekh nisteret) nimmt, gleicht sie einem Bach, der manchmal sichtbar ist, aber manchmal [von der Erde] verschluckt wird, und dann in den Tiefen der Erde weiter fließt und erst nach einer bestimmten Zahl von Parasangs wieder an die Oberfläche tritt. Die Geschichte kennt nur den Teil, der offen liegt. Fehlt ein Bindeglied, so geht sie davon aus, dass [der Strom] für immer versiegt ist, wohingegen er in Wahrheit weiter fließt wie jener Bach unter der Oberfläche der Erde.³⁴ Als Dan Miron im Jahr 2010 ein neues Modell zum Verständnis der jüdischen Kulturen vorstellte, um zu beschreiben, dass bestimmte Tendenzen nach langen Perioden an einem anderen Ort und in veränderter Form und oftmals ohne explizite Berufung auf die Vorgänger wieder aufgenommen werden, berief er sich auf eben jenes Zitat von Ch. N. Bialik.³⁵ Bialik stand der klassischen Antike und dem Humanismus, im Gegensatz zu Saul Tschernichowsky, fern. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass beide zu Beginn der 1910er Jahre in Odessa darüber gesprochen haben, wie sich die von ihnen neu geschaffene moderne hebräische Lyrik als Teil der europäischen Kulturgeschichte denken ließ. Die Verbindung von Bialiks Aufsatz zu odessiter Hebraisten wird klarer, sofern wir berücksichtigen, welche hebräischen Dichter Bialik durch das Bild der verborgenen Strömung mit seiner eigenen Zeit verbindet. Bialik verwendet es, um Mosche Chaim Luzzatto (1707– 1746) mit Immanuel von Rom zu verbinden, den er selbst den „letzten Mohikaner“ (ha-mohiḳani ha-ʾaḥron)³⁶ nennt und den Saul Tschernichowsky als l’uomo universale ³⁷ bewundert hatte. Mit Mosche Chaim Luzzatto wählt Bialik jenen Dichter der italienischen Haskala, der den Ausgangspunkt der ersten beiden Geschichten der hebräischen Literatur bildete. Die ersten beiden Historisierungen moderner hebräischer Literatur waren Nachum Slouschzs 1902 veröffentlichte, an der Sorbonne als Dissertation verteidigte Studie La Renaissance de la Littérature Hébraïque, an die sich La Poésie lyrique hébraïque contemporaine ³⁸ anschloss, und Joseph Klausners erstmals 1900 auf Russisch erschienene Novo-evreiskaja literatura, die beständig erweitert und ins Deutsche (1921), Englische (1932) und
Ebenda, S. 12. Miron: From Continuity to Contiguity, S. 107– 108. Byaliḳ: Letoldot ha-shirah ha-ʿivrit he-ḥadashah, S. 9. Ṭsherniḥovsḳi: ʿImanuʾel ha-Romi, S. 18. Slouschz: La Poésie lyrique hébraïque contemporaine.
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Hebräische (1934) übersetzt wurde. Slouschz und Klausner beginnen ihre Werke wie Bialik mit Mosche Chaim Luzzatto und nennen das humanistische Element explizit als den wichtigsten Impetus für die gesamte moderne hebräische Literatur. Wie weit die Idee eines hebräischen Humanismus in Odessa zurückreicht, zeigt die erste Veröffentlichung des jungen Simon Dubnov aus dem Jahr 1881, in der sich Rabbi Akiba (der größte der Talmudgelehrten) und Elisha ben Avuya, genannt Acher („der Andere“) gegenüber stehen.³⁹ Akiba sei gläubig gewesen, Elisha ein Philosoph und ein universeller Mensch (obščečelovek), vergleichbar mit Spinoza. Simon Dubnov fragt, was geschehen wäre, hätten nicht die Akibas, sondern die Elishas die jüdische Geschichte bestimmt – die unausgesprochene Antwort ist, dass es für Dubnovs eigene Generation mehr Anknüpfungspunkte für die Tradition eines hebräischen Humanismus gegeben hätte.⁴⁰ Nachum Slouschz hatte seine Vision einer Synthese der griechischen und der hebräischen Kultur bereits 1897 in einem Artikel über den Bildhauer Mark Matveevič Antokol’skij (1843 – 1902) formuliert: „Der Tag wird kommen, an dem der Geist von Israel im Geiste Griechenlands aufgeht. Dann wird das Gute über das Schöne herrschen. Ohne dass die Letztere ihren Wert verliert, werden beide Zwillinge sein.“⁴¹ Hatte die französische Version seiner Literaturgeschichte die hebräische Literatur als einen Kampf zwischen Humanismus und Rabbinismus beschrieben, gibt Slouschz in der hebräischen Ausgabe der Aufgabe, dem hebräischen Leser seine Idee eines hebräischen Humanismus zu vermitteln, noch größeren Raum. Die weltliche hebräische Literatur, d. h. die Literatur der Haskala, trage zwei miteinander verbundene Merkmale: die humanistische Qualität (tekhunah humanit; Slouschz gibt das französische humanisme in Klammern), d. h. das Streben, stolz auf die Literatur der eigenen Sprache zu sein, wie es den Beginn vieler Nationalliteraturen markiere, etwa in der französischen Renaissance. Die zweite Qualität sei die humanitäre oder menschenliebende Qualität (tekhunah humanitarit ʾo ḥovevet ʾadam, Slouschz ergänzt das französische humanitariste), die in den Tagen von Moses Mendelssohn begonnen habe.⁴² An dieser Stelle schafft Slouschz eine Verbindung, die den Begriff des Humanismus fest in der jüdischen Tradition verwurzelt. Diese zweite Qualität, schreibt er, habe Ranahu, d. h. Rabbi Naftali Herz Wessely (1725 – 1805) oder Weisele, Torat ha-ʾadam (Lehre des Menschen) genannt. Er bezieht sich auf Wesselys Divre shalom ṿe-ʾemet (Worte des Friedens und der Wahrheit) aus dem Jahr 1782. Wessely unterscheidet darin
Dubnov: Neskol’ko momentov v istorii razvitija evrejskoj mysli. Vgl. Schulte: Russian Literature and the Hebrew Renaissance. Slushts: Mikhtavim mi-Rusiyah, S. 10. Slushts: Ḳorot ha-sifrut ha-ʿivrit he-ḥadashah. Bd. 1, S. 8.
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zwischen der Moses auf dem Sinai offenbarten religiösen Lehre (Torat ha-Shem, wörtlich: der Lehre Gottes) und der allen Menschen offenbarten Lehre. Mit Torat ha-ʾadam war ein hebräisches Analogon zum Humanismus gefunden – und es datierte vor der ersten Verwendung des deutschen Begriffs aus dem Jahr 1808.⁴³ Auch Wesselys dichterisches Hauptwerk, die Shire tifʾeret (1789), enthält mit den Zeilen „Mah ʾadam ki tedaʿehu / ʾet libo taḥḳor tavin ʾel maʿasehu / uvtokham lihyot maʿon lakh ʾiṿita?“⁴⁴ („Was ist der Mensch, dass du sein Herz erforschst, seine Werke beobachtest und begehrst, in ihm zu wohnen?“) einen Ansatzpunkt, es als Vorläufer eines hebräischen Humanismus zu lesen. Bemerkenswert ist, dass in der deutschen Übersetzung der Divre Shalom ṿe-ʾemet ein Satz hinzugefügt worden war. In der ebenfalls 1782 veröffentlichten Übersetzung von David Friedländer findet sich der Satz „Mensch seyn ist eine Stufe höher, als Israelite seyn“⁴⁵, den das hebräische Original nicht kennt.⁴⁶ Hermann Cohen, dessen Konzept der noachidischen Gebote Christoph Schulte als jüdischen Beitrag zum Humanismus vorgestellt hat,⁴⁷ berief sich wohl bei seiner Bestimmung des Naturrechts in Bezug auf die noachidischen Gebote⁴⁸ auf eben diese Schrift, ohne Wessely zu zitieren. Von Joseph Klausner übernahm sein Schüler, der Dichter und Literaturwissenschaftler Shimon Halkin das Konzept der humanistischen Grundidee der modernen hebräischen Literatur.⁴⁹ Er hatte bereits 1948 geschrieben: „Indeed, the character of modern Hebrew literature, the Haskalah period included, can best be understood in terms of the humanism to which European civilization began to waken five or six hundred years ago in the age of the Renaissance“⁵⁰. Dies war der vorerst letzte Versuch, die in Odessa geborene und in Warschau fortgeführte Idee eines hebräischen Humanismus zu denken. Dass die Idee des hebräischen Humanismus als kulturelles oder heuristisches Konzept keine Fortsetzung fand, ist wohl vor allem dadurch bedingt, dass ihre wichtigste Voraussetzung die lebendige weltliche hebräische Sprache in Mittel- und Osteuropa war.
Cancik: Europa – Antike – Humanismus, S. 237. Naftali Hirsh Ṿizel: Shire tiferet, S. 1. Wessely: Worte der Wahrheit u. des Friedens an die gesammte jüdische Nation, S. 5. Vgl. Lohmann: Das ‚deutsche Original‘ von Divre schalom we-emet. Schulte: Noachidische Gebote und Naturrecht. Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, S. 135 – 144. Halkin: Modern Hebrew Literature, S. 61– 63. Halkin: Socio-Historical Implications of Modern Hebrew Literature, S. 36.
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Lenka Anna Rovná
Political Thinking of Karel Čapek: Between Czech and European Authors and artists necessarily constitute their work from the particular environment and context in which they live. However, to produce truly immortal art, they must transcend the local, the here and now, and appeal to the core substance of human experience that overarches centuries. Their work must appeal to their own generation with certain degree of understanding, but some also have an afterlife reflecting the concerns of humankind as such. They address the essence of humanity such as the desire for love and happiness, self-respect and respect for others. In many cases, historical circumstances in which the author struggles repeat themselves or resemble his personal history and events bothering his contemporaries. Karel Čapek reflected the hopes and worries of his generation but he also spoke and still speaks to coevals. His main fears contained the threat of dehumanisation caused by modern technologies and later by the rise of undemocratic authorities and populism around Europe. After World War I, he belonged to the most famous and influential authors in Europe and the world. When he died at the age of forty-eight, Georges Bernard Shaw wrote: “Why him? Why not me?” But his name and his legacy were not forgotten at home as well as abroad. Karel Čapek, the writer, journalist, playwright, photographer, painter and philosopher, represented the young generation of artists who entered the public space of a newly born Czechoslovak Republic after World War I. Karel Čapek was a supporter of humanism, pragmatism and liberal democracy embodied by the first president, Tomáš Garrigue Masaryk (1850 – 1937). This paper focuses on specifics of Karel Čapek’s thinking, and aims to present different layers of identities of an author living in a newly formed state in Central Europe confronted with European and American culture. Čapek’s Czechness and its roots, as well as his effort to place Czech culture and philosophy in a European and world context, were successful. This way, he enriched a Central European intellectual space and the newly formed multi-ethnic country. This paper suggests that one must first come to an understanding of the self and of others, before being able to grasp the upper layers of identity; be it national, European or cosmopolitan. Grasping the common man or the ordinary citizen led Čapek to humanism and understanding of the boundaries between personal freedom and respect for order. Karel Čapek aimed to raise the ordinary to the level of the eternal. His focus on the common human, with her hopes, efforts and failures, painted https://doi.org/10.1515/9783110536003-018
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a picture in which the mundane, became the holy. As such, his work is a celebration of Eternity in every human being.
1 A Birch, a Willow, Lichen and a Human Being: Nothing in the World is More Persistent¹ Besides Čapek’s universality and cosmopolitism, his deeply experienced Czechness paved his way to his Europeanism. His Czechness as well as humanism, honesty and fairness were anchored in his family history, birthplace and ancestors. Karel Čapek as a multifaceted personality was a well-known representative of Czech and European culture and politics, not only in Czechoslovakia, but also in Europe and the USA, and around the world. His dramas were played immediately after Prague on Broadway, in London or Berlin.² At present, Karel Čapek belongs to the most popular cultural personalities in the Czech Republic. As to Europe and the world, it is mostly his play R.U.R, and the novel The War with Newts (Válka s mloky), which are still attracting attention. Compared with his – at that time, rather unknown – contemporary, Franz Kafka, Čapek appealed to the pertinent problems of the interwar period. Kafka turned towards the inner world of individuals, what made him timeless, and consequently world famous even in the twenty-first century. Here I argue that even though Franz Kafka became more known and recognized after World War II, the philosophical background of Karel Čapek’s teachings, as well as the threats he was aware of and inspired by, speak profoundly to today’s world. These are the threats to humanism, pressured by the rise of modern technologies, the threat to freedom and democracy caused by the rise of populism and authoritarianism. It is no coincidence that the name of Čapek comes up with increased frequency in Czech society in recent times. Čapek wrote: “The spirit of manipulation, which in natural sciences is called technocracy, is in the field of human forces called dictatorship.”³ Čapek’ s literary works are warnings against simplified solutions, and absolute truths. Consequently, they have much to teach today’s world. But is was his family and his roots, which formed his sensitive soul.
Čapek: Cesta na sever, p. 93 All translations in English are mine. Ort: Umění a život v modernistické Praze, p. 10. Čapek: O umění a kultuře, p. 224.
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2 Family Roots Čapek’s spiritual world was created by his background full of dichotomies: his father’s and mother’s worlds of rationalism and emotions, his birthplace at the border between Czech and German cultural milieus, and the turn of the century, marked by changes of generations. Karel Čapek was born on 9 January 1890 in Malé Svatoňovice, a small miner’s town in Northeast Bohemia in a family of a medical doctor, as the youngest child. His sister Helena, a pianist and an author of several books, wrote besides other proses, the memoir My dear brothers (Moji milí bratři); his brother Josef was a well-known painter, writer and poet. The family was rooted on his mother’s and father’s sides in the region of so-called Krakonoš’ Garden, a charming and harsh district under the Giant Mountains, the birthplace of two other important Czech writers, Božena Němcová and Alois Jirásek. Čapek himself characterized it: Native land is a land of childhood, the land of first and thus the strongest impressions, discoveries and knowledge. One does not have to return because in fact one never stopped living there wherever he finds himself. Native land is like a native language, even if someone speaks or writes another language, he does not stop thinking and dreaming in the language of his childhood. It is not an influence, but something more original and stronger: it is a piece of his own soul and personality.⁴
His maternal grandmother, Helena Novotná, wife of a miller from Hronov, played a special role in Karel Čapek’s life. She was very kind, wise, religious and joyful, a well of fairy tales, stories, songs and rhymes. Čapek was inspired by her mastery of the Czech language, and together with his well-read parents, his interest in literature and his native language was formed. His father, a medical doctor, and a self-disciplined and hard-working man, required all children to be first at school, and fulfil their home duties. He was very kind, compassionate and always ready to help his patients. For his children, he embodied the strength and stability, humanism and the rational modern age of science and labour. Karel commented that he formed him to be a sort of a doctor as well, one that heals people’s pains, not a surgeon, but an internist and a village family doctor who offers drops or a bandage when needed. Čapek’s ambition was to become a good healer.⁵ Karel Čapek’s mother, Božena, was the only daughter of a miller, fragile, emotional, beautiful and passionate, but not the best support for her husband Čapek: Obrázky z domova, p. 7. Buriánek: Karel Čapek, p. 19.
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and a full house of patients and their pains.⁶ She collected regional legends and songs, which she presented at the ethnological exhibition in Prague, and was awarded a bronze medal for her contributions.⁷ Karel was her favourite child. He loved her, but was frightened by her sometimes-hysteric love.⁸
3 Studies Karel studied at a grammar school (gymnasium) in the Eastern Bohemian town of Hradec Králové, where he lived at with his grandmother. His results were excellent but, due to his participation in a student anarchist club, he was expelled and moved to Brno where his married sister Helena lived with her husband. He finished his high school in Prague where the whole family moved in 1907, graduating in 1909. Afterwards, he started his studies of French and German literature, history of art, and philosophy at the Faculty of Arts at Charles University. In 1910 – 1911 he spent several months at the Universities in Paris and Berlin. In 1915, he passed his final exams in aesthetics, history of art and philosophy, defending his PhD. His dissertation, Pragmatism, or Philosophy of Practical Life (Pragmatismus čili Filosofie praktického života), was published in 1918. Čapek, whose essay was reprinted in 1925, introduced the Czech reader to the philosophy of pragmatism using mostly American sources. Čapek wrote: Pragmatism is really “a philosophy based on facts”, purely empirical; focusing on dates, in the rejection towards the verbal solutions, artificial problems and abstract dialectics of terms, and thus it is a direct follower of positivism; it is even exceeding it by perceiving the “fact” in a broader way. From all empirical facts, positivism selects only scientific facts, in fact, those controlled by professional sciences and formulated scientifically. On the other hand, for pragmatism even those facts are valid, which cannot be called “scientific”; these are real desires, needs, passions and intentions of people; this is a full experience with its quite unscientific, practical and personal way. In this sense, pragmatism is more “empirical” than positivism: most of all by the fact that the sufficient experience represents also “facts”, which were for empiricism a “certain realm”, a realm of assumptions and incompetence.⁹
Čapková: Moji milí bratři, p. 55. Ibid., p. 114. Ibid. p. 125. Čapek:Pragmatismus čili Filosofie praktického života, pp. 14– 15.
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4 Philosophical Background The involvement of intuition and insight, the acceptance that the cognitive process is not exclusively based on empirical experiences, was even more illustratively embodied in the Čapek’s trilogy Hordubal (Hordubal), Meteor (Povětroň) and An Ordinary Life (Obyčejný život). He thus succeeded to merge his personal experiences of the divergent cognitive worlds of both his parents. The last chapters of An Ordinary Life devoted to the understanding of a human being and his internal life in the world are close to the approaches of Buddhism, Non-dualism, or, for instance, Christian mysticism. Čapek wrote: If only I had been a poet, he is lucky; the poet can see the realm within him, and he can give it a name and a shape. There is no fantasy; nobody can invent anything that is not present in him. To behold and hear it is the whole miracle and the whole revelation.¹⁰
And some pages later: Every one of us is a ‘we’; everyone is a crowd, which disappears in the faraway. Just have a look at you, you, human creature, and well, you are nearly the whole of the human race! It is what is horrible: when you are sinning, the guilt falls on all of them, and this enormous crowd shares all of your pain and pettiness. You cannot, you cannot lead so many people through the journey of humbleness and vanity. You are I, you are leading, you are responsible for them; you have to bring all of them somewhere […] Have a look, just have a good look, to know at the end what all of you could be; if you pay attention you will see in everyone a piece of yourself, and then, to your astonishment, you will recognize your true fellowman.¹¹
The question arising is whether there is a part of Eternity in every human being? In Čapek’s view, human beings share their humanity; a fact that consequently makes them responsible to each other and in fact embodies Eternity.
5 Čapek’s Generation Karel Čapek’s opinions represented the views of his generation. The term Čapek’s generation came into use at the beginning of the twenties of the twentieth century, and was utilized to distinguish his generation from two other generations: the decadents and aesthetes – the previous Generation of the nineties, and the Čapek: Obyčejný život, p. 368. Ibid., p. 371.
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younger generation of the leftist avant-garde after World War I. These two generations were searching for absolute, quasi-religious truths of a new belief or collectivism. On the contrary, Čapek’s generation stressed the limits of rational recognition, and the necessity to respect plurality and relativism of all values. It is not a coincidence that the basics of Einstein’s theory of relativity were formulated by the physicist during his professorship between 1911– 1912 at Charles University in Prague and published later in the book On the special and general theory of relativity in 1916. Čapek’s contemporaries were more moderate, more connected with the formation of a new democratic state.¹² Karel Čapek himself described his generation with these words: Special mark: relativism, pragmatism, humanism, liberalism. Indulging in vices of state formation and compromises. It is official and thus as a consequence is out-dated and not modern. It is cultivating down-to-earth realism and is living on gratifying the governing order.¹³
Vítězslav Nezval, one of the most well known Czech poets of the twentieth century and a representative of a younger generation inclining to modern directions in poetry, such as surrealism or poetism, considers that Karel Čapek played a crucial role of introducing foreign poetry to Czech authors. Čapek translated modern French poets in a book entitled French Poetry of the New Age. It was most of all the translation of Appolinaire’s work, and Čapek’s fresh language, that influenced a new generation of poets formed after World War I.¹⁴A respected critic of Czech art before and after World War I, František Xaver Šalda, wrote about Čapek: “[…] the whole of Čapek’s writings was a struggle to understand the method of grasping reality, how to orientate himself in the world’s secrets.”¹⁵ Čapek did his best to search for human reality in an inhuman world. Aleš Haman, points out that Čapek’s synthetic work contains an illusion of happy pettiness not aware of its own to which the author wanted to escape to avoid his recognition and scepticism.¹⁶ I argue that it was Čapek’s deep humanism and liberalism, which led him to his love of ordinary things and ordinary people as representatives of our world and humankind. This was also his way to understand Eternity. Several theologians described Čapek’s relationship to God. Catholic priest and Professor of sociology at Charles University, Tomáš Halík, the bearer
Ort: Umění a život, p. 11. Čapek: O čapkovské generaci. – In: Ort: Umění a život, p. 9. Nezval: Moderní básnické směry, p. 42. František Xaver Šalda: Nejnovější krásná próza česká. – In: Haman: Tři stálice české prózy, p. 167. Ibid., p. 169.
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of Templeton Prize, wrote about Čapek’s timid religiosity. ¹⁷ Professor of Evangelical Theological Faculty of Charles University Ivana Noble wrote: Čapek’s images of the world count with a religious counter-culture that stands in opposition to that of production and progress, of dehumanized objectified science, of militarism, and of utilitarianism or of agnosticism. In Čapek, such a religious counter-culture is playful, non-dogmatic, non-institutional, but has not lost its fundamental symbols and a spiritual depth.¹⁸
Jiří Opelík, in a chapter About Čapek’s attitude towards God and religion, summarized that the writer changed his relationship to God several times during his lifetime. Under the influence of his materialistic father, grounded in rationalism of the nineteenth century, and the artistic avant-garde of the generation before World War I, he rejected God.¹⁹ After starting his philosophical career and adopting pragmatism as his personal philosophy, Čapek accepted the option of God as an imaginary source with real energy. He focused on life and the human being, and thus, instead of religiosity, he cherished morality based on Christian values of faith, hope and love.²⁰ There are many references to God in Čapek’s writings. Be it for instance in RUR, The Absolute at Large, Krakatit, Apocryphal Tales, An Ordinary Life, Meteor or Talks with T. G. Masaryk, his great teacher and model, the references to New and Old Testament were widespread and proof of Čapek’s religious education during his childhood and youth. On the other hand, his approach was grounded in an unrevealed God, God not found in one’s own heart, but hidden in humans, and manifested trough them.²¹ Čapek thus represents an excellent example of the amalgam of his background, being based in his native region, a loving and understanding son of his parents, and all his ancestors from Krkonoše, the abundance of all possibilities of his life, as described in An Ordinary Life. It was his belief in the immanent presence of God in each creature. His Czechness developed through his family, neighbours, schoolmates, friends and compatriots at the border between the Czech and German elements of Northeast Bohemia. The perception of the other helped him to perceive his own identity. The horrible experience of World War I, and the loss of innocence, as well as the creation of a democratic
Halík: An interview about Karel Čapek http://halik.cz/cs/tvorba/rozhovory/clanek/97/. (30 May 2017). Noble: Theological Interpretation of Culture in Post-Communist Context, p. 12; from the chapter: Images of the World in Karel Čapek and Isaac Bashevis Singer, pp. 15 – 29. Buriáne: Generace buřičů, pp. 102– 105. Opelík: Uklizený stůl, pp. 100 – 101. Ibid., p.101.
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Czechoslovakia, placed him in the centre of those who were building a new state. On the other hand, Čapek was also a product of European philosophy, literature, and art in general. His studies at Charles University, the Sorbonne and in Berlin opened the world of Western political thinking and art to him, developed his knowledge of foreign countries, languages and cultures, and made him a cosmopolitan – experiences that he expressed in his travel books. In the twenties, Čapek, together with his brother Josef or alone, defended humanism against global technocracy.²² He travelled around Europe, and was fascinated by the variety of peoples, cultures, customs, languages and landscapes on one hand, but he was, on the other hand, determined in his belief in commonness in humans.²³ In today’s vocabulary, we would summarize his views as Unity in Diversity. Karel Čapek, a representative of liberal democracy, wrote his confession in his travel book Letters from England: Maybe it is the trees that have such a big influence on toryism in England. I think that they preserve the aristocratic instincts, historicism, conservativism, tariff protection, golf, the House of Lords, and other strange and old things. I would become maybe a passionate Labourite if I were living in the Street of Iron Balconies or the Street of Grey Bricks; but sitting under the oak tree in Hampton Park, I feel phony sympathies to recognize the value of old things, higher mission of old trees, harmonic spreading tradition, and sort of a respect to everything that is strong enough to keep oneself forever.²⁴
It was in his travel books where Čapek referred to his love and deep feelings for his homeland and Czechness: Then ergo Taormina, the paradise on the earth over a sparkling sea, an island of scent and flowers between rocks, the lights by the sea, red shining Etna. – No, now think about your home; even if it were hundred times more beautiful. Think about your native home, the country of running waters and rustling forests and the most modest, intimate gracefulness.²⁵
His patriotism, deeply embedded love to his young country with ancient history was expressed in English Letters:
Bratři Čapkové, Ze života hmyzu 1922 a Adam Stvořitel, 1927, Karel Čapek, R.U.R., 1920, Věc Markopulos, 1922, Továrna na Absolutno, 1922, Krakatit 1924, Italské listy 1923, Anglické listy 1924, Výlet do Španěl 1929, Obrázky z Holandska 1931, Cesta na sever 1936. Čapek: Anglické listy, p. 14. Čapek: Italské listy, p. 50.
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I saw greatness and power, affluence and advancement unreachable. I was never sad that we are a small and unfinished piece of the world. To be small, unsettled and undone is good and brave mission […]. And do not tell me about our pettiness; the universe around us is thanks God as large as the universe around the British Empire. A small steamboat does not accommodate as much as a large boat; but ha-ha, dear man, it can float as far or to another direction. It depends on the team […] we are a small nation, and thus everybody whom I am going to meet will resemble someone whom I know personally. The first person I am going to behold is going to be a corpulent and noisy man with a cigar, a man expressing some discontent, choleric, irritated, talkative with a heart on the plate. And God bless you, as we have known each other.²⁶
If on one hand, the Czech identity was mostly personified by Czech picturesque landscape and ordinary people, Čapek manifested his togetherness to Europe and the West on the other: God, I know that we are only a small planet and ask whether it means a lot to this serpentine and weird headland called Europe? But I was watching the stars when sitting on the Greek columns in Girgenti, I was breathing balmy, mint air in Montserrat; and now I am puffing through frostbitten nose in Söröysund and waiting if I see a whale. I know, it all is not worth mentioning and many saw hundred times more; but I am a European patriot and if I have not seen ever more, I will say till the end that I saw the greatness of the world.²⁷
For Čapek it was a connection between national and thus Czech and European, which he considered to be the destiny for his nation: We were part of Holy Roman Empire; we were a member of the baroque Habsburg Empire; historians can tell us if in both cases it was only involuntary necessity or a historical accident or repeated political program of our state life. I repeat: we have in our history more or less broadly and more or less consciously conceived political Europeanism. I hope that this tradition can talk to us as well today.²⁸
In the twenties and thirties, a new enemy to Čapek’s human and democratic world emerged in form of fascism and nationalism: I do not know what these nations have with their greatness and might; well well, only do not burst with your very pride! Over here, I have been taking a look at three nations – they are said to be small; and you see they have it well arranged and if you count only perfect things you could find there a pile more than among the biggest worldly kingdoms. And, also, here the history caused plenty of animosities and combats and wars; and nothing
Čapek: Anglické listy, pp. 152– 153. Čapek: Cesta na sever, p. 203. Čapek: Obrázky z Holandska, p. 74.
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is left, it was for nothing. Once people come to the recognition that no victory is worth it; and if they need heroes it can be such a small doctor from Hammerfest who, in a polar night, drives his motorcycle around the islands where a woman is giving a birth or a child cries. There is still lot of space for whole and brave men, even if the war drums stop rumbling in the future.²⁹
6 Enemy of Fascism Čapek’s deeply rooted humanism, liberalism and tolerance detected new threats surrounding Europe. New prophets, claiming simplified truths based on nation, race or class origins were mushrooming. Messianic populists were gaining ground in neighbouring countries, threatening the young Czechoslovak democracy. Karel Čapek used the weapon he could master the best: his pen. The plays White Disease (Bílá nemoc), The Mother (Matka), the novel War with the Newts (Válka s mloky) and many articles were rousing at home and abroad. It was the danger of Nazism, fascism, and totalitarianism, but also of ignorance and greed of the majority of population which were destroying the values Čapek’s life was based on: humanity and tolerance. Karel Čapek did not only used his pen, he was also active as a citizen supporting, for instance, German immigrants who were forced to leave Germany after Hitler came to power. Thomas Mann was his close friend. Ignorance and greed peaked in the politics of appeasement. Čapek’s world was destroyed by the democratic world’s sell-out in the form of the Munich Treaty of 1938. Hunted by the Czech extreme right, stripped of his allies, and weakened by his poor health, Čapek died at the age of forty-eight on Christmas 1938. Just in time to avoid Nazi persecution. On March 17, 1939, two days after Hitler’s occupation of Prague, the Gestapo raided his house, seeking to imprison him.³⁰ Josef Čapek, his older brother, died in the concentration camp in Bergen Belsen just few weeks before its liberation in April 1945.
7 Conclusion Karel Čapek was a representative of Czech and European culture, and a reflection and a source of political thoughts of the first third of the twentieth century. Arthur Miller wrote about him: “I read Karel Čapek for the first time when I was a Čapek: Cesta na sever, p. 283. Opelík: Uklizený stůl, p. 103.
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college student long ago in the Thirties. There was no writer like him […] prophetic assurance mixed with surrealistic humor and hard-edged social satire: a unique combination […] he is a joy to read.”³¹ But it was and is not only a joy to read. It is a wonderful inspiration and source of knowledge and thinking. Being deeply embedded in Czech culture inspired by poetic folk art, he was also a well read and educated European and cosmopolitan. Besides being a writer, playwright, painter and photographer, Čapek was also a philosopher and a thinker. His understanding of ordinary people and their inner life led him to the respect of humanism. For him it was an expression of admiration to for uniqueness of every individual, but also recognition of commonness, a joint sharing in Eternity, and mutual responsibility for others. Being a human meant being responsible for yourself and for others who, in fact, are expressions of your optional lives. Čapek’s enemies were totalitarianism and populism in any form as he cherished individuality and freedom: Still another thing is eye-catching at Netherlands’ streets: the dogs. They actually do not have muzzles; as a consequence, they smile all the time nearly aloud and they do not fight with each other and do not bite anyone and they do not growl at each other with such a Central European irritability; from which you can see that freedom is not for cats but for dogs and for us people and that it is an excellent gift of a God, Amen.³²
During his lifetime, Čapek made many enemies, especially among the right wing Catholic conservatives, Communists, Nazis, and all those who projected into him the success and weakness of the new Czechoslovakia. Many at home and abroad, on the other hand, celebrated Čapek. During the war, he was a persona non grata. In Communist Czechoslovakia, he was sentenced to being forgotten. Paradoxically, it was Soviet critics who drew more attention to Čapek’s writing and returned him to his Czech audience.³³ The increased interest among Czech public can be explained by the urgency of the threats, which were shaking Europe in thirties, as well as today. Čapek’s house was bought by the municipality of Prague 10, and is now undergoing reconstruction into a museum. Čapek’s name and his work are living again on theater stages and the mass media. Karel Čapek cherished democracy, Central Europe, and Czechoslovakia was for him a part of Western democracy, civilization and liberalism. This was his main legacy:
Miller: Foreword, p. v. Čapek: Obrázky z Holandska, p. 20. I.A. Bernštejnová, O. Malevič, R.R. Kuzněcova, V. Ševčuk a především S.V. Nikolskij.
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Once someone asked me a question, which country I like the most. I answered: “The best landscape which I have seen is in Italy, the best life which I have observed was in France, the best people I have met were in England; but I can live only in my own country.” Well then, not many of you know this country in which I am thinking about you. Three hundred years ago, your Shakespeare left your sweet Perdita shipwrecked on Czech’s coast. It was partly a mistake and partly it was premature. We do not have a seacoast and only in present times, we can rightfully say: “Also we are Dover and our borders are the cliffs of the West”.³⁴
References Primary Sources Čapek, Karel: Anglické listy (English Letters). Praha: Československý spisovatel 1970. Čapek, Karel: Cesta na Sever (Travels in the North). Praha: Československý spisovatel 1970. Čapek, Karel: Italské listy (Italian Letters). Praha: Československý spisovatel 1970. Čapek, Karel: Obrázky z Holandska (Pictures from Holland). Praha: Československý spisovatel 1970. Čapek, Karel: O čapkovské generaci (About Čapek’s Generation). – In: Přítomnost 9 March 1932 Čapek, Karel: O umění a kultuře III (About Art and Culture). Praha: Československý spisovatel 1986. Čapek, Karel: Obrázky z domova (Pictures from Home). Praha: Československý spisovatel 1953. Čapek, Karel: Obyčejný život (An Ordinary Life). Praha: Československý spisovatel 1971. Čapek, Karel: Pragmatismus čili Filosofie praktického života (Pragmatism or Philosophy of Practical Life). Praha: Topič 1918.
Secondary Sources Buriánek, František: Generace buřičů (Generation of Troublemakers). Praha: Universita Karlova 1968. Buriánek, František: Karel Čapek. Praha: Melantrich 1978. Čapková, Helena: Moji milí bratři (My Dear Brothers). Praha: Československý spisovatel 1962. Halík, Tomáš: An interview about Karel Čapek in Catholic Journal in 2008, http://halik.cz/cs/ tvorba/rozhovory/clanek/97/ (30 May 2017). Haman, Aleš: Tři stálice české prózy: Neruda, Čapek, Kundera (Three Fixed Stars of Czech Prose). Praha: Karolinum 2014. Miller, Arthur: Foreword. – In: Peter Kussi: Toward the Radical Center: A Karel Capek Reader. New Haven: Catbird Press 1990. pp. v–vi. Kudělka, Viktor: Boje o Karla Čapka (Struggles for Karel Čapek). Praha: Academia 1987.
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Nezval, Vítězslav: Moderní básnické směry (Modern Poetic Directions. Praha: Československý spisovatel 1964. Noble, Ivana: Theological Interpretation of Culture in Post-Communist Context: Central and East European Search for Roots. Farnham: Ashgate 2010. Opelík, Jiří: Uklizený stůl aneb moje druhá knížka o Karlu Čapkovi a opět s jedním přívažkem o Josefovi (Tidy Table or My Second Book About Karel Čapek and Again with a Makeweight about Josef Čapek). Praha: Torst 2016. Ort, Thomas: Umění a život v modernistické Praze, Karel Čapek a jeho generace 1911 – 1938 (Art and Life in Modernist Prague, Karel Čapek and His Generation 1911 – 1938). Praha: Argo 2016. Šulcová, Marie: Čapci (Čapeks). Praha: Melantrich 1985.
Miroslav Paulíček
National Character According to Ferdinand Peroutka In contemporary Czech society, Ferdinand Peroutka could be assigned the uncontested stature of a classic – as one of the most significant Czechoslovak journalists, a writer and an educated intellectual – if, at the beginning of 2015, the President of the Czech Republic, Miloš Zeman, had not pronounced Peroutka as a journalist who succumbed to fascination with Nazism. Zeman referred to two articles in which Peroutka allegedly displayed his moral failure. Although Peroutka never wrote these pieces¹, Zeman never accepted his mistake (or conscious lie) and refused to apologize. The words of the President aroused a new interest in Peroutka’s work; in particular, it instigated efforts to find those fictional articles or at least to find any texts in which Peroutka expressed sympathy for Nazism. Nobody has discovered anything that has not been known for a long time; but the question has been raised, first of all, by a few articles from 1938, in which anti-Semitic rhetoric appears. However, the disputes are about how to interpret these texts – whether they are testimony to Peroutka’s failure or an effort of realistic assistance to Czech Jews in difficult conditions². The philosopher Václav Bělohradský characterized precisely the essence of these debates as follows: “I think the question should be asked as follows: What does it mean to be a public intellectual in the Central Europe of Czechoslovakia, where due to the fragility of the state and vigilant relationship with the neighbors, the history of public disputes is full of hysteria?”³ The intellectual Ferdinand Peroutka, however, has written on contemporary themes, which are interesting today more or less as historical testimony, or for brilliant linguistic processing; he also has dealt with other topics, sociologically fundamental and still very up to date.
It was to be an article titled Hitler’s Gentleman, and an article in which Peroutka reportedly responded to the Munich Agreement by saying, “We can not sing with the angels, we have to fight with wolves.” See e. g.: Tigrid: Kapesní průvodce inteligentní ženy po vlastním osudu; Kosatík: Ferdinand Peroutka. Pozdější život (1938 – 1978); Tabery: Opuštěná společnost. Česká cesta od Masaryka po Babiše. Bělohradský: “Můj život byl tragický.” K diskusi o tzv. selhání Ferdinanda Peroutky. https://doi.org/10.1515/9783110536003-019
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1 Tragic Life of Ferdinand Peroutka To blame Peroutka for sympathy with Hitler is difficult because of his life story. Born on February 6, 1895 in Prague, he was 50 % German due to his grandparents’s ancestry⁴, one quarter Polish and one quarter Czech. His father was mentally ill and originally worked as an inspector of the State Railways. Along with his two siblings, he was brought up primarily by his mother. He did not excel at school, but became interested in literature – especially Goethe, Tschechow, Voltaire, the Czech art critic F. X. Šalda, and, notably the journalist Karel Havlíček Borovský⁵, from whom he adopted his life-long journalistic principle that he should write and act accordingly. Before the First World War, Peroutka wrote art and literary reviews in various magazines. During the war, he was hiding from a levy in Germany, and, in 1919, he became editor of the Tribune (Tribuna) magazine. Prime Minister Antonín Švehla at this time drew attention of the president T. G. Masaryk to Peroutka’s texts, dealing with the Czech national character. Although Peroutka disagreed in his articles with Masaryk, Masaryk met him and gave him a generous financial stipend to start publishing the weekly Presence (Přítomnost). Peroutka agreed, and as Editor-in-Chief, he began to form the Presence, that was partly based on the example of the famous Die Fackel (The Torch) by Karl Kraus. The list of contributors included some of the most prominent writers and thinkers in the country, and Peroutka himself usually wrote the editorial introduction. Peroutka became one of the most important artists, politicians and intellectuals from Masaryk’s circle – among them the so-called Friday Circles, whose famous meetings were organized every Friday by a writer and journalist, later by his close friend Karel Čapek. In 1930, Peroutka began to write and gradually publish his monumental work Building of the State in which he tried to show “the psychological change of the nation after it acquired its own statehood and its development from the restless, discontented and eternally opposed population to the self-confident nation.”⁶ Unfortunately, Peroutka did not finish this very detailed and profound description of Czechoslovakia’s development (the last volume was written in 1922); in 1938 he felt increasingly inclined to say that “it
Peroutka’s cousin was a significant Czech-German painter Maxim Kopf. Peroutka was and still is compared to Havlíček: “Havlíček was the champion in the fight in the old days against Habsburg absolutism. It is generally felt that Peroutka now plays the same role against the new force which threatens Czech independence.” – Jászi: Danubia: Old and New, p. 10. Kosatík: Ferdinand Peroutka. Život v novinách (1895 – 1938), p. 226.
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was hard to write about building the state at a time when it suddenly appeared that the state it is not yet completed that it must actually start again, that the state must be based again on completely different grounds.”⁷ In March 1939, Peroutka was arrested by the Nazis, along with other representatives of Czech political and cultural life. Although, he was released after several days, he was taken immediately at the outbreak of the war to the concentration camp in Dachau and later in Buchenwald. In 1943, he was transferred to Prague, where he was offered the opportunity to become the Editor-in-Chief of Presence, this time collaborative and pro-fascist. Peroutka refused this offer and spent the rest of the war again in Buchenwald. After World War II, Peroutka renewed Presence under the title Today and, among other things, wrote the play The Cloud and the Waltz that was based on his experience from the concentration camps. After the arrival of the communists in 1948, however, the play was banned and Peroutka, who was immediately expelled from all journalists’s and writers’ organizations, emigrated first to Germany. He then worked with the BBC in London and lived since 1950 in New York where he became director of the Czechoslovak sections of Radio Free Europe (RFE). He did not spend the time in exile in very good physical condition. In 1959, he published the even today underrated book Democratic Manifesto – an anticommunist-oriented study of modern democracy.⁸ However, because its failure caused great disappointment⁹, he later devoted himself to writing fiction – foremost novels such as The Later life of the Virgin and The Cloud and the Waltz (based on the original stage play). Even after retirement, he worked with the RFE, died on April 20, 1978, still intellectually active, but aware of the tragic life that two totalitarian regimes had determined, and a country that did not understand his thoughts.
2 Peroutka as a Sociologist Although Peroutka was educated in all disciplines, he usually identifies as a journalist. Whereas his knowledge of philosophy, psychology or sociology was considerable, his style remained journalistic, not scientific. However, his position in these disciplines is not at all unambiguous; for example, he is comment-
Peroutka: Budování státu IV, p. 1814. Peroutka: Democratic Manifesto. Kosatík: Ferdinand Peroutka. Pozdější život (1938 – 1978).
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ed in the Dictionary of Czech Sociologists that his work is not a sociology, but some of the topics he studied are sociologically relevant.¹⁰ Especially in the texts of the young Peroutka, the great interest in sociology is obvious (perhaps also so well understood with Masaryk, who was a sociologist and educator). He was familiar, though not systematically, with sociological themes and authors, at least with Werner Sombart or George Simmel. Peroutka has a certain natural sociological perspective; in all circumstances, it considers the social context in events as well as in all sorts of personalities, art and literature.¹¹ Of specific sociological view was Peroutka’s own life: not in a strictly scientific sense but rather in the sense of artistic and humanistic endeavors. His thoughts on the nature of sociology are still very inspirational, however (or perhaps because) they were based on his popular nightlife at the Prague cafes where he met the most prominent personalities of his time, including the Prague Germans, such as Max Brod, Egon Erwin Kisch, Johannes Urzidil, Franz Kafka or Franz Werfel. Peroutka writes: It is not enough for a sociologist to be a mere scientist. For this, the view must be almost poetic, accessible to direct living impressions everyday, the ability to discern in unsolved material. Such a sociologist must be able to walk along the street and sit in a cafe and not think this time as lost to science.¹²
His sociological considerations, though they do not constitute a uniform system, are very fresh and original, foremost in the field of sociology of art and literature, but also in thinking about the characteristics of the nations or the influence of great personalities on history.
3 The Central European Character of the Czechs The sociologically immensely important subject that Peroutka had considered throughout his life was the characters of different nations – especially the Czechs. As Miloš Havelka aptly writes, “the Question, What We Are Like? is not just the title of Peroutka’s best-known book, but actually the unifying bond of all his journalism.”¹³ The problem of the nature of the Czech nation was also accompanied by Peroutka in his private life, as evidenced by his per-
Petrusek: Ferdinand Peroutka – In: Zdeněk R. Nešpor (ed.): Slovník českých sociologů. See Havelka: Výklady a kritika. Peroutka: Jací jsme: Demokratický manifest, p. 10. Miloš Havelka: Subjekty a mentality. – In Havelka: Výklady a kritika, p. 61.
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sonal remarks, the memories of his friends, or interview records, including the one with Johannes Urzidil in New York in the 1960s, which was broadcast (and later published) under the title About Czech and German Culture. ¹⁴ The older Peroutka was, the more distant he became to Czech everyday reality; consequently, his thoughts resembled the generally shared stereotype concepts, based in particular on works of art. The most mysterious (and most critical) text on the character of the nation was the one who made an impression on Masaryk: What We Are Like? (Jací jsme?). Peroutka does not think too systematically about the Czech brand of the nation. For him, the first fundamental problem is that (in response to the periodic discussions) we can see how much we can speak about the national character. With the necessary sobriety it can be understood that the characters of the national nature can not be counted much, because there can be many properties common to the different individuals that make up the nation. Perhaps the sociologist eventually realizes that the national nature exists much less than we are accustomed to believe, and that rather than the national nature it is necessary to talk about the effects of the environment.¹⁵
Peroutka basically opposes frequent and popular efforts to find national specifics in the art works of the most prominent national artists – in such images of national life as described by novels or operas. In Bohemia, the popular ideas of the French aesthetician Hippolyte Taine¹⁶ unambiguously combined artists and the way they were created with the influence of the environment, that is, the nation they represent. However, according to Peroutka, it usually leads to over-simplification and to the loving but incorrect national characteristics that are spreading to people who know the nation imperfectly. For example, on the basis of Dostoyevsky’s or Tolstoy’s reading, the notion persists that Slavic nations tend to be thoughtful and mystical. Peroutka says, “In truth, I doubt that we would be a people particularly thoughtful. The mystical nation we certainly are not.”¹⁷ Peroutka’s realistic approach is, on the one hand, directed against primitive generalizations; he also does not doubt that nations develop on the basis of certain unconscious forces and are formed by tradition.¹⁸ Certain general features
Peroutka: …deníky… dopisy… vzpomínky; Peroutka, Urzidil: O české a německé kultuře. Peroutka: Jací jsme: Demokratický manifest, p. 10. Taine: The Philosophy of Art. Peroutka: Jací jsme: Demokratický manifest, p. 9. Peroutka, Urzidil: O české a německé kultuře, p. 12.
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are well hidden and hardly visible. He says poetically that “national features are fine and light as dust”¹⁹. According to Peroutka, sociologists are inclined to deal with the rather national character of non-native nations. Czech sociologists discuss the English or French nature, while the Czechs remain encircled by mystery. Still, Peroutka has to cope with an influential study of Czech national character, whose author was sociologist Emanuel Chalupný.²⁰ Peroutka has elegantly reduced this brief study, based, among other things, on the analysis of language or landscape to three national qualities, which still belong to the most profound of what has ever been written about the Czech national character.²¹ The first of these features is that the Czechs engage, but they quickly recede unless someone else can inspire them to keep the fire of enthusiasm alive. The second feature is the ability to penetrate rapidly into depth; yet this is associated with an inability to persevere at this depth. The third characteristic is “incompleteness, unconsciousness and failure to speak”.²² Peroutka in many ways associates these characteristics with the geographic position of Czechoslovakia – for example, the transposition between the West and the East or the middle position of all the properties of the Czechs, and the absence of eye-catching properties. Never in politics, whether in private or public life, we can keep our appearance for a long time; soon, any interest in defining one vanishes. Our way of life and our character is certainly not set in any direction. […] There is no predominant feature that we could call typical Czech. Each of the components of our nature was more definitely and more strongly developed by one nation to another. […] In our nature, many elements are combined, which maintain each other in a balanced equilibrium. As far as our nature is concerned, we are a nation of the Middle, which is quite understandable to the nation that is just as far away from the South as North, East as West.²³
In a similar context, the Danish Bohemist Peter Bugge draws attention to the ambivalent relationship of Czechoslovaks to Europe. On the one hand, there is a strong inclination towards Western Europe (especially when it comes to defining Russia), on the other, there is an idea of Central European avant-garde specificity
Peroutka: Jací jsme: Demokratický manifest, p. 9. Chalupný: Národní povaha česká. See Hvížďala: Jací jsme 2007. Reflex 17/7, p. 82. Peroutka: Jací jsme: Demokratický manifest, p. 12. Ibid., p. 40.
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(i. e. defining West). Peroutka’s approach to this “medium” Bugge²⁴ can be defined as defensive in comparison with Masaryk or F. X. Šalda. In regrads to the position of Czechs and Slovaks, however, Peroutka strongly differentiates between the Poles and the Hungarians, while arguing with Marx’ that “Poles and Hungarians have history, while Czechs and Slovaks do not have it… It is not true, they have only a different story.”²⁵ Peroutka sees the main difference in the national revival, where the place of struggles was the fundamental intellectual effort of writers who developed the Czech language, which was later added to economic development. In essence, Peroutka reports to the Polish poet Adam Mickiewicz that the Czechs are a nation of philologists.²⁶ In Peroutka’s description of the Czech national character, his interest in literature is from the point of view of the sociology of literature obviously very interesting. Like his friends, the brothers Karel and Josef Čapek²⁷, he too took seriously (in the sense of value-free perspective) thinking about popular art and amusement literature. He dealt with popular novels by Václav Hladík, a today completely unknown Czech novelist, whose Czech specifity was hidden not in “writing stories about a high society that was not here, and which he had taken from Daudet, Ohnet and Bourget, but in not writing this kind of stories well.”²⁸ At the same time, Czech readers highlighted the openness and the ability to become empowered in other countries because they read literature translated from foreign languages. Furthermore, Peroutka’s analyses concentrate on economic issues. The reasons for the low self-confidence of the Czechs lie in the fact that entrepreneurs were missing in Czechoslovakia, because self-esteem is largely related to wealth. “The long-term material poverty has left a trace in our nature.”²⁹ Peroutka’s studies are to a large extent critical. The reason for this criticism is, above all, the objective, realistic assessment of the situation and the necessity of questioning national mythology. Thus, Peroutka states that “we are not a great nation, neither materially nor mentally”. Compare the flood of ideas coming from England, France, Germany, Russia, with what comes out of us! It is necessary to ask once, why the mental life of Europe would be degraded if we suddenly failed and, accordingly, assess our inner size. In the mountains, nobody
Peter Bugge: České obrazy Evropy za první republiky. – In: Eva Hahnová (ed.): Evropa očima Čechů, p. 106. Peroutka: …deníky… dopisy… vzpomínky. Peroutka: Jací jsme: Demokratický manifest, p. 20. Karel Čapek: Marsyas čili na okraj literatury, Josef Čapek: Nejskromnější umění. Peroutka: Jací jsme: Demokratický manifest, p. 10. Ibid., p. 20.
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would have missed us. Maybe, however, we would be lacking in the plains, and that we would be deprived of a keen, capable European educational average. We are probably a good stone in building a new Europe.³⁰
4 The Role of Personality in the Nation’s History One of the few permanent foreign supporters of Peroutka’s work, the American sociologist of Czech origin, Joseph Slabey Rouček, wrote in a review of Building of the State that “the author, a well-known courageous Czech journalist, must be credited with destroying some of the heroic legends.”³¹ Peroutka’s analysis of the emerging state would really fit into the context of today’s so-called post-heroic society³², a society that no longer needs heroes – and if they are needed, they ae easily created in the media. It is certainly a matter of questioning the popular romantic concepts formulated in the mid-19th century by British writer Thomas Carlyle in the thesis that “[…] Universal History, the history of what man has accomplished in this world, is at bottom the History of the Great Men who have worked here.”³³ Peroutka was so similar (and fateful) to the Polish writer Witold Gombrowicz, who, in a number of his writings, attacked (much harder than Peroutka) the abuse of great personalities for “cheap national propaganda”. Gombrowicz protests against the use of Mickiewicz or Chopin to show them the size of the Polish nation because “the price of the current Poles can not be measured by the price of the distinguished Poles of the past”. And he adds: “with the naivete of children, you prance out your polonaises under the noses of a bored foreign audience just so you can strengthen the impaired sense of your own worth and endow yourselves with meaning.”³⁴ Peroutka is much more moderate in his approach to the great national figures; he is primarily concerned with the application of a realistic approach, namely the factual consideration of thoughts and deeds. Peroutka is also shown in the psychological portraits of great personalities, which were published in the Yes and No book, where he discusses personalities as diverse as Goethe, Havlíček, Tolstoy, Freud, Nietzsche, Lenin, Chesterton or Masaryk. He rates their qualities and thoughts, and thinks about the extent to which these personalities
Ibid., p. 15. Roucek-Slabey: Budování státu [The Building of a State] By Ferdinand Peroutka. A Review. Petrusek: Postheroická společnost. Carlyle: On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History, p. 1. Gombrowicz: Vzpomínky na Polsko; English translation from Gombrowicz: Diary, p. 7.
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could be leaders (the point is yes or no).³⁵ Peroutka certainly does not deny the influence of personalities in history, but he is inclined towards Masaryk’s opinion, according to which the insignificant work of thousands of ordinary people is more important, especially, since heroic death is nothing more than a simple way to avoid long-term work³⁶ – Peroutka’s words about the Czech character: “The dead has not become accustomed to us.”³⁷ Peroutka himself had several popular personalities, but it was generally the most important thing for him to write truthfully about people and their actions. In one of his radio commentaries, Peroutka deals with how Nazi and then communist propaganda has reported about him or about Masaryk, about how quotes, biographies, facts, and the history of the nation are treated in totalitarian regimes. He comments as follows: Do not trust a single quote if you have not read it or heard it. Still, no regime was so boldly used to speak the untruth. Even if they borrow from the past, even if their national publishing house prints classics in new editions, their cynical relationship to the truth reveals what they are: barbarians.³⁸
Tragically, Peroutka’s fate is undoubtedly determined by the current statements of President Zeman, which combine both the attack on one of the greatest personalities of Czech journalism and the assault on the truth – exactly what Peroutka experienced during his life. However, today, any consideration of nationalities or the influence of prominent personalities can be easily disqualified by the fact that the problematic situation is the nation as a social construct, in the context of growing nationalism (in a variety of forms) in the countries of Central Europe. In essence, it is not possible to completely abandon these considerations. Peroutka’s realistic thesis and way of thinking about these issues still belongs to the best, at least because his journalistic approach is primarily based on resistance to authoritarian ideologies and a certain attempt at value-neutral sociology.
Peroutka: Ano a ne. Masaryk: Karel Havlíček. Peroutka: Jací jsme: Demokratický manifest, p. 91. Peroutka: Ferdinand Peroutka pro Svobodnou Evropu, p. 100.
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5 (Wert)Systeme: Sprach- und Literaturwissenschaft
Karl-Heinz Göttert
Deutsch als Brückensprache in Mitteleuropa Franz Thierfelders Bestandsaufnahme von 1938 Bei der Thematisierung von Mitteleuropa als Kulturraum mag es viele Abgrenzungsprobleme geben. Hinsichtlich der Sprachsituation lässt sich jedoch eine klare Feststellung treffen. Mitteleuropa, wie genau man es auch immer definiert, sprach einmal in hohem Maße deutsch. Deutsch war Brückensprache, so wie es heute international das Englische ist. Ich möchte dies anhand von Daten zeigen, die im Jahre 1938 vorgelegt wurden. Zunächst jedoch eine Vorbemerkung. Europa war, an seiner geographischen Größe gemessen, nie eine übermäßig sprachenreiche Region.¹ Man geht heute von 70 Sprachen aus, kommt auf höhere Zahlen nur, wenn man die Dialekte einbezieht. Allein in Neu-Guinea werden über 1000 Sprachen gesprochen. Dabei sind die europäischen Sprachen auch noch eng miteinander verwandt, haben in den meisten Fällen einen indogermanischen Ursprung. Trotzdem gab es bei der Verständigung immer Schwierigkeiten. Sie wurden durch Brückensprachen reduziert. Die wichtigste war lange Zeit das Latein des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Noch Newton veröffentlichte seine Principia mathematica 1686 auf Latein. Und d’Alembert hat in der Einleitung zur Encyclopédie 1751 zum Ausdruck gebracht, ihm wäre eine lateinische Fassung lieber gewesen, die französische sei der „Eitelkeit und Trägheit“ der Autoren geschuldet. Tatsächlich gab es seit dem neunzehnten Jahrhundert drei Weltsprachen, die das Latein ablösten: Französisch in der Diplomatie, Englisch im Welthandel und Deutsch in weiten Teilen der Wissenschaft, vor allem in den Naturwissenschaften.² 169 von 286 biologischen Fachzeitschriften waren um 1900 deutschsprachig, der russische Chemiker Dimitri Mendelejew veröffentlichte 1869 seine Schrift über das Periodensystem der Elemente auf Deutsch, Max Planck hielt 1909 seine Physik-Vorlesungen an der Columbia-Universität in New York auf Deutsch, in der Medizin war dank Robert Koch Deutsch Standard – die Beispiele lassen sich fast beliebig vermehren. Man weiß, dass sich die Beteiligten darauf einstellten, viele Gebildete sprachen die Weltsprachen allesamt.
Zum Folgenden vgl. Göttert: Abschied von Mutter Sprache, S. 17 ff. Reinbothe: Deutsch als internationale Wissenschaftssprache. https://doi.org/10.1515/9783110536003-020
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Aber es gibt ein weiteres Phänomen, das in unserm Zusammenhang interessanter sein dürfte. In Räumen des politischen und kulturellen Kontakts wurde der Austausch auch auf niedrigerer Ebene zu verbessern gesucht. In Handel und Verkehr bildeten sich pragmatische Bündnisse in Form von Brückensprachen. In ganz Mitteleuropa war diese Brückensprache Deutsch und betraf besonders die östlichen Nachbarn, die diese Sprache erlernten. Natürlich war die Dominanz des Deutschen nicht ganz zufällig und auch nicht immer friedlich entstanden. Die beiden Großmächte Mitteleuropas mit Deutsch als Muttersprache, Preußen und Österreich, dehnten sich nicht nur mit gewaltsamen Mitteln nach Osten aus, sondern begleiteten diese Ausbreitung auch mit einer oft rigiden Sprachpolitik. In der preußischen Provinz Posen etwa wurde Deutsch gegen Polnisch mit Muttersprachverboten im öffentlichen Raum durchgedrückt.³ Es gibt also höchst unterschiedliche Voraussetzungen für die Ausbildung von Sprachdominanz. Aber das Ergebnis war eben ein Prestigezuwachs für die deutsche Sprache. Neben der Rolle des Deutschen als einer von drei Weltsprachen im internationalen Austausch gab es diese Rolle als die eine Brückensprache in ganz Mitteleuropa. Man kann dies bis zum Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgen, als sich die Voraussetzungen völlig änderten, deutsche Muttersprachler im großen Maßstab vertrieben wurden, womit u. a. das Schulsystem als Lernort für die deutsche Sprache wegbrach. Interessanterweise hat man nach der Wende von 1989/90 erwartet, dass sich an die alten Verhältnisse anknüpfen ließ. In Tschechien oder Polen nahm der Deutschunterricht rapide zu. Inzwischen weiß man, dass es eher ein Strohfeuer war. Englisch hat Deutsch auch in dieser Region als Brückensprache weitgehend abgelöst, nicht zuletzt aufgrund massiven finanziellen Einsatzes. Trotzdem lohnt sich die Erinnerung an nicht gar so ferne Zeiten, als es anders war. Ich führe Sie dazu ins Jahr 1938. Damals nämlich veröffentlichte der heute nur noch Spezialisten bekannte Franz Thierfelder ein Buch mit dem Titel Deutsch als Weltsprache. ⁴ Thierfelder hatte in Germanistik und Volkswirtschaft promoviert: keine schlechten Voraussetzungen für jemanden, der die Stellung einer Sprache untersucht.⁵ Nach kurzer journalistischer Tätigkeit wurde er 1929 Generalsekretär der seit vier Jahren existierenden Deutschen Akademie, die nach dem im Versailler Friedensvertrag fixierten Boykott deutscher Wissenschaftler die deutsche Kultur im Ausland unterstützte, vor allem in Südosteuropa. Thierfelder sah jedoch weiter, betrieb 1932 die Gründung des Goethe-Instituts und damit die Förderung Göttert: Deutsch, S. 258 ff. Thierfelder: Deutsch als Weltsprache. Michels: Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut; ders.: Deutsch als Weltsprache? Michels: Deutsch als Weltsprache?
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der deutschen Sprache im weltweiten Maßstab – der British Council entstand erst nach diesem Vorbild. Ein Jahr später erfolgte die „Machtergreifung“ der Nazis und damit die rasche „Gleichschaltung“ aller Institutionen. Trotz enger Verbindung mit dem „System“ gab Thierfelder 1937 sein Amt aufgrund von gekränktem Stolz bei der Neuverteilung der Zuständigkeiten auf. An mangelnden Bekenntnissen zum Nationalsozialismus hatte es jedenfalls nicht gelegen – sie sind reichlich vorhanden.⁶ Aber Thierfelder vertrat auch die These, dass alle Sprachen im Prinzip gleich wertvoll sind und Imperialismus auf diesem Gebiet strikt abzulehnen ist. Es lohnt sich sehr, die umfangreiche Einleitung des Buches zu studieren.⁷ Thierfelder kennt genau die historischen Debatten um die Weltsprachen, misst das Deutsche am Französischen und nennt die Ursache, weshalb dem Deutschen der Vorrang gebühre: nämlich seine Lage in der „Mitte Europas“, während Frankreich nur zwischen Norden und Süden „vermittele“.⁸ Thierfelder nennt auch Gründe, warum das Deutsche die ihm zustehende Stellung nicht schon längst eingenommen habe: nämlich das typische deutsche „Minderwertigkeitsgefühl“ und den „unseligen Zwiespalt zwischen lateinischem Gelehrtenwissen und deutschsprachigem Gemeinwissen“, einschließlich eines Hangs zum „verlogenen Prunken mit Gelehrsamkeit“.⁹ Warum aber sei genau jetzt und trotz der widrigen politischen Umstände die Stunde gekommen? Weil sich in Europa etwas durchgesetzt habe: der Geist des Nationalismus, der mit der Sprache verbunden ist. „Das Zeitalter der völkisch gebundenen Gruppe brach an“, heißt es, weiter: „Und jedes Volkstum schließt die Sprache als kostbarste Verkörperung seiner selbst in sich.“¹⁰ Als Beispiel dient ihm dabei der „Heroismus“ des „Kleinvolkes“ der Iren, die sich „aus einer Weltsprachengemeinschaft freiwillig“ lösten, „um sich zu den ehrwürdigen Überresten des Keltischen zu bekennen“ – mit genauen Zahlen: 1925/ 26 nur 1,7 Prozent Gälisch an höheren Schulen, 1933/34 schon 20 Prozent.¹¹ Thierfelder war dabei kein Phantast oder Gernegroß. Er ging vom Problem eines internationalen Verkehrs aus, der zum Beispiel auf dem Gebiet des Sports nach einer die Staaten verbindenden Sprache verlange. Und er wendet sich vehement gegen Kunstsprachen wie das Esperanto, weiter gegen künstliche Vereinfachungen wie das „Europi“ oder „Minimum-Deutsch“, das als ein „sprachli-
Michels: Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut, S. 115 – 116. Die Sprache im geistigen Austausch der Völker, S. 11– 90. Thierfelder: Deutsch als Weltsprache, S. 15. Ebenda, S. 16. Ebenda, S. 19 f. Ebenda, S. 27.
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ches Dumping“ das Deutsche nur schädige.¹² Man könne „eine Sprache nicht ‚wettbewerbsfähig‘ machen, indem man sie mit der Heckenschere zusammenstutzt“, heißt es, wobei immerhin das Basic english von „Professor Ogdens“ am ehesten Gnade findet.¹³ Für Thierfelder ist die „Herrschaft der Nationalsprachen“ unabdingbar, aber auch die „Verwendung einer oder mehrerer nationaler Großsprachen für den zwischenvölkischen Verkehr“ aus praktischen Gründen. Zu diesen „Großsprachen“ gehört für ihn neben Englisch und Französisch eben Deutsch, nicht zum Beispiel trotz seiner Sprecherstärke Russisch, und zwar wegen der „weltzerstörenden Lehre“ des Bolschewismus.¹⁴ Das Arabische sieht er dagegen durchaus wegen des Islam heraufdämmern (Syrien habe gerade klassisches Arabisch an den Schulen eingeführt), beim Chinesischen hindere nur das Schriftsystem.¹⁵ Es geht Thierfelder also um ein Sprachenregiment in der Welt, in der es seiner Meinung nach Haupt- oder Weltsprachen geben muss. Das Deutsche könnte und sollte wohl auch im historischen „Staffellauf“ dieser Weltsprachen zuletzt den Stab übernehmen. Was Thierfelder jedoch durchaus ablehnt, ist eine aggressive „Kulturpropaganda“ (vor deren Begriff es ihn schon „schaudere“), wie sie das Deutsche Reich vor 1914 sowohl in Polen als auch im Elsass betrieben hatte und wie es die Nazis dann ebenfalls wieder umsetzen sollten. Thierfelder sieht im Versuch einer Massenbeeinflussung sogar die Anstiftung zum „geistigen Verrat“, empfiehlt stattdessen „geistigen Austausch“, ja die „Entfaltung fremden Volkstums“ und spekuliert über die friedliche Möglichkeit, „für die eigene Kultur Freunde zu werben“.¹⁶ Auch die Pflege aller europäischen Sprachen als „Kleinodien der abendländischen Kultur“ gehört zu den Bekenntnissen, und das Schlusswort sieht statt in deutscher Sprachherrschaft eher in deutschem Sprachdienst das Ziel.¹⁷ Auch wenn andernorts die Rede davon ist, die Verbreitung des Deutschen in den USA sei seit 1935 zurückgegangen, „weil das jüdische Element Kampfstellung“ bezogen und „auf nichtjüdische Kreise einzuwirken“ vermocht habe, passte all dies wenig in die Vorstellungswelt der damals Regierenden. Für unseren Zusammenhang wichtig sind die umfangreichen Ausführungen zur Verbreitung des Deutschen in Europa, die Thierfelder nach „Sprachkreisen“
Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 35. Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 29. Ebenda, S. 183 f.
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vornimmt – beginnend mit dem „südosteuropäischen“.¹⁸ Hier geht es um Südslawien (mit Serbien, Slowenien usf., man muss die Karte von 1918 im Kopf haben), Bulgarien, Rumänien, Griechenland und die Türkei. Dazu sei nur im Vorübergehen gesagt, dass die Rolle des Deutschen als Brückensprache auch in diese Regionen reicht. Der Balkan wird von Thierfelder wegen seiner vielen Sprachen sogar ausdrücklich als besonders abhängig von einer funktionierenden Brückensprache hervorgehoben. Im Falle von Slowenien habe es das Deutsche zu einer „nichtamtlichen zweiten Landessprache“ gebracht. Interessanter für uns jedoch der nächste Sprachkreis, der „mittel- und osteuropäische“ mit Russland, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn – wir haben hier (außer im Falle Russlands) die spätere Visegrád-Gruppe vor Augen.¹⁹ Hier sei „das Deutsche die Verkehrssprache ohne Nebenbuhler; das Englische kommt gar nicht in Betracht“, liest man. Und weiter: Im Falle Böhmens stoße man auf eine Sprachregion, die „für die deutsche Sprachentwicklung wichtiger (war) als manche binnendeutsche Landschaft“ – mit Hinweis auf die Prager Kanzlei, den Ackermann in Böhmen bis hin zu Rilke. Der Versuch, nach 1918 das Französische zu oktroyieren, sei als „aussichtslos“ abgebrochen worden. Und wieder lautet ein Hauptargument: Das Deutsche war in einem „Sechssprachenland“ (Tschechisch, Slowakisch, Deutsch, Madjarisch, Ukrainisch, Polnisch) eben Brückensprache. Für Polen gilt das Gleiche (Polnisch, Deutsch, Jiddisch, Litauisch, Weißrussisch, Ukrainisch), allerdings war hier das Französische traditionell stärker, rein deutsche Dominanz auf Galizien beschränkt. Deutsch wurde sogar wie in Russland eher bekämpft, wozu Thierfelder sich nicht scheut, ein pikantes Zitat von Turgenjew zu bieten: „Wladimir Nikolajewitsch sprach das Französische vollkommen, das Englische einwandfrei und das Deutsche schlecht. Ganz wie es sich gehört: denn ein anständiger Mensch sollte sich schämen, wenn er gut deutsch spräche“. Für Ungarn gilt Ähnliches, auch hier gab es starke Verbindungen zu Frankreich und dem Französischen. Aber die Fakten sind dann doch für die deutsche Sprache erstaunlich günstig. In Ungarn²⁰ ist die deutsche Wissenschaft stark vertreten, an jeder der vier Landesuniversitäten gibt es eine funktionierende Germanistik (in Budapest unter Leitung von Prof. Th. Thienemann). Es gibt weiterhin eine Professur für Handelsenzyklopädie in deutscher Sprache. Ein deutsch-ungarischer Kulturvertrag von 1936 garantiert die regelmäßige Besetzung von beiderseitigen Lektoraten.Vor allem aber: Deutsch ist erste Fremdsprache an den ungarischen Mittelschulen von
Ebenda, S. 92 ff. Ebenda, S. 115 ff. Ebenda, S. 118 ff.
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Klasse I–IV mit 12 Wochenstunden, an den höheren Schulen von Klasse I–VIII mit 20 – 28 Wochenstunden. In sog. Handelskursen werden europäische Spitzenwerte gemessen. Im Rundfunk gibt es ein deutsches (allerdings auch französisches) Programm, das deutsche Buch ist stark vertreten, neben 2402 ungarischen gab es 1936 85 deutsche und nur 76 in allen anderen Sprachen zusammen. Es existieren 55 wissenschaftliche Zeitschriften auf Deutsch. Schließlich wurden zwischen 1837 und 1936 93 deutsche Schauspiele aufgeführt – zuletzt Hauptmanns Und Pippa tanzt. Das nächste genauer betrachtete Land ist die Tschechoslowakei.²¹ An den 11.559 nichtdeutschen Volksschulen war bei der Bestandsaufnahme in 2.160 Deutsch Unterrichtsfach, von 1.455.437 nichtdeutschen Schülern lernten 134.272 Deutsch. In 3.298 deutschen Volksschulen saßen 327.677 Schüler, es existierten 10 deutsche Gymnasien, 32 Realgymnasien, 15 Realschulen usf. mit insgesamt 29.057 Schülern und 1618 Lehrern. Dies mag einmal die Präzision der Erfassung andeuten – die Details gehen noch viel weiter. Thierfelder macht genaue Angaben über die drei Universitäten in Prag, Brünn und Preßburg, nennt Professoren (Prager Lehrstuhl: Prof. J. Janko) und Lektoren. Für die höheren Lehranstalten, wo Deutsch überall verbindliches Lehrfach ist, werden die Wochenstunden aufgelistet. Beim Rundfunk erfahren wir, dass die Sender Melnik und Prag täglich von 6.15 – 8.05, 10.15 – 11, 12.10 – 14, 18 – 23 Uhr auf Deutsch senden. von September bis Juni gibt es deutschen Schulfunk. Beim Tonfilm dominiert Nordamerika (Hollywood) mit 128 Filmen, aber Deutschland nimmt mit 79 den zweiten Platz ein – aus Frankreich stammen 21, aus England 15. Bei den Druckwerken bringen es die deutschen Schriften auf 15,9 Prozent. Deutschsprachige Vorträge sind Legion. Schließlich erfahren wir, dass der Versuch, das Französische stärker zu verankern, trotz gewaltigem Einsatz der Alliance Française misslungen sei. Zu mehr als der zweiten Fremdsprache an höheren Schulen ist es nicht gekommen. Nur die Hauptrivalen des Französischen, das Russische und das Englische, habe man fernhalten können. Drittes Land des mittel- und osteuropäischen Sprachkreises ist Polen.²² Auch hier gab es die ehemals deutschen Teile, die ihre Spuren hinterlassen haben, z. B. in Form von mindestens 13 Tages-, 35 Wochen- und 6 Monatszeitungen. Auch die Zahl der deutschen Schulen ist immer noch riesig, allein in Posen gab es 1936 noch 60 selbständige und 92 angegliederte deutsche staatliche Volksschulen mit 9.071 Kindern – ich verzichte auf weitere Details. Interessant das Urteil Thierfelders, dass das Deutsche nach der Errichtung der Republik Polen das Russische
Ebenda, S. 120 ff. Ebenda, S. 123 ff.
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praktisch ausgelöscht habe und die Entwicklung von Deutsch als Unterrichtsfach „den wichtigsten Gewinn dar(stelle), den das Deutsche nach dem Kriege zu verzeichnen hatte“. Von 100 Schülern lernten etwa 60 Deutsch, 40 Französisch. Alle Universitäten sind mit germanistischen Lehrstühlen ausgestattet. An den Gymnasien nehmen am Deutschunterricht in Warschau 70 – 80 Prozent aller Schüler teil, andernorts sind es auch einmal 90 Prozent. Ich zitiere eine beiläufig gemachte Bemerkung: „Englisch ist vorderhand noch schwach vertreten, doch hat das Interesse für diese Sprache neuerdings offensichtlich zugenommen.“ Dazu gehört nämlich der Satz, jüdische Schüler bevorzugten Englisch „im Hinblick auf die Auswanderung in Englisch sprechende Gebiete“. Man muss noch einmal an Gründe für Thierfelders Entlassung denken. Daneben wird ein „Einbruch“ beim Französischen gemeldet, der „auf französischer Seite Beunruhigung und Gegenmaßnahmen hervorgerufen“ habe. Im übrigen wiederholt sich, was wir von der Tschechoslowakei her kennen: Rundfunk und Tonfilm sind stark deutsch geprägt. Und das Fazit: „Im Wirtschaftsleben kann Deutsch sowohl bei der Korrespondenz als auch bei der Werbung verwendet werden, sofern nicht die polnische Sprache ausdrücklich gefordert wird. Im Verkehr und auf Reisen kann man mit der deutschen Sprache in allen Teilen Polens ohne Schwierigkeiten auskommen […].“²³ Die weiteren Sprachkreise Europas sind für uns ohne Bedeutung. Ich erwähne nur, dass die deutsche Sprache auch außerhalb Mitteleuropas stark bzw. immer noch stark vertreten ist. Es gebe „kein norwegisches Reifezeugnis, das nicht eine Note in der deutschen Sprache aufweist“, liest man.²⁴ Übrigens erfasst Thierfelder die Sprache in den Gottesdiensten und misst die Produktion deutscher Tonfilme, die ins Ausland gingen, nach Anzahl und „Metern“: Nach Nordamerika gingen 1937 206 Filme mit zusammen 304.803 Metern. Falls dies kurios klingt, sei darauf hingewiesen, dass die anschließende Statistische Übersicht über den fremdsprachlichen Unterricht in Europa, die ein Mitarbeiter namens Walter Fränzel erstellt hatte,²⁵ höchstes Niveau zeigt. Es gibt zahlreiche Aufstellungen nach immer neuen Gesichtspunkten wie etwa der Verrechnung von Unterrichtsstunden mit der Zahl der Bevölkerung. Damit ergibt sich letztlich eine „ungefähre Rangordnung“ der Sprachen in Europa, wonach Deutsch als Fremdsprache in Frankreich mit Englisch gleichauf lag, in England knapp hinter dem Französischen und auch noch Spanischen rangierte. Im Durchschnitt aber lag Deutsch damals wie Englisch bei 30 Prozent und rangierte direkt hinter Französisch mit 40 Prozent.
Ebenda, S. 126. Ebenda, S. 145. Ebenda, S. 185 ff.
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Im „Schlusswort“ fasst Thierfelder auf nicht einmal zwei Seiten sein Credo zusammen. Es dürfte den nationalsozialistischen Lesern in seiner Akademie einen Schauer über den Rücken gejagt haben, feiert es doch statt deutscher Überlegenheit den Wert aller Sprachen in einer Art, die (nicht im Ton, aber) in der Sache durchaus zu heutigen Verlautbarungen der EU passt: Die europäischen Sprachen, mögen sie noch so klein, noch so unentwickelt sein, sind die Kleinode der abendländischen Kultur; wer sie auf starkem Rücken zu tragen gewillt ist, sehe zu, daß er ihrer keines verliere! Sprachlicher Hochmut ist ebenso verächtlich wie Standesdünkel; nicht die verfeinerte Hoch- und Kultursprache an sich ist wertvoller als die ungefüge Mundart eines Bergvolkes, das sich in ihrem bescheidenen geistigen Bezirke auslebt; hat diese ihre Reinheit und Ursprünglichkeit bewahrt, so muß jene vor ihr erblassen, wenn die Spuren des Weltstadtasphalts ihren lässigen Wandel verraten […]. Nie hätte Europa seine einzigartige Stellung in der Menschheitsgeschichte, soweit wir sie kennen, einnehmen können, wäre ihm die sprachliche Vielfältigkeit versagt geblieben […]. Aber wie im Kampfgewühl die Fahne vom Nebenmann ergriffen wird, wenn der Arm des Fahnenträgers ermüdet, so wandert auch das europäische Banner von Hand zu Hand, und der neue Träger kann sich nur deshalb siegesgewiß ins Gefecht stürmen, weil er seine Vorgänger neben und hinter sich weiß.²⁶
Man kann den letzten Satz etwas blumig finden, vielleicht auch als Verbrämung von letztlich nationalem Eigennutz verstehen. Aber die Sätze davor zeigen etwas sehr Bemerkenswertes: Thierfelder bejaht sowohl den Wert der Nationalsprache wie den der Brückensprache. Es muss Nationalsprachen geben, um die damals noch unangefochtene Vorstellung von der Bedeutung der Sprache für die Nation zu unterstreichen. Aber es muss auch Brückensprachen geben, die den Nationalsprachen nichts nehmen, sondern eine andere Funktion als diese haben. Menschen wollen Identität, aber auch Kommunikation. Die nächste Frage ist dann, wie Brückensprachen ausgehandelt werden. Auch darauf gibt Thierfelder eine klare, wenn auch kaum wirklich wahrhaftige Antwort: nicht durch Imperialismus, sondern durch Kultur. Kulturelle Stärke kann und wird sich letztlich in politische und wirtschaftliche umwandeln. Weil es ohne Brückensprache nicht geht, soll es diejenige werden, die das beste kulturelle Angebot macht. Darüber entscheidet nicht derjenige, für den die Brückensprache Muttersprache ist, sondern es entscheiden diejenigen, die die Brückensprache erlernen müssen. Und das im freien Wettbewerb, bei dem Thierfelder gelegentlich seine Verachtung gegenüber unsauberen Methoden, sprich: Geld, ausdrückt. Er hatte keine Ah-
Ebenda, S. 184.
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nung, welche Rolle dieses Geld noch spielen sollte. Wer dazu mehr wissen will, mag sich mit der Geschichte des British Council vertraut machen.²⁷ Ich schließe lieber mit einem anderen Gedanken. Wer über die Rolle von Mitteleuropa nachdenkt, wird in den 1938 gesammelten Daten ein schwer zu ignorierendes Plädoyer für dessen Existenz finden. Aber es wird auch die Einschränkung deutlich. Thierfelder sammelte den immer noch beträchtlichen Scherbenhaufen zusammen, der nach dem Ersten Weltkrieg übriggeblieben war – die Zahl der Deutschlerner in den USA sollte von 1915 bis 1922 von 265.000 auf 13.918 sinken. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann nicht mehr viel einzusammeln. So gesehen ist Mitteleuropa ein durchaus historisches, ja vorübergehendes Gebilde. Aber es gab dieses Mitteleuropa. Und es gab es jedenfalls in sprachlicher Sicht in einer Stärke, die viele vielleicht überraschen wird.
Literaturverzeichnis Coulmas, Florian: Die Wirtschaft mit der Sprache. Eine sprachsoziologische Studie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 977). Göttert, Karl-Heinz: Abschied von Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung. Frankfurt a. M.: S. Fischer 2013. Göttert, Karl-Heinz: Deutsch. Biografie einer Sprache. Berlin: Ullstein 2010. Michels, Eckard: Deutsch als Weltsprache? Franz Thierfelder, the Deutsche Akademie in Munich and the Promotion of the German Language Abroad. – In: German History 22 (2004), S. 206 – 228. Michels, Eckard: Von der Deutschen Akademie zum Goethe-Institut. Sprach- und auswärtige Kulturpolitik 1923 – 1960. München: Oldenbourg 2005 (Studien zur Zeitgeschichte. 70). Reinbothe, Roswitha: Deutsch als internationale Wissenschaftssprache und der Boykott nach dem Ersten Weltkrieg. Frankfurt a. M.: Lang 2006 (Duisburger Arbeiten zur Sprach- und Kulturwissenschaft. 67). Thierfelder, Franz: Deutsch als Weltsprache. Bd. 1: Die Grundlagen der deutschen Sprachgeltung in Europa. Berlin: Verlag für Volkstum, Wehr und Wirtschaft 1938.
Coulmas: Die Wirtschaft mit der Sprache. 1992.
Jiří Šubrt
Eduard Goldstücker, Kafka, and Reform Communism Eduard Goldstücker (1913 – 2000) is one of those intellectuals whose importance and influence was overshadowed, marginalized and almost forgotten after 1989. The peak period of Goldstücker’s professional life was the 1960s and the Czechoslovak revival associated with these years, which was forcibly terminated by the Warsaw Pact countriesʼ invasion in August 1968. Goldstücker was suited to the role of system reformer not only thanks to his education and ability to articulate contemporary political aims and objectives, but above all due to his life experience, which traced the course of the 20th century, and his knowledge of the different European cultures and traditions he encountered. Even as a student, at the time when the effects of the Great Depression were felt in Czechoslovakia and dramatic changes in the international arena occured, he inclined to Marxism and remained loyal to it throughout his life. Together with many of his contemporaries he believed that the problems which faced the 20th century could be solved by communism. Despite initial enchantment, however, he became convinced that the Soviet regime did not represent a desirable prospect.¹His views have been echoed in Western concepts of Marxism. His language skills, international horizon and contacts supported his influence. Normalization ideologues labelled him a revisionist, an inspirer and ideological leader of the so-called counter-revolution.
1 Goldstücker’s Central European Destiny Eduard Goldstücker was born 1913 in the Orava region, in the Slovak village of Podbiel, into a poor Jewish family. He grew up in an environment where Slovak, Hungarian and German were spoken. Podbiel was, with the exception of a few Jewish families, Catholic, and he experienced even in his childhood a feeling of difference and “not-belonging”. A variety of anti-Semitic attitudes, behaviour and moods were experienced in his adolescence and student years, as well as later in life. In the introductory passage of his memoirs Goldstücker talks about his “Central European Jewish destiny”. He says that the “final solution”
Goldstücker: Die russische Revolution. https://doi.org/10.1515/9783110536003-021
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devoured all the members of three generations of his family²; he only survived thanks to his emigration to Great Britain. Goldstücker’s family faced serious existential problems which, however, did not prevent the young Eduard from studying. From 1931– 1936, he studied Germanic and Romance philology at the Faculty of Arts at Charles University in Prague. He was a student of Professor Otokar Fischer, Germanist, literary scholar, writer and translator. Among the other academic authorities to influence young Goldstücker were the leftist intellectual, historian Zdeněk Nejedlý, and F. X. Šalda, professor of Roman literatures and a literary critic. In 1937, Goldstücker married his high-school sweetheart Marta Borčová, who accompanied him throughout his life until her death in 1996. While studying in Prague, Goldstücker took part in community life and began to gain rapid and significant political notice. He became a functionary of the left-oriented Association of philosophy students (SPF) and the Central Union of Students. He was a co-founder of the Union of impecunious and progressive students. In 1933, he joined an organization called the Communist student faction (KOSTUFRA) and, two years later, was appointed its chairman. He sensitively perceived the changes in Germany after Hitler came to power, when in Czechoslovakia refugees began to appear who had been forced to leave Nazi Germany. In 1935, Goldstücker attended meetings of the European Conference of Communist Youth in Paris, and the Congress of the Communist International of Youth (KIM)/ Young Communist International (YCI)) in Moscow, while 1936 saw him as a member of the delegation to the World Peace Conference of Youth in Brussels. At such events, participants talked about the threat of fascism and about strategies to face it, and Goldstücker was a supporter of a unified popular front. It was in 1936, that he and his wife Marta joined the Communist Party. In the years 1937– 1938 he worked as secretary of the League for Human Rights, which was one of the few organizations in the then-Czechoslovakia in which Czechs and Germans cooperated³. He lived an active public life, which contributed to his being several times brutally beaten up by his political opponents; he also wrote articles for left-oriented periodicals, as well as attending dozens of meetings and gatherings. After the German occupation in March 1939, his only option was emigration. Goldstücker and his wife succeeded under dramatic circumstances in leaving the protectorate and via Slovakia and Poland reached England. Soon after arriving there in January 1940 he became – with the financial support of the Czech Ref-
Goldstücker: Vzpomínky (1913 – 1945), p. 5. Ibid., p. 92.
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ugee Trust Fund – a student at the University of Oxford (Magdalen College). Goldstücker finished his studies in the year 1942 and worked in exile for the Government of Edvard Beneš. In 1943 he worked at the Ministry of Foreign Affairs and, after the liberation of Paris in 1944, became Secretary of the newly reinstated Czechoslovak Embassy⁴. Goldstücker embarked on a round of international conferences and meetings, for example the World Youth Conference in London, the Prague International Congress of Students, the first UN General Assembly in London, and the Paris Peace Conference. He continued after the end of the war and even after the Communists came to power in February 1948. He was a Minister-Counsellor at the Ministry of Foreign Affairs, Counsellor of the Czechoslovak Embassy in London in the years 1950 – 1951, and the first Czechoslovak Ambassador to Israel. In 1951, he was recalled from Israel, notionally to take over the post of Ambassador in Stockholm, but before this could occur, on 12 December 1951, he was arrested and jailed in Prague. By that time, in the communist Czechoslovakia, the wheels of political show trials were already in full force involving a range of political figures who were Goldstücker’s friends or colleagues – including top officials of the Communist Party. Symptomatic of the era was the trial of the so-called anti-state conspiracist Rudolf Slánský, while in 1952, eleven accused persons of Jewish origin were sentenced to death or life imprisonment. The young Goldstücker had a tendency to understand Marxism not only as the solution to general social – ‘universal’ – problems, but also to the specific problems, which the Jewish-European population faced during the historic transition from the liberal phase of capitalism to the stage of imperialism. All the greater, then, was the “shock” for him when he had to face the fact that Marxism-Leninism in its Stalinist version was strongly anti-Semitic. As we will show, in Goldstücker’s case, this shock did not lead to his abandoning this ideology, but to efforts to revise and reshape it. The “Investigation”, supervised by Soviet advisers, indicated that Goldstücker was connected to Slánský’s espionage activity. The subsequent prosecution, which began on 26 May 1953, charged him with high treason and espionage, and the prosecutor advocated the death penalty. On the last day of the trial, four days before his 40th birthday, he was sentenced to life imprisonment. After his conviction (he had already experienced a year and a half of imprisonment), Goldstücker was taken to Leopoldov, where he spent almost two years,
Ibid., p. 143.
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and then to Rovnost camp near Jáchymov, where he spent the last six months of his jail term. Years later, when Goldstücker considered the reasons that led to the Stalinist prosecutions, he arrived at an analysis of the geopolitical situation which is apposite to our analysis: the concept of a degree of Czechoslovak independence in Europe after the World War II held currency with the Soviet leadership immediately after the victory in 1945, but this changed with the atomic bomb […] Stalin was the great winner, but America had in its hands a weapon which could destroy the entire Soviet Union. Stalin had no defence against it […] so he had to take into consideration the possibility of a new war against him, and he began to make arrangements […].⁵
According to Goldstücker these measures included “giving absolute priority to weapon production, and from the political point of view, increasing pressure on their new partners to unify under his leadership, that is to say to accept his discipline. Thirdly, he had to ensure that the eventual enemy would not have allies or helpers within the Bloc, and this led to the political prosecution of leading communists, because in such a system of concentrated power the enemy can function only when his agents reach the centre of power”⁶. Stalin thus began to prepare a preventive war. For this reason, categories of people were determined for removal from all positions of influence or power, regardless of how individuals in these categories behaved, their character or their past. These categories included everyone who had spent time in the West, including Spanish interbrigadists which meant anyone who had dared take up arms against Nazis without receiving orders from Moscow. After the State of Israel was established, one such category became the Jews. Additionally, there were all who criticized the Soviet Union, all labelled under the pejorative term Trotskyites, the Slovak nationalists who organized the Slovak National Uprising without seeking the preliminary approval of Moscow; all such were suspected people who had to be replaced by a cadre loyal to Moscow […].⁷
On 23 December 1955, by decision of the Presidium of the Supreme Court, Goldstücker’s conviction was overturned; he was set at liberty and fully rehabilitated. In his memoirs Goldstücker suggests that this release
Goldstücker: Vzpomínky (1945 – 1968), p. 21. Ibid., p. 22. Ibid.
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was related to the fact that even in the Soviet Union after Stalin’s death the liberation of political prisoners was mooted, and Khrushchev’s leadership apparently pressured Antonín Novotný to stick to this political line. Novotný’s leadership had willy-nilly to keep pace with the general development in the then so-called people’s democracies, which had been subjected to strict Stalinist purges. Novotny was forced to appoint the 1st commission to revise the political trials of the early 1950s. The commission, of course, included people who had cooperated in the preparation of prosecutions, notably Novotný himself, so they were in the situation of revising their own work⁸.
“Further releases from prison,” as Goldstücker states, “were halted at least partially by events in Hungary in the autumn of 1956 and by riots in Poland.”⁹ After being set at liberty, Goldstücker returned to his professional field – German studies. This enabled him to devote himself to teaching and research work at the Faculty of Arts at Charles University. From 1 April 1956, he was appointed associate professor, and began teaching in the autumn of the same year. In fairly quick succession, he was appointed associate professor, Head of the Department of Germanics, and in the early 1960s professor (a position he held until 1968). Years spent in communist jails had not fundamentally shaken his political beliefs; he still remained faithful to the ideals to which he had leaned as a student. As Head of Germanics at Charles University, he felt from the beginning the obligation to give his work a fresh long-term orientation. He concluded that the main task of Prague Germanics should be to contribute to exploring Prague German literature. In his memoirs, he comments on this: “I considered the position of Czech Germanics and concluded that Prague German literature is the only field where the Czech Germanics can internationally contribute something original.”¹⁰ The Czechoslovak Committee of Germanists was created on Goldstücker’s initiative (its chairman was Pavel Reiman). The next stage and culmination of these efforts was the International Conference on Franz Kafka that took place in May 1963 in Liblice. The centre for the Research of Prague German literature at the Academy of Sciences began to operate in the year 1966 (Kurt Krolop was its head). This centre and also the independent Department of Germanics were both closed down in the year 1968. Goldstücker’s activities in the field of Germanics were far from being confined to Prague German literature. Other authors included: Johann Wolfgang Goethe, Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Thomas Mann, Heinrich Böll, and many others. He wrote literary studies, forewords, epilogues, and
Ibid., p. 105. Ibid., p. 106. Ibid., p. 111.
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worked as editor and translator. During the 1960s he participated in meetings of the Writer’s Union (in 1968 he was elected its chairman); as a researcher Goldstücker attended various international conferences and foreign meetings. As a Germanist, Goldstücker used his erudition to affect opinion, not only in his professional field, but also in society at large. Though he was not a philosopher, it was thanks to him the then-Marxist thinking in Czechoslovakia was penetrated by one very “explosive” subject, the problem of alienation under socialism. Naturally, he was not the only one to move the spiritual atmosphere in society. Among the well-known personalities of that time, who later – like Goldstücker – earned “the label” of revisionists, were philosophers Karel Kosík, Milan Machovec, Robert Kalivoda, Jiří Cvekl, Karel Mácha and others. At the time of the so-called ʻPrague Springʼ Goldstücker became one of the leading personalities of the revival process and a prominent proponent of the democratization of socialism. He addressed many meetings and rallies, actively supported reform ideas, wrote for newspapers and magazines, granted interviews to the media and was a familiar face on TV. At that time, he established a good understanding with Josef Smrkovský, who was serving as chairman of the National Assembly of the CSSR. When Goldstücker recalled that time in his memoirs, he claimed that even with hindsight he considered that Czechoslovakia had the inner potential to lead the democratization process to the end. “If it had not been for the catastrophic intervention from outside, Czechoslovakia would have completed the process successfully.¹¹ The violent suppression of the Prague Spring by military intervention meant for Goldstücker the liquidation of attempts to reform communism, which, at that time, might have had a chance of success, but not later. The mistake of the former Communist Party leadership was that it believed that the USSR understood these efforts of democratization, whereas they were not interested in democratization but in maintaining their imperial system of power. At the time of the invasion of Czechoslovakia, Goldstücker was on holiday in the High Tatras. He and the people from his neighbourhood assumed that he would be arrested and sent to Russia. For eleven days, he was hiding in the Slovak Republic (the BBC at that time broadcast a report that he had been deported to Siberia); then he took the advantage of an Austrian television invitation to shoot a biographical programme and via Bratislava he dashed off to Vienna. The next day after arriving in Vienna, he received an offer from the University of Sussex, which determined his future destiny. In Vienna, he waited for his
Ibid., p. 155.
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wife to join him, and then, together, they went to England, where they settled in Brighton, close to his new university engagement. The next 22 years the couple spent in England. At Sussex, Goldstücker was engaged in Germanics, occupied with literature, and politically active. As a visiting professor, he worked at other universities as well. In 1991 the Goldstückers returned to Czechoslovakia, living in a small apartment in Prague’s Barrandov area. Marta Goldstücker died on 23 April 1996 and Eduard Goldstücker on 23 October 2000. Goldstücker retained an engaged mind through the late years of his life; his original political beliefs considerably shaken, he nevertheless remained critical of many phenomena of contemporary life, staying “socialist”¹² and expressing concerns about trends in economic globalization and also the overall direction of civilization. However, in the then-Czech society, dominated by the excitement of building a capitalist consumer society, almost no attention was paid to his voice.
2 Goldstücker’s Kafka and the 1960s One of Goldstücker’s major initiatives was the arrangement of an international scientific conference dedicated to Franz Kafka on 27– 28 May 1963 in Liblice in a castle belonging to the Academy of Sciences¹³. Among the Czech participants were literary scholars such as Pavel Reiman, František Kautman, Pavel Trost, Josef Čermák, Jiří Hájek, translators such as O. F. Babler and Alexej Kusák, philosophers like Ivan Sviták, Jiřina Popelová and writers Marie Majerová, Norbert Frýd, Ivo Fleischmann, among others. Among the foreign guests of the conference were left-wing French philosopher Roger Garaudy, the Austrian Marxist intellectual Ernst Fischer and German socialist writer Anna Seghers. For literary science, culture and the overall intellectual climate in former Czechoslovakia, this conference meant change of a fundamental nature. In the narrow elite circles of Czech culture Kafka had been known about for many years prior, but only through this conference did the image of the artist and his work receive wider recognition. The situation after the conference was different from before; a space, even if perhaps only a crack, had opened through which new themes and new perspectives began to flow into hitherto rigid cultural policy. Goldstücker in his memoirs recalls that after August 1968 GDR propa-
Banville: Prague Pictures, p. 227. See Goldstücker, Kautman, Reiman (eds.): Franz Kafka: liblická konference 1963; Kusák: Tance kolem Kafky; Weinberg: Die Liblice-Konferenzen; Tucker: Reading Kafka.
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ganda even claimed that the counter-revolution in Czechoslovakia was triggered by this Kafkaesque conference¹⁴. Goldstücker’s interest in Kafka had at least a double motivation. One was to project an already world-renowned author into the communist-ideologue-dominated history of world and Czech literature, meanwhile, supplying a topic for Prague Germanics, whose main object would then become Prague German literature. The fact was that in socialist countries in the early 1960s Kafka and his work was still ignored, overlooked and condemned as representative of bourgeois decadent culture. Goldstücker regarded this as one of the symptoms of what was termed in those days Stalinist deformation, i. e., a consequence of a personality cult.¹⁵ The second, frequently implied motive, was to follow Kafka’s inspiration into areas beyond the literary field, taking advantage of his philosophical potential to provide a critical perspective of contemporary society, and to find inspiration for a contemporary art still limited by lingering Stalinist dogmas. These two motives are intertwined in Goldstücker’s approach. One of the tasks that Goldstücker set for himself was to find a new “key” to help explain Kafka’s work. It is understandable that he would look for such a key, consistent with his Marxist convictions but at the same time overriding contemporary dominant ideological patterns. Current interpretations of Kafka’s work, according to Goldstücker, centred mainly on the distinctive psychological dispositions of the author, or on religious or existential speculation (concerning e. g. his conflicted relationship with his father)¹⁶. What Goldstücker felt was lacking, was a concentration on historical and social factors. To get closer to Kafka, “we must ask from what well-spring came his insecurity, his sense of anxieties, his guilty conscience”¹⁷. The core of Goldstücker’s interpretation of the “world of Franz Kafka” is based on the statement that “Kafka grew up at an historical turning point which decisively impacted civil culture in the first half of this century [i. e. the 20th century]. It was the border between two epochs in the development of classes: the end of an era of free competition on the one side and the beginning of imperialism on the other.” The transition to an imperialist development phase was, according to Goldstücker, “accompanied by shrill economic movements and ideological struggles within the bourgeois camp itself”¹⁸. He believes that
Goldstücker: Vzpomínky (1945 – 1968), p. 129. Goldstücker: O Franzi Kafkovi z pražské perspektivy. In: Goldstücker, Kautman, Reiman (eds.): Franz Kafka, pp. 21– 38, here p. 22. Ibid. Goldstücker: Na téma Franz Kafka, p. 34. Ibid.
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the end of liberalism for Kafka’s generation meant that “almost before their eyes the base broke up on which generation of their fathers had firmly stood, and the construction of their life collapsed”¹⁹. This meant “a threat to the entire existing way of life of Jews, because German imperialism from the beginning stood out as militantly anti-Semitic; a small to medium-sized group of German Jews saw its destiny in parallel with the destiny of liberalism”²⁰. Kafka had therefore seen, according to Goldstücker, a crisis of civil society before his very eyes, the collapse of old certainties and values, a sort of “world on the edge of a precipice” that had lost his old basis and not found a new one, and his work reflects this era of crisis in a specific way. The ambiguity of Kafka’s work, offering itself to various interpretations, is associated especially with his creative method, and authorial expression. According to Goldstücker this means a unique combination of realism and symbolism: Kafka is distinguished by precise, pertinent, scientific or clerical recording, and sometimes even by a pedantic realism in details, which are nevertheless interwoven into a symbolic framework. Carefully evoked details of everyday life are not the aim of his work, but rather the means, a building material, by which he builds structures of symbolic comparison that he considers adequate to express the excessive complexity of the world and also, if possible, the even more complex reflexes in his own brain. Thus Kafka transfers readers from the world of objective reality into imaginary areas, without their having to ponder upon it and without losing the attention aroused from the very beginning.²¹
Goldstücker concludes this far-sighted characterization by stating that “Kafka’s style essentially expresses the uncertainty of the Kafka-man against the phenomena of world and life”.²² Another aspect of Kafka’s literary work that Goldstücker points out, is the fact that “in contrast to the rest of his peers he was not satisfied with any solution to the problems of his life which his era offered him”.²³ Goldstücker greatly appreciated Kafka’s ability to detect and raise questions about the illusions that people generate about themselves and about their lives. Goldstücker refers to Kafka as a “master in the destruction of illusions”²⁴, as an author able to detect phenomena and forces that dehumanize and alienate from the self. A feature of Ibid., pp. 34– 35. Goldstücker: O Franzi Kafkovi z pražské perspektivy. – In: Goldstücker, Kautman, Reiman (eds): Franz Kafka, p. 30. Goldstücker: Na téma Franz Kafka, p. 32. Ibid. Ibid., p. 28. Goldstücker: Vzpomínky (1945 – 1968), p. 129.
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Goldstücker’s interpretation of Kafka’s work is the effort to make a connection between Kafka’s view of the world and Marx’s theory of alienation. This aspect of Goldstücker’s approach apparently evoked the greatest consternation in its time among the guardians of the ideological purity of Marxism-Leninism, because it opened the door to the fact that the reality of everyday life in the then-socialist countries could be seen through the perspective of Kafka’s world. Goldstücker, who had to deal somehow with the objections of his opponents that alienation had already been overcome by socialism, helped himself through ideological structures derived from Marxist-Leninist principles. He noted that it would be a great simplification to say that the socialist countries had, thanks, to their revolution sorted out all the problems of the old world. He argued that during the long transitional period from capitalism to socialism “in some stages people will feel alienation more sharply than under capitalism”²⁵. In doing so he, doubtlessly, had in mind the experience of the 50’s and its political prosecutions, and thus his own destiny, even if he did not express it explicitly at that time. At the Liblice conference, he summed up the discussions on the issue in his closing word by saying: “We must not lose sight of reality as it is, and we must not replace reality by an ideal of the way things should be. And since alienation does indeed exist, Kafka is current even in our country.”²⁶ For a broader idea of the context in which Kafka’s work in the then-Czechoslovakia was received in the 1960s and became domesticated under the influence of Kafkaesque debates in culture, we might consider a related conception, “absurdity”. Young artists at this time expressed their generational experience through artistic works that made absurdity their basic principle. In this context, we can mention Divadlo na zábradlí (Theatre on the Ballustrade), which was associated with the era of director Jan Grossman²⁷, who in the 1960s to great acclaim staged plays such as The Garden Party (1963) and The Memorandum, (1965) by Václav Havel, Ubu Rex (1964) by Alfred Jarry, Waiting for Godot (1964) by Samuel Beckett, and the dramatization of Kafka’s The Trial, (1966). In the arena of filmmaking we can mention Jan Němec’ Of the Party and its Guests (1966), The Case for a Rookie Hangman (1969) by Pavel Juráček, or The Seventh Day, the Eighth Night (1969) by Evald Schorm and Jan Kačer. In the visual arts a significant contemporary phenomenon was Křížovnická škola čistého humoru bez vtipu (The School of the Knights of the Cross of Witless Pure Humour,
Goldstücker: Shrnutí a diskuse. – In: Goldstücker, Kautman, Reiman (eds.): Franz Kafka: liblická konference 1963, pp. 265 – 274, here p. 268. Ibid. See Grossman: Svět malého divadla.
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founded in the year 1963), represented by artists such as Karel Nepraš, Jan Steklík, Naděžda Plíšková, Zbyšek Sion and others. In 1965 Bohumil Hrabal introduced a new Czech word “kafkárna”, which later became naturalized even in colloquial language. The word expresses an “absurd sense of the life of despair, notbelonging and elimination”²⁸. Returning to Goldstücker, we can say that he also used references to Kafka and Kafkaesque motives, not only within his literary analysis, but also for the description of some episodes of his own life, to underline their absurd character. One example is his memories of stage-managed allegations in the 1950s²⁹; another example is his description of a journey to Moscow in the year 1962³⁰. The dramatic peripeteias of Goldstücker’s life may be instrumental in one more thing, in that they are comparable with the fates of the heroes from Kafkaesque short stories and novels. Goldstücker paid considerable attention to the analysis of these figures and their fates. He was concerned with the character of Karel Rossmann, the hero of the novel America, and compared his fate with those of other heroes – Georg Bendemann from The Judgment, Gregor Samsa from The Metamorphosis, Josef K. from The Trial and the land surveyor K. from the novel The Castle. Essentially, the closest to Goldstücker’s nature seems to have been the hero of the novel The Castle. Goldstücker appreciates “that the land surveyor K. is different from all the previous heroes of Kafka, in the fact that by his own choice, not through compulsion like Josef K. in The Trial, he gets down to fighting to change his fate, a fight in which, while ending without victory, he nevertheless achieves results sufficient to show that the struggle was not in vain”³¹. Something similar can be said about Eduard Goldstücker himself; even though he devoted a substantial part of his life to the fight to change social conditions. Not only was this fight not a winning one, it was linked to a number of failures, losses, unintended consequences and absurdities; nevertheless, it was not a useless and futile one, and it brought results whose value has been proven and paid interest over time.
Procházková: Když se řekne Kafkárna. Goldstücker: Vzpomínky (1945 – 1968), pp. 69 – 80. Ibid., p. 126. Goldstücker; Na téma Franz Kafka, p. 80.
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References Banville, John: Prague Pictures: Portrait of a City. London: Bloomsbury 2003. Goldstücker, Eduard, František Kautman, Pavel Reiman (eds.): Franz Kafka: liblická konference 1963. Praha: Nakladatelství Československé akademie věd. 1963. Goldstücker, Eduard: Na téma Franz Kafka. Praha: Československý spisovatel 1964. Goldstücker, Eduard: Die russische Revolution: Hoffnung und Enttäuschung. Eduard Goldstücker 1913 – 2000 zum Gedenken. Ed. by Erhard Roy Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre 2001. Goldstücker, Eduard: Vzpomínky (1913 – 1945). Praha: G plus G 2003. Goldstücker, Eduard: Vzpomínky (1945 – 1968). Praha: G plus G 2005. Grossman, Jan: Svět malého divadla. – In: Grossman: Analýzy. Praha: Československý spisovatel 1991, pp. 286 – 308. Kusák, Alexej: Tance kolem Kafky: liblická konference 1963 – vzpomínky a dokumenty po 40 letech. Praha: Akropolis 2003. Procházková, Barbora: Když se řekne Kafkárna. – In: Naše řeč 92 (2009), No. 4, pp. 220 – 223. Tucker, Veronika: Reading Kafka, Writing Vita: The Trials of the Kafka Scholar Eduard Goldstücker. – In: New German Critique, No. 124, February 2015, pp. 129 – 162. Weinberg, Manfred: Die Liblice-Konferenzen und die geplante Kurt-Krolop-Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur. Nachdenken über ein nicht mehr mögliches Gespräch. – In: Brücken. Germanistisches Jahrbuch, Tschechien – Slowakei 21 (2013) H. 1 – 2, pp. 125 – 138.
Csaba Szaló
Ethical Commitments and Modes of Temporality in later Georg Lukács If Faust could have two souls within his breast, why should not a normal person unite conflicting intellectual trends within himself when he finds himself changing from one class to another in the middle of a world crisis?¹
1 Introduction: The Actuality of Georg Lukács In one of the early mornings of March 2017, the statue of Georg Lukács was removed from a public park in Budapest. The proposal to rid this park of Lukács’ statue was articulated by a Hungarian radical-right party and accepted by the city council of Budapest with a justification pointing to Lukács’ communist past. This event can be interpreted as just another act of purification by the nationalist politics of memory. ² While Lukács’ relationship to the Communist movement was full of ambivalence – he served as a Bolshevik commissar but was also several times imprisoned by various communist regimes – those who achieved to remove his statue and strived to close down Lukács Archive are not attentive to the nuances and details of his engagement with the communist movement. Furthermore, they are not interested in reading his texts. Their ignorance of Lukács’ philosophy is justifiable from a perspective that allows them to interpret his books as nothing more than expressions of his biography: Lukács’ communist past contaminates his philosophy, and in this sense, his texts are definitively marked with the blood of communist terror. This view, which implodes a text into the biography of its author, pays no attention to the tradition of reading, writing and discussing theoretical texts. The point about theoretical thinking is not that it offers a systematic model of reality we can subordinate our thinking to, in order to act successfully. The whole tradition of theoretical thinking is about learning to understand problems, to challenge ourselves by recognizing where our predecessors or partners go wrong. That is, at what point does their reasoning become for us unacceptable?
Lukács: Preface to the New Edition (1967) in: Lukács: History and Class Consciousness pp. ixxxxix., here p. x. Huyssen: Present Pasts, pp. 73 – 75. https://doi.org/10.1515/9783110536003-022
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In this way, theoretical thinking offers a specific mode of understanding ourselves. It is about learning to be aware of our own limits.³ The following interpretation of Lukács’ late texts does not aim to resolve the conflict between externalist and internalist models of interpretation. Therefore, my aim is not methodological. I am following the perspective of cultural sociology in dealing with Lukács and his texts.⁴ The oeuvre of Georg Lukács is not a closed field with an already revealed essence. Rather, his name signifies an open domain of meaning, whose character is not fixed but is continually revised by application.⁵ This open domain of meaning is perhaps mediated by what hermeneutics conceives as historically effected consciousness. ⁶ However, we should not privilege those effects of meaning which have been already revealed to us in the past. The genealogy of Lukács’ work, the examinations of its sources and inspirations is important without doubt. Nonetheless, the history of meaning’s effects reveals that configurations of meaning display traces of influence which cannot be understood as marks of a tradition. On the contrary, the historical disclosure of meaning effects shows that there are effects approaching us from the future. In this sense, the openness of Lukács’ oeuvre also stands for future applications, dependent upon recently unknown historical situations. Simply, I claim the importance of a reconstructive, hermeneutic engagement with the horizon of expectations both in Lukács’ texts as well as in the case of their applications.⁷
2 Parallel Routes Georg Lukács was an intellectual, actively involved in two radical movements aiming to transform modern life (the Sunday Circle and the Communist Party), who participated in two Hungarian revolutions (1919 and 1956), and who, finally, took part in two modes of critical discourse dealing with the modern world (NeoKantian Aesthetics and Hegelian Marxism). Lukács was born in Budapest at the turn of the 20th century to a Jewish bourgeois family that was already following
Chernilo: Philosophical Sociology, p. 352. Alexander: Iconic Consciousness, pp. 13 – 20; Reed: Interpretation and Social Knowledge, pp. 103 – 117. Thompson: Georg Lukács Reconsidered; Bewes and Hall: Georg Lukács; Fuchs: Georg Lukács as a Communications Scholar; Bueno and Teixeira: Spectres of Reification. Gadamer: Truth and Method, pp. 300 – 307. Koselleck: Futures Past, pp. 255 – 275.
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a track of cultural assimilation, becoming Hungarian and gaining the status of nobility at once.⁸ Following his studies, Lukács was engaged in aesthetic and literary debates while working and living in Berlin, Heidelberg, Florence and Budapest. This period can be characterised by his involvement in a radical cultural movement called the ‘Sunday Circle’, consisting mainly of young intellectuals and artists from Budapest. Deep emotional and intellectual bonds, developed by Lukács in this period, formed the biographical frame for his tragic view on life articulated in his first book in 1911, Die Seele und die Formen, which looked on alienation as the inescapable destiny of human beings.⁹ His writings from this period expressed a sense of loss, conceived as the dissolution of an original unity of human feelings and cultural categories of understanding.¹⁰ Thus, already in this period of modern German-Jewish messianism, Lukács had no doubts that modern society was in a deep crisis.¹¹ His diagnosis of this crisis was formed in dialogue with Max Weber and Georg Simmel, as well as by his critical reading of Wilhelm Dilthey’s and Friedrich Nietzsche’s works. In this context of early formative influences, it is not surprising that he shared the core normative presupposition of the cultural critique of modernity: the hope for a life without alienation. Nevertheless, he also shared the radical historicism of his German intellectual milieu, which together with this sensitivity to alienation, gave a rise to an interpretive strategy marked by an unresolvable contradiction between existentialist universalism and sociological historicism. Simply, the current crisis of modernity could be conceived at the same time as both (i) an indication of the eternal recurrence of the universal human condition of alienation and (ii) a manifestation of a particular historical epoch, which will be followed with a new historical period with its own characteristic challenges, conflicts, and perspectives. From this perspective, revealing the duality of the universal force of life and historically given forms, Lukács could claim that for a diagnosis of our age, our future possibilities are of the same importance as our recent conditions. Contemporary modes of alienation have crucial importance for understanding our recent condition; nevertheless, current modes of resisting and fighting alienation are similarly significant for our age. This inclusion of would-be into being creates a tension that Lukács is never able and willing to resolve. For biographical details, see Kadarkay: Georg Lukács; Lukács: Record of a Life; Löwy: Georg Lukács. Lukács: Soul and Form. Gluck: Georg Lukács and His Generation 1900 – 1918, pp. 188 – 189. Rabinbach: In the Shadow of Catastrophe, pp. 28 – 35.
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Novels like Thomas Mann’s Doktor Faustus or The Magic Mountain drive our attention to the principle of unity that configures life stories. We, as readers, usually understand this unity in terms of the destiny of a specific individual. Nonetheless, the aesthetic power of novel consists in their potential to reveal the destiny of specific characters for the reader. What is more, novels almost always put into words experiences which disclose to a specific character in the novel her own destiny. That is, the definite form of unity that configures particular life stories always receives its aesthetic meaning in relation to the play of concealment and disclosure. ¹² Readers perhaps can enjoy their privilege to anticipate the destiny of specific characters earlier than these characters themselves. We can see a similar uncoupling of a particular person’s horizon of expectations also outside of novels, in situations when someone claims to have a knowledge of others’ destiny. But for my recent interpretation of Lukács’ work, I would stress that distinct procedure in the biographical play of concealment and disclosure in which the unity of one’s life-history is revealed for himself as well as for others by means of writing. Lukács practiced various forms of writing, from personal correspondence to public self-criticism, to think about and to give an expression to the specific unity of his own life. He clearly belonged to a generation sharing a culture of reflective writing as a means to objectify and thus give meaning to the various events it has experienced. Lukács acknowledges already in his early texts that historical narratives and dramatic forms of expression, offered by our cultural world, are playing a crucial role in this writing process.¹³ However, he also recognized the conflict between one’s life-history as experienced and one’s life story as emerging from possibilities given to us by our cultural frames of meaning. For Lukács, this conflict brings to light the disparity between our cultural categories and experienced life-events. Thus, it is not about the truthfulness of biographical or autobiographical accounts in terms of their correspondence to documented events and facts. His inquiry does not deal with the question of whether our cultural frames are able to expose to our view ‘what really happened’ in particular life histories. Rather, his concern is about the dissolution of the genuine unity of historically available life experiences and culturally conceivable forms of their understanding. This kind of involvement in the question of truthfulness can be comprehensibly understood from a hermeneutical perspective. What is at issue is the meaning effect, the persuasiveness of these cultural forms of understanding. In other words, what is at stake is the power of cul-
Tengelyi: The Wild Region in Life-History, pp. xiii–xxxxvi. Lukács: Soul and Form, pp. 152– 174.
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tural forms to express meanings that are taken seriously in particular interpretive communities. One can find a plain expression of this ideal of the unity of (i) life as it is experienced and (ii) life as it is given account of in the work of Dilthey.¹⁴ While Lukács was in a critical relationship with his texts during his entire life, they both shared a vision about the spontaneous character of this unity between the forces of life and forms of meaning in the past. Dilthey’s concept of the connectedness of life was at that time obviously understood as referring to a life-history that spontaneously involved the experience of its meaningfulness.¹⁵ Lukács’ critical interpretation of Dilthey consisted both (i) in the claim that this unity is recently dissolved as well as (ii) in stressing the priority of the active forces of history over cultural forms of understanding. In 1914, when the First World War was declared, Lukács was living in Heidelberg. He was deeply disturbed by Simmel’s, Max Weber’s, Mann’s and his other intellectual companions’ spontaneous enthusiasm for the war. His anti-war posture accentuated the anonymity and the impersonality of recent warfare. His polemics were grounded in his view of modern society as emphasizing obedience and discipline. Individual soldiers were in his view reduced to tools; what is more, states were not able to provide these individuals with comprehensible principles and authentic objectives that could give meaning to their sacrifices.¹⁶ But it was not just the tragic powerlessness of individuals that the war manifested for Lukács but also the deep chasm between the inner realities of individuals and the institutions of modern European societies. The war revealed for Lukács that what he conceived earlier as the dissolution of an original unity of human feelings and categories of understanding can be seen as a historical process of alienation of individuals from their contemporary society.¹⁷ The political realities of late 1918, the end of the war and the dissolution of the Austrian-Hungarian Monarchy generated a revolutionary situation also in Budapest. Lukács, like other intellectuals at that time, was confronted with a choice between revolutionary terror and individual ethics. Initially, he refused to join the revolution because he saw an unresolvable ethical dilemma connected to Bolshevik radicalism. Simply, there was no acceptable answer to the question of whether it is possible to bring about freedom through terror, to do good
Dilthey: The Formation of the Historical World in the Human Sciences, pp. 213 – 226, 248 – 264. Ibid., pp. 252– 256. Gluck: Georg Lukács and his generation, pp. 179 – 180. Fehér: The Last Phase of Romantic Anti-Capitalism, pp. 151– 154; Jay: Marxism and Totality, pp. 81– 127.
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through evil. But such kinds of dilemmas are generated by situations in which a choice must be made even if it is difficult. Lukács, despite his choice against revolutionary terror at that moment, disclosed a conceptual dualism in Karl Marx’s work which had the potential to justify the communist movement’s claim to revolutionary terror.¹⁸ The distinction between (i) the realm of sociology referring to empirical reality and (ii) the realm of transcendental utopia referring to historical reality made it possible for Communists to claim that class struggle was more than a political conflict in contemporary society. A few weeks later, when Lukács joined the Communist Party, he justified his decision based on the same topological-temporal duality between (i) the surface domain of the present and (ii) the deep domain of past and future transcending our present.¹⁹ His turn toward revolutionary terror followed the logic of the transposition of class struggle from the realm of society to the realm of history: if class struggle is positioned in the realm of history, that is, transcending contemporary society, then contemporary forms of legality and ethics lose their binding force simply because they are disclosed as elements of the power structure of contemporary society that revolutionary terror aims to destroy. Nonetheless, the dilemma identified in his earlier article is still in place; the acceptance of the historical character of the Communist movement does not abolish tragic conflicts and sacrifices for individuals. The ethical dilemma as a necessity of the tragic choice between two evils remains present for Lukács at the heart of Communist movement insofar as it demands the sacrifice of one’s personal life for the historically achievable good of others. What is more, this is an ethical commitment that requires more than the sacrifice of one’s life for historical aims; it requires the sacrifice of one’s moral purity. ²⁰ Lukács fully accepted that the autonomy of the self must be subordinated to a higher historical goal. Nevertheless, even in his articulation of the tragic nature of the choice between an ethical life and an authentic life subordinated to a historical collectivity, he did not deny the importance of the inner life of the individual. The irreducible conflict between objective culture and the subjectivity of the self remained a part of his conceptual tools. His turn to Marx and Hegel did not completely erase his intellectual past, including his nostalgia for the original unity. His conversion to Marxism was not an intellectual motivating force behind his existential choice of the political commitment to the Communist Party insofar as this conversion had taken place gradually in the 1920s and
Lukács: Bolshevism as an Ethical Problem. Lukács: Tactics and Ethics, pp. 3 – 11. Eörsi: The Unpleasant Lukács, pp. 9 – 10.
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1930s.²¹ Lukács’ Hegelian Marxism was a continuation of his radical cultural critique of modernity.²² His gradual development of Hegelian Marxism can be understood as an attempt to integrate an exceptional, fateful event of his life-history, that is, his radical ethical choice for a political commitment, into his life story.²³ Nevertheless, it could be the consolidation of unity between his life story and life-history that required the cultivation of his continuing links to the cultural traditions of 19th century Europe, including the philosophy of Hegel and Marx.
3 The Possibility of Ethics Lukács interpreted his decision to join the Communist revolution in 1919 as taking responsibility for committing a sin.²⁴ This acceptance of sin involves two stages of awareness: (i) being aware of the moral commandment that it is in all cases forbidden to use violence; (ii) being aware of breaking this commandment to attain an objective imposed upon us by a higher authority that transcends our everyday reality. This ethical paradox known from biblical teachings as accepting sin as a precondition for salvation was reinterpreted by Lukács in terms of a revolutionary movement involved in a historical struggle. In the following years, Lukács proposed a philosophical vision of an active collective subject that is engaged in the production of the world. Lukács adopted Marx’s view of the proletariat as a revolutionary force, but attributed to it the role of the part having a potential to reveal and transform the whole of history. This privilege of the proletariat comes from its involvement in the everyday praxis of building and maintaining, that is, bringing our world into being. The being of the proletariat reveals that humanity is not an opposite of the world, but has to be located within the world. Thus, the anthropological conception of human being as inseparable from the world, grounds Lukács’ conception of historical change induced by the action of the collective subject. Nonetheless, this grounding is valid only under the assumption, that similarly as human beings are entangled with their world, the concrete historical totality of the world is also inseparable from the activity of human beings. What more, human beings can go beyond their immediate activities, they can transcend their present world, because
Heller: The Philosophy of the Late Lukács, pp. 147– 149. Arato and Breines: The Young Lukács and the Origins of Western Marxism. Löwy: Georg Lukács, pp. 145 – 159. Eörsi: The Unpleasant Lukács, p. 9.
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they can look to a future by means of taking into consideration the consequence of their undertakings.²⁵ From this time, Lukács was fully engaged in the international movement of Communists, hoping that the dictatorship of the proletariat would realise the essence of humanity. Until 1956, he readily undertook political and intellectual tasks to contribute to the historical mission of the movement. After his emigration to Moscow in the 1930s, as well as after his return to Budapest after the Second World War, he accepted moral humiliations and intellectual degradations to avoid his excommunication from the Communist Party. After the tragic revolution of 1956 in Budapest, in which he played an active role nonetheless, having narrowly survived the purges of Soviet invasion, he was excluded from the Party. A few years later, he re-joined the Communist Party. He was fully aware of his disloyalty to his comrades killed and jailed after 1956 by the new regime. At the same time, he was illegally smuggling his manuscripts to West Germany.²⁶ In his later years, Lukács intensively worked on the philosophical foundations of ethics. This effort to reach a theoretical systematisation of the conditions of the possibility for interpersonal relations resulted in more than one thousand pages on his ontology of social being.²⁷ The core of his ontology is a genealogy of social relations in labour teleology.²⁸ He grounds the origin of social relations in labour, that is, in the performance of purposive activity. His clarification of the social being as a qualitatively new mode of being historically, stresses its distinction from inorganic and organic modes of being. This distinction is grounded in the human capacity of thinking to set purposes, that is, in the ontological function of human consciousness. This principle enables Lukács to refuse vulgar Marxism as well as positivist thinking by claiming that no study of social being can neglect human consciousness or treat it as a merely secondary aspect controlled by the materiality of inorganic and organic being. In labour, consciousness, as envisaging an aim and selecting a tool, is inseparably attached to the materiality of organic and inorganic modes of being. This connection enables us to attribute decisive theoretical importance to the origin of social being in human practice. Nevertheless, it does not mean that the genesis of new patterns of social being are determined by the materiality to which human practices are attached. Only by taking seriously the idea of genesis, the process of emergence, that is, to be able to accept at the theoretical level that Lukács: History and Class Consciousness, pp. 121– 131; Goldmann: Lukács and Heidegger, pp. 1– 24; Merleau-Ponty: Adventures of the Dialectics, pp. 35 – 53. Eörsi: The Unpleasant Lukács, p. 14. Lukács: A társadalmi lét ontológiájáról; Joós: Lukács’s Last Autocriticism, the Ontology. Lukács: The Ontology of Social Being, vol. 3: Labour, pp. 21– 65.
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something really new can come into being, that cannot be reduced to something preceding it, can we understand the character of new ontological patterns produced by social being.²⁹ Only at this point can we return to the question of ethics. Lukács was not able to finish his Ontology; thus, he had no chance to develop his ontologically grounded ethics. Nevertheless, as it is understandable from the critical comments of his disciples as well as from the introductory text of Lukács that he wrote as a reaction to these comments, the crucial theoretical dispute related to the basic characteristics of human actions, values, and decisions revolves around the ontological status of objectification. ³⁰ Simply, while animals are dependent on their instincts and impulses from their environment, human existence is conditional on decisions influenced by objectifications such as norms. Perhaps one can claim that norms and other objectifications determine human action with almost the same force as the way animals are dependent on forces of organic and inorganic materiality. As Lukács’ disciples claimed, in his Ontology, there are actually two ontologies: while (i) the first shifts back to this conception of mechanical necessity, (ii) the other recognises the specific character of social forms of objectivity. ³¹ Sociology, as it was well known for Lukács via Simmel and Max Weber, took into consideration the power of objectifications to shape human decisions and actions.³² What is more, by focusing on the objectivity of social relations, both Simmel and Max Weber stressed that human action is oriented also to the objectifications themselves, not just to material things and interacting partners as such. For instance, the phenomena of legitimacy show that the objectivity of social relations cannot be reduced to compulsions from the inside or the outside of a person leading to acts of obeying or fighting other persons. The question emerging from Lukács’ Ontology was whether moral norms as social objectifications manifest the same kind of objectivity as the materiality of inorganic and organic things. Have the moral norms and values which influence our decisions the same hardness as stone and the same strength as predators? Perhaps the violation of rules and ignorance of values may lead to serious consequences. Human beings may be punished for violating rules. Nevertheless, these are still possibilities. The power of objectifications such as moral rules is grounded in the possibility of their consequences. The ontological relevance of consciousness for ethics Lukács: A társadalmi lét ontológiájáról. vol. 3: Prolegomena, pp. 44– 96. Feher, Heller, Markus and Vajda: Notes on Lukacs’ Ontology; Lukács: A társadalmi lét ontológiájáról. vol. 3: Prolegomena. Feher, Heller, Markus and Vajda: Notes on Lukacs’ Ontology, p. 170. Alexander: Classical Attempt at Theoretical Synthesis, pp. 132– 134.
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can be comprehensible at this point. The individual’s conduct Presupposes a role in positing a goal, selecting a tool, but also in coming to know about rules, consequences and possibilities. As Lukács’ disciples observe in their critical commentary on his Ontology, like Marx, Lukács, in his History and Class Consciousness, stressed the historical character of social being.³³ Thus, various kind of objectifications coming into view from the past, like tools, maps or stories, have an influence on the awareness of our possibilities. However, within this sphere of objectifications produced by previous generations, individuals still have the possibility to decide to follow a rule or to break it.³⁴ Altogether, while there is no ethical conduct without consciousness, we also cannot take responsibility for our own conduct without being aware of our human freedom. In the decade before his turn to ethics and ontology, Lukács was working on his aesthetics.³⁵ This was actually a renewed interest, that marked a continuation of the earlier efforts of his pre-Marxist youth. While earlier Lukács was fascinated by revealing presuppositions related to the possibility to conceive works of art at all, at this stage he simply acknowledged, that there are artworks in our world, as something given. Instead of its conditions of possibility, he grappled with understanding the possibilities immanent in the artwork. In this respect, he clearly maintained the rejection of the epistemological perspective in philosophy, along with moving close to existentialism by subordinating essence to existence. Nevertheless, artworks can be objectifications only of the potentiality of essence, not the essence itself. By this means, Lukács sketched out a philosophy of history, within which the coming essence of artworks was conceived as the unity of individuality and humanity. Thus, his notion of artwork is indicative of an expected and desirable state of the world. For the late Lukács, artworks are objectifications which embody the possibility of de-fetishised consciousness. ³⁶ The unity of abstract and mimetic forms promises an aesthetic experience, an awareness of the unity of individual and humanity. Through the work of art, in the simultaneity of enjoyment and understanding, individuals are given the chance to recognise their true, universal human character. Artworks speak to us because through them we are able to encounter our own human existence.
Feher, Heller, Markus and Vajda: Notes on Lukacs’ Ontology, pp. 167– 168, 173. Lukács: An Interview with George Lukács, p. 134. Lukács: Az esztétikum sajátossága. Heller: The Philosophy of the Late Lukács, pp. 155 – 156.
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4 Conclusion To read Lukács’ oeuvre from a cultural sociological perspective has a specific point. Structural hermeneutics, by formulating interpretation as an event, in which a fusion of horizons take place, actively tries to avoid the Hegelian thinking that was of crucial importance to Lukács. To see a Hegelian through post-Hegelian lenses bears a promise to decipher signs that would be hardly visible to a Hegelian viewer. Hegelian thinking stresses the importance of history. Furthermore, the truth of the present is, from a Hegelian perspective, fully mediated by history. Gadamer claims that the event of interpretation creates a relationship, a bridge between the then of writing and the now of reading, but also preserves this difference between the past and the present.³⁷ But what is fused together in this event of interpretation? The historical horizon of the text is fused together with the interpreter’s horizon of the present, part of which is her horizon of the future. Perhaps the historical horizon to which the text is native also has its horizon of the future. In both cases, the horizon of the future is based on what is expected at that time to be possible. This is a crucial challenge to the Hegelian claim that recent meanings are fully mediated by history because the incorporation of the horizon of the future into the event of interpretation means that the present meaning of a text becomes clear only in the light of the future. An interpretation of a text is always mediated by the meaning expressed by that text. This meaning is brought into the text within a historical situation within which the text originates and remains unspoken. The interpreter’s horizon of the present is similarly submerged in a historical situation in which the reading originates and usually remains unspoken. What does the light of future mean, considering that both the text and its reading are situated in a historical situation? First of all, neither the meaning given in the text nor given in the interpretation can claim absolute validity but remains open to further reading and writing. Old texts via their new readings formed by the current historical situation can thus provide the impetus for observing new aspects of our world. At this point, it is clear that the meaning of Lukács’ texts is not related merely to a currently available horizon of these text’s past, to their ‘sources’. The meaning of text is related to the present historical situation’s horizon of the future that contains the questionable nature of the current understanding of this text as well as the possibility to discover new understanding of the text. That there is a power of Gadamer: Truth and Method, pp. 291– 300.
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disclosure that can proceed from Lukács’ work is linked to the claim that the current understanding of the meaning in question is not yet absolute; it is questionable, and it is always provisional because of the openness of the future. Nowadays, like so many times before in Central Europe, we can observe a symbolic struggle between individualist and collectivist interpretations of the idea of freedom. The work of Georg Lukács manifests a deep commitment to a collective form of freedom which at the same time is not conceived in terms of nationhood. Hence, it offers an opportunity to reimagine the crucial division among Central European intellectuals, between modernising liberals and independence-seeking nationalists. Instead of circulating remakes of this symbolic conflict, telling the same or a very similar story again and again about selfish individualists thinking only of themselves and brutal collectivists promising protection but giving rise to terror, we must reinterpret our enthusiasm for freedom imaginatively. For instance, we must take into consideration the indivisibility of the national and social question. In his book History and Class Consciousness, written in the 1920s, Lukács came up with the idea that the revolutionary proletariat would be able to disclose itself as both object and subject of history.³⁸ That is, he envisions a revolutionary collectivity which, on the basis of its historical experiences, develops a specific form of self-understanding. This mode of historical self-consciousness that has emerged with the dissolution of the world order reveals how social processes of exploitation have made the proletariat into an object, yet a cornerstone, of the current world. At the same time, the proletariat’s awareness of being a victim of history already contains the seeds of liberation from its own destiny. To become a subject of history requires the proletariat to turn this self-understanding into a collective project pushing toward emancipation. In other words, it requires the expression of this self-consciousness of being a victim by means of active engagement with the world. To become a master of one’s own destiny was an openly articulated aim of the main collective emancipatory projects that marked the history of Central Europe in conditions of modernity: among those awakened by the national question, as well as those cultural and political collectivities brought into play by the social question. In Lukács’ humanist Marxism, the proletariat figures as a universal class with a historical mission to revolt against the inhuman world. This identification of the subject of history with humanity is clearly revealed in his late philosophy. However, if we follow Lukács’ insights on the power of objectifications to shape human decisions and actions, then we can arrive at a
Lukács: History and Class Consciousness.
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conclusion that even universal humanism must be manifested in cultural forms that are comprehensible and therefore, can generate meaning effects in historically particular languages and places.
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Die „Verengerung der Seele“ Das Dämonische in Lukács’ Theorie des Romans
1 Einleitung 1914/15, während der ersten zwei Kriegsjahre, arbeitet Lukács an einem groß angelegten Projekt über Dostojewski, das er bald abbricht.¹ Die Theorie des Romans, die zwei Jahre später erscheint, entwirft er als seine Einleitung. Schon in kleinen Schriften, Fragmenten und Briefen zum Dostojewski-Projekt offenbart sich, dass für Lukács auch dort schon Politik, Literatur und Philosophie miteinander verknüpft sind. Auf diese Weise kann er anhand der Romane Dostojewskis eine metaphysische Ethik der Seelen entwickeln. Die Selbstverwirklichung der Seele ist das Motto von Lukács’ ersten literaturwissenschaftlichen Arbeiten.² Bei der Theorie des Romans handelt es sich um das letzte vor-marxistische Werk Lukács’. Im Dezember 1918 tritt er der Kommunistischen Partei Ungarns (KPU) bei. Doch er beschäftigt sich schon vor seiner Wende zum Marxismus mit Marx.³ 1912 kommt Lukács nach Heidelberg und pflegt Umgang mit Max Weber. Lukács verbindet mit Weber, dass dieser den Marxismus nicht einfach ablehnt, sondern versucht, seine Theorie mit marxistischen Elementen anzureichern. Dies entspricht Lukács, der die bürgerliche Gesellschaft kritisiert, aber die Parteinahme für die Arbeiterklasse ablehnt, da er nicht an gesellschaftliche Umwälzungen, sondern an kulturelle Erneuerungen glaubt. Lukács liest Marx vielmehr rein literarisch, da er als akademischer Intellektueller von der illegalen Arbeiterbewegung abgetrennt lebt.⁴ Jedoch ist Lukács bald entsetzt über seinen kriegsbegeisterten Mentor Weber, der den Krieg bei aller Scheußlichkeit doch „groß und wunderbar“⁵ findet. Schon in einem Brief an Paul Ernst äußert er seinen Unmut über den Militarismus, er erachtet die moderne allgemeine Wehrpflicht als „niederträchtigste Sklaverei“.⁶ Lukács drückt damit eine Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft aus – der Grund für seine Ablehnung liegt jedoch nicht im Pazifis-
Vgl. Lukács: Briefwechsel, Georg Lukács an Paul Ernst, 2. August 1915, S. 358. Vgl. Grunenberg: Bürger und Revolutionär, S. 23. Vgl. Lukács: Revolutionäres Denken, S. 27– 31. Vgl. Grunenberg: Bürger und Revolutionär, S. 24– 25. Marianne Weber: Max Weber, S. 530. Lukács: Briefwechsel, Georg Lukács an Paul Ernst, 4. Mai 1915, S. 352.
https://doi.org/10.1515/9783110536003-023
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mus, denn seine spätere Rolle in der ungarischen Räterepublik zeigt, dass er auch kämpferische Mittel zur Durchsetzung seiner politischen Ansichten befürwortet.⁷ Als Sohn eines Großbürgers handelt es sich bei seiner Ablehnung eher um eine Abrechnung mit der Herkunft, die nach seiner Wende zum Marxismus dann systematisch durchgeführt wird.⁸ Durch die zwei Phasen seiner Entwicklung – bürgerlicher Kulturkritiker und marxistischer Revolutionär – erscheint Lukács als ein Mitteleuropäer, der sich zuerst nach Westen und dann nach Osten orientiert. Seine Biographie ist durch und durch mitteleuropäisch geprägt: Er wurde in Budapest geboren, studierte in Ungarn und Deutschland, lebte nach 1918 in Wien, Berlin und Moskau, bis er nach dem zweiten Weltkrieg nach Budapest zurückkehren konnte. Sowohl geographisch als auch intellektuell bewegt sich Lukács am Rande der deutschen Kultur. Auch die Änderung des ungarischen Vornamens bei deutschen Publikationen („György“ zu „Georg“) war unter ungarischen Intellektuellen üblich und unterstreicht dies. Die politischen Grenzen am geographischen Gebiet von Mitteleuropa wurden um 1918 neu gezogen, was verdeutlicht, dass das Gebiet nicht stabil war. Wien, das als Zentrum Mitteleuropas angesehen werden konnte und wo Lukács 1919 Asyl fand, illustriert dies besonders: Wien war bis 1918 Hauptstadt der Habsburgermonarchie, nach 1918 eine Großstadt in einem fragmentierten Land, das nach der Ansicht der eigenen Bürger an Deutschland anzuschließen sei, was jedoch von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges vereitelt wurde. Auch die Nationalstaaten wie Polen oder Tschechien standen für sich und bildeten keineswegs eine mitteleuropäische Einheit mit definierter Identität. Dies war die Ausgangslage aufgrund derer sich Kulturtheoretiker wie Lukács berufen fühlen konnten, durch ihre Schriften identitätsstiftend einzugreifen.⁹ In der vorliegenden literaturwissenschaftlichen Untersuchung wird der frühe Lukács strikt vom späten Lukács getrennt. Der prämarxistische Lukács versucht die Möglichkeit einer utopischen Lösung für die Entfremdung, Isolation und Einsamkeit des modernen Menschen im Kunstwerk aufzuzeigen und zu verstehen. Das Dämonische als poetologische Romankategorie wird in der Theorie des Romans als Symptom dieser Entfremdung ausgewiesen. Er sieht die Möglichkeit einer Lösung bei Dostojewski angekündigt.¹⁰ Diese Lösung ist nur von Mitteleuropa aus zu verstehen: Lukács interessierte sich nacheinander für alle „Him-
Vgl. dazu Keller: Der junge Lukács, S. 159 und Fekete u. a.: Georg Lukács, S. 141. Ebenda, S. 6. Vgl. Kókai: Im Nebel, S. 222– 239. Vgl. Lukács: Theorie des Romans, S. 118. Im Folgenden im Text mit der Seitenzahl in Klammern zitiert.
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melsrichtungen“: für skandinavische Literatur, italienische Kunst, deutsche Philosophie und für russische Literatur.¹¹ Das Ziel der folgenden Untersuchung ist die Rekonstruktion der poetologischen Kategorie des Dämonischen im Roman des abstrakten Idealismus – kurz: die „Seelenverengerung“ – in Lukács’ Romantheorie. Sie wird illustriert anhand der Interpretation von Cervantes‘ Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, die Lukács unter metaphysischen Prämissen vollzieht, dabei aber psychiatrische Termini verwendet. Diesem Hinweis nachgehend wird der diskursive Kontext des Dämonischen in der von Freud geprägten Psychiatrie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet. Auf diese Weise wird ersichtlich, wie Lukács als Mitteleuropäer Denkfiguren aus der deutschen Philosophie und österreichischen Psychologie in das poetologische Konzept des Dämonischen einfließen und in einer Ethik münden lässt, die auf russischer Literatur – auf Dostojewskis Romanen – gründet, um auf eine utopische Lösung deuten zu können. 2015, d. h. zum hundertjährigen Jubiläum der Theorie des Romans, konnte ein ansteigendes Interesse wahrgenommen werden: So erschienen neue Darstellungen, darunter zwei Untersuchungen zum Dämonischen.¹² Das Interesse für Lukács’ Konzept des Dämonischen scheint ein Novum zu sein, ansonsten finden sich diesbezüglich bloß einzelne, allgemeine Sätze. Im Folgenden wird herausgestellt, dass es sich beim Dämonischen, im Sinne der gehaltsästhetischen Prämisse der Romantheorie, um eine inhaltliche Kategorie des Romans handelt, die sich auf seine Form auswirkt. Lukács weist im Vorwort¹³ der Romantheorie darauf hin, dass er die Dämonologie des späten Goethes eingebettet hat und dass ihr die geschichtsphilosophische Auffassung der Zusammengehörigkeit und Gegensätzlichkeit von Epopöe und Roman, wie Hegel sie in seinen Vorlesungen über die Ästhetik entworfen hat, zugrunde liegt (vgl. S. 10).¹⁴ Der erste Teil meiner Untersuchung soll in Lukács’
Kókai: Im Nebel, S. 239. Wetters: The Luciferian and the Demonic in Georg Lukács’ Die Theorie des Romans. – In: Friedrich u. a. (Hrsg.): Das Dämonische und Kalinowski: Das Dämonische in der Theorie des Romans. Die Lukács-Forschung erklärt dieses Vorwort allgemein als fragwürdig: es diene der „Selbstmystifikation Lukács’“ – (Hoeschen: Dostojewsky-Projekt, S. 5.), z. B. lässt er seine Entwicklung so erscheinen, als wäre sie direkt von Kant über Hegel zu Marx verlaufen (vgl. Lukács: Theorie des Romans, S. 8). In der Lukács-Forschung herrscht Uneinigkeit über den Einfluss der Hegelschen Philosophie auf Die Theorie des Romans. Hoeschen z. B. stellt Hegels Einfluss in Frage (vgl. Hoeschen: Dostojewsky-Projekt, S. 254). Wohingegen z. B. Szondi bemerkt, dass die Romantheorie ohne Hegels ästhetisches System „nicht denkbar“ sei (Szondi: Hegels Lehre von der Dichtung, S. 309). Lukács
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geschichtsphilosophisches Denken einführen. Im Hauptteil wird das Dämonische als poetologische Kategorie ausgewiesen. Lukács lokalisiert das Dämonische in der Psychologie der Romanfiguren und in der Ironie. Die „Seelenverengerung“ im Roman des abstrakten Idealismus bildet dabei den Hauptgegenstand.¹⁵ Im Zuge der Untersuchung werden die Gestaltungsfaktoren freigelegt, auf die das Dämonische als poetologische Kategorie Einfluss ausübt. Doch auch das Dämonische unterliegt einem Einfluss: Das Dämonische ist eine geschichtsphilosophische Kategorie, d. h. in seinen aufeinanderfolgenden Ausprägungen schlägt sich die Entwicklung des Geistes nieder.
2 Lukács’ geschichtsphilosophische Begründung der Gattung des Romans Lukács entwirft die Romantheorie als geschichtsphilosophische Ästhetik der epischen Poesie. Die Objektivationen der Epik werden hinsichtlich einer traditionell-dichotomischen Auffassung der Geschichte der Kunst systematisiert, sodass Lukács den geschichtlichen Übergang von antiker zu moderner Epik begründet. Wie Hegel entwirft er eine Gehaltsästhetik, nach der die Form der Kunst nicht unabhängig von ihrem Inhalt betrachtet werden kann, wobei der Inhalt bei Hegel die Idee ist.¹⁶ Lukács zufolge ist dies auf solche Weise nur für das griechische Epos der Fall, der Roman thematisiert die Idee, indem er ihre Abwesenheit verhandelt. Er begründet die Darstellung des Absoluten im Epos durch die dem Epos zugehörige Forderung der mimetischen Gestaltung: Das Epos soll das Leben abbilden, das in Form einer Totalität vorliegt, welche das Wesen oder das Transzendente beinhaltet. Im Gegensatz zu Hegels affirmativen These des „Vergangenheitscharakters“¹⁷ der Kunst zugunsten der höheren Selbsterfassung des absoluten Geistes in der Weise der religiösen Vorstellung und des spekulativen
verwendet typisch Hegelsche Termini, die aber nicht leichtfertig substituiert werden dürfen, da sie Lukács im Gegensatz zu Hegel nicht systematisch fundiert. Für eine Gegenüberstellung der ästhetischen Theorien vgl. Hebing: Unversöhnbarkeit. Die Figuren der nachfolgenden Desillusionsromantik weisen eine „breiter[e] Seele“ (vgl. Lukács: Theorie des Romans, S. 86) auf. Obwohl Lukács sowohl die „Seelenverengerung“ als auch die „Seelenverbreiterung“ mit dem Begriff des Dämonischen verknüpft (ebenda, S. 73), verwendet er ihn nicht mehr bei der Untersuchung der Desillusionsromantik. Dies ist der Grund, warum ich mich auf die „Seelenverengerung“ konzentriere, in deren Abhandlung das Dämonische eine zentrale Rolle spielt. Vgl. dazu Düsing: Idealität und Geschichtlichkeit, S. 319. Kuhn: Die Vollendung der klassischen deutschen Aesthetik, S. 112.
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Denkens ist in Lukács’ Deutung die philosophische Reflexion das Moment, das die gottlose Zeit der transzendentalen Obdach- oder Heimatlosigkeit einläutet (vgl. S. 30). Diese kann der Roman adäquat darstellen (vgl. S. 68). Den Fortschritt des Geschichtsverlaufs macht Lukács im Trennungsprozess von Leben und Wesen fest: Im griechischen Kosmos bilden sie eine Einheit, in der Moderne sind sie getrennt. Dies korreliert mit dem Wandel des Geistes, als dessen Ausdruck die Objektivationen der Epik zu erfassen sind (vgl. S. 43). Kraft der philosophischen Reflexion ist das Subjekt für sich selbst zum Objekt geworden, wodurch das Wesen als Jenseitiges erscheint. Durch Spaltung der Subjekt-Objekt-Einheit wird die Welt heterogen und der Mensch ein einsames, providenziell ungesichertes Individuum (vgl. S. 25 – 27). Da die Seele die Sinnesimmanenz nicht mehr wahrnimmt, ist die Welt nicht mehr ihre Heimat (vgl. S. 78). In der äußeren Welt ist jede Sinnsuche vergebens, denn sie ist zu einer „Welt der Konventionen“ geworden, in der man ein wesenloses Leben führt (S. 116). In der Moderne ist die mimetische Kunst zunächst mit der Undarstellbarkeit des gegebenen Lebens als Totalität konfrontiert (vgl. S. 61). In biographischer Form stellt der Roman das problematische Individuum dar, das aufgrund der Fremdheit zur Außenwelt entsteht (vgl. S. 51). Das Wesen der Außenwelt ist nicht mehr in Bezug auf die Ideen angelegt. So werden sie im Menschen zu subjektiven seelischen Tatsachen, zu einzelnen Idealen,¹⁸ die nur noch in der Innerlichkeit realisiert werden können. Auf diese Weise werden die Ideen als unerreichbar und unwirklich gesetzt (vgl. S. 60 – 61). Diese Setzung zerreißt die Individualität, weil sie das, was ihr wesentlich ist, „zwar in sich, aber […] als zu Suchendes vorfindet“ (S. 60). Daher objektiviert sich das Suchen als Psychologie der Romanhelden: Sie sind Suchende (vgl. S. 46). Die Heterogenität zwischen wesenloser Welt und idealbelasteter Seele schafft ein Bedürfnis nach betonter Beziehung zum Ideensystem: Die Wirklichkeit muss entweder zu der Innerlichkeit der Figuren oder zum schöpferischen Blick des Dichters in Beziehung gebracht werden können (vgl. S. 60 – 62). Durch seine Beziehung zum Ideal realisiert sich im transzendental orientierungslosen Individuum aber noch etwas, was als treibende Bewegungskraft zum Ideal hervortritt. Diese Kraft bezeichnet Lukács als das Dämonische.
Lukács benutzt den Terminus „Ideal“ nach kantischer Definition, als die Idee „in individuo, d.i. als ein einzelnes, durch die Idee allein bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding“. Kant: Kritik der reinen Vernunft, A568/B596.
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3 Das Dämonische in Lukács’ Theorie des Romans 3.1 Kontexte seines Dämoniebegriffs Der Begriff des Dämonischen hat seinen Ursprung im griechischen daimon, Homer verwendet daimones als Synonym für die Götter.¹⁹ In der griechischen Philosophie bezeichnet das daimonion den göttlichen Teil im Menschen.²⁰ Erst in der christlichen Lehre werden die heidnischen Götter zu bösen Dämonen erklärt.²¹ Man kann die Dämonen im Sinne der Blumenbergschen „Inversion“²² als Figuren der Verkehrung verstehen,²³ d. h. gegebene Glaubensbestände (hier: der Götterhimmel) werden innerhalb der eigenen Lehre (hier: das monotheistische Christentum) umgedeutet. In den Philologien wird der Diskurs des Dämonischen von Goethe initiiert.²⁴ Im Verlauf des Diskurses werden entgegengesetzte Wirkungsbereiche mit dem Dämonischen assoziiert: Mal wird ihm eine geniale, schöpferische Kraft zugesprochen, mal wird sein Zerstörungspotential betont.²⁵ Friedrich, Geulen und Wetters beobachten, dass stets Modelle für den Umgang mit Kontingenz entworfen werden, um das Dämonische zu ergründen,²⁶ wie schon in Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit. In der Romantheorie verweist Lukács explizit auf die Dämonologie Goethes (vgl. S. 67), der zufolge das Dämonische durch die Vereinigung konträrer Bestimmungen gekennzeichnet ist: Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht engelisch, denn es ließ oft Schadenfreude merken. Es glich dem Zufall, denn es bewies keine Folge, es ähnelte der Vorsehung, denn es deutete auf Zusammenhang. Alles, was uns begrenzt, schien für dasselbe durchdringbar, es schien mit den notwendigen Elementen unsres Daseins willkürlich zu
Vgl. Homer: Ilias, v. 222. Doch schon bei Platon unterliegt der Begriff einer Mehrdeutigkeit, vgl. Friedrich, Geulen und Wetters: Einleitung. Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien. – In: dies. (Hrsg.): Das Dämonische, S. 11. Vgl. Lurker: Lexikon der Götter und Dämonen, S. 78. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 202. Vgl. Friedrich, Geulen und Wetters: Einleitung. Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien. – In: dies. (Hrsg.): Das Dämonische, S. 14– 15. Zu Goethes Dämonologie vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 433 – 604. Zum Dämoniebegriff vgl. Tillich: Das Dämonische. Vgl. Friedrich, Geulen und Wetters: Einleitung. Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien. – In: dies. (Hrsg.): Das Dämonische, S. 17.
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schalten, es zog die Zeit zusammen und dehnte den Raum aus. Nur im Unmöglichen schien es sich zu gefallen und das Mögliche mit Verachtung von sich zu stoßen.²⁷
Vermeintliche Eigenschaften des Dämonischen werden als bloß scheinbare enthüllt, wodurch das Dämonische nicht zu begreifen ist. Jedoch erweist sich so die Zweideutigkeit als seine primäre Qualität. Das willkürliche Moment verweist auf Kontingenz, wobei der Dämon dennoch auf Zusammenhang deutet. Des Weiteren betitelt Goethe Napoleon als dämonisches Individuum.²⁸ Blumenberg zufolge wage Goethe es nicht, Napoleon moralisch zu bewerten, weshalb er ihn im „ästhetische[n] Zwischenreich“ verorte.²⁹ Dort kann das Dämonische auch seine grotesk-komische Seite entfalten.³⁰ Das Groteske als ästhetisches Wertprädikat wird auch in Lukács’ Konzeption des Dämonischen eine Schlüsselrolle spielen.
3.2 Die Genesis des Dämonischen Lukács verortet das Dämonische in der Subjektivität, d. h. in der Psychologie der Helden und in der Ironie, da die Psychologie das Wirksamkeitsgebiet des Dämonischen ist (vgl. S. 70 – 72). Da vorher konstatiert worden ist, dass die „Suche“ sich in der Psychologie des Helden niederschlägt, entsteht eine Verbindung zwischen dem Dämonischen und der Suche. Das Dämonische wirkt erst in der Zeit der transzendentalen Obdachlosigkeit. Sollte ein Dämon „überhaupt“ im Epos auftreten, unterliegt er (im mythologischen Sinne) den Göttern (S. 68). Lukács versteht den mythologischen Dämon als Chaosmacht, die der Sinnesimmanenz entgegengesetzt ist, jedoch aufgrund ihres Gegebenseins machtlos ist. Da im griechischen Kosmos Innen und Außen nicht voneinander getrennt sind und es demnach „noch keine Innerlichkeit“ gibt (S. 21), erscheinen Dämonen im Außen. Die Gestaltung ihrer Niederlage dient dem Hervortreten der Sinnesimmanenz.
Goethe: Dichtung und Wahrheit – Werke (Hamburger Ausgabe), Bd. 10, S. 175. Für einen Vergleich von Lukács’ und Goethes Konzeptionen vgl. Wetters: The Luciferian and the Demonic in Georg Lukács’ Die Theorie des Romans. – In: Friedrich u. a. (Hrsg.): Das Dämonische, S. 253 – 266. Gespräch mit Eckermann vom 2. März 1831 – Goethe: Gespräche, Bd. 8, S. 37– 38. Zur Deutung Napoleons vgl. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 504– 566. Ebenda, S. 521. Trotz Napoleons Gräueltaten bleibt das Dämonische „eine gegenüber dem Moralischen exotische Kategorie.“ (Ebenda) In diesem Punkt geht Tillich d’accord, vgl. Tillich: Das Dämonische, S. 20. Vgl. Friedrich, Geulen und Wetters: Einleitung. Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien. – In: dies. (Hrsg.): Das Dämonische, S. 20.
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In der kontingenten Romanwelt erfolgt keine Substitution der alten Götter durch Dämonen, es handelt sich eher um modifizierte Götter, denen nach wie vor die Potenz ihrer Realisierung zukommt. Es scheint sich nicht um das Vergangensein Gottes, sondern um ein Prozessuales zu handeln: Solange Gott im Verschwinden begriffen ist, ist die Kraft des Dämons unaufhebbar (vgl. S. 67). Jedoch ist die Vorstellung, Gott sei noch nicht aus der Welt entwichen, selbst schon dämonisch (s.u.). Der prozessuale Charakter drückt aus, dass beim gegenwärtigen Stand des Geistes die Abwesenheit Gottes erfahren werden kann: Solange Bedeutung als Einsicht in ihren Verlust gegenwärtig ist,³¹ bleibt die Bedingung der Möglichkeit der Realisierung des Dämonischen erhalten. Man könnte meinen, Gott und Dämon seien zwei Hypostasen der Idee, bloß zu verschiedenen Stufen der Geschichte des Selbstbewusstseins. In dieser Arbeit wird die sinnstiftende Funktion der Idee als einheitsstiftendes Prinzip gedeutet. Kalinowski hingegen geht von einem subjektiven Gottesbild aus und setzt es mit dem erlebten Ideal gleich: Das Dämonische sei Lukács’ Chiffre für das moderne Gottesbild und der Dämon „das erlebte Ideal“.³² Jedoch stellt der Dämon, indem er die Seele verengt, nur die Bedingung für das Erleben des Ideals dar (s.u.). Was Kalinowski zu ihrer These bewegt, ist die Inversion des Dämons: Er ist Gott zum Verwechseln ähnlich und maßt sich an seine Rolle zu spielen (vgl. S. 78).³³ Die wesentliche Eigenschaft des Dämons ist, wie die Idee zu erscheinen, wobei er die Suche nach ihr ausdrückt und so als Symptom ihres Vergangenseins zu werten ist. Der erfahrene Sinn im Erleben des Ideals stellt sich als Stufe in einem Stufengang heraus, den die Helden und die Ironie betreten. Doch nur Letztere geht diesen Weg zu Ende: der Subjektivität ihrer Erkenntnis des Sinnes als Sinnlosigkeit bewusst hebt sie sich selbst auf (vgl. S. 58). Die Forderung nach der Idee trägt der Held (vgl. S. 90). Die „Verengerung der Seele“ erweist sich als seine Strategie der Idee Gegenwärtigkeit zu verschaffen.
Vgl. Moretti: Ein Rückblick auf die Theorie des Romans, S. N3. Kalinowski: Das Dämonische in der Theorie des Romans, S. 105, 179 – 182. Kalinowski untersucht die metaphysische Funktion des Dämonischen unter Ausklammerung seines poetologischen Effektes. Darauf weisen bereits Friedrich, Geulen und Wetters hin – vgl. Friedrich, Geulen und Wetters: Einleitung. Dämonen, Dämonologien und Dämonisches: Machtkämpfe, Verteilungsstrategien. – In: dies. (Hrsg.): Das Dämonische, S. 21.
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3.3 Die „Verengerung der Seele“ Der zweite Teil der Theorie des Romans wird mit der Abhandlung des Dämonischen im Roman des abstrakten Idealismus eingeleitet. Die Epochenbezeichnung leitet sich von der gestalteten Gesinnung des Romantypus ab: Der Held geht vom Gegebensein der Idee aus, wobei diese nur noch als Gedankending vorliegt.³⁴ Die „verengte Seele“ negiert die Sinnverlassenheit der Welt schlicht, die dämonische Seele ist daher „schmäler“ als die Welt (S. 73), was auf den Grad ihrer Unangemessenheit deutet. Der Dämon der „verengten Seele“ versucht das Ideal direkt und „ganz gerade“ zu verwirklichen, darüber wird der Abstand zwischen Ideal und Idee und derjenige zwischen Seele und Psyche vergessen. Die Problematik des Heldentypus liegt also in der mangelnden Fähigkeit, „Abstände als Wirklichkeiten zu erleben“, weshalb er „aus dem Sollen der Idee“ fälschlich auf ihre „notwendige Existenz“ schließt (ebenda). Es handelt sich demnach bei der Dämonie der „Verengerung der Seele“ um einen Sein-Sollen-Fehlschluss. Wie das zu verstehen ist, wird am aktiven Dämon Don Quijotes demonstriert.³⁵
3.3.1 Die Dämonie der reinen Aktivität Die prototypische „Seelenverengerung“ ist diejenige Don Quijotes. Sein Ideal ist das Rittertum, jedoch ist der christliche Glaube, auf dem es fußt, überkommen. Das Ideal bezieht sich auf den christlichen Gott, der in Zeiten der transzendentalen Obdachlosigkeit notwendig ein Dämon geworden ist. Don Quijotes Dämonie ist das Fehlen einer inneren Problematik: Ohne dass die Idee gegeben ist, erreicht die Seele für sich das transzendente Sein. Daher gibt es keinen Moment der Selbstreflexion, Don Quijote ist entwicklungsunfähig. Seine auf das Ideal konzentrierte Innerlichkeit realisiert sich in spontanem und ideologischem Handeln, was seine Seele in reine Aktivität verwandelt. Durch seine Handlungen wird aktiv, jedoch nicht wesentlich, auf die Welt eingewirkt, was der Grund der Abenteuer ist und die Romanhandlung vorantreibt (vgl. S. 73 – 84).
Kalinowski stellt deswegen für den abstrakten Idealismus die Philosophie Kants als „Parallelobjektivation“ heraus – Kalinowski: Das Dämonische in der Theorie des Romans, S. 188. Kant geht davon aus, dass Erkenntnis im subjektiven Denken verankert und die Vernunftidee als solche daher transzendent und an sich unerkennbar ist (vgl. Kant: Kritik der reinen Vernuft, z. B. A312/ B368–A313/B369 oder A327/B383–A328/B385). Für eine Interpretation von Cervantes’ Roman unter dem Aspekt des Dämonischen vgl. Kalinowski: Das Dämonische in der Theorie des Romans, S. 185 – 203.
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Don Quijote negiert deutlich die Evidenz der Gottverlassenheit der Welt, er verkennt ihr modernes prosaisches Wesen. Daher wird jede seiner vermeintlichen Berührungen mit der Welt als groteskes Vorbeihandeln, Aufeinanderprallen und Missverstehen dargestellt (vgl. S. 74).³⁶ Die Einsicht in den bloß normativen Charakter der Angemessenheit zwischen Ich und Welt veranlasst die Ironie zur grotesken Gestaltung dieser Unangemessenheit, um auf die Kritikfähigkeit der Welt hinzuweisen. Die „Seelenverengerung“ verhilft Don Quijote zu einer subjektiven Sinnstiftung in einer sinnentbehrenden Welt. Die „Verengerung der Seele“ verschränkt Lukács mehrmals mit dem Wahnsinn. Die inadäquaten Abenteuer haben bloß für die eigene „maniakalische“ (manische oder tobsüchtige) Abgesperrtheit der Seele keine widerlegende Kraft. Die Erhabenheit der Seele wird so zur „Monomanie“ (vgl. S. 75 – 81), zu einer isolierten, partiellen psychischen Störung umgedeutet. Die Erhabenheit Don Quijotes, die einen Bezug zu der Idee hat, wird von der Ironie als Wahnsinn herausgestellt, um auf das Vergangensein der Idee zu verweisen. Das Dämonische und die Monomanie sind veraltete Begriffe des psychiatrischen Diskurses. So schreibt Dietrich, dass es in der alten Psychiatrie eine Gruppe psychischer Störungen gebe, bei denen das Dämonische zutage tritt: die Monomanien. Er charakterisiert sie ähnlich wie Lukács, z. B. dass manische Lebensweisen aufgrund von Vereinsamung oder der Eintönigkeit des Denkens entstünden. Auf der einen Seite steigere die der Monomanie inhärente Leidenschaft das Selbstgefühl, ihre andere, negative Seite sei die zerstörerische. Dieser Zerstörungstrieb wurde Dämonismus genannt.³⁷ Auch Freud beschreibt, wie sich Verdrängungen im dämonischen Wiederholungszwang von Handlungen äußern.³⁸ Dieser unreflektierte und Schaden bereitende Wiederholungszwang kann mit Don Quijotes aktivem Dämon verglichen werden. Dass Lukács dafür psychiatrische Termini verwendet, deutet auf die „Seelenverengerung“ als gestaltete psychopathologische Erscheinung. Einige Jahre nach der Theorie des Romans diskutiert auch Tillich, so wie Lukács, das Dämonische unter metaphysischen Prämissen, doch darüber hinaus auch als organisch begründete Krankheit: „Es ist der Zustand der ‚Besessenheit‘, durch den sich die Dämonie im Persönlichen verwirklicht. […] Die Besessenheit ist der Angriff auf die Einheit und Freiheit, auf das Zentrum des Persönlichen. Be-
Die These von Friedrich, Geulen und Wetters bestätigt sich, dass ein dämonisches Individuum die grotesk-komische Seite eines Kunstwerks entfalten kann. Vgl. Dietrich: Manie, Monomanie, S. 3 – 19. Vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips, S. 18, 36. Freud führt den Dämonismus auf den selbstständigen „Todestrieb“ zurück, der jedem Lebensprozess inhärent sei (Freud: Neue Folge der Vorlesungen, S. 114).
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wußtseinsspaltung hat von jeher als Zeichen der Besessenheit gegolten.“³⁹ Das Dämonische bricht aus dem Unbewussten hervor und ist dort anschaubar, wo die Ichzerspaltung ekstatischen, in aller Zerstörung schöpferischen Charakter hat.⁴⁰ Auch Lukács deutet das Dämonische als geistigen Angriff auf die synthetische Einheit der geistigen Persönlichkeit: Der monomanische Dämon, der Teile der Seele besetzt, hat die Kraft die besessenen Teile von den nicht besessenen zu trennen. Diese inhaltliche Komponente schlägt sich auf formaler Ebene des Romans nieder: Don Quijotes Seelenstruktur atomisiert die mögliche Handlungsmasse zu einer Reihe von singulären Abenteuern. So wie sich die Seele in Handlung entäußert, spiegelt sich also ihre Struktur in der Struktur der Entäußerung wider. Die Wirklichkeit bleibt jedoch eine formlose und sinnlose Masse, aus der die „dämonische Abenteuerlust“ des Helden willkürlich Momente auswählt, an denen sie sich bewähren will (S. 76). Aufgrund der eingebildeten Einheit des geistigen und sinnlichen Daseins steht dem Besessenen dafür die Wirklichkeit zur Verfügung. Das Dämonische wird als geschichtsphilosophische Kategorie ausgewiesen: „Es ist die Periode der freigelassenen Dämonie, die Periode der großen Verwirrung der Werte bei noch bestehendem Wertsystem.“ (S. 79) Der Wahnsinn ist dabei eine Objektivation der Heimatlosigkeit einer Seele im konventionellen „Wertsystem“ (S. 47). Der Wahnsinn kann erst im Roman auf die Inadäquatheit von Seele und Welt deuten, da im Epos alle Äußerungen des Wahnsinns enthüllbare Zeichen der Transzendenz sind (vgl. S. 21). Dort werden alle vermeintlichen Verwirrungen am Ende aufgelöst, wodurch sie sich als sinnvoll erweisen.⁴¹ Erst im Werk Dostojewskis, „der erneuerten Form der Epopöe“ (S. 118), wird sich die Dämonie erneut als sinnvoll erweisen,⁴² da die Helden sich ihre eigene Entfremdung und Isolation sowie die der anderen eingestehen und vergeben, wodurch eine neue Form von Gemeinschaft entsteht.⁴³ Auf der geschichtsphilosophischen Stufe, die den Roman hervorbringt, sind die Helden jedoch noch nicht so weit. Mithilfe der dämonischen „Seelenverengerung“ kann aber innerhalb des Romans auf seine Providenz/Kontingenz-Problematik verwiesen werden, die Lukács mit dem Grotesken als ästhetisches Wertprädikat und den diskursiven Kontext der Psychiatrie
Tillich: Das Dämonische, S. 13. Vgl. ebenda, S. 15 – 16. Zur Geschichte des Wahnsinns vgl. ferner Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Zum Wahnsinn als einer der sich darstellenden Momente der Vernunft vgl. z. B. ebenda, S. 55. Lukács schreibt in den Dostojewski Notizen (6. Notiz): „D: die Daemonie hat Sinn bekommen.“ (Lukács: Dostojewski Notizen, S. 58) In den Dostojewski Notizen ist „D“ die Abkürzung für Dostojewski. Vgl. Hoeschen: Das Dostojewsky-Projekt, S. 273.
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verknüpft, wodurch sich seine Dämonologie von derjenigen Goethes emanzipiert. Lukács definiert das Dämonische als poetologische Kategorie insofern neu, als es auf die zerrissene Seele deutet, die getrieben von dem Wunsch nach Heimat, Zugehörigkeit und Sinnhaftigkeit in einer Welt, deren „Wertsystem“ nicht mit dem eigenen übereinstimmt, nur dem Wahnsinn verfallen kann. Lukács, der als Mitteleuropäer zwischen den Fronten der Großmächte steht, erahnt die Lösung im Osten, Jahre bevor er zum führenden marxistischen Intellektuellen Ungarns wird. Für den Autor der Theorie des Romans heißt dies jedoch vorerst nur: im Werk Dostojewskis.
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Im Verhältnis zur fast schon barocken Länge des Titels dieses Sammelbandes Mitteleuropa denken: Intellektuelle, Identitäten und Ideen. Der Kulturraum Mitteleuropa im 20 und 21. Jahrhundert nimmt sich der Titel meines Beitrags karg aus. Außerdem verspricht er so gar keine neuen Erkenntnisse: Franz Kafka war nun einmal kein Neufundländer oder Chinese, sondern, wie man allzu gut weiß, Prager, somit Böhme, und Staatsangehöriger zunächst der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, dann der Ersten Tschechoslowakischen Republik – also Europäer, genauer: Mitteleuropäer. Gerade die immer wieder hervorgehobene Fixierung Franz Kafkas auf Prag stellt aber zumindest einen Anfangsverdacht dar, warum es doch produktiv sein kann, ihn in einen größeren und das heißt gesamteuropäischen Kontext zu stellen. Allerdings bleibt es in der Forschung meist bei der Beschwörung Kafkas inmitten eines mythischen, magischen etc. Prags, das zu seinen Texten so gut zu passen scheint. Kafka hat dieser Verbindung selbst vorgearbeitet – etwa wenn er in einem Brief an Oskar Pollak Ende 1902 schrieb: „Prag läßt nicht los. […] Dieses Mütterchen hat Krallen. Da muß man sich fügen oder –. An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vyšehrad und am Hradschin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen.“¹ Und so heißt es denn auch etwa im wikipedia-Eintrag zu Kafka: „Kafka verbrachte den Hauptteil seines Lebens in Prag“² oder auf einer LernPlattform von Zeit-Online: „Die Kulturstadt Prag wird zeitlebens Kafkas Lebensmittelpunkt darstellen.“³ Gelegentlich liest man, wie etwa in einer Rezension zum dritten Band von Reiner Stachs Kafka-Biographie, in dieser Hinsicht auch baren Unsinn, nämlich dass er „letztendlich die meiste Zeit seines kurzen […] Lebens in der Alchimistengasse auf dem Prager Hradschin zurückgezogen verbrachte“⁴, wobei er dort tatsächlich nur ein paar Monate in den Jahren 1916 und 1917 wohnte und arbeitete. Angesichts Kafkas kann es offensichtlich nicht skurril und befremdlich genug zugehen und kommt die Wirklichkeit oftmals gegen die Phantasien von Journalisten (aber auch Wissenschaftlern) nicht an. Aus Kafkas vermeintlich ausschließlicher Fixierung auf Prag hat die Forschung allerdings keine weiterführenden Erkenntnisse abzuleiten vermocht, weil allzu viele ‚Kafkologen‘ allzu wenig von den kulturellen – oder um genauer zu
Kafka: Briefe 1900 – 1912, S. 17. Wikipedia-Artikel zu Franz Kafka. Murrenhoff: Franz Kafka (1883 – 1924): Ein Rätsel, das immer modern bleibt. Neubert: Kafkas ewiges Geheimnis.
https://doi.org/10.1515/9783110536003-024
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sein: interkulturellen – Besonderheiten Prags und der Böhmischen Länder zu Kafkas Lebzeiten wissen, was wiederum auf die besondere Rezeptionsgeschichte des Kafkaschen Oeuvres zurückzuführen ist. Diese haben Manfred Engel und Bernd Auerochs im Vorwort zu ihrem Kafka-Handbuch von 2010 dahingehend resümiert, dass die „Erfolgsgeschichte des Autors Kafka bei einer breiteren Lesergemeinde […] im angloamerikanischen und französischen Sprachraum schon in den 1930er und 1940er Jahren“ begonnen habe, sich „in Deutschland und Österreich bald nach 1945“ fortsetzte und „in den Staaten des Ostblocks erst ab den 1980er Jahren einsetzte“⁵. Dass es eine Rezeption Kafkas im sogenannten Ostblock erst „ab den 1980er Jahren“ gab, ist dabei eine der vielen Fehlinformationen, die sich auch in Kafka-Handbüchern finden.⁶ Für diesen Beitrag wichtiger ist die kurze Geschichte der Kafka-Rezeption, die Engel und Auerochs erzählen: Zum Erfolgsautor wurde Kafka zunächst in den USA und in Frankreich, dann erst im deutschsprachigen Gebiet. Es liegt sozusagen auf der Hand, dass amerikanische, französische und deutsche Leser wie Forscher sehr wenig von der spezifischen Interkulturalität Prags der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts wussten (und in der Tat auch heute noch wissen). Man kann von daher festhalten, dass die Rezeption wohl keines anderen Autors der Weltliteratur derart abgekoppelt von den sozialen und kulturellen Kontexten, in denen er seine Texte verfasste, erfolgte. Immerhin versprach die Konferenz Franz Kafka aus Prager Sicht ⁷, die 1963 auf Schloss Liblice in der Nähe von Prag stattfand, in diesem Punkt Abhilfe. Tatsächlich haben sich auf dieser Konferenz aber ‚nur‘ Marxisten aus dem gesamten ‚Ostblock‘ darüber zu verständigen versucht, ob Kafka für einen Kommunisten überhaupt ein lesenswerter Autor sei. Wäre am Ende der Tagung darüber abgestimmt worden, man kann sicher sein, dass die Vertreter des Standpunkts, bei Kafka handele es sich um einen bourgeoisen, dekadenten Autor ohne jegliches Klassenbewusstsein, der deshalb Kommunisten nun einmal nichts zu sagen habe und dessen Texte von daher ihrerseits besser ungelesen blieben, einen klaren Sieg davongetragen hätten.
Engel, Auerochs: Vorwort. – In: Engel, Auerochs: Kafka-Handbuch, S. XIII–XVI, hier S. XIII. Vgl. demgegenüber die folgenden Ausführungen in Höhne, Udolph (Hrsg.): Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung: Anne Hultsch: Kafka-Rezeption in der ČSR bis 1957, S. 13 – 60; Marek Nekula zur „[t]schechoslowakische[n] Kafka-Rezeption“, S. 61– 91; Udolph: Die literaturwissenschaftliche Rezeption Franz Kafkas in der Sowjetunion, S. 165 – 186 sowie Christian Prunitsch: Zur Kafka-Rezeption in Polen, S. 187– 197. Goldstücker, Kautman, Reimann (Hrsg.): Franz Kafka aus Prager Sicht 1963. Vgl. Weinberg: Die versäumte Suche nach einer verlorenen Zeit. – In: Höhne, Udolph (Hrsg.): Franz Kafka, S. 209 – 235.
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Auf der zweiten sogenannten Weltfreunde-Konferenz⁸ in Liblice zur gesamten Prager deutschen Literatur von 1965 ist dann versucht worden, diese dadurch zu einem möglichen Gegenstand der Forschung in Zeiten des real existierenden Sozialismus zu machen, dass man deren Autoren durchgängig zu Humanisten erklärte. Zur Verstärkung dieses Bilds hat man ihnen kurzerhand die vermeintlich allesamt chauvinistischen, nationalistischen, antisemitischen, gar präfaschistischen sudetendeutschen Autoren gegenüberstellt. Dem gleichen Zweck diente auch die Übernahme der Formel von Pavel Eisner, dass die Autoren der ‚Prager deutschen Literatur‘ in einem ‚dreifachen Ghetto‘⁹ gelebt hätten – als Juden unter Christen, Deutsche unter Tschechen, sozial Höhergestellte unter sozial niedriger Gestellten –, weil man sie aufgrund ihrer umfangreichen Übersetzungstätigkeit so als interkulturelle Brückenbauer¹⁰ zwischen den eigentlich ghettohaft voneinander abgegrenzten Tschechen und Deutschen verstehen konnte. So wurde auch das Bild des isolierten Kafkas zementiert. Die Journalistin Judita Matyášová fasste im Jahr 2016 mit Mitstreitern den Plan, in Zürau, tschechisch: Siřem, einem Ort ca. 80 Kilometer nordwestlich von Prag, ein Kafka-Museum zu gründen, weil dort im Wesentlichen alles noch so sei wie zu Kafkas Zeiten.¹¹ In diesem Ort hat Kafka von September 1917 bis April 1918 in der Nähe seiner Schwester Ottla, die dort auf einem Familienbetrieb geholfen hat, gelebt und von dieser Zeit in einem Brief an Milena Jesenská als der besten seines Lebens geschrieben.¹² Zum Plan, das Museum ausgerechnet dem reisenden Kafka zu widmen, sagte Matyášová: „Ich habe selbst lange gedacht, dass Kafka die meiste Zeit in Prag war, höchstens mal in Wien oder Berlin.“ Aber: „Er ist nicht nur hier im Land gereist, sondern zum Beispiel auch nach Frankreich und Italien.“ So hat sie sich gemeinsam mit dem Fotografen Jan Jindra auf die Spuren des Schriftstellers begeben:
Vgl. Goldstücker (Hrsg.): Weltfreunde sowie Weinberg: Die Geburt der „Prager deutschen Literatur“ aus der Dichotomie Zentrum – Peripherie. Vgl. Eisner: Německá literatura na půdě Československé republiky. Vgl. Weinberg: Übersetzen in Mitteleuropa. Das Museum wurde am 19. August 2017 eröffnet. Vgl. Bućan: Kafkas Leben und Reisen. Kafka schrieb in einem Brief an Milena Jesenska, sich selbst in der zweiten Person ansprechend: „Denke auch daran, dass vielleicht die beste Zeit Deines Lebens, von der Du eigentlich noch zu niemandem richtig gesprochen hast, vor etwa 2 Jahren jene 8 Monate auf einem Dorf gewesen sind, wo Du mit allem abgeschlossen zu haben glaubtest, Dich nur auf das Zweifellose in Dir beschränktest, frei warst, ohne Briefe, ohne die 5 jährige Postverbindung mit Berlin, im Schutz Deiner Krankheit und dabei gar nicht viel an Dir verändern sondern nur die alten engen Umrisse Deines Wesens fester nachziehn mußtest (im Gesicht unter den grauen Haaren hast Du Dich ja kaum verändert seit Deinem 6ten Jahr).“ Kafka: Briefe an Milena, S. 36.
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Das hat mir einen ganz anderen, vielseitig interessierten Kafka eröffnet. An jedem dieser Orte – insgesamt waren es 70 in ganz Europa – habe ich einen örtlichen Archivar oder Forscher gesucht, der mir etwas über diesen Ort erzählt hat. Also, nicht nur, dass Kafka dort war, sondern was an diesem Ort besonders ist – warum Menschen dort hingefahren sind, und warum möglicherweise auch Kafka sich dieses Ziel ausgesucht hat.¹³
Kafka war in Dänemark, in Oberitalien, in der Schweiz, schwamm im Gardasee und im Lago Maggiore und fuhr auf Schweizer Berge. Paris besuchte er gleich zweimal, Wien immer wieder; den letzten Winter seines Lebens verbrachte er in Berlin. Das Bild vom auf Prag fixierten Kafka ist also ein weiteres Missverständnis bezüglich dieses Autors; tatsächlich hat er sich durchaus in Europa ‚herumgetrieben‘. Man kann gleich anfügen, dass er sich natürlich mit den in den Prager Kaffeehäusern ausliegenden internationalen Zeitungen und Zeitschriften auch in Prag lesend ein Bild des ihm zeitgenössischen Europas machen konnte und gemacht hat. Ein großer weißer Fleck der Forschung zur Kultur der Böhmischen Länder sind zudem die Theateraufführungen sowie Vortragsveranstaltungen und -reihen, die oft außer in Prag und weiteren tschechischen Städten eben auch in anderen europäischen Metropolen stattfanden und von denen Kafka so einige besucht hat. Nicht zu vergessen, die Tingeltangel- und Kabarett-Abende, die Kafka so liebte, was selbst dem Kafka-Biographen Reiner Stach offenbar eher unangenehm ist. Man liest bei ihm: „Gerade in solchen – häufig genug dubiosen – Grenzbereichen von Kunst und Show scheint sich Kafka […] außerordentlich wohl gefühlt zu haben“¹⁴, woraufhin Stach diesen Punkt aber rasch hinter sich lässt. Auch diese Abende wurden oft von durch Europa wandernden Gruppen veranstaltet, wovon sich ein Reflex in Kafkas Erzählung Der Hungerkünstler findet, in der es heißt: „Noch einmal jagte der Impressario mit ihm durch halb Europa“¹⁵. Somit gilt, dass auch der in Prag befindliche Kafka selbstverständlich an ein gesamteuropäisches Netz der Kultur und Kommunikation angeschlossen war. Mit diesem korrigierten Kafka-Bild komme ich auf seine angeblich ausschließliche Fixierung auf Prag zurück – und verweise auf ein Detail, dass zunächst meiner These zu widersprechen scheint. Hartmut Binder hat in seiner Studie Kafkas Wien ausgeführt, dass es im ‚Studienbuch‘ Kafkas an der „k.k. CarlFerdinands-Universität in Prag“ neben Angaben zu „Geburtsort, Geburtsdaten, Religion“ auch die Rubrik „Vaterland“ gab,
Kraus: Kafka macht Ferien – und kehrt zurück nach Zürau [Interview mit Judita Matyášová]. Stach: Kafka. Die frühen Jahre, S. 368. Kafka, Franz: Der Hungerkünstler – Schriften, Tagebücher 1: Drucke zu Lebzeiten, S. 333 – 349, hier S. 342.
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die von Kafka recht nachlässig ausgefüllt wurde. Denn als Vaterland erscheint hier nicht etwa Österreich oder Österreich-Ungarn, sondern, und zwar in ganz und gar willkürlicher Abfolge, Böhmen, Prag (2., 3. und 7. Semester), Österreich, Prag (4., 5. und 6. Semester) oder Prag, Böhmen (8. Semester), einmal auch nur Böhmen (1. Semester). Ähnlich verhielt sich Max Brod, der Prag, Böhmen oder einfach Prag eintrug¹⁶.
Auf die verwaltungstechnische Frage nach dem „Vaterland“ antwortete Kafka – wie Max Brod – also mit dem Eintragen seiner Heimatstadt Prag oder der Region, aus der er stammte: Böhmen. Ob das aus Nachlässigkeit geschah, wie Binder unterstellt, sei hier dahingestellt; jedenfalls scheint es mir Kafkas Selbstbild recht gut wiederzugeben. Die Selbstverortung aber steht nicht für eine Selbstregionalisierung oder gar -provinzialisierung, sondern es ist vorauszusetzen, dass sich Franz Kafka eben als Prager resp. als Böhme als Europäer verstanden hat. Dies wiederum hat mit einer ganz anderen politischen Ordnung Europas vor dem Ersten Weltkrieg und – in gleichwohl verwandelter Form – auch noch danach zu tun. Trotz des im 19. Jahrhundert aufgekommenen Nationalismus war es weit mehr, als man sich das aus einer durch die europäische Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg geprägten Perspektive vorstellen kann, ein Europa der Regionen und der regionalen Verflechtungen. Franz Kafka lebte in jeder Hinsicht in der Mitte dieses Europas – als Prager, als Böhme. Man kann diese Diagnose auch noch einmal mit den Texten Kafkas belegen – und greift dabei am besten zum Verschollenen. Darin rekurriert Karl Roßmann, in den unendlichen Weiten Amerikas angekommen, in erstaunlicher Weise auf seine ‚Heimat‘. Diese wird zunächst als ‚Eigenes‘ herangezogen, von dem her sich das Fremde verstehen (oder zumindest in seiner Andersartigkeit beschreiben) lässt. Man liest: [H]ier wanderten keine einzelnen Marktweiber zur Stadt, wie in Karls Heimat, aber doch erschienen hie und da große flache Automobile, auf denen an zwanzig Frauen mit Rü ckenkörben, also doch vielleicht Marktweiber, standen und die Hälse streckten, um den Verkehr zu ü berblicken und sich Hoffnung auf raschere Fahrt zu holen.¹⁷
Der Diagnose der klaren Differenz zwischen Europa und Amerika folgt hier prägnant die Mutmaßung der Ähnlichkeit („also doch vielleicht Marktweiber“), was das ebenso komplexe wie problematische Zusammenspiel von erinnertem europäischem Eigenen und wahrgenommenem amerikanischem Fremden aufruft.
Binder: Kafkas Wien, S. 36 f. Kafka: Der Verschollene, S. 140 f.
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Später heißt es einmal zu New York: „Vieles erinnerte Karl an seine Heimat“¹⁸. An anderen Stellen wird dagegen die Differenz betont. So liest man als Aussage des Heizers: „Wenn Sie in Europa studieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht? Die amerikanischen Universitäten sind ja unvergleichlich besser als die europäischen.“¹⁹ Karls amerikanischer Onkel äußert (in indirekter Rede): „Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und wenn man sich hier auch, damit nur Karl keine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne als wenn man vom Jenseits in die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, daß das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe“.²⁰ Bemerkenswert ist dabei auch die Profilierung der so aufgerufenen Heimat an einer anderen Stelle. Über ein Gespräch mit einer Köchin heißt es: „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er, „daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.“ „Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Karl, „ich bin noch nicht lange in Amerika.“ „Von wo sind Sie denn?“ „Aus Prag in Böhmen“, sagte Karl. „Sehn Sie einmal an“, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, „dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt.“²¹
Karl wird von der Köchin als Deutscher identifiziert, was angesichts des nachgeschobenen Herkunftsorts „Prag in Böhmen“ denkbar unangemessen ist, da jenes Prag zur Entstehungszeit des Romans natürlich nicht in Deutschland, sondern in ‚Kakanien‘, also Österreich-Ungarn lag, was nahelegt, dass die Zuordnung „Deutscher“ als ‚Deutschsprachiger‘ zu verstehen ist. Zudem wird mit Böhmen ein ganz anderes, weil regionales Erklärungsmuster der Heimat aufgerufen. Neben der Sprache figuriert also ein (falsches) nationales sowie ein regionales Verständnis von ‚Heimat‘ – und eine im Vergleich zu Amerika ganz andere kulturelle Ordnung, die eine des Austauschs und der Wanderung ü ber Europa prägende kulturelle Grenzen hinweg ist: Die Wiener Köchin Grete Mitzelbach hat einige Zeit in Prag gearbeitet, subsumiert aber offensichtlich Wien wie Prag unter dem Sammelbegriff ‚deutsch‘. Diese Mehrfachkodierungen kann man fü r die Ambivalenz Europas (jedenfalls von Amerika aus betrachtet) stehen lassen, womit deutlich wird, dass die europäische ‚Heimat‘ im Roman Der Verschollene eben nicht als homogene Einheit (eines heimelig Vertrauten und somit
Ebenda, S. 143. Ebenda, S. 12. Ebenda, S. 56. Ebenda, S. 171 f.
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Fraglosen) verstanden wird. Solche Vielfalt führt dann aber auch zu einer Instabilität und fortwährenden Veränderung Europas, wie aus einem sich anschließenden angeregten Gespräch Karls mit der Oberköchin hervorgeht: „Karl mußte von Europa erzählen, allerdings mit vielen Unterbrechungen von Seiten der Oberköchin, die immer wieder fragte und staunte, wodurch sie Karl zu Bewußtsein brachte, wie vieles sich dort in verhältnismäßig kurzer Zeit von Grund aus geändert hatte und wie vieles wohl auch schon seit seiner Abwesenheit anders geworden war und immerfort anders wurde.“²² Solche Heterogenität, Vielfalt und Instabilität zeigt sich auch, wenn man sich die Beschreibung jener Szene genauer anschaut, die zu Karl Roßmanns Reise nach Amerika den Anlass gab – die Verfü hrung durch ein Dienstmädchen: Sie drü ckte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen heraus schü ttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einigemale gegen ihn, ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedü rftigkeit ergriffen.Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehenswü nschen ihrerseits in sein Bett.²³
Dies ist nichts anderes als die Erzählung einer Auflösung von (Körper‐)Grenzen im sexuellen Akt, die in einer Einrichtung von nun räumlichen Grenzen durch seine ‚Verschickung‘ ü ber den Atlantik erneut aufgerichtet werden sollen. Doch gerade die Rü ckkehr zu einer die Grenzen wieder stabilisierenden Ordnung gelingt ja in Amerika nicht; vielmehr beginnt das beschriebene Spiel der stets neuen (und nie ‚aufgehenden‘) Korrelierung von europäisch Eigenem und amerikanisch Fremdem. In den jeweiligen Bezugnahmen steht Europa dabei immer auf der Seite der aufgelösten, jedenfalls überschreitbaren Grenzen, also für einen Raum des Heterogenen und Gemischten.²⁴ Eine Reflexion solcher Heterogenität findet sich auch im Text Schakale und Araber. In der Perspektive einer in der Kafka-Forschung zu ihrem Unglück so weit verbreiteten allegorischen Enträtselung soll es in diesem Text um die Frage des Zusammenlebens von Palästinensern und Israelis oder von Tschechen, Deutschen und Juden gehen. Wenn man aber von solchen simplen Lektüreschlüsseln zurücktritt und sich anschaut, was der Text bis in die tiefsten Abgründe tatsächlich und ausdrücklich reflektiert, dann sind es, kurz gesagt, die Begründungsmuster von sozialen Zugehörigkeiten in der ganzen Spannweite von der Frage nach dem Ort nur eines Einzelnen, der Stellung eines solchen Einzelnen in
Ebenda, S. 209. Ebenda, S. 43 Vgl. Heimböckel, Weinberg: Interkulturalität als Projekt, besonders S. 124– 129.
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einer Gruppe, des Verhältnisses von Gruppen zueinander, das als Mit-, Gegen-, Durcheinander etc. bedacht und vorgeführt wird.²⁵ Erzählt aber wird die Geschichte von einem, der im Text ausdrücklich als „Europäer“²⁶ bezeichnet wird, womit Europa auch hier wieder zum Horizont einer Vielfalt wird, deren Grenzen nie klar gezogen werden können und das sich immer wieder verändert. Eduard Goldstücker hat auf der Weltfreunde-Konferenz in Liblice bezogen auf die dort sogenannte ‚Prager deutsche Literatur‘ gefragt, in welche Nationalliteratur sie gehöre – in „die deutsche, österreichische oder tschechische“?²⁷ Zuletzt hat er diese Frage jedoch nicht beantwortet, sondern fuhr fort: „In ihren größten Werken und ihrer Bedeutung nach ist sie nicht nur über den regionalen, sondern auch über den nationalen Rahmen weit hinaus gewachsen“²⁸; sie sei „ein untrennbarer Teil des humanistischen Kulturerbes der Menschheit“²⁹. Dies habe ich an anderer Stelle als unangemessene ‚Entortung‘³⁰ kritisiert. Doch ist es eben auch nicht damit getan, Goldstückers Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Nationalliteratur nun nachträglich zu beantworten. Beizukommen ist Franz Kafkas Werk aus meiner Sicht nur, wenn man es – im Bewusstsein seines regionalen Entstehungskontextes – als Teil der mitteleuropäischen Literatur versteht. Diese aber ist ein ‚weites Feld‘, das im Rahmen dieses Beitrags nicht mehr ausgemessen werden kann, denn man müsste gerade die von Kafka her bezüglich Europas entwickelte Heterogenität, durch Grenzziehungen nicht zu zähmende Vielfalt sowie Instabilität eben auch auf eine solche mitteleuropäische Literatur anwenden, in der Franz Kafka als Prager und als Böhme wirkte.
Vgl. Weinberg: Prager Kreise. Kafka: Schakale und Araber – Schriften, Tagebücher 1: Drucke zu Lebzeiten, S. 270 – 275, hier S. 274. Goldstücker: Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen – Goldstücker: Weltfreunde, S. 21– 45, hier S. 22. Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 26. Krappmann,Weinberg: Region – Provinz. Genauer habe ich hinsichtlich der Modellierung der Prager deutschen Literatur von einer „Enträumlichung und […] Entzeitlichung“ (S. 30) im Eröffnungsvortrag von Paul Reiman geschrieben und zu ihrer Darstellung durch Eduard Goldstücker angemerkt, dass er „sie aus (fast) allen Kontexten herausgerückt und auf eben diese Weise singularisiert“ (S. 34) habe.
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Claudia Liebrand
Tertium semper datur Konstellationen des Hybriden in Franz Kafkas Die Sorge des Hausvaters Kafkas Vaterstadt Prag ist (nicht nur) in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Teil eines Mitteleuropas, das sich durch besonders stimulierende und produktive kulturelle Vielfalt auszeichnet. Franz Kafka, der bis fast zu seinem Tod in Prag lebte, setzt dieses komplexe Bedingungsgefüge – dazu gehören etwa die Spannungen zwischen verschiedensten Traditionen, religiösen und politischen Orientierungen – literarisch in Szene. Allerdings findet sich das kulturelle Gefüge in den Kafka’schen Texten nicht in einer auf ‚Realismuseffekte‘ abzielenden Beschreibung dargestellt, sondern zu Modellkonfigurationen verdichtet. Die literarischen Texte bilden also das in Rede stehende komplexe kulturelle Gefüge nicht mimetisch – und eindeutig wiedererkennbar – ab, sondern transformieren es und arbeiten, durchaus an sehr konkretistische Konstellationen anschließend, Modelle heraus, die Theorien in ihren Verwerfungen und Paradoxien vorstellen. Dabei lässt sich für die Kafka’schen Texte geradezu ein metatheoretischer Status veranschlagen: Sie setzen (häufig auch) antizipativ Theorien in Szene, verhandeln sie spielerisch. Wie schwer sich ein an traditionellen Konzepten von Mimesis und Realismus hängender Rezeptionsmodus mit Kafkas Texten tut, macht beispielsweise dieser zeitgenössische Leserbrief deutlich, den Hartmut Binder in seiner monumentalen Dokumentation zu Kafkas Verwandlung zitiert. Am 10. April 1917 schrieb ein in Berlin-Charlottenburg lebender Leser der Verwandlung an Franz Kafka: Sehr geehrter Herr, Sie haben mich unglücklich gemacht. Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte nicht zu erklären. Meine Kusine hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung. Die Mutter hat das Buch meiner andern Kusine gegeben und die hat auch keine Erklärung. Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie wäre. Aber ich bin ratlos. Herr! Ich habe Monate hindurch im Schützengraben mich mit dem Russen herumgehauen und nicht mit der Wimper gezuckt. Wenn aber mein Renommee bei meinen Kusinen zum Teufel ginge, das ertrüg ich nicht. Nur Sie können mir helfen. Sie müssen es; denn Sie haben mir die Suppe eingebrockt. Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat. Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst Dr. Siegfried Wolf.¹
Zitiert nach: Binder: Kafkas „Verwandlung“, S. 7. https://doi.org/10.1515/9783110536003-025
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Kafka hat die Auskunft darüber, was die Verwandlung bedeute, verweigert. Einen Kommentar auch zum vorliegenden Leserbrief mag man im Proceß-Fragment sehen: Dort lässt Kafka einen Geistlichen zu Auslegungsproblemen Stellung nehmen.Von diesem wird der Protagonist in Bezug auf Meinungen zu, Deutungen von Texten belehrt: „Du mußt nicht zuviel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber.“² Im Folgenden wird weder die Verwandlung noch der Proceß im Fokus stehen. Der Frage, wie Kafka in seinen Texten Modelle entwickelt, die kulturelle Verwerfungen nicht in erster Linie dicht beschreiben, sondern auf einer Meta-Ebene operieren, als literarische Versuchsanordnung, die diese kulturellen Verwerfungen als Kulturkontaktphänomene reflektiert, soll mit Blick auf einen anderen Text Kafkas nachgegangen werden: der Sorge des Hausvaters. Überdies wird ein Seitenblick auf Beim Bau der chinesischen Mauer geworfen. Bereits 1967 hat Heinz Hillmann in der Zeitschrift für Deutsche Philologie vom „Sorgenkind Odradek“ gesprochen.³ Harald Neumeyer schreibt, die Forschungsgeschichte zur Sorge des Hausvaters skizzierend: Um zu erfassen, wer oder was dieses auf dem Dachboden und ins Treppenhaus hin und her wandernde „Wesen“ ist, hat sich die Forschung über mehrere Jahrzehnte hinweg um seine Entschlüsselung bemüht. Die Entzifferung des Textes von Kafka schien geradezu von der Entzifferung Odradeks abhängig zu sein. Als „nutzlos überlebende Ware“, als „auf dem Judentum fußendes Christentum“, als „universell Abgeschlossenes“, das die „Trennung zwischen Geist und Stoff, Denken und Dasein“ aufhebt, als „Gespenst gewordenes schlechtes Gewissen“, als „die Zeitlosigkeit des Unbewußten“ und als „das sich immer wieder entziehende, bewegliche, erst zu schreibende Werk“ figurierte Odradek.⁴
Insbesondere der Name „Odradek“ stand im Fokus des Interesses: „Brod hat ihn […] mit slawischen Wörtern in Verbindung gebracht, die die Bedeutung ‚Abtrünniger‘ haben; Emrich und Politzer schlagen die Übersetzung ‚Abrätchen‘ (in Anlehnung an ein tschechisches Verb) vor, und Gerd Backenköhler kommt zu der Deutung ‚kleines Wesen außerhalb der Ordnung‘, wiederum mit Bezug zum Tschechischen.“⁵ „Dass sich die Aussage Odradeks, er habe ‚unbestimmte[n] Wohnsitz‘, auf den entwurzelten Westjuden Franz Kafka beziehen lässt“, ist
Kafka: Der Proceß, S. 298. Hillmann: „Das Sorgenkind Odradek“. Neumeyer: Franz Kafka, Wilhelm Dilthey, Viktor Šklovskij und die „Kunst des Verstehens“, S. 151. Emmerich: Odradek – ein Bewohner des dritten Raums, S. 84.
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wiederholt bemerkt worden.⁶ Gelesen worden ist die Beschreibung Odradeks als literarisches Emblem für den Davidstern: „Zeit und Ort der Veröffentlichung, die Channakah-Ausgabe der deutschsprachigem dem Zionismus nahe stehenden Zeitschrift ‚Die Selbstwehr‘ im Jahr 1919 in Prag“, so Tomislav Zelić, gebe „Aufschluss über den kulturhistorischen Kontext der Anekdote. Bekanntlich ist Channnakah das jüdische Fest der Wiedererrichtung des jüdischen Tempels im Sinne einer kulturellen und religiösen Wiedergeburt.“⁷ Schon diese wenigen aus der Forschung zitierten Äußerungen zeigen, dass – und das ist bei der Sorge des Hausvaters ähnlich wie bei anderen Texten Kafkas auch – sich Einzelelemente im Text finden lassen, die sich sehr konkret auf die komplexe kulturelle Konstellation, in der der Autor Kafka schreibt, auf seine spezifische Situation beziehen lassen. So beginnt die Erzählung, die eigentlich – wie auch Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse – keine Erzählung ist (wird doch nichts erzählt, was einer Geschichte auch nur ähnelt, Christine Lubkoll hat darauf hingewiesen⁸), sondern eine Beschreibung, mit einer Reflexion über die Etymologie des Wortes „Odradek“. Damit liefert der Text eine ironische Vorgabe, die die Forschung versucht hat auszufüllen. Die Betrachtungen dazu, was „Odradek“ im Slawischen – konkret: im Tschechischen, das Tschechische ist eine westslawische Sprache – bedeuten könne (der von Franz Kafka ja fließend beherrschten Zweitsprache), sind Legion. Dass die Skizze des ‚Wesens‘ Odradek, die die Erzählung liefert, fast als Bastelanleitung genommen werden könne, ist genauso beobachtet worden, wie die Nähe der Zwirnspule, die auch als „Stern[…]“⁹ bezeichnet wird, zum Davidstern – des bekannten, nach König David benannten Hexagramm-Symbols für das Judentum. Aber nicht nur Kafkas Situation als Autor deutscher Literatur in einem tschechischen Kontext, nicht nur seine jüdische Deszendenz kann man in der Sorge des Hausvaters angespielt finden, es lassen sich eine ganze Reihe weiterer autobiographischer Inskriptionen aufzählen. So mag man seine Lungenkrankheit in den Formulierungen alludiert finden, die sich auf Odradeks Lachen beziehen: „[E]s ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern.“¹⁰ Das Rascheln der Blätter lässt sich, wie auch das Holz, aus dem Odradek gemacht zu sein scheint – auch Papier wird ja aus Holz gemacht –, auf den Schreibvorgang beziehen; den Rekurs der Kafka’schen Texte auf das Schreibsujet
Ebenda. Zelić: Odradek oder das Enigma der Identität, S. 146. Vgl. Lubkoll: Rhetorische und mythopoetische Aspekte der Beschreibung in Erzähl- und Gebrauchstexten Franz Kafkas, S. 225. Kafka: Die Sorge des Hausvaters, S. 283. Ebenda, S. 284.
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hat insbesondere Detlef Kremer ausführlich behandelt.¹¹ Auch das Räsonnement darüber, ob Odradek „früher irgendeine zweckmäßige Form“ gehabt habe und die Überlegungen, dass das „Ganze […] sinnlos [erscheine], aber in seiner Art abgeschlossen“,¹² ist bezogen worden auf das Kafka’sche Œuvre, dessen Faktur und die Deutungsprobleme, die es dem Leser auflädt. Wenn von „Ansätzen“ und „Bruchstellen“ die Rede ist, lässt sich Kafkas Penchant zum Fragmentarischen assoziieren. Dass der „Sinn“ der Texte sich entzieht, mag eine Entsprechung im überaus agilen Odradek haben, von dem wir erfahren, es/er sei „außerordentlich beweglich und nicht zu fangen“.¹³ In Spuren scheint gar die abendländische Tradition, die den Text als textum, Gewebe betrachtet, in der Erzählung vorhanden zu sein: geht es doch um „abgerissene, alte, aneinandergeknotete, aber auch ineinanderverfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe“ (aus denen Odradek ‚konstruiert‘ ist).¹⁴ Und noch weitere Inskriptionen könnten angeführt werden: In Übereinstimmung etwa mit dem interpretativen Blick, den Peter-André Alt auf Franz Kafkas Leben und Werk wirft – Titel der Biographie ist: Franz Kafka. Der ewige Sohn – ist Odradek identifiziert worden mit dem Autor, der sich den bürgerlichen Zumutungen des Eine-Familie-Gründens entzogen habe, der sich geweigert habe, erwachsen zu werden (wobei nicht verschwiegen werden soll, dass auch der Hausvater als stand in des Autors perspektiviert werden kann).¹⁵ Zumindest erwähnt sei, dass erst die jüngere Forschung nachdrücklich betont hat, dass nicht einfach die Rätselfigur Odradek thematisches Zentrum von Kafkas Erzählung sei – eine Rätselfigur, die als Sphinx figuriere, deren Geheimnis man lüften müsse, sondern dass es der Hausvater sei – und die Sorge, die ihn in Bezug auf Odradek umtreibe –, der die zentrale Perspektive vorgebe, um die es der Erzählung zu tun sei;¹⁶ er sei der Erzähler, der am Ende des Textes sichtbar werde: Vergeblich frage ich mich, was mit ihm geschehen wird. Kann er denn sterben? Alles, was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben; das trifft bei Odradek nicht zu. Sollte er also einstmals etwa noch vor den Füßen meiner Kinder und Kindeskinder mit nachschleifendem Zwirnsfaden die Treppe hinunterkollern? Er
Vgl. Kremer: Kafka. Die Erotik des Schreibens. Kafka: Die Sorge des Hausvaters, S. 283. Ebenda. Ebenda, S. 282 f. Vgl. Alt: Franz Kafka, S. 329 – 340. Vgl. Neumeyer: Franz Kafka,Wilhelm Dilthey,Viktor Šklovskij und die „Kunst des Verstehens“, S. 152.
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schadet ja offenbar niemandem; aber die Vorstellung, daß er mich auch noch überleben sollte, ist mir eine fast schmerzliche.¹⁷
Unbestritten ist also, dass sich lebensweltliche, autobiographische Bezüge eruieren lassen. Allerdings scheint es sinnvoll zu sein, den Fokus des Interesses zunächst auf die Faktur der Modellanordnung, der literarischen Matrize zu lenken, die der Text präsentiert – ohne diese Matrize gleich auszufüllen. In Bezug auf den in Rede stehenden Text ließen sich eine ganze Reihe von Modellanordnungen herausarbeiten. Zwei von ihnen seien herausgegriffen: zum einen die Inszenierung einer grundsätzlichen Kategorienkrise, zum anderen das Aufrufen einer Problemkonfiguration des Hybriden. Die grundsätzliche Kategorienkrise, die in Kafkas kurzem Text in Szene gesetzt wird, lässt sich beispielsweise schon an den Pronomina ablesen, mit denen auf Odradek Bezug genommen wird: „er“ und „es“. Nachdem der erste Abschnitt mögliche etymologische Referenzen des Wortes „Odradek“ verhandelt hat – um dann zu konstatieren: „Die Unsicherheit beider Deutungen aber läßt wohl mit Recht darauf schließen, daß keine zutrifft, zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann“ –, setzt der zweite Abschnitt ein: „Natürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt. Es sieht zunächst aus wie eine flache sternartige Zwirnspule“.¹⁸ Eröffnet wird eine schwierige Konfiguration. Zunächst einmal: Der Behauptung, dass sich „niemand mit solchen Studien beschäftigen [würde], wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek“ hieße, ergibt für alle Philologen, die den Text lesen, keinen Sinn. Philologen sind an Figurationen im Text interessiert, nicht unbedingt an der Weltreferenz dieser Figurationen, und natürlich beschäftigen sie sich auch mit „Dingen“, mit „Wesen“, die es ‚eigentlich‘ nicht gibt: Alraunen beispielsweise. Was aber vor allem auffällt, ist, dass auf Odradek ausdrücklich als „Wesen“ referiert wird – und man ist geneigt, hier „Wesen“ zu „Lebewesen“ zu vervollständigen. Gleich im Folgenden wird Odradek aber als „Ding“ präsentiert, als Ergebnis einer bricolage. Aus Holz, heißt es später, „scheint“ Odradek zu sein, auf den der Erzähler inzwischen als „er“ und nicht mehr als „es“ referiert. Es bleibt also unklar, ob Odradek ein Lesewesen oder ein Ding ist, ob er oder es tot ist oder lebendig. Der Hausvater fragt sich, ob Odradek sterben kann (und er fragt sich das, weil das Sterben ja das Leben beendet, von dem er nicht weiß, ob es Odradek zuzusprechen ist).
Kafka: Die Sorge des Hausvaters, S. 284. Ebenda, S. 282.
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Nun gehört die Unterscheidung zwischen Leben und Tod (wie wenige andere: zum Beispiel die zwischen Männern und Frauen) zu den zentralen Differenzen des kulturellen Repräsentationssystems: Etwas ist tot oder lebendig – tertium non datur. Kafkas Text nun präsentiert einen Protagonisten, der die Logik strapaziert, der elegant auf der Grenzscheide zwischen Ding und Lebewesen – zwischen Tod und Leben – balanciert. Auch die Räume, in denen sich Odradek bevorzugt bewegt, scheinen dieses Grenzgängertum in Szene zu setzen: Treppenhaus, Gänge, Flur. Der Protagonist bewegt sich im Dazwischen, vermeidet die repräsentativen Räume – und Schubladen, entzieht sich. Versucht worden, Odradek interpretatorisch in den Griff zu bekommen, ist auch – das liegt bei einem Blick auf die aktuelle Theorielandschaft nahe – mit der Actor-network Theory Bruno Latours.¹⁹ Wenn Odradek, wie jedenfalls auch suggeriert wird, ein Ding ist, ist er eines, das über Agency verfügt. Der Protagonist agiert – und der Hausvater schaut diesem Agieren mit Sorge zu. Von der Kategorienkrise, die das „Sorgenkind“ Odradek in Szene setzt, zur Konfiguration des Hybriden als Matrix der Sorge des Hausvaters: Diese Konfiguration theoretisch zu fassen gesucht hat der Nestor der Hybriditäts- und Transkulturalitätsforschung: Homi K. Bhabha. Auf Bhabha sei rekurriert, nicht um Kafkas Text in eine vorgegebene Axiomatik einzupassen, sondern um auf Strukturhomologien in der literarischen und theoretischen Verhandlung des ‚Hybriden‘ zu verweisen. Für Homi Bhabha sind hybride Konfigurationen gerade nicht als solche gekennzeichnet, in denen Differenzen zu einer neuen Einheit aufgehoben werden. Hybridität wird nach Bhabha vielmehr in einem dritten Raum, der ein Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz abbildet, fassbar. Skizziert sei, wie der Kafka’sche Text einerseits mit Bhabha, der auf die Sorge des Hausvaters nicht explizit rekurriert, gelesen werden kann, andererseits bleibt der Blick auch darauf gerichtet, wie der Kafka’sche Text literarisch sein spezifisches Projekt, das mit einem einzigen Theoretiker im Nachgang nicht erfasst werden kann, in Szene setzt. Bhabha allegorisiert den ‚dritten Raum‘, um den es ihm zu tun ist, unter anderem als Treppenhaus: Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstituiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen und unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer
Vgl. etwa Latour: On Actor-network Theory.
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kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene Hierarchie gibt.²⁰
Wichtig ist dem Theoretiker der Verzicht auf einen harmonistischen Blick auf Hybridisierungsprozesse: „Hybridität hat keine […] Perspektive von Tiefe oder Wahrheit zu bieten: sie ist kein dritter Begriff, der die Spannung zwischen zwei Kulturen […] in einem dialektischen Spiel der ‚Erkenntnis‘ auflöst.“²¹ Hybridisierungsprozesse führen die Grenzen der hausväterlichen, kolonialistischen Macht vor: „Hybridität ist der Name für diese De-plazierung des Wertes vom Symbol zum Zeichen, die zur Aufspaltung des dominanten Diskurses entlang der Achse seines Vermögens führt, repräsentativ, autoritativ zu sein.“²² Der, das Andere, als Gegenüber des Hausvaters – das Interesse sei von Bhabhas Theorie auf Kafkas Text (und wieder zurück zu Bhabhas Theorie) gelenkt –, lässt sich durchaus auf dessen Sprach- und Machtspiele ein. Gelegentlich hat der Ich-Erzähler Lust, ihn anzusprechen. Natürlich stellt man an ihn keine schwierigen Fragen, sondern behandelt ihn – schon seine Winzigkeit verführt dazu – wie ein Kind. Wie heißt du denn?“ fragt man ihn. „Odradek“, sagt er. „Und wo wohnst du?“ „Unbestimmter Wohnsitz“, sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen Blättern. Damit ist die Unterhaltung meist zu Ende. Übrigens sind selbst diese Antworten nicht immer zu erhalten; oft ist er lange stumm, wie das Holz, das er zu sein scheint.²³
Bhabha betrachtet diesen „Prozeß der Übersetzung“, wie er es nennt, als „weitere[n] politische[n] und kulturelle[n] Kampfplatz im Zentrum der kolonialen Repräsentation selbst […]. […] Das unberechenbare kolonisierte Subjekt – halb fügsam, halb widerspenstig, aber nie vertrauenswürdig – schafft für die Zielrichtung der kolonialen kulturellen Autorität ein unlösbares Problem kultureller Differenz.“²⁴ Odradek lässt sich auf das quasi-polizeiliche Spiel, die Fragen nach Namen und Wohnsitz ein, um beides zu unterlaufen: mit einem Namen, den der Hausvater nicht dekodieren kann (so wenig wie das Dutzende von Kafka-Interpreten fertigbrachten) und mit einer vor Ironie blinkenden, aber völlig rasterkonformen Wohnsitzangabe. Odradeks performatives Spiel, die Mimikry, mittels derer er sich
Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 5. Ebenda, S. 168. Ebenda. Kafka: Die Sorge des Hausvaters, S. 283. Bhabha: Die Verortung der Kultur, S. 51.
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vorgeblich dem Frage-Antwort-Spiel stellt, fordert vom Hausvater eine Neu-Aushandlung seiner Konzepte von sich selbst und vom anderen heraus. Um es mit Bhabha zu sagen: „Unter dem Schutz der Tarnung ist die Mimikry […] ein TeilObjekt, das die normativen Systeme des Wissens über die Priorität von Rasse, Schreiben, Geschichte radikal umwertet.“²⁵ Odradek bedroht den Hausvater in seiner Identität nicht nur deshalb, weil er als Anderer, von dem sich der Hausvater absetzen kann, einer ist, der sich entzieht, der nicht greifbar ist. Odradek verweist auch darauf, wie arbiträr, kontingent, hybrid Identitäten sein können. Jede Identität – nicht nur Odradeks, sondern eben auch die des Hausvaters – ist in sich durch Differenz markiert. Wolfgang Emmerich ist der Spur des hybriden Objekts in der Sorge des Hausvaters nachgegangen. Er betont allerdings, dass der politische Anspruch, der Bhabha zuzuschreiben sei, sich bei Kafka nicht unbedingt finde: Für Bhabha ist die Erschließung dritter Räume und die Ausbildung hybrider Individualität allemal auch eine politische Frage, bei der es nicht nur um das Überleben der Individuen in kulturellen Konfliktsituationen (wie es die postkolonialen Konstellationen prinzipiell sind) geht, sondern auch um die Konstitution und den Erhalt von widerständigen Gemeinschaften. ‚Beim Entstehen solcher Zwischenräume – durch das Überlappen und De-plazieren (displacement) von Differenzbereichen – werden intersubjektive und kollektive Erfahrungen von nationalem Sein (nationness), gemeinschaftlichem Interesse und kulturellem Wert verhandelt. Wie werden Subjekte‘, so fragt Bhabha, ‚„zwischen“ alle diesen „Bestandteilen“ der Differenz […] geformt (welche gewöhnlich als Rasse/ Klasse/ Geschlecht usw. angegeben werden)?‘ Nun, Odradek ist kein dergestalt bewusstes, gar kämpferische […] Wesen, vielmehr stellt Franz Kafka seine Einsamkeit, sein schwieriges Auf-sich-Gestelltsein heraus.²⁶
Emmerichs Lektüre der Sorge des Hausvaters lässt sich – und das ist äußerst produktiv – als Anregung verstehen, Kafkas Text als Matrix hybrider Strukturen zu lesen. Den Gewinn dieser Perspektivierung setzt Emmerich allerdings aufs Spiel, wenn er den Befund auf Kafkas „Einsamkeit“ zurückrechnet. Auch die Unterscheidung, Bhabhas Hybridisierungskonzept sei politisch, was sich in Kafkas Text finde, lasse diese politische Dimension vermissen, ist prekär: Einerseits, weil gerade Bhabha immer wieder vorgeworfen wird, seine Theorie skizziere keine politische Befreiungsperspektive für die Subalternen, andererseits, weil es die politische Dimension des Privaten (die sich an Odradek gerade ablesen lässt) verleugnet. Plädiert sei dafür, sich der Deutungsaufforderung gegenüber, mit der die Kafka’schen Texte einherkommen – eine Aufforderung, der sich so schwer ent-
Ebenda, S. 134. Emmerich: Odradek – ein Bewohner des dritten Raums, S. 88.
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gehen lässt, da die meisten dieser Texte durch eine parabolische Struktur gekennzeichnet sind, die ihre Auflösung, ihre Auffüllung gebieterisch zu fordern scheinen –, zunächst defensiv zu verhalten und zunächst die Matrize, die Problemkonfiguration zu modellieren, die in Szene gesetzt wird. In Bezug auf die Sorge des Hausvaters könnte als eine solche Matrize die „Kategorienkrise“ dienen, die der Text verhandelt, oder aber die Konfigurationen von Hybridisierung und drittem Raum, die literarisch in Szene gesetzt werden. Natürlich lassen sich diese Matrizen, diese „Hohlformen“, in einem zweiten Schritt dann auch ausfüllen: Die Randständigkeit mag die des Westjuden sein – oder des deutschen Autors im tschechischen Umfeld oder die spezifische Schreibsituation in der pragerdeutschen Literatur –, der Reiz der literarischen Konfiguration besteht aber mindestens so sehr im bestechenden Ausfalten der Problemkonfiguration wie in den vom Text eröffneten Möglichkeiten, ihn parabolisch auszumalen. Was hier in Bezug auf die Sorge des Hausvaters skizziert wurde, ließe sich umstandslos an anderen Texten Kafkas zeigen. Ein abschließender Seitenblick sei beispielsweise auf Beim Bau der chinesischen Mauer geworfen – einen Text, der immer wieder als einer gelesen worden ist, in dem Kafka seine westjüdische Problematik abgehandelt habe. Der Text reflektiere Kafkas Lektüre der Schriften Theodor Herzls, in denen es um zionistische Bestrebungen gehe. China sei als Chiffre zu begreifen für die Debatten um die Schaffung eines jüdischen Nationalstaates. Gelesen worden ist die Erzählung aber auch als Parabel auf die k.u.k.Monarchie. Kaiser Franz Joseph I., der wenige Monate vor Entstehung des Textes gestorben war, sei in der entrückten Figur des Kaisers dargestellt.²⁷ Der erst 1931 aus dem Nachlass publizierte Text, den Kafka 1917 geschrieben hat, erzählt die Geschichte eines Bauprojekts aus der Perspektive eines leitenden Ingenieurs. Der Text entfaltet die Unmöglichkeit von klaren Grenzziehungen zwischen den Einen und den Anderen. Die Mauer, die angeblich gebaut wird, um die Chinesen vor Eindringlingen zu schützen, zieht Angreifer an, die ohne die Mauer nicht zu Angreifern geworden wären: „Diese in öder Gegend verlassen stehenden Mauerteile können immer wieder leicht von den Nomaden zerstört werden, zumal diese damals geängstigt durch den Mauerbau mit unbegreiflicher Schnelligkeit wie Heuschrecken ihre Wohnsitze wechselten und deshalb vielleicht einen besseren Überblick über die Bauortschritte hatten als selbst wir die Erbauer.“²⁸ Dorothee Kimmich hat dazu bemerkt: Ebenso wie der Nomade als Feind durch die Mauer überhaupt erst als solcher zu identifizieren ist, ist auch das zu schützende Volk, dessen blutsbrüderliche Einheit, nicht als ein
Vgl. Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn, S. 583. Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 338 f.
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Effekt des Baus selbst. Die Volksgemeinschaft, die sich wie eine große Familie verwandt wähnt, ist eine [wie Anderson formuliert hat – C. L.] imaginäre Gemeinschaft – ‚imagined com[m]unity‘ – nichts anderes als der imaginäre Feind und die imaginär vollendete Mauer auch.
Inklusion schafft den Mythos vom blutsverwandten, homogenen, genetisch verwandten, rassisch reinen, daher immer schon und für immer zusammengehörenden Volk. Die Exklusion schaffte den Mythos vom Anderen, vom Fremden, vom nicht sesshaften Nomaden, vom ewig wandernden Juden, vom barbarischen Mongolen oder vom dummen Migranten. Es entsteht eine übersichtliche Dichotomie von Ordnung – drinnen – und Unordnung – draußen.²⁹ Auch in Bezug auf Beim Bau der chinesischen Mauer lassen sich recht konkrete Deutungen finden, die den Text auch auf den „Sitz im Leben“ Kafkas abbilden. Auch, was diesen zweiten, hier sehr kursorisch in den Blick genommenen Text angeht, scheint es aber interessanter als mögliche parabolische Ausdeutungen vorzulegen, gewissermaßen ‚verfahrensorientiert‘ die Matrix der Problemkonfiguration zu beleuchten, die Kafka entfaltet. So werden die Prozesse von Inklusion und Exklusion als Strategien dekuvriert, die erst schaffen, was sie zu schützen vorgeben. In paradoxen Umkehroperationen bringt das, was als Schutz präsentiert wird, den Angriff erst hervor. Überdies, das hat Alexander Honold so formuliert, inszeniert Kafkas Erzählung „die Verschiebung von einer Kartographie des Nabels zu einer Kartographie der Außengrenze. Die Identität dessen, was da Heimat heißen soll, Nation und Staat, kann nicht mehr über die von einem Mittelpunkt radial sich ausdehnenden Kraftlinien konstruiert werden.“³⁰ Die Nordvölker sind in Kafkas Text nicht fremder als die Chinesen selbst. Die Kriterien der Unterscheidung sind fadenscheinig. Exklusion und Inklusion erscheinen als gewalttätige und arbiträre Akte. Kafkas textuelles Räsonnement über die Fallstricke und die Mechanismen von Exklusion und Inklusion ist in seiner analytischen Qualität stupend. Wie Die Sorge des Hausvaters setzt sich Beim Bau der chinesischen Mauer mit Kulturkontaktphantasien auseinander. Während Odradek sich der Strategie der Mimikry bedient, und damit die Sorge des Hausvaters intensiviert, dem er sich in den randständigen Räumen von Treppenhaus, Gang und Flur stets entzieht, verweist der Mauerbau darauf, dass die Mauer die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden nicht abbildet, sondern das Eigene und Fremde erst konstituiert – und jenes vorgebliche ‚Eigene‘ gerade durch diesen Akt zur Zerstörung anbietet. Auf der Hand liegt, dass solche Verhandlungsfiguren Hybridität nicht als Synthese Kimmich: Zur Kritik kulturalistischer Mythen bei Kafka und Wittgenstein, S. 55. Honold: Kafkas vergleichende Völkerkunde: Beim Bau der chinesischen Mauer, S. 215.
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von Kulturen perspektivieren, sondern die Aporien und Friktionen literarisch in Szene setzen, die mit dem Hybriden einhergehen.
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Robert Musil and The Man Without Qualities On the Plurality of Identities in Contemporary Society In the context of this volume and discussion prior to its beginning, I was drawn to the work of Robert Musil because of a sociological interest in identity. This means that I am certainly not a Musil scholar, however, many topics connected to his writings closely relate to those sociological interests. At present, this chapter is an initial departure point rather than a result of sustained and systematic research. But it is already possible to argue that there are interesting intersections between Musil (and the vast field of “Musil studies”) and the sociological studies of identity issues in contemporary society. Thus, the modest goal of this chapter is to explain and illustrate this claim in a broader context. This chapter will provide an outline of the sociological significance of Musil’s famous work and relate it to his historical and social environment, while maintaining focus on the common theme of this volume, i. e. the cultural space of Central Europe and the variety of ideas, identities, and intellectuals it has created. Firstly, Musil’s biographical background is briefly discussed. Secondly, the sociological reflection of The Man Without Qualities is reviewed. Thirdly, this great novel is put in relation to current sociological thought on the social aspects of identity. In the concluding section, the question whether Robert Musil can be observed as a “Central-European” is addressed.
1 The Person, Robert Musil Let us commence with a brief overview of Robert Musil’s biography.¹ He was born in 1880 in Klagenfurt am Wörthersee in Austria. First educated at military academies, he later rejected a military career and studied engineering in Brno. Musil’s first novel, Die Verwirrungen des Zöglings Törless (The Confusions of
For a much more detailed account see, e. g.: Payne: Preface: Robert Musil’s Life, Literary Works, and Diaries. – In: Robert Musil: Diaries, pp. ix–xxxiv. – The preparation of this chapter was funded by the Charles University programme Progres Q15 “Life course, lifestyle and quality of life from the perspective of individual adaptation and the relationship of the actors and institutions”, and it was also supported by the Czech Science Foundation (GAČR) within the framework of the project “Homo Sociologicus Revisited” (No. 15 – 14478S). https://doi.org/10.1515/9783110536003-026
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Young Törless, 1906), reflects his experiences of the military boarding schools in Eisenstadt and Hranice he attended between 1892 and 1897. After gaining his diploma, Musil went to Berlin to study psychology, logic, and philosophy. His doctoral thesis on Ernst Mach was entitled Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (Contribution to the Evaluation of Mach’s Teachings, 1908), and it has also been proposed that the influence of Mach’s thinking is present in Musil’s later literary work². In the following years, he served in the army during World War I, worked as a librarian, literary journal editor, advisor for army matters, theatre critic, but above all, continued relentlessly in pursuing his literary career, although his financial situation was mostly unenviable. The first two parts of The Man without Qualities were published in 1930. Three years later, Musil and his wife Martha left Berlin for Vienna, where they remained for five years. The collection of essays, stories, and observations Nachlass zu Lebzeiten (Posthumous Papers of a Living Author) was published in 1936. In 1938, Musil moved to Switzerland because of the decay in political situation in Austria. In 1942, Robert Musil died in Geneva, leaving his wife approximately ten thousand pages of manuscript. Martha Musil published the remaining parts of the grand, yet unfinished, novel in the subsequent year. What is known, if anything, about Musil’s self-understanding as a person? Attempts to answer this question face several obstacles. A large part of his diaries, correspondence, and manuscripts have been lost; childhood friends did not want to talk about him, nor his wife Martha. However, something remains. “Recently I invented a very fine name for myself,” wrote Robert Musil at the very beginning of his diaries (1899 – 1942). “‘Monsieur le vivisecteur’ – that’s who I am! My life: the wanderings and adventures of a vivisectionist of souls at the beginning of the twentieth century! What is m.l.v. [monsieur le vivisecteur]? Perhaps he is typical of the human being to come.”³ This radical and distanced self-reflection leads to a similar stance towards the world. Only a few paragraphs later, already in this early piece of writing, Musil sets forth one of the major tensions and contradictions of modern society: the dualism of the individual and society, the subjective and the objective, the self and the other, the internal and the external:
Imai: Musil between Mach and Stumpf, p. 187. Musil: Diaries, p. 3; Musil: Tagebücher, Vol. 1, p. 2: “monsieur le vivisecteur –– ich! Mein Leben: –– Die Abenteuer und Irrfahrten eines seelischen Vivisectors zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts! Was ist m.l.v.? Vielleicht der Typus des kommenden Gehirnmenschen – vielleicht?” – Tagebuch Heft 4, 1899?–1904 oder später.
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By day, we are Mr. X and Mr. Y – member of this society or that, with this obligation or that, we are required to live altruistically by laws acknowledged by our understanding. In the night – at the moment when we close the door with its heavy curtain behind us, we leave all altruisms outside too, they no longer have any purpose, the other side of our personality insists on its rights – egoism. At this hour, I like to stand at the window. Far away over there, a black and mighty shadow – I know that it is a terrace of houses beyond the gardens. Here and there an isolated yellow rectangle – the window of a house! It is the time when people return from theaters or restaurants. I watch their silhouettes, black patches in the yellow rectangles, I watch them removing their uncomfortable theater clothes and thus, as it were, retreating into themselves. They lead a double life through all the intimate relationships that now come into their own.⁴
Here, the dialectics of the inner and the outer world of the observer are both subjected to dissolution and “vivisection” by young Musil – who echoes in the passage cited above some of the founding considerations of sociology as a scientific discipline. For it was Auguste Comte (1798 – 1857), the founding father of sociology, who argued that human nature is substantially based on tension between affection and reason.⁵ The individual affection towards oneself takes over the reason in human egoism, which must be compensated – in Comte’s view – by socially oriented altruism (a term coined by Comte himself ⁶). As the following section will show, the proximity of Musil’s prose and thought to sociology does not end just there, the unescapable and inconsolable duality of the human condition even being at the centre of his monumental literary work, The Man Without Qualities.
Musil: Diaries, p. 4; Musil: Tagebücher, Vol. 1, pp. 2– 3: “Bei Tage sind wir Herr X und Herr V – Mitglied der oder jener Gesellschaft, mit diesen oder jenen Verpflichtungen, wir sind genöthigt durch Gesetze die unser Verstand anerkennt altruistisch zu leben. In der Nacht: – In dem Augenblick wo wir die schwer verhangene Thüre hinter uns schließen, lassen wir alle Altruismus draußen – sie erfüllen jetzt keinen Zweck mehr – die andere Seite unserer Persönlichkeit fordert ihr Recht – der Egoismus. Zu dieser Stunde stehe ich gerne am Fenster. Weit drüben ein schwarzer mächtiger Schatten, von dem ich weiß, daß er eine Häuserreihe jenseits der Gärten ist. Hier und da ein vereinzeltes gelbes Quadrat – das Fenster einer Wohnung! Es ist die Zeit zu der die Leute aus den Theatern oder Restaurants zurückkehren. Ich sehe ihre Silhouetten als schwarze Flächen in gelben Quadraten, ich sehe ihnen zu wie sie die unbequemen Theaterkleider ablegen, wie sie sich gleichsam verinnerlichen. Das Leben verdoppelt sich in ihnen durch all die intimen Beziehungen die jetzt zu Recht gelangen.” Comte: A General View of Positivism, p. 14. Pickering: Auguste Comte, p. 17.
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2 The Man Without Qualities and/as Sociology Robert Musil’s opus magnum can be approached as a specific resource of sociological knowledge, and to some extent also as a way of Selbstobjektivierung – if, as Wolf reminds us, we do not lapse into “primitive biographism” at the same time⁷. Austin Harrington asserts that Musil’s literary work may “be approached as a normative source of sociological thought, equal in its claim to convey knowledge about society to the writings of accredited sociological thinkers such as Weber, Durkheim, or Simmel, yet different in its mode and style of communicating this claim.”⁸ Indeed, The Man Without Qualities already became a subject of interest to sociologists decades ago.⁹ The narrative itself takes place over one year, just before the outbreak of World War I (even though not explicitly stated) in the fictional empire of Kakania. This name is based on the abbreviation k. & k. (kaiserlich und königlich ¹⁰). Thus, on its first plane, the great novel is a diagnosis of social change brought by the 20th century, a satirical portrayal of the crumbling Austro-Hungarian Monarchy: There is just something missing in everything, though you can’t put your finger on it, as if there had been a change in the blood or in the air; a mysterious disease has eaten away the previous period’s seeds of genius, but everything sparkles with novelty, and finally one has no way of knowing whether the world has really grown worse, or oneself merely older. At this point a new era has definitively arrived. So the times had changed, like a day that begins radiantly blue and then by degrees clouds over […].¹¹
Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion, p. 1152. Harrington: Robert Musil and Classical Sociology, p. 60. E. g.: Berger: The Problem of Multiple Realities; Berger: Robert Musil and the Salvage of the Self; cf. also Longo: Fiction and Social Reality, pp. 116 – 121; Harrington: Knowing the social world through literature. See Musil: The Man Without Qualities, pp. 26 – 31; Musil: Der Mann ohne Eigenschaften – Gesammelte Werke, vol. 1, chap. 8, pp. 31– 35: “Kakanien”. Musil: The Man Without Qualities, p. 56; Musil: Der Mann ohne Eigenschaften – Gesammelte Werke, vol. 1, chap. 16, p. 58: “Es fehlt nicht an Begabung noch an gutem Willen, ja nicht einmal an Charakteren. Es fehlt bloß ebenso gut an allem wie an nichts; es ist, als ob sich das Blut oder die Luft verändert hätte, eine geheimnisvolle Krankheit hat den kleinen Ansatz zu Genialem der früheren Zeit verzehrt, aber alles funkelt von Neuheit, und zum Schluß weiß man nicht mehr, ob wirklich die Welt schlechter geworden sei oder man selbst bloß älter. Dann ist endgültig eine neue Zeit gekommen. So hatte sich also die Zeit geändert, wie ein Tag, der strahlend blau beginnt und sich sacht verschleiert […].”
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From this perspective, Musil’s novel can be seen as a unique contribution to historical sociology and the study of social change. Moreover, The Man Without Qualities is a “case study” of modernity itself, which discusses with much detail and great insight various subjects of contemporary social science: perspectivism and “multiple realities”¹²; antinomies of modernity and the non-modern¹³; the theme of the modern person as the flâneur ¹⁴; the individual and the mass of the city,¹⁵ and other topics. The novel can be approached and interpreted from different vantage points, from the phenomenological considerations of self and identity (Schütz) or alienation (Marx) to sociology of city life (Simmel). It is a perfect case of the modern epic ¹⁶, in that it portrays the metaphysical (mythical, universal, eternal) through the quotidian (everyday, particular, fleeting). Later, the broad sociological discussion on various forms of identity in contemporary society will be examined, and the chapter closed with the subject of national identity in relation to Robert Musil himself.
3 On Identity in Contemporary Society The first issue that emerges in relation to “identity” as a social phenomenon is the observation that a person has a concept of themselves, that other people also have a concept of this person, and that these concepts are not fully aligned to each other. Snow and Anderson, for instance, in their famous study of identities of homeless persons, coined the terms personal identity (identity ascribed to oneself) and social identity (identity ascribed by others and to others) to capture this distinction.¹⁷ “Personal identity”, or what may be called intrinsic identity, is a reflexive and subjective self-concept or meaning about oneself (in relation to an individual or a community). “Social identity”, or what may be called extrinsic identity, is ascribed “from the outside” to an individual or a community based on attributes, features, and properties understood as objective and constitutive. To a certain extent, people can create, construct, and negotiate intrinsic and extrinsic identities, but such social processes take place in the boundaries drawn by the social institutions and cultural conventions which also evolve over time. Metaphorically speaking, it is a complicated and marvellous game, during which
Berger: The Problem of Multiple Realities. Freed: Robert Musil and the NonModern. Ottaviani: An Unreliable Synopsis. Jonsson: Subject without Nation. Moretti: Modern Epic. Snow and Anderson: Identity Work Among the Homeless, p. 1347.
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the game field, pieces, and rules continually change. Yet somehow, we can play this game all the while without much difficulty. For this reason, identity is also a representation and imprint of society in the consciousness and activity of an individual, while it originates from multiple aspects of social reality. P. L. Burke and J. Stets defined identity as “the set of meanings that define who one is when one is an occupant of a particular role in society, a member of a particular group, or claims particular characteristics that identify him or her as a unique person.”¹⁸ Elsewhere, in a shorter version of the definition: identities are “meanings one has as a group member, as a role-holder, or as a person.”¹⁹ Similar triadic typologies and differentiations are also delineated in other treatises of this topic.²⁰ Therefore, identity can be grounded in (i) individual selfhood or self, (ii) collective membership, or (iii) social roles and positions. To capture these three dimensions of identity, the terms personal identity, social identity, and collective identity can be used. Personal identity is a set of meanings or certain image of a specific human being based on the unique characteristics that differentiate oneself significantly from other human beings. Social identity is a set of meanings or certain image of a specific human being based on social roles and positions in the social structure. Collective identity is a set of meanings or certain image of a specific human being based on one’s belonging to other human beings, i. e. membership in a group, (imagined) community, a collective, or organization. It must be highlighted that no form of Durkheimian collective consciousness is referred to here, but even the collective identity is a collective membership realized by the member as an individual. The traditional, essentialist concept of identity was only challenged in favour of the constructivist concept in the second half of the 20th century. Today, identity tends to be seen as contextualized and emergent interactional achievement, rather than the solid and unchanging “quality” of “a person”. In a way, Musil’s novel anticipates this turn: For the inhabitant of a country has at least nine characters: a professional, a national, a civic, a class, a geographic, a sexual, a conscious, an unconscious, and possibly even a private character to boot. He unites them in himself, but they dissolve him, so that he is really nothing more than a small basin hollowed out by these many streamlets that trickle into it and drain out of it again, to join other such rills in filling some other basin.²¹
Burke and Stets: A Sociological Approach to Self and Identity, p. 3. Burke and Stets: Identity Theory, p. 132. See e. g.: Owens, Robinson, and Smith-Lovin: Three Faces of Identity. Musil: The Man Without Qualities, p. 30; Musil: Der Mann ohne Eigenschaften – Gesammelte Werke, vol. 1, chap. 8, p. 34: “Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen
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At the same time, Pertti Alasuutari reminds us that “[d]espite all the theorizing about fluid, contextual and internally contradictory identities, in everyday life we continue to take the Cartesian unified subject for granted.”²² Action and interaction in everyday life is based on typifications that do not have the form of fluid and dynamic “postmodern” identities, but – at least in an important part – precisely the essentialist concept of identity that Western science and philosophy has been abandoning over the past several decades. And whenever certain identity categories become demonstrably consequential for persons in their activities, they should be considered in sociological analyses. In current social sciences, identity is commonly understood as a reflexive or conceptual dimension of the (lived) self. And it is precisely the tension of lived experience and rational reflection that is at the core of der andere Zustand (the other condition), which is a central theme in The Man Without Qualities. ²³ The incommensurable and yet inseparable duality of conceptual (reflexive) and nonconceptual (lived) experience grows from the “violent tearing in the tissue that composes the subjective image of the world”²⁴. This “tearing” is an experience that defies rational conceptualization, be it an aesthetic or sexual experience. For Musil, the dialectics of rationality and feelings were a crucial topic. This is also expressed in his concept of essayism as a borderline form between art and science.²⁵
4 Robert Musil as a Central-European? Sociological research on collective identities seems to be relatively separated from the personal and social aspects of identity²⁶ with their relationship to internalization of meaning, or stressing the situational and cultural context of identity. Issues of collective identity – such as religion, class, gender – are often tied to political aspects, social movements, or feminist sociology. Among the collec-
Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen.” Alasuutari: Social Theory and Human Reality, p. 128. Berger: The Problem of Multiple Realities, p. 214. Ottaviani: An Unreliable Synopsis, p. 54. Cf: Sebastian: The Intersection of Science and Literature. See e. g.: Owens, Robinson, and Smith-Lovin: Three Faces of Identity.
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tive aspects of human identity in contemporary society, one of the most important concepts is that of a “nation” (and related form of collective identity, i. e. the national identity). Cerulo notes that scientific discussion of the issues of national identity seems to be the most complex and controversial regarding opinions, concepts, and paradigms.²⁷ However, this connection should help us conclude this discussion of Robert Musil and also relate it to the central topic of this volume. Thomas Luckmann and Peter L. Berger warn that the very notion of “collective identity” might be mistaken because of the “danger of false (and reifying) hypostatization”.²⁸ Decades later, Brubaker and Cooper offered ways of rendering the problematic term “identity” as entirely redundant for social scientists.²⁹ Richard Handler, on the other hand, studies the question whether identity is ontologically universal in any historical and cultural sense, and argues that it appears to be a phenomenon suitable only for the Euro-American society since the end of 19th century.³⁰ It seems that theoretical problems emerge mainly at the level of larger social structures (culture, society, large groups) as something linked to an “identity”. However, people routinely employ collective identities as categories in their linguistic action and agency, be it in pronouns (e. g., “we” and “them”) or nouns (e. g., “German” or “refugee”). The question remains, how is the plural substantiated and grounded in such cases? One of the reasons for the controversial position of the notion of collective identity might be related to the fact that this concept in fact comprises two distinct phenomena, to which two different explanations of its origins also correspond. As Norman Holland indicates, the basis of the concept of identity (personal, as well as social and collective) is the dialectic of sameness and difference: “We detect the sameness by seeing what persists within the constant change of our lives. We detect the difference by seeing what has changed against the background of sameness.”³¹ Holland refers to sameness and difference in diachronic sense, unified by the narrative aspects of human identity.³² The tension between similarity and difference is, however, at the foundation of identity in a more general sense: even collective identity is built from within as well as from without, having two complementary dimensions, which social scientists must consider when investigating this phenomenon.
Cerulo: Identity Construction, p. 390. Berger and Luckmann: The Social Construction of Reality, p. 233. Brubaker and Cooper: Beyond ‘identity’. Handler: Is Identity a Useful Cross-Cultural Concept? Holland: Reading and Identity, §4. In direct relation to Musil see Krämer: Self-Reflection and Life-Narratives.
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Therefore, we can imagine collective identity in two distinct ways: the first is the individualistic approach (“from within”), where collective identity emerges from interpersonal relationships (identification, empathy etc.), while the basis is more that of “similarity”. In other words, “we” exists, because “I” and “you” exist. This explanation grows from the perspectives of symbolic interactionism and (sociological) social psychology. The second is the holistic approach (“from without”), where collective identity emerges from intergroup relationships (categorization, essentialization), while the basis is more that of “difference”. In other words, “we” exists, because “they” exists. The individualistic mechanism of the emergence of collective identity can be labelled as metonymic plural, for it is based on a certain internal relationship between two or more persons. Analogically, in the case of the holistic mechanism of the emergence of collective identity, it would be synecdochic plural, for it is based on substitution of the whole (i. e. large group) for its part (i. e. small group). Zisselsberger reminds us that national identity is inherently ambivalent: nationalists aim to portray “nation” as ahistorical and ever-present, but they often employ historical (narrative) means to impose and support their ideas.³³ As such, they dynamically construct the appearance of stable essence – which is, however, as indicated in the previous paragraphs, also the case with personal and social identity. Robert Musil aligned himself with German culture and tradition, as well as being an “Austrian writer”, and his views on the subject developed over time (also due to political changes). Zisselsberger situates Musil’s (national) identity in the nexus between his experience of history and his imagination; and in the writer’s essays, the historical and the imaginative merges into the heterogeneous political identity of an “Austrian” writer, but also a cosmopolitan intellectual. As such, Musil seems to view the nation as the “synecdochic”, holistically constructed category: I realize that the “nation” is an abstract. We do not even have language in common, because the majority of the nation does not understand my language any better than I [understand] English. I do not have an effect on the nation anyway. Because I am read in Moscow, but certainly not in Weidling am Bach, which is separated from my desk by only a four-hour walk.³⁴
Zisselsberger: Cultural Nationalism in the Twilight of History. Musil: Precision and Soul, p. 113; Musil: Und Nationalismus. Internationalismus [1919/20] – Gesammelte Werke, vol. 8, pp. 137– 1348, here p. 1348: “Ich komme darauf, daß ‘Nation’ ein Abstraktum ist. Wir haben nicht einmal die Sprache gemeinsam, denn meine Sprache versteht der Großteil der Nation nicht besser als ich englisch. Ich wirke auch gar nicht auf die Nation. Denn ich werde zwar in Moskau gelesen, aber ganz gewiß nicht in Weidling am Bach, das nur 4 Gehstunden von meinem Schreibtisch entfernt ist.”
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From this perspective, it may seem symbolic that Musil’s life ended in Swiss exile, where he had resorted because he “could not breathe” in the air of his homeland at the end of 1930s. Seeking relief from the strained and hysterical nationalist transformations of that time in the geographical location of the former Austro-Hungarian Monarchy – the mythical Kakania – he found refuge in a Central-European federative state based on the ideals of “synecdochic” substitution of the parts for the whole, rather than “metonymic” similarities of a shared language or culture. Perhaps, in this paradoxical resolution, we can see Robert Musil as a true Central-European, incorporating and embodying many of the issues, tensions, and dialectics of the concept of “Central Europe” itself.
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Robert Musils Kakanien und die Psychotechnik der Nationen als Identitätskonstruktion Als Franz Kafkas erstes Buch Betrachtungen in einer Kleinauflage von 800 Exemplaren vordatiert auf 1913 erscheint, verfasst Robert Musil eine Rezension, die wiederum Kafka als eine der treffendsten Charakterisierungen wahrgenommen hat.¹ Die literarische Kommunikation zwischen Wien und Prag, im Medium der deutschen Sprache und vermittelt durch den noch jungen Rowohlt-Verlag in Leipzig, funktioniert scheinbar mühelos. Doch Mitteleuropa ist weder ein ausschließlich deutschsprachiger Kulturraum noch sind die vielfältigen Probleme zwischen den verschiedenen Nationen und die inneren Konflikte der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie kurz vor dem Ersten Weltkrieg mit solchen Erfolgsgeschichten literarischer Werke zu erfassen. Zwischen dem kulturellen und dem historisch-politischen Raum Mitteleuropa scheint eine Differenz zu liegen, die im Blick auf große Namen oft eher verdeckt, als aufgezeigt wird. Musils zu dieser Zeit wohl begonnener und im August 1913 beginnender Roman Der Mann ohne Eigenschaften enthält indes eine ausführliche Gesellschaftsanalyse der damaligen Zeit, in der nicht zuletzt die Heterogenität Mitteleuropas als auseinanderstrebendes Kräftezentrum dargestellt ist. Das Wort Mitteleuropa fällt in Musils Werken allerdings nur ein einziges Mal – und dies nur wie nebenbei.² Das muss erstaunen, liegt doch angesichts seiner regen Aufmerksamkeit für das Zeitgeschehen eine ausgiebige Reflexion Musils über Mitteleuropa nahe. Er beschäftigt sich in seinen Essays immer wieder mit Politik, Nation und Staat, auch etwa die Frage des Anschlusses an Deutschland taucht 1919 auf. Die Register seiner Werke verzeichnen zahlreiche Einträge zu „Nationalismus“ und „Patriotismus“ oder „Pazifismus“, aber keinen einzigen zu Mitteleuropa. Auch Bezugnahmen auf etwa Walter Rathenaus oder Friedrich Naumanns Positionen zu Mitteleuropa sucht man bei Musil vergebens. Er rezensiert zwar kritisch Rathenaus Mechanik des Geistes als Philosophie der Seele und er polemisiert gegen Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes, kein Wort aber über Rathenaus Rolle Vgl. Musil: Literarische Chronik [August 1914] – Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik S. 1465 – 1471. Musil: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit [Dezember 1921], ebenda, S. 1059 – 1075, hier S. 1068. https://doi.org/10.1515/9783110536003-027
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in der Politik und keine Erwähnung des Buches von Naumann zu Mitteleuropa.³ Politische Fragen greift Musil indes vor allem in seinen Essays Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1921) sowie Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) auf. Die Betonung liegt hier jedoch ganz allgemein auf einer Problematik des Nationalgefühls im Verhältnis zwischen Einzelnem und Staat. Zwischen Individuum und Staat nimmt die Nation eine Mittlerrolle ein, dessen abstrakte Größe wenig zur Identifikation einlade. Die „bekannten Fetische der Epoche, der Nation, der Rasse, des Katholizismus, des Intuitionsmenschen, welchen allen negativ gemeinsam ist eine sentimentale Nörgelei am Verstand und positiv das Bedürfnis nach einem Halt“, dies sei der Kern des „Streits über Kultur oder Zivilisation“.⁴ Als beherrschenden Zug der Zeit konstatiert Musil das Bedürfnis nach Orientierung, welches nur als Negation eine verbindende Gemeinsamkeit kenne. Die Folge aus dieser Kulturdiagnose ist eine Form des Bezugs, die sich vor allem in Passivität, in einem „Gewährenlassen“, äußere. „Das gewöhnliche Verhältnis des Einzelnen zu einer so großen Organisation, wie sie der Staat darstellt, ist das Gewährenlassen; überhaupt repräsentiert dieses Wort eine der Formeln der Zeit.“⁵ Kein Wort fällt hier explizit über Mitteleuropa als spezifischen Kulturraum. Musil interessieren offensichtlich übergreifende, Zeit- und Weltgeschichte umfassende Probleme. In Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste wird diese Perspektive als Problematik der Ungleichzeitigkeiten und einer unvermittelten Einheit des Gegensätzlichen ausgeführt: Unsere Zeit beherbergt nebeneinander und völlig unausgeglichen die Gegensätze von Individualismus und Gemeinschaftsinn, von Aristokratismus und Sozialismus, von Pazifismus und Materialismus, von Kulturschwärmerei und Zivilisationsbetriebt, von Nationalismus und Internationalismus, von Intuition und Rationalismus und ungezählt viele mehr. Man verzeihe das Gleichnis, aber der Zeitmagen ist verdorben und stößt in tausend Mischungen immer wieder Brocken der gleichen Speisen auf, ohne sie zu verdauen.⁶
Aus dieser kritischen kulturdiagnostischen Perspektive einer Mischung unausgeglichener Gegensätze resultiert eine Indifferenz des Einzelnen. Der frühe Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (1913) greift in diesem Zusammenhang den Begriff Mitteleuropa ein einziges Mal auf. Im Zusammenhang mit der zen-
Musil: Anmerkung zu einer Metapsychik [April 1914], ebenda, S. 1015 – 1019; Musil: Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind [März 1921], ebenda, S. 1042– 1059. Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste [1922], ebenda, S. 1075 – 1094, hier S. 1087. Musil: Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit [1921], ebenda, S. 1059 – 1075, hier S. 1068. Musil: Das hilflose Europa, ebenda, S. 1087– 1088.
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tralen These, dass das Individuum im Staat zum „Gewährenlassen“ verdammt sei, formuliert Musil scharf: „Es ließ der Engländer und Amerikaner nicht die Kinder in Mitteleuropa verhungern, sondern er ließ es bloß zu, und wir selbst haben unseren Teil an den Greueln nicht getan, selbst wenn wir die Täter waren, sondern wir haben ihn bloß zugelassen.“⁷ Das „aktive Gegenstück zu diesem Gewährenlassen“ sei die „aktenmäßige Behandlung menschlicher Fälle“ und als Symbol „der indirekten Beziehung zwischen Staat und Mensch“ führt der ein technokratisches Symbol ein. „Es ist der Knopf, den man drückt, und wenn deshalb ein Mensch stirbt, so hat man es nicht getan“.⁸ Der Kulturraum Mitteleuropa ist hier aufgehoben in ein allgemeines Dilemma der Moderne zwischen Konkretem und Abstrakten, Institutionalisierung und Lebenswelt. Doch das heißt nicht, dass Musil die Spezifik und Problematik des Vielvölkerstaates der k.u.k.-Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg entgangen wäre. In seinem Roman erscheint dies vielmehr recht deutlich, wird dort jedoch von der Parodie Kakaniens überlagert.
1 Kakanien als Mitteleuropa – nur eine Parodie? Warum Mitteleuropa keiner Erwähnung bei Musil bedarf, findet seine naheliegende Antwort in seinem Neologismus „Kakanien“. Inwiefern die Darstellung der k.u.k.-Monarchie kurz vor ihrem Untergang im Mann ohne Eigenschaften an die Stelle des Begriffs Mitteleuropa tritt, muss diskutiert werden. Zunächst ist ja eine Parodie dieses Staates, der zwar einiges, aber nicht für alles von Mitteleuropa, einstehen kann. Eine genauere Lektüre des Kakanien-Komplexes im Roman (und in den Notizen und Entwürfen dazu) zeigt indes, dass Musil hier exakt die Problematik eines Vielvölkerstaates aufgreift und mit der Problematik der Identifikation verbindet. Der Roman greift so die in den Essays behandelten Themen des Zusammenhangs von Staat und Nationalität und von Ideologie und Kultur auf und thematisiert sie auf eigene Weise.⁹ Nicht zuletzt ist die „Parallelaktion“ im Roman Gegenstand zahlreicher kultureller und politischer Verhandlungen, bei denen die Frage der Repräsentanz der Völker erscheint und die Position Deutschlands zudem Probleme bereitet. Dass am Ende nur ein Trachtenzug herauskommt, spiegelt das Problem der Völker-
Musil: Nation als Ideal und als Wirklichkeit, ebenda, S. 1068. Ebenda. Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, S. 31– 35. Seitenangaben im Folgenden im Text nach dieser Ausgabe. Zu Kakanien vgl. Musils Entwürfe, Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 2, S. 1436 – 1553, hier S. 1444. Für eine kurze Übersicht zum Kakanien-Komplex vgl. Innerhofer: Kakanien.
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vielfalt.¹⁰ Obwohl gegen das Thronjubiläum in Deutschland gerichtet, bindet die planende Findungskommission im Hause Tuzzi mit dem deutschen Industriellen und „Großschriftsteller“ Arnheim die Frage der deutschen Interessen auf komplexe Weise ein.¹¹ Arnheim ist in Musil Roman als internationaler Wirtschaftsmanager und Erfolgsautor nicht nur die Gegenfigur zu Ulrich als Mann ohne Eigenschaften. Die Figur Arnheims spielt sehr deutlich auf Walter Rathenau an. Die wirtschaftlichen wie literarisch-philosophischen Parallelen sind deutlich. Doch der Roman stellt eher, wie schon Musils Rezension zu Rathenaus Mechanik des Geistes, die Philosophie der Seele in den Vordergrund und lässt Arnheim so ironisch zu einer Figur mit Doppelmoral werden: intellektuell mit weihevollen Themen wie Schönheit, Seele und Liebe vertraut, handelt er wirtschaftlich mit rationalem Machtkalkül. Die Aufspaltung von privat und geschäftlich, die hier sichtbar wird, entspricht dabei wiederum der Diagnose der Moderne durch Musil. Rathenaus politische Position zu Mitteleuropa bleibt daher im Roman im Hintergrund. Doch Walter Rathenau wird in der Zeit unmittelbar nach der Romanhandlung prominentes Mitglied der „Reichsdeutschen Waffenbrüderlichen Vereinigung e.V.“ (1915 – 1918). Sie richtete sich mit ihrer „Mitteleuropa-Konzeption“ gegen die sogenannten „Annexionisten“ um den „Altdeutschen Kreis“. Die RWV sah nicht die Annexion im Krieg eroberter Gebiete als Ziel an, sondern den freiwilligen Zusammenschluss zu einem Wirtschaftsraum, in dem freilich Deutschland die Führung innehaben sollte. Am 10. Dezember 1915 fand die erste öffentliche Versammlung der RWV in Berlin mit einer Rede Friedrich Naumanns statt. Später gründete man einen „Arbeitsausschuß für Mitteleuropa“.¹² All dies scheint auf den ersten Blick für Musils Roman keine Rolle zu spielen. Erst in einer Detaillektüre zeigen sich Verweise und Reflexionen auf die komplexe politische Gemengelage, die Parallelaktion und Kakanien oder der Staat, „der an einem Sprachfehler zugrunde gegangen ist“ zu mehr machen, als nur zu einer Parodie. Indem Musil das Identifikationsproblem von Individuen, Völkern und Nationen mit dem Staat in den Blick nimmt, folgert er mit der These einer „Psy Unter den vielen Kapiteln zur Parallelaktion im Roman vgl. hier vor allem Kapitel 42 „Die große Sitzung“, Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, S. 167– 173 und Kapitel 120 „Die Parallelaktion erregt Aufruhr“, ebenda, S. 625 – 634. Zu Graf Leinsdorfs Verhalten als Realpolitiker vgl. ebenda, S. 347– 351 und S. 512– 517. „Allein die Folge war, daß augenblicklich nun auch in deutschen Kreisen ein lebhaftes Treiben gegen die Parallelaktion einsetze, so daß diese am Ende auf der einen Seite für einen deutsch-feindlichen Anschlag angesehen und offen bekämpft wurde, während sie auf der anderen für einen pangermanischen galt“. Ebenda, S. 517. Vgl. Schotte: Die Reichsdeutsche Waffenbrüderliche Vereinigung (1917) und Gottwald: Reichsdeutsche Waffenbrüderliche Vereinigung (1915 – 1918), S. 662– 666. Für eine Übersicht vgl. Elvert: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918 – 1945).
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chotechnik“ (Bd. 2, S. 513) der Nationen schließlich die Genese von Nationalismen als Effekt dieser Lage. Damit wird kulturelle Heterogenität hier als dynamisches Kraftzentrum bestimmt, das zentrifugale wie zentripetale Kräfte birgt. Die Problematik Mitteleuropas wird damit ebenso spezifisch wie übergreifend als Problematik moderner Gesellschaften aufgenommen.¹³ Musils Roman kann daher sehr wohl als literarische Auseinandersetzung mit Mitteleuropa verstanden werden. Das Verhältnis von Beispiel und Fall ist jedoch komplex. Musil ist an mehr interessiert, als an einer nur historischen Darstellung der Problematik Mitteleuropas oder Österreichs, indem er eine Gesellschaftsanalyse und Zeitdiagnose einbindet. Die Parodie Kakaniens geht daher in eine regelrechte Theorie nationaler Identität und der Entstehung von Nationalismus über und dies geht über das konkrete Beispiel Österreichs um 1913 weit hinaus. Doch ein Roman ist keine Gesellschaftstheorie. Die Form, in der der Roman diese Theorie vorstellt, muss als literarische Form reflektiert werden – als essayistisch – ganz in dem Sinne wie der Begriff des Essays im Roman entwickelt wird: als möglichst genaue Bestimmung eines kaum genau im Ganzen zu Fassenden. Auf literarisch-essayistische Weise wird so eine Theorie der Identitätsbildung formuliert, die vom Mangel an politischen und kulturellen Identifikationsangeboten ausgeht und daher zum Nationalismus führe. Wie man Staaten und Nationen jedoch eine „Psychotechnik“ oder Psychologie unterstellen kann und auf welche Zusammenhänge Musil dabei rekurriert, bedarf zunächst noch der Ausführung.
2 Das Modell Kakanien und der Essayismus Was Musil mit dem Wort und Thema „Kakanien“ in seinem Roman verhandelt, ist also nicht nur eine Parodie des damaligen Österreichs. Es ist auch nicht einfach ein Beispiel, denn Musil thematisiert Strukturen, in denen die Moderne als fundamentaler Strukturwandel dargestellt ist – von den Themen der klassischen Moderne wie Großstadt, Beschleunigung und Technisierung des Lebens bis hin zur Frage der Identitätsbildung in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften. Auf Wien als Stadt, so heißt es ja schon im ersten Kapitel, komme es gar nicht an. Die Frage, wo man sich befinde, auch wenn Großstädte an ihrem Geräuschspektrum mit geschlossenen Augen erkennbar sind, werde überschätzt. Das sei ein Relikt aus der „Hordenzeit“ (Bd. 1, S. 9). Die lokale Zugehörigkeit ist damit
Vgl. Wolf: Kakanien. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Zum Roman insgesamt Honold: Die Stadt und der Krieg sowie Mülder-Bach: Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften.
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schon auf der ersten Seite des Romans als Atavismus bezeichnet, als eine Einstellung, die Orientierung und Identität prägt, jedoch von den Strukturen der Moderne längst überholt und ersetzt wurde. Was heute als Begriff der Globalisierung und als Streit über die Rolle nationaler Identität in der Europäischen Union erscheint, ist bereits bei Musil als Problem der Moderne reflektiert. Kakanien übernimmt daher im Roman die Funktion eines Modells. Der Begriff des Modells verweist auf eine kontrollierte, in der Architektur maßstabsgetreue Verkleinerung und bezeichnet damit ein Verfahren, in dem das Reale auf ein überschaubares Maß reduziert wird. Dies schließt an die Gedanken zum Essayismus im Mann ohne Eigenschaften an. Folgt man der Forschung zur Poetologie des Romans, so erhält man schnell zwei Antworten zur literarischen und narrativen Einbindung Kakaniens. Die eine ist der „Möglichkeitssinn“ und damit das implizite Thema der Utopie im Roman (die Welt könnte anders sein), die andere Antwort lautet „Essayismus“. Die Idee des Essayismus, die Ulrich anschließend an sein Ideale des hypothetischen Lebens entwickelt, umfasst die Verbindung gegensätzlicher und eigentlich sich ausschließender Größen: die der Unbestimmtheit und der Genauigkeit. Ulrich möchte die naturwissenschaftliche Exaktheit in genau jene Lebensund Kulturbereiche einführen, wo sie nicht möglich ist – etwa auch in das Gefühl oder in die Seele. Hintergrund ist jedoch keine Intuition, sondern ein gut gegründetes Wissen der Moderne, das erstens von der Relativität der Dinge in Abhängigkeit von ihrer Beobachtung ausgeht (also Heisenbergs Unschärferelation) und zweitens einen Standpunkt zurückweist, der die Welt zu überschauen meint. Die Folge ist einmal mehr der Möglichkeitssinn und ein Verhalten, dass vorläufiges Wissen, Standpunkt und Bestimmung der Dinge zusammendenkt. In Ulrich war später, bei gemehrtem geistigen Vermögen, daraus eine Vorstellung geworden, die er nun nicht mehr mit dem unsicheren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten Gründen mit dem eigentümlichen Begriff eines Essays verband. Ungefähr wir ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen – denn ein ganz erfaßtes Ding […] schmilzt zu einem Begriff ein – glaube er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. (Bd. 1, S. 250)
Resultiert daraus eine Bewertung, die je nach Umständen ‚Gut‘ oder ‚Böse‘ (etwa einen Mord) relativieren oder umwerten kann, wird diese essayistische Lebenshaltung kurz darauf zu einem Ausdruck der momentanen Überzeugung des Perspektivismus: Die Übersetzung des Wortes Essay als Versuch, wie sie gegeben worden ist, enthält nur ungenau die wesentlichste Anspielung auf das literarische Vorbild: denn ein Essay ist nicht der vor- oder nebenläufige Ausdruck einer Überzeugung, die bei besserer Gelegenheit zur
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Wahrheit erhoben, ebenso gut aber auch als Irrtum erkannt werden könnte (von solcher Art sind bloß die Aufsätze und Abhandlungen, die gelehrte Personen als ‚Abfälle ihrer Werkstätte‘ zum besten geben); sondern ein Essay ist die einmalige und unabänderlicher Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt. Nichts ist dem fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit der Einfälle, die man Subjektivität nennt […]. (Bd. 1, S. 253)
Wie auch immer problematisch eine solche Lebenshaltung ist – und wie viele literaturwissenschaftliche Studien sich diesen prominenten Stellen in Musils Roman widmen –, es ist naheliegend die „einmalige und unabänderliche Gestalt“ auch auf den Roman und seine Kapitel selbst zu übertragen.¹⁴ Mit dem Begriff des Essayismus nimmt Musil den Versuch vor, das große Ganze dennoch modellhaft im jeweiligen Kontext so präzise wie möglich zu bestimmen. Der Roman wird dabei immer wieder die Diagnose aussprechen, dass man das Einzelne sehr genau verstehen könne, während sich das Ganze der Beobachtung entziehe. Diese Lage wird immer wieder als Zeichen der Zeit benannt. Kakanien steht in diesem Kontext nicht nur für ein atavistisches Staatsgebilde, das seine Probleme nicht bewältigen konnte und von der Moderne überholt wurde. Aus einer anderen Perspektive betrachtet ist Kakanien zugleich eine – wie auch immer problematische – heterogene Einheit, in der dem Einzelnen noch Raum und Zeit für sein Leben nach eigenen Vorstellungen gegeben werde. Dieser positive Unterton in der Parodie mag an der Realität der k.u.k.-Monarchie als „Gefängnis der Nationen“ vorbeigehen, doch in der Kontrastierung von alter und moderner Weltordnung wird Kakanien im Roman zu einer Art rückwärtsgewandter Utopie, zu einem Gesellschaftszustand, der Freiheit und vor allem Heterogenität noch zulässt.¹⁵ Es ist daher keine Überraschung, wenn das frühe Kapitel Kakanien im Roman nicht mit Österreich und Ungarn, mit Budapest oder Wien beginnt, sondern mit einem scheinbar völlig fernliegenden Thema: mit einer „überamerikanische Stadt“ (Bd. 1, S. 31). Dieser „Ameisenbau“ einer Großstadt zeichnet sich durch die Strukturen der modernen Lebenswelt aus: „Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten“. Es sind Strukturen in denen die Menschen „wie Maschinenglieder“ (ebd.) befördert werden. Das Motiv der Großstadt führt hier jedoch noch über die Diagnose hinaus, dass es in der Hektik
Vgl. Nübel: Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Musil zitiert den Topos mehrfach im Roman. Vgl. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, S. 450 („die nicht erlösten Nationen“), als „Gefängnis“ der Völker ebenda, S. 516, im Titel des Kapitels 108, ebenda, S. 517. General Stumm denkt: „Trotzdem nannten sich die unter Kakaniens Krone vereinigten Völker unerlöste Nationen!“ Ebenda, S. 518. Vgl. dazu auch Honold: Kakanien kolonial.
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der Moderne kaum noch Orte gibt, an denen das Individuum und seine Seele verweilen könne. Musils Darstellung wirft vielmehr nun einen analytischen Blick auf die funktionale Zerteilung des Lebens, etwa in Arbeits- und Privatleben. In der Moderne differenzieren sich autonome Bereiche des Lebens aus und es sind wiederum diese autonomen Systeme, welche die imaginierte moderne Stadt strukturieren: „[J]eder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, die Vergnügen sind in anderen Stadteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet.“ (S. 31) Diese Kritik der Moderne zielt auf die Auftrennung der Seele und des geistigen Vermögens. Während im Beruf Präzision und Exaktheit ausgeübt werde, bestimme die Freizeit und das individuelle Leben ein Ungefähr. Das Ganze des Menschen ist zerrissen in Teilfunktionen. Dem Bild dieser überamerikanischen Großstadt steht der „untergegangene, unverstandene Staat“ (Bd.1, S. 32) Kakanien gegenüber, in dem „alles etwas langsamer“ ging. Dort gab es „auch Tempo, aber nicht zu viel Tempo“. Man war im „Mittelpunkt Europas“ (Bd. 1, S. 33), aber „hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtsehrgeiz […]. Man entfaltete Luxus, aber beileibe nicht so überfeinert wie die Franzosen.“ (ebd.) Wien ist eine Großstadt, aber keine so große wie London oder Paris. Es gab Automobile „aber nicht zu viele Automobile!“ (ebd.) In dieser rhetorischen Form des Widerstands zur Moderne wird Kakanien und seine „beste Bürokratie der Welt“ (S. 33) eingeführt, deren Verwaltung so langsam ist, dass sie Freiraum für individuelle wie nationale Abweichungen lässt. Denn nicht zuletzt zählt die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Länder Kakaniens dazu. Und was für Länder! Gletscher und Meer, Karst und böhmische Kornfelder gab es dort, Nächte an der Adria, zirpend von Grillenunruhe, und slowakische Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Nasenlöcher stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wärmen. (Bd. 1, S. 32– 33)
In der Differenz Kakaniens zur modernen Welt liegt noch etwas Positives, dass hier zwar im Bild der „aufgestülpten Nasenlöcher“ ironisch gebrochen wird, zugleich aber im Bild des Kindes der Erde die slowakischen Dörfer die Einheit der Differenz in Kakanien als positiven Wert betont. Es sind dabei gerade die inneren Widersprüche des untergegangenen Staates, die einen Freiraum lassen und die Kakanien der funktionalen Moderne gegenüberstellt. Musil formuliert auch dies ironisch in der Form von Paradoxien, die Kakanien ausmachen, die als Effekt jedoch überraschend einen Freiraum für den Einzelnen ergeben. Kakanien „war nach der Verfassung liberal, aber es wurde
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klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig.“ (Bd. 1, S. 33) Die Verfassung im doppelten Sinne des unverstandenen Staats ist also paradox und lässt Platz oder Spielraum für Abweichungen. Was aber heißt das für Mitteleuropa? Die Heterogenität, so ist zu zeigen, bildet ein Kraftzentrum widerstreitender Interessen, die im Nationalismus und im Krieg das Ende dieses Staates einleiten werden und damit genau jene Freiräume einschränken.
3 Die Psychotechnik der Staaten und der Nationalismus Staaten hätten, so heißt es im Roman, ebenso eine Psychologie wie Individuen (Bd. 2, S. 513). Wissenschaftlich ist dies eine problematische Analogie. Literatur als Möglichkeitssinn aber darf so etwas und Musil schlägt aus solchen Gedankenexperimenten und Übertragungen des Einen auf das Andere Gewinn.¹⁶ Es ist das Verfahren des Essayismus selbst: die Setzung einer These, die zu weiteren Folgerungen und Beobachtungen führt, wenn sie als Möglichkeit einmal angenommen wird. Die angenommene Psychologie wird daher im „Mann ohne Eigenschaften“ auch nicht als Völkerpsychologie ausformuliert oder versucht sie in freudschen Begriffen des Unbewussten oder der Verdrängung zu plausibilisieren, sondern führt in das Spannungsfeld von Erwartungen, genauer von Erwartungserwartungen, die Individuen wie Staaten als Systeme mit konstituieren. Die Psychologie wird damit zu einer Soziologie im literarischen Modus einer essayistischen These zum Problemzusammenhang der Heterogenität der Nationen und insbesondere des Verhältnisses des Einzelnen zum Staat. Der psychologische Ansatz liegt in der Orientierungslosigkeit des Einzelnen, der auf der Suche nach Identifikationsangeboten sei. Exakt in dem Essay, in dem das Wort Mitteleuropa 1913 beiläufig fällt, liegt eine Art Nukleus dieser Konzeption vor. Die Nation wird „als Ideal und als Wirklichkeit“, so im Titel des Essays von 1921, kritisch hinterfragt und dem Staat die Problematik der Identifikation attestiert. Schon in einem Essay von 1912 zur Politik in Österreich heißt es: Es ist nicht die Idee des Staates, nicht die dynastische Idee, nicht die einer kulturellen Symbiose verschiedener Völker (Österreich könnte ein Weltexperiment sein), – wahrscheinlich ist das Ganze wirklich nur Bewegung zufolge Mangels einer treibenden Idee […]. Politische Mißstände solcher Art haben stets ihre Gründe in kulturellen. Politik in Österreich
Vgl. Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman.
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hat noch keinen menschlichen Zweck, sondern nur österreichische. Man wird kein Ich durch sie, obwohl man alles andere mit ihrer Hilfe werden kann […].¹⁷
Österreich als „Weltexperiment“ und das Problem der Identität des Ichs bilden einen Fokus, der in einem mangelnden kulturellen Identifikationsangebot das Manko findet, um die Einheit des Heterogenen zu stiften. Diese Überlegungen machen Kakanien im Roman zu einem Modell der Sozioanalyse. Musil fokussiert mit der Psychologie von Staaten eine Problematik, die Mitteleuropa damals wie heute betrifft und durchaus auch auf Probleme des heutigen Europas und der Europäischen Union übertragbar ist.¹⁸ Dass dies bei Musil zeithistorisch in eine Perspektive gefasst ist, die auf den Krieg geradezu zwangsläufig hinauszulaufen scheint, macht sein Modell provokant. Die Problematik der Identifikation des Einzelnen wie der verschiedenen Nationalitäten und Völker in Kakanien bildet den Hintergrund, vor dem Musil im Roman formuliert, dass Kakanien an „einem Sprachfehler zugrunde gegangen ist“. Denn Kakanien stürzt seine Bewohner schon rein sprachlich in ein Dilemma der Identifikation. Dieser Staat „war zum Beispiel kaiserlich-königlich und war kaiserlich und königlich“. (Bd. 1, S. 33) Die unscheinbare Differenz der Zeichen zwischen „k.k.“ und „k.u.k.“ (ebd.) provoziert Fragen der Zugehörigkeit und Identität. „Es nannte sich schriftlich Österreich-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen; mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte“, aber eben als „Gefühlsangelegenheiten“ beibehalten hatte. (ebd.) Diese Paradoxien lassen eine Identifikation nur in Teilen zu, die Einheit ‚Österreich-Ungarn‘ zerfällt in die Teile, die sie verbindet. Das Resultat ist eine innere Abgrenzung der „unerlösten Nationen“ gegeneinander. Kurzum, so heißt es, die „Abneigung gegen Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert“. (ebd.) Das aber heißt, dass nationale Identität hier nur als negativ konstituiert gedacht wird. Man war nur „negativ frei“ (Bd. 1, S. 35) und daher unzureichend konstituiert, heißt es weiter, was zur Folge habe, dass man stets anders denke, als man handele und umgekehrt. Weder der Staat noch seine Einwohner hätten daher einen Charakter, sondern vielmehr mehrere: „Es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen- und einen Musil: Politik in Österreich [1912] – Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, S. 992– 995, hier S. 993. Vgl. Karthaus: Musils „Kakanien“ – ein Modell? Sowie Bolterauer: Kakanien – oder was eine mitteleuropäische Landschaft sein könnte.
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geographischen, ein Geschlechts- einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch einen privaten Charakter.“ (Bd. 1, S. 34) So erscheint im Roman ein Bild der Gemengelage Mitteeuropas im Modell Kakaniens. Dabei aber nicht genug: Auch Nationen und Völker und sogar Rassen sind von Musil als in sich selbst heterogene Gemengelage oder hybride Mischungen gedacht. Von dieser Perspektive oder These aus, folgert Musil die angesprochene „Psychologie“ von Staaten. Auf der Suche nach Orientierung und Identität, die im politischen Raum nicht gewährleistet wird, fungiert die Abgrenzung vom anderen als Mittel zur Konstitution des Eigenen. Nationen und Völker sind daher selbst Effekte der Suche nach Identität, die durch Aus- und Abgrenzung konstituiert wird. Musil nennt fasst dies als „Unwunschbilder, an denen sich die Unlust, Unstimmigkeit, gleichsam der Rückstand einer schleckenden Verbrennung anhäuft, den das Leben heute zurückläßt“. (Bd. 2, S. 513) Die „vermisste Zufriedenheit mit dem eigenen Tun“ wird „durch die leicht ersetzbare Unzufriedenheit mit dem der anderen ersetzt.“ (Ebd.) Diese Lage konstituiert als die Negation und Abgrenzung als Gemeinsamkeit, sie scheine „den Zwischen allen Geschöpfen schwingenden Haß zu bilden, der für die gegenwärtige Zivilisation so kennzeichnend ist“. (Ebd.) Resultat dieser Lage ist eine Identifikation mit nationalen Werten in Abgrenzung zum politischen Gebilde des Staates und diese Form der Abgrenzung begreift Musil als Psychotechnik.Während Graf Leinsdorf im Kapitel 107 über seine Abneigung gegen Deutschland nachdenkt und dem Erzähler damit Anlass zu diesen Reflexionen gibt, führt schon zuvor das Kapitel 98 diese Psychotechnik der Völker nicht nur als Problematik, sondern als entscheidende Erkenntnis an, explizit als einen „wichtigen Beitrag“, den Kakanien zur Reflexion der Ursachen des Weltkriegs und der Lage der Moderne anbiete: „Man tut heute so, also ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag.“ (Bd. 2, S. 450) Diese erweiterte Erklärung bezieht sich auf das Problem der Heterogenität individueller wie kultureller Identität, die Musil zunächst wieder als Parodie des Kompositums „kaiserlich-königlich“ einführt, dann aber auch auf die Einheitsvorstellung von Volk und Nation bezieht. Zunächst wird das Dilemma der Völker und Individuen in Kakanien vor Augen geführt: Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen, kaiserlich-königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich österreichische. Ihr begreiflicher Wahlspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war ‚Mit vereinten Kräften!‘ (Bd. 2, S. 451)
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Die Ironie macht mehr als deutlich, dass die Wirklichkeit anders funktioniert als die Sprache, die mit einer Floskel das Problem umgeht. Die Folge aus dem Dilemma ist zunächst ganz einfach: „Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn […]; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts.“ (Ebd.) Die Parodie zielt hier jedoch nicht einfach darauf ab, dass die beiden Nationen nicht zueinander finden, sondern dass kein Begriff ihrer Einheit gefunden werden kann, beweist, dass keine geistige Einheit existiere und keine wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Angebote für eine gemeinsame Identität entwickelt worden sind. Genau daraus aber resultiere der Nationalismus: Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, – und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. (Bd. 2, S. 451)
Der „wichtige Beitrag“ Kakaniens besteht jedoch nicht nur in dieser Einsicht in das Dilemma Kakaniens. Vielmehr geht es übergreifend um die Hybridität vermeintlicher Einheiten wie Staat, Nation oder Volk, deren Mangel an Identität mit der Regelhaftigkeit einer „Psychotechnik“ zur Abgrenzung führt. Identitätskonstruktion aus Mangel an Identität – das ist Ergebnis Musils essayistischen Ansatzes.¹⁹ Die daraus resultierende Frage der damaligen wie der heutigen Zeit ist folglich die nach Ideen und Modellen, die übergreifende Identifikationsangebote stiften. Zu abstrakte Ideen, wie etwa „Gleichheit“ oder „Staat“ drohen zu scheitern, aber auch Wirtschaftsunion oder Machtpolitik sind keine Lösungen, durch die sich die innere Differenz der Identität dauerhaft vor einer Abspaltung in Nationalismen bewahren ließe. Exakt an dieser Stelle setzt die Frage nach Kultur ein, nach einer „erlösenden“ Idee, auf die im Roman Musils vergeblich gehofft wird. Gerade eine kulturelle Leitidee kann von der „Parallelaktion“ nicht gefunden werden und ihr Ruf als „deutschfeindlich“ und/oder „slawenfeindlich“ lässt keine Einigung auf eine erlösende große Idee zu. Nach zahllosen Vorschlägen, die meist als Parodie erscheinen – wie das Nietzsche-Jahr, das Clarisse fordert oder die Kurzschrift Öhl – soll schließlich der Plan eines Trachtenfestzugs die verschiedenen Völker versammeln. Er wirft jedoch erneut die Frage auf, wer dort wie repräsentiert wird –
Vgl. Bringazi: Musil und die Mythen der Nation. Nationalismus als Ausdruck subjektiver Identitätsdefekte, vgl. auch Jonsson: Subject without nation. Zum Nationalismus zwischen ursprünglich einheitsstiftenden und nationalistischen Bewegungen übergreifend Alter: Nationalismus.
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und ob die Deutschen auch dabei sein sollten. Sicher ist nur, dass „Tiroler Standschützen“ auftreten sollen. ,Die Stämme Österreichs und Ungarns huldigen dem inneren und äußeren Frieden’ wird er heißen, berichtete Stumm […] Denn der Trachtenfestzug und wahrscheinlich eine Militärparade sind das einzige, was bis jetzt von den Feierlichkeiten feststeht. Es werden die Tiroler Standschützen über die Ringstraße marschieren, denn die geben mit ihren grünen Hosenträgern, den Hahnenfedern und den langen Barten immer ein malerisches Bild ab; und dann sollen auch noch die Biere und Weine der Monarchie den Bieren und Weinen der übrigen Welt huldigen. Aber schon da besteht zum Beispiel noch keine Einigung darüber, ob nur die österreichisch-ungarischen Biere und Weine denen der übrigen Welt huldigen sollen, damit der liebenswürdige österreichische Charakter umso gastlicher hervorkommt, als man auf eine Gegenhuldigung verzichtet; oder ob auch die ausländischen Biere und Weine mitmarschieren dürfen […]. (Bd. 2, S. 1119 – 1120)
Kakanien bleibt durch eine innere Vielfalt geprägt, die sich auf keinen Nenner bringen lässt, umso weniger, als mit Deutschland auch Äußeres zum Inneren zählt. Die inneren Grenzziehungen und Abgrenzungen sind aus Gründen der Hybridität und Mischung der Kultur und ihrer historisch immer schon bestehenden kulturellen, sozialen und nicht zuletzt wirtschaftlichen Vernetzungen nicht mehr zu treffen.²⁰ Kultureller und politischer Raum kongruieren daher nicht. Durch die Psychotechnik der Konstitution des Eigenen als Ab- und Ausgrenzung der Anderen und durch das Fehlen einer gemeinsamen Identität führt diese Lage zum Krieg. In den Entwürfen zum Roman notiert Musil zum Ideenkomplex Kakanien, dass die Vorstellung von einem „Herd des Weltkrieges“ deshalb eine paradoxe Vorstellung sei, da dieser vielmehr aus zahlreichen geistigen und geografischen „Herden“ bestanden habe, deren Verflechtung eine Zentrierung auf einen Ort (etwa Sarajewo) eben so wenig stichhaltig sei wie seine Rückführung auf eine einzige Ursache. Vielmehr gelte, „daß die Ursache überall und bei jedem war. (Bd. 2, S. 1438) Die beschriebene Psychotechnik der Völker und das Problem der Konstitution von Identität tritt dabei als Mechanismus diffuser Wünschen und Interessen an die Stelle des allen Völkern und Menschen Gemeinsamen – und bildet zugleich die komplexe Ursache des Krieges. Der Mangel an Identität bleibt in dieser Darstellung Musils der Fokus der Überlegungen. Die konkrete Lage um 1913 in Mitteleuropa wird damit jedoch zu mehr als einem historischen Beispiel oder einer literarisch geführten Auseinandersetzung mit den Ursachen des Ers-
Vgl. Müller-Funk, Plener, Ruthner (Hrsg.): Kakanien revisited. Das Eigene und das Fremde (in) der österreichisch-ungarischen Monarchie.
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ten Weltkriegs. Indem die Strukturen der Psychotechnik selbst historisch übergreifend gedacht sind, wird Kakanien zum Anschauungsbeispiel für die Problematik der kulturellen Heterogenität in der Moderne, die Konzepte wie Staaten oder Nationen unterläuft. Eine entscheidende Pointe der essayistischen Reflexionen Musils zu diesem Problem des Staates in der Moderne ist, dass die Diagnose der Heterogenität sich nicht nur auf den Staat bezieht. Wenn der Staat als abstrakte Idee den einzelnen Menschen keine Identifikation bietet und sie daher auf ihre Identität als Nationen und Völker zurückgreifen, löst sich damit die Heterogenität nicht einfach auf. Die Suche nach Ursprüngen führe, so Musils Notizen zum Roman, immer auf Vielfalt. Wer nach seiner Herkunft sucht, der lande immer bei einer „fast unendlichen Unzahl von Menschen“ und müsse erkennen, dass er „gruppenweise abstamme“. (S. 1436) Gruppen aber sind immer schon Mischungen unterschiedlicher Individuen. Diese Erkenntnis habe wiederum Folgen: „So die, daß die Menschen sich teils für ‚Brüder‘ halten, teils für ‚Fremdstämmige‘, ohne daß einer diese Grenzen zu bestimmen wüßte, denn das, was man Nation oder Rasse heißt, sind Ergebnisse, keine Ursachen.“ (Ebd.) Die Rückwendung auf das vermeintlich Eigene erweist sich damit als Fiktion. Auch Nationen oder Völker sind kulturell hybrid, bestehen immer schon aus Mischungen unterschiedlicher Einflüsse, Assimilationen des Fremden, aus denen die eigene Herkunft und Tradition konstituiert ist. Dies entwertet die eigene Tradition keineswegs, relativiert jedoch jeden Begründungsversuch, der den Ursprung als reine, unverfälschte Genealogie für sich in Anspruch nimmt. Musil deckt mit dieser Dekonstruktion der vermeintlichen Einheit die Problematik von Identität, Identifikation und nicht zuletzt von Nationalgefühlen auf. Die nationale Heterogenität Mitteleuropas erweist sich so als dynamisches Kraftzentrum, das zentrifugal wirkt und zum Krieg führt, wenn nicht kulturelle Identifikationsangebote andere Möglichkeiten der Identifikation bieten. Die Parodie der so hilflosen Parallelaktion stellt exakt die Frage, nach der Funktion und Rolle von Kultur im Unterschied zu Politik, Recht, Staat oder Nationalismus. An der Aufgabe aber eine kulturelle Idee zu entwickeln, in der die Heterogenität Mitteleuropas – etwa als multikultureller Reichtum – zu einem positiven Wert wird, scheitern alle Bemühungen im Roman auf Grund der unverstandenen Psychotechnik. Inwiefern der Kulturraum Mitteleuropa dennoch Antworten bietet, wird im Roman nicht mehr ausgeführt. Ulrich als Medium des Möglichkeitssinns zieht sich von der Parallelaktion zurück und träumt vom „anderen Zustand“ in der Dyade mit seiner Schwester Agathe. Ob der Trachtenfestzug samt lokalen Bier- und Weinsorten eine gelungene Repräsentanz der verschiedenen Völker Kakaniens ist, oder ob dies nur die satirische Schwundstufe eines Identifikationsangebots für die Vielfalt darstellt, sei dahingestellt. Viel spricht in der Logik des unvollendeten Romans ohnehin dafür, dass die Parallelaktion zu keinem
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Ergebnis gekommen sein wird, bevor im August 1914 der Krieg alle kulturellen Überlegungen suspendiert. Auf der sprachlichen Ebene bietet Musils Kakanien-Komplex jedoch noch eine andere Lösung an. Es ist keine Lösung im Sinne eines Vorschlags oder einer praktikablen Idee, deren Umsetzung die erlösende kulturelle Idee mit sich bringt, sondern einmal mehr eine Reflexion der Lage, die daran erinnert, wie komplex sie ist. Dies geschieht allerdings in einer Form, die selbst Faktum und Fiktion mischt. Im Rahmen der „erweiterten Erklärung“ der Identitätsproblematik Mitteleuropas spielt in den Entwürfen zum Roman keineswegs nur Wien als vermeintliches Zentrum und Handlungsort eine Rolle. Es komme ja nicht wirklich darauf an, wo man sei, heißt es schon im ersten Kapitel. Auch Budapest und vor allem Brünn werden als Orte genannt, in denen sich die besondere Mischung Mitteleuropas zeige.²¹ Insbesondere die „Spinn- u[nd] Webstadt B.“, in der Ulrich seine Schwester Agathe trifft und in der er seinen Militärdienst absolviert hatte, spielt dabei als gleichsam dezentrales Zentrum Mitteleuropas eine besondere Rolle. In den Entwürfen zu späteren Kapiteln führt Musil ebenfalls eine eklatante Mischung an. Fabrikmauern und „fremd-geheimnisvolles Bauernland“ fänden sich dort ebenso wie die „Zuckerrübenplantagen des Großgrundbesitzers“ (S. 1444) bei dem „das dort schon vorhandene slawische Kleinbürgertum“ arbeitet. Das ist aber nicht alles. Die Stadt B. zeichnet sich – darin Brünn sehr ähnlich, aber auch etwa Olmütz – durch ihre historische Genealogie aus, in der die Mischung das Gesetz zu sein scheint. Sie war stets Einheit des Unterschiedlichen, Ort des Durchgangs, der Einflüsse, aber auch der Ursprünge. Dort ergaben sich schwierige Verhältnisse, denn die Stadt war deutsch. Sie lag sogar in einer deutschen Sprachinsel, wenn auch auf deren äußerster Spitze, und wußte sich seit dem 13. Jahrhundert in die stolzen Erinnerungen deutscher Geschichte verflochten. Man konnte in ihren deutschen Schulen lernen, daß hierorts schon der Türkenprediger Kapistran wider die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo gute Österreicher noch in Neapel geboren werden konnten; daß die Erbverbrüderung zwischen den Häusern Habsburg u[nd] Ungarn, die 1364 den Grund zur österr. ungar. [sic] Monarchie gelegt hat, nirgends anders abgeschlossen worden sei als hier […]. (Bd. 2, S. 1444)
Der Ort ist ferner von Schweden geprägt (im 30jährigen Krieg), durch Preußen (im 7-jährigen Krieg) sowie durch „die stolzen hussitischen Erinnerungen der Tschechen“. (ebd.) Die Informationen, die Musil hier gibt, mischen jedoch selbst historische Ereignisse und Orte, die Angabe sind hier zumindest nicht exakt zuzuordnen. Brünn wurde zwar von den Schweden belagert, aber ob Kapistran dort Zu Musils Darstellung von Ungarn vgl. Kerekes: Prag liegt zwischen Galizien und Wien: Das Ungarnbild in der österreichischen Literatur 1890 – 1945, S. 85 – 90.
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predigte, ist nicht sicher, geschweige denn, ob eine „Erbverbrüderung“ der Häuser Habsburg und Ungarn 1364 dort stattfand. Es geht hier also nicht um historische Genauigkeit oder um Geschichtsschreibung. Im Kontext der Stelle erweist sich diese Geschichtsklitterung vielmehr als Modell eines nationalen Narrativs, das als die deutsche Perspektive, die zudem dort in deutschen Schulen vermittelt werde, diese Sicht verbreitet. In „nichtdeutschen Schulen“ aber werde betont, so der Entwurf weiter, dass diese Stadt keineswegs deutsch sei, sondern die Deutschen vielmehr ein „Diebsvolk seien, daß sich fremde Vergangenheit aneigne.“ (Ebd.) Die Gechichtsklitterung zeigt sich damit als politisch motivierte Version und deutet damit nicht zuletzt den Kampf um die Deutungshoheit in der Repräsentation von Herkunft und Geschichte an. Die Stadt „B.“ tritt hier an die Stelle Kakaniens und seiner Gemengelage als komplexe Vielfalt und Kreuzungslinien vieler Völker und Nationen. So ist es letztlich immer schon die innere Vielfalt Kakaniens, die es auszeichnet. Wenn dieser untergegangene Staat jedoch nicht das „Entweder-Oder“ favorisierte, sondern vom „Sowohl-als-auch“ beseelt gewesen sei (ebd., S. 1445), wirft dies noch einmal die Frage nach den unverstandenen positiven Werten Kakaniens auf. Zumindest erinnert Musils Roman an die Aufgabe, in einem von unterschiedlichen nationalen und politischen Interessen geprägten Raum kulturelle Identifikationsangebote zu schaffen, bevor nationalistische Tendenzen in ihrem Glauben an genealogische Einheit in den Krieg führen.
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Das Drama von Flucht und Integration aus der Perspektive Mitteleuropas Max Zweigs „Medea in Prag“ von 1949
1 „In die deutsche Kultur geboren“ Max Zweig habe das Wort „Mitteleuropa“ geliebt, berichtet Harald Weinrich, nachdem er ihn im Exil in Jerusalem besucht hat.¹ Die Verbundenheit mit Mitteleuropa als seiner intellektuellen Heimat drückt sich darin aus, dass der ‚hybrid border crosser‘² Zweig trotz seiner Flucht seit 1934 weiter Dramen über Mitteleuropa auf Deutsch schreibt – denn, so wird Max Brod in derselben Situation zitiert: „[M]an könne als Schreibender nicht aus einer Sprache in die andere umsteigen wie aus einem Zug in den anderen.“³ Und Max Zweig selbst bekennt: Ich bin in die deutsche Kultur geboren worden; es war nicht meine freie Wahl. Ich bin durch die Sprache, welche meine geistige Welt ist, untrennbar an die Deutschen gebunden; das ist, was man auch sagen mag, ein unabänderliches Schicksal. Gewiß, die Geschichte der Deutschen ist seit Mitte des dreizehnten Jahrhunderts unter den großen Nationen Europas die kläglichste und verächtlichste, und sie haben sich durch die Jahrhunderte hunderttausendfach an den Juden versündigt. Aber die Kultur, welche sie schufen, gehört, zumindest in gewissen Epochen, zu den allergroßartigsten, die je ein Volk hervorgebracht hat.⁴
Weinrich betont in seinem Alteritätskonzept die komplexen Beziehungen von Wirklichkeitskonstruktion und der Wahrnehmung von Andersheit; vor diesem Hintergrund versteht er Fremdheit als emotional-subjektives Erleben. Fremdheit erweist sich als nicht essentiell, sondern als Zuschreibung. Entscheidend für die folgenden Überlegungen, und das gilt für alle Dramen Zweigs, ist das „kulturelle
Weinrich: Besuch bei Max Zweig. – In: Reichmann (Hrsg.): Max Zweig, S. 259 – 262, hier S. 259. Mit diesem Schlagwort wird der postkolonialen Identitätstheorie Rechnung getragen, die Hybridität auffasst als „a kind of superior cultural intelligence owing to the advantage of in-betweenness, the stradling of two cultures and the consequent ability to negotiate the difference.“ Ankie Hoogvelt: Globalization and the Postcolonial World, S. 158. Diese „in-betweenness“ wird weiter unten mit Waldenfelsʼ Phänomenologie des Fremden weiter ausgeführt. Zit. nach Rieder: Unter Beweis, S. 26. Max Zweig: Religion und Konfession – http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5486. https://doi.org/10.1515/9783110536003-028
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Archiv“⁵, aus dem sich die Alterität wie andere kulturelle ‚Zuschreibungsmuster‘ speisen. Lebensthema des Intellektuellen Zweigs ist, so könnte man sagen, die jahrzehntelange Beobachtung, wie im „unglückseligen 20. Jahrhundert“⁶ – so nannte er es – die gelebte kulturelle Diversität Mitteleuropas zerfällt, zumindest als eine erfahrene Toleranz sowohl in Mähren während der Donaumonarchie als auch im Berlin der 1920er Jahre. Unüberbrückbare Differenzen treiben das Konzept Mitteleuropa auseinander. Gleichwohl bezeichnet sich Max Zweig selbst auch später noch als österreichischen Schriftsteller; sein Tätigkeitsfeld reicht von den Orten seiner Adoleszenz – Olmütz, und in diesem Zusammenhang ist der Olmützer Kreis zu nennen, Prag und Wien – und seines erwachsenen Lebens – Berlin bis nach Tel Aviv und Jerusalem. Die Zwischenkriegszeit von 1920 – 1934 gibt er selbst als die anregendste an, denn Berlin sei damals „zur kulturellen Hauptstadt Europas“⁷ geworden. Hingegen ist seine Emigration über seine Geburtsstadt Proßnitz im Jahr 1934 nach Tel Aviv mehr oder weniger einem Zufall zu verdanken, da er einer Einladung folgt, der Aufführung seines Dramas Die Marranen im Nationaltheater Habimah in Tel Aviv beizuwohnen. Auf diese Weise gelangt Zweig, anders als der Rest seiner Familie, ins Exil und bleibt bis zu seinem Tod im Jahr 1992 dort. Dem Dramatiker, der in seinen 90er-Jahren seine Autobiographie verfasst, setzt sein Schriftstellerkollege Ralph Giordano schließlich in seinem 100. Lebensjahr ein Andenken in Form eines Videoportraits. Es dokumentiert die beeindruckende Lebensspanne und Zeitzeugenschaft des jüdischen Intellektuellen. In einer Rückschau auf das 20. Jahrhundert betrachtet Zweig die europäische Zeitgeschichte. Kritisch setzt er sich mit den Veränderungen in Mitteleuropa auseinander. Er avanciert somit, wie Ingeborg Fiala-Fürst skizziert, vom unbekannten „mährischen Zweig“⁸ zum israelisch-deutsch schreibenden Schriftsteller. Er wird erst durch seine Position im Exil gewissermaßen aus der Bedeutungslosigkeit der mährisch-deutschen Regionalliteratur herausgehoben. Wie sein langjähriger Weggefährte und späterer Nachbar, zunächst aber Kopf des so genannten Olmützer Kreises, Paul Engelmann (1891– 1965), trägt Zweig das jüdisch-intellektuelle Leben aus Olmütz nach Tel Aviv weiter. Mit Engelmann seien, so FialaFürst, die „Brücken zu sehen, die Mitteleuropa – oder das jüdische Mitteleuropa –
Fornet-Betancourt: Interkulturalität in der Auseinandersetzung, S. 8. So geäußert im Videoportrait von Ralph Giordano, https://www.youtube.com/watch? v=7cou2b69E0 A. Vgl. Zweig im Film von Giordano. Fiala-Fürst: Mähren – ein Sonderweg der deutschgeschriebenen jüdischen Literatur?, S. 124.
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unspektakulär durchqueren und verbinden.“⁹ Zweig gibt dabei im Exil, anders als beispielsweise Brod, seine Berufung als deutsch schreibender Dramatiker nicht auf. Die Flucht aus dem in diesem Kontext wie selbstverständlich so genannten Mitteleuropa hätte für jenen eigentlich eine Umorientierung auf dem Arbeitsmarkt sowie eine sprachliche zügige Eingliederung bedeuten müssen. Als ‚hybrid border crosser‘ aber stellt sich dieser Intellektuelle und Dramatiker explizit in einen ‚Zwischenraum‘ der Kulturen. Er ist ein Grenzgänger auch in seiner künstlerischen Arbeit, die seinen ruhelosen und unangepassten Geist verrät. Das ‚Zwischen‘, wie es besonders nachdrücklich in Bernhard Waldenfels’ Konzept von Fremdheit als einem Schwellenphänomen konturiert worden ist, passt ebenso zu Zweig wie zu seinen Figuren, insbesondere denjenigen seines Medea-Dramas. Dieses Konzept soll im Folgenden zunächst skizziert werden, ehe in der Dramenanalyse anhand der Übergangsfiguren die Problematik einer Unüberschreitbarkeit von Schwellen als Ordnungsphänome für die tschechische Gesellschaft erörtert werden soll. Die Schwelle, die gerade nicht als Grenze definierbar ist,¹⁰ oder vielmehr die Schwellenerfahrung, zeigt sich nach Waldenfels als genuin asymmetrisch, da sich das ‚Jenseits‘, das Fremde, relativ zum ‚Diesseits‘, zum Eigenen, verhält und dabei gerade nicht austauschbar ist.¹¹ Das Eigene ist immer unverhältnismäßig erzählbarer und dehnt womöglich seine (räumlichen) Grenzen auf Kosten des Fremden aus. Ausagiert wird die Differenz auch in der Schwellenmetaphorik von sakralem und profanem Raum, die auch hier als kulturelle Differenz bemüht wird. Das Zwischen, das Waldenfels chronotopisch als nicht feststellbar oder besser stillstellbar verstanden wissen will, wird in Platzhaltern wie Übergangsorten oder Zwitterwesen verbildlicht und durch Übergangsrituale, Übergangsinstanzen oder Übergangsfiguren eingehegt.¹² Dabei verdeutlichen solche ‚Mischbildungen‘ das Fremde par excellence, wie Medea als Zauberin und Frau, als Mutter und Mörderin, als Primitive und Intellektuelle eine Vielzahl an Paradoxa in sich vereint, ohne dass sich die Ambivalenzen schließlich auflösen würden. Damit ist ihr Schicksal besiegelt, wie es sich auch in Waldenfels’ Antwort auf die Frage nach der Überschreitbarkeit von Schwellen pointiert abbildet: Denn ausgehend von zufälligen Ordnungen, „die stets eines ermöglichen, indem sie anderes verunmöglichen, […] läßt sich das, was sich jenseits der Ordnungsschwelle abzeichnet,
Ebenda. Vgl. auch Walter Benjamin: Das Passagen-Werk I, S. 618: Schwelle als „Zone, Wandel, Übergang […].“ Vgl. Waldenfels: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, S. 211– 213. Vgl. Ebenda, S. 223 – 225.
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niemals völlig in die jeweilige Ordnung integrieren. […] Sie meldet sich in der Beunruhigung durch Fremdes […].“¹³
2 Eine Medea schwarzer Hautfarbe Zweigs Medea-Adaption Medea in Prag. Ein Schauspiel in fünf Akten von 1949 ist als zeitgenössische Kritik an der Nachkriegs-Tschechoslowakei – die Handlung spielt 1948¹⁴ – ein komplexes Gebilde, ist doch das Medea-Mythologem in seinen unterschiedlichen Ausprägungen eine Fluchterfahrung erster Stunde und von tragischer Hybridität. Ungeachtet dessen ist der Mythos stets als identitätsstiftendes kulturelles Archiv für die europäische Literatur angesehen worden. Mit dem Einbruch der außer-europäischen Medea in eine westliche Gesellschaft wird diese Übergangsfigur zu einer Identitätsstifterin ex negativo. Ein Mythologem wird dabei von Zweig zentral gesetzt: das Umschlagen von Hospitalität in Hostilität¹⁵, das eine Nachkriegsordnung kennzeichnet, die Zweig nicht akzeptieren will, hat er doch in seiner Kindheit und Jugend erlebt, dass ein Nebeneinander von Kulturhandlungen – in seinem Fall der autonomen jüdischen Gemeinde in Proßnitz und der tschechischen Gemeinde – ohne Identitätsverlust der Beteiligten möglich sein kann. Er verarbeitet in seiner Medea in Prag den Schrecken der sich etablierenden kommunistischen Nachkriegsidentität, und zwar nicht, weil er sich gegen den Kommunismus aussprechen würde, sondern weil er ein menschenfeindliches, totalitäres Regime zu erblicken meint, das ihm allzu viele Parallelen zur nationalistischen bzw. nationalsozialistischen Ideologie offenbart. In diesem Sinne plante auch schon Bertolt Brecht bereits 1933 mit Hanns Eisler ein Medea-Projekt; überliefert ist allerdings nur das Gedicht „Die Medea von Lodz“ von 1934, das die Aktualisierung ‚immer wiederkehrender‘ Medeen in den Mittelpunkt rückt:
Ebenda, S. 228. Zweigs Medea in Prag wird zit. nach: Max Zweig: Dramen I, S. 59 – 128 mit der Seitenzahl in Klammern. Im gleichen Jahr erscheint Edward S. Sterns bahnbrechende kinderpsychologische Studie zum „Medea-Komplex“, vgl. Stern: The Medea Complex: the Mother’s Homicidal Wishes to her Child. Auf die Wortverwandtschaft von hospes/hostis wird immer wieder verwiesen, um zu verdeutlichen, dass Gastfreundschaft und Gastfeindschaft zwei Seiten einer Medaille sind, die den Gast in beiden Fällen als Fremden ausweisen, nämlich als Bittsteller, der die Grenze zum Eigenen markiert. Dieser Gestus der Hikesie wird auch in der Inszenierung ausgewiesen: Als Leila an Klements Wohnung ankommt, „kniet sie sofort an der Schwelle nieder“ und sagt: „Nimm die Fremde gütig auf an deinem gastlichen Herd!“ (S. 69), was zunächst auf Ablehnung stößt.
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Da ist eine alte Märe, Von einer Frau, Medea genannt […] Da hören wir mit einem mal Jetzt die Rede gehn Es würden in unseren Städten Von neuem Medeen gesehn. Zwischen Tram und Auto und Hochbahn Wird das alte Geschrei geschrien 1934 in unserer Stadt Berlin.¹⁶
Das Gedicht „bezieht sich vermutlich auf die sogenannten Ostjuden, die sich hauptsächlich im Berliner Scheunenviertel niedergelassen haben. Sie gehörten zu den orthodoxen Juden, die sich nicht assimilierten und deshalb von den Nationalsozialisten besonders verfolgt wurden.“¹⁷ Die polnische Stadt Łódź, in der zu Brechts Zeiten 250.000 Juden lebten, galt damals „als politisch ambivalent besetzter Ort, in dem, wie an kaum einem anderen Ort in Europa, soziale und ethnische Widersprüche des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses aufbrachen.“¹⁸ Bei Brecht wird überdeutlich das Rollenkonstrukt Medeas betont, das aus Gerüchten verdichtet und auf bloßem Hörensagen gegründet ist und letztlich nie der Figur der Medea in Gänze gerecht wird. Es sagt im Gegenteil vor allem etwas über den unreflektierten Umgang mit Fremdheit aus, der zum steten Wiederholungscharakter des Mythos – Flucht und der Umgang der aufnehmenden Gesellschaft mit Flüchtenden – beiträgt. Darin besteht gleichzeitig die überzeitliche Aktualität des Stoffs, wie sie insbesondere auch auf Zweigs Nachkriegs-Medea zutrifft,¹⁹ ist sie doch für die heutige Zeit und die so genannte ‚Flüchtlingskrise‘ an brisanter Aktualität kaum zu überbieten. Ein Grund dafür liegt auch darin, dass Zweig auf eine der ältesten Quellen des Medea-Mythologems zurückgreift, in der Medea als Äthiopierin dargestellt wird. In Medea wird par excellence veranschaulicht, dass die Rede über die Fremde diskursiv stärker ist als die SubjektAussage der Fremden selbst, die damit, wie Charlton Payne generell für die
Bertolt Brecht: Die Medea von Lodz – Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 14, 240 – 241, hier 241. Ebenda, S. 588 (Kommentar). Vgl. ähnlich Stephan: Musen & Medusen, S. 192. Ebenda, S. 191. Stephan wiederholt ihre Ausführungen zu Brechts Medea in Stephan: SpurenSuche. Medea als deutsch-jüdische Erinnerungsfigur vor und nach 1945. Vgl. dazu auch Eva Reichmann: Ein brisantes Stück über Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus: Zweigs „Medea in Prag“. – In: Reichmann (Hrsg.): Max Zweig, S. 295 – 310.
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Position Geflüchteter festhält, zur „Kippfigur an der Schwelle des Menschlichen und den Unmenschlichen“²⁰ wird. In Apollonius von Rhodos Argonautica ist Medea eine Äthiopierin. Anders als Adaptionen, die Medea im Kaukasus bzw. vom Schwarzen Meer stammend vermuten, ist mit diesem Quellenbezug nahegelegt, eine Medea schwarzer Hautfarbe zu inszenieren, wie das vor Zweig Paul Heyse und Hans Henny Jahnn getan haben. Heyses Medea ist die erste kanonisierte Medea schwarzer Hautfarbe, in München lebend und mit Migrationshintergrund. Anders aber als Zweigs Medea ist Heyses Wally im Deutschland des 19. Jahrhunderts sozialisiert und als „Mulattin“ zugleich exotischer wie gefährlicher Gesellschaftsbestandteil. Der bürgerlich-sublimierte Fremdenhass bei Heyse wird schließlich in Hanns Henny Jahns Medea. Tragödie auf den Kopf gestellt: 1926 zum ersten Mal publiziert und mit großem Erfolg am Staatlichen Schauspielhaus in Berlin aufgeführt, handelt es sich vom ersten Moment an um expressionistische Skandalliteratur. Jahnns Medea hat einen afrikanischen Hintergrund, wobei er damit sowohl Subsahara-Afrika meinte als auch den Herkunfts-Mythos der Zigeuner, also Ägypten. Die „Negerin“ Medea ist dem „Griechen“ Jason gegenübergestellt; Jahnns Anklage des Kolonialismus ist aber gleichzeitig durchsetzt von rassenbiologischer, stereotyper Archaik einer Wilden oder Verrückten oder Kindlich-Primitiven, wie Lévi-Strauss den europäischen Blick auf den archaischen Menschen umschreibt.²¹ Der so gestaltete archaische Zorn der Medea und ihre Rachsucht, mit der sich das Drama in seine Epoche einfügt, sind bei Zweig allerdings gänzlich abhandengekommen. Vieles ist beinahe wörtlich aus Grillparzers Medea-Dramen entlehnt, nicht jedoch die Motivation des Kindsmords. Denn daran zeigt sich am deutlichsten, dass gerade nicht die Rückkehr zur Archaik, Rache und Zorn Leila antreiben. Die große Problematik des Medea-Stoffs ist immer die Motivation des Kindsmords gewesen und sie zeigt sich auch in diesem Drama. Gleichzeitig ist nichts wichtiger als eine glaubhafte Motivation für den Dramenverlauf, zumal unter ethischen bzw. interkulturellen Gesichtspunkten besonders ein Vorurteil reflektiert wird, nämlich dass diejenigen, die Gewalt erlebt haben oder andere kulturelle Umgangsweisen mit Gewalt pflegen, unterschwellig zur Aggression bereit, ja durch Gewaltbereitschaft bestimmt seien. Denn Leilas Kinder werden in zufälliger Reihung als Juden, Zigeuner und Neger gleichermaßen abgewertet; der Mutter geht es also letztlich um die ‚Bewahrung‘ ihrer Kinder vor dem sozialen Tod bzw. die Bewahrung vor der Sozialisation in einer, wie Leila es nennt,
Charlton Payne: Auf der Spur des Menschlichen in Flüchtlingserzählungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, S. 351. Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (VII).
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„menschenfeindliche[n] Gesellschaft“ im Prag des Jahres 1948: „Ich habe sie davor bewahrt, zu werden, wie ihr seid. Jetzt macht mit mir, was ihr wollt! Bald bin ich dort, wo sie sind.“ (S. 170) Der Gebrauch des Begriffs Menschenfeindlichkeit macht anders als der der Fremdheit deutlich, dass die hier dargestellte tschechoslowakische Gesellschaft 1948 nicht mit einer Medea umgehen kann. Als Argument für die Trennung der Familie – nur Leila wird ausgewiesen – wird bei Zweig stets der ‚Staat‘ bemüht; die Kinder gehörten dem Staat, nicht der Mutter (S. 117) und auch Prokop will seine ‚Staatspflichten‘ erfüllen, ehe er Leila folgt, aber Klement korrigiert ihn: „Die Pflichten gegen den Staat hören nie auf. Keinem Staatsbürger wird es gestattet, das Land zu verlassen.“ (S. 115). Daran wird deutlich, so der kulturrelativistische Konsens, dass vermeintlich ethnische Konflikte zumeist soziale Konflikte sind und auf Zuschreibungsprozessen beruhen, die jeweils der Situation entsprechend neu ausgehandelt werden müssen, allerdings ebensogut populistisch instrumentalisiert werden können. An den in die Prager Gegenwart eingeholten Figuren des griechischen Königshauses, allen voran Klement alias Kreon, zeigt sich deutlich, dass Vorurteile sprachlich verfasst ein Machtinstrument bilden und sich in Form von Stereotypen ‚stabilisieren‘²²: Dass Klement erstaunt ausruft, als er Leila zwingt, die Burka zu lüften: „Aber – aber, meine Liebe! Sie haben diese abscheulichen Schleier nicht nötig! Sie sind ja geradezu eine blendende Schönheit!“ (S. 72), ist Zeichen patrimonialer Herrschaftssprache. Wenn Leila gar verdächtigt wird, eine ausländische Spionin zu sein, dann wird die Umkehrung dessen, was Klement in Bezug auf Wüstenvölker befürchtet, auf die Spitze getrieben: nämlich „daß solche Primitive alle Fremden hassen“ (65). Die eigentlichen sozialen Probleme aber, keine Arbeitserlaubnis und keine Wohnung zu bekommen, werden als kulturelle Probleme missdeutet, nämlich als mangelnde Integrationswilligkeit. Bei Zweig gibt es jedoch keinen Zweifel daran, dass das Scheitern auf systemische Bedingungen zurückzuführen ist und gerade nicht auf individuelle. So verläuft auch die Erzählung des Tschechen Prokop, der nach neun Jahren Abwesenheit aus Libyen mit seiner Frau Leila, der Tochter eines Scheichs, und zwei Söhnen nach Prag zurückkehrt. Zuletzt hatte er in Libyen in der englischen Armee gegen die Deutschen gekämpft und war schließlich von Beduinen vor dem Tod gerettet worden. In der Oasenstadt Kufra wird er „einer der ihren“. Es seien, so Prokop, gerade keine Wasserpfeife rauchenden Wilden, wie seine tschechischen Verwandten glauben, sondern „Primitive von ungebrochenen Trieben“ (S. 65), deren Geschichte er als „Urgeschichte der Menschheit“ (ebenda) aufzuzeichnen beginne. Dies kommt ihm insofern gelegen, als er die Zivilisation nie geliebt,
Vgl. Attikpoe: Von der Stereotypisierung zur Wahrnehmung des ‚Anderen‘, S. 34 f.
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sondern immer von einem „urtümlicheren, naturnäheren Leben geträumt“ habe. Damit weist er sich als zutiefst europäisch denkend aus, ist doch der Natur-Begriff „one of the strangest, most potent and most persistent factors in Western thought“²³. Denn Leila wandelt sich in der Darstellung Prokops von der gebildeten Frau – sie spricht fließend arabisch, englisch und tschechisch und gehört zur Führungselite der Senussi bzw. Berber – zur wahnsinnigen Barbarenmutter. In der Formulierung Prokops: „Die Barbarin bricht aus ihr hervor!“ (S. 119) wird allerdings sogleich deutlich, dass das letztgefällte Urteil unterschwellig immer schon von ihm antizipiert und mitgedacht worden ist. Diese Form kultureller Selbstverständigung zeigt den „Effekt des Körperdiskurses“²⁴ im Butler’schen Sinne, manifestiert sich doch die körperliche Wahrnehmung des Gegenübers gerade als nicht-natürlich, sondern als kulturell kodierte Wahrnehmung des so genannten Anderen.
3 Prag als Heimatraum Ein Ähnliches geschieht zunächst auch mit Prokops Heimat Prag, von der er längst kein zeitgemäßes Bild mehr hat. Vielmehr klammert er sich an Smetanas verführerisch-elegische „Moldau“ aus dem Zyklus Má vlast, die er stets im Ausland als Schallplatte bei sich hat. Dieses ersehnte und ein Heimatgefühl vermittelnde Prag – in seinen Worten die „umbuschten Flußläufe, die Hochwälder und blauen Hügelzüge. Die steinerne Krone des Hradschin über dem königlichen Prag“ (S. 66) – gibt es für die Rückkehrer jedoch nicht; letztlich lässt sich argumentieren, dass ein solches Bild auch in keinem anderen Fall der Realität standhalten kann.²⁵ Prag als von literarischen Topoi aufgeladener Raum spielt in diesem Falle nur eine untergeordnete Rolle; im Gegenteil, von Leila als klein, beengt und fremdenfeindlich wahrgenommen, zeigt sich Prag vor allem als Hauptstadt eines undemokratischen Staats, in dem Bürokratie und Verstaatlichung regieren, „[w]ohl um den Staat zu schützen. Um den Bürger seine Ohnmacht vor dem Staat fühlen zu lassen.“ (S. 79). Der Kleinfamilie wird entsprechend ein unterkühlter Empfang vom Prager Gerichtspräsidenten, Onkel Klement, bereitet, der den zum Islam konvertierten Prokop zunächst des Landesverrats verdächtigt. Dieser bekommt keine Arbeit, Lovejoy/Boas: Primitivism and Related Ideas, S. 11 f. Zit. nach Schüttpelz: Zur Definition des literarischen Primitivismus, S. 14. Vgl. auch Oliver Simons: Literaturtheorie, S. 159. Vgl. zu literarischen Topoi über Prag Milan Tvrdík: Mythos Prag. Komplexer Modellfall einer urbanen literarischen Topographie am Beispiel der Prager deutschen Literatur.
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keine Wohnung keine Aufenthaltserlaubnis. Schlägt man auch Prokop der Gruppe der Migranten zu, so stellt sich die mangelnde Arbeitsmarktintegration nicht nur als Instrument einer Verweigerung von Integration insgesamt dar, sondern Zweig skizziert damit die „Gefahr eines rassistisch gespaltenen Prekariats“²⁶, wie sie auch für die heutige Zeit festgestellt werden kann. Seine muslimische Frau findet zwar zunächst in Prokops ehemaliger Geliebten Zdenka, Klements Tochter, eine ‚Integrationshelferin‘, die aber dann den fatalen Vorschlag macht, die Kinder aus Assimilationsgründen ins Heim zu geben. Prokop und auch Leila –sie betrachtet Prag zunächst mit Prokops Augen – exemplifizieren die ‚doppelte Optik‘ von Selbst- und Fremdwahrnehmung.²⁷ Der Blick des Fremden – beide sind ja in je unterschiedlicher Weise Fremde – wird in Spannung gesetzt zum Blick der Anderen auf den Fremden. Zwischen Selbst- und Fremdbild zerreißt schließlich nicht nur ihre Ehe, sondern auch Medeas Existenz. Denn während Prokop sich in die Prager Gesellschaft eingliedert – was daran deutlich wird, dass sich sein Bild von Medea wandelt –, ist ihr eine Assimilation, geschweige denn Eingliederung verwehrt. Denn der koloniale Anspruch ist ja stets als Paradox gekennzeichnet: „when the colonized subject realises that he can never attain the whiteness he has been taught to desire, or shed the blackness he has learnt to devalue.“²⁸ Max Zweigs Medea zeigt eindrücklich, dass die soziale Gewalt und eigene Aggression hier untrennbar miteinander verbunden sind: Der ständige Kampf um Gewalt gegenüber anderen wird im Medea-Mythos gekennzeichnet durch Medeas Schwanken zwischen βουλεύματα (Überlegungen) und θῡμός (Zorn, Leidenschaft), bei Zweig dargestellt auf der Schwelle von Selbstmord zum Kindsmord. Demnach kann, mit Judith Butler machttheoretischer Philosophie generalisierend ausgedrückt, das Ringen um Gewaltlosigkeit nur dann gelingen, wenn es Darstellungsmodi dafür gebe.²⁹ Diese fehlen einer Leila-Medea in der Prager Gesellschaft jedoch ganz eindeutig. Gegen die Vorstellung, „dass sich Angreifbarkeit und Verletzlichkeit auf einer Seite monopolisieren lassen, während die andere Seite davon vollständig befreit wäre“³⁰, setzt Zweigs Drama von der kindsmordenden Medea ein deutliches Zeichen.
Koch und Niggemeyer: Der Flüchtling als Humankapital. Wider die neoliberale Integrationslogik, hier S. 86. Vgl. Karl Esselborn: Deutschsprachige Minderheitenliteratur als Gegenstand einer kulturwissenschaftlich orientierten ‚interkulturellen Literaturwissenschaft‘. Loomba: Colonialism/Postcolonialism, S. 176 Judith Butler: Raster der Krieges, S. 168. Ebd. S. 167.
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Literaturverzeichnis Quellen Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner un Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Bd. 1–[31]: Registerband. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag; Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 – 2000. Zweig, Max: Dramen I. Mit einem Nachwort hrsg. von Eva Reichmann. 2., überarb. Aufl. Hamburg: IGEL 2010. Zweig, Max: Religion und Konfession – http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id= 5486.
Darstellungen Attikpoe, Kodjo: Von der Stereotypisierung zur Wahrnehmung des ‚Anderen‘: Zum Bild der Schwarzafrikaner in neueren deutschsprachigen Kinder- und Jugendbüchern (1980 – 1999). Frankfurt a. M., Berlin u. a.: Lang 2003 (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien. 24). Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983 (Edition Suhrkamp.1200, N.F. 200). Butler, Judith: Raster der Krieges. (Frames of war, dt.) Warum wir nicht jedes Leid beklagen. Frankfurt [u. a.]: Campus 2010. Esselborn, Karl: Deutschsprachige Minderheitenliteratur als Gegenstand einer kulturwissenschaftlich orientierten ‚interkulturellen Literaturwissenschaft‘. – In: Manfred Durzak und Nilüfer Kuruyazıcı (Hrsg.): Die andere Deutsche Literatur: Istanbuler Vorträge. In Zusammenarbeit mit Canan Şenöz Ayata. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 11 – 22. Fiala-Fürst, Ingeborg Mähren – ein Sonderweg der deutschgeschriebenen jüdischen Literatur? – In: Armin A. Wallas (Hrsg.): Jüdische Identitäten in Mitteleuropa: Literarische Modelle der Identitätskonstruktion. Unter Mitw. von Primus-Heinz Kucher u. a. Tübingen: Niemeyer 2002 (Conditio Judaica. 3), S. 119 – 126. Fornet-Betancourt, Raúl: Interkulturalität in der Auseinandersetzung. Frankfurt a. M. [u. a.]: IKO 2007 (Denktraditionen im Dialog. 27). Giordano, Ralph: Videoportrait von Max Zweig. https://www.youtube.com/watch?v= 7cou2b69E0 A. Hoogvelt, Ankie: Globalization and the Postcolonial World: the new political economy of development. 2. Aufl. Baltimore, MD [u. a.]: Johns Hopkins University Press 2001. Koch, Martin, und Lars Niggemeyer: Der Flüchtling als Humankapital. Wider die neoliberale Integrationslogik. – In: Blätter für deutsche und internationale Politik 61 (2016), H. 4, S. 83 – 89. Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. (Les structures élémentaires de la parenté, dt.) Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1993 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 1044) Loomba, Ania: Colonialism, Postcolonialism. 3. Aufl. London [u. a.]: Routledge 2015.
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7 Literatur und (mittel)europäische Identität
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Elias Canetti and Franz Baermann Steiner: A Central European Parting of Minds 1 Biographical Backgrounds Elias Canetti (1905 – 1994) was born in Bulgaria, and occasionally referred to as a Bulgarian writer. His Jewish ancestors came to the Ottoman empire as refugees from the Iberian peninsula, and his mother language was the dialect spoken by these refugees, derived from old Spanish. His longest residence was in Britain, 1939 to 1980, and he became a British citizen. To describe him as a Central European writer is therefore not obviously justified. The list of reasons for that claim can start with his early adoption of German as a working and writing language; the trans-national status of German culture is one of the defining features of Central Europe as a historical region. A further indication is the fact that Canetti spent a particularly formative phase of his life in Vienna, where he wrote his most widely recognized work and his only novel, Die Blendung. Perhaps more importantly, it was in Central Europe that he had his crucial experiences of crowds in action (an enduring theme of later work), first in Frankfurt in 1921 and then, in a much more decisive fashion, in Vienna in 1927, on the occasion of the burning of the Justizpalast. Other Central European connections and episodes could be added. There is no doubt that Canetti’s short stay in Berlin at the end of the 1920s was important; for one thing, he was, as Sven Hanuschek shows in his biography, closer to a Communist milieu than at any time before or after. In view of that background, the virtual absence of Communism from his reflections on power is somewhat puzzling.¹ But for present purposes, links to Prague are more interesting than the experience of Berlin. A Czech translation of Die Blendung, the only prewar one, was published in Prague in 1937, and Canetti was invited for a visit which
A posthumous publication (Das Buch gegen den Tod, p. 100) contains an interesting note written in 1962. Canetti has been reading Djilas’s conversations with Stalin, and writes that they gave him a suffocating feeling, not mitigated by the fact that this source confirmed his intuitions about power; but then he moves away from the topic with remarks to the effect that the same thing continues after Stalin, and more or less everywhere else. This seems a singularly unenlightening comment on a phenomenon that might have meant more to the author of Masse und Macht. https://doi.org/10.1515/9783110536003-029
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he describes in some detail in the third volume of his autobiography.² As Hanuschek notes, that chapter is a sort of final twist to the work (the only thing that Canetti adds to it is a short section on his mother’s death). The invitation to Prague was a sign of recognition, a first step to fame followed by a very long break. The Czech translation was forgotten, and although the English one, published in 1946, was a success, it was not until the 1960s, after the publication of Masse und Macht, that Canetti came to be widely seen as a major writer; from then on the rise to classic status was uninterrupted and culminated in the Nobel Prize, as well as an exponentially growing secondary literature. Several aspects of the visit to Prague are worth noting. Canetti describes a peasant festival in the city centre as a joyous crowd, unlike anything mentioned elsewhere in his writings; in that context, he mentions that his interest in crowds had led him to study the fifteenth century, and particularly the Hussite movement in Bohemia. As far as the present writer can judge, this prior interest has left no other traces in his work. He further reminisces about his first experience of spending several days in an alien linguistic environment and finding the foreign language strangely appealing, although he did not understand anything. But he also notes that the German literary community in Prague made him realize what it meant to maintain both the distance and the contact between two linguistic worlds. This heightened awareness of Germanophone transnationality was no doubt of some importance for his decision to continue working in German during his long residence in Britain. However, for our present purposes, all these experiences seem less significant than the fact that the visit led to his first meeting (a year later in Vienna) with a thinker who was to become a key discussion partner and – as I will argue – an exemplary antipode to Canetti’s work.³ Franz Baermann Steiner (1909 – 1952) was born to Jewish parents in the Prague suburb of Karlín (Karolinenthal). He was bilingual, but German was his first writing language. In the second half of the 1920s, he was involved with the Czechoslovak Communist movement, but it is not clear whether he joined the party or only its youth organization; in any case, he acquired a solid knowledge of the Marxist canon, including Lenin and Trotsky (unlike Canetti, whose contact with Marxism was much more limited, although he appears to have read the first volume of Marx’s Capital, as well as a selection of shorter writings). Steiner’s Canetti: Das Augenspiel, pp. 286 – 296. The writer H.G. Adler, who organized Canetti’s visit to Prague, also arranged his meeting with Steiner in Vienna. Adler’s relationship with Canetti and Steiner, resumed in London after the war, is an interesting part of the story, but for reasons of space, it cannot be discussed here; see Adler and Dane, Literatur und Anthropologie.
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academic formation began with a study of philology and Semitic languages in Prague, later followed by a study of ethnology in Vienna and fieldwork in Ruthenia (then the easternmost part of Czechoslovakia). There is next to no written record of the fieldwork, but it seems significant that he combined an intellectual link to the main western centre of the former Habsburg empire with direct experience of its eastern frontier. In between Prague and the later stations, his yearlong stay in Palestine, 1930 – 1931, was of particular importance. Several reasons explain the decision to visit this arena of a triangular contest between Arabs, Jewish immigrants and British colonialism (notwithstanding plans for journeys further east, this proved to be his only venture beyond Europe). Growing disillusionment with Marxism and the revolutionary project led him to sympathize with Zionism, at this stage mainly with its socialist current. At the same time, he was embarking on a far-reaching rediscovery and reaffirmation of Judaism, combined with an emphasis on the Oriental character and affinities of Jewish traditions. That view was not unique in the context of early twentieth-century Jewish self-reflection, but as will be seen, Steiner took it to unusual lengths, and the beginnings of his Oriental turn seem to go back to the late 1920s. According to H.G. Adler, who wrote the most authoritative brief account of Steiner’s life and career, a particular interest in the Bhagavad Gita was evident from then on; Steiner referred to that text as having awakened his religious sensibility and given him a key to the Bible.⁴ Steiner’s literary work in the 1930s brought him into contact with the Prague German writers. He had a closer view of that community and a more difficult relationship with it than did Canetti; as Adler describes it, Steiner was an outsider with intensive but very selective contacts, and “the least German of the Jews who contributed to German literature”.⁵ In that light, it is interesting to read Steiner’s later reflections on the subject. In a note dating from 1947, he rejects the widespread notion of one “Prague circle”, and argues for historical distinctions. Apart from an early and short-lived attempt linked to Czech-German contacts around 1848, he claims that two different literary circles emerged on the eve of World War I: one around Max Brod, another around Hugo Salus, although the latter was not a founding figure in the same sense as Brod. A third circle was, according to Steiner, in the making around 1930, but then destroyed by the historical disasters that overtook Central Europe. He does not mention members of this circle, but there can be no doubt that he counted himself among
H.G. Adler: Über Franz Baermann Steiner, p. 15. Ibid., p. 47.
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them.⁶ That said, and although the idea of different circles deserves further discussion, Steiner’s strongest connection to German literature produced in Prague is well established; he was a very great admirer of Rilke and Kafka, whom he considered the greatest German writers of their time (of poetry and prose respectively). Steiner was abroad, having attended a congress of anthropologists, at the time of the Munich agreement in 1938; he did not return to Czechoslovakia, but went to Britain as a refugee. Connections with British anthropologists led to plans for study and work at Oxford University, where Steiner completed a doctoral thesis (a short version, after loss of the original materials), and became a lecturer in anthropology in 1949. After years of ill health, he died of a heart attack in 1952. A monograph based on his lectures, Taboo, was published in 1956 and remains his most widely read work. It had a significant influence on anthropologists linked to the Oxford tradition, notably Mary Douglas and Louis Dumont. Posthumous publications of other writings, including both unfinished texts and previously published ones, were organized by Jeremy Adler and Richard Fardon and are available in an English version as well as an expanded German version. It may be noted that despite his highly ambivalent attitude to Britain (not unrelated to his wholesale rejection of European expansionism), Steiner developed a strong affection for Oxford; he referred to Prague, Jerusalem and Oxford as the three cities that had made him.
2 Two Responses to the European Catastrophe Canetti arrived in Britain early in 1939, a little later than Steiner, and got in touch with him at once.Their close friendship and intensive exchange lasted until Steiner’s death (though not without upsets). In Canetti’s posthumously published memoir about the early years in Britain, conversations with Steiner are described in very emphatic terms: he had “always something to say. He was always clear and concrete, without any rhetoric. He was the only person I have known with whom I could speak about myths”; he adds that Steiner was “free of psychoanalysis”, also an expression of high praise.⁷ Given the importance of myths for Canetti’s work, this is not a minor acknowledgement. It seems clear that – perhaps with the exception of Abraham Sonne – no personal acquaintance was as intellectually important for Canetti as was Steiner.
Steiner: Feststellungen und Versuche, p. 207. Canetti: Party im Blitz, pp. 127– 128 and 131.
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It is all the more surprising that (apart from the memoir quoted above) Steiner does not figure in Canetti’s writings. He is not even included in the bibliography of Crowds and Power, although his presence as a source of anthropological information and a partner in the exploration of myths is beyond dispute. Conversely, Canetti is very rarely mentioned in Steiner’s posthumously published writings (most notably as an insightful interpreter of Kafka’s work); there is no acknowledgement and no sign of direct influence on Steiner’s thought. The explanation for this paradox is, as will be argued below, that their intellectual paths diverged too widely for any common ground to remain. There is no doubt that the encounter – cut short by Steiner’s premature death – was significant for both of them, but it was of the kind that results in productive polarization, rather than an ongoing dialogue. The two thinkers were responding – from exile – to a great historical catastrophe that had directly affected their lives, and they shared the view that this called for wide-ranging reflections on power, civilization and the human condition, but they pursued this task in very different ways. Canetti was explicitly hostile to conceptual approaches, preferring a very distinctive kind of phenomenological journey through anthropology, history and literature. His reasons for resisting the tyranny of concepts seem to have been identical with the grounds for rejecting linguistic experiments: in both cases, he wanted no obstacles to or diversions from direct access to what he called the “substance of life”.⁸ If we want to understand Canetti as a phenomenologist sui generis, this notion of a direct access to the substance of life may be seen as his version of “zu den Sachen selbst”, the productive illusion that played a key role in early phenomenology and was cut down to size by later thinkers in that tradition. As Hanuschek puts it, Masse und Macht became “an anti-systematic, poetic work, open at all corners and ends […], a work against scientific concepts and systems, a work of anti-science.”⁹ This attitude led to tensions within Canetti’s project. For one thing, the ambition to discover more lawlike patterns of crowd behaviour than those described by earlier crowd psychology could hardly be sustained without conceptual work. But the anti-conceptual stance was strong enough to cause a lasting estrangement from the social sciences. Steiner’s position was very different. He accepted basic concepts, methods and perspectives of the social sciences without any fundamental reservations (though not without criticism of prevailing trends and preconceptions), and he can be ranked among early advocates of unifying anthropology and sociology. In this context,
Canetti: Geheimherz der Uhr, p. 7. Hanuschek: Elias Canetti, pp. 438, 448.
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judgments on Aristotle are particularly illustrative of contrasting views. For Canetti, Aristotle was the arch-proponent of the philosophical illusion par excellence: the belief that the world could be understood – and therefore conceptually ordered – before it was known. For Steiner, he was not only an exemplary philosopher, but also the real founding father of sociology and still a source of correctives to the modern illusions of individualism and progress. Steiner’s short and sketchy comment on Aristotle’s sociology of relations and institutions is reminiscent of Norbert Elias’s polemic against the notion of the closed individual and the same author’s emphasis on social figurations; but the two thinkers arrived at these insights by very different roads.¹⁰ Given Canetti’s general orientation, as described above, the fragmentary character of his work as a whole was inevitable. Steiner aspired to systematic comprehension and pursued his project in that spirit, but did not live to complete it. The biographical asymmetry complicates the task of comparison. But at the thematic level, it does not obscure a basic divergence of conclusions drawn from shared experience. Both Canetti and Steiner had begun reflecting on the situation of European Jews and the meaning of the Jewish legacy well before 1939, but the second world war and the Holocaust made this set of questions a matter of extreme urgency. In Canetti’s case, an original acceptance of a secularized world seems to have prevailed over the admitted temptation to become wholly Jewish, and the distance from Judaism became more pronounced as he radicalized his critique of power and applied it to Jewish monotheism. That said, there are significant nuances to be noted. In his very instructive essays on Canetti and Judaism, Martin Bollacher underlines two points illustrative of a complex relationship to the Jewish tradition, if not to Judaism as a religion.¹¹ Canetti’s portrait of Abraham Sonne is, as Bollacher shows, not without allusions to Spinoza, and thus to a kind of wisdom rooted in Jewish sources, even if estranged from orthodoxy and orthopraxy. With his Spinozan aura, Sonne appears as a perfection and a closure of something with which Canetti can no longer identify, but will never cease to appreciate. The other point, more general but also more ambiguous, has to do with Canetti’s conception of language. There is no doubt that his thoughts on this subject are particularly reliant on themes of the Jewish tradition. But this connection allows for varying emphases. One prominent idea is the primacy of names and their privileged relationship to the thing itself; another is the role attributed to the aural dimension of language, Steiner: Die Gesellschaftslehre des Aristoteles. – In: Steiner: Zivilisation und Gefahr, pp. 224– 229. Bollacher: Canetti und das Judentum. – In: Stieg and Valentin: Ein Dichter braucht Ahnen, p. 37– 47; und Bollacher: Mundus liber: Zum Verhältnis von Sprache und Judentum bei Canetti.
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obviously linked to the Jewish understanding of revelation. More disconcerting is Canetti’s reference to the tower of Babel and the dispersion of languages He characterizes the latter as a diabolical act. It is not clear how this reading of the biblical myth is related to Canetti’s omnipresent and positive interest in transformations. The only way to reconcile the two viewpoints would be to assume that the mythical unitary language possesses a capacity to encompass transformations; but this line of thought was – as far as I can judge – not developed. A phenomenological reading of Canetti might consider the hypothesis that aspirations to access the substance of life, mentioned above, were in some tension with the focus on transformations; the latter implies a turn to the imagination, in principle comparable to the problems encountered in that field by thinkers closer to conventional notions of phenomenology. It is, in any case, clear that Canetti’s evolving relationship to Judaism took a direction very different from Steiner’s, and that Canetti placed a strong emphasis on this contrast. He refers to Steiner as having become a Jew through ethnology, and the context of that claim suggests a double meaning: not only that Steiner made the wrong use of ethnology, unlike Canetti who took it as a guide to better understanding of crowds and power, but also that the immersion in this discipline led to an ethnologization of Judaism. These criticisms seem based on a fundamental misunderstanding of Steiner’s intellectual trajectory. The biographical record is unequivocal. Steiner’s sustained engagement with ethnology began in the mid-1930s, and a radical change of mind had taken place well before that. Admittedly, ethnological interests were already evident during his stay in Palestine, but they were only one aspect of a much broader perspective. As Adler and van Loyen describe it, Steiner’s rejection of Marxism at the end of the 1920s led to a complex reorientation.¹² His rediscovery of Judaism was both politically and religiously motivated, but it was also inseparable from a new understanding of Jewishness as an Oriental identity, and this was not a purely geographical or genealogical notion. The underlying vision was an assumption of deeper spiritual and political affinity between Judaism and the religious cultures of India and the Far East. And at the same time Steiner developed a new interest in mysticism, Eastern and Western. It is true that his texts contain some very emphatic statements on the uniqueness of Judaism. A short essay on the civilizing process, to which we will return, ends with the claim that in the “night of desperation” that results from a sober assessment of the human record, the only recourse is the “star of a twofold teaching”: the idea of a human being created in God’s
Adler: Über Franz Baermann Steiner; van Loyen: Franz Baermann Steiner – Exil und Verwandlung.
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image and of a society firmly demarcated by a covenant.¹³ But such formulations must be deciphered in context. If Steiner acknowledged the Bhagavad Gita as a key to the Bible, he was presumably thinking in terms of what other authors have called a transcendental unity of religions. And when he criticized basic misunderstandings of Judaism, with obvious reference to Martin Buber, but without mentioning him, his points suggest a search for affinities between Judaism and the religions more commonly known as Oriental. Revelation is not a dialogue, and therefore does not allow for an answer; nor is it the ultimately human monologue imagined by those who think of God in some kind of anthropomorphic terms.¹⁴ In short, Steiner did identify with Judaism, and not merely as a road to more perennial or esoteric religiosity; but he also envisaged a broader commonality of religious experiences, irreducible to a particular set of beliefs. His writings contain no clear indication of a final settlement between these two standpoints. As will be seen, further complications arise in connection with Judaism, especially on Steiner’s part. They do not alter the basic divergence of two ways to live with a Jewish legacy. But at this stage, we should expand the frame of reference. In both cases, the ongoing reflection on Judaism was linked to thoughts and writings (in Steiner’s case, largely provisional notes) on a set of related subjects: power and religion, history and civilization, East and West, and the human condition. It may be useful to compare the two authors on this level. There has so far, to the best of my knowledge, been no attempt of that kind. Here the approach will have to be very selective and tentative; some crucial themes can only be briefly signalled. And another limitation should be underlined: the following discussion is based on published texts only. I have not been able to use the unpublished writings kept in archives, nor the correspondence that remains in private collections. It seems clear from Adler and Fardon’s account that Canetti and Steiner never embarked on a systematic confrontation of their respective projects, but they kept up a correspondence from 1939 to 1952, though not without upsets, and ideas – as well as disagreements about the proper use of ideas – were obviously of some importance for both exchanges and conflicts.¹⁵ To judge from van Loyen’s detailed discussion, accusations of unacknowledged borrowing came only from Canetti, and they are not convincing. If the conversations about myth were as easy and rewarding as Canetti claims, we can assume that Steiner: Über den Prozeß der Zivilisierung. – In: Steiner: Zivilisation und Gefahr, pp. 54– 59, here p. 59. Adler and Fardon: Ein Orientale im Westen – Eine Einführung in Leben und Denken F.B. Steiners. – In: Steiner: Zivilisation und Gefahr, pp. 497– 732, here p. 532. See note 14.
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there was a convergence of interests and insights; but on the other hand, ideas that may have been more forcefully articulated by Canetti and then put to use by Steiner acquired new connotations in the latter’s work. When Steiner formulates the “basic sociological principle” that “no individual can have a space (Stelle) without identifying with something, and that there is no identification without transformation (Verwandlung)”¹⁶, we can take it for granted that he was aware of Canetti’s overriding interest in transformation, but here the concept is applied in the context of Steiner’s critique of functionalism, and although the rejection of functionalist images of society was a shared position of the two authors, Steiner’s immersion in anthropological and sociological debates gave a distinctive twist to his arguments. If transformation is, as the above quote implies, essential to the constitution of a functional pattern, it does not seem far-fetched nor out of tune with Steiner’s other thoughts to add that there is no a priori reason to confine the dynamics of transformation to the limits set by functional requirements. Van Loyen interprets Steiner’s references to civilizations in the plural (which he mentions on several occasions, without further clarification) as denoting “different mixtures of the functional and the transcending”, and that seems appropriate.¹⁷ In short, the comparison of the two thinkers will focus on a few points of contact and divergence, and it will begin in mediis rebus, with one of Canetti’s most interesting but also most problematic reflections on power; then it will move on to a very different but arguably corresponding text by Steiner.
3 Canetti and the Mongols Canetti is most widely known as an analyst of crowds and power. But this connection was not self-evident. According to his own testimony, he was interested in crowds before power became an equally central theme; from 1931 he focused on the relationship between the two, and this had undoubtedly more to do with the breakthrough of the National Socialist movement than with anything else. It is, however, equally clear that growing interest in power led to the discovery of aspects not directly related to crowds, although relevant to explaining ways of creating, mastering and destroying them. Such themes emerge when Canetti explores the “entrails of power” (Eingeweide der Macht) and singles out elementary anthropological features, beginning with bodily postures. But the same line of
Steiner: Feststellungen und Versuche, p. 253. Van Loyen: Franz Baermann Steiner, p. 393.
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thought can lead closer to history. Canetti’s first major collection of notes and aphorisms contains reflections on the Secret History of the Mongols; they were written in 1956 and begin with descriptions of his “enchantment” with a book that seems to have accidentally come his way and affected him to the point of “becoming a Mongol.” He then writes that the Secret History, more than any other text, has enabled him to extract the “laws of power”; admitting to a similar feeling about the Bible, he then dismisses it on the grounds that the Bible contains too many other things that have become more important and overshadowed the concern with power. He continues: “In the Secret History, there is nothing else. It is the history of a rapid, irresistible power, the greatest and most stable that ever existed within one life. It emerged among people for whom money could have no meaning. It was visible through the movement of horses and arrows. It came from an early world of hunters and robbers, and conquered the rest of the world”.¹⁸ The reference to “one life” highlights the career of Genghis Khan, whose despotic power was never equalled by his successors. If readers were to ask how crowds would fit in with this emphasis on a single founding figure, it may be answered that they come into the picture when we consider the dynamics of expansion. Under Genghis Khan, the Mongols exterminated masses of people, particularly in Northern China; they imposed forms of organization that enabled them to build a mass army; and they treated the conquered peoples as masses of human booty at their disposal. But these considerations put us on the trail of more substantial arguments against Canetti’s thesis. The rise and expansion of Mongol power was an episode in the tangled history of the Chinese empire, its peripheral neighbours and the rival imperial ventures coming from beyond its borders. The period from the tenth to the thirteenth centuries was a particularly complex phase of this story, with several conquest regimes challenging indigenous Chinese dynasties, but also decomposing processes within some peripheral formations. The Mongol explosion appears to have begun in the aftermath of such a decomposing turn in a remote region, and this case of empire building thus started from a particularly marginal and disorganized basis, but it is still a part of the broader history encompassing China and its unruly neigbbours. This also meant that Genghis Khan was drawing on the experience of earlier empire builders and their ways of combining Chinese and nomad practices; but the continuity of this tradition did not exclude revisions. Canetti notes Genghis Khan’s strong sense of family unity. This was not so much an archaic trait as a break with precedent: previous conquest dynasties from Inner Eurasia
Canetti: Provinz des Menschen, p. 207.
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had tended to regard rivalry as a way of choosing the fittest successor. But the Mongol departure from this pattern was not a permanent solution. Its breakdown began when it was put to the first serious test after the death of the second Khan, Ogodai (whom Canetti describes as having transformed the destructive fury of the Mongols into wasteful generosity). That said, Canetti’s reading of the Secret History must be taken seriously on another level. The archaism that he misleadingly attributes to the very core of Mongol power was clearly a part of its self-representation, most revealingly elaborated in the Secret History. It also became a recurrent topos in European attempts to imagine the Mongols (from the Western point of view, the Mongol invasion was the disaster that narrowly failed to happen, for contingent and disputed reasons). Canetti’s comments were not the first to stress archaic origins, although they may be the most memorable variation on this theme. But archaism was not the only medium of self-representation. Its complement was a claim to world domination, clearly linked to a longer history of amalgamating Chinese imperial visions with an indigenous and much less elaborate religious culture. This aspiration to universal rule has also entered into later memories of the Mongol trajectory, and even been invoked to support anachronistic notions of their empire as an ideological state. More interestingly, exiled interpreters of the Russian imperial collapse and regeneration returned to the Mongol legacy to find a key to contemporary events. The result was the ideological construct known as Eurasianism, open to significant variations but at least in some cases amounting to a mutual exoneration of Genghis Khan and Stalin.¹⁹ Canetti’s reference to the Secret History of the Mongols calls for some further comments. He does not tell his readers what translation of the work he was using, but describes it as a book that happened to come into his hands. Arthur Waley had translated key parts of the Secret History and published them together with translations of and essays on classical Chinese texts. But although it is not clear how much contact Canetti had with Waley after the war, there are indications of enduring interest in his work (Hanuschek: Elias Canetti, p. 405).He would hardly have regarded Waley’s translation as an accidental discovery; it is more likely that he had got hold of the first German translation (by Ernst Haenisch, published in Leipzig in 1941; the stock of the book was destroyed by fire in 1943, but it was republished in 1948). It did not circulate widely, but Canetti was always on the lookout for rare books. A complete and separate translation will have made it easier for him to keep the Mongols apart from the Chinese world. But there are further problems. The Secret History was originally written in the thirteenth century (the date is disputed), in Mongol, with an alphabet derived from the Uighur one. The original was lost some time after the seventeenth century; what survived was a copy of the Mongol text transcribed into Chinese characters, on the order of a Chinese emperor, some time around 1400. Given the interpretive load of Chinese characters, this was obviously not a simple operation. The transcribed version was later discovered and translated by Western scholars (the standard Western version is now Igor de Rachewiltz’s English translation with a commentary, published by Brill in
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The general implication of these comments on Canetti’s Mongol source is that reflections on power should take note of its constitutive imaginaries, their internal tensions, and their effects on cultural memory. The self-archaizing vision and the self-magnifying imperial one are exemplary cases in point. But there is also a more specific connection to be emphasized. Canetti’s fascination with the Mongols was not only due to the sheer spectacle and impact of their break into history. He saw them as a prefiguration of phenomena much nearer in space and time. A key section of Masse und Macht is devoted to the memoirs of Daniel Paul Schreber, whose paranoia Canetti compared to Mongol excesses of murderous power; this analysis then leads to a comparison with Hitler, characterized as a Mongol prince who almost conquered Europe. A more substantial interpretation of Hitler is to be found in the essay “Hitler, nach Speer”.²⁰ There is no doubt that the focus on Hitler’s ambiguous relation to crowds, and on his interconnected obsessions with building and destruction, threw new light on the National Socialist regime, and it is at first sight less dependent on Mongol models than was the Schreber connection. But we might ask whether Canetti’s approach through Speer has not resulted in a distortion comparable to his reading of the Secret History. In view of what is now known about the purpose and production of Speer’s memoirs, it is not far-fetched to suggest that his portrait of Hitler amounts to a kind of archaizing distancing, obscuring both Speer’s own role and broader questions concerning the character and orientation of the dictatorship.²¹ Following the work of Martin Broszat and Ian Kershaw, it seems more adequate to understand Hitler as an imaginary institution, reaching beyond an individual wielder of power. This fusion of person, power and project could accommodate the archaic traits described by Speer and then Canetti, as well as the more dynamic and rationalized but uncompromisingly racial strategy represented – in the final phase – precisely by Speer. Once again, we encounter a potentially polarizing difference within a constitutive imaginary of power. The problem cannot be examined here, but is certainly worth taking up in a more sustained way. Canetti’s description of National Socialism as an “archaic outbreak” (archaischer Ausbruch) is not obviously compatible with the reference to the same phenomenon as an “intensification of history” (Zuspitzung der Geschichte).²²
2006). Canetti obviously decided not to worry about this complicated transmission; he wanted a text that would reveal power in puris naturalibus, and thought that the Secret History came close enough. Canetti: Hitler, nach Speer. In: Das Gewissen der Worte, pp. 171– 199. Brechtken: Albert Speer: Eine deutsche Karriere. Canetti: Das Gewissen der Worte, p. 172.
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4 Steiner and the Europeans Steiner’s archetype of power invading history is very different from Canetti’s: in his case, the Roman empire and its significance does not consist in a sudden and self-exhausting eruption. The Romans took a long road to unchallenged predominance, and their imperial visions and strategies paved the way for an even longer history of European conquest and expansion. For Steiner, the Romans were the founders of Europe and the pioneers of its assault on the rest of the world. The Jewish rebellion and the Roman destruction of the temple in 70 CE prefigure the later conflicts between West and East. This view of past and present finds expression in some rather sweeping statements. Steiner’s description of European intellectuals as the “most pitiable and cruel monster” known to history“²³, and of Virgil as the Roman prototype, is a prime example: what he has in mind is the enduring complicity with power and the efforts to rationalize and justify it. An important corollary is his rejection of Christianity and of all attempts to stress its affinities with Judaism. He regarded the Romanization of Christianity as more important than the Christianization of the empire; one of his obiter dicta calls the religions of antiquity the “bathwater “of Christianity, and adds that in this case the baby can be thrown out with the bathwater. He did, however, acknowledge one case of attempted Christian withdrawal from the Roman mould: the early medieval Irish Church (it seems likely that he knew Toynbee’s idea of an “abortive Far Western civilization”, represented by Ireland and the Irish missionaries). This observation seems to have translated into a particular sympathy for Ireland, to such an extent that Steiner defended the Irish refusal to ally with Britain in World War II – on the curious grounds that it made the anti-imperialist character of the war clearer.²⁴ Steiner did not elaborate his conception of European history. Its theoretical implications are best understood in light of a short essay on the civilizing process, written in German in 1944 and left unpublished.²⁵ This text shows striking affinities with two major works also produced by Central European emigrants during the period between 1933 and 1945. Adorno and Horkheimer wrote the Dialectic of Enlightenment at the same time as Steiner produced his essay, and there was obviously no contact (Adorno later noted similarities between his thought and Steiner’s). The relationship to Norbert Elias’s work on the civilizing process, first published in 1939, is more complicated. There is no evidence that
Steiner: Feststellungen und Versuche, p. 36. Ibid., p. 24. Steiner: Über den Prozeß der Zivilisierung. – In: Steiner: Zivilisation und Gefahr, pp. 54– 59.
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Steiner knew Elias’s work, but he could have; he was famously adept at finding books, and the connections are so pointed that is is hard to believe that Steiner was unaware of them. Besides, the two authors might – as van Loyen notes – have met in the reading room of the British Museum.²⁶ Steiner’s argument is extremely condensed, and sometimes cryptic, but the main lines can be reconstructed, and to some extent taken further. He starts with a brief and seemingly approving mention of the shift (most explicitly formulated by Elias) from the contrast between civilized and uncivilized conditions to a processual view of long-term changes with a civilizing direction. His own line of thought retains the very idea of a civilizing process, but casts doubt on strong assumptions of unity, continuity and progressive trends. He sets out to demolish precisely the most central claims underpinning Elias’s analysis of the civilizing process: the ideas of a “triad of basic controls”, over the natural, social and mental worlds, and of ongoing, interconnected and cumulative changes in all three dimensions. A key part of the argument is sketched in the first section of the essay. Steiner disagrees with those who see the “domination of nature” as part of a power continuum in parallel growth. There is, as he sees it, no sphere of life where the control over natural processes would appear as a unified human exercise of power, and no grounded consciousness of a growing general mastery over nature (we might add that the growth of technically applicable knowledge has been accompanied by heightened awareness of ultimate limits). Technical achievements only become a power resource in the context of struggles between social groups seeking military, political or economic power, “power that enabled the exploitation of other groups or their destruction.”²⁷ Again, we can add that phantasms of infinitely expanding domination of nature have accompanied power bids of states, nations and classes. Another point takes the question back to supposedly primitive beginnings. If the issue is examined from the viewpoint of societies far removed from modern delusions of domination, the Eskimos, as Steiner could still call them (he had developed a strong interest in them during his study of ethnology) are a particularly instructive example. Their way of life can hardly be described in terms of mastery of the environment; adaptation is a more appropriate term, but then it
Van Loyen was, as far as I know, the first to draw attention to the implicit connections and contrasts between Elias and Steiner; but he does not analyze them on the level of basic concepts. I disagree with his claim that Steiner had (notwithstanding his claims to have left Marxism behind) retained a Marxist notion of imperialism as a response to internal contradictions. As far as I can judge, there is no textual evidence for this. Steiner: Über den Prozeß der Zivilisierung. – In: Steiner: Zivilisation und Gefahr, pp. 54– 59, here p. 59.
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must be added that it is not a matter of mere survival. They have created a form of life that allows for virtuoso development of certain abilities. Moreover, this could not conceivably have been achieved without an accumulation of technical knowledge, although that process did not translate into any systemic framework. A certain world-view can more plausibly be inferred from Eskimo magical practices. Steiner links this observation to a crucial point about European civilization: it must, especially in light of most recent experience, be admitted that it did not develop or function on the basis of a scientific world-view. If popular notions and supposed pioneers of such a construct figure in European self-images, that is primarily due to the role of scientific knowledge in power struggles. Steiner adds an argument clearly related to basic philosophical premises, and ultimately shading into religious belief: World-views are distinctive and totalizing contexts; they can disintegrate but not develop one into another, and there can be no logical reconstruction of a process leading from a declining worldview to a new one. The defining feature of modern European civilization is a disjointed world-view, where fragmented religious traditions coexist with partial and provisional results of scientific inquiry. This interpretation is, avant la lettre, a rejection of Elias’s views on the evolution of objective knowledge as a part of the civilizing process. What remains of that process? According to Steiner, the most succinct definition of the civilizing dynamic is that it expands the boundaries of agency of human societies; as a result, the threats from natural forces become less direct and less mythogenic. Steiner accepts the notion of disenchantment in the sense that nature ceases to be a domain of demons. But the expanded scope of action also entails an intensified pursuit of power, and thus leads to struggles between states, nations and civilizations. Such conflicts, as well as the vulnerability of complex social patterns, give rise to new kinds of threats, and the destructive forces thus unleashed can easily be perceived – by rivals, victims and observers – as reawakened demons. There is more to come: as Steiner puts it, the “triumph of society” will release demonic forces inside the individuals.²⁸ What he calls the triumph of society seems reminiscent of Elias’s socialization through functional interdependence; but what did he mean by demonic inside the individuals? Reading this more than seventy years later, it is perhaps not far-fetched to suggest that he sensed a twofold threat: the danger of individuals elevated to new and previously unknown types of leadership, and the more longterm perspective of a permissive mass individualism that would disrupt the his-
Ibid.
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torical transformation of external control into self-control (theorized by Elias) and undermine the very notion of a social bond. Steiner’s conclusion is as follows: “The civilizing process is the conquest of man by the forces of nature, the demons. It is the march of danger into the heart of creation”. ²⁹As noted above, the founding ideas of Judaism became for him the only possible escape from this predicament. Eric Voegelin (with whom Steiner never had any contact) was later to characterize the Jewish Exodus as an exodus from civilizations; for Steiner, it is an exodus from the civilizing process.
5 Canetti and China Canetti’s special relationship to Chinese culture was soon obvious to those who began to take close interest in his work. One of the striking things about Die Blendung was that the central figure was a Sinologist. But as Ning Wu’s analysis shows, Peter Kien is a caricature of Sinology, and his references to Mencius on crowds are based on a gross misunderstanding, construed by Canetti as an integral part of the figure.³⁰ The particular interest in China goes back to an early stage of Canetti’s life. He read translations in various European languages, but there is no sign of him ever having thought about learning Chinese (whereas Steiner, who had a quite unusual ability for languages, is said to have been teaching himself Chinese at the time of his death). The most important source was Richard Wilhelm’s series of translations of the Chinese philosophical classics. But the question whether Canetti moved beyond this approach and discovered new aspects of China is worth closer examination. Ning Wu’s book, otherwise the most extensive treatment of the subject, was written before Canetti’s memoir of the war years in Britain (a draft fourth volume of the autobiography) became available; that text contains important information. During the “Blitz”, Canetti met Arthur Waley in London. Waley was not only one of the great translators of all times, and a key figure in the opening of East Asian cultural worlds (which he never visited in person) to Europeans; he was also, as far as Canetti knew, at that time the only person in Britain who had read Die Blendung, and had done so because somebody had told him that it was about a Sinologist. Canetti found Waley difficult,but admired his work and read some of it, notably Three Ways of Thought
Ibid. Wu: Canetti and China.
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in Ancient China. He says that this book hit him “like a hammer blow”³¹: it made him aware of thinkers, known as Legalists, who had – in the last phase before unification in the late third century BCE – theorized power politics and strategies of control, closely linked to intensive processes of state formation and interstate competition. There had been nothing remotely like this in the West until much later. Did this “blow” trigger a new round of reflection about China? Not directly or explicitly, it seems, but traces of that kind can be found in the 1971 essay on Confucius and his Analects. ³²This is a very short text, and its composition is markedly unlike the other essays collected in the book; in fact, it reads more like a series of preparatory notes that were never developed into a coherent piece. The most striking feature of these reflections is the difficulty that Canetti has in defining Confucius’s relationship to power. On the one hand, he claims that Confucius had no knowledge of “the nature of power, of its innermost being”³³, and that his Legalist enemies proved to have such knowledge. This stark contrast is then linked to the general statement that in the history of human thought, those who understood the facts of power have also accepted it (bejahen), but those who oppose it fail to grasp its essence. Given the claims that Canetti made for his work on crowds and power, the subtext seems obvious: he is trying to break with an age-old mutual estrangement of understanding and critique. On the other hand, Canetti writes that Confucius disregarded power as it is, was only interested in its possibilities, and saw it as a task, a responsibility for the common good. That goes hand in hand with a quest for order, an order that would encompass inner and outer life, be most adequately expressed in fully internalized rituals, especially those concerned with grieving for the dead; for Confucius, the memory of the dead is to become the mainstay of tradition, stronger than sanctions, laws and punishments.³⁴ For Canetti, this makes the original version of Confucianism unique, whatever may be said about later deviations; no other civilization has made a comparable attempt to eliminate the lustfulness of survival (this is one of the few cases where Canetti refers to different cultural worlds as civilizations). In view of his strong emphasis on the link between power and survival, this is a very far-reaching statement. Canetti adds that this attitude is also reflected in Confucius’s search for models in the distant Chinese past. They are individuals who wielded supreme power, and for the right Canetti: Party im Blitz, pp. 106 – 112. Canetti: Konfuzius in seinen Gesprächen. – In: Canetti: Das Gewissen der Worte, pp. 200 – 206. Ibid., p. 201. Ibid., p. 206.
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relationship to them, awareness of an unbridgeable distance is as important as the effort to approximate. Finally, the projection of this rational and traditional order onto the relationship between fathers and sons appears as a way of preventing a deterioration of the latter; but Canetti adds that it might also stand in the way of improvement. Is all this compatible with the statement about Confucius’s ignorance of power? A thinker so concerned with the cultivation and regulation of power, so aware of possibilities in that regard and so meticulous in his search for proper frameworks, can hardly have lacked insight into the force that he wanted to tame and polish. It is much more likely that Confucius took for granted the expressions and experiences of power characteristic of a multi-state civilization, all too familiar to his contemporaries, and responded to them in the way described by Canetti. The theorizing efforts of the Legalists came later, and Confucian scholars had to respond to them in various ways. Another noteworthy aspect of the abovementioned essay is the absence of Daoism. Canetti had, at a very early stage, developed a keen interest in Daoism, which he credited with high sensitivity to transformations, and a particular sympathy for Zhuangzi, who became for him “the most familiar of all philosophers” (he did not, it seems, consider the question whether an author whom you cannot read in the original can be promoted to that role). Historians of Chinese thought have, more recently, drawn attention to interactions and largely unacknowledged borrowings between Daoism and Legalism (even Laozi, the probably mythical founder of Daoism, has come under that kind of suspicion). Neither this question, nor changing perspectives on the relationship between Confucianism and Daoism, enter into Canetti’s thought. His engagement with China thus remained inconclusive, and the disruption of an early framework., caused by the encounter with Waley, was not overcome. The question of the “Chinese home”, as Canetti called it, must be posed with this background in mind. For him, the Chinese world was a space for reflection, an arena of intellectual “transformation” in Canetti’s sense (Verwandlung), eminently important, but not the only one. According to Canetti’s testimony, the Greeks entered his cultural universe before the Chinese, and he continues to invoke the Greeks, to the extent of invoking the Presocratics as models for his aphorisms, but he also repeatedly asks why they were so important. Perhaps as a “necessary passage between the Egyptians and us”.³⁵ And when he underlines his debt to Burckhardt, it is not least due to his “unembellished” view of
Canetti: Aufzeichnungen 1992– 1993, pp. 73.
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the Greeks.³⁶ For Canetti, the most objectionable embellishment was no doubt the over-philosophized image of the Greeks. And the persistence of that vision explains why he repeatedly tried to find the “way back to the Chinese”³⁷, and praised them for having anticipated his own forms of thought in clearer terms.
6 Steiner and India The “oriental politics” that Steiner recommended to the Zionist movement after his return from Jerusalem was a practical strategy, meant to be based on contact with modernizing forces in the Arab world (especially Egypt) and a lasting compromise between Arabs and Jews in Palestine. These proposals aligned him with some prominent representatives of the Jewish settler community. But as we have seen, Steiner’s version of an Arab-Jewish entente was linked to a fundamental redefinition (for Steiner, more precisely a rediscovery) of Jewish identity. It was to be orientalized. There are, admittedly, some interesting variations in Steiner’s development of this idea; on one occasion, he refers to Judaism as having (like its Greek counterpart, but from the other side) emerged on or across a cultural divide (Völkerscheide) between East and West.³⁸ If we think through the implications of this claim, it must refer to a long-term process, from the fifth-century BCE Second Temple to its destruction by the Romans. Another note, also dated at the end of the war, suggests that Jewish perceptions of the European world were durably pre-shaped by the encounter with the Greeks, and twentieth-century Jews still imagine that they are talking to descendants of the Greeks (in fact they are, as Steiner implies, dealing with latter-day Romans).³⁹ If that is to make sense, the formative encounter would have to be dated to late Hellenistic times and the first two centuries CE, when Greek civilization enjoyed a late flowering in the eastern half of the Roman empire; but Steiner does not elaborate, and in the overall picture, it is the emphatic Oriental turn that prevails, with particular emphasis on India. As noted above, a special interest in Indian religiosity as the core of an Oriental counterworld goes back to Steiner’s prewar experiences and commitments, but a more comprehensive focus on India is most evident in a letter to Gandhi written in 1946.⁴⁰ Steiner was at the time active in a Zionist organization, and the letter represents an attempt to build bridges between Zion
Canetti: Das Geheimherz der Uhr, p. 8. Canetti: Nachträge aus Hampstead, p. 66. Steiner: Feststellungen und Versuche, p. 29. Ibid., p. 43. Steiner: Brief an Herrn Gandhi. – In: Steiner: Zivilisation und Gefahr, pp. 60 – 81.
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ism and Indian nationalism. Whether Gandhi received it is not known; Steiner claimed to have entrusted it to a reliable messenger, but according to Adler and Fardon, his identity is unknown. Be that as it may, the letter clearly had no political impact, but it contains ideas that are still worth closer examination. Steiner begins by protesting against Gandhi’s condemnation of the Jewish return to Palestine, and then goes on to make more substantive points. He tries to convince Gandhi that his perception of the Jews as a European people, allying themselves with stronger European powers to achieve national goals, is in fact a basic misconception: the Jews have, ever since the Roman foundation of Europe, been an alien, misunderstood and persecuted community. The Roman conquest and its consequences, as well as a general inability to understand the Jewish unity of religious and political community, have set the scene for permanent marginalization, and the later rise of colonial empires reinforced that trend. For Steiner, anti-Semitism and colonialism are closely related aspects of the European record (he maintains that colonialism is a European invention, and that no Asian people ever built a colonial empire). The only proper response to this situation is to reaffirm the Asian identity of the Jews, and to seek alignment with other forces on that side (a move prepared, according to Steiner, by the convergence of Jewish cultural renewal in Eastern Europe with Herzl’s project of a Jewish state). Indian nationalism and Gandhi as its leader are the most promising allies. What Steiner expected from closer contact with India was not a model strategy. He describes non-violence as the most powerful weapon that Gandhi has given to the Indian nationalist movement, but rejects the idea that the Jews should follow suit. The point is that a “people of several hundred millions had the power, the solidarity and the discipline of a moral society, a religious movement”⁴¹. It takes that kind of strength to make non-violence practicable, and smaller communities in different circumstances cannot imitate it. But on another level, the Indian case exemplifies Steiner‘s view of the Orient and its moral superiority; it is the strongly entrenched collectivity that matters, neither race nor any other kind of extra-social factor. The implications become even clearer when he speculates about what might have happened if the Jews had migrated to India instead of dispersing within the Roman empire: “We would have adapted as one of the many Indian castes, we would have worshipped the God of all humans, and like your castes, we would have strictly maintained our forms of cult, our separation and our tradition”⁴². Steiner has no
Ibid., p. 69. Ibid., p. 76.
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doubt that this would have been a better option than the paria condition in Europe. Steiner’s image of India is strikingly reminiscent of ideas now primarily associated with the work of Louis Dumont. They stress a holistic pattern of Indian society, grounded in a cultural emphasis on transcendence and articulated through a hierarchy of castes. Somewhat more distinctive is Steiner‘s interest in the mobilizing and – by implication – self-reforming potential of this social order (he could not be unaware of the reformist aspects of Gandhi’s agenda). Steiner and Dumont are known to have had a friendly relationship in Oxford in 1952; Adler and Fardon quote Dumont to the effect that the contact was too short for any significant influence, and regard the question as undecidable. But when two thinkers of that calibre have regular conversations, it is unlikely that the encounter left no traces. Steiner was older, had a more complex and traumatic experience behind him, and had – as far as can be judged – arrived at more decisive conclusions. Dumont had done fieldwork in India and was working on his first significant publication. They shared a solid grounding in the French sociological tradition, but also a common resolve to correct its errors on one crucial point. Dumont was a student of Marcel Mauss, and his connection to the Durkheimian school is well known. Steiner had a strong interest in Georg Simmel, and as he once put it, Durkheim was overestimated by those who did not know Comte, and Comte by those who did not know Saint-Simon; but there is no doubt that his view on the primacy of collective life was influenced by Durkheim, and his reading of the first book of Aristotle’s Politics as a foundational treatise on sociology is Durkheimian in spirit. On the other hand, both Dumont and Steiner rejected Durkheim’s reduction of transcendence to society (when Steiner described the sociology of religion as the “most curious growth (Gewächs) of our times”⁴³, he had in mind the approach that saw only social dimensions of religion). Given this affinity of intellectual backgrounds, and the shared interest in India (from afar in Steiner’s case, close up in Dumont’s), it seems very plausible that the ideas in question were to a significant extent jointly generated.
7 Religion and Cultural Critique There can be no doubt about the religious premises behind Steiner’s critique of civilization. But his concern and ability to maintain contact with the whole spec-
Steiner: Feststellungen und Versuche, p. 39.
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trum of the social sciences was unusual among those who took a religious turn after secular beginnings. In Canetti’s case, the attitude to religion is less easily defined. Gerald Stieg refers to a “sanctification of tradition” and suggests that the “force of belief” sustaining the whole work, from the early novel to the late autobiography, is that of a homo religiosus. ⁴⁴ It remains to be seen whether this assessment can be reconciled with Canetti’s own statements. His relationship to traditions and their iconic figures – Greek, Chinese, as well as modern classics from Goethe and Stendhal to Kafka and Musil – may have some sacral connotations, but other evidence must be taken into account. If Canetti took the view that religions had, across the board though not quite in equal measure, failed to respond adequately to the human experience of death, his own insistence on saying no to this fundamental flaw of creation must be seen as a position taken within the horizon of religion. Since transformations and their poetic articulation are the closest thing humans have to a defence against death, the “vocation of the poet” (as described in an essay on that topic) acquires another level of sacral connotations.⁴⁵ But if transformations are invoked as a last refuge of the hope that has lost faith in religion, they also have a role to play – as exercises of the imagination – when it comes to the understanding of past religious worlds, most of all the myths in which they are still reflected. That is what Canetti has in mind when he claims to have many religions, and to find it impossible to identify with a single one. Steiner returned to an ancestral religion, but with an added willingness to explore paths in other directions, and without abandoning work in the established domains of secular thought. Canetti belongs in the category of those who pursued religion after religion, but with a difference and in ways that call for more comparison with the thinkers commonly taken to represent such views.⁴⁶ A more detailed biographical analysis would no doubt show that the diverse Jewish legacies – Sephardic for Canetti, Ashkenazy for Steiner – were of some importance for their respective attitudes to religion in general and Judaism in particular. This is beyond the scope of the present paper. But a brief concluding remark on the shared Central European background and its alternative signposts for reflection may be added. Central Europe was the region where the great twentieth-century civilizational crisis, though not unrelated to trends in other parts of the continent and the world, took its most explosive turns in 1914 and 1939; all
Stieg and Valentin (eds.): Ein Dichter braucht Ahnen, p. 6. Canetti: Der Beruf des Dichters. – In: Canetti: Das Gewissen der Worte, pp. 272– 283. Wasserstrom: Religion after Religion.
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later revolutionary upheavals were directly or indirectly linked to these turningpoints. There is thus a good case for applying Karl Kraus’s description of Austria as an “experimental station for the end of the world” (“österreichische Versuchsstation des Weltuntergangs”)⁴⁷ to the whole region. But the two outbreaks of global war were not the only critical junctures. Between the wars, successor states of the Austro-Hungarian empire underwent their particular crises and breakdowns Canetti’s Austrian experience differed from the Czechoslovak chapter of Steiner’s life, but for both authors, these episodes contributed to contributed to the sense of civilizational collapse that shaped their work. They also shared deep roots in a culture that had articulated premonitions before the disaster as well as responses to its first round. This source was highly diverse, and thinkers aiming for a new beginning in the middle of the catastrophe were bound to perceive negative examples as well as less clearly defined pointers to be taken further. Canetti’s rejection of academic philosophy was obviously linked to the impression that school founders among his contemporaries were continuing Aristotelian and Hegelian delusions by other means; but as we have seen, he developed a very distinctive phenomenological style of thought. And if his long-term project was, as stated in his autobiography, first defined through a critical reaction against Freud, the implication is that he wanted to deal with questions raised by psychoanalysis (including its very disillusioned anthropology), but in a radically different way. As for Steiner, there is no doubt that he responded critically to the kind of ethnology that was most influential in Central Europe, but an ethnological perspective remained crucial to his vision of history and of world cultures, from the Eskimos to India. The extraordinary cultural creativity of Central Europe before World War II – and with very significant continuations in exile – is now a commonplace, and so is the diversity of the currents represented in this context, as well as the dominant role of the German language, unparalleled in Europe at the time. The shared regional references did not exclude starkly divergent horizons; whatever the unfortunate distinction between analytical and continental philosophy may suggest, the two most formative currents of twentieth-century philosophical thought, phenomenology and the analytical philosophy of language, are both of Central European origin. At a later and more overtly critical stage, Central European versions of the modern novel – Kafka, Thomas Mann, Broch and Musil – exemplify the different paths open to the genre. The bulk of Canetti’s and Steiner’s works – with the major and obvious exception of Die Blendung – belongs to a third stage, that of Central Europe in exile. The fact that recognition came late,
Kraus: Franz Ferdinand und die Talente, S. 2.
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and even later to Steiner than to Canetti, is not least due to the unconventional character of their writings; in both cases, it can be argued that aphorisms – often better described as very short essays – were the most adequate expression of their thought. But what most markedly sets them apart from other major thinkers of the Central European diaspora is the phenomenon of close personal and intellectual friendship (well documented, although impossible to trace in detail) leading to radically divergent paths of thought.
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Danilo Kiš und Mitteleuropa Lord let my son live long enough to see that mountain torn down A Silver Mt. Zion, Austerity Blues
Geboren in Subotica im Königreich Jugoslawien, die Mutter serbisch-orthodoxe Montenegrinerin, der Vater jüdischen Glaubens, eine Kindheit in der serbischungarischen Grenzregion, später dann Montenegro, noch später Frankreich, Paris; ein glühender Antikommunist und Antinationalist, poetischer Zeuge in serbokroatischer Sprache, Familienchronist, Enzyklopädist und Wahlverwandter von Borges, Nabokov, Calvino, Perec; Lehrmeister postjugoslawischer Literaten, polyglotter Europäer, Exilant, Dissident und Raucher, ein Dichter pannonischer Provenienz – Zuschreibungen und Etiketten allesamt,¹ die den Schriftsteller prädestinieren für eine fast mythische Existenz: l’écrivain de l’Europe centrale. Danilo Kiš, der Autor, ist hinter derartigen Attributen kaum noch zu erkennen. Beginnen wir also – in den ausgehenden Zehnerjahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, in Zeiten von anschwellendem Nationalismus und mutigen, sich gegen diesen positionierenden Visionen für ein Europa der Regionen² – zunächst einmal ganz konkret: Anfang der 1980er Jahre besucht der ungarische Schriftsteller István Eörsi den jugoslawischen Schriftsteller Danilo Kiš in dessen Pariser Wohnung, Rue Tesson 3 – 5. Er fragt ihn, ob er, Kiš, der etablierte Autor, der so viele Freunde in Belgrad habe und so viel Respekt dort genieße, sich nicht vorstellen könne, wieder dorthin zurückzuziehen, ins Herz seiner so genannten Heimat. Der Gefragte antwortet harsch. Sicher, er verbringe jedes Jahr im Sommer gemeinsam mit Freunden einen ganzen Monat in Dubrovnik, aber nach fünf Tagen schon halte er es dort kaum mehr aus. Eörsi zeigt sich irritiert:
Zu dieser beliebig erweiterbaren Liste biografischer Partikel siehe: Thompson: Geburtsurkunde, S. 16; Rakusa: Nachwort. – In: Kiš: Familienzirkus, S. 891– 907, hier S. 891; Probst: Danilo Kiš – poetischer Zeuge Jugoslawiens; Wachtel: The Legacy of Danilo Kiš in Post-Yugoslav Literature, S. 148; Ingold: Das Archiv einer „ethnographischen Rarität“, S. 13. So nimmt etwa Ulrike Guérot in ihrem antinationalistischen Konzept für eine „Europäische RePublik“ im einundzwanzigsten Jahrhundert mit den alten europäischen Kulturregionen dezidiert kleinere administrative Einheiten bzw. Provinzen in den Blick; sie begreift die Dekonstruktion und Überwindung der europäischen Nationalstaaten zugunsten einer nach-nationalen Ordnung als das große europäische Zukunftsprojekt: „Die Kultur verbindet, das Nationale trennt!“, lautet ihre Devise. Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss, S. 180 – 190, hier S. 182. https://doi.org/10.1515/9783110536003-030
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Dubrovnik ist doch wunderbar, ganz Jugoslawien ist herrlich, Tito ist gestorben, große Veränderungen sind zu erwarten. […] Viele Jahre hindurch verbrachte ich meine Sommer in Jugoslawien, zuerst per Autostopp, dann mit dem eigenen Wagen, reiste ich zwischen Subotica, Skopje und Ulcinj auf und ab, und mein glücklichstes Erlebnis war es, daß die Völker hier überall friedlich nebeneinanderleben.³
Kiš kann dieser wohlmeinenden und zuversichtlichen Perspektive nichts abgewinnen, er empfindet Dubrovnik und das Land seiner Kindheit und Jugend als Ort der Gewalt: „Verstehe doch, ich kann es nicht aushalten, daß die sich am liebsten gegenseitig umbringen möchten! Die Serben die Kroaten, die Kroaten die Serben, alle beide die Slowenen, und alle drei die Albaner.“⁴ So sollte es kommen; und die an der eigenen Biografie geschulte präzise Diagnose,⁵ die Kiš der späten Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien seinerzeit stellt, beruht auf seiner entschiedenen Aversion gegen kollektivistische Ideologien – namentlich Nationalismus, Antisemitismus und Kommunismus –, die, so seine frühe Einsicht, die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens über kurz oder lang zerstören. In seinen „Mitteleuropäischen Variationen“ von 1986, einem prägnanten Essay von ausgesprochener Dringlichkeit, konkretisiert sich diese Analyse in der Auseinandersetzung mit der soziokulturellen und politischen Entität „Mitteleuropa“. Darin betont Kiš sogleich die Gefahr einer allzu sorglosen Beschreibung Mitteleuropas als übernationale, geopolitische und kulturelle Einheit. Denn, so sein Einwand, die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts „nach Jalta und Helsinki“⁶ ließe auch ganz andere und weitaus weniger optimistische Schlüsse zu, und der Status quo der 1980er Jahre berechtige eher zu der Annahme, dass Europa – und mithin Mitteleuropa – in seiner Beschaffenheit nach Lage der Dinge nun gerade nicht einem integrativen concept sans frontières (Jacques Morin) genüge: So fällt es schwer, die „mitteleuropäische Kultur“ selbst aus historischer Perspektive als ein übernationales Ganzes zu betrachten. Die Unterschiede zwischen den nationalen Kulturen
Eörsi: „Ich bin der letzte jugoslawische Schriftsteller“ (Danilo Kiš), S. 26. Ebenda, S. 26. In diesem Zusammenhang verweist Eörsi insbesondere auf zwei biografische Prägungen: die Kindheitserfahrung des Krieges, vor allem die der Deportation des Vaters (und damit verbunden das lebenslange Trauma von dessen Verschwinden), sowie die Diffamierung und Diskriminierung infolge der Veröffentlichung von Kišs Roman Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch (1976), seiner Abrechnung mit dem kommunistischen Totalitarismus. Ebenda, S. 27 f. Siehe auch: Rakusa: Nachwort. – In: Kiš: Familienzirkus, S. 891– 907, hier S. 900. Kiš: Mitteleuropäische Variationen – In: Kiš: Homo poeticus, S. 56 – 78, hier S. 56.
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in dieser Region sind größer als die Ähnlichkeiten, die Antagonismen stärker als Übereinstimmung und Homogenität; alle positiven zivilisatorischen Begegnungen reichen zurück bis ins Mittelalter und die Renaissance und sind zumeist liturgischen Ursprungs: der Parallelismus zwischen dem ungarischen und dem tschechischen planctus zu Beginn des 14. Jahrhunderts, in der feudalen Epoche die bei Kroaten, Ungarn und Tschechen identischen – aus dem Lateinischen übersetzten – Verslegenden, die zeitgleichen Übersetzungen der Ritterromane bei Serben und Ungarn, die etwas jüngeren, Slowenen, Kroaten und Ungarn gemeinsamen didaktischen Gedichte, die Schäferspiele, die aus Italien über Ragusa in die benachbarten nördlichen und nordwestlichen Gebiete gelangten, die Ähnlichkeit zwischen den ungarischen, serbischen, tschechischen, kroatischen, polnischen und rumänischen religiösen Legenden, wo sich die nationalen Heiligen bereits deutlich abzuzeichnen beginnen, die Parallelismen und wechselseitigen Einflüsse in der epischen Dichtung, wo sich die gemeinsame feudalistische Ideologie mit der Zeit in nationale Mythen aufspalten wird, während die Romantik neben schwärmerischem Panslawismus um 1848 auch antiungarische Tendenzen mit sich bringen wird und, wie bei dem magyarisierten Slawen Petőfi, Haß sowohl auf Österreich als auch auf die slawischen Stämme.⁷
Es ist bezeichnend, dass Kiš die verbindenden Elemente hier im Bereich von Sprache und Literatur ausmacht, also auf genuin kulturellem Gebiet, das für ihn – entgegen generalisierenden und vereinfachenden Auffassungen – weder national noch mitteleuropäisch sein kann: Es wäre „die Folge einer gewissen Vereinfachung, wollte man heute in diesem weiten und heterogenen Raum […] eine Einheit erblicken: man übersähe die Unterschiede und betonte die Ähnlichkeiten (so wie umgekehrt die Nationalisten die Ähnlichkeiten übersehen und die Unterschiede betonen).“⁸ Ganz konkret macht Kiš seine Skepsis gegenüber allzu offensichtlichen – weil oberflächlichen – Familienähnlichkeiten an der Person Peter Handkes fest, dessen Literatur ungeachtet seiner slawischen Herkunft „Faulkner und den Pariser Experimenten auf dem Gebiet der Prosa näher“⁹ sei als der Literatur sonst irgendeines mitteleuropäischen Schriftstellers, womit Kiš arglos kurzgeschlossene Identifikationsmuster à la Handke-Jugoslawien nicht leicht anerkennt.¹⁰ Ihm ist die Identifikation über die Nation – nationale Errungenschaften, Traditionen, Mythen – genauso fremd wie die affirmative Konstruktion einer übernationalen, gewissermaßen allumfassend-mitteleuropäischen Identität.
Ebenda, S. 56 f. Ebenda, S. 58. Ebenda, S. 69 f. Das ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Handke selbst diese Identifikation vor allem in den 1990er Jahren bekanntermaßen umso stärker betrieben und befördert hat.
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1 Mitteleuropa schreiben Kišs Erkenntnisinteresse gilt eher den subkutanen Verbindungslinien; sein Begriff von Mitteleuropa gründet in erster Linie auf individuellen Erfahrungen und Prägungen. Dem entspricht auch sein literarisches Programm. Die Ausgestaltung allgemeingültiger (und inhaltsleerer) „Geschichts- und Welterklärungsmodelle sind Kišs Sache nicht“¹¹, wie seine Übersetzerin und Herausgeberin Ilma Rakusa formuliert. Ihn reizt vielmehr, mit dokumentarischer Genauigkeit dem Einzelnen sich anzunähern in dessen Eigentümlichkeit und Absurdität, ihn zu betrachten im Zerrspiegel von Fakt und Fiktion und sein Schicksal zu wenden im Lichte verdichteter Details und mythisierender Evokationen – und damit dem Vergessen zu entreißen. Man denke insbesondere an Eduard Kiš, den Vater, dem Danilo Kiš in der Figur des E. S. in seinem so genannten Familienzirkus (dem literarischen Triptychon bestehend aus Frühe Leiden, Garten, Asche und Sanduhr) ein literarisches Denkmal gesetzt hat.¹² Eduard Kiš, der im Januar 1942 das Massaker von Novi Sad nur durch einen Zufall überlebt hatte, wurde 1944 ins Ghetto von Zalaegerszeg deportiert, unweit seines Geburtsorts Kerkabarabás in Westungarn gelegen, und ist anschließend in Auschwitz „verschwunden“ – eine Sprachregelung, die für den Sohn Danilo, damals neun Jahre alt, stets von großer Wichtigkeit war, weil sie gleichsam den Ausgangspunkt bildete für seine lebenslange Spurensuche: Die wenigen Erinnerungen an den Vater waren für ihn, erklärte Kiš in einem Interview, „eine Art Negativ, Bilder seiner Abwesenheit. Ich sehe bis heute, wie er in Wagen, Fiaker, Züge, Straßenbahnen steigt. Wir erwarten ihn oder geben ihm das Geleit. […] Oder bei unserem letzten Besuch, 1944 in Zalaegerszeg, in einem improvisierten Ghetto, von hier aus sollte er weggehen, für immer verschwinden. Daher also mein Bedürfnis, seine Gestalt zu ergänzen.“¹³ Diese Leerstelle nimmt Kiš mithin zum Anlass, der eigenen Biografie im Leben des Vaters nachzuspüren – und daran geknüpft auch der Geschichte des mitteleuropäischen Judentums: Nicht abgeschlossen, sondern im Kleinen, aber umso besessener von jenen spärlichen wie faszinierenden Überbleibseln der väterlichen Existenz, die den Schriftsteller dazu anregen, E. S. als idealisierte literarische Figur zu entwerfen, als „eine doppelt negative Gestalt, negativ im Sinne der Abwesenheit und negativ im Sinne des literarischen Helden. Er ist ein Kran-
Rakusa: Nachwort. – In: Kiš: Familienzirkus, S. 891– 907, hier S. 899. Ebenda, S. 893 – 900. Zitiert nach: Thompson: Geburtsurkunde, S. 32.
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ker, ein Alkoholiker, ein Neurastheniker, ein Jude, kurzum: er liefert ideales Material für eine literarische Figur.“¹⁴ Kiš erschreibt sich diese krisenhafte Vaterfigur, an deren Erscheinungsbild die Zeichen der Zeit (der gelbe Stern am väterlichen Mantel) ablesbar werden: Und hier schließlich: mein Vater außerhalb der Handlung des Dramas, der Farce, deren Autor, Regisseur und Hauptdarsteller er gewesen ist: da steht er nun, außerhalb jeglicher Rolle […]: der steife Kragen aus Kautschuk, vergilbt wie alte Dominosteine, die schwarze Krawatte mit dem großen Bohémienknoten, wie ihn die Kellner im Kaffeehaus trugen. Im Zimmer ein säuerlicher Geruch nach alkoholischen Ausdünstungen, Erbrochenem und Tabak.¹⁵
Kišs empathische Prosa folgt der derangierten, ausgegrenzten Vaterfigur, dem betrunkenen, einsamen Spaziergänger, in mythischer Verklärung: Am nächsten Tag, wenn er zu sich gekommen war, verkatert und von höllischem Durst gequält, den er mit Wasser löschte wie einen Brand, versuchte er, seine Würde zurückzugewinnen, und richtete vor dem Spiegel seine Krawatte, flink, so wie man ein künstliches Gebiß in den Mund schiebt. Er ging ohne ein Wort fort, sein geniales Soliloquium weiterspinnend, und kehrte spät abends zurück, ohne daß wir wußten, wo er gewesen war. […] Er aß Waldschwämme, Sauerampfer, wilde Äpfel und trank Vogeleier aus, die er mit der Krücke seines Stocks aus den Nestern langte. Später, im Lauf des Sommers, entdeckten wir ihn hier und dort unvermutet in der Umgebung: da tauchte sein schwarzer Halbzylinder aus dem Korn auf, oder seine Brillengläser blitzten in der Sonne. Er schritt durch die Felder, in Gedanken versunken, schwang seinen Stock hoch durch die Luft, er ging wie ein Schlafwandler, immer seinem Stern nach, der sich zwischen den Sonnenblumen verlor, und erst am Feldrand fand er ihn wieder – an seinem schwarzen, speckigen Gehrock.¹⁶
Der kaum gekannte Vater erscheint hier als Kristallisationspunkt der literarischen Projektion: das exemplarische, nichtsdestotrotz singuläre mitteleuropäisch-jüdische Lebensschicksal eines Gebrandmarkten und Verfolgten. Ähnlich nun wie die reale Vaterfigur, die in der literarischen Figur erst Gestalt annimmt, wird das Bild, das der Autor Danilo Kiš als Mitteleuropäer abgibt, erst vollends verständlich, wenn man es begreift als die bewusste, selbstgewählte Ausformung dessen, was vor allem westliche Perspektiven als kollektive und kulturelle Größe „Mitteleuropa“ an den in Paris lebenden, berühmten Schriftsteller herangetragen haben: Mitteleuropäer sein qua Geburt und per definitionem. Und das bedeutet auch: politisch sein müssen. Aber Kiš wollte nie ein homo politicus sein; er war in der
Zitiert nach: Ebenda. Kiš: Familienzirkus, S. 189 (aus Garten, Asche). Ebenda, S. 190 f.
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Selbstbeschreibung stets homo poeticus. Insofern ist auch seine Haltung im Mitteleuropadiskurs von der (ästhetischen) Konstruktion einer entschieden individuellen mitteleuropäischen Identität geprägt, die als dezidierte „Wahl der Vergangenheit,Wahl der Tradition, der literarischen und der kulturellen“¹⁷ betrachtet werden muss.
2 Trauer um Mitteleuropa Kišs Verständnis von Mitteleuropa war demnach kein politisches, sein „Mitteleuropakonzept“ eher eine Idee: Mitteleuropa als Suche und Verlusterfahrung, als geistiger Inhalt und intellektuelle Tradition.¹⁸ In seinem programmatischen Essay „Homo poeticus, trotz allem“ aus dem Jahr 1980 heißt es in diesem Sinn spöttisch: Uns Jugoslawen also ist der homo politicus bestimmt, den andern alles übrige, alle übrigen Dimensionen jenes wunderbaren Kristalls mit den hundert Oberflächen, jenes Kristalls, der homo poeticus heißt, jenes poetischen Tiers, das gleichermaßen an der Liebe wie an der eigenen Sterblichkeit leidet, an der Metaphysik wie an der Politik … Haben wir ein solches Schicksal verdient? Zweifellos. […] Denn wir haben der Versuchung nicht widerstanden, unsere kleinen (oder großen, was soll’s) Probleme des Nationalismus und Chauvinismus zu exportieren, der ganzen Welt lauthals zu verkünden, daß wir in erster Linie nicht Jugoslawen, sondern – verstehen Sie doch endlich – Serben oder Kroaten, Slowenen oder Makedonier oder was-weiß-ich sind. Achtung, das ist sehr-sehr wichtig, meine Damen und Herren, das darf man nicht durcheinanderbringen, bei uns gibt es Katholiken und Orthodoxe, Muslime und – natürlich – auch einige Juden (keineswegs zu vergessen!) … und schon sind wir wieder, wir jämmerlichen Jugos, inmitten unserer Familienzwiste, und wollten doch eigentlich über Literatur reden […].¹⁹
Die Festschreibung auf politisch konturierte religiöse und nationale Identitäten setzte sich im Nachgang der Jugoslawienkriege hüben wie drüben mit der Vereinnahmung einschlägiger ex-jugoslawischer Autoren für das jeweils eigene literarische Erbe fort.²⁰ Angesichts dieser aufgenötigten Zugehörigkeitsbedrängnis erscheint Kišs distanzierte Haltung der 1980er Jahre (er starb im Oktober 1989) mehr als plausibel. In der zitierten Passage klingt erneut die Stimme des
Vladimir Gvozden, zitiert nach: Grunert: Das Mitteleuropakonzept von Danilo Kiš, S. 1. Ebenda. Kiš: Homo poeticus, trotz allem – In: Kiš: Homo poeticus, S. 45 – 49, hier S. 46 f. „Aleksandar Tišma und Danilo Kiš wären sicher nicht einverstanden gewesen, posthum zu serbischen Schriftstellern ernannt zu werden“, vermutet etwa Sonja Vogel in ihrer knappen Rezension zweier auf serbische bzw. kroatische Literaturen fokussierter Zeitschriften-Veröffentlichungen aus dem Jahr 2008. Vogel: Gefangen im eigenen Land.
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Schriftstellers an, der den Orten der Vergangenheit nachspürt, doch deren Gegenwart nicht aushält. Seine konzeptuellen Überlegungen, die von dieser Diskrepanz ausgehen, entwerfen kein politisches Projekt für Mitteleuropa, sie beschreiben im Gegenteil eine Verlusterfahrung – den Verlust jener eigentümlichen Biografien, die oftmals unter den Vorzeichen kakanischer Prägung standen: „Ich habe in drei Religionen gelebt – der orthodoxen, der jüdischen und der katholischen –, in zwei Sprachen – der ungarischen und der serbokroatischen –, in zwei Ländern plus Frankreich und habe zwei unterschiedliche politische Welten kennengelernt“²¹, resümiert Kiš in einem Gespräch mit Gabi Gleichmann, und in seinem autobiografischen Kurztext „Geburtsurkunde“ (1983) treibt er diese Feststellung ironisch auf die Spitze: „Die ethnographische Rarität, die ich darstelle, wird also mit mir aussterben.“²² Nun ist es Kiš gerade nicht an einer Ethnografie der mitteleuropäischen Kulturen gelegen – den Fokus auf sein eigentliches Thema lenkt er damit aber umso mehr: Er begreift die widersprüchlichen und vielgestaltigen Lebensläufe, die – jeder für sich – charakteristisch für den mitteleuropäischen Kulturraum waren, vielmehr als biografische Raritäten, die im katastrophalen Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts mehr und mehr zerstört wurden. Kiš beklagt den Verlust der Multikulturalität in Mitteleuropa und verweist besonders auf das schmerzhafte Fehlen der „verschwundenen“ jüdischen Bevölkerung.²³ Damit sind die Bruchstellen benannt, welche die Gegenwart der 1980er Jahre für ihn unwiederbringlich von seinem eigenen – theoretischen wie persönlich erfahrenen – Mitteleuropa trennen: die Vernichtung der mitteleuropäischen Juden und der zunehmende Rückzug aufs Nationale. Beides zusammengenommen ließ eine Kultur aussterben, die als „transnationale Bindeklammer der Region“²⁴ fungierte und deren unverkennbarste Repräsentanten laut Kiš die Juden waren.²⁵
Kiš: Zwischen Politik und Poetik – In: Kiš: Homo poeticus, S. 227– 240, hier S. 229. Zitiert nach: Thompson: Geburtsurkunde, S. 19. Eine eingehende Untersuchung dieser provokanten Bemerkung findet sich ebenda, S. 97– 102. Konsequenterweise entleiht Thompson von seinem Sujet auch den Titel für seine Kiš-Biografie, die dem Leben des Schriftstellers entlang dieser autobiografischen Miniatur gleichen Namens nachspürt. Grunert: Das Mitteleuropakonzept von Danilo Kiš, S. 8. Ebenda. Kiš: Mitteleuropäische Variationen – In: Kiš: Homo poeticus, S. 56 – 78, hier S. 69.
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3 Auf dem Grund des Meeres So verwundert es nicht, dass das Judentum schon früh in seinem Leben für Kiš eine eigentümliche und tragische Rolle spielte: „Ich war vier Jahre alt (1939), als mich meine Eltern, nach Ausrufung der anti-jüdischen Gesetze in Ungarn, in der Himmelfahrtskathedrale in Novi Sad orthodox taufen ließen, was mir das Leben rettete“²⁶, heißt es in der „Geburtsurkunde“. Beinahe lakonisch mutet die präzise Schilderung der Beweggründe für die Wahl der Religionszugehörigkeit an, und nicht weniger lakonisch klingt die Schilderung der dunkelsten Stellen der Familienchronik, die Kiš in seinen Romanen zu gestalten sucht: „[I]m Jahre 1944 wurden mein Vater und all unsere Verwandten nach Auschwitz deportiert, und von dort ist fast keiner zurückgekehrt.“²⁷ Es ist ein wesentliches Element von Kišs poetologischem Verfahren, persönliche Wirklichkeiten mit poetischen zu verschränken. Insofern finden sich in der „Geburtsurkunde“, die sein Leben in komprimierter Form in Worte kleidet, unmittelbar neben derart nüchternen Beschreibungen auch solche Figuren aus der Familiengeschichte, welche die Schwelle zur Fiktion überschreiten: Assoziative Verbindungslinien führen zu Joyces Leopold Bloom und Kaiser Franz Joseph II. (väterlicherseits), und auch ein montenegrinischer Held und eine Amazone, die aus Rache einen türkischen Despoten köpfte, kommen (mütterlicherseits) in den wenigen Zeilen dieser als Urkunde getarnten autobiografischen Skizze zu ihrem Recht. Bei dem legendären Helden mit prominentem Platz in Kišs persönlicher Ahnengalerie etwa handelt es sich um Marko Miljanov – den Onkel der Frau des Großvaters der Mutter, der in dem Ruf stand, der größte montenegrinische Krieger seiner Zeit zu sein und der noch im hohen Alter als Schriftsteller reüssierte mit seinem 1901 erschienenen, an edle Gesinnung und kühne Taten gemahnenden Werk Beispiele für Menschlichkeit und Heldenmut. ²⁸ Eine mythenhafte Figur, an der exemplarisch deutlich wird, dass selbst das realitätsgesättigte Thema der eigenen Vita dem Autor noch genügend Anlass bot, seiner Lebensgeschichte samt ihren Daten und Fakten „eine unsichtbare, ungeahnte literarische Kraft“²⁹ zu entlocken. Ganz so verfährt Kiš auch im Hinblick auf seine mitteleuropäische Identität: Die Bezüge reichen oft weit in die Geschichte zurück, sein Schreiben ist ein archäologisches, und die Trauer um das ausgelöschte multikulturelle Mitteleuropa wird sprachlich unter anderem daran ablesbar, dass Kiš in seinen fiktio-
Zitiert nach: Thompson: Geburtsurkunde, S. 19. Ebenda. Ebenda, S. 90 f. Ebenda, S. 23.
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nalen Texten stark dem Politischen verhaftete Staatennamen wie Jugoslawien oder Ungarn nur sehr selten benutzte, wohingegen für ihn beispielsweise die althergebrachte und legendenreiche Bezeichnung „Montenegro“ weitaus unproblematischer zu verwenden war.³⁰ Besonders augenfällig ist in diesem Zusammenhang Kišs affirmative Bezugnahme auf eine historische Landschaft, die gleichsam als archäologische Folie für seine Beschäftigung mit dem sich immer weiter in Nationalismen auffächernden mitteleuropäischen Kulturraum taugt: Pannonien. Von 9 bis 433 n. Chr. eine römische Donauprovinz und in geografischer Hinsicht Namensgeberin jener ausgedehnten Tiefebene, die heute Gebiete Ungarns und der Slowakei, Österreichs, Kroatiens und Serbiens sowie Rumäniens und der Ukraine umfasst,³¹ gründet Kišs Faible für diese alte Region, die in ihrer historischen Dimension viele Kulturen, Religionen und Traditionen einschließt, nicht zuletzt auf der Besonderheit, dass es sich beim so genannten Pannonischen Becken um ein ehemaliges Flachmeer handelt – den durch die Karpaten abgetrennten westlichen Teil der eurasischen Steppe.Vor diesem Hintergrund ereignete sich die mitteleuropäische Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts buchstäblich auf dem Meeresgrund, was für Kiš zumindest die milde Aussicht bereithält, dort auf fossile Spuren einer fernen Vergangenheit zu stoßen: Wenn ein Mensch, begabt mit dem Gehör eines Hundes, in einem günstigen Augenblick den Kopf an die Erde hält, kann er ein leises, kaum hörbares Geräusch vernehmen, wie wenn Wasser aus einem Gefäß in ein anderes rinnt oder der Sand durch die Sanduhr – etwas in dieser Art könnte man hören, etwas in dieser Art hört man, wenn man seinen Kopf an die Erde hält, das Ohr an den Boden preßt, während die Gedanken in die Tiefe der Erde eindringen, durch alle geologischen Schichten hindurch, bis zum Mesozoikum, bis zum Paläozoikum, durch Schichten von Sand und dichtem Lehm, eindringen wie die Wurzeln eines Riesenbaums, durch Schichten von Schlamm und Gestein, durch Schichten von Quarz und Gips, durch Schichten toter Muscheln und Schnecken, durch die torfigen Schichten von Fischschuppen und -gräten, durch das Gerippe von Schildkröten und Seesternen und Seepferdchen und Seeungeheuern, durch Schichten von Bernstein und feinem Sand, durch Schichten von Seegras und Humus, durch dichte Ablagerungen von Algen und Perlmuscheln, durch Schichten von Kalk, durch Schichten von Kohle, durch Schichten von Salz und Lignit, von Zinn und Kupfer, durch Schichten menschlicher und tierischer Skelette, durch Schichten von Schädeln und Schulterblättern, durch Schichten von Silber und Gold, durch Ablagerungen von Zink und Pyrit; denn irgendwo dort, in einer Tiefe von einigen hundert Metern, befindet sich die Leiche des Pannonischen Meers, das noch nicht ganz tot ist, nur zusammengedrückt, zusammengepreßt von immer neuen Schichten von Erde und Gestein,
Ebenda, S. 34. Zur Geschichte des Begriffs und der Region allgemein: Bratoz: Pannonien. In Bezug auf Kiš: Thompson: Geburtsurkunde, S. 34– 41, hier S. 35.
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von Sand, Ton, Schlamm, von Menschen- und Tierleichen, von Leichen von Menschen und Leichen menschlicher Taten, nur zusammengequetscht, denn es atmet noch immer, seit mehreren tausend Jahren, durch die Halme der wogenden Kornfelder, durch das Schilf der Sümpfe, durch die Wurzeln der Kartoffeln, noch nicht ganz tot, nur zusammengedrückt von den Schichten des Mesozoikums und Paläozoikums, denn – sieh da – es atmet schon mehrere Stunden, mehrere Minuten (gemessen am Alter der Erde), atmet pfeifend wie ein Asthmatiker und schwer wie ein Grubenarbeiter, den Balken und Pfeiler und schwere Blöcke von Fettkohle zusammengequetscht haben; wenn der Mensch seinen Kopf an den Boden hält, wenn er die Ohren an die feuchte Tonerde preßt, kann er, besonders in solch stillen Nächten, sein Keuchen hören, seine nicht enden wollende Agonie.³²
Eine mantraartige Beschwörung, sich vortastend Schicht um Schicht – und gleich nahe der Oberfläche die Überreste und Trümmer der jüngeren und jüngsten Geschichte. In dieser poetischen Betrachtungsweise liegt die Stärke von Kišs Überlegungen: Mitteleuropa mag durchaus eine Zukunft haben, aber nicht als Idée fixe, sondern nur in der sorgsamen Anverwandlung und Kritik all dessen – Kulturen, Biografien und Verbrechen –, was die Gesellschaften voneinander trennt und doch verbindet: Für Kiš erstreckt sich die pannonische Ebene über eine Landschaft, die von den totalitären Systemen des vergangenen Jahrhunderts gezeichnet ist; und der große Verlust, der damit einherging, ist zugleich ihr charakteristisches Moment: Einend ist im mitteleuropäischen Kulturraum die Erfahrung der Heterogenität.³³ Was ergibt sich nun aus diesen Überlegungen fürs Heute? Die Gedanken und Fiktionen des homo poeticus legen nahe, dass unter den kollektivistischen wie ausgrenzenden Vorzeichen von Nationalismus, Antisemitismus und auch Antiislamismus kein friedliches Zusammenleben zu machen ist. Den individuellen wie kollektiven Traumata der Geschichte und der von Hannah Arendt prononcierten ungeheuren Gefahr totalitärer Erfindungen, die Menschen überflüssig zu machen,³⁴ setzt Kiš eine Sehnsucht entgegen „nach weiteren, demokratischeren europäischen Horizonten“³⁵. Als Anstoß zum Schreiben und auch als ihn mit anderen Schriftstellern mitteleuropäischer Herkunft verbindende Eigenschaft identifiziert er „das Bewußtsein der Form […]; Form als Gegengewicht zur Desorganisation der Barbarei und irrationalen Willkür der Instinkte“³⁶. Kišs Stimme ist in der Diskussion um den Kulturraum (Mittel‐)Europa eine wertvolle, heute wie
Kiš: Familienzirkus, S. 306 f. (aus Sanduhr). Grunert: Das Mitteleuropakonzept von Danilo Kiš, S. 3; Cox: Pannonia Imperilled: Why Danilo Kiš Still Matters, S. 608. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 942. Zitiert nach: Thompson: Geburtsurkunde, S. 44. Kiš: Mitteleuropäische Variationen – In: Kiš: Homo poeticus, S. 56 – 78, hier, S. 78.
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damals. Als eine von vielen mitteleuropäischen Geschichten lehrt die von Kiš literarisch umkreiste Geschichte des ehemaligen Jugoslawien im zwanzigsten Jahrhundert – eine Geschichte der Verletzungen und Kränkungen, die jüngst auf eindringliche Weise auch von Slavko Goldstein³⁷ beschrieben wurde –, aus der ästhetischen Utopie des Vergangenen die Vision für ein zukünftiges Zusammenleben zu synthetisieren: in einer offenen Gesellschaft, die im Stile des small is beautiful ³⁸ ohne die großen Ideologien der vergangenen Jahrhunderte wird auskommen müssen, inmitten Europas.
Literaturverzeichnis Quellen Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus (The origins of totalitarianism, dt.). 17. Aufl. München: Piper 2014 (Piper. 1032). Goldstein, Slavko: 1941 – Das Jahr, das nicht vergeht. Die Saat des Hasses auf dem Balkan (1941. Godina koja se vraća, dt.). Aus dem Kroatischen von Marica Bodrožić. Frankfurt a. M.: Fischer 2018. Guérot, Ulrike: Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie. Erweiterte und aktualisierte Taschenbuchausgabe. München: Piper 2017 (Piper. 31192). Kiš, Danilo: Homo poeticus. Gespräche und Essays. Hrsg. von Ilma Rakusa. München: Hanser 1994 (Edition Akzente). Kiš, Danilo: Familienzirkus. Die großen Romane und Erzählungen. Hrsg. von Ilma Rakusa. München: Hanser 2014. Thompson, Mark: Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kiš. (Birth Certificate: The Story of Danilo Kiš, dt.). Aus dem Englischen von Brigitte Döbert und Blanka Stipetić. München: Hanser 2015.
Darstellungen Bratoz, Rajko: Pannonien. – In: Reallexikon der germanischen Altertumskunde. Verfasst und hrsg. von Johannes Hoops. 2., völlig neu bearb. und stark erw. Auflage. Bd. 22. Berlin, Boston: de Gruyter 2003, S. 469 – 483. Cox, John K.: Pannonia Imperilled: Why Danilo Kiš Still Matters. – In: History 97 (2012), No. 4, S. 591 – 608.
Goldstein: 1941. Das Jahr, das nicht vergeht. Die Saat des Hasses auf dem Balkan. Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss, S. 187 f.
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Eörsi, István: „Ich bin der letzte jugoslawische Schriftsteller“ (Danilo Kiš). – In: Maria Gazzetti und Delf Schmidt (Hrsg.): Danilo Kiš. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998 (Literaturmagazin. 41), S. 25 – 30. Grunert, Heiner: Das Mitteleuropakonzept von Danilo Kiš. http://www.kakanien-revisited.at/ beitr/fallstudie/HGrunert1.pdf. Kakanien Revisited 2009. (Zugriff: 4. Juni 2018). Ingold, Felix Philipp: Das Archiv einer „ethnographischen Rarität“. – In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 46 (1995), S. 13 – 15. Probst, Hans Ulrich: Danilo Kiš – poetischer Zeuge Jugoslawiens. https://www.srf.ch/ sendungen/reflexe/danilo-kis-poetischer-zeuge-jugoslawiens. Radio SRF 2 Kultur 2015 (Zugriff: 4. Juni 2018). Vogel, Sonja: Gefangen im eigenen Land. http://www.taz.de/!5172603/. TAZ vom 18. November. (Zugriff: 4. Juni 2018). Wachtel, Andrew: The Legacy of Danilo Kiš in Post-Yugoslav Literature. – In: Slavic and East European Journal 50 (2006), No. 1, S. 135 – 149.
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Miroslav Krležas Mitteleuropa?
Der amerikanische Slawist Ralph Bogert bezeichnet in seiner Monographie den Erzähler, Dramatiker und Essayisten Miroslav Krleža als naysayer, womit Krležas beständige oppositionell-unabhängige und kritische intellektuelle Position einprägsam gefasst wird, denn Zeit seines Lebens sorgte Krleža für Polemiken und Skandale mit dem für ihn typischen antagonistischen Diskurs¹. Krležas Motto war ohnehin, der Schriftsteller könne die Welt nur im Modus der Negation² akzeptieren, was als eine „Theorie der Negativität“ geistesgeschichtlich³ auf „Nietzsches revolutionäres Modell der Umwertung aller Werte“ zurückgeführt wurde und „global-geschichtliche, anthropologische, ethische und ästhetische Aspekte“ ⁴ in Krležas Werk umfasst. Er hat mehrere politische Systeme erlebt und sie allesamt scharf kritisiert – angefangen mit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, über das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dann Königreich Jugoslawien, er hat im faschistischen so genannten ‚Unabhängigen Staat Kroatien‘ und nach dem Zweiten Weltkrieg im Sozialistischen Jugoslawien gelebt. Als Autor hat er sich internationalistisch und kosmopolitisch positioniert und sich eklektisch zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten bewegt. Auch widersetzt sich sein Werk der klaren stiltypologischen Einordnung in literaturhistorische Richtungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Hierin sind Gründe zu suchen, die oft ambivalent verstandene europäische Makroregion Mitteleuropa bzw. den vieldiskutierten zentraleuropäischen Komplex in Gesprächen mit Predrag Matvejević strikt zu leugnen. Dennoch prägen der zentraleuropäische Komplex und insbesondere die Reminiszenzen an die vergangene Zeit in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Krležas Gesamtwerk in all seinen Facetten. Viktor Žmegač schreibt in einem Aufsatz zu Mitteleuropa als Miroslav Krležas geistige Heimat Folgendes: „So abgegriffen das Schlagwort ‚Mitteleuropa‘ zuweilen auch erscheinen mag, der Komplex geographischer, kultureller und interkultureller Vorstellungen, […] tritt bei der Betrachtung von Krležas Lebenslauf sehr anschaulich zutage.“⁵ Hier wird jedoch keine biographische Skizze unterbreitet, es sollen vor allem die sozialpolitischen Essays Krležas in ihren Entwicklungslinien
Für einen Überblick s. Visković und Duda – Zeittafel, S. 3 – 7. Krleža: „Negacija je njegov familijarni oblik prihvaćanja svijeta.“– Matvejević: Razgovori s Krležom, S. 28. Siehe Lindemann: Die Philosophie Friedrich Nietzsches. Stančić: Miroslav Krleža, S. 17. Žmegač: Miroslav Krleža und seine mitteleuropäische geistige Heimat, S. 103. https://doi.org/10.1515/9783110536003-031
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betrachtet werden. Krleža ist einer der Autoren, „welche Mitteleuropa nicht mehr als exkludierendes Prinzip verstehen, sondern in der Doppelbewegung europäischer Obstruktionspolitik von Inklusion und Exklusion sowie in der nostalgischen Bezugnahme und Parodierung des Diskurses immer schon als peripheren Raum reflektieren“⁶. Miroslav Krleža ist in der Tat ein „typischer Autor Mitteleuropas“⁷, aber nur in seiner Negation. Diese These soll an folgenden Fragen erprobt werden: Welchen Einfluss hatte die (ungewollte) Zugehörigkeit zu diesem Kulturkreis auf Krleža als politischen Autor und politischen Denker? Ist Krleža als mittel- bzw. zentraleuropäischer Autor zu bestimmen? Wie verhalten sich seine politischen Essays und seine diskursiven Texte zum transregionalen Themenkomplex Mittel- bzw. Zentraleuropa und wird bei ihm neben der links- internationalistischen Überzeugung nicht eher eine jugoslawische Formel dominant, die sowohl südosteuropäisch, balkanisch und mediterran zu verstehen ist? Im Folgenden sollen Krležas antagonistische Einstellungen zum zentraleuropäischen Komplex anhand seiner diskursiven Texte dargestellt werden, wobei vor allem der Begriff Mitteleuropa kritisch diskutiert wird. Im zweiten Schritt soll Krležas utopische Erschaffung eines diskursiven Raumes als ein kulturpolitischer Gegenentwurf zum zentraleuropäischen Komplex dargestellt werden. Im 1967 geführten Gespräch mit Rupprecht Baur wehrt sich Miroslav Krleža „sehr dezidiert […] gegen eine Vereinnahmung in die Traditionslinie Mitteleuropas“⁸ im geographischen, kulturellen und literarischen Sinne und wiederholt fast wörtlich seine Argumentation aus dem auf Kroatisch veröffentlichten Gespräch mit Predrag Matvejević, in dem er direkt auf dieses Thema eingeht, was in Krležas diskursiven Texten sonst nicht der Fall ist: Wenn man annimmt, dass [sich] im Zusammenhang mit dem Zerfall der Austro-Ungarischen Monarchie irgendwelche auf den ersten Blick / nennen wir sie gemeinsamen Züge der künstlerischen Sensibilität auf einem bestimmten geographischen Raum / haben entwickeln können, so glaube ich, dass ein solcher im literarischen Sinne zentraleuropäischer Komplex ein Phantom ist. Das erscheint mir heute wie die Berufung schon längst verstorbener Geister auf einer spiritistischen Seance, ganz einfach als eine Feuilletonschreiberei über Unbekanntes.⁹
Im auf Kroatisch geführten Gespräch mit Matvejević variiert Krleža die Begriffe Zentral- [Centralna] und ‚Mittel-Europa‘ [genau in dieser Schreibweise auf
Previšić: Das Gespenstergerede von einem Mitteleuropa, S. 125. Stamać: Ein typischer Autor Mitteleuropas, S. 102. Hudabiunigg: Zwei Europas?, S. 210. Baur: Zweites Interview, Bandzählung 48 – 50.
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Kroatisch], jedoch kommt im deutschen Wortlaut nur Zentraleuropa vor. Insofern kann man von einer semantisch andersartigen Bedeutung ausgehen. Aber auch die in den sechziger Jahren wiederbelebte Vorstellung von Zentraleuropa, die vor allem kulturpolitisch verstanden und mit Namen wie Franz Kafka und Franz Werfel, Elias Canetti, Joseph Roth, Karl Emil Franzos oder Robert Musil assoziiert wird, wird von Krleža im Gespräch mit Matvejević als eine Chimäre oder als ein „Phantom“¹⁰ bezeichnet. Dabei ist der Begriff Zentraleuropa geopolitisch neutraler zu verstehen und in der Folge wurde in der Krleža-Forschung der so genannte „zentraleuropäische Komplex“¹¹ ausgearbeitet. Auch in dieser Arbeit wird der Begriff Mitteleuropa durch den Begriff Zentraleuropa ersetzt und mit Moritz Csáky als Raum der „endogenen und exogenen ethnisch-kulturellen Pluralität“¹² im „Konzept polyphoner und hybrider Kulturen“¹³ verstanden. Nach Csáky ist der zentraleuropäische Raum als der „kulturelle Kommunikationsraum“ seit dem neunzehnten Jahrhundert besonders „krisen- und konfliktanfällig“¹⁴, bzw. von „Dynamik“ und „Ambivalenz“¹⁵ im gleichen Maße geprägt. Diese Merkmale decken sich in vielerlei Hinsicht mit Krležas thematischen Präferenzen. Vor allem den Begriff Mitteleuropa hat Krleža radikal verworfen: „Mittel-Europa“ sei nach ihm einmal ein „pangermanisches, politisches oder, besser, imperialistisches (kaiserliches) Losungswort aus dem Jahre 1915“¹⁶ gewesen. Aus dieser Feststellung sind zwei Schlüsse zu ziehen: Einerseits die Tatsache, dass das Konzept Mitteleuropa geopolitisch verstanden und mit imperialen Programmen gleichgesetzt wird, d. h. im Terminus Mitteleuropa wird die Traditionslinie der „klein-“ oder „großdeutschen“ Neuordnungs- und Staatsbildungskonzepte erkannt, in welchen der südöstliche Teil Europas die Funktion eines shatter-belt vom Baltikum bis an die Adria zu erfüllen hatte. Andererseits negiert Krleža dieses Konzept vor allem von seinem Standpunkt eines linksmaterialistischen Autors, der im 1915 die kommunistischen Ideen von einer revolutionären Neuordnung der Welt vertreten hat. Die Krleža-Forschung betrachtet seine damalige Schaffens-
„Sve kad bismo bili skloni da primimo neke vrste pretpostavki da su se u okviru dekompozicije austro-ugarskog kolonijalnog carstva, heterogenog i heteroklitnog, mogli pojaviti neki, na prvi pogled slični ili, nazovimo ih tako, ‚zajednički odrazi‘ u literarnom senzibilitetu koji se formirao na ovom geografskom prostoru, smatram da je tzv. literarni ‚centralno-evropski kompleks‘ fantom. Danas je to sazivanje davno već mrtvih duhova na jednoj spiritističkoj seansi koja se prosto zove pisanje feljtona o nepoznatim stvarima.“ Matvejević: Razgovori s Krležom, S. 63 f. Zo. Kr. [Zoran Kravar]: Centralnoevropski književni kompleks, S. 93. Csáky: Gedächtnis, Erinnerung, S. 41. Ebenda, S. 47. Ebenda, S. 43. Ebenda., S. 47. Matvejević: Razgovori s Krležom, S. 64.
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phase als einen „disperse[n] Diskurs“¹⁷, von revolutionärem Pathos und anarchoindividualistischen Impulsen geprägt. In diesem Sinne erinnert Predrag Matvejević in einem später entstandenen Essay, „in the communist movement cultural and literary questions were not separated from political ones“¹⁸, so dass die geopolitische und die geopoetische Ebene in Krležas Bestimmung des Mitteleuropa-Begriffes untrennbar von einander sind. Insofern wird Naumanns Konzept als „eine Formel für scheinliterarische Fiktionen [betrachtet und] beinhaltet heute nur noch die Sehnsucht nach verflossenen Zeiten, als die spanische Dynastie noch herrschte, aber die schönen Tage von Aranjuez sind nun zu Ende.“¹⁹ Die insgesamt ablehnende Einstellung Krležas gegenüber Mitteleuropa bezieht sich jedoch vor allem auf Friedrich Naumanns Konzept Mitteleuropas, denn er erkennt nicht nur eine germanozentrische Ausrichtung, sondern sogar eine Fortsetzung der Drang-nach-Osten-Politik aus dem neunzehnten Jahrhundert in Naumanns pangermanischem Konzept. Krleža versteht es vor allem als direkte Bedrohung der um 1918 virulent gewordenen Frage nach Selbstbestimmung der kleinen europäischen Völker. Naumanns einflussreiche Schrift, genauso wie jene von Albrecht Penck²⁰ aus dem Jahre 1915, „plädierten für eine militärisch exekutierte mitteleuropäische Hegemonialordnung der verbündeten ‚Mittelmächte‘ und boten Argumentation für die entsprechenden Kriegsziele“²¹. Ohne es direkt zu formulieren, erkennt Krleža: Naumanns „ideology of globalization“ und „the political principle of self-determination“²² sind unvereinbar. Krleža geht nicht von imperialen Raumvorstellungen aus, sondern vom Postulat über die Selbstbehauptung der kleinen Nationen, die sich in der Zwischenkriegsepoche zwischen Großmächten Europas zu positionieren versuchten. Somit lehnt er dieses Konzept schon in seiner Entstehungsphase ab. Seine Einstellung zu dieser Frage hat sich auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht verändert, obwohl inzwischen vor allem ideen- und kulturgeschichtliche Konzepte Mitteleuropas entwickelt worden waren. Ausgehend von seinem historischen Bewusstsein hat Krleža auch in der späteren Wiederbelebung der Mitteleuropa-Konzepte die Dominanz des „deutschösterreichischen Narrativs“²³ verfolgt und sie als solche dezidiert abge-
Lasić: Mladi Krleža, S. 11. Matvejević: Utopia and the Poetics of Literature on the Left. Baur: Zweites Interview, Bandzählung 50 – 52. Penck: Politisch-geographische Lehren. John: „Deutsche Mitte“ – „Europas Mitte“, S. 69. Neubauer: What’s in a Name? Mitteleuropa, Central Europe, Eastern Europe, East-Central Europe – http://www.kakanien-revisited.at/beitr/theorie/jneubauer1.pdf, p. 5 (28.10. 2018) Uhl: Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post)-Kolonialismus, S. 48.
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lehnt. Aus seinen Erfahrungen im Habsburgerreich leitete er die „Eingleisigkeit“²⁴ der Mitteleuropa-Konzepte ab, denn damals waren die kleinen Nationen „dauerhafte patiens, und keine Protagonisten Wiener Politik“²⁵. Auch der ungarische Literaturhistoriker István Fried erkennt die „verständliche Zurückhaltung“ der „tschechischen, slowakischen, ungarischen, serbischen, kroatischen und slowenischen Forscher“²⁶ in Bezug auf diesen Komplex. Die mitteleuropäischen Konzepte kollidieren in kleineren europäischen Nationen mit Prozessen der nationalen und kulturellen Integration, sodass das Magnetfeld Mitteleuropa eher als eine Reibungsfläche im Konkurrenzverhältnis zwischen nationalen, imperialen und internationalen Diskursen angesehen wurde. Dies bestätigen die neueren Thesen aus der Nationalismusforschung, nach der die „Nationen in Mitteleuropa etwa zwischen 1815 und 1871 aus staatlich getrennten Teilen durch Integration entstanden“ sind, in „osteuropäischen Großreichen dagegen, […] hätten sich nationale Bewegungen als Opposition gegen den bestehenden Staat und damit auf dem Wege der Sezession entfaltet“²⁷, so dass die oppositionelle Haltung lange Zeit virulent bleibt. Deutet man Mitteleuropa mit Jacques Le Rider²⁸ geschichtssemantisch, kommen ähnliche Deutungsmuster vor, in erster Linie die mentalen Karten germanozentrischer Art, die – genauso wie es bei Krleža der Fall ist – auf Naumanns Konzept zurückgeführt werden. Auch wenn wir Mitteleuropa in erster Linie als Kulturraum definieren oder als „eine der verbindenden interliterarischen Möglichkeiten zu Werken in anderen Sprachen durch einen ähnlichen Stil und eine verwandte Metaphorik“²⁹ zu beschreiben versuchen, greift diese Definition zu kurz für Krležas umfassende Negation Mitteleuropas, denn Krleža lehnt auch kulturhistorische Vorstellungen über Mitteleuropa als eine Form restaurativer Nostalgie entschieden ab. Die Diskussion um den Begriff Mitteleuropa hat jüngst der Schweizer Germanist Boris Previšić folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Es geht um
Konstantinović: Der auffindbare Sinn. Prolegomena zu einer Vergleichenden Literaturgeschichte Mitteleuropas. – In: Konstantinović: Grundlagentexte, S. 271– 284, hier S. 271. Stančić: Miroslav Krleža, S. 113. Fried: Gedanken über wesentliche Aspekte, S. 344. Hirschhausen und Leonhard: Europäisch Nationalismen im West-Ost-Vergleich. Von der Typologie zur Differenzbestimmung. – In Hirschhausen und Leonhard (Hrsg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, S. 11– 48, hier S. 15. Le Rider: Mitteleuropa, S. IX–XI. Konstantinović: Österreichisches in der nichtösterreichischen Literatur. Eine Marginalie zur Wesensbestimmung des mitteleuropäischen Kulturraumes. – In: Konstantinović: Grundlagentexte, S. 339 – 349, hier S. 347.
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einen geopolitischen vorab deutschen Grundbegriff zwischen Integration und Marginalisierung, zwischen Fiktion und Realität, zwischen Mythos und Alltagswelt, ja zwischen ›Zentripetalisierung‹ und ›Zentrifugalisierung‹. In der Frage nach Mitteleuropa bildet die Frage nach Europas topographischer Gestalt und Begrenzung lediglich einen Vorwand, um dahinter den Anspruch auf Diskurshoheit über europäisch-universalistische Grundwerte der Aufklärung zu kaschieren.³⁰
Auch für Moritz Csáky ist Mitteleuropa „kein neutraler, sondern ein ideologisch belasteter und aufgeladener Begriff“³¹. Dagegen versteht er Zentraleuropa im Sinne der Kulturgeographie als einen „relationalen Raum, der mittels diskursiven Aushandlungen immer wieder neu und unterschiedlich Gestalt annimmt“³², wobei die ehemalige Habsburgermonarchie „als ein Nukleus oder als ein Paradigma Zentraleuropas begriffen werden“³³ kann – was gerade für Krležas ironische Persiflagen dieses Komplexes zutrifft. Die konkurrierenden geschichtswissenschaftlichen Begriffe wie Ostmitteleuropa³⁴ oder Südosteuropa³⁵ kommen in der Krleža-Forschung nicht oft vor, insofern ist auch hier vom zentraleuropäischen Konzept die Rede. Krleža geht von der Stellung einer kleinen Literatur aus und setzt sich in seinem antagonistischen Diskurs mit dominanten europäischen Kulturmodellen aus Position der europäischen Peripherie auseinander. Trotzdem wird Krleža von Claudio Magris in eine mitteleuropäische und habsburgische internationale Linie gereiht: Sicher kann man das habsburgische Menschenbild mit seinen Charaktermerkmalen, […] auch bei anderssprachigen, aber dem Geist und den Motiven nach „kakanischen“ Schriftstellern finden: So kommen der Italiener Svevo, der Pole Bruno Schulz, die Jugoslawen Krleža und Andrić auf diese mitteleuropäische, zumindest indirekt vom Habsburger Reich geschaffene Koine zurück. […] Diese internationale Komponente könnte in der Bestätigung eines ‚habsburgischen Mythos‘ bei den größeren oder unbedeutenderen Schriftstellern aller Nationalitäten der Monarchie eine wirksame Parallele finden.³⁶
Claudio Magris spricht von einem kulturpoetologisch verstandenen und historisch gewachsenen Raum, d. h. es geht um die Poetisierung des kulturpolitischen Rau-
Previšić: Das Gespenstergerede von einem Mitteleuropa, S. 114. Csáky: Lebenskräfte, S. 48. Ebenda, S. 51. Ebenda. Rumpler: Österreichische Geschichte, S. 13. Kaser: Südosteuropäische Geschichte. Magris: Der Habsburgische Mythos, S. 14.
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mes in seiner „rückwärtsgewandten Utopie“³⁷. Magris widmet sich v. a. der österreichischen Literatur, so dass der Name Krležas auch nur einmal erwähnt wird. Jedoch korrespondiert Krležas Werk keinesfalls mit der Vorstellung über „das alte habsburgische Österreich als eine glückliche und harmonische Zeit, als geordnetes und märchenhaftes Mitteleuropa“³⁸, sondern das habsburgische Erbe wird ausschließlich im Modus der Negation dargestellt. Dazu kommt auch die Negation des „mythos“ [so im kroatischen Original] der Doktrin „Vielfalt in Einheit“ wie auch der Rolle Wiens im Mythos vom friedlichen Zusammenleben. Krleža versteht sein Schreiben als Abweisung der westeuropäischen Modelle und geht von der Sonderposition des Autors in einer kleinen Sprache aus: „Die eine Sache ist die kosmopolitische Literatur der westlichen Großstädte und eine völlig andere Sache ist die politische Wirklichkeit des unterdrückten Volkes, dem du angehörst.“³⁹ In diesem Sinne ist die sozialpolitisch verstandene Erfahrung der Marginalisierung nicht von den poetischen Voraussetzungen zu trennen, bzw. diese Konstellation muss historisch-materialistisch gedeutet werden. Aus dieser historisch-materialistischen Einstellung geht Krležas antagonistische Haltung gegenüber einem als hegemonial verstandenen Europa hervor. So wird im ersten Satz seines Essays Zlato i srebro Zadra [Zadars Gold und Silber] direkt ausgesprochen, in dem er fragt: „Was können wir zu unserer Abwehr vor Westeuropa sagen, das uns von Anfang an leugnet?“⁴⁰ Schon mit der dichotomischen Gegenüberstellung von Westeuropa und einem undefinierten, aber breit angelegten Possessivpronomen „Wir“, das für eine imaginierte ‚unsere Welt‘ steht, problematisiert er die Situation der marginalisierten slawischen Völker. In diesen rhetorischen Reterritorialisierungsversuchen kommt seine „antinomische Mentalität“⁴¹ zum Ausdruck, wie auch seine „antiösterreichischen und projugoslawischen Standpunkte“⁴². Das von Krleža angesprochene Depravationsnarrativ über die Position der peripheren südslawischen Völker und ihrer Kultur kann nebenbei auch seine Rezeptionsgeschichte schildern, denn er wurde lange Zeit nicht als ein europäischer Klassiker anerkannt, obwohl sein immenses Opus viel übersetzt⁴³ wurde. Schon die Aufzählung der wichtigsten Übersetzungen ins Ungarische (111), Deutsche (98) und Tschechische (61) weist eine kulturelle Gemeinsamkeit aus –
Uhl: Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post)-Kolonialismus, S. 45. Ebenda, S. 7. Krleža: „Jedno je kozmopolitska literatura zapadnih velegradova, drugo politička stvarnost porobljenog naroda kome pripadaš.“ Matvejević: Razgovori s Krležom, S. 38. Krleža: Zlato i srebro Zadra. – In: Krleža: Eseji, S. 77. Žmegač: Krležini europski obzori, S. 34. Kravar: Die Nationalfrage bei Miroslav Krleža, S. 126. Visković (Hrsg.): Bibliografija Miroslava Krleže.
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allesamt handelt es sich um Länder, die zu Zentraleuropa gezählt werden, wenn wir Zentraleuropa als „Großregion Europas mit unscharfen Begrenzungen“ verstehen, die „sich durch vielfältige Gemeinsamkeiten auf der Ebene langfristiger kultureller Lebensformen und Mentalitäten auszeichnet“⁴⁴. In einer Überblicksdarstellung des amerikanischen Theaterwissenschaftlers Daniel Gerould wird als Grund für Krležas verzögerte Rezeption in den USA die Tatsache angeführt, „Krležas works are too Central European“,⁴⁵ denn seine Obsession mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie, wie auch seine frühe Sozialisation im monarchischen Umfeld seien spezifisch und schwer zu vermitteln. In diesem Sinne ist Krleža ein Produkt von „Schicksal[] und Kampfgemeinschaft des Vielvölkerstaates“⁴⁶. Krleža besuchte das Eliteinstitut Ludoviceum in Budapest und floh während des Zweiten Balkankrieges, „um über Paris, Marseille, Saloniki und Skopje nach Belgrad zu gelangen“⁴⁷, wo er als österreichischer Spion verhaftet wurde und nur durch Zufall nach Zagreb entkommen konnte. Die biographischen Daten, wie auch die thematischen Präferenzen im belletristischen und essayistischen Schaffen Krležas sind Gründe, um von einem zentraleuropäischen Komplex bei ihm zu sprechen, obwohl er sich – wie oben gezeigt – gegen eine solche Einordnung ausdrücklich gewehrt hat, „weder sozial noch geopolitisch“⁴⁸ gehöre er dahin. Der Krleža-Forscher Zoran Kravar hat in Krležas zentraleuropäischem Komplex drei typologische Aspekte herausgearbeitet, um die „Vorstellungen über zentraleuropäische artistische Mentalität“⁴⁹ zu verfolgen: a) als geographische Realität und kulturgeschichtlicher Raum bildet er die thematische Achse seiner fiktionalen Werke; b) als kulturgeografischer typologischer Begriff kommt er (durchgehend im negativen Kontext) vor allem in seinen Essays vor; c) und eignet sich als kulturtypologischer heuristischer Rahmen für die Analyse seiner Texte. Die tiefe Verwurzelung Krležas in den geohistorischen und kulturgeschichtlichen zentraleuropäischen Kontext ist der Grund, warum ihn Kravar zu den zentraleuropäischen Autoren wie Musil, Kafka oder Endre Ady zählt. Nur stellen die anderen von Kravar angeführten Merkmale für den zentraleuropäischen Komplex in Krležas Œuvre, wie z. B. die traumatisch-apokalyptische Erfahrung der Katastro-
Stachel: Zum Begriff „Zentraleuropa“. In: http://www.kakanien-revisited.at/beitr/theorie/ PStachel1.pdf vom 16.4. 2002, S. 2 (27.10. 2017) Gerould: Krleža. A Croatian Writer, S. 133. Rumpler: Österreichische Geschichte, S. 13. Stančić: Die Rezeption Arhur Schopenhauers, S. 121. Baur: Zweites Interview, Bandzählung, S. 53 – 54. Kravar: Nekoliko rečenica Miroslava Krleže, S. 46.
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phe des Ersten Weltkrieges, die betont intellektuelle Einstellung, der essayistischreflexive Stil mit der immer präsenten Sehnsucht nach dem Absoluten, wie auch die unbewältigte Romantik zugleich die gemeinsamen Merkmale der literaturgeschichtlichen Makroepoche der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Somit ist dieses „kulturelle Universum“⁵⁰ nicht exklusiv zentraleuropäisch zu verstehen. Auch Krleža macht darauf aufmerksam und lehnt solche typologisierenden Einteilungen als „oberflächliche Kategorisierungen“⁵¹ ab. Als Beispiel dafür führt er die Zurechnung der südslawischen romantischen Volksliteratur zur Literatur „Mittel-Europas“⁵² an. Alle vermeintlichen mitteleuropäischen Gemeinsamkeiten seien nach ihm nur ein „artifizieller Trick“, der aus „Unkenntnis der Fakten“ hervorgeht. Als Folge solcher Typisierungen würde die starke „barocke Symbiose“ der südslawischen mit der italienischen Literatur des seicento verschleiert. Wenn man die thematische Achse betrachtet, ist jedenfalls richtig, dass Krleža die Katastrophe des Ersten Weltkrieges als Thema seiner Texte stets aktualisierte, jedoch wird er dieses Thema zugleich auch subversiv unterminieren, wie am Beispiel seiner Antikriegsnovellensammlung Der kroatische Gott Mars zu zeigen wird. So wird Zentraleuropa von ihm als eine „Formel der leisen Nostalgie“ oder eine „quasiliterarische Fiktion“ bezeichnet, das nur aus „politischem Opportunismus“⁵³ immer noch aktuell wird. Für ihn ist Zentraleuropa „eine Art mixtum compositum für ästhetisch-morphologische Differenzierungen“ und ist rein geographisch zu verstehen, d. h. es bedeutet nichts mehr als „Zentralamerika, Zentralafrika oder Zentralasien“⁵⁴. Als konsequenter naysayer führt Krleža damit die „Dekonstruktion des Begriffs Mitteleuropa“⁵⁵ durch und versteht diese Dekonstruktion als den letzten Stein auf dem Grab Österreich-Ungarns – das übernationale Ideal der Monarchie, ihre deutsch-mitteleuropäische Prägung wie auch der „paternalistische Völkermythos“⁵⁶ bleiben ihm fern und bilden das Ziel seiner aggressiven Abrechnung mit solchen politischen und ideologischen Mythen. Das habsburgische Erbe thematisiert Krleža in seinen autobiographischen Aufzeichnungen Requiem für Habsburg. Eine Novembernacht des Jahres 1918:
Ebenda. Matvejević: Razgovori s Krležom, S. 64. Ebenda, S. 66. Ebenda, S. 64. Ebenda. Hudabiunigg: Zwei Europas?, S. 208. Magris: Der habsburgische Mythos, S. 13.
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Österreich verschwand vor einigen Tagen so lautlos aus unserer kleinen Stadt, daß eigentlich keiner unserer sehr geehrten und lieben Mitbürger merkte, daß es gar nicht mehr unter uns weilt. […] Wie einen krepierten Fisch in nasses Zeitungspapier (der Extraausgabe) eingewickelt, hatten die guten Bürger dieses tote Österreich unlängst nach Hause gebracht, dann aßen sie den zu Allerheiligen obligaten gebratenen Truthahn, und ihre einzige Sorge – ob auch am Ersten das Novembergehalt richtig ausgezählt werden würde – war ihnen vom Herzen gefallen.⁵⁷
Das Ende der Donaumonarchie wird als „ein letztes habsburgisches Notturno, ein großes pathetisches Poem, das seinen Dichter nicht findet“⁵⁸ beschrieben, bzw. als das Ende eines als anachronistischen und reaktionär erlebten Staates. Nach finis Austriae hat er sich am Demythologisierungsprozess der Monarchie beteiligt. Das „Faktum, daß Habsburg heute abend, vor unseren Augen, hier im Turnsaal, auf seinem Paradebett aufgebahrt liegt“, wird direkt mit der eigenen Position und dem „Kreis von vierhundert blutigen Jahren habsburgisch-kroatischer Geschichte“⁵⁹ verbunden. Die multinationale Ideologie der Habsburger wird als eine Maske für die hegemonialen austro-germanischen Zielsetzungen verstanden. Daraus geht zugleich hervor, seine Negation des zentraleuropäischen, österreichischungarischen und germanozentrischen Erbes ist eminent politisch motiviert, denn aus seiner dezidiert linksmaterialistischen Position hat er die gesamte Periode der imperialen Herrschaft der Habsburger im negativen Kontext der Unterwerfung und Ausplünderung der kleinen Völker betrachtet. Diese vehemente Geste der Abgrenzung von dem geopolitisch und geokulturell verstandenen Raum entspringt der These, die Krleža in seinen essayistischen Texten oft variiert: Das imposante Gebäude der europäischen Zivilisation ist aufgebaut auf den Knochen zahlloser besiegter europäischer Völker […] Neben dem klassischen westeuropäischen, museal-grandiosen, historisch-pathetischen Europa lebt noch ein zweites, das bescheidene, in die Ecke gedrängte, seit Jahrhunderten immer wieder unterworfene periphere Europa der östlichen und südöstlichen europäischen Völker.⁶⁰
Thematisiert werden die verzögerten Modernisierungsprozesse im südöstlichen Europa: „Industrialisierung, Demokratisierung und die Herausbildung von Nationalstaaten als Basisprozesse der Modernisierung führten im pluriethnischen Zentraleuropa nicht zur nationalstaatlichen Homogenisierung, sondern wurden zum Generator für vielfältige national-politische beziehungsweise ethnisch-kul Krleža: Requiem für Habsburg. Eine Novembernacht des Jahres 1918 – Krleža: Requiem für Habsburg. Eine Novembernacht des Jahres 1918, S. 197– 228, hier S. 206. Ebenda., S. 204. Ebenda., S. 211. Krleža: Was ist Europa?, S. 117.
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turelle Konfliktkonstellationen“⁶¹. Die Geschichte Europas wird in dem Spannungsfeld von Zivilisation und Barbarei verortet, wobei die Peripherie bei Krleža im Modus der Ausgrenzung beschrieben wird, was als Widerstand artikuliert wird, jedoch zu ungewollter Okzidentialisierung Westeuropas führt: Unser Volk, das an fremden Herden und fremden Tischen Almosen aus fremder Hand empfangen hat, jahrhundertelang hungrig und nackt wie Vieh, das fremde Herren geschoren und gehäutet haben, wußte genau, daß es niemanden gibt, der nicht das Seine hat. Wir alle aber, die wir das Unsere haßten und es niemals hüteten, unzufrieden mit unserer Hütte, in der uns die eigenen Läuse zwickten, wir alle träumten vom himmlischen Reich der gelobten westeuropäischen Länder.⁶²
Auch in seinen Reflexionen im Tagebuch Davni dani [Längstvergangene Tage] wird die moderne europäische Geschichte stark polarisierend verstanden: Auf der einen Seite teilt sie sich in die Geschichte der „betrunkenen und Patrizier, dieser Cäsars und Cäsaromane“ und auf der anderen in die „Geschichte der pannonischen Sklaven“⁶³. Damit wird ein Abgrenzungs- und Opfernarrativ konstruiert, das in sich ambivalent ist – einerseits wird dieser Zustand dezidiert abgelehnt, andererseits petrifiziert sich die Polarisierung gerade durch die obsessive Wiederholung. Aus dieser antagonistischen Haltung heraus ist Krležas rückblickende Abrechnung mit der k. u .k. Zeit zu lesen: Damals lebten wir noch im österreichischen Kaiserreich, und aus Maria-Theresianischer Schönbrunner Perspektive regierte uns alle unser Pharao und König Franz Joseph I., über Speckgrieben-, Krenwürstchen-, Nußkuchen und Dessertkrempyramiden des bürgerlichen Wohlstands. Damals flossen Gulasch und Pörkelt, Pilsner Bier und Riesling in Strömen, und es murmelte das Bächlein des regierungsrätlichen, königlich-ungarischen öffentlichen ordentlichen Universitätsverstands, da alle Ordinarien und Extraordinarien und Assistenten und Dozenten und Sekundärärzte und Primärärzte […] überzeugt waren, daß der Sozialismus analphabetische Propaganda für den akademisch ungebildeten Analphabetenpöbel sei.⁶⁴
Als Konstante ist darin sein „dialektisch-materialistischer Standpunkt“⁶⁵ erkennbar, von dem aus er das „europäische Konzert“⁶⁶ der Mächte als ein imperiales Projekt ablehnt. Das ist auch der Grund für seine Ablehnung der „Hypothese von der österreichischen Kultursendung an der Donau“⁶⁷, statt derer Krleža eine eigene
Uhl: Zwischen „Habsburgischem Mythos“ und (Post)-Kolonialismus, S. 46. Krleža: Literatur heute. – In: Krleža: Essays. S. 209. Krleža: Dvije historije. – Krleža: Deset krvavih godina, S. 16. Krleža: Literatur heute – ebenda, S. 196 f. Babić: Krleža und das österreichische Kulturerbe, S. 41. Rumpler: Österreichische Geschichte, S. 565. Ebenda.
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Tradition zu entwickeln versucht. Die „Bipolarität“⁶⁸ seiner ästhetischen Position erkennt die Germanistin Mirjana Stančić in der Pendelbewegung zwischen gleichzeitiger produktiver Aufnahme der europäischen Literatur und Betonung einer eigenständigen, oppositionellen Tradition. Argumentierend mit Thesen der materialistischen Gesellschaftstheorie betrachtet Krleža Literatur nicht als eine isolierte „idealistische Konstante“, denn sie kann nicht ohne „eine entsprechende soziale und geopolitische Basis existieren“⁶⁹. Dezidiert politische und historische Negation des zentraleuropäischen Komplexes ist nicht von der poetischen zu trennen, denn er setzt sich für einen tendenziös-engagierten Literaturbegriff ⁷⁰ ein und kritisiert ästhetizistische Strömungen wie auch die „Dominanz der repräsentativen und dekorativen Funktion“⁷¹ im zentraleuropäischen Komplex. Dabei werden gerade die Autoren des „zentraleuropäischen literarischen Kreises“⁷² wie „Doderer, Csokor, Schnitzler, Bahr, Hofmannsthal“ von ihm als „Apologeten der österreichischen Mystik“⁷³ bezeichnet. Kritisiert wird die bürgerliche, dekadente Kunst, aber genauso wird Krleža die Doktrin des sozialistischen Realismus als eine „ideenlose Paraphrase der sozialdemokratischen vulgären Vorkriegstheorien“⁷⁴ verwerfen. Direkt weist Krleža darauf hin, dass im gleichen vermeintlichen zentraleuropäischen Kanon insbesondere die „sozialdemokratischen Autoren oder Ästheten“ in der Regel „systematisch umgangen“⁷⁵ wurden. Krleža setzte sich schon in den dreißiger Jahren für einen antidogmatischen Begriff der Literatur⁷⁶ ein. Ralph Bogert, der Krležas Zugehörigkeit zum zentraleuropäischen ästhetischen Kreis minutiös dokumentiert hat, geht von seiner essenziellen „shared cultural alienation from Austro-Ungarian society“⁷⁷ aus, um damit seine negative Einstellung zum österreichisch-ungarischen Erbe zu erklären und ihn als Autor der hohen Moderne im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts zuzurechnen. Bogert hat sich ausführlich mit jenen philosophischen, kulturellen und literarischen Kontexten auseinandergesetzt, die Krležas Werk prägen. Seine präzise ästhetische und werkimmanent angelegte Interpretation ist durch die Analyse der
Stančić: Miroslav Krleža, S. 182. Baur: Zweites Interview, Bandzählung 48 – 50. Zu Krležas Kunstverständnis und seiner essayistischen Produktion vgl. Bobinac: Das essayistische Werk Krležas, S. 262– 283. Babić: Krleža und das österreichische Kulturerbe, S. 41. Matvejević: Razgovori s Krležom, S. 65. Ebenda. Krleža: Govor na kongresu književnika u Ljubljani, S. 241. Matvejević: Razgovori s Krležom, S. 65. Zum daran angeschlossenen vielkommentierten Streit in der Linken vgl.: Lasić: Sukob na književnoj ljevici. Bogert: The Writer As Naysayer, S. 64.
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ideologisch-materialistischen Basis in Krležas Texten zu ergänzen. Die exogenen Bedingungen bestimmen ganz wesentlich die Entwicklung der Literatur an der Peripherie, die sich unter völlig anderen Vorzeichen als jene des Zentrums entwickelt: „Die westeuropäischen Zivilisationen wuchsen still und ruhig unter alten traditionellen Dächern und wurden nicht wie wir von den Wirbelstürmen der ewigen Verdammung zerrüttet“⁷⁸. Damit verbunden ist seine „These von der potentiellen ‚literarischen Realisierbarkeit‘ an der Peripherien der europäischen Kultur: ‚Wahrheiten werden in solchen barbarischen Lebensumständen zum erstenmal gesehen, sie werden also entdeckt, und demnach ist die Möglichkeit einer Unmittelbarkeit viel größer.‘“⁷⁹ Somit ist in Krležas Fall für die topologischen Bestimmungen angebracht, die Begriffe wie Zentrum und Peripherie zu verwenden, die auf die Machtinstanzen innerhalb Europas hinweisen und das Spannungsfeld von Hegemonie und Autonomie widerspiegeln. Es geht ihm um den Versuch, der rückständigen Peripherie Stimme zu geben, damit sie nicht länger „Objekt und kein Subjekt“⁸⁰ der Geschichte wird. Er übernimmt die Deutungshoheit für die Bildung neuer kultureller Identitäten und will gruppenbildend agieren. Dieses Engagement ist insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stark, als er sich kulturpolitisch für das südslawische sozialistische Projekt einsetzte und zum Leiter des von ihm gegründeten jugoslawischen Lexikographischen Instituts wurde. Dabei „begründete Krleža die Idee der Enzyklopädie im Selbstverständnis des Südslawentums als eines geschichtlich und kulturell eigenständigen kulturellen Subjekts ‚zwischen Rom und Byzanz‘“⁸¹. Krleža imaginierte eine neue Kultur- und Schicksalsgemeinschaft, für die er einen eigenen Weg behaupten wollte und insofern historisch belastete Konzeptionen verworfen hat, die aus seiner Sicht von Imaginationen kultureller Überlegenheit gegenüber ‚rückständigen‘ Nationen geprägt waren. Nichtsdestotrotz bleibt Krleža in seinem Mammutopus an den thematischen Komplex um die Österreichisch-Ungarische Monarchie gebunden – zu nennen sind die erste Sammlung der Antikriegsnovellen Der kroatische Gott Mars, der Dramenzyklus Die Glembays. Diese Gebundenheit reicht bis zum letzten fünfbändigen Roman Zastave (Die Fahnen), sein Testament der österreichisch-ungarischen Zeit, in dem „historische Sinnlosigkeit, die Mentalität der Unterdrückung, des Schlacht-
„Zapadnoevropske civilizacije rasle su tiho i mirno pod starim tradicionalnim krovovima, a nijesu ih vihori vijali po svim vjetrometinama vjekovnih prokletstava kao nas.“ Krleža: Govor na kongresu književnika u Ljubljani, S. 239. Flaker: In extremis, S. 197. Krleža: Deset krvavih godina, S. 595. Kravar: Die Nationalfrage, S. 129.
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messers, der Vergewaltigung, Eroberung und Verfolgung“⁸² geschildert werden. In seinen Antikriegserzählungen, die zwischen 1917 und 1922 entstanden sind und unter dem Titel Der kroatische Gott Mars versammelt werden, wird die Topographie der Österreichisch-Ungarischen Monarchie über die Koordinaten Wien, Budim, Zagreb/Agram, Krakow und Galizien festgehalten, wobei die kriegsbedingte Mobilität der Truppen und die Statik in der Etappe einen ersten Kontrast in den Erzählungen bilden. Geschildert werden die an der Ostfront existenten Spannungen im Laufe des Ersten Weltkrieges, wo „many nationalities were forced to fight for the Dual Monarchy […] clashing ethnic and imperial loyalities“⁸³. Die antinomisch geteilte Welt der einfachen Soldaten und Offiziere weist auf die Spannungen im Raum der Doppelmonarchie hin, in dem der universalistische Anspruch auf die imperiale Herrschaft und die partikulären Interessen der ‚ahistorischen‘ Nationen⁸⁴ (Taylor) in ein unlösbares Spannungsverhältnis treten. Diese seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ständig wachsenden Spannungen entladen sich im Kriegsgemetzel, so dass der Erste Weltkrieg von Krleža als eine Festigung der eigenen marginalen Position der ‚ahistorischen‘ peripheren südslawischen Nationen empfunden wird. Der Erste Weltkrieg stellt für ihn ein historisches Absurdum dar, da er die abendländische Zivilisation am Rand des Abgrundes direkt in die Kriegskatastrophe⁸⁵ geführt hat. Thematisiert wird die subordinierte Lage der Volksmassen an der Peripherie und die verzweifelte Lage in der Endphase des k. u. k. Reiches in der Fatalität eines im Weltkrieg implodierenden Imperiums. Damit eng verbunden ist der Begriff des Imperialen bei Miroslav Krleža, der bei ihm monokausal als ein ökonomisch-politisches System sozialer Unterdrückung verstanden wird. In Anlehnung an die marxistisch-leninistischen Thesen betrachtet er den Ersten Weltkrieg zugleich als die letzte Phase des Imperialismus und sieht im Ausbruch des Ersten Weltkrieges die „blinde Mechanik des bürgerlichen, kolonialen und imperialistischen Blutvergießens“⁸⁶. Sein Thema ist die Lage der Subordinierten in Kroatien. Die soziale Lage
Lasić: Miroslav Krležas Geschichtsphilosophie, S. 133. Neubauer: Overview. – Cornis-Pope, Neubauer (eds.): History of the Literary Cultures of EastCentral Europe, vol. 1, S. 177. Der Begriff wird hier aus der britischen Historiographie übernommen: A. J. P. Taylor: The Habsburg Monarchy 1809 – 1918. London 1941, revised ed. 1948, hier in kroatischer Übersetzung: Habsburška monarhija 1809 – 1918. Zu dieser Frage: R. Rosodolsky: Friedrich Engels und das Problem der ‚Geschichtslosen Völker, S. 87– 282; Ian Cummins: Marx, Engels and National Movements. Der kroatische Geschichtswissenschaftler Ivo Banac kritisiert den Begriff der ‚ahistorischen Nationen‘ als feudales Erbe. Banac: Nacionalno pitanje u Jugoslaviji, S. 17. Lasić: Mladi Krleža, S. 16 f. Krleža: Expressionismus. – In: Krleža: Essays, S. 219.
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in diesem „unglücklichen, zerstückelten Land an der europäischen Peripherie“⁸⁷ wird mit dem Leiden am Krieg unmittelbar verbunden. Ihn interessiert nicht so sehr das Kriegsgeschehen, sondern vielmehr die „Asymmetrien einer brutalen militärischen und sozialen Hierarchie“⁸⁸. Bei Krleža bildet die fatale Dynamik der Expansionspolitik des Habsburgerreichs während des Ersten Weltkriegs den Grund für seine vehemente Ablehnung des k. u. k. Erbes, und er bezeichnet diese Politik Österreich-Ungarns als imperial und kolonial. Dieses latent vorhandene Bewusstsein über Ansprüche einer „Drang nach Osten“-Politik verbindet Krleža mit der Situation der Unterdrückung an der Peripherie. Rückblickend thematisiert Miroslav Krleža den „politischen Imperativ“ der Zeit von „1820 bis 1918“ in seinem Essay Expressionismus. Diesen versteht er eher als ein „literarisches Programm“, in dem es notwendig gewesen sei, gegen die immer „verhängnisvollere[n] Gewalttaten des Militärs und der Kasernenlogik“ die Stimme zu erheben, wie auch gegen die „schwachsinnige Totalisierung der Kriege und des Militarismus“⁸⁹. Der Standpunkt ist dabei universal-humanistisch, aber in der Synthese der historischen Depravierungsnarrative und der marxistischen Grundierung der Erzählungen ist Krležas engagiertes Literaturprogramm ablesbar. In neuer sozialpolitischer Konstellation wird er fast zwanzig Jahre danach in seiner späten Schaffensphase sein antinomisches Geschichtsnarrativ besonders intensiv im föderalistischen sozialistischen Jugoslawien aufgreifen und weiterentwickeln. Vor allem in seinen Essays aus den 1950er Jahren⁹⁰ wie z. B. Die mittelalterliche Kunst der Völker Jugoslawiens (1950), Gold und Silber Zadars (1951), Die serbischen und mazedonischen Fresken (1952), Die Marmorgrabsteine der Bogumilen (1954) und Illyricum Sacrum (1963) hat er eine Kunst- und Kulturgeschichte des südslawischen Raumes entworfen, der sich an der geopolitischen Schnittstelle zwischen dem pannonisch-mediterranen und dem pannonisch-balkanischen Territorium im südöstlichen Europa erstreckt. Mit der für ihn typischen „affektiven Rhetorik“⁹¹ widmet er sich den neuen raumbezogenen Identitätsentwürfen für die jugoslawische Nation. In einer neueren Arbeit entdeckt Moritz Csáky in Krležas Essay Illyricum Sacrum diesen Raum als „einen Mikrokosmos des Makrokosmos des zentraleuropäischen Raumes“, in dem man „auf kulturelle Befindlichkeiten, auf Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen, Migrationen oder ‚Fremdeinheiten‘
„stanje subordinacije u raskomadanoj nesretnoj zemlji na evropskoj periferiji“ Črnja: Synthesis Krležiana, S. 81. Dronske: Kriegsgeschichten, S. 4. Krleža: Expressionismus. – In: Krleža: Essays, S. 219. Diese Essays werden im 5. Essay-Band in Edition der GWMK versammelt. Žmegač: Krležini evropski obzori, S. 26.
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einer Region“⁹² aufmerksam wird. Jedoch basiert Krležas Konstruktion eines ‚anderen‘ Raumes nicht nur auf der Rekonstruktion eines „zentraleuropäischen geokulturellen Raumes“⁹³, sondern dient vor allem der Erschaffung einer neuen südslawischen raumkulturellen Basis auf Grund der historischen kollektiven Traditionen. Dieser plurale Kosmos soll auch realpolitisch verstanden werden. Implizit bieten seine Essays ein Modell für die im Entstehen begriffene blockfreie Politik Jugoslawiens an, wie auch für die Legitimation der jugoslawischen Mythen von der behaupteten Eigenständigkeit und der politischen und kulturellen Autonomie, die im Kalten Krieg zwischen Ost und West zu verwirklichen wäre. Um diese unabhängige Zwischenposition zu begründen, greift Krleža auf die Vorstellung von einem peripheren, historisch durch asymmetrische Verhältnisse von Dominanz und Subordination geprägten Raum zurück. Insofern sind Kontinuitätslinien zu seinen frühen Texten vorhanden. Die Ursache für die Partikularisierung im Südosten Europas sieht Krleža in der vielerorts langwährenden Fremdherrschaft und Dominanz fremder Machtinteressen. Seine Kritik ist dabei zweigleisig – einerseits richtet sie sich gegen die fremden Interessen, andererseits gegen den existierenden Partikularismus, oder in seiner Raummetapher gegen den „Kampanilismus“⁹⁴ in der Region, was gleichbedeutend ist mit „regionaler Parteilichkeit“⁹⁵ und einem beschränkten, provinziellen Horizont. Er setzt sich dagegen für „unsere[] eigenen Interessen“ oder gegen die „Bedrohung unserer eigenen Erkenntnisse im geistigen und materiellen Sinne“ ein.⁹⁶ Er konzeptualisiert die europäische Kultur von ihren Rändern her im Modus der radikalen Negation bzw. als vehemente Ablehnung der alten, von Gewalt und Unfreiheit geprägten Welt. Aus diesem Kampf soll das Neue entstehen, das sein Entstehen der urwüchsigen Vitalität⁹⁷ der „Lebenskräfte in dem brodelnden Völkerchaos“⁹⁸ verdanken möge und supranational im neuen Verhältnis zwischen Staat und Nation formuliert wird. Somit entsteht ein affirmatives raumbezogenes jugoslawisches Programm. Dieses nationsstiftende Programm wird nach Krležas Treffen mit Tito in Belgrad im Jahre 1945 formuliert und findet die Bestätigung seiner kulturpolitischen Sendung mit der Ausstellung der
Csáky: Lebenskräfte, S. 47. Kravar: Srednji vijek, S. 341. Krleža: Illyricum Sacrum, S. 42. Ebenda. Ebenda, S. 34. Von der „potenziell revolutionären Kraft, die in kroatischen Bauernschichten schläft“ schreibt Miroslav Krleža schon in seinem Novellenband Der kroatische Gott Mars. Diesbezüglich auch zu seinen Geschichtsauffassungen vgl. Flaker: Čovjek i povijest u Krležinim novelama, S. 167. Krleža: Illyricum sacrum, S. 25.
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jugoslawischen mittelalterlichen Kunst in Paris (L’art medieval yougoslave, Palais de Chaillot, 9.3.–22. 5.1950). In der Folge versteht Krleža das jugoslawische sozialistische Experiment als die „Realisierung seiner jugendlichen ‚optimalen Projektion‘.“⁹⁹ Diese These lässt sich am besten mit einem Zitat aus seiner programmatischen Rede am III. Schriftstellerkongress in Ljubljana illustrieren: Wir gehören zu der Kategorie derjenigen Zivilisationen, die sich deshalb nicht entwickeln konnten, weil ihnen fremde Mächte das Recht auf eine moralische und materielle Existenz verweigerten. Das ganze kulturelle, politische und intellektuelle Bewußtsein seiner eigenen Erscheinung in Zeit und Raum zu konzentrieren, dieses Bewußtsein, das heute nach zahlreichen Niederlagen in zahlreiche und isolierte Regionalismen zerstäubt ist, alle notwendigen Elemente zu einer Synthese zu vereinigen, die keinen Kult romantischer Phrasen darstellt, sondern eine wahrheitsgemäße künstlerische Darbietung von Fakten, der riesigen Masse imposanter schöpferischer Materie ihren programmatischen Rahmen zu verleihen, die ganze Tragödie unserer eigenen Zerspaltung und gegenseitiger Negierung zu klären und zu deuten – das sollte die grundlegende Aufgabe für uns sein.¹⁰⁰
Liest man Krležas kulturhistorische Essays parallel zu seinem Literaturprogramm, entsteht daraus ein neues regionales Bild im Behaupten des „Bestreben[s] nach politischer und kultureller Autarkie zwischen West und Ost“¹⁰¹. Seine Kartierung der Region steht unter einem klaren ideologischen Vorzeichen und ist vor allem der utopischen Vision einer neuen Unabhängigkeit der südslawischen Ethnien verpflichtet. Daher ist seine negative Einstellung gegenüber Ideen zu einer geopolitisch und geokulturell einheitlichen Region Mitteleuropa verständlich. Als Gegenbild zu dieser Negativfolie enthalten seine Essays Leitgedanken für die Bildung neuer kultureller Identitäten, die kollektivbildend für ein neues südslawisches sozialistisches Projekt agieren sollten. Krleža imaginierte eine neue Kultur- und Schicksalsgemeinschaft, die jedoch historisch von begrenzter Dauer war. Krležas einheitsstiftendes Narrativ kann als ein gescheiterter Versuch zu einer literarisch-essayistischen Begründung einer supranationalen Staaten(bund)
Visković: Enciklopedizam, S. 215. „mi spadamo u kategoriju onih civilizacija, koje se nisu mogle razviti zato, jer su im tuđinske snage osporavale pravo na moralni i materijalni opstanak. Sakupiti svu političku, kulturnu i intelektualnu svijest o svojoj vlastitoj pojavi u prostoru i vremenu, svijest danas dispersiranu i usitnjenu poslije vjekovnih poraza po mnogobrojnim i izolovanim regionalizmima, sabrati sve potrebne elemente u sintezi koja ne će biti kult romantičarskih fraza, nego istinit pjesnički prikaz fakata, dati ogromnoj masi stvaralačke materije programatski okvir, objasniti i protumačiti svu stvarnost naših raskola i uzajamnih negacija, to bi trebalo da bude našom osnovnom misijom.“ Krleža: Govor na kongresu književnika u Ljubljani, S. 242. Kravar: Die Nationalfrage, S. 130.
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bildung¹⁰² im südöstlichen Europa betrachtet werden. Zugleich ist Krležas Einstellung zum zentraleuropäischen Komplex als Beitrag zur Dezentrierung Europas zu verstehen, ex negativo als eine Emanzipation von der europäischen Meistererzählung einer monolithischen, westlich dominierten Kultur.
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1 „Die Tragödie Zentraleuropas“ Am 26. April 1984 veröffentlichte Milan Kundera in The New York Review of Books den Aufsatz „The Tragedy of Central Europe“. Dieses Thema hatte er schon in früheren Schriften und Interviews behandelt,¹ aber diesmal fanden seine Ideen allgemeinen Anklang: Der Aufsatz wurde in mehreren Sprachen veröffentlicht und wirkte auf die Diskussion, die über Europa im Gang war.² Kundera beabsichtigt zu zeigen, dass die Bezeichnung „Osteuropa“ für seine ehemalige Heimat – die bei ihm statt ‚Tschechoslowakei‘ immer ‚Böhmen‘ heißt – und die übrigen Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg durch die Auflösung der Habsburger Monarchie ihre Unabhängigkeit erhielten und nach dem Zweiten Weltkrieg in die sowjetische Machtsphäre gerieten, nicht angemessen ist. Die Tragödie dieser Länder bestehe nicht nur darin, dass sie nun, kulturell ein Teil Westens, politisch dem „Osten“ zugehören, sondern auch darin, dass der Westen den Verlust eines unveräußerlichen Teils seiner selbst nicht zur Kenntnis genommen habe. Die Grenze zwischen Westen und Osten zieht Kundera zwischen den Erben Roms und der (ehemaligen) Machtsphäre der katholischen Kirche einerseits und andererseits den Nachkommen von Byzanz und der Wirkungssphäre der orthodoxen Kirche.³ Dies bedeute, dass die neue politische Teilung im zentralen Europa 1945 Länder des Westens politisch dem Osten zugeordnet hat. Die politischen Unruhen in Ungarn, Polen, Tschechoslowakei – der Volksaufstand in Ungarn 1956, der Prager Frühling, die Massendemonstrationen in Polen seit 1956 – rühren, meint er, von dieser Diskrepanz zwischen kultureller Identität und politischem System her. Denn wenn die Identität eines Volkes bedroht sei – wenn die östliche Zivilisation der Russen die westliche der Tschechen, Polen, Ungarn auszulöschen drohe – erzeuge das kulturelle Bewusstsein politischen Widerstand.⁴
Siehe z. B. Roth: The Most Original Book of the Season, Kundera: The Czech Wager. Siehe Abrams: From Revisionism to Dissent: The Creation of Post-Marxism in Central Europe after 1968, S. 195; Bílek: Constructing the Paradoxical Middle: Conceptualizations of Central Europe Explored in the 1980s Essayistic Debates; Lützeler: Die Schriftsteller und Europa, S. 444– 445; Waever: Europe since 1945: crisis to renewal, S. 178 – 180. Kundera: The Tragedy of Central Europe, S. 33. Ebenda. https://doi.org/10.1515/9783110536003-032
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Kundera lehnt dezidiert die Idee ab, dass diese Länder in der Mitte Europas wegen ihrer geographischen Lage in einer Position seien, zwischen Westen und Osten zu vermitteln.⁵ Diese Konnotation von Vermittlung ist wohl der Grund, warum Kundera die Bezeichnung ‚Mitteleuropa‘ für diese Region konsequent ablehnt.⁶ Ebenso dezidiert lehnt er die Idee einer Slawenidentität ab, die die Tschechen, Slowaken und Polen mit den Russen vereinen soll: die Tschechen (sagt er elliptisch) und die Russen haben nie eine gemeinsame Welt gehabt.⁷ Kundera zitiert den tschechischen Historiker Frantisek Palacký aus dem 19. Jahrhundert, der sich für ein Österreich in Form einer Föderation souveräner Staaten des zentralen Europa einsetzte, weil nur so die russische Hegemonie in der Region abgewehrt werden könne. Kundera bedauert, dass Österreich, zerrissen zwischen föderativen und pangermanischen Bestrebungen, dies nie erreicht hat und die kleinen Staaten, die nach dem Zerfall des Habsburger Imperiums entstanden sind, gegen Hitler und Stalin ohnmächtig waren.⁸ Wenn Kundera nur von ‚Europa‘ spricht, bezieht sich dies auf den Westen; was dabei ausgeschlossen wird, ist Russland. Zentraleuropa ist nach Kunderas Ansicht Europa in einer komprimierten Form: „die größte Vielfalt im kleinsten Raum“, während Russland sich im Gegensatz dazu als „die geringste Vielfalt im größten Raum“ charakterisieren lasse.⁹ Kundera fragt, ob der Kommunismus als Kontinuität oder als Bruch mit der russischen Geschichte zu verstehen sei, und antwortet, dass die Russen hier eher einen Bruch, die unterworfenen Länder hingegen eine Kontinuität wahrnehmen. In Zentraleuropa, an der östlichsten Grenze des Westens, erscheine Russland nicht als eine europäische Großmacht unter anderen, sondern als eine andere Zivilisation.¹⁰ Es sei das Gagenteil von dem, was Europa vertrete: freies Denken, das skeptische Individuum, kreative Kunst.¹¹ Zentraleuropa sei immer schon eine wichtige Region der kulturellen Produktion gewesen. Hier hatte die europäische Musik seit der Barockzeit bis zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts ihren wichtigsten Wohnsitz. Hier haben Barockarchitektur und Literatur, insbesondere die moderne Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, geblüht. Theoretische Innovationen so wie die Philosophie des
Ebenda, S. 34. Siehe auch Kundera: Der Vorhang, S. 66; Nehring: Tschechisch, böhmisch, zentraleuropäisch – unsterblich: Wohin gehört Milan Kundera?, S. 251. Kundera: The Tragedy of Central Europe, S. 34. Ebenda, S. 33 – 34. Ebenda, S. 33. Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 37.
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Wiener Kreises, die Psychoanalyse und der Strukturalismus stammen von hier. Zentraleuropa lasse sich somit als ein Kerngebiet des kulturellen Europa verstehen.¹² Daher sei die Geschichte dieser Region seit 1945 ein doppelter Skandal: Einmal, weil der Osten hier einen wesentlichen Teil Westens geschluckt, zum anderen, weil der Westen Europas den Verlust nicht wahrgenommen habe. Dies erkläre sich dadurch, dass die europäische Identität nicht mehr auf der Kultur beruhe. Eine Antwort auf die Frage, ob die Kultur im Westen Europas ihre identitätsbestimmende Rolle gegenüber Technik, Markt oder Massenmedien eingebüßt hat, enthält sich Kundera.¹³ Dass dieser Identitätsverlust aber Tatsache sei, erkläre, warum der Westen den „Tod“ Europas in Zentraleuropa nicht zur Kenntnis genommen habe. Kundera schließt den Aufsatz mit der Bemerkung ab, dass in den Bemühungen der Bürger Zentraleuropas, den zerstörerischen Kräften der politischen Unterdrückung den Kampf anzusagen und sich zur westlichen Tradition der Kultur zu bekennen etwas Veraltetes, schon Befremdendes steckt, nämlich die Vermutung, dass Europa sich durch seine Kultur definiert.¹⁴ Ähnliche Ansichten äußert Kundera in anderen seiner Schriften, insbesondere in den Essaysammlungen Die Kunst des Romans (LʼArt du roman, 1986) und Der Vorhang (Le rideau, 2005), aber auch in Interviews und in seinen Romanen. In einem Gespräch mit Norman Biron sagt er: „Prag ist nicht der Osten. Prag ist das Zentrum von Europa.“¹⁵; andernorts betont er aber, dass Zentraleuropa polyzentrisch sei.¹⁶ Als charakteristisch für den europäischen Geist hebt er den Sinn für die Relativität und für die Vieldeutigkeit der Dinge, Selbstreflexion, entmystifizierende Rationalität, Wirklichkeitssinn und Achtung des Individuums, des Privaten und des unabhängigen Denkens hervor¹⁷ und meint, dass es der Roman sei, der diesen Geist am zutreffendsten zum Ausdruck gebracht habe. Die Welt habe sich aber so verändert, dass sie diesem Geist nicht mehr günstig sei.¹⁸ In seinen essayistischen Erörterungen betont Kundera immer wieder die skeptische Einstellung als typisch für den Roman: Statt der Bekanntmachung einer unerschütterlichen Wahrheit sei der Roman eine unendliche Suche nach relativen Wahrheiten. Diese Betonung macht Jiří Holýs Ansicht plausibel, dass es sich für Kundera im „Zentraleuropa“ auch um einen Widerstand gegen die alles umfas-
Ebenda, S. 34. Ebenda, S. 36. Ebenda, S. 37. Biron: Gespräche mit Milan Kundera, S. 10. Kundera: Der Vorhang, S. 66. Siehe z. B. Kundera: Die Kunst des Romans, S. 22, 23, 172– 173. Z. B. ebenda, S. 25, 27, 134– 135.
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senden idealistischen Denksysteme handelt.¹⁹ In Der Vorhang wird Zentraleuropa im Kontext der Erörterung des Begriffs ‚Weltliteratur‘ besprochen und als ein Ort dargestellt, wo der moderne Roman des 20. Jahrhunderts ganz besonders gediehen ist.²⁰ Die Thesen in „The Tragedy of Central Europe“ haben Anklang gefunden, sind aber auch auf Kritik gestoßen. Der aus Russland emigrierte Dichter Joseph Brodsky hat den Einwand erhoben, dass der Kommunismus nichts mit dem Charakter der Russen zu tun habe, sondern im Gegenteil eine importierte westliche Doktrin sei.²¹ Der polnische Dichter und Essayist Czesław Miłosz, der italienische Schriftsteller Claudio Magris, der tschechische Romanschriftsteller György Konrád und der tschechische Dramatiker und spätere Präsident Václav Havel haben alle den besonderen Charakter des zentraleuropäischen Kulturraums bestätigt.²² Die Problematik des zentralen Europa war, wie Kundera sehr wohl wusste, im zentraleuropäischen Raum schon längst unter dem Namen ‚Mitteleuropa‘ ein Diskussionsthema. Martin Schulze Wessel unterscheidet in dieser Diskussion zwei unterschiedliche Auffassungen. Der deutsche Begriff ‚Mitteleuropaʻ vertrete die Idee einer deutschen Hegemonie im zentralen Europa, während die tschechische Bezeichnung Střední Evropa (Mittleres Europa) für die Föderationsidee stehe.²³ Die erstgenannte Idee ist von Friedrich Naumann in seinem Buch Mitteleuropa von 1915 entwickelt worden, während Thomas G. Mazaryk beinahe gleichzeitig die Idee von einem Gürtel kleiner Staaten von Griechenland und Albanien bis zu den baltischen Ländern als „Mitteleuropa“ verstehen wollte, von dem Deutschland und Österreich ausgeschlossen sind.²⁴ In Kunderas und Havels Vorstellungen von Zentral- oder Mitteleuropa bleibt Deutschland ebenso ausgeschlossen. Die Idee von ‚Mitteleuropa‘ als Vermittler zwischen Westen und Osten oder einem Rollenträger im Entspannungsprozess hat Befürworter sowohl unter den Deutschen als auch unter den Tschechen gefunden.²⁵ Es besteht eine recht allgemeine Einigkeit darüber, dass der multinationale und multikulturelle
Holý: Mitteleuropa in der Auffassung von Milan Kundera und Václav Havel, S. 2. Kundera: Der Vorhang, S. 47– 80. Brodsky: Why Milan Kundera Is Wrong about Dostoevsky; vgl. Petro: Apropos Dostoevsky: Brodsky, Kundera and the Definition of Europe. Siehe Holý, ebenda, S. 29; Petković: Kafka, Švejk, and the Butcher’s Wife, or Postcommunism/ Postcolonialism and Central Europe, S. 379 – 380. Anders akzentuiert Miloš Havelka Havels Verhältnis zur Mitteleuropaidee; siehe seinen Beitrag in diesem Band: „Vom Mainstream der Inlandsund Exil-Debatten 80er Jahre unterschied sich Václav Havel unter anderen durch seine distanzierende und implizit kritische Einstellung zur Mitteleuropaidee.“ (S. 96) Schulze Wessel: Die Mitte liegt westwärts. Mitteleuropa in tschechischer Diskussion, S. 326. Ebenda, S. 335. Ebenda, S. 335 – 336.
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Charakter dieser Region in Kompromissbereitschaft und Verständnis für Unterschiede ausschlägt;²⁶ allerdings spielt hier seit dem 19. Jahrhundert auch der Nationalismus eine große Rolle. In der Tschechoslowakei ist nach Schulze Wessel das Thema ‚Mitteleuropa‘ dadurch geprägt, dass die Auseinandersetzung mit der katholisch-österreichischen Tradition in der tschechischen Geschichte bisher unausreichend war.²⁷ Schulze Wessel bemerkt auch eine Umwandlung in Kunderas Wertschätzung der Rolle Österreichs in der tschechischen Geschichte: von der frühen Ablehnung und Kritik der österreichischen „Tradition des Gehorsams und der Anpassung“ und der österreichisch-katholischen Barockkunst als eines Umerziehungsprojekts der Bevölkerung zur Einsicht der Unersetzbarkeit Österreichs als Garantie eines starken, unabhängigen Zentraleuropas.²⁸ Kundera befasst sich in mehreren seiner Schriften aus verschiedenen Jahrzehnten in einer ähnlichen Art und Weise mit dem Thema ‚Zentraleuropa‘, aber das größere Bild, dem der Begriff zugehört, ist nicht dasselbe geblieben. Sein ‚Zentraleuropa‘ ist vielmehr ein Knoten in einem teilweise beweglichen Gewebe von Begriffen. Um tiefere Einsicht in den Gesamtzusammenhang zu gewinnen, ist es nötig, die Entwicklung seiner Ansichten von der Beziehung von Literatur und Politik, von Nationalität, Geschichte und Identität genauer zu betrachten. Im Folgenden fokussieren wir einerseits auf seine öffentlichen kultur-politischen Stellungnahmen aus den 60er Jahren und andererseits auf den Aufbau seines Autorenbildes in Frankreich, denn die Veränderungen in seiner Ansicht von der Aufgabe des Schriftstellers sind der Punkt, an dem alles zusammenkommt.
2 Literatur und Politik, Geschichte, Nation und Identität Entscheidende Wendepunkte nicht nur in Kunderas Leben, sondern auch in der Entwicklung seiner Ansichten sind die Jahre 1948, d. h. das Jahr der kommunistischen Machtübernahme in der Tschechoslowakei, 1956, wo mit einigen Enthüllungen der Atrozitäten Stalins die Periode des politischen „Tauwetters“ einsetzte, 1967, wo sich durch Kunderas Auftreten bei einer Schriftstellerkonferenz nach der Ansicht einiger Beobachter der Anfang des Prager Frühlings abzeichnete,²⁹ Dezember 1968, als Kundera einen Aufsatz veröffentliche, aufgrund des-
Ebenda, S. 338. Ebenda, S. 327– 328. Ebenda, S. 334. Siehe Steiner: The Deserts of Bohemia: Czech Fiction and Its Social Context, S. 6.
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sen er mit Havel in eine Polemik über die Bedeutung der sowjetischen Besatzung geriet, 1975, das Jahr der Emigration Kunderas nach Frankreich, und 1990, das Jahr der tschechischen „Samtrevolution“. Das Aufzählen solcher Wendepunkte zeigt, wie eng sein Leben und Denken mit dem politischen Leben der Nation zusammenhängt – ungeachtet dessen, dass er in Frankreich immer wieder unterstrichen hat, er sei ein Romanschriftsteller und kein Politiker. Früher hat er die Beziehung zwischen Literatur und Politik aber anders gesehen – und auch nachher noch hervorgehoben, dass in „Böhmen“ seit dem 19. Jahrhundert eine enge Beziehung zwischen Literatur und Politik bestand. Es seien die Schriftsteller gewesen, die der Politik den Weg gezeigt haben.³⁰ In diesem Urteil stimmen ihm die Kenner der tschechischen Geschichte zu.³¹ Die Erfahrung der deutschen Besatzung und des Krieges in der Kindheit und der frühen Jugend – Kundera ist 1929 geboren – muss, wie Irma Ratiani bemerkt, als ein wirkender Faktor mitberücksichtigt werden, wenn sein Eintritt in die kommunistische Partei 1948 besprochen wird.³² Zur selben Zeit verließ Kundera das heimatliche Mähren, wo sein Vater als geschätzter Musikologe am Brünner Konservatorium tätig war, und begann seine Studien in Prag. So zog er das Zentrum der Provinz vor und wählte damit für sich einen größeren Wirkungskreis.³³ Bezüglich der mährischen Kultur denkt er später eigentlich nur an ihre Musik zurück.³⁴ Bemerkenswert ist, dass er ungeachtet seiner wiederholten Hervorhebung des Sinns für Vielfalt als eines Charakteristikums Zentraleuropas (und Europas) beinahe immer, in Frankreich durchgehend, für seine Landsleute die Bezeichnung ‚Tschechen‘ verwendet und, wie schon erwähnt, von der Tschechoslowakei als ‚Böhmen‘ spricht. Nicht nur das Mährische wird dabei übersehen; in seinen Äußerungen ist nichts von den kulturellen oder politischen Spannungen zwischen Tschechen und
Siehe Kundera: Rede auf dem 4. Kongreß des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Prag, Juni 1967, S. 61; Kundera: Der Vorhang, S. 209 – 211.Vgl. Kundera: Die Begegnung, S. 141: „Die tschechische Nation wurde nicht dank ihrer militärischen Eroberungen geboren (mehrmals geboren), sondern immer dank ihrer Literatur.“ Siehe Hamšík: Writers against Rulers, S. 61; Steiner: The Deserts of Bohemia: Czech Fiction and Its Social Context, S. 5 – 6; Liehm: Trois générations. Entretiens sur le phénomène culturel tchécoslovaque (Generace 1968), S. 10, 21. Siehe Ratiani: Literature in Exile: Emigrants’ Fiction. 20th Century Experience, S. 102. Vgl. Jefferson: Counterpoint and Forked Tongues: Milan Kundera and the Art of Exile, S. 120 – 121. Er erwähnt Janáčeks Kompositionen als Vorbild für seine eigenen, „elliptischen“ Romankompositionen (Kundera: Die Kunst der Romans, S. 82– 83). In Der Scherz besucht der Protagonist nach Jahren seine mährische Heimat und begegnet dort der von der sozialistischen Kulturpolitik unterstützten, aber ihre Lebenskraft und Bedeutung eingebüßten Volkskultur wieder.
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Slowaken zu spüren, die kurz nach der Samtrevolution zur Spaltung des Landes in Tschechien und die Slowakei führten. Der junge Lyriker Kundera besang die Revolution und ihre Helden. Schon die Änderungen in der neuen Auflage des langen Gedichts Der letzte Mai (Poslední máj, 1955) sowie die Sammlung Monologen (Monology, 1957) haben aber gezeigt, dass er zu den „Erneuerern“ gehörte.³⁵ Sein erster Roman Der Scherz (Žert, 1967) wurde als eine selbstkritische, autobiographische und politische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus rezipiert.³⁶ Nach 1956 war eine Lockerung der Zentralmacht zu spüren, und Kundera schloss sich denjenigen an, die sich vom Stalinismus lossagten und eine neue Art von sozialistischer Gesellschaft, eine mit „menschlichem Gesicht“, aufbauen wollten. In dieser Phase vertritt Kundera somit eine Version der Idee ‚Mitteleuropas‘ als Vermittlung zwischen Osten und Westen, nämlich dem östlichen Sozialismus und dem westlichen Liberalismus.³⁷ Zu dieser Zeit entdeckt Kundera sich als Prosaist und Romanautor: Er identifiziert sich nun mit dem Skeptizismus, dem Sinn für Realität und der Relativität der Wahrheiten, die den Roman überhaupt charakterisieren. Er kann sich hier der tschechischen Prosatradition anschließen; man könnte sagen, dass er von der einen starken Tradition in der tschechischen Literatur, der romantisch-lyrischen, zu der anderen, der skeptisch-ironischen der Prosa, übergeht.³⁸ Kundera war schon ein namhafter Autor, als er im Juni 1967 auf dem Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes seine Rede hielt.³⁹ Diese zeigt, wie selbstverständlich für ihn, ebenso wie für seine Landsleute, immer noch die Wegweiserrolle der Schriftsteller in Fragen der Politik war. Es lohnt sich hier, einigen Hauptgedanken in dieser Rede nachzugehen, die zeigen, dass sich nicht nur Brüche zwischen Kunderas Ansichten von der Zeit des Prager Frühlings, der sowjetischen Besatzung und der Verlautbarung der „Tragödie Zentraleuropas“ in den 80er Jahren finden lassen, sondern dass zwischen ihnen auch eine beträchtliche Kontinuität besteht. Den gedanklichen Rahmen der Rede bieten die Erörterungen zur Existenz der tschechischen Nation, zu deren Möglichkeit und Berechtigung. Kundera fängt mit der Feststellung an, dass die meisten Nationen auf der Erdkugel ihre Existenz als selbstverständlich annehmen; so aber nicht die tschechische, die in ihrer zerris-
Siehe dazu Bílek: A Journey of a Name from the Realm of Reference to the Realm of Meaning: The Reception of Milan Kundera within the Czech Cultural Context, S. 15. Ebenda, S. 16. Siehe Waever: Europe since 1945: crisis to renewal, S. 160. Siehe dazu Wellek: The Two Traditions of Czech Literature. Siehe Bílek: A Journey of a Name from the Realm of Reference to the Realm of Meaning, S. 16; Jungmann: Kunderian Paradoxes, S. 122.
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senen Geschichte „durchs Vorzimmer der Toten hindurch musste“.⁴⁰ Kundera weist damit auf die Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts hin, wo Germanisierung den Tschechen als eine realistische Zukunftsvision bevorstand. Diese hätte bedeutet, dass die Tschechen ihre geistige Arbeit als Teil des deutschsprachigen Europas geleistet hätten. Die Aktivisten der nationalen Wiedererweckung fragten sich, ob die „Wiedererrichtung der Nation“ der großen Mühe wert sei. Kundera formuliert die entscheidenden Fragen wie folgt: „Ist der Kulturwert einer Nation groß genug, um sie zu rechtfertigen? […] Kann dieser Wert sie in der Zukunft von einer eventuellen Entnationalisierung sichern?“⁴¹ Diese zwei Fragen gehen in entgegengesetzte Richtungen. Einerseits wird – recht hegelianisch – aus der Perspektive der Weltgeschichte nach der Existenzberechtigung kleiner Nationen gefragt: Die Nation muss einen eigenständigen „Kulturwert“ besitzen, um ihre Existenz zu rechtfertigen. In der zweiten Frage ist die Richtung konträr: Gibt der hohe Kulturwert einer Nation eine Garantie für ihre unabhängige Existenz? Kundera zitiert den Dichter Jan Neruda aus der Zeit der nationalen Erweckung, in dessen Worten beide Ideen ausgedrückt sind: „Uns ersteht die Pflicht, unser Volk auf die Höhe des Bewußtseins und der Bildung der Welt zu bringen und ihm solchermaßen nicht nur Anerkennung zu verschaffen, sondern auch sein Leben zu sichern.“⁴² Kundera fügt hinzu, dass die Schriftsteller im Prozess der Wiedererweckung der Nation eine entscheidende Rolle spielten und dass es ihre Absicht war, die tschechische Nation „einen Teil Europas“ – d. h. einen eigenständigen, kulturell wertvollen Teil desselben – darzustellen.⁴³ Nichts sei deswegen wichtiger gewesen, als dass das ganze Volk sich „der lebenserhaltenden Bedeutung seiner Kultur und Literatur voll bewußt wird“.⁴⁴ Kundera lobt die Errungenschaften der tschechischen Literatur in der kurzen Zeit der Demokratie zwischen 1918 und der deutschen Besatzung 1938 und bedauert die Senkung des Niveaus der Literatur „auf die Stufe eines platten Propagandismus“ in der stalinistischen Periode.⁴⁵ Er betont die Bedeutung der Übersetzungen, durch die die tschechische Literatur ein Teil der europäischen Literatur werden konnte,⁴⁶ und verlangt eine größere Einsicht in die gesamteuropäische Geschichte und Literaturgeschichte als Grundlage für die Schöpfung neuer Literatur und Kultur, deren Gedeihen „in diesem Au-
Kundera: Rede auf dem 4. Kongreß des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Prag, Juni 1967, S. 57. Ebenda, S. 58. Hervorhebung im Original. Zit. ebenda, S. 58. Ebenda. Ebenda, S. 61. Ebenda, S. 60. Ebenda, S. 59.
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genblick entscheidend vom Maß der geistigen Freiheit abhängig“ sei.⁴⁷ Er meint, dass die schweren Erfahrungen der faschistischen Besatzung, des Krieges und des Stalinismus die Tschechen von der „Peripherie der Weltgeschichte“ in deren Mitte gebracht haben, denn was sie durchgemacht haben, sei der Kern der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts: Aufgrund ihrer Erfahrungen lassen sich nun Fragen wie „Was ist Geschichte, was ist der Mensch in der Geschichte und was ist der Mensch überhaupt?“ neu stellen.⁴⁸ Wir begegnen hier denselben Themen wie in der „Tragödie Zentraleuropas“: die Bestimmung und Bewertung einer Nation nach deren kulturellen Errungenschaften, die Bedrohung der Existenz kleiner Nationen und die Möglichkeit ihres „Todes“, die zentrale Bedeutung der Literatur in der kulturellen Identität einer Nation, die Sorge um das Verschwinden des Bewusstseins der kulturellen Identität einer Nation und Europas, das Ausgeliefertsein einer kleinen Nation an die Geschichte. Nur die historische Situation ist eine andere als in den 80er Jahren: 1967 waren die Hoffnungen der Tschechen groß, sich eine Gesellschaft und Kultur nach eigenem Willen gestalten zu dürfen. Eine Wende fand im August 1968 mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen statt. In Kunderas Schrift „Das Schicksal der Tschechen“ vom Dezember 1968 lassen sich dieselben Themen finden, der neuen politischen Situation entsprechend anders bewertet. Die Absicht dieser Schrift ist eindeutig: Kundera will sagen, dass noch nicht alle Hoffnung verloren ist. Er will seinen Mitbürgern Mut zum Weiterkämpfen zusprechen, und in dieser Absicht macht er (wieder) einen Umweg über die tschechische Geschichte. Kundera fängt damit an, wie er eigentlich erst kürzlich bei einem Besuch in Paris eingesehen habe, dass der August 1968 ein weltgeschichtliches Ereignis war – ein Ereignis, das die „Stärke, Vernunft und Einheit“ eines Volks gezeigt habe, von dessen Fähigkeit zum Widerstand seine Geschichte zeuge.⁴⁹ Durch die kulturelle Arbeit habe dieses Volk die Germanisierung abgewehrt und sich eine eingeständige Existenz gewährt.⁵⁰ Die große Aufgabe kleiner Nationen sei es, zur Vielfalt der Traditionen und Lebensweisen beizutragen. Jetzt sei die tschechische Nation erneut vor die Wahl gestellt, weiter „zu leben oder zu vegetieren“, und ihre Kultur laufe Gefahr, in die Unbedeutsamkeit einer Provinz zurückzusinken.⁵¹ Die Nation sei das Wagnis eingegangen, einen demokratischen Sozialismus aufzubauen und habe damit die ganze Welt herausgefordert. Dieses Ziel sei nicht
Ebenda, S. 63. Ebenda, S. 64. Kundera: Le Destin tchèque, S. 91. Ebenda, S. 92– 93. Ebenda, S. 94.
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aufzugeben; es gelte sich zu weigern, die heutige Situation als eine Katastrophe anzusehen.⁵² Keineswegs sei alles nun verloren: Kundera zählt auf, was von den Freiheiten noch (im Dezember 1968) bestehen bleibe, und ermutigt seine Landsleute zum Kampf für das gemeinsame Ziel. Er kommt auf das Thema der Existenzgarantien zurück und gesteht, dass die Tschechen in diesem Moment ohne solche Garantien weiterkämpfen müssten.⁵³ Aus der historischen Perspektive könne man aber zuversichtlich sein, dass das tschechische Volk auch diese schwere Situation überstehen werde. Kundera hat mit seiner Aufforderung, nicht aufzugeben, auch wenn die Geschichte die Tschechen wieder zu zermalmen droht, Václav Havel jedoch nicht überzeugt, der Kunderas Ansichten ein paar Monate später in seinem Aufsatz „Das Schicksal der Tschechen?“ widerlegen wollte. Es gelte nun nicht, an die vergangene Größe der Tschechen zurückzudenken; die hohen Ideen vom ‚Schicksal‘ und von der Geschichte, der ein kleines Volk unterworfen sei, lenkten davon ab, darüber nachzudenken, welche Fehler – insbesondere von den verantwortlichen Kommunisten⁵⁴ – begangen wurden und was nun zu tun sei. Havel betont die unmittelbare Gefahr der Abschaffung gerade erst erworbener Bürgerrechte, wie des Rechts auf Versammlung und auf Meinungsäußerung, und fordert zu einem konkreten Kampf für sie auf.⁵⁵ Als Nichtsozialist hat Havel keinen Sinn für Kunderas Behauptung, dass der „dritte Weg“ der Tschechen von welthistorischer Bedeutung sei; vielmehr handele es sich um das Verlangen der Rückerstattung dessen, was in einem demokratischen Staat die Normalität ist.⁵⁶ Havel greift Kunderas Lieblingsideen von der kulturellen Identität kleiner Nationen und der Bedeutung der Literatur nicht auf; ihre Meinungen unterscheiden sich an diesem Punkt kaum voneinander, aber dieses Thema hier aufzunehmen mag Havel als Ablenkung von der kritischen Situation erscheinen. Kundera antwortete beleidigt mit einem persönlichen Angriff auf Havel, und der Wortwechsel wurde noch durch Havels Antwort darauf fortgesetzt. Kundera musste bald gestehen, dass seine Ansichten im Dezember 1968 überoptimistisch waren. Später hat er von der sowjetischen Besatzung als dem Fallen einer ewigen russischen Nacht über Böhmen gesprochen.⁵⁷ Für ihn persönlich bedeutete der Machtwechsel einen vollkommenen Verlust seiner früheren
Ebenda, S. 95. Ebenda, S. 96. Vgl. West: Destiny as Alibi: Milan Kundera, Václav Havel and the ‘Czech Question’ after 1968, S. 404. Havel: Le Destin tchèque ?, S. 104. Ebenda, S. 107. So z. B. Kundera: An Introduction to a Variation, S. 476; Kundera: Die Unwissenheit, S. 13.
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Stellung: Er verlor seine Lehrerstelle an der Filmakademie, er durfte nicht mehr veröffentlichen, und seine Bücher wurden aus öffentlichen Bibliotheken verbannt. Als ihm eine befristete Stelle an der Universität Rennes angeboten wurde, emigrierte er 1975 nach Frankreich, wo er auch heute noch lebt – seit 1978 in Paris. Die Emigration zwang ihn, sich eine neue schriftstellerische Identität zu bauen, denn seine Landsleute bekamen seine Werke nicht mehr zu Gesicht. Kundera wollte sich nun die Identität eines europäischen Romanautors zulegen, der in keinen nationalen Rahmen zurückzuzwingen ist und der als Künstler nichts mit der Politik zu tun hat. Weder die Tschechen noch die Franzosen haben diese Selbstbestimmung Kunderas ohne Einwände akzeptiert. Die Emigration bot Kundera die Gelegenheit, sich dem internationalen Publikum lediglich als Romanschriftsteller vorzustellen und sein Autorenbild vom Übrigen zu „reinigen“, indem er Übersetzungen und Neuauflagen seiner lyrischen Jugendwerke nicht gestattete. Er besteht ausdrücklich auf seinem Recht, als seine opera nur die Werke anzuerkennen, die er selbst als künstlerisch reif betrachtet, d. h. seine Novellen und Romane.⁵⁸ Folglich hat das internationale Publikum den Anfang seiner literarischen Karriere in der Tschechoslowakei gar nicht zur Kenntnis genommen. Von mehreren seiner Landsleute wurde er beschuldigt, durch die Tilgung seiner frühen Lyrik seine Teilnahme an den Missetaten der Kommunisten in den ersten Jahren nach 1948 zu verschweigen.⁵⁹ Es stimmt, dass Kundera seinen Lesern keine autobiographischen Bekenntnisse seiner Jugendjahre bietet, sondern in seinen zwei ersten Romanen, Der Scherz (Žert, 1967) und Das Leben ist anderswo (Život je jinde), eine Analyse des allgemeinen Phänomens „Lyrik plus Stalinismus“ – eine Wahl, zu der er als Romanschriftsteller seiner Meinung nach nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet war. Die Hauptperson in Das Leben ist anderswo ist ein junger Dichter, für den seine Ideen – die Hoffnung auf ein künftiges kommunistisches Paradies – größer als das Leben sind und der deswegen bereit ist, einzelne Menschen für sie aufzuopfern. Das Provokative im Roman ist gerade, dass ein Lyriker in seiner Lebensfremdheit nicht als mild und mitleidig, sondern genau wegen der angeblichen Größe seiner Ideen und mangels der Lebenserfahrung dazu imstande ist, seine Geliebte zu denunzieren und seine besten Freunde aus politischen Gründen dem Tod preiszugeben.⁶⁰
Siehe dazu Misurella: Understanding Milan Kundera: Public Events, Private Affairs, S. 160 – 164. Der französiche Leser kann allerdings in einem Buch von 1970 Kunderas Worte lesen: „Ma propre jeunesse (l’âge lyrique) et mon activité des années lyriques pour moi se confondent avet la pire saison des années staliniennes.“ Liehm: [Interview avec] Milan Kundera, S. 105. Die Vorwürfe gelten unter anderem der Tatsache, dass das alter ego des Autors in Der Scherz, der Protagonist Ludvik, nur als Opfer des Stalinismus und nicht als Mitschuldiger dargestellt wird,
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Nach der Emigration beteuert Kundera aber immer wieder, dass er als Romancier mit Politik nichts zu tun habe; den Stempel eines „Dissidenten“ lehnt er gereizt ab.⁶¹ Seine Romane sollen daher nicht als politische Schlüsselromane gelesen werden; auch Der Scherz sei kein politischer Roman, sondern ein Liebesroman.⁶² Dass Kundera sich von der Politik lossagen wollte, lässt sich wohl aufgrund seiner Erfahrungen und Enttäuschungen in der Tschechoslowakei, mit der abschließenden Katastrophe im August 1968, verstehen; dazu kommt aber die neue Überzeugung, dass auch im Westen die Welt für den Menschen zu einer Falle geworden ist, wenn auch aus anderen Gründen als im „Osten“. In Der Scherz hatte der Protagonist Ludvik als junger Kommunist das erhabene Gefühl genossen, am Lenkrad der Geschichte zu sitzen; aufgrund eines Scherzes, der ihn in Missgunst fallen lässt, verliert er diese Position, und in der Jetztzeit des Romans hat er kein Vertrauen mehr in die Lenkbarkeit der Geschichte oder auch in ihre Gerechtigkeit. Dieser Verlust ist logischer Weise mit dem Verlust des Vertrauens in wirksame Politik verbunden.Was aus dem Verlust des Vertrauens in Politik und Geschichte nicht nur für Ludvik, sondern für mehrere von Kunderas Charakteren folgt, ist ein allgemeines Gefühl der Bedeutungslosigkeit, der unerträglichen Leichtigkeit aller Dinge.⁶³ Kundera sagt, dass er als Romanautor die Möglichkeiten untersucht, die dem Menschen in der zu einer Falle gewordenen Welt noch geblieben sind – einer Welt, in der die Individuen jeder Wirkungsmöglichkeit auf die allgemeine Lage der Dinge beraubt und auch in ihrem eigenen Leben den äußeren Umständen ausgeliefert sind.⁶⁴
auch wenn er in diesen Jahren als kommunistischer Student seine Professoren „überwacht“ und denunziert haben muss (siehe Steiner: The Deserts of Bohemia, S. 205 – 206; Steiner: Justice in Prague, Poetical and Poetic: Some Reflections of the Slánský Trial (with Constant Reference to Franz Kafka and Milan Kundera), S. 676). Es heißt auch, dass Kundera selbst einen Kommilitonen als Spion des Westens denunziert habe – Porter: The Ghosts of Europe, S. 131. Im Essay „Wege im Nebel“ in Verratene Vermächtnisse hat Kundera diesen Anschuldigungen indirekt erwidert. Er kritisiert die gegenwärtige Art und Weise, Schriftsteller und Denker aufgrund ihres politischen Engagements zu beurteilen und zu verurteilen. Ein Urteil aus einer historischen Entfernung zu fällen sei viel zu einfach. Diese Menschen hätten gehandelt, ohne das alles zu wissen, was uns jetzt bekannt ist – Kundera: Verratene Vermächtnisse, S. 191– 228. Auch das Folgende trifft für Kundera selbst zu: „Einzelne erleiden einen doppelten Prozeß, zuerst des Verrats an der Revolution angeklagt, dann wegen der Dienste, die sie ihr früher erwiesen hatten“ – ebenda, S. 220. Siehe z. B. Petras: L’Homme qui interroge et l’homme interrogé. À propos de la réception de L’Insoutenable légèreté de l’être en France et en Bohême, S. 69 – 70; O’Brien: Milan Kundera: Meaning, Play, and the Role of the Author, S. 7. So behauptet Kundera in der Vorrede zur englischen Übersetzung von 1982 – Kundera: The Joke, S. v. Siehe Steinby: Kundera and Modernity, S. 44– 64, 182– 206. Siehe McEwan: An Interview with Milan Kundera, S. 36; Kundera: Die Kunst des Romans, S. 16 – 21.
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Wenn Kunderas Landsleute in seinen Werken Politik suchten, lasen sie ihn weiterhin in dem Kontext, in dem er seine Rede bei der Schriftstellerkonferenz 1967 gestaltete, nämlich in einem, in dem Literatur und Politik Hand in Hand gehen. Wie schon erwähnt, wurde Der Scherz in der Tschechoslowakei (ebenso wie auch in Frankreich⁶⁵) in diesem Kontext rezipiert.⁶⁶ Die im Jahr 1973 auf Französisch erschienenen Romane Das Leben ist anderswo und Abschiedswalzer (Valčík na rozloučenou) und das 1979 erschienene Das Buch vom Lachen und Vergessen (Kniha smíchu a zapomnění) wurden erst 1979 respektive 1981 von einem Exilverlag auf Tschechisch veröffentlicht; sie wurden in der tschechischen Öffentlichkeit wenig beachtet,⁶⁷ bis Kunderas erfolgreichstes Werk, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (Nesnesitelná lehkost bytí, 1984 auf Französisch und auf Englisch erschienen) sowohl in der Tschechoslowakei als auch im Kreis der Emigranten in den Fokus des Interesses geriet. In einem einflussreichen Aufsatz hat Milan Jungmann Kundera beschuldigt, politische Ziele aufzugeben und sich an westliche Unterhaltungsliteratur anzuschließen, wobei er den Verrat am gemeinsamen politischen Kampf zugleich als Verrat der nationalen Sache darstellte. Dieser Aufsatz hat einen regen Meinungsaustausch erweckt.⁶⁸ Viele seiner Landsleute haben Kundera auch der Verfälschung seiner Identität im Westen beschuldigt. Es reicht ihnen nicht, dass er den Stalinismus in seinen Romanen schildert, wenn er keine öffentliche Beichte über seine eigene Vergangenheit abgelegt hat.⁶⁹ Nicht nur die politische Niederlage in der Tschechoslowakei hat Kundera aber dazu gebracht, sich eher als europäischen denn als tschechischen Autor darzustellen. Eine Identität als internationaler oder „europäischer“ Autor zu beanspruchen lag Kundera insofern schon früher nahe, als er schon in den 50er und 60er Jahren zu denen gehörte, die die Fenster in Richtung Westeuropas offenhalten wollten. Er rief zwar damals zur Schaffung einer nationalen Literatur auf, hob aber zugleich hervor, dass dies nur durch einen Umgang mit der großen
Siehe dazu Thirouin: Romans de la dévastation: Le Premier Cercle d’Alexandre Soljenitsyne et La Plaisantiere de Milan Kundera, S. 34. Bílek: A Journey of a Name from the Realm of Reference to the Realm of Meaning: The Reception of Milan Kundera within the Czech Cultural Context, S. 16. Ebenda, S. 17– 18. Jungmann: Kunderian Paradoxes; Bílek: A Journey of a Name from the Realm of Reference to the Realm of Meaning, S. 18 – 19. „[H]e protected his identity by playing a joker’s game, mystifying and mythologizing his own self“, lautet Petr Bíleks Urteil über Kundera (Bílek: The East, West, and the Center of Europe as Cultural Concepts, Emblems, and Vehicles of Creative Misunderstanding, S. 93). Siehe z. B. auch Hrubý: Milan Kundera’s Czech Problems, S. 43 ; Bílek: A Journey of a Name from the Realm of Reference to the Realm of Meaning.
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europäischen Tradition der Literatur, ja als Teil derselben, geschehen könne.⁷⁰ Es fiel ihm nach der Emigration deswegen nicht schwer, sich die Identität eines europäischen Romanautors anzueignen – eines Autors, der in der Tradition des zentraleuropäischen Moderne steht. Denn nicht nur in Die Kunst des Romans, sondern auch sonst drückt er immer wieder seine Überzeugung aus, dass seine zentraleuropäischen Leitsterne – Hermann Broch, Robert Musil, Franz Kafka, Witold Gombrowicz, Jaroslav Hašek – in der europäischen Geschichte des Romans einen Höhepunkt bilden; er fühle sich „unter demselben ästhetischen Dach“ mit ihnen.⁷¹ Diese Autoren vertreten sehr wohl den Geist der europäischen Kultur: die intellektuelle Analyse, Antisentimentalismus, Ironie und Skeptizismus.⁷² In Kunderas Selbstbestimmung als Romanautor besteht keine Verbindung mehr mit nationalen Aufgaben; die Idee des zentraleuropäischen Geistes als der Quintessenz des europäischen wird aber desto deutlicher ausgedrückt. Praktisch war es nicht einfach, sich in Frankreich als europäischer Autor durchzusetzen. Die erste Schwierigkeit lag darin, dass das Publikum Kundera seine Werke in Übersetzungen las, die für Kundera oft viel zu wünschen übrig ließen.⁷³ Kundera hat gesagt, dass er es sich nicht leisten kann, sich nicht um die Übersetzungen seiner Werke zu kümmern.⁷⁴ Er ist berüchtigt für seine Einmischung in die Arbeit seiner Übersetzer, insbesondere der Übersetzer ins Englische.⁷⁵ Die Übersetzungen ins Französische hat er so lange bearbeitet, bis er sie als gleichwertig mit den tschechischen Originalen anerkennen konnte. Sein Stil ist in den in Frankreich verfassten Werken einfacher und semantisch eindeutiger als in den früheren, was das Übersetzen erleichtert,⁷⁶ und wenn er dem ausländischen Publikum einen Begriff seiner Muttersprache vermitteln will, wie etwa lítost in Das Buch vom Lachen und Vergessen, erklärt er dessen Bedeutung. Die Themen Geschichte, Identität und Nation bleiben in seinen Werken bestehen, aber die Perspektive ist jetzt eine nicht-nationale: Wenn auch in seinen Romanen,
Vgl. Kundera: Rede auf dem 4. Kongreß des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes, S. 58 – 59. Oppenheim: Clarifications, Elucidations: An Interview with Milan Kundera, S. 9. Davon handelt Die Kunst des Romans als Ganzes; siehe auch Steinby: Kundera and Modernity, S. 65 – 82. Siehe Kundera: Die Kunst des Romans, S. 131; Elgrably: Conversations with Milan Kundera, S. 18. Vgl. Kundera: Die Kunst des Romans, S. 131. Siehe Woods: Translating Milan Kundera; Woods: Traduction et réécriture chez Milan Kundera; Crain: Milan Kundera is on the Outs with His Translators: But Who’s Betraying Whom?; Garfinkle: Betraying K: Milan Kundera on Exile and the Translator’s Art. Siehe dazu Biron: Gespräche mit Milan Kundera, S. 3; Chvatik: Die Fallen der Welt. Der Romancier Milan Kundera, S. 114.
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bis auf Die Unsterblichkeit (Nesmrtlnost, zuerst auf Französisch 1990 erschienen), die Hauptpersonen meistens Tschechen sind, vertreten sie jetzt eine allgemeinmenschliche Problematik. Die Geschichte erscheint in seinen Romanen als eine unmenschliche, irrationale Macht, der die Individuen ausgeliefert sind. In Das Buch vom Lachen und Vergessen und in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins sind mit dem Thema der Geschichte die Themen des Erinnerns, des Vergessens und der – privaten und öffentlichen – absichtlichen Verfälschung der Vergangenheit verknüpft. Alle diese Themen sind weiterhin mit dem Thema der Identität verbunden. Die Identität ist für Kundera von den Novellen in Das Buch der lächerlichen Liebe (Směšné lásky, 1963) bis zu den späten Romanen Die Langsamkeit (La lentement, 1994), Die Identität (L’identité, 1998) und Die Unwissenheit (L’ignorance, 2000) ein zentrales Thema. Die Identität erscheint als ein vielschichtiges Phänomen: Es hat einen nationalen und kulturellen, aber auch einen allgemeinmenschlichen bzw. „anthropologischen“ und einen individuellen Aspekt. Kundera hebt hervor, dass die Geschichte nichts Neues produziere, sondern nur einigen menschlichen Möglichkeiten den Raum eröffne.⁷⁷ Er betont die individuelle Identität der Menschen, aber seine Charaktere tendieren eher dazu, eine allgemeine Möglichkeit des Menschseins zu vertreten – und oft habe sie das Gefühl, ihrer individuellen Identität beraubt zu sein.⁷⁸ Als es sich erwies, dass die „russische Nacht“ nicht ewig, sondern nur zwanzig Jahre dauerte, wollte Kundera seine dezidiert und sorgfältig aufgebaute Identität eines europäischen Romanschriftstellers nicht hinter sich lassen, um als tschechischer Autor nach Tschechien zurückzukehren. Dass er später Tschechien selten auch nur besucht hat, mag mit seinen Problemen mit dem tschechischen Publikum zu tun haben.
3 Das Europa der kleinen und der großen Nationen. Das Schwinden Europas Tijana Miletric hat festgestellt, dass die aus anderen Ländern Europas nach Frankreich immigrierten Autoren ihre Identität oft von einem Schriftsteller ihrer ursprünglichen Nationalität zu einem europäischen wandeln, statt sich als Franzosen vorzustellen, aber dass sie Europa dabei nach den Richtlinien der
Siehe Kundera: Die Kunst des Romans, S. 45 – 53; Finkielkraut: Milan Kundera Interview, S. 39; McEwan: An Interview with Milan Kundera, S. 33. Siehe Steinby: Kundera and Modernity, S. 159 – 163, 183 – 206, 210 – 213.
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Franzosen verstehen.⁷⁹ Bei Kundera war es nicht so; er hatte seinen Europa-Begriff schon vor seiner Emigration festgelegt und hielt daran auch in Frankreich fest. Der Europa-Begriff, dem Kundera in Frankreich begegnete, war anders als sein eigener. Während Kunderas Europa durch kulturelle und gedankliche Vielfalt, Skeptizismus und Sinn für Relativität von Wahrheiten gekennzeichnet ist und in seiner ideellen Geographie Europas Prag in der Mitte liegt, ist der Kern Europas für die Franzosen französisch und seine Mitte in Paris. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Franzosen Europa von sich selbst aus verstehen, beruht, wie Ole Waever erklärt, nicht auf dem Gefühl einer natürlichen Überlegenheit der Franzosen, sondern darauf, dass die Franzosen nach ihrer Meinung die universalen Werte der Moderne vertreten, wovon die Französische Revolution als Wegweiser der europäischen Gesellschaften zeuge.⁸⁰ Die Ansicht der Franzosen von der Überlegenheit ihrer Literatur – können wir hinzufügen – hat noch längere Wurzeln, und es besteht unter ihnen eine starke Einhelligkeit darin, was alles der französische Kanon der Literatur umfasst. Kundera hat unter seiner anderen Meinung leiden müssen, insbesondere als er anfing, seine Romane direkt auf Französisch zu schreiben und daher nicht mehr als ein Dissident aus dem Osten, sondern als ein (immigrierter) französischer Autor galt. Kundera hat die französische Literatur immer geliebt und geschätzt: In seiner frühesten Jugend begeisterte er sich für die französische surrealistische Poesie, und einer seiner Lieblingsromane ist Diderots Jacques le Fataliste; von den Romanautoren des 19. Jahrhunderts erwähnt er oft Balzac und Flaubert. Sein Kanon der wichtigsten französischen Autoren sieht aber anders aus als der der Franzosen und umfasst u. a. nicht Victor Hugos Romane.⁸¹ Darüber hinaus liegt der Schwerpunkt seines Kanons des europäischen Romans des 20. Jahrhunderts anderswo als in Frankreich: in Zentraleuropa. Aus der Perspektive der Franzosen besteht die Schwierigkeit darin, dass hier jemand, der französisch schreibt, ein europäischer Autor sein will, aber ‚europäisch‘ anders versteht als die Franzosen, nämlich mittelbzw. zentraleuropäisch. Kundera war sich solcher Schwierigkeiten wohl bewusst, als er sich als einen auf Französisch schreibenden europäischen Autor etablieren wollte. Dies zeigt
Miletric: European Literary Immigration into the French Language: Readings of Gary, Kristof, Kundera and Semprun, S. 89. Waever: Europe Since 1945, S. 184– 185. Siehe Tautz: La Migration comme critère dans la réception de Milan Kundera et d’Andreï Makine par la presse française, S. 80 – 81. Kundera hat dazu bemerkt: „Plus tard j’ai compris que les écrivains français que j’appréciais le plus ne sont pas ceux qu’on apprécie le plus en France et vice versa.“ Morello: Questions et réponses échangées par écrit entre André-Alain Morello et Milan Kundera, S. 146.
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sich u. a. darin, dass er zögerte, sich in der Öffentlichkeit als einen auf Französisch schreibenden Autor zu zeigen. Die Unsterblichkeit hat er als eine Übersetzung von Eva Bloch aus dem Tschechischen vorgegeben, obwohl in Wahrheit keine Eva Bloch existiert und er selbst für den französischen Text zuständig sein muss.⁸² Seine Vorsicht erwies sich als berechtigt, denn die Sprache in seinen (angeblich) ersten auf Französisch verfassten Romanen, Die Langsamkeit und Die Identität, wurde von der französischen Kritik bemängelt.⁸³ Als Reaktion darauf hat Kundera seinen nächsten Roman Die Unwissenheit zuerst 2000 auf Katalanisch und Kastilianisch (Spanisch) und erst 2003 auf Französisch veröffentlicht – um zu zeigen, dass seine Romane eher in den gesamteuropäischen als in den französischen Rahmen gehören. In Der Vorhang befasst sich Kundera mit dem Provinzialismus der kleinen und der großen Nationen. Den kulturellen Provinzialismus definiert er als das Unvermögen, die eigene Kultur in einem größeren Kontext zu sehen. Die größeren Nationen sind provinziell, wenn sie, entgegen der Goetheschen Forderung nach Offenheit für eine Weltliteratur, ihre eigene Literatur als reich genug ansehen, um sich nicht um die Literatur anderer zu kümmern. Kundera legt nahe, dass die Franzosen in diesem Sinne provinziell sind. Die kleinen Nationen sind provinziell aus dem entgegengesetzten Grund: Sie scheuen sich vor dem größeren Kontext, weil sie ihre Literatur nicht als in diesem Kontext beachtenswert ansehen; es wird für Überheblichkeit gehalten, wenn ein Schriftsteller in einem weiteren Kreis als dem seiner nationalen Literatur wirken will.⁸⁴ Kundera bezeichnet es als „Terrorismus des kleinen Kontexts“, wenn ein Schriftsteller in den kleinen, nationalen Kontext zurückgedrängt wird.⁸⁵ Auch schon die Tatsache, dass ein Schriftsteller einer kleineren Nation in einer für die anderen schwer zugänglichen Sprache schreibt, kann ihn in den kleinen, nationalen Kontext einsperren: Hätte Kafka auf Tschechisch geschrieben, wäre er nie eine europäische Größe geworden.⁸⁶ In der heutigen Welt, wo ein paar Megazentren den Ton angeben, vernehme man kaum die Stimme der Kleinen mehr.⁸⁷ Kundera hört nicht auf zu betonen, dass der Roman ein gesamteuropäisches Phänomen ist, das gerade für die Vielfalt und
Siehe Chvatík: Milan Kundera als Übersetzer und zweisprachiger Autor, S. 154. Vgl. Gautier: Valses clandestines. Kundera en Pologne, S. 56. Kundera: Der Vorhang, S. 55 – 56. Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 51. Kundera: Schön wie eine vielfache Begegnung, S. 436.
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Komplexität der Dinge und gegen jede Nivellierung steht, und dass jeder Roman als Teil dieser Tradition bewertet werden muss.⁸⁸ Der Roman ist nach Kunderas Ansicht der höchste und wichtigste Ausdruck der europäischen Moderne. Zieht sich aber die Kultur von dem identitätsbildenden Kerngebiet der Gesellschaft zurück, verliert auch der Roman seine frühere Bedeutung. Unter diesen Umständen hilft es nicht, wenn die „russische Nacht“ in Zentraleuropa zurücktritt; kulturelles Europa sei zum Ende seines Weges gekommen, weil Europa nach seiner Identität heute nicht mehr in den Spiegeln der Philosophie und der Künste suche.⁸⁹ Kundera analysiert in Die Unsterblichkeit, was diesen Rücktritt der Kultur verursacht hat: die Macht des Journalismus und der homogenisierenden Massenmedien, die allen Sinn für Nuance, Unterschiede und die Komplexität der Dinge verdrängt. Kundera steht nicht allein mit seiner Ansicht, dass nicht nur in Tschechien,⁹⁰ sondern europaweit die Literatur und die Künste, die intellektuelle Kultur im Allgemeinen, ihre frühere zentrale Stelle eingebüßt haben; vielmehr gilt dies schon als ein Gemeinplatz. Nach Jürgen Habermas haben die Intellektuellen überall gezeigt, dass sie sich im show business der Massenmedien nicht durchsetzen können.⁹¹ Eine satirisch-kritische Darstellung der Situation der Kultur in der heutigen Europäischen Union wird in dem Roman Die Hauptstadt (2017) des Österreichers Robert Manasse geboten, der als der erste EU-Roman tituliert wurde. Er ist als eine Parallele zum großen kulturkritischen Zentraleuropa- bzw. Österreich-Roman von der Mitte des vorigen Jahrhunderts, Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, konzipiert worden. In Musils Roman bemühen sich die führenden Kreise Österreichs am Vorabend des Ersten Weltkriegs, ein erhebendes Thema für das Jubiläum der fünfzigjährigen Regentschaft Franz Josephs, des Kaisers der Doppelmonarchie, zu vereinbaren. Das Thema soll eines sein, dass die ganze Welt von der geistigen Führung Österreichs überzeugt; ein solches lässt sich aber nicht finden. Menasses Roman spielt unter leitenden EU-Beamten in Brüssel. Einige der wichtigsten Charaktere sind auf der Suche nach einem Thema für das Jubiläum der EU-Kulturkommission. Es zeigt sich, dass diese Kommission die am wenigsten geachtete ist, weil sie über die geringsten Mittel verfügt, und dass ihre
Kunderas „europäischer Roman“ bezieht sich auf die Tradition, „die mit dem Beginn der Neuzeit in Europa eingesetzt hat“ (Kundera: Verratene Vermächtnisse, S. 33). Diese schließt den lateinamerikanischen Roman ein (siehe Kundera: Esch Is Luther; Kundera: Der Vorhang, S. 213 – 216; Kundera: Eine Begegnung, S. 86 – 88), aber z. B. den chinesischen nicht (Kundera: Verratene Vermächtnisse, S. 33). Kundera: Der Vorhang, S. 212– 213. Siehe dazu z. B. Pichova: Milan Kundera and the Identity of Central Europe, S. 108. Habermas: Ach, Europa, S. 80 – 84.
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Leiterin sich durch ein Jubiläumsfest auszuzeichnen strebt, um zur Leiterin einer anderen Kommission ernannt zu werden. Das Thema soll den kulturellen Kern der EU ausdrücken – aber was ist dieser? Als ein solches Thema werden letztlich die Konzentrationslager vorgeschlagen; denn die EU sei ja auf dem gemeinsamen Willen der Europäer gegründet, die Wiederholung von Auschwitz zu verhindern. Hat die Kultur ihre frühere Bedeutung im europäischen Bewusstsein verloren, verlieren auch Kunderas Begriffe ‚Europa‘ und ‚Zentraleuropa‘ – als Verdichtung dessen, was ‚Europa‘ ist – ihre Bedeutung. Übrig bleibt uns nur, sagt Kundera, wie in einem silbernen Kästchen verschlossen, die Tradition des europäischen Romans.⁹² Europäer sei heute derjenige, der nach Europa Heimweh hat.⁹³ Dies sei eine Heimat, in die man nicht zurückkehren könne. Ob es jedoch einem Schriftsteller oder einem Künstler möglich ist, durch einen kreativen Beitrag zur Geschichte der Literatur oder Kunst etwas von dieser Heimat für sich zu bewahren, scheint Kundera nicht völlig auszuschließen.
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Jiří Gruša – ein mitteleuropäischer Denker, Sprach- und Kulturvermittler 1 Die Macht der (Ohn‐)Mächtigen Unter dem Motto „Mit vereinten Kräften“, das auf den Wappenspruch der alten Habsburger Monarchie „Viribus unitis“ verweist, fand 2005 in Wien eine Konferenz zur Rolle der Nationalliteraturen bei der Entstehung der mitteleuropäischen Nationalismen statt. Die Konferenz ging der Frage nach, wie sich Identität und Aggressivität ergänzen können, wenn Literatur als politisches Instrument eingesetzt wird. Jiří Gruša führte damals als Vorsitzender des Internationalen P.E.N.Clubs und Direktor der Diplomatischen Akademie Wien ein Gespräch mit einem besonderen Gast – mit Václav Havel. Veröffentlicht wurde das Gespräch 2006 im Wieser Verlag unter dem Titel Die Macht der Mächtigen oder Die Macht der Machtlosen?,¹ der m. E. zugleich als Motto für Grušas Leben, Wirken und Werk dienen kann. Denn Grušas Lebensweg wurde einerseits maßgeblich von der Macht der Mächtigen seiner Zeit beeinflusst, andererseits können sein gesellschaftliches Engagement sowie sein literarisches Werk als Kampfansage eines (politisch) Ohnmächtigen bzw. als permanente Auseinandersetzung mit dem Macht-Ohnmacht-Diskurs verstanden werden, der bei Gruša auf Grund der geschichtlichen Erfahrung seines Heimatlandes mitteleuropäisch verortet ist. Schon Grušas Geburtsdatum – der 10. November 1938, ein Tag nach der ‚Reichskristallnacht‘ – lässt geschichtsträchtige Jahre erahnen, die seinen Lebensweg grundlegend mitbestimmen werden. Die Rahmenbedingungen für die schriftstellerische Laufbahn eines talentierten, aus einer bürgerlich und katholisch geprägten Beamtenfamilie stammenden Dichters wurden nicht nur durch das Münchner Abkommen 1938 gegeben, das die Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1939 und die Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren zur Folge hatte und somit auch das weitere Schicksal der Ersten Tschechoslowakischen Republik besiegelte; auch das Jahr 1948 mit der Errichtung eines totalitären Regimes nach der Machtübernahme der kommunistischen Partei – eine Folge der Enttäuschung über das Versagens der westlichen Demokratien Der Band enthält den Text Moc bezmocných (Die Macht der Machtlosen) von Václav Havel, der 1978 auf Tschechisch und 1980 im Rowohlt Verlag unter dem Titel Versuch, in der Wahrheit zu leben. Von der Macht der Ohnmächtigen erschienen ist. Ein Auszug daraus dient als Anleitung, das darauf folgende abgedruckte Gespräch zwischen Gruša und Havel nimmt darauf Bezug. https://doi.org/10.1515/9783110536003-033
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zehn Jahre zuvor – prägte ihn. Trotz seiner nicht gerade ‚günstigen Herkunft‘ (bevorzugt wurde die Arbeiterklasse) konnte Jiří Gruša Geschichte und Philosophie an der Karlsuniversität Prag studieren. Diesem Studium verdankt er entscheidende geistige Impulse und Anregungen sowie seine erste Bekanntschaft mit der deutschen Sprache. Viele bedeutende philosophische und literarische Werke standen nur in fremden Sprachen, vor allem in deutscher Sprache zur Verfügung. Eine wichtige Rolle spielte dabei Grušas (Liebes‐)Beziehung zur Tochter des führenden Prager Germanisten Eduard Goldstücker, seiner späteren ersten Ehefrau, über die er die ersten deutschen Originalwerke in die Hand bekam und u. a. Rilkes Dichtung entdeckte. Die literarische Szene betrat Jiří Gruša 1962 mit dem Gedichtband Torna (Der Tornister), ein Jahr danach machte er sich einen Namen als Mitbegründer der ersten nichtkommunistischen Zeitschrift Tvář (Das Gesicht)². Seiner kritischen Denkweise kam die politische Lockerung der frühen 1960er Jahre sehr entgegen. Doch die Reformbewegung, die einen ‚demokratischen Sozialismus mit menschlichen Antlitz‘ anstrebte, wurde bekanntlich durch eine ‚höhere Macht‘ unterbrochen und die Tschechoslowakei durch die Truppen des Warschauer Paktes im August 1968 besetzt. Damit wurde dem Prager Frühling ein abruptes Ende gesetzt und Gruša selbst erhielt sehr bald Redeverbot. „Erst im stummland / bin ich stumm geworden […]“³, lauten die ersten Verse seines bekannten Gedichtes „Wortschaft“ (1994). Obwohl diese Zeilen nach Grušas Emigration in die Bundesrepublik Deutschland eine neue Bedeutung bekommen werden, ist ihr Bezug zum real erfahrenen Verlust der Redefreiheit in der sog. Normalisierungszeit der 1970er Jahre nicht gänzlich von der Hand zu weisen: Bereits in der Zeitschrift Tvář sprach sich Grusa gegen das „diktatorische Diktum“⁴ der offiziellen Sprache der Nomenklatur aus und formulierte als Aufgabe eines Dichters, die Sprache als Gespräch aufzufassen: Die, die miteinander sprechen, senden unzählige Signale aus, die nicht immer adressiert sind. Der Empfänger muß suchen. Die Paradoxie des Gedichtschreibens meint: sich als Empfänger zu fühlen, der nicht seine Nachricht erkennt und nimmt. Das geht nicht ohne Risiko der Ortung. Darum bist du als Dictor/Dichter nicht anonym. Denn das Gefundene will garantiert werden, will einen Namen tragen. Und aus dem gleichen Grunde lieben Machthaber Anonymität.⁵
Die Literaturzeitschrift Tvář (Gesicht) wurde in den Jahren 1964– 1965 und 1968 – 1969 von einer jungen, kritischen Generation herausgegeben, die sich nicht an den Vorgaben der marxistischleninistischen Theorie orientierte. Gruša: Wandersteine, S. 40. Gruša: Das Gesicht, S. 15. Ebenda, S. 14.
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Seinen letzten Gedichtband in tschechischer Sprache Modlitba k Janince (Gebet für Janinka) schrieb Gruša kurz nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen, doch zur offiziellen Publikation kam es nicht mehr, erschienen ist der Band 1972 in der Selbstverlagsreihe Edice Petlice (Unter Schloss und Riegel). Die Form eines Gebets mit Beschwörungen, Zaubersprüchen, Bannworten und Bittrufen, „die das stoppen sollten, was ich kommen sah“⁶, wählte Gruša absichtlich, da für ihn Gebete Gespräche mit Gott sind und Gedichte mit der Sprachmagie zu tun haben. Ein Gedicht ist laut Gruša immer auch eine „Namensgebung – […] Benennung einer einmaligen Konfiguration.“⁷ An dieser Überzeugung hielt Gruša auch bei seinem Übergang zur Prosa fest, als er in seinem ersten Roman Mimner eine künstliche, befremdlich wirkende Sprache (Alchadokisch) für die Bewohner eines fremden Landes (Alchadotien) imaginiert, in dem ein Fremder so sehr um die Anpassung bemüht ist, bis er seine eigene Identität gänzlich aufgibt und daran zu Grunde geht. Auch sein zweiter Roman Dotazník aneb motlitba za jedno město a přítele (Der 16. Fragebogen. Ein Gebet für eine Stadt und einen Freund), der 1978 im Exilverlag Sixty-Eight Publishers in Toronto erschienen ist, trägt den Untertitel Ein Gebet nicht zufällig. Statt eines fiktionalen Erzählens bediente er sich im Samisdat-Roman Der 16. Fragebogen (1975) viel mehr der Form einer ‚narrativen‘ Antwort in der direkten Rede, um seine eigenen Begebenheiten und Erfahrungen mit den Behörden glaubhaft darzustellen. Dass die gewählte Form des Lebenslaufes als Fragebogen, angereichert durch phantastische Elemente und kritische Betrachtungen, die menschliche Gleichschaltung in einem totalitären System thematisch in den Fokus rückt und somit eine Gefahr bedeuten könnte, haben die Behörden schnell erkannt und den Roman umgehend verboten. Jedoch gerade dieses Verbot und die darauffolgende Inhaftierung des Autors trugen entscheidend dazu bei, dass Jiří Gruša nun auch außerhalb der tschechoslowakischen Grenzen als politisch verfolgter Schriftsteller bekannt wurde – so erschien der Roman einige Monate später in deutscher Übersetzung im renommierten LuzernVerlag in der Schweiz, die Inhaftierung des Autors wurde auf Grund der internationalen Interventionen (u. a. von Heinrich Böll) auf zwei Monate verkürzt. So gesehen war der Boden für die Aufnahme im Ausland bestens vorbereitet, als es Jiří Gruša wagte, ein Stipendienangebot in die USA anzunehmen und seine Ausbürgerung zu riskieren. Als er 1981, wie befürchtet, trotz offiziell bewilligten Auslandsreise in Abwesenheit ausgebürgert wurde, fiel es ihm nicht allzu schwer, sich für die Bundesrepublik Deutschland als neuen Wohnort zu entscheiden: Die deutschsprachige Literatur kannte er weitgehend schon aus seinem Universi-
Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 22.
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tätsstudium, in der Familie seiner ersten Frau (geb. Goldstücker) sprach man deutsch, er selbst hat einige Dichtungen von Rilke ins Tschechische übertragen. Er war nicht nur als Unterzeichner der Charta 77 (einer in den wichtigsten europäischen Zeitungen veröffentlichten Petition der Regimegegner), sondern auch dank seinem verbotenen Roman und der Inhaftierung mittlerweile im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt. So fiel die Wahl nach einer kurzen Überlegung auf die Bundesrepublik Deutschland, wo er, mit einigen Unterbrechungen, bis zu seinem Tod im Jahr 2011 als Dichter, Denker, Politiker und Diplomat in Bonn wirkte.
2 Grušas Mehrsprachigkeit Trotz seiner Bekanntheit und finanzieller Unterstützung seines Verlegers in der Anfangsphase blieb Grušas Wirkungskreis in der Bundesrepublik Deutschland anfangs sehr eingeschränkt. Als ein etablierter tschechischer Dichter, der unerwartet und gegen seinen Willen sein Lesepublikum verloren hat, sah er sich plötzlich in einem fremden Land mit einer fremden Sprache konfrontiert, die er nur mangelhaft beherrschte – ein Dichter, der nie an einen Sprachwechsel gedacht hätte, wenn er plötzlich nicht „stumm“ geworden wäre. So bekommen die ersten Verse des Gedichtes „Wortschaft“ – „erst im stummland / bin ich stumm geworden“ – eine andere Bedeutung, denn hinter dem Wort stummland verbirgt sich die wörtliche Übersetzung des tschechischen Wortes Německo (dt. Deutschland). Der verstummte Dichter war zwar des Deutschen für den Alltagsgebrauch mächtig, doch als er sich an das Deutsche als Literatursprache wagte, stieß er bald an seine Grenzen. Zunächst traute er sich nur kurze Texte (Rezensionen und Essays) auf Deutsch zu verfassen, eine große Herausforderung stellten jedoch seine Romanübersetzungen dar, an denen er mitwirkte. Als er bei der deutschen Übersetzung seines letzten tschechischen Romans Doktor Kokeš – Mistr Panny (dt. 1984 Janinka) mitgearbeitet und versucht hatte, tschechische Sequenzen ästhetisch adäquat ins Deutsche zu übertragen, intensivierte sich seine persönliche Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache dermaßen, dass er einen stressbedingten Hirnschlag erlitt und vorübergehend erblindete. Es war das Gedicht „Padání“ (dt. Predigt den Fischen), das ihn im Krankenhaus dazu bewegte, nach einem Äquivalent für das tschechische Wort – padání – zu suchen, das sowohl langsames Fallen als auch Sturz bedeutet. Sich mit dem antiken, ebenfalls erblindeten Thamyris identifizierend, gelang es ihm, sich ein Bildnis der einzelnen Wortbedeutungen – Ideogramme – zu machen und die neue Sprache auf diese Weise zu verinnerlichen: „Das Padání, das langsame Fallen, wurde immer konkreter. Ich zeichnete es – als den ersten Text von Thamyris.
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Selbst im Tschechischen fällt man nicht ewig. Irgendwann liegt man am Boden, wird zum Fall. Und alles, was Fall ist, wird auch zur Welt.“⁸ Die vereinfachten Abbildungen wurden nach und nach zu einzelnen Buchstaben, die schließlich deutsche Wörter bildeten: Es kamen Worte zu mir, die ich nicht mehr verlernen sollte. Ich fing an, sie als Tatsachen zu spüren, so wie einst auf Tschechisch. War einst meine tschechische Poetik als Dia-Noia erworben, so wäre jetzt ihre deutsche Schwester als Para-Noia zu verstehen. Kein Hinein-, sondern ein Entlang-Wissen. […] Ich notierte das Deutsche plötzlich, wie einst das Tschechische.⁹
In der neuen Sprache kann der Dichter nur auf sich selbst zurückgreifen, um einen eigenen Sprachstil bzw. einen ganz spezifischen individuellen Sprachausdruck zu entwickeln – das ist der Nach- und Vorteil jeder solchen ‚Sprachwende‘. In diesem Zusammenhang bezeichnet Gruša trotz der schweren Erkrankung den vollzogenen Sprachwechsel rückblickend als „eine klare Bereicherung“¹⁰, die ihm als Dichter neue Freiräume eröffnete: „Ich bin jetzt ein freier Gruša.“¹¹ Selbstverständlich ist nicht zu unterschätzen, dass bei diesem ‚Lernprozess‘ eine bedeutende Rolle die Beziehung zu seiner damaligen Lebensgefährtin und späteren (dritten) Ehefrau, Sabine Gruša, gespielt hat, die die erste aufmerksame und kritische Zuhörerin und Sprachlektorin seiner auf Deutsch verfassten Gedichte war. Denn „ohne eine Bezugsperson, die in der neuen Sprache fest verankert war“¹² und seinen Kampf um die neue Sprache nicht nur begleitete, sondern auch sein Deutsch behutsam korrigierte, ohne die sprachlichen Eigentümlichkeiten zu eliminieren, hätte die ‚Über-Setzung‘ in die neue Sprache nicht so glücken müssen. Grušas komplizierter Sprachwechsel, den er erst mit fast 50 Jahren vollzog, sowie der vorübergehende Verlust der Dichtersprache und das Ringen um deren Wiedergewinnung wurde zum Hauptthema seiner beiden (auf Deutsch verfassten) Gedichtbände – Der Babylonwald (1991) und Wandersteine (1994). Wie das Wort stummland als Chiffre für Deutschland lesbar ist, so sind auch die Titel der beiden Gedichtbände als vielschichtige Metaphern dechiffrierbar: Der Babylonwald verweist einerseits auf die babylonische Gefangenschaft, aus der sich das unterjochte Volk einmal befreien wird (politischer Kontext), andererseits auf die göttliche Verwirrung der Sprachen und das sich Nicht-Verstehen-Können (Migrationskontext). Diese Bedeutungsebene wird im Titel des zweiten Gedichtbandes Wander Ebenda, S. 47. Ebenda, S. 51. Cornejo: Heimat im Wort, S. 465. Ebenda, S. 471. Vgl. ebenda, S. 468.
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steine wiederaufgenommen und bildhaft weiter ausgebaut, indem die wandernden Steine sowohl den inneren Zwiespalt des lyrischen Subjekts als auch seinen Wunsch nach dessen Überwindung widerspiegeln. So stehen die Wandersteine leitmotivisch für die Gratwanderung des lyrischen Ich zwischen Bleiben-Wollen und Gehen-Müssen, Bewegung und Beständigkeit, Entwurzelung und Verankerung – „ein meeresufer suchend, wo man belaubt“¹³, wie es im Gedicht „Babylon – der Wald in Ensko“ zum Ausdruck gebracht wird. Ebenfalls als Bereicherung, die sich aus dem Sprachwechsel ergeben hat, bezeichnet Gruša seine zwanghafte Vorliebe bzw. Obsession, sich mit der Etymologie der einzelnen Wörter zu befassen: „[…] seitdem […] habe ich die Tendenz, immer alles zu vergleichen, zu erklären, zu relativieren und zu fragen, was es bedeutet – das heißt alles in eine Relation zu bringen. Das ist die Konsequenz dieser Bilingualität.“¹⁴ Dieses „Abtasten der Wörter und ihrer Bedeutungen“, das von einer intensiven „Auseinandersetzung mit sprachlichen Phänomenen“ sowie vom „Hinterfragen sprachlicher Konventionen“¹⁵ zeugt, ist sicherlich nicht nur für Gruša typisch, sondern für viele auf Deutsch schreibende Autoren und Autorinnen anderer Muttersprachen. Die Mehrsprachigkeit wird als evidente Dialogizität bewusst eingesetzt, indem die ‚fremde‘ Schreibweise oder die Sprachstrukturen der Erstsprache im sprachlichen Erscheinungsbild des deutschsprachigen Textes explizit bemerkbar gemacht werden. So auch bei Gruša, dessen sprachliche Innovationen in diesem Hinblick sehr vielfältig sind: Neben der Beibehaltung der tschechischen Schreibweise in den meisten Namen (gemeint sind die diakritischen Zeichen, die er liebevoll Stäbchen und Schwalben nennt¹⁶), fügt er häufig in seine deutschen Gedichte tschechische Wörter mit oder ohne Übersetzung hinein. So trägt z. B. das Gedicht „Ein Ort wie Dunkles“ den Untertitel „(in Tmáň)“¹⁷, wobei Tmáň der Ortsname eines Dorfes in der mittelböhmischen Region ist und das Wort „tma“ [Dunkel] bedeutet – der deutsche Titel ist also eine wörtliche Übersetzung des tschechischen Untertitels. Typisch ist für Gruša die Verwendung von Abkürzungen wie Ensko und Itz, wobei Itz auf seine Geburtsstadt Pardubitz (Pardubice) verweist, die Endung Ensko wiederum auf die Region Rovensko im Böhmischen Paradies, in der sich der Babylonwald [les Babylon] befindet, wo Gruša seine Manuskripte vor der Staatssicherheit in einer Hütte zu verstecken pflegte.¹⁸ Doch genauso ist die tschechi-
Gruša: Der Babylonwald, S. 23. Cornejo: Heimat, S. 465. Ackermann: Der Stellenwert des Sprachwechsels in der „Ausländerliteratur“, S. 21 f. Vgl. Gruša: Gebrauchsanweisung, S. 25 – 34. Gruša: Der Babylonwald, S. 32. Gruša: Das Gesicht, S. 40.
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sche Endung Ensko auch als Wortende des Wortes „Československo“ [Tschechoslowakei] lesbar und als Symbol für die vorzeitige und gewaltsame Beendigung des Demokratisierungsprozesses in der Tschechoslowakei 1968 interpretierbar – als graphisches Abbild einer (Wort/Land)Verstümmelung. Seiner besonderen Vorliebe für die Etymologie der einzelnen Wörter gibt er vor allem im Essayband Gebrauchsanweisung für Tschechien (1999) freien Lauf, in dem er mit Humor und Witz die Gemeinsamkeiten zwischen einem Gasthaus und Gotteshaus erklärt oder Wortspiele und hybride Ausdrücke in den Text einbaut – zum Teil auf Deutsch, zum Teil auf Tschechisch geschrieben, wobei er nahtlos innerhalb einer Seite oder gar eines Absatzes zwischen der deutschen Schreibweise der tschechischen Wörter und der tschechischen Schreibweise der deutschen Wörter so lange hin und her schwingt, bis der Leser die einzelnen Wortbedeutungen aus dem Kontext spielerisch erschließen kann. Hier ein Beispiel stellvertretend für alle anderen: Nun mein Tschechenforscher, […] es sind haatscheks, wortwörtlich ‚Kleinhaken‘, was dir da so chinesisch vorkommt. Und in der Tat, du brauchst noch die tschaarkas, dazu, um unsere Schreibweise zu genießen. […] Alles, was den Gaumen kitzelt, mögen wir auch lautmalerich. Die obere Wölbung der Mundhöhle ist das Nest, aus dem unsere Švalben in die Lüfte steigen. […] Doch habe ich dir, majn Čechenforšr, den kompliziertesten Laut noch vorenthalten, unser ř, das bereits im Namen des heligen Hügels Říp eklang und das du gewiß falsch ausgesprochen hast.¹⁹
Nicht unerwähnt darf Grušas Sinn für das Wortspiel und die sprachliche Kreativität bleiben, vor allem in seinen Neuwortschöpfungen. Gute Beispiele dafür sind die einzelne Gedichttitel wie „Wohnworte“ oder „Wortschaft“, die als Metaphern für die existentielle Erfahrung des Emigranten in einem fremden Sprachkontext gelesen werden können. Im ersten Fall eine Zusammenfügung aus dem Grundwort „Worte“ und dem Bestimmungswort „Wohnen“, im zweiten Fall eine ungewöhnliche Substantivierung von „Wort“ bzw. eine Zusammensetzung aus „Wort“ und „-schaft“, welches für „Landschaft“, „Wanderschaft“, „Ortschaft“, „Partnerschaft“ usw. stehen kann. Kurzum ein Ort, wo Worte und somit auch der Dichter zu Hause sind oder beheimatet sein können. Das subversive Potential solcher Wortschöpfungen wird vor allem dort deutlich, wo man sie irrtümlich für einen Fehler halten könnte wie „mondvoll“²⁰ (statt „Vollmond“) oder „augenäpfel“²¹ (statt „Augäpfel“). Besonders kreativ ist er
Gruša: Gebrauchsanweisung, S. 25 ff. Gruša: Der Babylonwald, S. 23. Gruša: Wandersteine, S. 76. Hier dürfte Gruša von Rainer Maria Rilke inspiriert worden sein, der das Bild der ‚reifenden Augenäpfel‘ in seinem Gedicht Archaïscher Torso Apollos verwendet:
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bei lautmalerischen Wortschöpfungen, die häufig auf die wortwörtliche Übertragung der Bedeutung aus der Erstsprache in die Zweitsprache zurückgehen und den Text nicht nur verfremden, sondern für die Kenner beider Sprachen besonders attraktiv und interessant machen: So ist das Gebirge Šumava in Gušas poetischer Sprache nicht bloß der Böhmerwald, sondern ein „Rauschwald“²² – eine onomatopoetische Wortbildung, abgeleitet vom tschechischen Verb „šumět“ (dt. rauschen). Im Gedicht „Hafenstadt Prag“ signalisiert die Großschreibung des Wortes „Lachfeld“²³ bei sonst durchgehend beibehaltener Kleinschreibung, dass es sich um einen Namen handeln muss. Die Dechiffrierung des Prager Viertels „Smíchov“ – was eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Tschechischen („smích“ = dt. Lachen) ist – erleichtert der Hinweis auf den Prager Bahnhof, der, wie das ganze Stadtviertel, den Namen Smíchov trägt. Das Beispiel „stummland“ wurde schon weiter oben zitiert und erklärt. Nur am Rande sei bemerkt, dass Gruša in seinen Gedichtbänden nicht nur mit der tschechischen Sprache (obwohl eindeutig am intensivsten), sondern auch mit italienischem („Il ritorno d’Ulisse in Patria“) und lateinischem („dies ater“) Wortmaterial arbeitet.²⁴ In seinem Gedichtband Grušas Wacht am Rhein ²⁵, in dem zwischen 1973 und 1989 entstandene tschechische Gedichte veröffentlicht wurden, kann man den allmählichen Sprachwechsel des Autors Schritt für Schritt verfolgen und sehen, dass Gruša nach seinem USA-Aufenthalt und Emigration in die Bundesrepublik Deutschland verstärkt mit englischen und deutschen Versatzstücken in seinen Gedichten arbeitete. Seine Mehrsprachigkeit geht also über die sonst übliche Verwendung der muttersprachlichen Sprachelemente im deutschsprachigen Text hinaus – nicht nur dank seinem kreativen Potential, der sich in der einfallsreichen Verwendung von muttersprachlichen Elementen niederschlägt, sondern auch auf Grund der Einbeziehung von mehreren Fremdsprachen.
3 Die Kunst zu altern Eine weitere Zäsur in Grušas Leben bedeutete das Jahr 1989, das ihm einerseits den unerwarteten frühzeitigen Tod seines einzigen, in der Tschechoslowakei verbliebenen Sohnes mitbrachte und andererseits, genauso unerwartet, den Zu-
„Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, / darin die Augenäpfel reiften. […].“ Aus: Der neuen Gedichte anderer Teil, 1908 – Rilke: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 557. Gruša: Gebrauchsanweisung, hier S. 35. Gruša: Der Babylonwald, S. 14. Ebenda, S. 55 und 63. Vgl. dazu Gedichte in Grušas Wacht am Rhein (z. B. Ani za N.Y.C.; As long as…; Otylka again).
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sammenbruch des sozialistischen Regimes in der Tschechoslowakei und damit die Möglichkeit, in die vor Jahren unfreiwillig verlassene Heimat wieder legal zurückzureisen – leider einige Wochen zu spät, um dem Begräbnis des Sohnes Martin beiwohnen zu können. Dass Jiří Gruša die Zustände in seinem Heimatland sowie die Nachbarschaftsbeziehungen immer am Herzen lagen, verdeutlicht nicht nur sein literarisches Werk, sondern auch seine politische und diplomatische Laufbahn nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Der Umbruch der politischen Verhältnisse bedeutete für ihn die Möglichkeit nicht nur als Schriftsteller in die Tschechoslowakei zurückzukehren, sondern sich auch kulturpolitisch auf dem Feld der seit 1945 angespannten deutsch-tschechischen Beziehungen zu betätigen und dabei eigene Erfahrungen umzusetzen zu versuchen. Dieser Aufgabe konnte er in den Jahren 1990 – 1998 in der Funktion des tschechischen Botschafters in Bonn und von 1998 bis 2004 in Wien nachgehen, in den Jahren 2005 bis 2009 war er als Direktor der Diplomatischen Akademie Wien tätig, in den Jahren 2003 bis 2009 der Präsident des Internationalen P.E.N.-Clubs von Deutschland und Österreich. Im Unterschied zur erfolgreichen Diplomatenkarriere im Ausland stießen seine innenpolitischen Bemühungen auf wenig Anerkennung und Unterstützung. Im Jahr 1997 bekleidete er einige Monate den Posten des tschechischen Bildungsministers in der Regierung von Václav Klaus, doch seine Bemühungen, sich auch als regionaler Politiker in Cheb (Eger) nützlich zu machen, schlugen fehlt – seine Enttäuschung über das Misstrauen und die Vorurteile, denen er bei der Wahlkampagne begegnete, thematisiert er näher in seinem Essayband Glücklich heimatlos. Einblicke und Rückblicke eines tschechischen Nachbarn (2002). Die Vorarbeit zur Verbesserung von Verhältnissen in Mitteleuropa und von den deutsch-tschechischen Nachbarbeziehungen leistete er bereits, als er für den deutschen Leser seine Gebrauchsanweisung für Tschechien konzipierte – einen amüsanten, geistreichen, zugleich informativen und wichtige Zusammenhänge humorvoll erhellenden Essayband, in dem nicht nur die Sprache, Kultur, Bräuche und Geschichte der Tschechen näher beleuchtet, sondern auch die Vorurteile, Selbst- und Fremdbilder kritisch geprüft werden, so z. B. der tschechische Schwejk und die sprichwörtliche Schwejk-Mentalität: Diese tschechische Figur per excellence, dieser Don Quichote der Tschechen, erfreut zwar ihr Herz, nicht aber den Kopf. Der Name, der so oft mit unsereinem gleichgesetzt wird, ist kein tschechischer. Švejk ist nur eine Verballhornung von Schwaig, einem Ort in Bayern. Schwejk war also ein Wanderbursche, der bei uns Fuß faßte und aus irgendeinem Grund blieb. Glücklicherweise habe ich nie gehört, daß die Bayern auf ihr Heimatrecht gepocht hätten.²⁶
Gruša: Gebrauchsanweisung für Tschechien, S. 19.
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Sowohl die gängigen Klischees der Deutschen über die Tschechen und umgekehrt, als auch die Vorurteile im Allgemeinen werden aufs Korn genommen und durch geschickte Ironisierung als Trugbild entlarvt: Das Interessante an Vorurteilen ist nicht ihre Schäbigkeit, sondern die Tatsache ihrer Nützlichkeit. Wären sie nicht für eine Kollektivseele zu gebrauchen, sie wären längst überholt. […] Die ihnen innewohnende Distanzbildung, ihre eigentliche Aufgabe wird dadurch nicht gemindert, nur anders kostümiert. Man muß schon von der Bühne runter, auf der unsere Heimatstücke gespielt werden, den Sprung über den Orchestergraben in den Zuschauerraum, unter die Leute, wagen. Von hier aus sehen solche Vorstellungen ganz anders aus […]²⁷
– so ‚lobt‘ und kritisiert mit Scharfsinn und Humor Jiří Gruša im Essay Das Lob der Vorurteile die Vorurteile, deren Macht er als zurückgekehrter Exulant am eigenen Leib in seiner Heimat erfahren musste. Diese negative Erfahrung hinderte ihn jedoch keineswegs daran, sich in seinem Land auch weiterhin gesellschaftlich zu engagieren und als kultureller Vermittler zu wirken. 1999 bis 2007 beteiligte er sich als Mitherausgeber an der 33-bändigen Ausgabe der Tschechischen Bibliothek, einer Initiative der Robert Bosch Stiftung unter der Schirmherrschaft der Präsidenten der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Seine frühen Texte, Essay, Gedanken, Interviews und Tagebuchnotizen aus den Jahren 1964 bis 2004 wurden unter dem Titel Als ich ein Feuilleton versprach. Handbuch des Dissens und Präsens, von Michael Stavarič ins Deutsche übersetzt und mit dem Ziel herausgegeben, „den Ausgangspunkt von Jiří Grušas Schaffen, den ‚Kontext‘“, zu beleuchten. Denn sie stellen „eine Anleitung dar, wie man sich unter diesen oder jenen Bedingungen verhalten kann, ja soll, was moralisch richtig und menschlich wichtig ist“.²⁸ Diese Fragen sowie die Frage nach der Macht der Mächtigen bzw. der (Ohn‐)Macht der Machtlosen beschäftigten Gruša sein Leben lang, insbesondere im Zusammenhang mit der tschechoslowakischen Geschichte – ohne Rücksicht darauf, ob seine Meinung auf Widerstand stößt oder als kontrovers aufgefasst wird. Das ist auch der Fall seines letzten Essays Beneš als Österreicher (tsch. 2011, dt. 2012), in dem Gruša das Phänomen des Defätismus untersucht und nach den Ursachen des Verhaltens von Edvard Beneš in den Jahren 1938 und 1948 fragt, als er Staatspräsident war. Zudem ist Beneš auch für die Homogenisierung der nationalen Struktur der Tschechoslowakei nach 1945 durch die gesetzlich verordnete Aussiedlung der deutschsprachigen Bevölkerung (sog. Beneš-Dekrete) verant-
Ebenda, S. 16. Michael Stavarič in Gruša: Als ich ein Feuilleton versprach, S. 13.
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wortlich, die bis heute umstritten und eine geschichtliche Belastung für die deutsch-tschechischen Beziehungen darstellen. Der Essay in Form eines Faktenromans sorgte für eine rege Diskussion vor allem in Tschechien. Schon mit der Wahl des programmatischen Titels verankert Gruša Benešs Persönlichkeit bewusst und provozierend nicht im deutschen, sondern im österreichischen kulturgeschichtlichen Kontext: Warum Beneš als Österreicher? Weil Austria in Benešs Psyche eine Art Hassliebe darstellt. Zuerst hatte er eine geniale Vision, wie dieses Konglomerat zu retten gewesen wäre (siehe seine Dijoner Dissertation). Als sie scheiterte, überkam ihn Lust, Österreich zu zerstören. Die Tschechoslowakei zeigte sich aber als Österreich im Kleinformat. Und da wollte er sie „entösterreichern“ und war erstaunt, als sie dazu gleich verschwand.²⁹
Die Widersprüchlichkeit von Benešs politischen Taten widerspiegele sich in der Widersprüchlichkeit des Umgangs mit seinem Bild und Vermächtnis, meint Gruša. Trotz der offiziellen Denkmäler, die ihn zelebrieren, überwiegt auf beiden Seiten, obwohl aus unterschiedlichen Gründen, doch eher das negative Bild. „Weisheit hielt er für Schlauheit, Tapferkeit für Biegsamkeit, Gerechtigkeit für Vergeltung und Mäßigung für Kälte“³⁰ – lautet Grušas lakonisches Fazit. Für sein Werk und öffentliches Wirken erhielt Jiří Gruša schon während seines Lebens zahlreiche Auszeichnungen: für seine literarische Tätigkeit war es 1997 der Adelbert von Chamisso-Preis, 2002 der Jaroslav Seifert-Preis und Magnesia LiteraPreis; 1996 wurde er mit dem renommierten Andreas Gryphius-Preis ausgezeichnet, der an Autoren und Übersetzer geht, deren Publikationen deutsche Kultur in Mittel-, Ost- und Südeuropa reflektieren und zur Verständigung zwischen Deutschen und ihren östlichen Nachbarn beitragen; 1999 erhielt er die Goethe-Medaille, die vom Goethe-Institut für Verdienste um die Pflege der deutschen Sprache im Ausland und für die Förderung der internationalen kulturellen Zusammenarbeit verliehen wird, um zumindest die wichtigsten Auszeichnungen zu nennen. Die höchste Würdigung seiner kulturpolitischen Tätigkeit stellt zweifelsohne die Verleihung des Großen goldenen Ehrenkreuzes am Bande für die Verdienste um die Republik Österreich 2004 und des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland mit Stern 2006 dar. Gruša, der sich als tschechischer Europäer verstand, beteiligte sich aktiv an der Verständigung zwischen Tschechen, Deutschen und Österreichern und hinterließ mit seinem Werk ein politisches, kulturelles und literarisches Vermächtnis, dessen Breite und Weite noch zu erfassen und zu erforschen ist. Dieser Aufgabe hat sich der österreichische Wieser
Gruša: Im Banne der Kapitulation, o. S. Ebenda.
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Verlag angenommen, der die deutschsprachige Gesamtwerkausgabe in 10 Bänden mit Hans Dieter Zimmermann als Herausgeber betreut, die Vorbereitung der tschechischsprachigen Ausgabe, an der parallel gearbeitet wird und die 2018 abgeschlossen sein soll, obliegt der Tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag unter der Leitung von Dalibor Dobiáš. Das gemeinsame Ziel dieses einmaligen deutsch-tschechisch-österreichischen Unterfangens ist es, alle tschechischen Werke von Jiří Gruša samt unveröffentlichte Schriften, Essays, Vorträge, Interviews und Briefe parallel in deutscher und tschechischer Sprache zugänglich zu machen. Nachdem dieses Opus Magnum abgeschlossen sein wird, dürfte Gruša zu den wenigen Autoren weltweit zählen, deren Gesamtwerk vollständig in zwei Sprachen erfasst und für weitere Forschung zur Verfügung gestellt wird. Eine Würdigung, die seinem Vermächtnis in jeglicher Hinsicht – als Schriftsteller, Übersetzer, Literaturkritiker, Publizist, Politiker, Diplomat und mitteleuropäischer Denker – gerecht werden dürfte. Einen Monat vor seinem Tode hielt er vor dem Sächsischen Landtag am 29. September 2011 eine Rede anlässlich der Gründung des Forum Mitteleuropa: „Mitteleuropa: Ein Ort des Geistes in einer Welt im Umbruch. Tschechien“. Er schloss mit einem Bekenntnis: Man ist im Westen noch immer gewöhnt, den Osten als eine zweite Liga zu betrachten. Doch wir spielen in ein und derselben und der Meister kommt aus der messbaren Konkurrenz. Die Zeiten ändern sich, weil sich die Zeit ändert. Sie tickt längst simultan, Kulturen mischen sich, Epochen fließen ineinander. Es gibt jedoch keinen Wecker der Chancen, wecken wir uns selbst. Hören wir mit der Hybris der Zweiteilung auf! Mitteleuropa kann uns helfen!³¹
Literaturverzeichnis Quellen Gruša, Jiří: Als ich ein Feuilleton versprach. Handbuch des Dissens und Präsens. Essays, Gedanken und Interviews aus den Jahren 1964 bis 2004. Übersetzt und hrsg. von Michael Stavarič. Wien: Czernin 2004. Gruša, Jiří: Das Gesicht – der Schriftsteller – der Fall. Vorlesungen über die Prätention der Dichter, die Kompetenz und das Präsens als die Zeitform der Lyrik. Dresdner Poetikvorlesung 1999. Dresden: Thelem 2000. Gruša, Jiří: Der Babylonwald. Gedichte 1988. Nachw. von Sarah Kirsch. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1991. Gruša, Jiří: Gebrauchsanweisung für Tschechien. München: Piper 1999. Gruša, Jiří: Glücklich heimatlos. Einblicke und Rückblicke eines tschechischen Nachbarn. Stuttgart, Leipzig: Hohenheim 2002.
Forum Mitteleuropa beim Sächsischen Landtag H. 1, 2011, S. 19 – 24, hier S. 24.
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Die Beiträgerinnen und Beiträger Manfred Alexander, Jahrgang 1939, studierte Germanistik, Geschichte, osteuropäische Geschichte, Philosophie und vergleichende Sprachwissenschaft in Köln. Staatsexamen 1964, Promotion 1968, Habilitation 1976, zum Professor ernannt 1983, Pensionierung 2005. Veröffentlichungen (Auswahl): Der deutsch-tschechoslowakische Schiedsvertrag von 1925 im Rahmen der Locarno-Verträge. München 1970; Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Innenpolitik und Minderheitenprobleme in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, München, Bd. 1. 1983/2001, Bd. 2. 2004, Bd. 3. 2009; Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2003/2008; Kleine Geschichte der Böhmischen Länder, Stuttgart 2009; mit Günther Stökl: Russische Geschichte. Stuttgart 2009. Homepage: http://osteuropa.phil-fak.uni-koeln.de/730.html?&L=5 E-Mail: [email protected] Johann P. Arnason, born in Iceland, is Emeritus Professor of Sociology at La Trobe University, Melbourne, and an associate of the Department of Historical Sociology at the Faculty of Human Studies, Charles University, Prague. Publications include: Civilizations in Dispute: Historical Questions and Theoretical Traditions, Leiden 2003; Elias Canetti’s Counter-Image of Society: Crowds, Power, Transformation, Rochester 2004 (with David Roberts); Domains and Divisions of European History (ed., with Natalie Doyle), Liverpool 2010; „Central Europe: Visions, Models and Presuppositions“, in Petr Hlaváček et al. (eds.); Mitteleuropa: Zwischen Realität, Chimäre und Konzept, Prague 2015, pp. 132 – 159. Email: [email protected] Antje Arnold, Akademische Rätin a. Z. am Institut für deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln im Bereich Literaturwissenschaft und -didaktik. Studium der lateinischen und deutschen Philologie sowie Archäologie in Köln, Birmingham, Prag. Promotion über die Rhetorik der Empfindsamkeit 2011 (ausgezeichnet mit dem Offermann-Hergarten-Preis). Gastvorträge an den Universitäten in Prag und Shanghai. Forschungsschwerpunkte: Erzählen über Flucht; Poetik und Rhetorik; Fiktionskompetenz. Zuletzt erschienen: Romantik und Recht: Recht und Sprache, Rechtsfälle und Gerechtigkeit (2018; hrsg. zus. mit Walter Pape); „Die Kälte. Eine Isolation“, im Bernhard-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2018). Homepage: http://idsl2.phil-fak.uni-koeln.de/arnold.html. E-Mail: [email protected] Jaroslav Bican, geb. 1987, is a doctoral student of Historical sociology at the Faculty of Humanities, Charles University in Prague. In his dissertation he is concerned with Karl Marx’s theory of alienation and its later transformations and changes in works of many other authors (namely Herbert Marcuse; Jean-Paul Sartre; Karel Kosík; or Cornelius Castoriadis). He also focuses on topics such as Frankfurt School critical theory or revisionism of Marxism in Czechoslovakia. In general, he is interested in the work of Cornelius Castoriadis. Bican obtained a master’s degree in Political Theories and Contemporary History at the Faculty of Arts, Charles University. Along with his academic activity he works in an on-line daily Zpravy.tiscali.cz and contributes to other media as well. Email: [email protected]
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Matthias Bickenbach, apl. Prof. Dr. phil., vertritt eine Professur am Institut für Deutsche Sprache und Literatur I an der Universität zu Köln. Publikationen zur Poetologie der Literatur vom 18. – 21. Jahrhundert sowie zur Geschichte der Medien und Kulturtechniken. Zuletzt erschienen (Hrsg.) Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Bd. 2. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2018, Noch „nicht einmal Optik studirt“. Clemens Brentanos Medienästhetik und ihre Abweichung von der Frühromantik, in: Volker C. Dörr, Rolf J. Goebel (Hrsg.): Literatur in der Medienkonkurrenz. Bielefeld: Aisthesis 2018, S. 49 – 66. Homepage: http://idsl1.phil-fak.uni-koeln.de/?id=10073 E-Mail: [email protected] Werner Binder is Assistant Professor in sociology at Masaryk University, Brno (Czech Republic). After studies in Mannheim, Potsdam, and Berlin, he earned his PhD at the University of Konstanz with a thesis on the Abu Ghraib Scandal. Werner Binder is author of Abu Ghraib und die Folgen (2013, transcript), coauthor of Ungefähres (2014, Velbrück), coeditor of Kippfiguren (2013, Velbrück), as well as author and co-author of articles published in several international journals. He is currently working on the social performance and cultural logic of populism as well as on structural hermeneutics as cultural-sociological methodology. His general fields of interest include sociological theory, cultural sociology, and textual and visual methods of interpretation. Email: [email protected] Milka Car, Studium der Komparatistik und Germanistik an der Universität Zagreb. Seit 2000 am Lehrstuhl für Literaturwissenschaft der Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät Zagreb tätig, ab 2014 als ao. Professorin. Teilnahme an zahlreichen internationalen wissenschaftlichen Symposien (Österreich, Deutschland, Schweiz, Polen, Ungarn, Slowenien, Togo, Rumänien), sowie an bilateralen und europäischen Projekten (Wien, Berlin, Köln, Ljubljana). Forschungsschwerpunkte: Untersuchung der deutschsprachigen Dramatik in Kroatien; Kulturtransfer, Dokumentarliteratur. Homepage: http://www.ffzg.unizg.hr/german/cms/index.php?option=com_content&task= view&id=1360&Itemid=1&lang=german E-Mail: [email protected] Renate Cornejo, Leiterin der Germanistik in Ústí nad Labem. Dissertation zu E. Jelinek, A. Mitgutsch und E. Reichart (2006 Das Dilemma des weiblichen Ich), Habilitation zum Sprachwechsel der deutschsprachigen Autoren tschechischer Herkunft nach 1968 (2010 Heimat im Wort). – Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik, Vorstandsmitglied der Austrian Studies Association (2012 – 2014), Mitherausgeberin der Zeitschrift Aussiger Beiträge und der Sammelbände Zwischen Kulturen und Medien (2016), Wie viele Sprachen spricht die Literatur? (2014); Forschungsschwerpunkte: interkulturelle Literatur und Migrationslitertur, österreichische Gegenwartsliteratur. Homepage: http://ff.ujep.cz/index.php/mitarbeiter-innen-des-lehrstuhls/67-de/mitarbeiter/ 1338-doc-mgr-renata-cornejo-ph-d E-Mail: [email protected] Jan Coufal, born 1985; Department of Historical Sociology, Faculty of Humanities Charles University. He gained his Bachelor degree in Philosophy and his Master’s degree in Historical Sciences at the Technical University in Liberec. He currently works as a social worker and is a PhD candidate at the department of Historical Sociology, Faculty of Humanities, Charles Uni-
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versity. Jan Coufal deals with topics such as critical theory of the Frankfurt School and political philosophy, particularly focusing on the transformation of the historical forms of the so-called Marxist revisionism in terms of international and czech context. Email: [email protected] Karl-Heinz Göttert, geb. 1943 in Koblenz. Studium der Germanistik und Geschichte in Köln, Staatsexamen 1968, Promotion 1970. Danach Akademischer Rat und Oberrat am Institut für deutsche Sprache und Literatur in Köln. Habilitation 1985 mit dem Thema: Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie. Von 1990 bis 2009 Professor für Ältere Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Köln. In dieser Zeit Unterricht auch an ausländischen Universitäten: in Klaipeda (Litauen) und regelmäßig in Prag (Tschechien). Nach der Emeritierung Unterricht an Universitäten in St. Petersburg (Russland), Prag sowie seit 2013 in Guangzhou, Hangzhou und Shanghai (China). Forschungsschwerpunkte sind die Literatur des Mittelalters sowie Themen aus Kulturgeschichte und Rhetorik sowie die Geschichte der deutschen Sprache. Website: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Heinz_Göttert E-Mail: [email protected] Miloš Havelka, geb. 1944, Professor an der Fakultät für Humanistische Studien, Karls-Universität, Prag. Studium der Bohemistik, Philosophie und Geschichte am UJP (heute Masaryk Universität) in Brno. Gastprofessor am Lehrstuhl European Studies an der TU Chemnitz (2004 – 2005). ditor in Chief von Czech Sociological Review (2003 –2001). Mitherausgeber der Reihe Religiöse Kulturen in Europa der Neuzeit im Verlag Vandenhoeck &Ruprecht. Publikationen (tschechisch): Der Streit um den Sinn der tschechischen Geschichte I,1895 – 1938 (1995) und II, 1938 – 1989 (2006); Ideen – Geschichte – Gesellschaft. Studien zur historischen Soziologie des Wissens (2011); Religiöse Kulturen in Tschechien im 19. und 20. Jahrhundert (2015); Auslegungen und Interpretationen (2016). E-Mail: [email protected] Dušan Janák is a researcher and senior lecturer at the Faculty of Public Policies of the Silesian University, Opava, where he led the Centre for empirical research (2013 – 2017). He gained a Master’s degree in sociology from Masaryk University, Brno, (2004) where he received his Ph.D. degree (2008) as well as his PhDr. degree (2009). His main fields of research interests are Central European societies and their social and environmental problems, history of social thought, Czech sociology, methodology, social philosophy and philosophy of social sciences, and quite recently interspecies communication. He published six books and approximately thirty articles in these fields. Email: [email protected] Martin Jeřábek, lehrt im Fachgebiet Politikwissenschaft, Neueste Geschichte und Internationale Beziehungen an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität Prag und der Philosophischen Fakultät der Westböhmischen Universität in Pilsen. Er studierte Internationale Studien an der Karls-Universität Prag, wo er sein Doktorstudium vollendete. An der Philipps-Universität Marburg erwarb er sein Diplom in Politischer Wissenschaft, Geschichte und Öffentlichem Recht. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politik der deutschsprachigen Länder, Geschichte Mitteleuropas und die gegenwärtige Europapolitik der Bundesrepublik Deutschland. Er veröffentlichte im VS Verlag für Sozialwissenschaften eine Monographie Deutschland und die Osterweiterung der Europäischen Union (2011). E-Mail: [email protected]
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Claudia Liebrand studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort wurde sie 1989 über das Romanwerk Fontanes promoviert (Das Ich und die andern. Fontanes Figuren und ihre Selbstbilder. Freiburg: Rombach 1990) und habilitierte sich 1995 über E.T.A. Hoffmann (Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns. Freiburg: Rombach 1996). Seit 1999 ist sie Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Literaturwissenschaft/ Medientheorie am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Zahlreiche Publikationen zur europäischen Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, u. a. zur Literaturtheorie, zu Gattung und Geschichte, zu Kafka, Thomas Mann und zu Annette von Droste-Hülshoff. Homepage: www.claudia-liebrand.de E-Mail: [email protected] Jakub Mlynář, has a PhD in Sociology (2016) from the Charles University in Prague, where he works as coordinator of the Malach Center for Visual History at the Faculty of Mathematics and Physics, and lecturer and researcher at the Department of Sociology at the Faculty of Arts. From 2016 to 2018, he was a post-doctoral researcher at the Department of Social Sciences and the Human-IST Institute at the University of Fribourg in Switzerland. In addition to sociological theory and history of sociology, he is interested in communicative and interactional foundation of social organization and order, focusing on memory, narrative, identity, and the use of digital technology in education. Email: [email protected] Nobert Nußbaum studierte 1974 – 1982 Kunstgeschichte, Geschichte und lateinische Philologie an der Universität zu Köln und promovierte mit einer Dissertation zu den spätgotischen Dreistützenbauten in Bayern und Österreich. 1982 –1996 war er als Wissenschaftlicher Referent am Rheinischen Amt für Denkmalpflege, Bonn/Brauweiler tätig, wo er 1986 die Leitung des Referates Bauforschung übernahm. Seit 1996 lehrte er Architekturgeschichte an den Universitäten Dortmund und Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind mediävistische Architekturgeschichte, Planungswissenschaft, Wissensgeschichte der Architektur, historische Topographie, Konstruktionsgeschichte, Bauarchäologie und Theorie der Denkmalpflege. Homepage: http://khi.phil-fak.uni-koeln.de/25661.html E-Mail: [email protected] Walter Pape, Universitätsprofessor am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln. Gastprofessuren an der University of California, San Diego und Santa Barbara; Resident Fellow am Humanities Research Institute, UCI. Ehrendoktorwürde der Karls-Universität Prag (2010). Rektoratsbeauftragter für die Universitätspartnerschaften mit der Karls-Universität und (bis 2013) der Fudan Universität, Shanghai; 1997–2005 Dekan und Senator sowie 2005– 2011 Leiter des Zentrums für Internat. Beziehungen der Philosophischen Fakultät. Vorsitzender des Stiftungsrates des Kasseler Literaturpreises für grotesken Humor; Präsident der Internat. Arnim-Gesellschaft; Vize-Präsident der Internat. Nestroy-Gesellschaft. Veröffentlichungen zu Aufklärung, Klassik und Romantik, Sprachspiel, Komödie, politischer Lyrik, zur Kulturgeschichte der Metaphorik und zur Gegenwartsliteratur. Homepage: http://idsl1.phil-fak.uni-koeln.de/?id=10105 E-Mail: [email protected] Miroslav Paulíček studied sociology and media studies at Charles University in Prague. Currently he works as an Assistant professor at the Faculty of Social Studies at University of Ostrava. His
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main areas of research are the sociology of arts, sociological methodology, social theories and the history of sociology. He is an author of the book about the distinction between high and low arts Nikdo se neodváží říci, že je to nudné (No one dare say it is boring) or of the theoretical monograph Člověk v teoretické perspektivě sociálních věd (The Human Being in the Theoretical Perspective of Social Sciences with Jakub Mlynář and Jiří Šubrt). Email: [email protected] Jiří Pešek, Prof. Dr. studierte Geschichte, Historische Hilfswissenschaften und Archivistik an der Karls-Universität Prag, promovierte 1978 und 1987, habilitierte sich 1995; 2000 Professor für moderne Geschichte; 1978 – 1994 Arbeit im Archiv von Prag. 1995 – 2012; Leiter des Lehrstuhls für deutsche und österreichische Studien, 1997 – 2003 Direktor des Instituts für internat. Studien an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität; seit 2012 Professor für moderne Kulturgeschichte an der Fakultät für Humanistische Studien der Karls-Universität. Tätigkeiten in Deutschland: 1992/93 Gastdozent an der Universität Düsseldorf, 2001/02 an der Universität Göttingen, 2000 – 2012 wiederholt an den Universitäten Bonn und Regensburg. Dauerhafte Zusammenarbeit mit der Universität Wien. 2002 – 2005 Vorsitzender des Tschechischen Historikerverbandes, seit 2003 Mithrsg. der Tschechischen Historischen Zeitschrift, seit 2013 Mitglied der Gelehrten Gesellschaft der Tschechischen Republik. Daneben ist er Mitglied des Collegium Carolinum (München). Forschungsschwerpunkte: Interdisziplinäre Probleme der Kunst-, Kultur- und Sozialgeschichte, Geschichte der Städte, der Universitäten und der Wissenschaft des 16. bis 20. Jahrhunderts, Geschichte der Historiographie, Deutsch-tschechische Geschichte. Homepage: https://ekdd.fhs.cuni.cz/EKDD-32.html E-Mail: [email protected] Andrea Rebb studierte an der Universität zu Köln Germanistik, Philosophie und Erziehungswissenschaft (Staatsexamen 2015). Nach dem Studium forschte sie sechs Monate als Wissenschaftliche Hilfskraft an der Universität zu Köln über Digitale Lesekulturen im Rahmen eines Projektes des Grimme-Forschungskollegs Marl. Durch eine Überbrückungsstelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin gefördert von dem Zukunftskonzept der Universität zu Köln konnte sie ein Dissertationsvorhaben entwerfen, das Grenzfiguren der Kunst entlang der Geschichte der Ästhetik untersucht. Seit 2015 schreibt sie als Journalistin und Redakteurin Beiträge für Medien der DuMont Mediengruppe, seit 2018 ist sie als Redakteurin beim n-tv Nachrichtenfernsehen und als Online-Producerin beim Westdeutschen Rundfunk Köln tätig. E-Mail: [email protected] Christoph Reinprecht ist Professor für Soziologie an der Universität Wien. Seine Forschungen befassen sich mit dem Gestaltwandel des Sozialen und der sozialen Frage insbesondere im Zusammenhang mit den Themen Migration, städtische Lebenszusammenhänge, Wohnen. Ein weiterer Schwerpunkt ist Politische Soziologie. Aktuelle Arbeiten beschäftigen sich mit Aspekten der Geschichte der österreichischen Soziologie, u. a. mit dem Verhältnis von Soziologie und Nationalsozialismus oder der Konstitution des sozialen Felds der empirischen Soziologie in Wien. Rezente Publikation Marxismus im Untergrund. Latenter Marxismus in der österreichischen empirischen Soziologie, hrsg. gemeinsam mit Andreas Kranebitter, Heft 3/2018 der Österreichischen Zeitschrift für Soziologie. Homepage: https://www.soz.univie.ac.at/christoph-reinprecht/ E-Mail: [email protected]
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Lenka Rovná is a Jean Monnet Chair Ad Personam and three times the bearer of Jean Monnet Centre of Excellence in European Studies at Charles University (the first one in Central/Eastern Europe). She is a Vice Rector of Charles University in Prague for European Affairs and a Professor at the Department of European Studies, Faculty of Social Sciences, Charles University. She is publishing and teaching in the field of European Politics and British History and Politics. Prof. PhDr. Lenka Rovná is a member of the Executive Board of Coimbra Group, member of Steering Committee and Academic Council of Europaeum. She is a member of Advisory Board for CERGU (Centre for European Research at Gothenburg University) etc. In 2002 – 2003 Lenka Rovná was an Alternate to the Czech government representative to the Convention on the Future of Europe. Email: [email protected] Jörg Schulte ist seit 2014 Professor für Slavische Literaturen an der Universität zu Köln. Er war von 2003 bis 2005 Aby-Warburg-Fellow am Warburg Institute und unterrichtete anschließend am Zentrum für das Nachleben der klassischen Antike in Mittel- und Osteuropa (OBTA) und an der Fakultät „Artes Liberales“ der Universität Warschau. Für seine Studien zur polnischen Renaissance erhielt den Jan-Kochanowski-Preis für die Jahre 2011 bis 2016. Seine Übersetzungen der Lyrik von Saul Tschernichowsky, die am UCL sowie an der Hebrew University entstanden, erscheinen 2019 in der Edition Rugerup. Er ist Gründer und Koordinator des Doppelmasters „Cultural and Intellectual History between East and West“. Homepage: http://www.slavistik.phil-fak.uni-koeln.de/schulte.html E-Mail: [email protected] Marek Skovajsa studied at Charles University in Prague and York University, UK. He teaches social theory and history of social sciences at Faculty of Humanities, Charles University. He has been editor of Sociologický časopis/Czech Sociological Review, published by the Institute of Sociology, Czech Academy of Sciences. The topics of his research are history of sociology, sociological theories of culture, political culture and democracy. His publications, in English or Czech, include Sociology in the Czech Republic (with J. Balon, 2017), Structures of Meaning: Culture in Contemporary Social Theory (2013), or History, Supercivilization, and Modernity (co-editor with J.P. Arnason and L. Benyovszky, 2010). Homepage: https://cuni.academia.edu/MSkovajsa Email: [email protected] Dennis Smith is Emeritus Professor of Sociology at the School of Social Sciences in Loughborough University, UK. His most recent book, Civilized Rebels. An Inside Story of the West’s Retreat from Global Power (Routledge 2018), is a comparative study of Oscar Wilde, Jean Améry, Nelson Mandela and Aung San Suu Kyi and examines the decline, fall and impact of the British empire. It completes his trilogy on establishments and challengers. The other two works in this trilogy examine struggles within English provincial cities in Victorian times (Conflict and Compromise. Class Formation in England 1830 –1914, Routledge 2016, 2nd ed), and the traumatic aspects of modern global transformations (Globalization. The Hidden Agenda, Polity 2006). He has been editor of Current Sociology and The Sociological Review and is a past Vice-President for Publications, European Sociological Association. For more information see: Website: http://lboro.academia.edu/DennisSmith Email: [email protected]
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Liisa Steinby, Dr. phil., (bis 2007 Liisa Saariluoma), Prof. em. für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Turku, Finnland. 2015 – 2016 Vizepräsidentin, 2017 – 2018 Präsidentin der internationalen Herder-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Romans; Grundlagen der Literaturwissenschaft. Publikationen (Auswahl): Der postindividualistische Roman (1994), Nietzsche als Roman. Über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns „Doktor Faustus“ (1996), Erzählstruktur und Bildungsroman. Wielands „Geschichte des Agathon“, Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (2004), Kundera and Modernity (2013), Bakhtin and His Others. (Inter)subjectivity, Chronotope, Dialogism (Mhrsg., 2013), Narrative Concepts in the Study of Eighteenth-Century Literature (Mhg., 2017). E-Mail: [email protected] Christoph Steker, Jahrgang 1984, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Köln und Prag. Neben wissenschaftlichen Beiträgen in Sammelbänden zählt zu seinen Veröffentlichungen eine Monografie über W. G. Sebald. Er arbeitet als freiberuflicher Lektor in Köln und ist Programmleiter im Düsseldorfer C. W. Leske Verlag für Wissenschaft und Sachbuch. Info und Kontakt unter www.cwleske.de und [email protected]. Jiří Šubrt, Doc. PhDr., b. 1958, studied sociology and economics in the 1980’s at Charles University in Prague. Since 1990 he has lectured at this university at the Faculty of Arts. In 2004 he completed his post-doctoral studies, leading to attaining the position of associate professor. In 2009, he founded and has since been leader of the Department of Historical Sociology at the Faculty of Humanities of Charles University. Over the longer term he has given attention to the issues of time and memory, recently implementing a project focused on the empirical research of the historical consciousness. One of his latest books was published under the title The Perspective of Historical Sociology in 2017 in the UK. Email: [email protected] Csaba Szaló teaches sociology at the Masaryk University, Brno, Czech Republic. He has enduring interest in social theory and cultural sociology. His recent book (Memory of Places. A Cultural Sociology of Remembering. Praha, Slon 2017) states that it is no longer possible to adequately interpret our relationship to the past using the concepts relying on cognitive models of remembering. As a result, phenomenological aesthetics takes on increased importance for the interpretive strategy of cultural sociology. In the last decade he has been actively involved both in the ESA’s Social Theory Research Network (RN29) and the ISA’s Sociological Theory Research Committee (RC16). Homepage: Email: [email protected] Milan Tvrdík, Studium der Germanistik und Bohemistik an der Karls-Universität Prag; 2013 Ernennung zum Professor für Neue Deutsche Philologie. 1992 – 2017 Lehrtätigkeit am Institut für germanische Studien an der Philosophischen Fakultät in Prag, 2000– 2011 sein Vorstand. Seit 2008 Lehraufträge an der Universität zu Köln. Seit 2017 Professor für deutsche Literaturgeschichte am Institut für Germanistik der Pädagogischen Fakultät in Prag. Seit 1999 Vorsitzender der GoetheGesellschaft in der Tschechischen Republik. Zahlreiche Publikationen v. a. zur Geschichte der deutschen und österreichischen Literatur, zur deutschen Literatur in den böhmischen Ländern und zur deutschsprachigen Literatur der Schweiz nach 1945. 2013 wurde ihm das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen. E-Mail: [email protected]
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Nora Walch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Universität Wien. Dabei beschäftigt sie sich mit der Konstitution des sozialen Felds der Soziologie in Wien sowie mit der urbanen Verankerung soziologischen Denkens und Forschens. E-Mail: [email protected] Manfred Weinberg, Studium der Germanistik, Biologie, Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn. Promotion dort 1992. Danach Wechsel an die Universität Konstanz (Postdoc-Stipendiat, wissenschaftlicher Koordinator und Lehrstuhlvertretungen). Ab September 2010 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Karls-Universität Prag. Leiter der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur. Mitglied des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats, des Vorstands der Gesellschaft fü r interkulturelle Germanistik und des Kuratoriums des Adalbert Stifter-Vereins. Mitherausgeber des Handbuchs der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder. Homepage: https://german.ff.cuni.cz/de/personal/manfred-weinberg/ E-Mail: [email protected] Johana Wyss (née Musálková) is a postdoctoral associate at the Institute of Social and Cultural Anthropology, the University of Oxford. The main questions that drive her intellectual curiosity relate to the political use of the past in the present, to possibilities and limits of collective identity formation, and to exploring the most suitable methods and methodological positions to research these areas. Johana completed her doctoral research at the University of Oxford in 2018 with a thesis entitled Silesian Identity: the Interplay of Memory, History and Borders. Home page: www.johanawyss.com Email: [email protected] Štěpán Zbytovský, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für germanische Studien und an der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsche Literatur in Böhmen an der Karls-Universität in Prag. Er promovierte in Prag und Konstanz mit einer Arbeit zur Mythologie-Rezeption in der westdeutschen Prosa der frühen Nachkriegszeit. Zu seinen Forschungsinteressen gehören weiterhin die deutschsprachige Literatur in den Böhmischen Ländern, Problematik der kulturellen Übersetzung und der deutsche Expressionismus. Mit Schamma Schahadat gab er 2016 den Band Übersetzungslandschaften, mit Irina Wutsdorff und Manfred Weinberg 2018 den Band Prager Moderne[n] heraus. Homepage: https://german.ff.cuni.cz/de/personal/stepan-zbytovsky/ E-Mail: [email protected]