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German Pages 457 [458] Year 2016
Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht Band 124 herausgegeben von Rolf Stürner
Matthias Klöpfer
Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Mohr Siebeck
Matthias Klöpfer, geboren 1985; Studium der Rechtswissenschaft in Konstanz; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung der Universität Konstanz.
ISBN 978-3-16-154255-8 ISSN 0722-7574 (Veröffentlichungen zum Verfahrensrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar. © 2016 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck papier gedruckt und gebunden.
Für Paša
Vorwort Die Idee zu vorliegender Arbeit entstand im Laufe meines Studiums an der Universität Konstanz. Das Fehlen eines konsistenten dogmatischen Ansatzes zum Umgang mit missbräuchlichem Verhalten im Europäischen Zivilverfahrensrecht und die methodische Hilflosigkeit in Rechtsprechung und Literatur, forderten eine Arbeit zu diesem Thema geradezu heraus. Im Wintersemester 2014/2015 wurde die Arbeit vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Konstanz als Dissertation angenommen. Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur sind auf dem Stand Frühjahr 2015. Erfreulich war, dass der EuGH in seinem Urteil vom 21.5.2015, Rs. C-352/13, CDC Hydrogen Peroxide zu erkennen gab, dass er die Kernthesen der Arbeit in der Sache vollumfänglich stützt. Mein ganz besonderer Dank gilt meiner Doktormutter, Frau Prof. Dr. Astrid Stadler, die mein Interesse für das Rechtsgebiet weckte und damit maßgeblichen Anteil am Entstehen dieser Arbeit hat. Ihre fachliche Expertise und ihre herzliche Art haben mich den kompletten Schreibprozess über begleitet. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich dem Zweitgutachter der Arbeit, Herrn Professor Dr. Michael Stürner, M.Jur. (Oxford), nicht nur für die zeitnahe Begutachtung, auch für seine stete Diskussionsbereitschaft, die ich immer zu schätzen wusste. Für die Aufnahme der Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe danke ich Herrn Professor Dr. Dres. h.c. Rolf Stürner. Für die finanzielle Unterstützung des Drucks bin ich der Studienstiftung ius vivum und Herrn Professor Dr. Haimo Schack LL.M. (Berkeley) zu Dank verpflichtet. Stets fruchtbar war die Diskussion mit Freunden und Kollegen. Wertvolle Anregungen für vorliegende Arbeit und heitere Stunden an der Universität verdanke ich insbesondere Herrn Alexander Eggers, Herrn Dr. Julian L. Garritzmann, Herrn Dr. Hugo Z. Hackenbusch, Herrn Jonas Kotzur, Herrn Dr. Christoph Wendelstein und dem gesamten Lehrstuhlteam. Schließlich danke ich meiner gesamten Familie, allen voran meinen lieben Eltern, Christa und Hermann R. Klöpfer, für ihre immerwährende, gütige Unterstützung und Förderung. Gewidmet ist die Arbeit schließlich einer außergewöhnlichen Person, die mich immer wieder neu begeistert und beeindruckt und der ich nicht genug danken kann. Konstanz, im Dezember 2015
Dr. Matthias Klöpfer
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... VII Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XIX
Einleitung ................................................................................................... 1 § 1 Ausgangslage .......................................................................................... 2 A. Harmonisierung des Europäischen Zivilverfahrensrechts .......................... 6 B. Diskrepanzen ............................................................................................ 8 C. Bisherige Ansätze ....................................................................................11 § 2 Methodik.................................................................................................13 A. Untersuchungsgegenstand ........................................................................13 I. Begrifflicher Ansatz ..........................................................................13 II. Ansetzen an der Reichweite des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ...............................................................................................14 III. Missbrauch als Problem der Rechtsanwendung..................................15 1. Simulation ....................................................................................15 2. Betrügerisches Vorverhalten ........................................................17 3. Missbrauchsverhinderung und Billigkeit ......................................18 IV. Europäisches Zivilverfahrensrecht .....................................................19 V. Interparteilicher Missbrauch ..............................................................20 B. Notwendigkeit der Rechtsvergleichung ....................................................20 § 3 Gang der Darstellung .............................................................................22
Kapitel 1: Missbrauchsverhinderung im nationalen Recht und im Unionsrecht ................................................................................23 § 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht .............24 A. Rechtsmissbrauch ....................................................................................25
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I. Rechtsgeschichtliche Grundlagen ......................................................26 1. Exceptio doli, (bona) fides und aequitas im römischen Recht .......26 2. Geltung der exceptio doli generalis unter dem BGB .....................28 3. Die Rechtsmissbrauchslehre in der Zeit des Nationalsozialismus ...................................................................................29 II. Das Rechtsmissbrauchsverbot und § 242 BGB ..................................30 1. Struktur ........................................................................................31 a) Abgrenzung zu anderen Fragenkomplexen und Subsidiarität des Rechtmissbrauchsverbots ..................................................32 b) Interessenabwägung ................................................................34 c) Relevanz subjektiver Elemente ...............................................35 d) Innentheorie ............................................................................36 e) Individueller und institutioneller Rechtsmissbrauch ................36 2. Fallgruppen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens ...........................38 a) Unredlicher Rechtserwerb/Vereiteln des Rechtserwerbs des anderen Teils ...........................................................................38 b) Fehlendes schutzwürdiges Eigeninteresse ...............................39 c) Grobe und rücksichtslose Rechtsverfolgung............................41 d) Venire contra factum proprium bzw. sonstige Widersprüchlichkeit zu vorangegangenem Verhalten ..................................41 3. Rechtsfolge ..................................................................................42 III. Rechtsmissbrauch in anderen europäischen Rechtsordnungen ...........43 1. Frankreich ....................................................................................43 a) Ausschluss bestimmter droits absolus? ...................................45 b) Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines abus de droit ...........47 c) Verhältnis des abus de droit zur Auslegung ............................49 d) Verhältnis zur anderen Lösungsansätzen .................................49 2. England ........................................................................................51 a) Individualistischer Ansatz des Common Law..........................52 b) Funktionale Äquivalente zu einem Rechtsmissbrauchsverbot......................................................................................53 IV. Zusammenfassung .............................................................................55 B. Gesetzesumgehung ..................................................................................57 I. Struktur von Umgehungsvorgängen ...................................................59 1. Umgehen und Erschleichen von Rechtsnormen ............................60 2. Erschleichen von Rechtsnormen ...................................................60 3. Gesetzesumgehung als Frage der Rechtsgeltung ...........................61 4. Umgehungsobjekte .......................................................................62 5. Rechtsbereiche .............................................................................63 II. Auflösung von Umgehungssachverhalten in der deutschen Methodenlehre ........................................................................................64 1. Auslegung und Analogie als Lösungsansatz .................................64 a) Prüfungsschritte ......................................................................65
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b) Abgrenzung zwischen erlaubter Tatbestandsplanung und unzulässiger Gesetzesumgehung .............................................66 c) Bedeutung von Umgehungsverboten für die Lösung von Umgehungsfällen ....................................................................67 d) Missbräuchlichkeit des Umgehungsverhaltens irrelevant; Konkurrenz von Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauchsverbot ......................................................................................68 2. Umgehungsabsicht .......................................................................71 a) Umgehungsabsicht als Abgrenzungskriterium zwischen zulässigem und unzulässigem Verhalten? ................................73 b) Absicht zur Verwirklichung eines sog. Gesamtplans und Umgehungsabsicht ..................................................................74 c) Modifikation von Auslegung und Analogiebildung aufgrund subjektiver Momente? .............................................................76 d) Restwert des Subjektiven in Umgehungsfällen ........................78 3. ‚Rechtsfolge‘ einer Gesetzesumgehung ........................................79 III. Gesetzesumgehung in anderen europäischen Rechtsordnungen .........80 1. Frankreich ....................................................................................80 a) Anwendungsvoraussetzungen der fraude à la loi .....................81 b) Einheitliche Betrachtungsweise des Umgehungsvorgangs.......82 c) Verhältnis der fraude à la loi zur Auslegung ...........................83 d) Abgrenzung zu anderen Lösungsansätzen ...............................86 2. England ........................................................................................87 a) Struktur des Common Law und Gesetzesumgehung ................87 b) Der zweckorientierte Ansatz bei der Auslegung von statutory law ..........................................................................................89 c) Public policy als Schranke ......................................................91 IV. Zusammenfassung .............................................................................91 § 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht..............................................93 A. Unionsrechtliches Missbrauchsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz ......................................................................................94 I. Induktive Ableitung des Missbrauchsverbots .....................................95 1. Analogie und Induktion ................................................................96 2. Induktionsgrundlage .....................................................................96 II. Rechtsprechung des EuGH ................................................................98 1. Umgehungsfälle ......................................................................... 100 2. Erschleichungsfälle .................................................................... 103 3. Missbräuchliche Rechtsausübung ............................................... 106 III. Primär- und Sekundärrecht .............................................................. 108 1. Ableitung aus geschriebenem Unionsrecht ................................. 108 2. Wettbewerbsregeln, Art. 101 ff. AEUV ...................................... 109
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3. Nichtigkeitsklage wegen Ermessensmissbrauchs, Art. 263 Abs. 2 AEUV ............................................................................. 110 4. Richtlinien und Verordnungen ..................................................... 111 IV. Analyse des Fallmaterials: Allgemeingültiges Missbrauchsverbot ... 113 1. Ableitung durch den EuGH ........................................................ 113 a) Abstrakt-genereller Missbrauchsbegriff ................................ 114 b) Verweisungstechnik .............................................................. 115 c) Anerkennung des Missbrauchsverbots in der Praxis .............. 117 d) Unionsrechtliches Missbrauchsverbot als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts .................................................. 117 2. Terminologische Vielfalt in der EuGH-Rechtsprechung ............. 118 V. Zwischenergebnis ............................................................................ 121 B. Erscheinungsformen von Missbrauch in der Rechtsprechung des EuGH .................................................................................................... 122 I. Vermeiden nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht .......... 122 II. Vermeiden von Unionsrecht ............................................................ 123 III. Erschleichen .................................................................................... 126 IV. Missbräuchliche Rechtsausübung .................................................... 126 C. Voraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ................. 128 I. Formales Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ...................... 129 1. Grundlagen der Auslegung von Unionsrecht .............................. 130 a) Der sog. teleologische Ansatz des EuGH .............................. 131 b) Die politische Dimension des teleologischen Ansatzes ......... 133 2. ‚Eindeutiger‘ Wortlaut und Hierarchie von Auslegung und Missbrauchsverbot hinsichtlich dessen Anwendungsvoraussetzungen ......................................................................... 135 3. Zusammenspiel von Auslegung und Missbrauchsverbot ............. 138 a) Effet utile und Anwendungsvorrang von Unionsrecht als limitierende Faktoren missbrauchsorientierter Auslegung ..... 140 b) Trennung von allgemeingültiger Auslegung und einzelfallbezogener Rechtsanwendung ................................................ 144 c) Kompetenzverteilung zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten ................................................ 146 4. Zwischenergebnis ....................................................................... 148 II. Zweckwidrigkeit der Rechtsanwendung........................................... 149 1. Einbeziehung primärrechtlicher Wertungen und Strukturprinzipien ...................................................................... 150 2. Die Bedeutung des Zweckwidrigkeitskriteriums für die Fälle missbräuchlicher Rechtsausübung .............................................. 150 3. Die Bedeutung des Zweckwidrigkeitskriteriums in Fällen des Umgehens und des Erschleichens von Rechtsnormen ................. 151 III. Missbrauchsabsicht .......................................................................... 152 1. Ableitung der Missbrauchsabsicht aus objektiven Umständen .... 153
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a) Künstlichkeit der Gestaltung und weitere Indizien ................ 154 b) Interessenabwägung .............................................................. 157 2. Ermittlungsschwierigkeiten? ...................................................... 157 3. Subjektives Element als Schutz vor ausschweifender Anwendung ................................................................................ 158 4. Verbindungslinien zwischen Zweckwidrigkeit und Künstlichkeit .............................................................................. 159 5. Unterschiedliche Bedeutung der Missbrauchsabsicht ................. 160 IV. Beweislastfragen.............................................................................. 161 D. Abwägung mit widerstreitenden Prinzipien ........................................... 162 E. Wirkungen des Missbrauchsverbots ....................................................... 165 I. Sachlicher Wirkungsbereich ............................................................ 165 1. Unmittelbare Wirkung im Gleichordnungssystem ...................... 166 2. Public/private-divide und Europäisches Zivilverfahrensrecht ..... 167 3. Zwischenergebnis ....................................................................... 168 II. Persönlicher Wirkungsbereich ......................................................... 169 1. Subjektiv-rechtliche Dimension ................................................. 169 2. Reichweite erga omnes? ............................................................. 170 III. Wirkungsweise ................................................................................ 171 1. Verhältnis zu nationalen Ansätzen der Missbrauchsverhinderung .............................................................................. 171 2. Referenzmodell: Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch .. 172 F. Zusammenfassung .................................................................................. 174
Kapitel 2: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht ..175 § 6 Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht ................................................................................... 176 A. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ................................................................................... 176 B. Hinweise in Rechtsprechung und geschriebenem Recht zur Vereinbarkeit von Missbrauchsverhinderung und Europäischem Zivilverfahrensrecht .............................................................................. 178 I. Rechtsprechung des EuGH .............................................................. 178 1. MSG, Réunion européenne, Kalfelis, AS-Autoteile, Kiesel Baumaschinen, Solvay, Painer, Rinau und Agguire Zarraga ....... 179 2. Die Gasser-Entscheidung des EuGH als bedingungsloser Ausschluss von Missbrauchserwägungen im Europäischen Zivilverfahrensrecht? ................................................................. 180 a) Beschränkte Wirkung von Obiter dicta ................................. 181 b) Klägerverhalten in Gasser kein offensichtlicher Missbrauch . 183
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c) Vorbehalte gegenüber einer willkürlichen Abweichung von Unionsrecht ........................................................................... 183 II. Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts ...................... 185 C. Praxistauglichkeit: Rückschlüsse aus der Behandlung von Verfahrensmissbrauch in einigen europäischen Zivilverfahrensrechten .................. 187 I. Deutsches Recht .............................................................................. 188 1. Verhinderung von Gesetzesumgehung........................................ 189 2. Individueller Rechtsmissbrauch .................................................. 189 II. Andere europäische Zivilverfahrensrechtsordnungen ....................... 191 1. Frankreich .................................................................................. 192 2. England ...................................................................................... 194 D. Notwendigkeit der Übertragung ............................................................. 195 I. Anwendung nationaler Missbrauchsverhinderungsmechanismen? ... 196 1. Regelungsanspruch des Unionsrechts und effet utile .................. 196 2. Ausdrückliche Vorbehalte zugunsten der lex fori ....................... 198 3. Kein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip ............................. 200 II. Anwendung einer europäischen Lehre vom Rechtsschutzbedürfnis? ........................................................................................ 200 1. Kein belastbares Konzept einer unionsrechtlichen Lehre vom Rechtsschutzbedürfnis ................................................................ 201 2. Unterschiedliche Zielrichtung von Missbrauchsverbot und Rechtsschutzbedürfnis ................................................................ 201 III. Anwendung von EMRK und Grundrechte-Charta ausreichend?....... 202 E. Zusammenfassung .................................................................................. 205 § 7 Vereinbarkeit des Missbrauchsverbots mit Grundprinzipien des Europäischen Zivilverfahrensrechts ........................................................... 207 A. Prüfungsmaßstab und Möglichkeit kontextbezogener Anwendung von Verfahrensgarantien .............................................................................. 208 I. Effet utile kein Prüfungsmaßstab ..................................................... 209 II. Relativität verfahrensrechtlicher Rechte in der neueren EuGHRechtsprechung ............................................................................... 211 1. Gambazzi – Hypoteční banka – de Visser................................... 211 2. Bewertung der neueren EuGH-Rechtsprechung .......................... 213 3. Interessenjurisprudenz und Internationales Zivilverfahrensrecht 214 B. Rechtssicherheit ..................................................................................... 217 I. Rechtssicherheit im allgemeinen unionsrechtlichen Diskurs ............ 219 II. Verfahrensrechtliche Notwendigkeit klarer Strukturen und der Zweck des Zivilverfahrens ............................................................... 221 III. Der Rang der Rechtssicherheit im deutschen Zivilverfahrensrecht... 223 1. Die sog. ‚Formenstrenge‘ im deutschen Zivilverfahrensrecht ..... 224
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2. Das Konzept ‚strenger‘ Rechtsnormen und das Rechtsmissbrauchsverbot ............................................................................. 225 IV. Die Abkopplung des Europäischen Zivilverfahrensrechts ................ 227 1. Verwerfungen zwischen mitgliedstaatlichem und Europäischem Zivilverfahrensrecht ............................................ 228 2. Verwerfungen im Unionsrecht selbst: Steuerrecht ...................... 229 V. Unterfall des Rechtssicherheitsgrundsatzes: Vorhersehbarkeit gerichtlicher Zuständigkeiten ........................................................... 231 1. Maßstab für vorhersehbare Zuständigkeiten: Die HandteEntscheidung des EuGH ............................................................. 232 2. Friktionen von Missbrauchsverhinderung und vorhersehbaren Zuständigkeiten .......................................................................... 232 3. Missbrauchsvarianten im Zuständigkeitsrecht ............................ 233 a) Motive für Zuständigkeitsmissbrauch ................................... 235 b) Missbräuchliches forum shopping ......................................... 237 c) Zuständigkeitserschleichung ................................................. 241 d) Fehlende Präzision in der gebräuchlichen Abgrenzung beider Phänomene ................................................................. 247 4. Kontextbezogene Aktualisierung des Vorhersehbarkeitsarguments ................................................................................... 251 5. Ablehnung der forum non conveniens-Lehre durch den EuGH als Argument gegen die Anwendung des Missbrauchsverbots? .. 252 a) Gefahr uneinheitlicher Anwendung und effet utile ................ 253 b) Argument der Rechtssicherheit aus Owusu kein Hindernis für Anwendung des Missbrauchsverbots ............................... 256 6. Forum non conveniens-Erwägungen im geltenden Europäischen Zivilverfahrensrecht ............................................. 256 7. Die tatsächliche Vorhersehbarkeit von Gerichtsständen nach der Rechtsprechung des EuGH ........................................... 258 a) Die Rechtssache Gruber ........................................................ 259 b) Die sog. Tessili-Formel ......................................................... 259 c) Erfüllungsort im Sinne des Art. 7 Nr. 1 EuGVVO ................ 260 d) Persönlichkeitsrechtsverletzungen über das Internet ............. 260 8. Öffentliches Interesse an vorhersehbaren Zuständigkeiten? ........ 261 9. Verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Aspekt ................. 262 VI. Zwischenergebnis ............................................................................ 263 C. Gegenseitiges Vertrauen ........................................................................ 265 I. Positive Komponente ....................................................................... 268 II. Negative Komponente ..................................................................... 269 1. Verbot der Pauschalisierung ....................................................... 270 a) Überlange Verfahrensdauer in einem bestimmten Mitgliedstaat ...................................................................................... 270
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b) Auswirkungen auf die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ............................................................... 271 2. Einmischungs- bzw. Bevormundungsverbot ............................... 272 a) Verbot sog. anti-suit injunctions als spezielle Ausprägung .... 273 b) Auswirkungen auf die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ............................................................... 275 III. Gegenseitiges Vertrauen als Postulat ............................................... 278 1. Wirkung des Grundsatzes zum Nachteil von Verfahrensbeteiligten? ................................................................................. 280 a) Völkerrechtliche Verpflichtung zu Lasten von Privatrechtssubjekten? ............................................................................. 281 b) Gegenseitiges Vertrauens kein Selbstzweck .......................... 282 2. Vertrauen durch Kontrolle .......................................................... 283 IV. Relativierung bzw. Modifikation des Vertrauensgrundsatzes ........... 286 1. Legislatives ................................................................................ 286 a) Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO ............................................. 287 b) Beibehaltung bzw. Ausweitung der Rügemöglichkeiten bei der Vollstreckung ausländischer Titel unter der reformierten EuGVVO .............................................................................. 289 2. Judikatives ................................................................................. 291 a) Die Entscheidung in Sachen Gothaer Allgemeine ................. 291 b) Entscheidung in der Rechtssache Weber und die Vorlage in der Rechtssache Weitkämper-Krug ................................... 293 V. Zwischenergebnis ............................................................................ 300 D. Vermeidung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen . 303 I. Streitpunkt: Torpedoklagen ............................................................. 304 II. Die Risikobereitschaft von Gerichtshof und Gesetzgeber ................ 305 III. Zwischenergebnis: Die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit Interesse an der Verhinderung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen ....................................... 306 1. Das zuerst angerufene Gericht ist unzuständig ........................... 307 2. Das zuerst angerufene Gericht ist an sich zuständig ................... 307 E. Einheitliche Anwendung von Unionsrecht ............................................. 309 I. Allgemeingültigkeit des Gebots und Notwendigkeit einheitlicher Methodik ........................................................................................... 309 II. Besonderes Bedürfnis nach einheitlicher Anwendung im Europäischen Zivilverfahrensrecht .......................................................... 310 1. Status quo: Divergierende nationale Ansätze zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch ......................................................... 311 2. Vorzüge eines unionseinheitlichen Konzepts .............................. 312 III. Zwischenergebnis: Die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit dem Gebot einheitlicher Anwendung von Unionsrecht ............................................................................... 313
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F. Zusammenfassung: Die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit Grundprinzipien des Europäischen Zivilverfahrensrecht .............................................................................. 313
Kapitel 3: Einzelne Missbrauchsgestaltungen ............................... 315 § 8 Zuständigkeitserschleichung ................................................................. 316 A. Art. 8 Nr. 2 EuGVVO: Gerichtsstand der Gewährleistungs- und Interventionsklage ................................................................................. 317 B. Art. 8 Nr. 1 EuGVVO: Gerichtsstand der Streitgenossenschaft .............. 320 I. Missbrauchsverhinderung durch Konnexität? .................................. 321 II. Bedürfnis bzw. Möglichkeit für eine weitergehende Missbrauchsverhinderung? .................................................................................. 322 1. Übertragung des Missbrauchsvorbehalts aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO? .................................................................................. 326 2. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ............. 328 a) Zweckwidrigkeit ................................................................... 329 b) Missbrauchsabsicht ............................................................... 329 III. Zusammenfassung ........................................................................... 330 C. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Provokation eines Schadens .............................. 331 I. Die Linie der deutschen Rechtsprechung ......................................... 332 1. Testbestellungen im materiellen Recht ....................................... 332 2. Übertragung des materiell-rechtlichen Maßstabs auf § 32 ZPO .. 332 3. Unzulässig: Übertragung eines nationalen Maßstabs auf Art. 7 Nr. 2 EuGVVO........................................................................... 333 II. Die Entscheidung der Cour de cassation vom 25. März 2009........... 335 III. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ................... 336 1. Zweckwidrigkeit ........................................................................ 337 a) Künstliche Gestaltungen ....................................................... 338 b) Die Funktion des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO im Gesamtsystem der EuGVVO ........................................................................ 338 c) Fehlende Schutzwürdigkeit des Klägers ................................ 339 d) Zwischenergebnis ................................................................. 340 2. Missbrauchsabsicht .................................................................... 342 IV. Zusammenfassung ........................................................................... 342 D. Zuständigkeitserschleichung durch Verlegung anknüpfungsrelevanter Tatsachen in den Gerichtsstaat .............................................................. 342 I. Insolvenz- bzw. Restschuldbefreiungstourismus .............................. 343 II. Verschieben von Nachlassvermögen, Art. 10 EuErbVO .................. 345 1. Art. 10 EuErbVO im Gesamtsystem der Verordnung ................. 345 2. Unbeschränktheit des Vermögensbegriffs .................................. 347
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a) Unbeschränktheit in zeitlicher Hinsicht................................. 347 b) Unbeschränktheit in nomineller Hinsicht .............................. 348 3. Hinreichender Inlandsbezug als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal? ................................................................................... 349 4. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ............. 350 a) Zweckwidrigkeit ................................................................... 350 b) Missbrauchsabsicht ............................................................... 351 5. Zusammenfassung ...................................................................... 352 § 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte .................... 354 A. Torpedoklagen ....................................................................................... 355 I. Alternative Lösungsvorschläge ........................................................ 356 1. Verteidigung vor dem zuerst angerufenen Gericht ...................... 356 2. Einstweiliger Rechtsschutz ......................................................... 357 3. Modifikation des Streitgegenstandsbegriffs im Europäischen Zivilverfahrensrecht ................................................................... 358 4. Lösungsvorschläge bei Verstoß gegen ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen .................................................... 359 5. Verfahren nach Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO .......................... 359 6. Schadenersatzanspruch bei Verletzung einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung ........................................................ 363 II. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ................... 365 1. Zweckwidrigkeit ........................................................................ 366 2. Missbrauchsabsicht .................................................................... 367 III. Exkurs: Zulässigkeit von anti-suit injunctions in der reformierten EuGVVO? ....................................................................................... 367 IV. Zusammenfassung ........................................................................... 369 B. Missbräuchliches forum shopping .......................................................... 370 I. Der Grundsatz freier Zuständigkeitswahl ......................................... 370 II. Anwendungsfeld: beziehungsarme Gerichtsstände........................... 371 III. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ................... 372 1. Zweckwidrigkeit ........................................................................ 372 2. Missbrauchsabsicht .................................................................... 373 IV. Zusammenfassung ........................................................................... 374
Ergebnisse ............................................................................................... 375 Conclusion .............................................................................................. 381 Literaturverzeichnis ................................................................................... 387 Entscheidungsverzeichnis .......................................................................... 421 Stichwortverzeichnis ..................................................................................430
Abkürzungsverzeichnis a.A. ABl. Abs. AC AcP a.E. AEUV a.F. AG Ala. All ER Anm. AO AöR ArbG ArbGG Art./Artt. Aufl. AUR AW-Prax
andere(r) Ansicht Amtsblatt der Europäischen Union/Gemeinschaften Absatz; Absätze(n) Appeals Cases (The Law Reports) Archiv für die civilistische Praxis am Ende Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Die Aktiengesellschaft Alabama State Reporter All England Law Reports Anmerkung Abgabenordnung Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsgericht Arbeitsgerichtsgesetz Artikel; Article Auflage Agrar- und Umweltrecht Außenwirtschaftliche Praxis
BAG BAGE BauR BB Bd. BeckRS Begr. Beschl. BFH BFHE BGB BGBl. BGH BGHSt BGHZ Brüssel I-VO Bull. civ. bzw.
Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Zeitschrift für das gesamte öffentliche und zivile Baurecht Betriebsberater Band Beck-Rechtsprechung Begründer; Begründerin Beschluss Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen siehe EuGVVO Bulletin des Arrêts Chambre civiles beziehungsweise
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Abkürzungsverzeichnis
Cass. req. CC CDE Ch Civ. C.L.J. C.L.S.Rev. C.L.P. Clunet C.M.L.R. Cornell Int’l L.J.
Chambre des requêtes de la Cour de cassation française Code Civil des Français Cahiers de Droit Européen The Law Reports, Chancery Division Cour de cassation française The Cambridge Law Journal Computer Law & Security Review Current Legal Problems Journal de droit international Common Market Law Review Cornell International Law Journal
D. DB ders. dies. d.h. dms DStR DStRE
Recueil (de jurisprudence) Dalloz Der Betrieb derselbe dieselbe; dieselben das heißt der moderne staat Deutsches Steuerrecht DStR-Entscheidungsdienst
E.B.L.R. EBOR ECJ EC T.J. E.D. Ark. EG EGV Einl. EGKS EGMR EJCL ELJ ELR E.L.Rev. EMRK
European Business Law Review European Business Organization Law Review European Court of Justice EC Tax Journal Eastern District of Arkansas Europäische Gemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Electronic Journal of Comparative Law European Law Journal European Law Reporter European Law Review Europäische Menschenrechtskonvention 4.11.1950, zuletzt geändert durch Protokoll Nr. 14 vom 13.5.2004 m.W.v. 1.6.2010 European Review of Private Law European Taxation Europäische Union Verordnung (EG) Nr. Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000, ABl. L 338 v. 23.12.2003, S. 1 Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und
E.R.P.L. ET EU EuEheVO
EuErbVO
Abkürzungsverzeichnis
EuG EuGFVO
EuGVÜ
EuGV(V)O a.F.
EuGVVO
EuGH EuInsVO EuLF EuMahnVO
EuKPfVO
EuR EuUnthVO
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euvr EuVTVO
XXI
Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, ABl. L 201 v. 27.7.2012, S. 107 Europäisches Gericht Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, ABl. Nr. L 199 v. 11.7.2007, S. 1 Brüsseler EWG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 27. September 1968, BGBl. 1972 II, S. 774, in der Fassung des 4. Beitrittsübereinkommens vom 29. Dezember 1996, BGBl. 1998, S. 1412 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Zivilund Handelssachen vom 22. Dezember 2000, ABl. L 12 v. 16.1.2000, S. 1 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Zivilund Handelssachen, ABl. L 351 v. 20.12.2012, S. 1. Europäischer Gerichtshof Verordnung (EG) Nr. 1364/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren, ABl. L 160 v. 30.6.2000, S. 1 The European Legal Forum (Zeitschrift) Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2016 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. L 399 v. 12.12.2006, S. 1 Verordnung (EU) Nr. 655/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur zur Einführung eines Verfahrens für einen Europäischen Beschluss zur vorläufigen Kontenpfändung im Hinblick auf die Erleichterung der grenzüberschreitenden Eintreibung von Forderungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 189 v. 27.6.2015, S. 59 Europarecht (Zeitschrift) Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen, ABl. L 7 v. 10.1.2009, S. 1 Vertrag über die Europäische Union, Fassung aufgrund des am 1.12.2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon, ABl. EG Nr. C 115 vom 9.5.2008, S. 13 Zeitschrift für Europäisches Unternehmens- und Verbraucherrecht Verordnung (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. L 143 v. 30.4.2004, S. 15
XXII EuZW EVÜ
Abkürzungsverzeichnis
EWCA Civ EWG EWiR EWS
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Übereinkommen von Rom über das auf Schuldverträge anwendbare Recht vom 19. Juni 1980, konsolidierte Fassung, ABl. L 27 v. 26.1.1998, S. 34 Court of Appeal of England and Wales, Civil Division Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht
FamRZ f., ff. F.Supp. FG Fn. fn Fordham Int’l L.J. FR FS
Zeitschrift für das gesamte Familienrecht folgende Federal Supplement Finanzgericht Fußnote; Fußnoten footnote; footnotes Fordham International Law Journal Finanz-Rundschau Festschrift
GA GG GJA GKG GmbH GmS-OGB GPR Grundrechte-Charta
GS GSZ GVG
Generalanwalt; Generalanwältin Grundgesetz Global Jurist Advances Gerichtskostengesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht Charta der Grundrechte der Europäische Union, ABl. C 364 v. 18.12.2000, S. 1. Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Internationaler Teil Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht RechtsprechungsReport Gedächtnisschrift Großer Senat in Zivilsachen Gerichtsverfassungsgesetz
Harv.L.Rev. h.M. Hrsg. hrsg.
Harvard Law Review herrschende Meinung Herausgeber herausgegeben
ICLQ i.E. IHR IJPL IIC
International & Comparative Law Quarterly im Ergebnis Internationales Handelsrecht International Journal of Procedural Law International Review of Intellectual Property and Competition Law University of Illinois Law Review Praxis des Internationalen Privat und Verfahrensrechts
GRUR Int. GRUR-RR
Ill.L.Rev. IPRax
Abkürzungsverzeichnis IPRspr
XXIII
i.R.d. i.S.d. IStR i.Ü. i.V.m.
Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts im Rahmen der; im Rahmen des im Sinne des Internationales Steuerrecht im Übrigen in Verbindung mit
JA JbItalR JBPR J.C.P. JIR J. Priv. Int. L. I.R.L.C.T JRP JuS Jura JZ
Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch für Italienisches Recht Jurisprudentie Burgerlijk Procesrecht Juris-Classeur périodique – La Semaine Juridique Jahrbuch für Internationales Recht Journal of Private International Law International Review of Law, Computers & Technology Journal für Rechtspolitik Juristische Schulung Juristische Ausbildung Juristen Zeitung
Kap. KG KTS krit.
Kapitel Kammergericht Zeitschrift für Insolvenzrecht kritisch(e)(er)(en)
LAG LCP LG L.I.E.I. lit. LMK L.Q.R. LS.
Landesarbeitsgericht Law and Contemporary Problems Landgericht Legal Issues of Economic Integration Litera/Buchstabe Kommentierte BGH-Rechtsprechung Law Quarterly Review Leitsatz
m. m. (zust./krit.) Anm. McGill L.J. MDR m.E. Merkourios-Utrecht J.Int'l & Eur. L. MMR m.w.N.
mit mit (zustimmender/kritischer) Anmerkung McGill Law Journal Monatsschrift für deutsches Recht meines Erachtens Merkourios-Utrecht Journal of International and European Law
n.F. NIPR NJOZ NJW Nr.
neue Fassung Nederlands Internationaal Privaatrecht Neue Juristische Online-Zeitschrift Neue Juristische Wochenschrift Nummer(n)
Multimedia und Recht mit weiteren Nachweisen
XXIV
Abkürzungsverzeichnis
NVwZ-RR N.Y.U.J.Int'l Law & Pol. NZA NZI
NVwZ-Rechtsprechungs-Report N.Y.U. Journal of International Law and Politics Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung
OGH OLG OVG Ox.J.L.S.
(Österreichischer) Oberster Gerichtshof Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Oxford Journal of Legal Studies
p., pp. Pace Int’l L.Rev. PPU
page, pages Pace International Law Review Procédure préjudicielle d'urgence
RabelsZ recht RegE Rev. crit DIP Revenue LJ RG RGBl. RGZ RIW RL Rn. Rom I-VO
Rabels Zeitschrift für auslaendisches und internationales Privat-
Rom II-VO
Rs. Rspr. s. S.
Slg. So. s.o. sog. Sp. s.u. StGB StPO
Regierungsentwurf Revue critique de droit international privé Revenue Law Journal Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer(n) Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. L 177 v. 4.7.2008, S. 6 Verordnung (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht ("Rom II"), ABl. L 199 v. 31.7.2007, S. 40 Rechtssache(n) Rechtsprechung siehe Seite(n); Satz; Recueil Sirey bzw. Recueil général des lois etdes arrêts en matière civile, cirminelle, commerciale et de droit public Amtliche Entscheidungssammlung des Europäschen Gerichtshofs Southern Reporter siehe oben sogenannte(m)/(n)/(r) Spalte siehe unten Strafgesetzbuch Strafprozessordnung
Abkürzungsverzeichnis
XXV
StuW
Steuer und Wirtschaft
Trav. comité fr. DIP Tul.L.Rev. Tul.J.Int'l & Comp.L. TzBfG
Travaux du comité français de droit international privé Tulane Law Review Tulane Journal of International and Comparative Law Teilzeitbefristungsgesetz
u. u.a. Unterabs. UR Urt. UStG
und unter anderem Unterabsatz Umsatzsteuer-Rundschau Urteil Umsatzsteuergesetz
v(.) verb. Rs. vgl. VO Vol. Vorbem. vs.
vom; von; versus verbundene Rechtssachen vergleiche Verordnung Volume Vorbemerkung(en) versus
WLR WM WRP
Weakly Law Reports Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht Wettbewerb in Recht und Praxis
Yale L.J. Yrbk.Priv.Int’l L. YEL
The Yale Law Journal Yearbook of Private International Law Yearbook of European Law
z.B. ZEuP ZEV ZfZ ZGB Ziff. ZInsO ZIP zit. zust. ZVG ZVglRWiss ZVI ZZP
zum Beispiel Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Erbrecht und Vermögensnachfolge Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern Zivilgesetzbuch Ziffer Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert zustimmend Gesetz über die Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft Zeitschrift für Verbraucherinsolvenzrecht Zeitschrift für Zivilprozess bzw. vor dem 63. Jahrgang 1943: Zeitschrift für deutschen Zivilprozess Zeitschrift für Zivilprozeß International
ZZPInt
Einleitung
„Andererseits muß jede Rechtsordnung, die den Anspruch auf ein Mindestmaß an Vollständigkeit erhebt, Maßnahmen, die ich als Selbstschutzmaßnahmen bezeichnen möchte, enthalten, um zu verhindern, daß die in ihr begründeten Rechte mißbräuchlich, exzessiv oder sachwidrig ausgeübt werden. Dieses Erfordernis ist dem Gemeinschaftsrecht keineswegs fremd, ist es doch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes mehrmals anerkannt worden.“ Generalanwalt Tesauro, Schlussanträge v. 4.2.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1998, I-2843, 2856, Nr. 24.
§ 1 Ausgangslage Ausgangslage
Wer nach der Missbrauchsanfälligkeit des Europäischen Zivilverfahrensrechts fragt, erhält in aller Regel eine positive Antwort. Bei der Erörterung des Status quo geizt man nicht mit Beispielen, in denen das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten als missbräuchlich, arglistig, betrügerisch oder sonst wie ungehörig bezeichnet wird. Dabei geht der allgemeine Konsens dahin, dass Derartiges bei einer Inanspruchnahme der europäischen Vorschriften ebenso unzulässig sein müsse, wie dies nach dem Recht der Mitgliedstaaten der Fall sei. Wer daran anschließend nach einer Begründung für diese Einschätzung fragt, wird zumeist enttäuscht. Ein oft genannter Klassiker für missbräuchliches Verhalten im Europäischen Zivilverfahrensrecht ist die sog. Torpedoklage1:2 Um die Rechtsverfolgung durch einen Gläubiger im Inland zu verzögern, erhebt der Schuldner prä-
1 Der Begriff geht zurück auf Franzosi, 7 EIPR (1997) 382: „Worldwide Patent Litigation and the Italian Torpedo“. 2 Vgl. aus der Vielzahl an Monographien und Aufsätzen: Carl, Torpedoklagen, passim; Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, passim; Andrews, GPR 2005, 8; Fentiman, 42 C.M.L.R. (2005) 241; Grothe, IPRax 2004, 205; ders., IPRax 2004, 205; Leitzen, GRUR Int. 2004, 1010; Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55; Otte, ZZPInt 8 (2003), 521; Véron, IIC 2004, 638.
§ 1 Ausgangslage
3
ventiv eine negative Feststellungsklage vor einem überlasteten, langsam arbeitenden – unzuständigen – Gericht im Ausland.3 Wegen des weiten Streitgegenstandsbegriffs im Europäischen Zivilverfahrensrecht4 sperrt die Rechtshängigkeit dieser Klage eine legitime Leistungsklage des Gläubigers im Inland im Regelfall auf mehrere Jahre. Der auf den Gläubiger hierdurch aufgebaute Vergleichsdruck ist erheblich.5 Ein ebenfalls häufig angeführtes Beispiel für missbräuchliches Verhalten ist auch die sog. Zuständigkeitserschleichung. Dabei werden im Gerichtsstaat die Anknüpfungsmomente einer Zuständigkeitsregel verändert oder geschaffen, um gezielt eine Zuständigkeit zu begründen.6 Die Unzulässigkeit derartigen Verhaltens wird im Europäischen Zivilverfahrensrecht gewöhnlich in Zusammenhang mit Art. 8 Nr. 1 EuGVVO7 erörtert. Diese
3 Als besonders attraktiv haben sich in der Vergangenheit die Gerichte Italiens erwiesen. Auch wenn man in der Diskussion aus deutscher Sicht Vorsicht walten lassen muss (vgl. G.P. Calliess, Der Richter im Zivilprozess, S. A 53 ff.), zeigt sich in Gerichtsentscheidungen doch immer wieder, dass schon eine bloße Zuständigkeitsprüfung vor italienischen Gerichten erhebliche Zeit in Anspruch nehmen kann: So wurde im Fall des OLG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2012, 13 W 33/12, BeckRS 2013, 411 das Verfahren vor deutschen Gerichten durch die in Mailand anhängig gemachte Torpedoklage vom 2.12.2010 zunächst bis zur Klageabweisung mangels Unzuständigkeit am 8.5.2012 in erster Instanz verzögert. Die Torpedoklägerin ging hiergegen in Berufung. Das Verfahren in Italien dauerte zumindest bis zum 18.9.2013, dem Tag der Vorlageentscheidung des BGH an den EuGH, vgl. BGH, v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2160, Nr. 2, also mehr als 2 Jahre und 9 Monate. 4 Es gilt die sog. Kernpunkttheorie, vgl. Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO Rn. 5 und grundlegend EuGH, Urt. v. 8.12.1987, Rs. 144/86 (Gubisch Maschinenfabrik KG ./. Giulio Palumbo), Slg. 1987, 4861. 5 Bogdan, 51 Scandinavian Studies in Law (2007) 89, 93; Fentiman, 42 C.M.L.R. (2005) 241, 253. 6 Vgl. etwa Ionescu, L’abus de droit, S. 219 ff.; Köckert, Die Beteiligung Dritter im Internationalen Zivilverfahrensrecht, S. 81 ff.; Reuß, Forum Shopping, S. 270 ff.; Winter, Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, S. 56 f., 73 ff.; Althammer, IPRax 2008, 228, 231; ders., in GS Konuralp, S. 103, 119 ff.; Briggs, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 283 ff.; Coester-Waltjen, in: FS Kropholler, S. 747, 747 ff.; Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 33 f.; Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 244; Nuyts, 3 GJA (2003) 1, 11 f.; Sujecki, NJW 2007, 3706; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 426 f.; Würdinger, RIW 2008, 71, 72; ders., ZZPInt 11 (2006), 180, 186 f. 7 Verweise auf die EuGVVO beziehen sich, soweit dies nicht anderweitig kenntlich gemacht wird, auf die Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 351 v. 20.12.2012, S. 1. Soweit dies für das bessere Verständnis der Ausführungen angezeigt erscheint, werden die jeweiligen Parallelnormen bezeichnet, wobei auf Unterschiede im Detail nur bei entsprechender Relevanz hingewiesen wird. Bei der zitierten Kommentarliteratur ist der jeweilige, im Literaturverzeichnis wiedergegebene Bearbeitungsstand zu beachten, ohne dass ein Hinweis auf die a.F. oder die n.F. erfolgt.
4
Einleitung
Vorschrift ermöglicht es einem Kläger, durch die Klage gegen einen sog. Ankerbeklagten8 einen weiteren Beklagten vor inländische Gerichte zu ziehen. Vor allem, wenn die Klage gegen den Ankerbeklagten offensichtlich nur zur Zuständigkeitsbegründung vorgeschoben wurde, ist man der Auffassung, dass eine Zuständigkeit auf Grundlage der Vorschrift zu verneinen sei.9 Weitere Fälle, in denen in Schrifttum und Rechtsprechung mittels eines nicht näher definierten Begriffs des (Rechts-)Missbrauchs operiert wird, sind zahlreich und äußerst verschieden: die gezielte Verlegung des sog. comi im Anwendungsbereich der Europäischen Insolvenzverordnung, um einen günstigen Gerichtsstand für die Liquidation einer Gesellschaft oder eines Privatvermögens zu erlangen10, das Aufspalten einer Klagesumme in mehrere Teilklagen, um die Vorzüge der Europäischen Bagatellverordnung nutzen zu können11, die widersprüchliche Ausübung des Rechts der Zuständigkeitsrüge12, die Vereinbarung eines sog. abstrakten Erfüllungsortes, um über Art. 7 Nr. 1 EuGVVO eine subjektiv günstige Zuständigkeit zu schaffen und die Formvorschriften über Gerichtsstandsvereinbarungen zu umgehen13, die Provokation eines Schadens, um einen inländischen Klägergerichtsstand auf Grundlage des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu schaffen14, die Auswahlentscheidung zwischen mehreren alternativen Zuständigkeiten, wenn dies durch verfahrensfremde Motive getragen ist, etwa der Absicht, einen anderen zu schädigen15 und das Beantragen einer vorläufigen Kontosperre auf zweifelhafter Grundlage, um einen potentiellen Schuldner zu einem ungünstigen Vergleich oder Ähnlichem zu nötigen16.
8 Nach Würdinger, ZZPInt 11 (2006), 180, 181 geht der Begriff zurück auf die Entscheidung des House of Lords in Canada Trust Co v Stolzenberg (No.2) [2000] UKHL 51, [2000] 4 All ER 481, [2000] 3 WLR 1376 per Lord Steyn at 1386: „anchor defendant.“ 9 Vgl. Geimer, in: Zöller, Art. 6 EuGVVO Rn. 2; Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 15 f.; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 6 EuGVVO Rn. 21; Stadler, in: Musielak, Art. 6 EuGVVO Rn. 2a; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 41 ff., 57 f. 10 Vgl. Reuß, Forum shopping, passim; Haubold, IPRax 2003, 34, 38; Rotstegge, ZIP 2008, 955, 961. 11 Vgl. Kropholler/von Hein, Art. 2 EuGFVO Rn. 11 m.w.N. 12 Vgl. Hoge Raad, 7 mei 2010, nr. 09/011115, JBPR 2010, 509 ff. m. Anm. Freudenthal, S. 517; zust. Wais, IPRax 2012, 91 ff. 13 Vgl. EuGH, Urt. v. 20.2.1997, Rs. C-106/95 (Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL), Slg. 1997, I-911 und unten, S. 183. 14 Vgl. Cass. civ., 25 mars 2009, N°08-14119, Bull. civ. 2009, N°64 m. Anm. Delpech, D. 2009, 1014 f. und Reinmüller/Bücken, IPRax 2013, 185, 185 f.; allgemein: Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 266 f. und unten, S. 335 ff. 15 Vgl. Althammer, in: GS Korunalp, S. 103, 110 ff. 16 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 14 und 17 der EuKPfVO.
§ 1 Ausgangslage
5
In der Sache wird demnach erstaunlich einmütig die Notwendigkeit bejaht, in derartigen Fällen regelnd einzugreifen. Wie dies jeweils geschehen soll, darüber herrscht allerdings keinesfalls Einigkeit. Es ist auch nicht unüblich, sich über den methodischen Ansatz einfach auszuschweigen. Zwar versucht man in der Regel durch Auslegung der missbräuchlich in Anspruch genommenen Vorschrift interessengerechte Ergebnisse zu erreichen.17 Es sind aber häufig gerade diejenigen Fälle außerhalb des Wirkungsbereichs der Auslegung, die als besonders problematisch, missbräuchlich und damit regelungsbedürftig empfunden werden. Darüber hinaus sind die Möglichkeiten der Auslegung in Missbrauchsfällen durch Judikate des EuGH erheblich eingeschränkt.18 Leitet man das Missbrauchsverdikt aus den Intentionen des Handelnden ab, versagen die Möglichkeiten der Auslegung gänzlich.19 Wird ausnahmsweise einmal eine konkrete Lösung vorgeschlagen, verläuft sich diese schnell in allgemeinplatzartigen Formulierungen von der Art, dass zur Verhinderung von missbräuchlichem Verhalten im Europäischen Zivilverfahrensrecht der ‚Gedanken des Rechtsmissbrauchs‘ oder ein wie auch immer geartetes ‚Missbrauchsverbot‘ angewandt oder angeprüft werden könne.20 Wo-
17
Vgl. z.B. unten, S. 325 ff. So etwa in dem Fall einer unzulässigen Ankerklage im Rahmen des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO, vgl. unten, S. 325 ff. 19 Vgl. unten, S. 145. 20 So etwa für das Problem sog. Torpedoklagen, Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 722, der die Durchbrechung der Rechtshängigkeitssperre des Art. 27 EuGVVO a.F. mittels des „allgemein anerkannte(n) Missbrauchsverbot(s)“ befürwortet, womit zwar eine gewisse gemeineuropäische Grundlage adressiert wird, die aber nicht näher beschrieben wird; ders., in: GS Konuralp, S. 103, 125 ff.; ebenso Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 545; Rauscher, IPRax 2004, 405, 408; Stauder, in: FS Schricker, S. 917, 928; Tichý, in: Lein, Brussels I Review Proposal, S. 179, 190 mit Forderungen de lege ferenda; Försterling, in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 27 EuGVVO Rn. 40. Für das Aufspalten einer Klagesumme, um in den Anwendungsbereich der EuGFVO zu gelangen, Kropholler/von Hein, Art. 2 EuGFVO Rn. 11, ohne nähere Ausführung. Für das Problem des sog. umgekehrten Torpedos, wenn also zur Verzögerung einer Sachentscheidung unter Ausnutzen der Wirkungen des Art. 31 Abs. 2 EuGVVO das Bestehen einer Gerichtsstandsvereinbarung missbräuchlich eingewandt wird, Magnus/Mankowski, ZVglRWiss 109 (2010), 1, 12. Allgemein zum Erschleichen einer Zuständigkeit, G. Wagner, in: Stein/Jonas, Einleitung vor Art. 2 EuGVVO Rn. 44, ohne nähere Ausführungen; zur speziellen Zuständigkeitserschleichung im Europäischen Insolvenzrecht durch Verlegung des sog. comi, d’Avoine, NZI 2011, 310, 312, der sich auf einen nicht näher präzisierten „allgemeinen (Grundsatz) des Internationalen Zivilverfahrensrechts“ beruft, wonach Rechtsmissbrauch verboten sei; ohne jegliche Begründung Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, S. 348 f., zum missbräuchlichen forum shopping; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 266, der auf das Verbot widersprüchlichen Verhaltens als „gemeineuropäisches Rechtsprinzip“ verweist, um das Erschleichen des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. durch Provokation eines Schadens zu regulieren; im selben Zusammenhang auf 18
6
Einleitung
rin diese ihre Grundlagen finden, wird in aller Regel offen gelassen. Nicht selten hat man dabei den Eindruck, dass ohnehin mit einem nationalen Begriffsverständnis des Missbrauchs operiert wird und in der Folge nationale Rechtsfiguren zur Verhinderung von schädigendem, arglistigem und betrügerischem Verhalten eingesetzt werden sollen. Dieser Ansatz bedürfte aber wegen des Mehrebenencharakters des Unionsrechts einer Rechtfertigung, die in der Regel unterbleibt. 21 Der Rechtanwendung im Europäischen Zivilverfahrensrecht kann damit insgesamt attestiert werden, dass sie in Fragen des Missbrauchs verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte entweder noch zu sehr am nationalen Recht orientiert ist oder ohne einen irgendwie präzisierten Missbrauchseinwand operiert.
A. Harmonisierung des Europäischen Zivilverfahrensrechts Dieser Befund ist unbefriedigend. Der teilweise ausdrücklich oder stillschweigend erklärte Verweis auf nationales Recht für Fragen des Verfahrensmissbrauchs ist im Europäischen Zivilverfahrensrecht schon keine Lösung. Nicht nur muss ein derartiger Ansatz wegen der Notwendigkeit einheitlicher Anwendung von Unionsrecht und dem Gebot der Rechtssicherheit und der Vorhersehbarkeit von Gerichtsständen kritisch gesehen werden22, ihm sind auch durch das Gebot praktischer Wirksamkeit von Unionsrecht enge Grenzen gezogen: So darf die Anwendung nationalen Rechts im Vollzug von Unionsrecht die
„Treu und Glauben“ verweisend, Auer, in: Gemier/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 5 EuGVVO Rn. 114. Zu widersprüchlichem Verhalten bei der Inanspruchnahme des Verbrauchergerichtsstands der EuGVVO, Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 15 EuGVVO Rn. 3, unter Verweis auf „das Verbot des Rechtsmissbrauchs“, das auch im Unionsrecht verankert sei. Zur widersprüchlichen Ausübung des Rügerechts bei nicht bestehender Zuständigkeit, Wais, IPRax 2012, 91, 94, unter Verweis auf einen Grundsatz, wonach Rechtsmissbrauch im Gemeinschaftsrecht verboten sei. 21 Dazu sogleich. Zur Anwendung nationaler Methodik, vgl. z.B. Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, S. 348 f., die dem Problem der Torpedoklagen mit einem offensichtlich an nationalen Kategorien orientierten Einwand von Treu und Glauben beikommen möchte; weiter Collins, 106 L.Q.R. (1990) 535, 538; Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO, Rn. 32 f. Auch Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, Art. 27 EuGVVO scheint das Rechtsschutzbedürfnis in nationaler Ausprägung im Sinn zu haben, wenn er Torpedoklagen unter Umständen hierrüber die Zulässigkeit versagen möchte. Ausdrücklich so: Marongiu Buonaiuti, 11 Yrbk.Priv.Int’l L. (2009) 511, 537 f. Für das missbräuchliche Erheben einer sog. umgekehrten Torpedoklage verweisen Magnus/Mankowski, ZVglRWiss 109 (2010), 1, 12 auf die Möglichkeiten des Richters, nach nationalem Recht regelnd einzugreifen. 22 Dazu ausführlich unten, S. 199 ff.
§ 1 Ausgangslage
7
praktische Wirksamkeit des letzteren nicht aufheben.23 Gerade dies ist aber die Folge einer Anwendung des deutschen Rechtsmissbrauchsverbots, der französischen fraude à la loi oder ähnlicher nationaler Ansätze in Fällen des Verfahrensmissbrauchs.24 Darüber hinaus muss in Bereichen, die der Gesetzgeber abschließend zu regeln beabsichtigte, wegen des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht gegenüber nationalem Recht ein Rückgriff sogar komplett unterbleiben.25 Und diese Bereiche werden immer größer. Die Harmonisierungsbestrebungen der EU im Europäischen Zivilverfahrensrecht sind nicht mehr nur auf eine Rechtsangleichung zwischen den Mitgliedstaaten gerichtet. Mit der Zeit wurde mehr und mehr genuin europäisches Zivilverfahrensrecht geschaffen und nationales Recht verdrängt. Hierin zeigt sich der allgemeine politische Ansatz möglichst umfassender Integration, der den Übergang von Regelungskompetenzen auf die Union fordert.26 Ein unionseigener Ansatz zur Verhinderung von Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht scheint daher nicht nur notwendig zu sein, sondern auch die logische Konsequenz aus der Fortentwicklung des Rechtsbereichs, hin zu einem mehr und mehr konsistenten Rechtssystem. Das deckt sich mit der allgemein geforderten Vereinheitlichung und proaktiven Mitgestaltung der Methodik im Wirkungsbereich des europäischen Rechts27 und spezieller, dem Europäischen Zivilverfahrensrecht28. Die nationale Rechtswissenschaft hat hier die Aufgabe, gestaltend mitzuwirken; ein ohnehin nicht befriedigendes Aussitzen des Methodenproblems wird auf Dauer gar nicht mehr möglich sein. Das zeigt ein historischer Abriss der Entwicklungsstufen des Europäischen Zivilverfahrensrechts. Hieran wird deutlich, wie sich dieses immer mehr vom nationalen Recht losgelöst und dieses Schritt für Schritt zurückgedrängt hat. Die Idee einer eigenständigen europäischen Verfahrensordnung hat in den letzten Jahren Gestalt angenommen:29 So entwickelte sich das gesamte System von einer auf staatsvertraglicher Grundlage geschaffenen Zuständigkeits- und Anerkennungsordnung (EuGVÜ) über eine Ausdifferenzierung dieser Bereiche auf Grundlage einer europäischen Verordnung (EuGVVO a.F.) und einer Ausweitung der Urteilsfreizügigkeit (EuVTVO, EuUnthVO, reformierte EuG-
23 Stellvertretend: EuGH, Urt. v. 15.5.1990, Rs. C-365/88 (Kongress Agentur Hagen GmbH ./. Zeehaghe BV), Slg. 1990, I-1845, 1866, Nr. 20. 24 Vgl. unten, S. 212 ff. 25 Vgl. dazu ausführlich unten, S. 199 ff. 26 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 1 Rn. 3. 27 Vgl. Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700, 708 f.; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 3; Vogenauer, ZeuP 2005, 234, 236. 28 Vgl. Kramer, 2 IJPL (2011) 202, 223 ff. 29 Geschichtlicher Abriss bei Oberhammer/Koller/Slonina, in: Enzyklopädie Europarecht III, S. 483, 492 ff.
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Einleitung
VVO) parallel dazu in Teilen hin zu einem eigenständigen europäischen Zivilverfahrensrecht (EuGFVO, EuKPfVO). 30 Nach einem Zwischenstadium, in welchem durch den europäischen Gesetzgeber mit der EuMahnVO nur die Einhaltung gewisser Mindeststandards eingefordert wurde, steht mittlerweile originär europäisches Verfahrensrecht, beispielsweise in Form, der EuGFVO und der EuKPfVO. Die Bedeutung dieser Entwicklung darf nicht unterschätzt werden, denn nach den Plänen der der EU-Kommission soll der Anwendungsbereich des Europäischen Zivilverfahrensrechts auf Kosten des nationalen Rechts massiv ausgeweitet werden. So soll die Höhe einer ‚geringwertigen Forderung‘ im Rahmen der EuGFVO von ohnehin schon zweifelhaften 2.000 € 31 auf 10.000 € angehoben werden32. Nach Zahlen der EU-Kommission sind mit der derzeitigen Beschränkung auf 2.000 € schon über die Hälfte aller Verbraucherstreitigkeiten erfasst, 33 mit der Anhebung auf 10.000 € würde die EuGFVO diesen Bereich wohl nahezu komplett besetzen. Daneben wird der Europäische Gesetzgeber mit der EuKPfVO zum ersten Mal auf dem Gebiet der Zwangsvollstreckung in Zivil- und Handelssachen tätig, das in der Vergangenheit aus Souveränitätsgesichtspunkten zugunsten der Mitgliedstaaten nicht angetastet wurde.34
B. Diskrepanzen Erscheint der Rückgriff auf nationales Recht damit aus einer Reihe von Gründen im Allgemeinen nicht ohne Weiteres als gangbarer Weg, stellt sich die Frage, ob die missbräuchliche Inanspruchnahme und Ausübung von Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts auf Grundlage eines unionseinheitlichen Ansatzes gelöst werden kann. Wegen der Vielzahl unterschiedlicher Gestaltungen, die in Rechtsprechung und Schrifttum als missbräuchlich eingeord-
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Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 10 Rn. 1; Frattini, ZEuP 2006, 225, 232; Kern, JZ 2012, 389, 389; Kramer, 2 IJPL (2011) 202, 224. 31 Vgl. dazu Kern, JZ 2012, 389, 393 m.w.N. 32 Vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen und der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens v. 19.11.2013, KOM(2013) 794 endgültig, S. 5. 33 Europäische Kommission, Spezial Eurobarometer 395, Das europäische Verfahren für geringfügige Forderungen, 2013, S. 11, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/public_opinion/ archives/ebs/ebs_395_sum_de.pdf (zuletzt abgerufen am: 1.9.2015). 34 Hess, in: FS Kaissis, S. 399, 400.
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net wird und des dabei verwandten, (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) völlig uneinheitlichen Missbrauchsverständnisses, erscheint ein abstrakt-genereller und vor allem unionseinheitlicher Ansatz notwendig. In den Zivilverfahrensrechten der Mitgliedstaaten hat die Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze und Rechtsfiguren für Missbrauchsfälle außerhalb des Gewöhnlichen eine erhebliche Bedeutung. Nicht nur im deutschen Recht, sondern auch in den restlichen europäischen Rechtsordnungen finden sich entsprechende Bestrebungen, wenn die Grenzen der Auslegung erreicht sind.35 Die Zahl der Beispiele ist Legion. Im deutschen Recht häufig diskutiert sind die Fälle der Zuständigkeitserschleichung36, in welchen die Rechtsprechung mit dem Verbot des Rechtsmissbrauchs operiert, etwa im Zusammenhang mit dem Verschieben von Vermögensgegenständen, um eine Zuständigkeit gemäß § 23 ZPO zu schaffen.37 Daneben findet das Rechtmissbrauchsverbot in den unterschiedlichsten Fällen Anwendung, so etwa bei Fragen der Beweisvereitelung außerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 427, 441 Abs. 3 S. 3, 444, 446, 453 Abs. 2, 454 Abs. 1 ZPO,38 in dem Fall, dass ein Gläubigervertreter bei der Zwangsversteigerung eines Grundstücks mit seinem Gebot im Versteigerungstermin eine Verschleuderung des Grundstücks unter der Wertgrenze des § 85a Abs. 1 ZVG anstrebt,39 vor der Schaffung des § 72 Abs. 2 ZPO zur Verhinderung einer Streitverkündung gegenüber einem in Ungnade gefallenen gerichtlichen Sachverständigen40, bei der Verweigerung der Zustimmung zum Widerruf einer Klagerücknahme unter besonderen Umständen41 und, um Abtretungskonstellationen unberücksichtigt lassen zu können, mit welchen lediglich die Ausländersicherheit des § 110 ZPO vermieden werden sollte42.43 Im französischen Recht wird das gezielte Schaffen eines Gerichtsstands zur Schädigung Dritter auf Grundlage der fraude à la loi für unbeachtlich erklärt44, daneben operiert man auch mit dem Einwand des abus de droit, etwa, um einer 35
Vgl. Taruffo, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 3 f. Ausführlich, unten, S. 247 f. und H. Roth, in: Stein/Jonas, § 1 ZPO Rn. 12 m.w.N. 37 Vgl. RG, Urt. v. 26.5.1886, I 121/86, RGZ 16, 391, ein Fall, in dem mit besonderem Einfallsreichtum durch die Erhebung einer bewusst unzulässigen Klage ein Kostenerstattungsanspruch des Beklagten geschaffen wurde, der dann als ‚Vermögen‘ im Sinne des § 23 ZPO weitestgehend entsprechenden § 24 CPO von 1877 fungieren sollte. 38 Gedanke des venire contra factum proprium, ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. Urt. v. 23.11.2005, VII ZR 43/05, NJW 2006, 434, 436 Nr. 23; vgl. darüber hinaus Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 230, Fn. 525. 39 BGH, Beschl. v. 10.5.2007, V ZB 83/06, BGHZ 172, 218, LS. 1. 40 BGH, Beschl. v. 27.7.2006, VII ZB 16/06, BGHZ 168, 380, 383, Nr. 13. 41 OLG Stuttgart, Beschl. v. 27.7.1998, 20 W 22/97, BeckRS 1998, 16633. 42 LG Berlin, Urt. v. 29.10.2009, 33 O 433/07, IPRax 2011, 83; vgl. auch unten, S. 237 43 Vgl. weiter die umfangreichen Nachweise bei Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 227 ff. und Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1062 ff. 44 Vgl. unten, S. 196 f. 36
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von verfahrensfremden Motiven getragenen Wahl unter mehreren alternativen Zuständigkeiten entgegenzutreten45. Für das Europäische Zivilverfahrensrecht ist ein derart abstrakt-generelles Konzept erstaunlicherweise noch nicht entwickelt worden; im ‚besten‘ Fall begnügt man sich im Schrifttum mit den schon angesprochenen vagen Verweisen auf ein allgemeingültiges (Rechts-)Missbrauchsverbot. Abhilfe durch den europäischen Gesetzgeber ist nicht zu erwarten. Zwar erkennt dieser unter anderem mit der reformierten EuGVVO an, dass Maßnahmen zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch ein notwendiger Baustein des Europäischen Zivilverfahrensrechts sind.46 Im Ergebnis begnügt er sich aber mit reiner Maßnahmengesetzgebung und schafft so bedenkliche Insellösungen, die eine (methodische) Erfassung des Problemfeldes in seiner Gänze eher behindern. So erstreckt sich der neu geschaffene Abhilfemechanismus nach Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO nur auf Torpedoklagen, die in Widerspruch zu einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung erhoben wurden; alle sonstigen missbräuchlichen negativen Feststellungsklagen, und mögen sie erklärtermaßen zur Schädigung eines Gläubigers eingesetzt werden, bleiben unangetastet.47 Da auch dem EuGH in diesen Fällen fehlendes Problembewusstsein attestiert werden muss48 und die nationalen Gerichte sich – wenn überhaupt – mit bloßen Verlegenheitslösungen zu helfen versuchen49, erscheint das Europäische Zivilverfahrensrecht einem neutralen Beobachter im Ergebnis als Rechtsbereich, der missbräuchliches und schädigendes Verhalten geradezu fördert. Vor diesem Hintergrund ist ein Blick in das allgemeine Unionsrecht einigermaßen verwunderlich: Dort findet schon seit mehr als 20 Jahren eine rechtswissenschaftliche Diskussion zu der Frage statt, wann und wie in Fällen einer missbräuchlichen Inanspruchnahme oder Ausübung von Unionsrecht korrigierend eingegriffen werden kann.50 Der mittlerweile reichhaltige Bestand an Ent-
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Vgl. unten, S. 196. Vgl. Erwägungsgrund Nr. 22 S. 1 EuGVVO. 47 Schon 2006 hatte Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55, 58 vor einem derartig einseitigen Reformvorschlag gewarnt; vgl. auch Domej, RabelsZ 78 (2014), 508, 532; Magnus/Mankowski, ZVglRWiss 109 (2010), 1, 12: „The illness is rooted in Arts. 27; 28.”; Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO, Rn. 78: „Flickwerk“. 48 Vgl. unten, S. 278 ff. 49 Dazu gehörte etwa der Ausschluss neagtiver Feststellungsklagen aus dem Anwendungsbereich des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F., um dem Problem der Torpedoklagen Herr zu werden. Der EuGH hat diese Praxis in seiner Entscheidung Folien Fischer richtigerweise nicht gebilligt, vgl. dazu unten, S. 315 f. Weitere Beispiele bei Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, S. 348 und Sujecki, GRUR Int. 2012, 18, 19 ff. 50 Geschichtlicher Abriss bei Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 521 ff. 46
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scheidungen des EuGH zu diesen Fragen, der bis in die 1970er-Jahre zurückreicht,51 wird im rechtswissenschaftlichen Schrifttum in aller Regel dahingehend interpretiert, dass im Unionsrecht unter den Voraussetzungen eines sog. abuse test52 die Inanspruchnahme oder Ausübung einer Rechtsposition als unzulässig, weil missbräuchlich einzustufen ist. 53 Der dahinter stehenden Rechtsfigur, die im Schrifttum als unionsrechtliches (Rechts-)Missbrauchsverbot bezeichnet wird54, hat der Gerichtshof in neuerer Zeit die Qualität eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts zugesprochen. 55 Damit liegt es nahe, der Frage nachzugehen, ob dieser allgemeine Rechtsgrundsatz in das Europäische Zivilverfahrensrecht übertragen und hiermit Verfahrensmissbrauch reguliert werden kann. Dies ist das Anliegen vorliegender Arbeit.
C. Bisherige Ansätze Die bisherigen Ansätze im rechtswissenschaftlichen Schrifttum zur Verhinderung von Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht auf Grundlage des durch den EuGH geschaffenen Konzepts der Missbrauchsverhinderung sind überschaubar. Als einer der ersten hat Nuyts im Jahre 2003 die These von der Übertragbarkeit des Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrecht aufgestellt, wobei er sich allerdings ausschließlich auf Fragen des Zuständigkeitsmissbrauchs bezog.56 Gleiches gilt für den Aufsatz von Cornut aus
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Vgl. ausführlich unten, S. 100 ff. De la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 409. 53 Der Bestand an Literatur ist kaum noch zu überblicken, vgl. z.B. die Monographien von Ionsecu, Abus de droit, passim; Ottersbach, Rechtsmissbrauch, passim; Schick, Gesetzesumgehung, passim; von Lackum, Gesetzesumgehung, passim; Zimmermann, Rechtsmissbrauch, passim. Ausführlich behandelt wird das Thema im Sammelband von de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, passim. Aus der Flut an Aufsätzen seien genannt: grundlegend Brown, in: FS Schermers, S. 511; Baudenbacher, ZfRV 2008, 205; Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159; Cerioni, 21 E.B.L.R. (2010) 783; de la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395; Eidenmüller, KTS 2009, 137; Englisch, StuW 2009, 3; Fleischer, JZ 2003, 865; Karayannis, CDE 1999, 521; Kjellgren, E.B.L.R. 11 (2000) 179; Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010) 1121; Schmidt-Kessel, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2001, S. 61; Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423. 54 Z.B. Reuß, Forum Shopping, S. 199. 55 Vgl. grundlegend EuGH, Urt. v. 5.6.2007, Rs. C-321/05 (Hans Markus Kofoed ./. Skatteministeriet), Slg. 2007, I-5795, 5830, Nr. 38. 56 Nuyts, „Forum Shopping et Abus du Forum Shopping dans l’Espace Judiciaire Européen“, 3 GJA (2003) 1; vgl. auch ders., „The Enforcement of Jurisdiction Agreements Further to Gasser and the Community Principle of Abuse of Right”, in: Pascal de VareillesSommières, Forum Shopping in the European Judicial Area, Oxford u.a. 2007, S. 55. 52
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dem Jahre 200757. Für das deutsche Schrifttum kam Thole im Jahre 2009 zu dem ernüchternden Ergebnis, dass Missbrauchsfragen im Europäischen Zivilverfahrensrecht allenfalls in Zusammenhang mit Einzelproblemen überhaupt einmal im behandelt würden.58 Diese themenspezifische Herangehensweise prägt auch die seither erschienenen Arbeiten von Reuß59 aus dem Jahre 2009 zum Europäischen Insolvenzrecht und von Meyer60 aus dem Jahre 2013 zur EuErbVO, wobei sich der verfahrensrechtliche Teil letzterer Arbeit wiederum nur Missbrauchsfragen im Anwendungsbereich des Zuständigkeitsrechts widmet. Neben einer kleineren Zahl an Aufsätzen, mit teils recht kritischem Fazit, was generelle die Vereinbarkeit von Missbrauchsverbot und Europäischem Zivilverfahrensrecht angeht,61 existiert keine monographische Arbeit, die sich allgemein mit den Möglichkeiten und Grenzen des besagten Ansatzes befasst. Die Notwendigkeit für eine tiefergehende Betrachtung des Problems ergibt sich darüber hinaus auch daraus, dass sich in der angeführten Literatur in aller Regel eine wenig überzeugende Einordnung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in den methodischen Gesamtzusammenhang zeigt und die Ableitung der Voraussetzungen des Missbrauchsverbots nicht die gewünschte dogmatische Tiefe aufweist. Vor allem fehlt es gewöhnlich an einem – für das Erfassen der Thematik meiner Ansicht nach unentbehrlichen – fundierten rechtsvergleichenden Ansatz.
57 Cornut, „Forum shopping et abus du choix de for en droit international privé“, Clunet 134 (2007), 27. 58 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 423 f. 59 Reuß, „‘Forum Shopping‘ in der Insolvenz – Missbräuchliche Dimension der Wahrnehmung unionsrechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten“, Tübingen 2011. 60 Meyer, „Die Gerichtsstände der Erbrechtsverordnung unter besonderer Berücksichtigung des forum shopping“, Frankfurt a.M. 2013. 61 Briggs, „The Rejection of Abuse in International Civil Procedure”, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 261; Cuniberti, „The Discreet Influence of Abuse of Law in International Civil Procedure”, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 219; Metzger, „Abuse of Law in EU Private Law: A (Re-)Construction from Fragments”, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235.
§ 2 Methodik Methodik
A. Untersuchungsgegenstand Die Reichweite des Untersuchungsgegenstands der Arbeit hängt untrennbar mit der vorliegend gewählten Fragestellung bzw. der dadurch bedingten Methode zusammen. Zur Untersuchung von Fragen des Verfahrensmissbrauchs bieten sich prinzipiell zwei mögliche Herangehensweisen: ein begrifflicher Ansatz (unten, I.) oder das Ansetzen an der Reichweite des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots (unten, II.). Damit zusammenhängend soll schon zu Beginn der Arbeit klargestellt werden, dass das Problem des Missbrauchs eine Frage der Rechtsanwendung ist (unten, III.). Weiter klärungsbedürftig ist der Begriff des Europäischen Zivilverfahrensrechts (unten, IV.) und die personelle Reichweite der Untersuchung (unten, V.). I. Begrifflicher Ansatz Am Begriff des Missbrauchs anzusetzen, ist wenig zielführend. Zwar kann eine Definition von ‚Missbrauch‘ oder ‚Verfahrensmissbrauch‘ versucht werden und dasjenige in die Analyse einbezogen werden, was hiernach als missbräuchlich einzuordnen ist. Die Willkür eines solchen Ansatzes ist allerdings offensichtlich. Das Empfinden für das, was als missbräuchlich, arglistig etc. eingestuft wird, ist äußerst subjektiv,1 was sich in internationalen Zusammenhängen noch potenziert.2 So werden im schlimmsten Fall Problemkreise künstlich auseinandergerissen. Ein Beispiel für einen derart fehlerhaften Schluss von Begrifflichkeiten auf Regelungsprobleme liegt in der erstaunlicherweise weit verbreiteten unpräzisen Bewertung des sog. forum shopping und dessen Einordnung in den Kontext des Verfahrensmissbrauchs, was an anderer Stelle ausführlich dargestellt werden soll.3
1 Vgl. zur Gefahr einer Rechtsfolgenableitung aus abstrakten Begriffen: Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 263 ff, 282 ff.; Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 61: Gefahr der „bei zunehmender Abstraktionshöhe gesteigerte(n) ‚Sinnentleerung‘ allgemeiner Begriffe“; Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 190 ff. 2 Vgl. etwa zum traditionell recht liberalen Verständnis des Common Law hinsichtlich der Ausübung von Rechte, unten, S. 51 ff. 3 Vgl. unten, S. 251 ff.
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Ein Ansetzen am Begriff des Missbrauchs ist darüber hinaus schon wegen der Multilingualität des Unionsrecht zu hinterfragen: Die Arbeit wird in anderem Zusammenhang zeigen, dass das Wortlautargument im Unionsrecht wegen der Verbindlichkeit einer jeden der 24 verschiedenen Sprachfassungen einen schwachen Stand hat und eine Auslegung nach dem Wortlaut – die nicht durch andere Auslegungsmethoden abgesichert ist – per se nicht als maßgeblich bezeichnet werden kann.4 Einen wie auch immer gearteten Missbrauchsbegriff als Ausgangspunkt für eine wissenschaftliche Untersuchung zu wählen, ist hiernach verfehlt. Um genuin europäische Methodik entwickeln zu können, ist es ohnehin notwendig, das nationale Begriffsverständnis hinter sich zu lassen und eine an den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Mehrebenensystems der EU ausgerichteten Ansatz zu verfolgen.5 II. Ansetzen an der Reichweite des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Die Arbeit wählt daher einen anderen Ausgangspunkt: Unter Verfahrensmissbrauch oder dem Missbrauch von Unionsrecht wird nur das verstanden, was in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots fällt. Denn gerade dieses soll in das Europäische Zivilverfahrensrecht übertragen werden und dort als Grundlage für die Auflösung von missbräuchlichen Gestaltungen dienen. Damit erfasst die Arbeit vielleicht nicht alle diejenigen Fälle, welche auf Grundlage eines anderen Missbrauchsverständnisses gemeinhin als missbräuchlich eingeordnet werden. Hierin darf jedoch nicht die nur unvollständige Erfassung eines Rechtsproblems gesehen werden, sondern umgekehrt, ein Mehr an Präzision in einer ansonsten recht emotional und arbiträr geführten Debatte um das gerechte Maß an Billigkeit. Begreift man nur dasjenige als missbräuchlich und damit regelungsbedürftig, was einem bestimmten Regelungsmechanismus unterfällt, können zumindest über den hiervon erfassten Bereich definitive Aussagen getroffen werden. In der Sache deckt das unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im weitesten Sinne das ab, was nach deutschem Verständnis als individueller Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung bzw. nach französischem Recht als abus de droit und fraude à la loi eingeordnet wird.6 Es ist daher notwendig, den Fokus in der rechtsvergleichenden Untersuchung auf diese Erscheinung zu legen. Alle genannten Fälle eint, dass ein durch gewöhnliche Normauslegung erzieltes Ergebnis aus übergeordneten oder am Einzelfall orientierten Erwägungen als nicht systemkonform hingenommen werden kann. Dies führt zu der nächsten Einschränkung des Untersuchungsgegenstands.
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S. unten, S. 137. Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700, 706 f. 6 Vgl. unten, S. 123 ff. 5
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III. Missbrauch als Problem der Rechtsanwendung Fragen des Missbrauchs nach hier interessierendem Verständnis sind nach dem oben Gesagten folglich Fragen der Rechtsanwendung im Einzelfall. Hiermit kann der Untersuchungsgegenstand zunächst von zwei ähnlichen aber letztlich anders strukturierten Konstellationen abgegrenzt werden, die man unbedarft dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot zuschlagen könnte: Fälle der Simulation und des betrügerischen Vorverhaltens. Diese sind deshalb von den hier interessierenden Missbrauchsfällen zu trennen, da sie jeweils kein Problem der Rechtsanwendung darstellen, sondern eines der Sachverhaltsermittlung. Die damit zusammenhängenden Probleme sind praktischer und tatsächlicher Natur und somit keine Rechtsprobleme.7 Der EuGH zieht die Grenzen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots folgerichtig entsprechend.8 Des Weiteren ist die Verhinderung von Missbrauch in Bezug zu setzen zu einem Streben nach billigen Entscheidungen. Dass der Ansatz vorliegender Arbeit sich nicht in einer Rechtsfindung nach ‚freier Billigkeit‘ erschöpfen kann, ist klar – das Zusammenspiel von Rechte und Gesetz, von Gerechtigkeit und Einzelfallentscheidungen soll aus rechtstheoretischer Sicht dennoch kurz gestreift werden. 1. Simulation Relativ einfach lassen sich Fälle des Missbrauchs von solchen der Simulation sondern. Von Simulation spricht man in der Terminologie des Internationalen Privatrechts, wenn die Voraussetzungen einer Rechtsnorm (bewusst) wahrheitswidrig behauptet werden. 9 Da die Voraussetzungen der Rechtsnorm in Wirklichkeit nicht vorliegen, kann derjenige, der sich auf sie beruft, aus ihr (deshalb) kein Recht herleiten. Das liegt in der Natur der Sache. Hier stellen sich lediglich Fragen im Tatsächlichen, die über eine korrekte Ermittlung des Sachverhalts zu lösen sind.10 Es erscheint auf den ersten Blick geradezu überflüssig, diesen Umstand zu erwähnen. Schließlich ist jeder Rechtsanwendung eine (idealisiert korrekte) Sachverhaltsermittlung vorgeschaltet, auf deren Grundlage dann auch Korrekturmechanismen, wie etwa das Rechtsmissbrauchsverbot, operieren.11 Es kann
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Vgl. Fleischer, JZ 2003, 865, 870 m.w.N. Vgl. dazu unten, S. 131: Die Forderungen des EuGH nach einem (formalen) Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der missbrauchten Rechtsnorm sondert Probleme der Rechtsanwendung gerade von solchen der Sachverhaltsermittlung. 9 Vgl. Eidenmüller, KTS 2009, 137, 143; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 404. 10 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 386; Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1278. 11 Das Konzept des EuGH ist hierauf abgestimmt: Eingangsvoraussetzung für das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ist das (formale) Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der missbrauchten Rechtsnorm, vgl. unten, S. 131. 8
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jedoch im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten, beide Problemkomplexe voneinander zu unterscheiden. Dies vor allem, wenn fraglich ist, ob Tatsachen im Vorfeld einer Rechtsanwendung verändert wurden und ob deshalb eine Rechtsanwendung auf Grundlage von Missbrauchserwägungen korrigiert werden muss. Als verfahrensrechtliches Beispiel für die teilweise schwierige Grenzziehung zwischen beiden Fragenkomplexen bietet sich der sog. Insolvenz- oder Restschuldbefreiungstourismus 12 an. Im Anwendungsbereich der EuInsVO führt ein Wechsel des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen – des sog. comi – dazu, dass hiermit, neben einer internationalen Zuständigkeit im Staat des comi, auch das für die Durchführung eines Insolvenzverfahrens anzuwendende Insolvenzstaut wechselt.13 Da bei nicht unternehmerisch tätigen Personen das comi an deren gewöhnlichem Aufenthalt zu lokalisieren ist,14 ist es diesen relativ einfach möglich, über ein Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts in einen Mitgliedstaat mit günstigeren Wohlverhaltensvorschriften schneller und einfacher zu einer Entschuldung zu gelangen. Bei der Frage der Anerkennung eines ausländischen Insolvenzverfahrens durch die Gerichte des Heimatstaats des Insolvenzschuldners oder bei der Verfahrenseröffnung durch die ausländischen Gerichte selbst, kann es jedoch äußerst schwierig sein, zu beurteilen, ob der Insolvenzschuldner seinen gewöhnlichen Aufenthalt tatsächlich im Ausland bzw. Inland besitzt. Diese Fragen stellen zunächst ein Problem korrekter Sachverhaltsermittlung dar: Es ist zu prüfen, ob überhaupt ein Umzug ins Ausland stattgefunden hat, oder dieser nur vorgetäuscht wurde.15 Fand ein Umzug gar nicht statt und kann sich so der anknüpfungsrelevante gewöhnliche Aufenthalt nicht verändert haben, erübrigen sich Missbrauchsfragen. Fand ein Umzug tatsächlich statt, muss geklärt werden, ob sich deswegen der gewöhnliche Aufenthalt geändert hat; hierbei verlässt man den Problemkreis der Simulation. Dies ist in erster Linie eine Frage der Auslegung. Die dabei zu berücksichtigenden normativen Elemente dienen schon zu einem gewissen Maße der Verhinderung von Zuständigkeitsmissbrauch.16 Jedoch ist dieser Schritt der Auslegung nicht mit der selbständigen Anwendung weiterreichender Korrektive zu verwechseln, da es bei der Frage, ob der gewöhnliche Aufenthalt tatsächlich verändert wurde, darum geht, das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen festzustellen. Demnach kommen in 12 Vgl. Beck, ZVI 2011, 355, 364 (dessen Ausführungen allerdings im Ergebnis nicht zugestimmt werden kann, vgl. unten, S. 236 f. und Kap. 2 Fn. 151); Reinhart, NZI 2012, 304, 306. 13 Vgl. Art. 4 Abs. 1 EuInsVO, der an den Mittelpunkt der Interessen des Schuldners in Art. 3 Abs. 1 S. 1 EuInsVO anknüpft, das sog. comi. 14 Mankowski, NZI 2005, 368, 369 m.w.N. 15 Vgl. Mankowski, NZI 2005, 368, 372; Mäsch, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 3 EGInsVO, Rn. 35. 16 Dazu s.u., S. 248, zur Frage des ‚hinreichenden Inlandsbezugs‘ in § 23 ZPO.
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den Fällen des Insolvenztourismus spezielle Missbrauchserwägungen auch erst dann zum Tragen, wenn eine Veränderung des gewöhnlichen Aufenthalts bejaht wurde.17 2. Betrügerisches Vorverhalten Im Unterschied zur Simulation liegen im Falle betrügerischen Vorverhaltens die Anwendungsvoraussetzungen einer Rechtsnorm vor; diesen Umstand teilen sie mit Fällen des hier interessierenden Missbrauchs. Der entscheidende Unterschied ist aber, dass das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen auf ein betrügerisches Vorverhalten, eine nicht aufgedeckte Simulation zurückzuführen ist. Ein klarer Fall betrügerischen Vorverhaltens sind durch unrichtige Angaben erschlichene Urteile und andere Entscheidungen, die in nach deutschem Recht in den Grenzen des § 826 BGB Bestand haben,18 aber nicht Gegenstand der Arbeit sind. Komplizierter in der Abgrenzung sind demgegenüber Fälle, in denen der aus einem ersten Teilakt betrügerisch erwirkte Vorteil in einem weiteren zum eigenen Vorteil eingesetzt werden soll. Wurde beispielsweise im Ausland ein Arzt durch Täuschung oder kollusives Zusammenwirken dazu bewegt, ein Attest auszustellen und wird dieses Attest beim Arbeitgeber eingereicht, was für Leistungen nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz Voraussetzung ist, stellt sich die Frage, ob dieses Attest Bindungswirkung gegenüber dem Arbeitgeber entfaltet, die an sich nach Unionsrecht besteht19, oder ob ein „Betrug alles zunichtemacht“20. Hier einen Missbrauchsfall nach obigem Begriffsverständnis anzunehmen, fiele nicht schwer: Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Entgeltfortzahlung liegen an sich vor, es widerspricht aber dem Zweck der Vorschrift bzw. übergeordneten Wertungsmaßstäben, wenn aus betrügerischem Vorverhalten letztlich Vorteile gezogen würden.21 Den Anknüpfungspunkt in Fällen betrügerischen Vorverhaltens bildet aber die Frage, ob der im Vorfeld begangene Betrug auf die jetzige Situation ‚durchschlägt‘, weniger, ob die Rechtsausübung als missbräuchlich einzustufen ist.22 Praktisch lassen sich derartige Situationen auch relativ einfach verhindern, 17 18
Brinkmann, ZIP 2014, 197; Klöhn, KTS 2006, 259, 281 m.w.N. Hierzu ausführlich Hopt, Schadensersatz aus unberechtigter Verfahrenseinleitung, pas-
sim. 19 Vgl. EuGH, Urt. v. 2.5.1996, Rs. C-206/94 (Brennet AG ./. Vittorio Paletta), Slg. 1996, I-2357. Die Bindungswirkung des Attests ergab sich aus der Art. 18 Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. L 74 v. 27. 3. 1972, S. 1. 20 Lat. ‚fraus omnia corrumpit.’ 21 Vgl. Lenaerts, 48 C.M.L.R. (2011) 1703, 1713. 22 Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1278.
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nämlich durch eine korrekte Sachverhaltsermittlung im Vorfeld.23 Hierin besteht die Verbindung zur Simulation, was zur Folge hat, dass Fälle betrügerischen Vorverhaltens für vorliegende Arbeit uninteressant sind. Entsprechende verfahrensrechtliche Fallgestaltungen, wie beispielsweise das Problem einer erschlichenen Entscheidung oder die Behandlung einer, wegen Vernebelungstaktiken des Klägers erst ex post festgestellten nicht gegebenen Zuständigkeit im Anerkennungs- oder Vollstreckungsstadium, werden demnach nicht erörtert. 3. Missbrauchsverhinderung und Billigkeit Die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch auf Grundlage des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots fördert im Ergebnis das Streben einer Rechtsordnung nach billigen Ergebnissen in der Rechtsanwendung. Das Ergebnis darf aber nicht als Produkt einer ‚Billigkeitsrechtsprechung‘ oder einer freien Wertentscheidung des Rechtsanwenders ohne konkreten Bezug zum staatlich legitimierten Recht gesehen werden. Damit sind die Grenzen von Recht und Moral berührt, die hier nur kursorisch und für die Zwecke der Arbeit nachgezogen seien.24 Im Sinne der in der Rechtstheorie überwiegend25 vertretenen Ansicht ist Billigkeit – als ein auf den Grundlagen der Moral zu verwirklichender Zustand von Gerechtigkeit in der Rechtsanwendung – jedenfalls kein dem Recht fremder Gegenspieler, sondern eine diesem eigene Anlage.26 Die Wurzeln dieses Verständnisses gehen zurück auf Aristoteles und dessen Nikomachische
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Fleischer, JZ 2003, 865, 870. Ausführlich: Alexy, in: Dreier, Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, S. 9 ff.; Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137b, S. 229 ff.; Behrends, in: Bydlinski/Mayer-Maly, Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, S. 1 ff.; Dreier, in: Alexy/Dreier/Neumann, Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute, S. 55 ff.; ders., NJW 1986, 890 ff. 25 Vgl. Dreier, in: Alexy/Dreier/Neumann, Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute, S. 55, 55. 26 Behrends, in: Bydlinski/Mayer-Maly, Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, S. 1. Anderer Ansicht sind naturgemäß die Anhänger eines positivistischen Rechtsbegriffs. Als Recht sind nach dieser Ansicht nur autoritativ gesetzte bzw. sozial wirksame Normen anzusehen. Der Rechtspositivismus spricht sich gegen einen notwendigen Zusammenhang von Recht und Moral aus, wobei Einzelheiten hier ausgeblendet werden sollen, vgl. ausführlich Dreier, NJW 1986, 890 ff. Zwei der bedeutendsten modernen Vertreter dieser Strömung sind H.L.A. Hart mit seinem Werk The Concept of Law (deutscher Titel: „Der Begriff des Rechts“) und Hans Kelsen mit seiner Reinen Rechtslehre. Kelsen bezog sich dezidiert auf Kant: Dieser vertrat einen strengen Formalismus, im Sinne eines Ausschlusses der aequitas aus dem gerichtlich durchsetzbaren Recht, was er auch darauf stützte, dass es einem Richter auf einer derart unbestimmten Grundlage nicht möglich sei, Recht zu sprechen, vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, S. 36 f. 24
§ 2 Methodik
19
Ethik27 und kennzeichnen auch heute die moderne Rechtsethik. Setzt man voraus, dass jede zumindest minimal entwickelte Rechtsordnung einen Anspruch auf Richtigkeit hat, bedarf es im Recht angelegter Prinzipien, um diesen Anspruch durch eine – die Anwendung von Recht prägende – Abwägungen im Einzelfall zu verwirklichen.28 Diese Integration von Billigkeitserwägungen in die Rechtsanwendung kann damit auch als „innerrechtlicher Ansatz“ 29 bezeichnet werden. Einzelfallgerechtigkeit entsteht vor diesem Hintergrund gerade nicht durch eine außerrechtliche Billigkeitsentscheidung, sondern durch den Vollzug geltenden Rechts.30 Bei der Anwendung des unionsrechtliche Missbrauchsverbots ist dieser Streit entschärft: Durch dessen gerichtliche Anerkennung im Sinne einer autoritativen Gesetztheit31 ist es staatlich legitimiertes Recht und damit Teil der Rechtsordnung. Die Arbeit versteht daher in den weiteren Untersuchungen Billigkeit und Missbrauchsverhinderung nicht als Gegenspieler, sondern als Größen, die in gegenseitiger Abhängigkeit stehen: Durch die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch anhand des Missbrauchsverbots werden gerechte Ergebnisse angestrebt, in der Anwendung des Missbrauchsverbots gewinnen Billigkeitserwägungen Bedeutung. Ein selbstständiger Fokus der Arbeit auf Fragen einer abstrahierten Billigkeit erübrigt sich daher. IV. Europäisches Zivilverfahrensrecht In sachlicher Hinsicht ist der Untersuchungsgegenstand weiter durch den Begriff des Europäischen Zivilverfahrensrechts eingeschränkt. Hierunter versteht vorliegende Arbeit den Bestand des durch die Europäische Union geschaffenen Rechts, das zur Koordinierung und Durchführung von Verfahren, der Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten, der Anerkennung, Vollstreckbarerklärung und Vollstreckung in grenzüberschreitenden Sachverhalten für den Bereich der Zivil- und Handelssachen geschaffen wurde. Der entsprechende Kompetenztitel ist damit insbesondere Art. 81 AEUV. Nicht erfasst wird das durch unionsrechtliche Vorschriften harmonisierte nationale Recht, freilich aber das zur Harmonisierung verpflichtende Unionsrecht. Der teilweise auch verwandte Begriff des Europäischen Zivilprozessrechts32 ist sprachlich 27
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137b, S. 229 ff. Alexy, in: Dreier, Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts, S. 9, 23. Diesen Gedanken greift auch GA Tesauro auf, in seinen Schlussanträgen v. 4.2.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1998, I-2843, 2856, Rn. 24 29 Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 7. 30 Vgl. dazu BGH, Urt. v. 6.5.1985, VIII ZR 119/84, NJW 1985, 2579, 2580; Rümelin, Die Billigkeit im Recht, S. 26. 31 Dreier, NJW 1986, 890, 896. 32 Vgl. z.B. die Titel der Werke von Hess, Europäisches Zivilprozessrecht; Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht; Schlosser, EU-Zivilprozessrecht. 28
20
Einleitung
unpräzise, da hiermit vordergründig nur auf Prozesse und damit kontradiktorische Verfahren Bezug genommen wird. Als grundlegend für die meisten Folgeverordnungen können im Europäischen Zivilverfahrensrecht die EuGVVO bzw. deren Vorstufe, das EuGVÜ gelten. Es ist wenig verwunderlich, dass sich die meisten der in der Vergangenheit diskutierten Fälle von Verfahrensmissbrauch auf gerade dieses Regelungssystem beziehen.33 Die Arbeit wird damit vor allem der EuGVVO besondere Beachtung schenken, ohne aber den Blick für neuere Missbrauchsmöglichkeiten, etwa in Zusammenhang mit der EuErbVO, aus dem Blick zu verlieren34. V. Interparteilicher Missbrauch Eine letzte Einschränkung des Untersuchungsgegenstands betrifft die betrachteten Akteure, die Einschränkung des Untersuchungsgegenstands in personeller Hinsicht. Die Arbeit konzentriert sich ausschließlich auf einen Missbrauch zwischen den Parteien eines Rechtsstreits, insbesondere Kläger und Beklagter oder Antragsgegner und Antragssteller. Zwar ist es auch möglich, dass eine zur Rechtsprechung berufene Institution Verfahrensrecht missbräuchlich nutzt. Allerdings stellen sich dabei ganz andere Fragen, insbesondere staats- und verfassungsrechtliche Fragen, als bei missbräuchlichem Verhalten eines Rechtsschutzsuchenden, beispielsweise durch einen die Zuständigkeit manipulierenden Kläger. Darüber hinaus wurde das in der Vergangenheit durch den EuGH entwickelte Konzept zur Verhinderung von Missbrauch im Unionsrecht in diesen Zusammenhängen auch nicht angewandt. Diese Fragen sollen hier folglich ausgeklammert bleiben.
B. Notwendigkeit der Rechtsvergleichung Zur Übertragung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ist ein tiefgehendes Verständnis für dessen Struktur, Wirkungsbereich und allgemein dessen dogmatische Verortung notwendig. Der schon angesprochene rechtsvergleichende Ansatz ist dabei unentbehrlich. Dies gründet sich zum einen darauf, dass die Herausbildung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts durch den EuGH im Sinne eines kreativ-schöpferischen Prozesses erfolgt, der die Rechtstradition der Mitgliedstaaten als Erkenntnisquelle nutzt.35 Das gilt auch für das unionsrechtliche Missbrauchsverbot. Die Arbeit wird insbesondere zeigen, 33
Mit Ausnahme der Teilklagenproblematik im Rahmen der EuGFVO und den Fragen des sog. Insolvenztourismus im Rahmen der EuInsVO beziehen sich alle in der Einleitung unter Fn. 20 angeführten Missbrauchsgestaltungen auf die EuGVVO oder das EuGVÜ. 34 Vgl. unten, S. 349 ff. 35 Vgl. Mayer, in: Gabritz/Hilf/Nettesheim, Art. 19 EUV, Rn. 32
§ 2 Methodik
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dass der Gerichtshof häufig Anleihen am französischen Recht genommen hat, was die Voraussetzungen des Missbrauchsverbots und dessen Verortung im Strukturgefüge der unionsrechtlichen Methodik angeht.36 Dort, wo das Konzept des EuGH noch nicht hinreichend ausgeformt oder mehrdeutig ist, wird ein Rückgriff auf das nationale Recht als Erkenntnishilfe notwendig. Das aber erfordert es, sich mit der Wirkungsweise und der Funktion allgemeiner Rechtsgrundsätze und Rechtsfiguren des nationalen Rechts auseinanderzusetzen, die zur Verhinderung von Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung bemüht werden. Soll das unionsrechtliche Konzept schließlich durch nationale Gerichte angewandt werden, muss auch das Konkurrenzverhältnis zu bereits etablierten, nationalen Rechtsfiguren geklärt werden. Insgesamt gilt demnach, dass die Übertragung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrecht nur dann Sinn ergibt, wenn ersteres hinreichend präzisiert werden kann. Dies wiederum erfordert eine Auseinandersetzung mit der nationalen Methodik in Missbrauchsfällen. Dieser Ansatz, der im weitesten Sinne als Prozessrechtsvergleichung bezeichnet werden kann, entspricht einer im Schrifttum in neuerer Zeit verstärkt vorgetragenen Forderung: Unabhängig davon, ob der (politische) Weg des Europäischen Zivilverfahrensrechts in einer eigenständigen Europäischen Zivilverfahrensordnung mündet oder sich mehr um eine Annäherung der nationalen Rechte bemüht, ist ein Verständnis für die gemeineuropäischen Standards und Mechanismen des Zivilverfahrensrechts notwendig, um gerechte Rechtsanwendung sicherzustellen.37
36 37
Vgl. z.B. unten, S. 120, 122, 152. Leible, in: Leible/Terhechte, Enzyklopädie Europarecht III, S. 433, 481.
§ 3 Gang der Darstellung Gang der Darstellung
In Kapitel 1 der Arbeit und am Anfang der Untersuchung stehen konsequenterweise die Grundlagen der Missbrauchsverhinderung im nationalen Recht und im Unionsrecht. Dabei wird in § 4 zunächst untersucht, wie die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Fälle des Rechtsmissbrauchs und der Gesetzesumgehung handhaben. Den Ausgangspunkt bildet das dem Leser vertraute deutsche Recht, wobei die Rechtsordnungen Frankreichs und Englands jeweils nachfolgend rechtsvergleichend in die Untersuchung Eingang finden werden. In § 5 werden die Erkenntnisse dieser Grundlegung dazu verwandt, das durch den EuGH geschaffene Konzept der Missbrauchsverhinderung zu durchdringen und für das eigentliche Ziel der Arbeit, die Behandlung von Verfahrensmissbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht, nutzbar zu machen. Dies erfolgt in Kapitel 2 der Arbeit, wobei in § 6 zunächst die grundsätzliche Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht näher begründet wird, um daran anschließend in § 7 gegenläufige Grundsätze und Interessen gegeneinander hinsichtlich der Anwendbarkeit des Missbrauchsverbots zu befragen. In Kapitel 3 der Arbeit sollen dann, aufbauend auf den vorangegangenen Ausführungen, einzelne Fälle von Verfahrensmissbrauch mittels des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots zu lösen versucht werden, wobei § 8 den Bereich der Zuständigkeitserschleichung in den Fokus nimmt und § 9 die missbräuchliche Ausübung verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte. Zu guter Letzt werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst und die Möglichkeiten der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch mittels des in der Arbeit vorgeschlagenen Ansatzes aufgezeigt.
Kapitel 1
Missbrauchsverhinderung im nationalen Recht und im Unionsrecht
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
Entsprechend des Anwendungsbereichs, welcher dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbots zugesprochen wird, soll in diesem Abschnitt die Behandlung von Fragen des Rechtsmissbrauchs (unten, A.) und der Gesetzesumgehung (unten, B.) umfassend beleuchtet werden, wie sie im nationalen Recht durch Wissenschaft und Rechtsprechung erfolgt. Den Ausgangspunkt bildet das deutsche Recht, wobei jeweils rechtsvergleichend das französische und das englische Recht Eingang in die Untersuchung finden. Unselbstständige Bedeutung in der Verhinderung von Missbrauch kommt der Normauslegung zu. Unabhängig davon, ob man missbräuchliches Verhalten über eine eigene Rechtsfigur, wie das unionsrechtliche Missbrauchsverbot1 oder die französische fraude à la loi2 zu verhindern sucht, oder die Reichweite der Auslegung im Allgemeinen großzügig bemisst, wie im deutschen Recht bei der Verhinderung von Versuchen der Gesetzesumgehung3, besteht in jedem Fall das Bedürfnis, sich damit auseinanderzusetzen, wie die Auslegung zur Verhinderung von Missbrauch genutzt werden kann. Die Arbeit wird an verschiedenen Stellen zeigen, dass gerade diesbezüglich erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen; zwischen den Möglichkeiten der Auslegung und der Verhinderung von Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch anhand besonderer Rechtsfiguren oder Argumentationstopoi. Dies gilt für das nationale Recht4, aber ebenso für die Ebene des Unionsrechts5. Da Auslegung aber immer kontextbezogen erfolgt und je nach Missbrauchskonstellation eine andere Funktion einnimmt6, lassen sich abstrakte Aussagen dazu, wie sich über die Normauslegung Missbrauch verhindern lässt, sinnvollerweise nicht treffen. Demnach wird die Arbeit Fragen der Normauslegung immer dort ansprechen, wo sie zur Verhinderung von Missbrauch relevant werden.7 1
Vgl. S. 147. Vgl. S. 81. 3 S.u., S. 65. 4 Zum deutschen Recht, vgl. unten, S. 32 f. und 71 ff., zum französischen, vgl. S. 49 und 83 ff. 5 Z.B. unten, S. 131 ff. 6 S.u., z.B. S. 59 ff. 7 Etwa im Rahmen der Analyse des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots, vgl. S. 137 ff. 2
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
25
A. Rechtsmissbrauch Gegenstand des Rechtsmissbrauchs ist der ewige Widerstreit zwischen Individualgerechtigkeit und den abstrakten Normen des Rechts.8 Wo Recht in generalisierender und daher notwendigerweise unflexibler Weise eine Vielzahl an Sachverhalten erfassen will, besteht immer die Möglichkeit von Ergebnissen, die auch bei noch so kunstgerechter Gesetzesauslegung die Interessen der Beteiligten nicht hinreichend abbilden und deshalb als missbräuchlich empfunden werden. Diese Wahrscheinlichkeit ist dem Grunde nach umso höher, je umfassender die betreffende Rechtsposition ist und je abstrakter die Art und Weise ihrer Normierung. Dass uns die Anwendung einer bestimmten Rechtsnorm im Einzelfall als unbillig erscheint, kann unterschiedliche Gründe haben. Bloße eigene Nachteile durch die Rechtsausübung anderer werden gemeinhin nicht als Missbrauch eines Rechts empfunden und verstanden und können dies auch nicht sein. Vielmehr sind dies Situationen, in denen über die naturgemäß zu erwartende Nachteile hinaus weitere Umstände hinzutreten, welche die Rechtsausübung als untragbar, nicht interessengerecht und unbillig erscheinen lassen. Das kann zum Beispiel daran liegen, dass sich zu eigenem Vorverhalten in Widerspruch gesetzt wird, man eine Rechtsstellung zur Schädigung eines anderen einsetzt oder ganz allgemein Rechte ohne eigenes Interesse an der Rechtsverwirklichung ausgeübt werden. Die Frage der Beschränkung subjektiver Rechte durch ein gegenläufiges Prinzip des Rechtsmissbrauchs muss auf den ersten Blick irritieren: Wie kann ein Verhalten Ausübung eines Rechts und zugleich unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs unzulässig sein? Hier scheinen schon die Denkgesetze der Logik vernachlässigt. Geht man aber davon aus, dass Billigkeit eine dem Recht eigene Anlage ist,9 entschärft sich dieser Konflikt. In diesem Sinne dient jedes Prinzip, das gerechte Ergebnisse in der Rechtsanwendung sicherstellen möchte, lediglich der Verwirklichung diesem, dem Recht eigenen Ziel. Damit relativiert sich die mit dem subjektiven Recht zusammenhängende Gestaltungsmacht; sie wird kontextbezogen. Im deutschen Recht hat das Rechtsmissbrauchsverbot mittlerweile allerdings einen deutlich breiteren Anwendungsbereich, als den, der Beschränkung subjektiver Rechte. Über diese hinaus erstreckt es sich auf alle sonstigen Sachverhalte, in denen das durch Gesetz verfügte Ergebnis mit den Vorstellungen von Moral und Gerechtigkeit nicht in Einklang steht. So kann beispielsweise das Berufen auf die Nichteinhaltung einer Formvorschrift unter Umständen missbräuchlich sein.10 Bedeutendes Fallmaterial lieferte und liefert gleichwohl 8
Raiser, in: summum ius, summa iniuria, S. 145, 145. S.o., S. 18. 10 Vgl. unten, S. 39. 9
26
1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
das Sachenrecht.11 Die abstrakte, nahezu umfassende Gewährleistung des Eigentums in § 903 BGB bedingt geradezu Situationen, in denen die berechtigten Interessen eines anderen in der Anwendung dieser Garantie nicht hinreichend berücksichtigt sind. Genannt sei nur der berühmte Fall des Reichsgerichts, in dem ein Vater es seinem Sohn nicht gestattete, das Grab seiner Mutter zu besuchen, das auf dem väterlichen Grundstück belegen war.12 Im Folgenden wird das Rechtsmissbrauchsverbot, wie es im deutschen Recht Wirkung zeigt, näher beleuchtet. Zunächst werden die rechtsgeschichtlichen Hintergründe des Rechtsmissbrauchsverbots dargestellt (unten, I.), danach die heutzutage vorgenommene Verortung des Rechtsmissbrauchsverbots in § 242 BGB (unten, II.). Anschließend sollen das französische und das englische Recht darauf hin untersucht werden, wie sie mit Fragen des Rechtsmissbrauchs umgehen (unten, III.) und eine Zusammenfassung der gefundenen Ergebnisse erfolgen (unten, IV.). I. Rechtsgeschichtliche Grundlagen Eine direkte Abstammungslinie des heutigen Rechtsmissbrauchsverbots bzw. – was synonym zu verstehen ist13 – des Verbots unzulässiger Rechtsausübung von historischen Vorläufern lässt sich nicht zeichnen. Das, was funktional unseren heutigen Vorstellungen einer Rechtsmissbrauchslehre entspricht, hat sich erst im 19. und 20. Jahrhundert14 als Verfeinerung des gemeinrechtlichen Arglisteinwands15 zu entwickeln begonnen. Dennoch lohnt ein Blick in die ältere Geschichte, stützte man sich doch in Ausgestaltung der modernen Rechtsmissbrauchslehre vornehmlich auf römisch-rechtliche Lösungsansätze, die sich mit Fragen der Einzelfallgerechtigkeit beschäftigten. 1. Exceptio doli, (bona) fides und aequitas im römischen Recht Im klassischen römischen Recht lässt sich keine allgemeine Theorie des Rechtsmissbrauchs finden.16 Und auch bei Justinian ist dies alles andere als
11 Das gilt auch für die anderen hier untersuchten Rechtsordnungen, vgl. S. 44 zum französischen und S. 52 zum englischen Recht. 12 Vgl. RG, Urt. v. 3.12.1909, II 190/09, RGZ 72, 251. Das Reichsgericht fasste den Fall unter § 226 BGB, der eine besonders krasse Form des Rechtsmissbrauchs, die Schikane, selbständig regelt. Besser aufgehoben gewesen wäre der Fall jedoch im allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbot, das im Gegensatz zu § 226 BGB kein Handeln ausschließlich in Schädigungsabsicht erfordert. Denn der Vater begründete sein unredliches Verhalten mit Rücksicht auf ein Herzleiden, richtig daher Grothe, in: MüKo-BGB, § 226 BGB Rn. 12 m.w.N. 13 Vgl. Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 24 14 Merz, ZfRV 1977, 162, 163. 15 Hochloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 103 m.w.N. 16 Vgl. Mader, Rechtsmissbrauch, S. 25 mit umfangreichen Nachweisen.
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
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klar.17 In den aus heutiger Sicht dem Rechtsmissbrauchsverbot zugeschlagenen Konstellationen spielte vielmehr die sog. fides18 eine zentrale Bedeutung, auf die sich die moderne Rechtsmissbrauchslehre letztlich zurückführen lässt. 19 Diese „Grundkategorie römischen Normverständnisses“ stand nach damaligem Brauchtum für die – zunächst nur als sittliche Kategorie verstandene – „Erwartung normgerechten Verhaltens“20 und fand ihre Verkörperung in der Göttin Fides, als personalisierte Treue.21 Aus der fides leitete man mit der Zeit eine rechtliche Verpflichtung zur Einhaltung eines Versprechens ab und, korrespondierend dazu, das hierauf bezogene Vertrauen des anderen Teils.22 Verobjektiviert, im Sinne einer ‚guten Treue‘ (bona fides), zeitigte sie Wirkungen vor allem als prätorisches Recht im Formularprozess:23 Neben den bestehenden actiones konnte bei formfreien Schuldverhältnissen eine Leistung ex fide bona eingeklagt werden (bonae fidei iudicium). Daneben nahm sie außerdem bei strengrechtlichen Klagen eine pflichtpräzisierende und darüber hinaus eine rechtsvernichtende Funktion an. Vor allem die zuletzt genannte Ausprägung verdient vorliegend Beachtung. Der sog. Arglisteinwand, die exceptio doli, diente im Formularprozess im Sinne einer exceptio doli praeteriti als Einwand gegen die Entstehung des gegnerischen Anspruchs und als exceptio doli praesentis als Einwand gegen die Klageerhebung an sich; Begrifflichkeiten, die auch heute noch zur Beschreibung der verschiebenden Ausprägungen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens verwendet werden.24 Die exceptio doli konkretisierte damit das allgemeine Prinzip der bona fides im römisch-rechtlichen Formularprozess.25 Dem starren Formalrecht wurden Billigkeitserwägungen im Sinne der aequitas26 zur Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit entgegengesetzt27. Im Unterschied zur heute gängigen Verortung des Rechtsmissbrauchsverbots als ein vorwiegend subjektive Rechte beschränkendes Moment, bezog sich die exceptio doli nicht auf die Ausübung einer – dem römischen Recht fremden – subjektiv-rechtlichen Rechtsposition, 28 sondern auf die verfahrensrechtliche Durchsetzungsmöglichkeit. Mit 17
Gambaro, 4 E.R.P.L. (1995) 561, 562. Lat. etwa , , vgl. Schiemann, G.: Fides, in: DNP, Bd. 4, Sp. 507. 19 Im Folgenden nach Duve/Haferkamp, in: HKK, § 242 BGB Rn. 4 ff. m.w.N. 20 Nörr, Fides im Völkerrecht, S. 4. 21 Vgl. Prescendi, F.: Fides, in: DNP, Bd. 4, Sp. 506 f. 22 Vgl. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 503 f.: Das römische Recht nahm mit der Zeit zusehends außerrechtliche Wertungen in sich auf. 23 Nörr, Fides im Völkerrecht, S. 44. Die genauen Hintergründe der Entwicklung der fides zur bona fieds sind allerdings unklar, vgl. Schermaier, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 63, 77 ff. 24 Z.B. Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 349, 351. 25 Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, S. 1803. 26 Vgl. Schiemann, G.: Aequitas, in: DNP, Bd. 1, Sp. 188 f. 27 Huwiler, in: Schmidlin, Vers und droit privé européen commun?, S. 57, 58. 28 Vgl. Haferkamp, Rechtsmissbrauch, S. 21. 18
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
dem Niedergang des Formularprozesses und der Umorientierung hin zu einem von subjektiven Rechten geprägten Rechtssystem, verschob sich gleichfalls die Bedeutung der exceptio doli (generalis). Im ius commune des Mittelalters und in späterer Zeit setzte sich deren materieller Gehalt unter geänderten Vorzeichen fort.29 Hierbei wurde die dem Arglisteinwand zugrunde liegende bona fides zunehmend mit der (auch 30 ) in deutschrechtlicher Tradition stehenden Paarformel von ‚Treu und Glauben‘ in Verbindung gebracht. Selbst wenn die ‚Treue‘ im Sinne dieser Formel ursprünglich eine stärkere persönliche Bindung der Parteien an ihre Abreden zum Inhalt hatte,31 wurde sie letztlich doch mit der bona fides des römischen Rechts gleichgesetzt.32 2. Geltung der exceptio doli generalis unter dem BGB Noch im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 sucht man vergebens nach einer Verbürgung eines allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots. Einzig ein in verschiedenen Tatbeständen ausgeprägtes, enggeschnittenes Schikaneverbot bildete einen Kristallisationspunkt von Rechtsmissbrauchserwägungen. 33 Einen abstrakt gewährten Entscheidungsspielraum in Missbrauchsfällen, im Sinne einer Generalklausel, wollte man der Richterschaft zum Schutze der gerade erst erkämpften bürgerlichen Freiheiten nicht zugestehen.34 Allerdings hinderte dies die Gerichte nicht, in ihren Entscheidungen auf die exceptio doli generalis als integralen Bestandteil der Rechtsordnung zu rekurrieren, gerade weil die Kodifikation mit ihren bekanntermaßen starren Regeln missbräuchliches Verhalten nicht verhindern konnte, sondern es eher noch ermöglichte.35 Auch mit Inkrafttreten des BGB war die Geltung der gemeinrechtlichen exceptio doli generalis im Zivilrecht nahezu unumstritten.36 Zwar hatte man es im Gesetzgebungsverfahren noch mit Nachdruck abgelehnt, ein allgemeines Rechtsmissbrauchsverbot in das BGB einzuführen. Was die Verhinderung von
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Mader, Rechtsmissbrauch, S. 75 f.; Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, S. 1804. Vgl. Strätz, Treu und Glauben, S. 283. 31 Vgl. Weber, JuS 1992, 631, 632. 32 Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 18; Wendt, AcP 100 (1906) 1, 4; Duve, in: HKK, § 242 BGB Rn. 16. 33 Vgl. etwa Erster Theil, Titel 8: „§.27. Niemand darf sein Eigenthum zur Kränkung oder Beschädigung Andrer mißbrauchen. §.28. Mißbrauch heißt ein solcher Gebrauch des Eigenthums, welcher vermöge seiner Natur nur die Kränkung eines Andern zur Absicht haben kann.“ 34 Weber, JuS 1992, 631, 631. 35 Vgl. die Nachweise bei Haferkamp, Rechtsmissbrauch, S. 40. 36 Vgl. die umfassenden Nachweise bei Haferkamp, in: HKK, § 242 BGB Rn. 49 und Wendt, AcP 100 (1906), 1, 5. 30
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
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Rechtsmissbrauch anging, konzentrierte man sich vornehmlich auf das Schikaneverbot des § 226 BGB.37 Der wiederum sehr enge Anwendungsbereich dieser Vorschrift – die Schädigung des anderen Teils durch die Rechtsausübung muss das einzige Motiv des Rechtsinhabers sein38 – führte die Praxis indes in eine methodische Sackgasse, aus der sie sich durch einen Rekurs auf die exceptio doli generalis zu befreien suchte.39 Eine dogmatische Begründung für diesen Rückgriff lieferte sie hierfür anfangs nicht.40 Mit der Zeit verankerte das Reichsgericht das Rechtsmissbrauchsverbot dann in den Vorschriften des BGB. Dabei stützte es sich nicht, was naheliegend gewesen wäre, auf eine erweiternden Auslegung des § 226 BGB,41 sondern auf die §§ 242, 826 BGB.42 Das Schikaneverbot verlor deshalb zusehends an Bedeutung.43 3. Die Rechtsmissbrauchslehre in der Zeit des Nationalsozialismus Besonderen Einfluss auf die Entwicklung der heutigen Rechtsmissbrauchslehre in Deutschland hatte die Zeit des Nationalsozialismus. Die Hintergründe dieser Entwicklung sind für das Verständnis und den Umgang mit der heutigen Lehre, über die allgemeine Sensibilisierung für nationalsozialistischen Einfluss auf die Rechtslehre neuerer Zeit hinaus, von elementarer Bedeutung und seien deshalb dargestellt. Maßgeblich durch die Arbeit Sieberts zu „Verwirkung und Unzulässigkeit der Rechtsausübung“ wurde § 242 BGB – und damit auch die Rechtsmissbrauchslehre44, als Fortentwicklung der gemeinrechtlichen exceptio doli generalis45 – Mittel zum Zweck, um die Bindung des Einzelnen in einem von völkischer Ideologie überformten Volksganzen in das Privatrecht hineinzutragen. 46 Im Sinne des bereits im sog. 25-Punkte-Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920 formulierten Prinzips „Gemeinnutz vor Eigennutz“47 wurde das subjektive Recht systematisch entwertet, indem man in der Rechtsanwendung die Stellung des Einzelnen in der Volksgemeinschaft in den Fokus der 37
Vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 216. Vgl. statt vieler Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, Rn. 77 m.w.N. 39 Heinrich, in: FS Laufs, S. 585, 590. 40 Haferkamp, Rechtsmissbrauch, S. 126. 41 Heinrich, in: FS Laufs, S. 585, 591. 42 Vgl. RG, Urt. v. 28.11.1923, V 802/22, RGZ 107, 357, 363; Urt. v. 17.3.1932, IV 372/31, RGZ 135, 374, 376. 43 Vgl. Haferkamp, in: HKK, §§ 226–231 BGB Rn. 2. 44 Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 345 f. 45 Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 103. 46 Umfassend dazu Haferkamp, Rechtsmissbrauch, S. 178 ff.; ders. in: HKK, § 242 BGB Rn. 74 ff. 47 Vgl. Punkt 25 des sog. 25-Punkte-Programms der NSDAP, abrufbar unter: http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/nsdap25/index.html (zuletzt abgerufen am: 1.9.2015). 38
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Betrachtung stellte.48 Ob eine Rechtsausübung im Einzelfall zulässig war, beurteilte sich nunmehr danach, ob sie sich mit den Anforderungen der Volksgemeinschaft vertrug;49 der Begriff von Treu und Glauben sollte sich fortan nach „nationalsozialistischen Rechtsgrundsätzen“50 bestimmen. Um dieser Pflichtgebundenheit möglichst direkte Wirkung zu geben, sprach Siebert sich dafür aus, sie gleichsam als Innengrenze des jeweiligen subjektiven Rechts zu verstehen. Ein Handeln in Widerspruch zu den durch die Volksgemeinschaft diktierten Pflichten war damit ein „Handeln ohne Recht“51 und deshalb unzulässig; das modifizierte die ursprüngliche Arglisteinrede zu einer von Amts wegen zu beachtenden Einwendung und übertrug, mit den bekannten Konsequenzen, die Befugnis, Rechtsinhalte festzulegen in großem Umfang auf die Richterschaft. 52 Die im Rahmen der Rechtsmissbrauchslehre auch heute noch herrschende sog. Innentheorie 53 knüpft an die Lehren Sieberts an und stützt sich – freilich vom ideologischen Ballast jener Zeit befreit – maßgeblich auf dessen Grundlegungen.54 II. Das Rechtsmissbrauchsverbot und § 242 BGB Nach heutigem Verständnis stellt das Verbot des Rechtsmissbrauchs keine eigene Rechtsfigur dar. Vielmehr ist darin eine der Fallgruppen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben im Sinne der Generalklausel des § 242 BGB zu sehen.55 Neben der aus Treu und Glauben abgeleiteten Pflichtenebene56 repräsentiert das Rechtsmissbrauchsverbot die sog. Ausübungsbegrenzung: 57 Eine Rechtsposition soll dann nicht realisiert werden können, wenn hierdurch, dem
48 Vgl. Siebert, Rechtsmissbrauch, S. 17 „zur Wandlung des bisherigen bürgerlichen Rechts durch das völkische Gemeinschaftsrecht“ (S. 16): „Damit ist das bisherige ‚subjektive Recht‘ überwunden; an seine Stelle tritt im Recht der Volksgemeinschaft die volksgenössische Berechtigung.“ 49 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 346. Freilich wurde auch schon vor Siebert die Pflichtgebundenheit subjektiver Rechte (‚Recht und Pflicht‘) proklamiert, so z.B. bei Gierke, Deutsches Privatrecht, S. 358, dabei aber mit einem anderen ideologischen Impetus (‚Sozialrecht‘), vgl. die Nachweise bei Haferkamp, in: HKK, § 242 BGB Rn. 85. 50 Siebert, Rechtsmissbrauch, S. 14 f. 51 Siebert, Verwirkung, S. 91. 52 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 346. 53 S.u., S. 36 f. 54 Krit. und mit umfassenden Nachweisen Haferkamp, in: HKK, § 242 BGB Rn. 82. 55 Für die nahezu absolut vorherrschend vertretene Meinung, jeweils m.w.N.: Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 348; Medicus/Lorenz, Schuldrecht AT, Rn. 148; Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S.26; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, § 20 Rn. 81; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 214; Mansel, in: Jauernig, § 242 BGB Rn. 7; G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 197. 56 Vgl. nur Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 132 ff. 57 Heinrich, in: FS Laufs, S. 585, 586.
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„rechtsethischen Prinzip“58 von Treu und Glauben widersprechend, das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme und damit die berechtigten Interessen anderer verletzt würden.59 Der Begriff des Rechtsmissbrauchs ist in Zusammenhang mit § 242 BGB irreführend, da er ein maliziöses, subjektiv vorwerfbares Verhalten suggeriert. Dieses ist unter Umständen schon von den §§ 134, 138 BGB erfasst. Neben Fällen bewusster Schädigung anderer, die gegebenenfalls von § 226 BGB erfasst sind, ist aber auch solches Verhalten unzulässige Rechtsausübung, das aus anderen Gründen gegen Treu und Glauben verstößt.60 Dass zwischen Treu und Glauben und Rechtsmissbrauch eine enge Verwandtschaft besteht, zeigt die Rechtsgeschichte61 und wird durch einen Blick ins Ausland bestätigt. Der prominente Art. 2 Abs. 2 des Schweizerischen ZGB ist eine der wenigen positiv-rechtlichen Ausprägungen für ein Verbot des Rechtsmissbrauchs. Unter dem Titel „Inhalt der Rechtsverhältnisse“ führt die Vorschrift aus, dass „der offenbare Missbrauch eines Rechts […] keinen Rechtsschutz (findet)“. Dies steht in direktem Zusammenhang zu Abs. 1 derselben Vorschrift, der ein Gebot des Handelns nach Treu und Glauben statuiert.62 Die Funktion des Rechtsmissbrauchsverbots ist es, im Einzelfall regulierend zu wirken. Das stellt das Unterfangen, abstrakte Aussagen über dessen Voraussetzungen, Anwendungsbereich und Wirkungsweise zu machen, vor gewisse Schwierigkeiten.63 Zwar lassen sich § 242 BGB und das Rechtsmissbrauchsverbot systematisieren, insbesondere über die Bildung von Fallgruppen praktisch handhabbar machen. Dennoch darf dies nicht den Blick darauf verstellen, dass es gerade die Umstände des Einzelfalls sind, die Legitimationsgrund und Ausgangspunkt für die Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots darstellen.64 1. Struktur Mit der Verankerung des Rechtsmissbrauchsverbots in § 242 BGB ist dessen Anwendungsbereich nicht, wie es Systematik und Wortlaut der Vorschrift ei-
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Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 241. Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 348; Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 4; Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 12 spricht vom „Gebot der Fairness im Rechtsverkehr.“ 60 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 217. 61 S.o., S. 26 ff. 62 Vgl. Huwiler, in: Vers und droit privé européen commun?, S. 57, 76; Honsell, in: BK, Art. 2 ZGB Rn. 1 f., auch mit Nachweisen zur Gegenansicht; krit. Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 12. 63 Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 31. 64 Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 13 ff.; Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 280. 59
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gentlich nahelegen würden, sachlich auf die Art und Weise der Leistungserbringung durch den Schuldner beschränkt. Die Grundlage des Missbrauchsverbots ist das Gebot, nach Treu und Glauben zu handeln. Dieses Gebot wird als ein „das gesamte Rechtsleben beherrschende(r) Grundsatz“ 65 begriffen, § 242 BGB nur als dessen unzulängliche Darstellung.66 Die Vorschrift wurde dementsprechend durch Rechtsprechung und Lehre weit ausgedehnt. In persönlicher Hinsicht findet das Gebot von Treu und Glauben auch auf den Gläubiger als Rechtsinhaber Anwendung,67 sachlich ist neben der missbräuchlichen Ausübung subjektiver Rechte jedes missbräuchliche Berufen auf eine Rechtslage oder -gestaltung erfasst, weshalb der Begriff des Rechtsmissbrauchs irreführend ist. 68 Dort hat es insbesondere im Verwaltungsrecht Bedeutung erlangt, vor allem in Gewand des Verbots widersprüchlichen Verhaltens, spezieller im Sinne des Anwendungsfalls der Verwirkung.69 a) Abgrenzung zu anderen Fragenkomplexen und Subsidiarität des Rechtmissbrauchsverbots In seiner beschränkenden Funktion steht das Rechtsmissbrauchsverbot in Konkurrenz zu anderen Normen oder Prinzipien, die sich ebenfalls limitierend auf eine Rechtstellung auswirken können, wenn deren Ausübung in Konflikt mit gesellschaftlichen oder ethischen Anforderungen gerät. Augenfällig ist dabei zunächst die Konkurrenz zur Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen, §§ 133, 157 BGB. Diese hat, wie § 157 BGB festschreibt, nach Treu und Glauben zu erfolgen und kann dementsprechend zur Einschränkung einer Rechtsposition führen. Indem sich die Auslegung mit dem Prinzip von Treu und Glauben auf dieselbe Grundlage stützt, wie das Rechtsmissbrauchsverbots, muss eine Abgrenzung im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Ganz allgemein lässt sich aber festhalten, dass das Rechtsmissbrauchsverbot gegenüber der Auslegung einen deutlich weiteren Anwendungs- und Wirkungsbereich hat: So stehen beispielsweise die Anwendungsfälle des venire contra factum proprium und der Verwirkung unabhängig von Fragen der Auslegung.70 Gleiches gilt für eine über das Rechtsmissbrauchsverbot erfolgende 65 BGH, Urt. v. 23.9.1982, VII ZR 183/80, BGHZ 85, 39, 48; Grüneberg, in: Palandt, § 242 BGB Rn. 1. 66 Mansel, in: Jauernig, § 242 BGB Rn. 1. 67 Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 348; G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 2, 86. Vgl. auch Auer, Materialisierung, S. 62. 68 Mansel, in: Jauernig, § 242 BGB Rn. 34. 69 Vgl. die Nachweise bei BVerwG, Beschl. v. 12.1.2004, 3 B 101/03, NVwZ-RR 2004, 314, 314 und BVerwG, Beschl. v. 18.3.1988, 4 B 50/88, NVwZ 1988, 730: Verwirkung von Abwehransprüchen gegenüber einem baurechtswidrig errichteten Nachbargebäude; vgl. auch Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1101 ff.; Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 104, mit Blick auf das Unionsrecht. 70 Vgl. zu beiden Fallgruppen unten, S. 41 ff.
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Einschränkung der Ausübung absoluter Rechte. Weiter gilt, dass über das Rechtsmissbrauchsverbot eine Korrektur der Rechtsausübung gerade dort erfolgen kann, wo der Auslegungsspielraum erschöpft ist.71 Letzteres ist für die Rangfolge zwischen einer möglichen Auslegung und einem Rückgriff auf das Rechtsmissbrauchsverbot bedeutsam: Die Unzulässigkeit der Rechtsausübung als Folge der Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots ist Ultima Ratio und muss auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben.72 Deshalb ist zunächst immer eine Lösung über weniger einschneidende Maßnahmen zu suchen, zuvörderst mithin die Auslegung.73 Die Anwendung der entsprechenden Vorschriften im Wege der Auslegung erzeugt einen Bezug zum Einzelfall, womit sich hierüber schon eine Reihe von Fällen auflösen lässt, die man vordergründig als ‚rechtsmissbräuchlich‘ eingestuft hat. Unter methodischen Gesichtspunkten folgt die Vorrangigkeit der Auslegung gegenüber der Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots aus der Subsidiarität rechtfortbildender Maßnahmen gegenüber der Anwendung des Gesetzesrechts, 74 dem Vorrang der Privatautonomie75 und der Notwendigkeit, das subjektive Recht als solches zu erhalten.76 Unter rechtstheoretischen Gesichtspunkten ist darüber hinaus davon auszugehen, dass das gesetzte Recht in der Regel selbst das notwendige Maß an Gerechtigkeit transportiert und insoweit grundsätzlich keiner zusätzlichen Korrektur bedarf.77 Weniger problematisch ist demgegenüber die Abgrenzung zur Nichtigkeitsanordnung infolge eines Verstoßes gegen die guten Sitten im Sinne des § 138 BGB oder ein gesetzliches Verbot im Sinne des § 134 BGB.78 Zum einen ziehen die §§ 134, 138 BGB eine Außengrenze des Rechts, lassen eine Rechtsposition schon gar nicht entstehen. Was die Fragen des Anwendungsbereichs angeht, gilt das oben zur Auslegung Gesagte. Zum anderen ist die Rechtsfolge eines Verstoßes gegen §§ 134, 138 BGB Nichtigkeit, wohingegen das Rechtsmissbrauchsverbot eine differenziertere Behandlung zulässt.79 71
Merz, ZfRV 1977, 162, 170. Vgl. etwa Honsell, in: BK, Art. 2 ZGB Rn. 29; Huwiler, in: Schmidlin, Vers und droit privé européen commun?, S. 57, 81; Gambaro, 4 E.R.P.L. (1995) 561, 569 f. kann daher nicht gefolgt werden, der die geringe Anzahl an Gerichtsentscheidungen, in denen sich auf Rechtsmissbrauchsgedanken gestützt wird, als Argument für die Bedeutungslosigkeit dieser Rechtsfigur nimmt. 73 Darüber hinaus sind vorrangig auch solche Rechtsnormen zu beachten, die den materiellen Gehalt des Rechtsmissbrauchsverbots selbst konkretisieren, vgl. Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 104 m.w.N. 74 Larenz/Canaris, Methodenlehre S. 187-190; Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 21. 75 Vgl. Esser, JZ 1956, 555, 557. 76 Esser, in: summum ius, summa iniuria, S. 22, 23: „Recht muß Recht bleiben.“ 77 Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 2. 78 Vgl. detailliert und im Folgenden nach: G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 126 ff. 79 S.u., S. 42. 72
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b) Interessenabwägung Ob ein Verhalten rechtsmissbräuchlich ist, muss im Sinne einer umfassenden Interessen- und Risikoabwägung festgestellt werden. Als Grundlage hierfür werden unter anderem genannt:80 verfassungsrechtliche Maßstäbe, insbesondere Grundrechte81, allgemeine Rechtsprinzipien, vor allem der Vertrauensgrundsatz, gesetzliche Leitbilder, sozialethische Anschauungen, die Verkehrssitte, Interessen Dritter sowie der Öffentlichkeit und subjektive Momente in der Person des Handelnden. Die auf tatbestandlicher Ebene erfolgende Abwägung macht dabei eine nachgelagerte Abwägung allgemeiner Rechtsprinzipien mit dem Verbot des Rechtsmissbrauchs überflüssig.82 Der Tatbestand des § 242 BGB ist bezüglich der einzubeziehenden Interessen offen und kann durch die ein bestimmtes Rechtsgebiet charakterisierenden Zwecke erweitert oder verengt werden.83 Als Beispiel sei die Diskussion rund um das sog. strenge Verfahrensrecht genannt, mit der sich die Arbeit noch ausführlich auseinandersetzen wird.84 Nicht zu verkennen ist, dass durch die Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots selbst rechtlich relevante Interessen im Sinne konkreter Verhaltensstandards gerade erst geschaffen bzw. näher ausgeformt werden;85 deren faktische Akzeptanz fordert gleichwohl eine wie auch immer geartete Verankerung in der Rechtswirklichkeit.86 Was die Gewichtung der einzelnen Interessen angeht, gelten die allgemeinen Regeln. Der Maßstab muss zuvörderst aus gesetzlichen Vorschriften,87 und der darin niedergelegten Risikoverteilung abgeleitet werden, um eine Anbindung an das geschrieben Recht zu gewährleisten.88 Generell ist zunächst die
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Im Folgenden nach: Heinrich, in: FS Laufs, S. 585, 600 ff.; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 144 ff.; Mansel, in: Jauernig, § 242 BGB Rn. 4; Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 13 ff.; G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 49 ff. 81 Krit. dazu Esser, JZ 1956, 555, 556. 82 Praktisch spielt es letztlich keine Rolle, ob eine Verhalten nicht als missbräuchlich angesehen wird, weil andere (öffentliche) Interessen höher zu gewichten sind oder ob zwar ein Verstoß gegen das Rechtsmissbrauchsverbot anzunehmen ist, aber gegenläufige (öffentliche) Interessen im Rahmen einer Abwägung unter allgemeinen Rechtsprinzipien – sofern man das Rechtsmissbrauchsverbot als Bestandteil des Gebots von Treu und Glauben als ein solches begreift (vgl. die Nachweise bei Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 117) – der Vorrang einzuräumen ist (vgl. zur Notwendigkeit der Abwägung Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 52). 83 Heinrich, in: FS Laufs, S. 585, 605 f. 84 S.u., S. 227 ff. 85 Esser, JZ 1956, 555, 555. 86 Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 12. 87 G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 51. 88 Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 18.
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abstrakte Wertigkeit der betroffenen Interessen festzustellen, danach ihre Wertigkeit in der konkreten Konfliktsituation.89 Der sich hierbei jeweils ergebende ‚typische Fall‘ hat sich über die Zeit zu verschiedenen Fallgruppen verfestigt. c) Relevanz subjektiver Elemente Wie schon angedeutet wurde, ist der Begriff des Missbrauchs, was den Anwendungsbereich desselbigen Verbots angeht, nur dessen unvollständige Umschreibung. Er impliziert ein subjektiv vorwerfbares Verhalten des Handelnden aus böswilliger Gesinnung, ein arglistiges Verhalten. Derartiges kann zwar das Ergebnis der ohnehin anzustellenden Interessenabwägung eindeutiger machen. Notwendiger Bestandteil eines Rechtsmissbrauchs ist es aber nicht.90 Zwar gibt es Fallgruppen, die gerade durch die illegitimen Zwecke des Handelnden gekennzeichnet sind, Subjektives gerade voraussetzen.91 Da die Zuordnung zu einer bestimmten Fallgruppe jedoch bloß eine der praktischen Handhabbarkeit dienende Systematisierung ohne rechtlich-bindende Wirkung darstellt, ist auch die Forderung eines subjektiven Elements in bestimmten Fallgruppen nur kennzeichnend für die entsprechende Einordnung. Eine andere Frage ist die der Beweisbarkeit subjektiver Elemente, die sich zwar im gesamten Verfahrensrecht stellt, im Rahmen des Rechtsmissbrauchs aber besondere Beachtung gefunden hat. Hintergrund ist vor allem die enge Fassung des Schikaneverbots in § 226 BGB, als besonders krasser Fall des Rechtsmissbrauchs: Die Vorschrift fordert, dass die Schädigung eines anderen der einzige Zweck der Rechtsausübung ist.92 Man erachtet es heute diesbezüglich für ausreichend, dass das Verhalten des Rechtsinhabers objektiv unter Beachtung aller Umstände vernünftigerweise keinen anderen Zweck haben kann, als einen anderen zu schädigen und subjektiv, dass dieses Verhalten von einem entsprechenden Vorsatz getragen ist.93 Eine Schädigungsabsicht ist nicht zu beweisen, vielmehr wird aus einer objektiv (ökonomisch) nutzlosen Rechts-
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Vgl. Hubmann, AcP 155 (1956), 85, 101 und 103. Statt vieler, vgl. (jeweils m.w.N.) Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 348 Fn. 46; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, S. 232; Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 14; G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 53 f. Der Wechsel von einem objektiven zu einem subjektiven Rechtsmissbrauchsverständnis wurde besonders durch Siebert proklamiert. Durch die Verankerung des Rechtsmissbrauchsverbots in § 242 BGB war mit der Verkehrssitte ein objektives Moment der Kontrolle von Rechtsbeziehungen greifbar, womit der eigentlich individuelle Konflikt der Parteien vergemeinschaftet wurde, vgl. Haferkamp, Forum Historiae Juris, IV. 1. 91 Vgl. G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 206 ff. 92 Statt vieler Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, Rn. 77 m.w.N. 93 Grothe, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 4 u. 5. 90
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ausübung darauf geschlossen, dass das Verhalten nur den Zweck der Schädigung haben kann, 94 sog. Indizienlösung 95. Umgekehrt macht jedes wie auch immer geartetes legitimes Eigeninteresse des Rechtsinhabers an der Rechtsausübung die Anwendung des § 226 BGB zunichte. Das fehlende (schutzwürdige) Eigeninteresse ist über das Schikaneverbot des § 226 BGB hinaus prägend für das allgemeine Verbot des Rechtsmissbrauchs geworden.96 d) Innentheorie Die Grenzen, die das Verbot des Rechtsmissbrauchs zieht, wirken nicht von außen auf eine bestehende Rechtsstellung ein, sondern gestalten deren Inhalt gleichsam von innen heraus.97 Diese sog. Innentheorie führt zu einer Relativität des Rechtsinhalts: Eine Aussage über die Reichweite einer Rechtsposition lässt sich nur dann treffen, wenn die konkreten Umstände seiner Ausübung in Betracht gezogen werden. Wird eine bestimmte Rechtsausübung als missbräuchlich erachtet, handelt derjenige, der sich auf die für ihn günstige Rechtslage beruft, insoweit ohne Recht.98 Ist in dieser Abhandlung demnach von einem Rechtserwerb, einer Rechtsausübung oder Ähnlichem die Rede, kann damit auch eine Situation gemeint sein, in dem nur ein formal bestehendes Recht oder eine ebensolche Rechtslage für sich in Anspruch genommen wird. Freilich sind immer die konkreten Umstände der Ausübung entscheidend. e) Individueller und institutioneller Rechtsmissbrauch Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf zwei unterschiedliche Erscheinungsformen missbräuchlichen Handelns, die beide als Rechtsmissbrauch bezeichnet werden. Die bisherigen Ausführungen bezogen sich auf den sog. individuellen Rechtsmissbrauch, in der das Missbrauchsverdikt an ein Verhalten des Einzelnen, letztlich einen Verstoß gegen Treu und Glauben angeknüpft wird. Daneben wurde die Denkfigur des sog. institutionellen Rechtsmissbrauchs entwickelt, bei der aber im Unterschied zum individuellen Rechtsmissbrauch nicht ein Verstoß gegen Treu und Glauben Anknüpfungspunkt für das Missbrauchs-
94 Statt vieler, vgl. Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 344; Grothe, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 5. 95 Haferkamp, in: HKK, §§ 226–231 BGB Rn. 6. 96 Haferkamp, in: HKK, §§ 226–231 BGB Rn. 20 und unten, S. 40. 97 H.M., vgl. BGH, Urt. v. 16.2.2005, IV ZR 18/04, NJW-RR 2005, 619, 620; Urt. v. 16.6.1978, V ZR 73/77, NJW 1978, 2157, 2158; Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 101; G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 78; Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 274; a.A. Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 28; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, S. 229. 98 Siebert, Verwirkung, S. 89.
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verdikt ist, sondern ein Verstoß gegen Zweck oder Funktion eines entsprechenden Rechtsinstituts. 99 Damit geht es in Fällen institutionellen Rechtsmissbrauchs um die Frage zweckmäßiger Interpretation eines bestimmten Rechtsinstituts.100 Eine Verbindung zu Treu und Glauben besteht genau genommen nicht.101 Eine zweckmäßige Interpretation ist schließlich auch ohne die besondere Legitimationswirkung von Treu und Glauben möglich, der ohnehin primär auf den Schutz individueller Erwartungen gerichtet ist. Als praktische Beispiele eines institutionellen Rechtsmissbrauchs werden unter anderem diskutiert: der Rechtsformmissbrauch im Gesellschaftsrecht102, der Missbrauch der Vertragsfreiheit als solcher in Fällen der Inhaltskontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen103 und Kettenarbeitsverträge im Arbeitsrecht104. Ist ein institutioneller Rechtsmissbrauch festgestellt, wird der Tatbestand, auf den sich das mit dem Missbrauchsverdikt belegte Verhalten bezieht, zum Schutze des Institutszwecks – nicht zum Schutze desjenigen, der von dem Verhalten konkret betroffen ist105 – „institutskonform ‚zugeschnitten‘“106. Methodisch erschöpft sich die Bewältigung des institutionellen Rechtsmissbrauchs jedoch letztlich nur in einer korrekten teleologischen Auslegung von Rechtsnormen. Ein praktischer Nutzen der Zuordnung dieser Rechtsanwendungsfälle zu Fragen des Rechtsmissbrauchs ist meines Erachtens nicht ersichtlich. Vielmehr führt die mutmaßliche Eigenständigkeit institutionellen Rechtsmissbrauchs z.B. in Fällen der Gesetzesumgehung zu unnötigen Verwirrungen107 und wurde in anderen Zusammenhängen mangels entsprechender Dogmatisierung aufgegeben108. Als Denkfigur mag der institutionelle Rechtsmissbrauch 99
Grundlegend: Raiser, summum ius, summa iniuria, S. 145 ff. Vgl. Esser/Schmidt, Schuldrecht, S. 170 ff.; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 76; ders., in: Soergel, § 242 BGB Rn. 14; Raiser, summum ius, summa iniuria, S. 145, 151. 101 A.A. BAG, Urt. v. 18.7.2012, 7 AZR 443/09, NJW 2013, 1254 (Leitsatz); Grüneberg, in: Palandt, § 242 BGB Rn. 40; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 218 und Heinrich, in: FS Laufs, S. 585, 592, die (zusätzlich oder hauptsächlich?) auf Treu und Glauben abstellen. 102 Vgl. Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 14. Zwischen einem Verstoß gegen Treu und Glauben und einem davon unabhängigen institutionellen Rechtsmissbrauch wird hier nicht immer klar getrennt, vgl. etwa Fastrich, in: Baumbach/Hueck, § 13 GmbHG Rn. 11 mit Verweis auf BGH, Urt. v. 29.11.1956, II ZR 156/55, BGHZ 22, 226, 230 f.; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 247 und G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 242. 103 Heinrich, in: FS Laufs, S. 585, 592 ff. 104 Vgl. BAG, Urt. v. 18.7.2012, 7 AZR 443/09, NJW 2013, 1254. 105 Raiser, summum ius, summa iniuria, S. 145, 159. 106 Esser/Schmidt, Schuldrecht, S. 171. 107 S.u., S. 70. 108 Vgl. zur Durchgriffshaftung im Kapitalgesellschaftsrecht BGH, Urt. v. 16.7.2007, II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 (Trihotel) m. Anm. Altmeppen, NJW 2007, 2657, 2658: Eine 100
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eine gewisse Orientierung der Rechtsanwendung an den ‚großen Linien‘ der Rechtsordnung sicherstellen; als eigenständige Kategorie wird er in dieser Arbeit aber nicht weiter verfolgt. 2. Fallgruppen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens Dass die Frage des Rechtsmissbrauchs jeweils eine Interessen- und Risikoabwägung im Einzelfall erfordert, wurde schon dargestellt. Praktisch handhabbar wird das Verbot aber durch entsprechende Fallgruppenbildung. Die hierdurch bedingte Verselbständigung typischer Fälle darf nicht überbewertet werden, denn sie erspart dem Richter nicht, die Eigenheiten des jeweiligen Falls genau zu beleuchten.109 Die Fallgruppen überschneiden sich ohnehin in ihren Randbereichen. Ebenfalls existieren Fälle, die qua Interessenabwägung als rechtsmissbräuchlich einzustufen sind, sich aber keiner der gängigen Fallgruppen zuordnen lassen. Damit kann eine Orientierung an den typischen Ausprägungen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens immer nur eine Arbeitshilfe sein.110 Freilich folgt auch vorliegende Arbeit dem tradierten Muster. Unabhängig davon, dass das Rechtsmissbrauchsverbot mittlerweile einer positiv-rechtlichen Rechtsnorm zugeordnet wurde, haben ein Großteil der Fälle, die man in den Jahrhunderten unter dem gewohnheitsrechtlichen Institut der exceptio doli (generalis) diskutierte, Eingang in die Dogmatik gefunden.111 Eingeteilt werden die Fälle dementsprechend gewöhnlich in zeitlicher Hinsicht, was den Anknüpfungspunkt für den Missbrauchsvorwurf angeht:112 Die unter a) besprochenen Konstellationen betreffen früheres Verhalten des Rechtsinhabers, die unter b) und c) dargestellten gegenwärtiges Verhalten und d) betrifft den Widerspruch zwischen gegenwärtigem und früherem Verhalten. a) Unredlicher Rechtserwerb/Vereiteln des Rechtserwerbs des anderen Teils Regelmäßig unzulässig ist eine Rechtsausübung, wenn die ihr zugrunde liegende Rechtsposition unredlich erworben wurde; diese Erkenntnis ist von besonderem Interesse für die Fälle der sog. Zuständigkeitserschleichung, die im Hauptteil der Arbeit Beachtung finden sollen. 113 Dabei kann danach unterschieden werden, ob ein Recht selbst in zu missbilligender Art und Weise er-
Durchgriffshaftung wegen Rechtsmissbrauchs sei nach Ansicht des BGH eine „Überreaktion der Rechtsordnung“, was zu erheblicher Rechtsunsicherheit geführt habe. 109 Esser/Schmidt, Schuldrecht, S. 175. 110 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 211. 111 Mader, Rechtsmissbrauch, S. 78; Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 25. 112 Vgl. z.B. G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 241 ff.; Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 280. 113 S.u., S. 245 ff.
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worben wurde oder der gleiche Vorwurf das Herbeiführen der Tatbestandsvoraussetzungen betrifft. 114 Im letzteren Sinne wurde es beispielsweise einem Mieter nicht gestattet, sich auf die Unmöglichkeit der Gebrauchsüberlassung an einer Mietsache infolge Weitervermietung und des daraus resultierenden Untergangs des Mietzinsanspruchs zu berufen, wenn er vor Ablauf der Mietzeit ausgezogen war und die Zahlung des Mietzinses eingestellt hatte.115 Was den unredlichen Erwerbs eines Rechts selbst angeht, so werden hierunter zumeist Fälle diskutiert, in denen zwar ein Verstoß gegen die guten Sitten oder ein gesetzliches Verbot vorliegt oder das Rechtsgeschäft gemäß § 123 BGB anfechtbar ist, dieser Verstoß aber nicht die Nichtigkeit des Rechtserwerbs zur Folge hat; 116 einen Sonderfall bildet der nur unter den Voraussetzungen des § 826 BGB beachtliche Missbrauch rechtskräftiger Titel.117 Der Missbrauchsvorwurf kann nun nicht nur daran angeknüpft werden, dass jemand eine vorteilhafte Rechtsstellung unredlich erlangt, sondern auch daran, dass er Entsprechendes zu Lasten eines anderen Teils vereitelt hat. Besondere gesetzliche Ausprägungen sind die §§ 162, 815 Var. 2 BGB. Beispiele lassen sich vor allem im Bereich formpflichtiger Rechtsgeschäfte und beim Zugang von Willenserklärung finden: So kann es einem Vertragspartner unter besonderen Umständen verwehrt sein, sich auf die Formunwirksamkeit eines Vertrags zu berufen, wenn er verhindert hatte, dass der Vertrag formgemäß zustande kam.118 Gleiches gilt bei der arglistigen Zugangsvereitelung.119 b) Fehlendes schutzwürdiges Eigeninteresse Zentrale Bedeutung innerhalb des Rechtsmissbrauchsverbots kommt der Fallgruppe des fehlenden schutzwürdigen Eigeninteresses zu.120 Sie erfasst dabei unterschiedliche Konstellationen:121 Eine Rechtsausübung kann deshalb unzulässig sein, weil sie nur zu einer für den Rechtsinhaber als nutzlos anzusehenden Rechtslage führt.122 Fällt beispielsweise ein zum Rücktritt berechtigender
114
Vgl. Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 281. Vgl. BGH, Urt. v. 31.3.1993, XII ZR 198/91, BGHZ 122, 163, 168 zu § 552 S. 2 BGB a.F. bzw. heute § 326 Abs. 1 S. 1 BGB. 116 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 240 f. 117 Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 35a. 118 Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 285 m.w.N. und Kritik zur Rechtsprechung des BGH (z.B. Urt. v. 10.6.1977, V ZR 99/75, NJW 1977, 2072, 2072), die Vorsatz oder Absicht des vereitelnden Teils fordert. 119 Einzelheiten bei Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 455 ff. 120 G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 406. 121 Im Folgenden nach Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 40 ff. 122 Statt vieler: Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 291 m.w.N. 115
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Mangel weg, ist ein dennoch erfolgender Rücktritt unzulässige Rechtsausübung.123 Hierher gehört auch das Ausnutzen einer nur formalen Rechtsposition.124 Ebenfalls nicht schutzwürdig ist der Rechtsinhaber, wenn er gesetzesbzw. vertragsfremde oder allgemein unlautere Zwecke verfolgt,125 wie im Falle sog. räuberischer Aktionärsklagen.126 Eine besondere gesetzliche Ausprägung für drastische Fälle stellt das Schikaneverbot des § 226 BGB dar.127 Diese Art des Rechtsmissbrauchs hat im Europäischen Zivilverfahrensrecht in Form der Torpedoklagen einen besonderen Niederschlag gefunden.128 Bei fehlendem Eigeninteresse handelt der Rechtsinhaber in der Regel missbräuchlich. Verfolgt er auch eigene Interessen, so kann eine Rechtsausübung trotzdem unzulässig sein, wenn jene relativ gesehen derart geringfügig sind, dass die berechtigten Interessen des anderen Teils sie weit überragen und wesentlich höher zu bewerten sind.129 Systematisch gehören hierher ebenfalls die Fälle des dolo agit qui petit quod statim redditurus est: Müsste eine geforderte Leistung alsbald wieder zurückgewährt werden, ist das Fordern dieser Leistung rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig.130 Ein Interesse am nur kurzfristigen Erhalt der Leistung ist dementsprechend regelmäßig nicht schutzwürdig. Überwiegend werden die Fälle relativ geringfügigen Eigeninteresses von solchen gesondert, in denen es um eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geht, was (nur) unter besonderen Umständen eine Rechtsausübung unzulässig machen kann.131 Dass die verfassungsrechtliche Opfergrenze anderer zu beachten ist, wirkt über die Generalklausel des § 242 BGB folglich in das Privatrecht hinein.132 Gleichwohl geht es auch hierbei um eine Abwägung der widerstreitenden Interessen und den Umstand, dass die Interessen des Rechtsinhabers im Verhältnis zu denen des anderen Teils als relativ geringfügig anzusehen sind; eine exakte Grenzziehung ist meines Erachtens letztlich nicht notwendig.
123
BGH, Urt. v. 5.11.2008, VIII ZR 166/07, NJW 2009, 508, 509. Vgl. z.B. BGH, Urt. v. 20.9.2011, XI ZR17/11, NJW-RR 2012, 178: Bankgarantie auf erstes Anfordern ist dann rechtsmissbräuchlich in Anspruch genommen, wenn klar erkennbar, d.h. offensichtlich oder liquide beweisbar ist, dass es an einer materiellen Berechtigung des Gläubigers fehlt. 125 BGH, Beschl. v. 14.7.2008, II ZR 204/07, BGH NJW 2008, 3438, 3438. 126 BGH, Urt. v. 22.5.1989, II ZR 206/88, BGHZ 107, 296, 309. 127 Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 40. 128 S.u., S. 359 ff. 129 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 264 ff. 130 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 282; Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 40; Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 289. 131 Vgl. z.B. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 279; Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 42. 132 Vgl. ausführlich M. Stürner, Verhältnismäßigkeit, passim; Mansel, in: Jauernig, § 242 BGB Rn. 40 m.w.N. 124
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c) Grobe und rücksichtslose Rechtsverfolgung Als Auffangtatbestand 133 wird die Fallgruppe grober und rücksichtsloser Rechtsdurchsetzung bezeichnet. 134 Hierbei sind insbesondere die Umstände der Geltendmachung einer Rechtposition zu beachten, z.B. die Geltendmachung einer Forderung „zur Unzeit“135 oder die Ausübung eines Kündigungsrechts wegen Verärgerung durch den anderen Teil136. d) Venire contra factum proprium bzw. sonstige Widersprüchlichkeit zu vorangegangenem Verhalten Schließlich kann eine Rechtsausübung auf Grund eines Widerspruchs zu vorangegangenen Verhalten als missbräuchlich einzustufen sein. Dieser Gedanke wird ebenfalls für die Lösung von Fällen des Zuständigkeitsmissbrauchs im Europäischen Zivilverfahrensrecht von Bedeutung sein:137 Hauptsächlich geht es hierbei um Fälle des venire contra factum proprium,138 deren Behandlung sich auf den im Prinzip von Treu und Glauben zentral verankerten Vertrauensschutzaspekt stützt.139 Zwar ist es grundsätzlich legitim, sich in seinem eigenen Verhalten zu widersprechen. Unter bestimmten Umständen erfährt aber derjenige keinen Rechtsschutz, der sich zu seinem früheren Verhalten in Widerspruch setzt.140 Hierzu ist es erforderlich, dass auf Grundlage des früheren Verhaltens beim Gegenüber Vertrauen gebildet werden durfte und auch gebildet wurde. Wird dieses Vertrauen durch das zeitlich spätere Verhalten enttäuscht, ist diese Rechtsausübung unzulässig. 141 Anknüpfungspunkt für den Missbrauchsvorwurf ist dabei alleine das spätere Verhalten; ob das frühere Verhalten (subjektiv) vorwerfbar oder in irgendeiner Weise zu missbilligen war, ist
133 Vgl. Mansel, in: Jauernig, § 242 BGB Rn. 43; Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 310. 134 Genau genommen ist die Bezeichnung als ‚Auffangtatbestand‘ sinnwidrig: Die Konkretisierung des Rechtsmissbrauchsverbots durch Fallgruppen ist Folge der fehlenden Subsumierbarkeit desselben. Das Rechtsmissbrauchsverbot selbst hat eine Art Auffangcharakter, dessen Anwendung immer Folge einer umfassenden Interessen- und Risikoabwägung ist. Die etablierten Fallgruppen stellen jeweils nur eine unscharfe Umschreibung des ‚typischen Falls‘ dar. Durch einen Auffangtatbestand wird eine Subsumierbarkeit atypischer Fälle vorgespiegelt, die es aber so gar nie geben kann. 135 Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 349. 136 Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 311. 137 S.u., S. 255, 343 ff. 138 Ausführlich Dette, Venire contra factum proprium, passim; Wieling, AcP 176 (1976), 334 ff. 139 Statt vieler, vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 288 m.w.N. 140 Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 BGB Rn. 43. 141 Statt vieler Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 106.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
nicht erheblich.142 Teilweise wurde versucht, diese Fälle über einen konkludenten Verzicht zu lösen.143 Ein entsprechender Rechtsfolgenwille wird in der Mehrzahl der als rechtsmissbräuchlich eingestuften Situationen allerdings nicht vorhanden sein,144 wenngleich ein tatsächlich erklärter Verzicht natürlich beachtlich ist.145 3. Rechtsfolge Über die Folgen eines Rechtsmissbrauchs ist keine allgemeine Aussage möglich.146 In der Regel wird das ausgeübt Recht oder die Rechtsposition, auf die sich berufen wird, nicht berücksichtigt; die Rechtsausübung ist unzulässig. Spiegelbildlich können aber auch ein eigentlich nicht existierendes Recht oder bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen einer Rechtsnorm infolge eines Rechtsmissbrauchs ‚ersetzt‘ werden, etwa in Fällen der Vereitelung von Rechten des anderen Teils: So wird beispielsweise bei treuwidrig vereitelter Einhaltung der Formerfordernisse eines Rechtsgeschäfts dieses dennoch als wirksam betrachtet.147 In subjektiver Hinsicht erstrecken sich die Wirkungen des Rechtsmissbrauchsverbots grundsätzlich148 nur auf die konkret am Prozess beteiligten Parteien.149 Im Beispiel des formunwirksamen Vertrags könnte sich ein unbeteiligter Dritter deshalb nicht auf die Formgültigkeit des Vertrags berufen. Wann ein Dritter als Außenstehender einzuordnen ist und nicht mehr dem Schutzbereich des zwischen den Parteien bestehenden Redlichkeitsgebots unterfällt, ist freilich schwer abstrakt darzulegen. In jedem Fall rechtfertigt eine lediglich reflexhaft eintretende Benachteiligung eines Dritten durch missbräuchliches Verhalten eines anderen diesem gegenüber keine Korrektur der Rechtsverhältnisse.150
142
Siebert, in: Soergel-Siebert, § 242 BGB Rn. 141. So z.B. Wieling, AcP 176 (1976), 334, 335. In der österreichischen Rechtswissenschaft stellt dies den überwiegend vertretenen Lösungsansatz dar, vgl. Mader, Rechtsmissbrauch, S. 122 m.w.N. 144 Ablehnend daher Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 287 m.w.N. 145 Heinrich, in: FS Laufs, S. 585, 597. 146 Statt vieler: Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 130. 147 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 226. 148 Zu den Problemen einer Rechtsnachfolge, vgl. Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 277 f. 149 Statt vieler: Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 277 m.w.N. Probleme ergeben sich freilich im Bereich absoluter Rechte, da dort eine ‚Ersetzung‘ im inter partes-Verhältnis unweigerlich zu Rechtswirkungen gegenüber Dritten führen muss, vgl. Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 48 f., allerdings auch zur Abweichung in § 162 BGB. 150 Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 277 f. 143
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
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III. Rechtsmissbrauch in anderen europäischen Rechtsordnungen Die Konzepte zur Verhinderung von Rechtsmissbrauch in den sonstigen Mitgliedstaaten unterscheiden sich deutlich voneinander.151 Ausdrückliche Missbrauchsverbote, wie dasjenige in Art. 2 Abs. 2 des schweizerischen ZGB, sind die Ausnahme. Überwiegend stützt man sich in der Lösung von Rechtsmissbrauchskonstellationen auf Verbote, die aus allgemeinen Rechtsprinzipien abgeleitet werden. Die rechtsvergleichende Untersuchung konzentriert sich auf die Rechtsordnungen Frankreichs und Englands. Der Umstand, dass das Common Law scheinbar recht indifferent gegenüber jeglicher Form des Missbrauchs ist, macht diesen Rechtskreis als Anschauungsobjekt gerade interessant. Des Weiteren hat im Common Law keine umfassende Rezeption römischen Rechts stattgefunden,152 auf derartige Traditionslinien kann sich also nicht gestützt werden. Ein Blick ins französische Recht erscheint deshalb angebracht, da der EuGH sich in Ausarbeitung des Missbrauchsverbots auf Ebene des Unionsrechts von den schon angesprochenen französischen Rechtsfiguren hat inspirieren lassen.153 Was zum französischen Recht erarbeitet wird, kann damit in erhöhtem Maße zum Verständnis der Missbrauchsverhinderung auf Ebene des Unionsrechts beitragen. 1. Frankreich Im französischen Code civil taucht nur vereinzelt der Gedanke des Rechtsmissbrauchs auf, so etwa in Art. 618 Absatz 1 CC für den Fruchtgenuss. Die überbetont stark am Gesetzeswortlaut operierende französische Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts154 nötigte jedoch gerade dazu, auch sonstige Fälle, in denen die Rechtsanwendung den Geboten von Billigkeit und Gerechtigkeit widersprach, mittels einer einheitlichen dogmatischen Anknüpfung zu lösen.155 Die allgemeine Theorie des abus de droit ist noch recht jungen Datums. Erst im Nachklang an die Kodifikation des § 226 BGB und Art. 2 des schweizerischen ZGB hat sich eine entsprechende Lehre in Frankreich überhaupt zu entwickeln begonnen. Als deren Wegbereiter gilt allgemein Saleilles.156 Faktisch stützten Gerichte aber schon zuvor in loser Folge ihre Argumentation zur Beschränkung subjektiver Rechte auf den Gedanken, dass ein Recht nicht dazu 151 Vgl. allgemein dazu Voyame/Cottier/Rocha, in: Abuse of rights, S. 23, 23 und Ionescu, L‘abus de droit, S. 314 ff., zur Rechtslage in Italien, Österreich, Frankreich, Belgien, Niederlande, Rumänien, Deutschland, Spanien und England. 152 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 192. 153 S.u., z.B. S. 103, 120, 157. 154 Vgl. dazu unten, S. 83 ff. 155 Merz, ZfRV 1977, 162, 163. 156 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 147; Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 34.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
missbraucht werden dürfe, um andere zu schädigen. Dabei konzentrierte sich die Rechtsprechung auf das umfassendste subjektive Recht, das Eigentum. Die mutmaßlich erste Gerichtsentscheidung diesbezüglich ist die der Cour d’apell de Colmar aus dem Jahre 1855:157 Ein Grundstückseigentümer hatte einen funktionsunfähigen Kamin errichtet, nur um seinem Nachbarn die Aussicht zu versperren.158 Ebenfalls besondere Aufmerksamkeit erlangte das Urteil in der Sache Clément-Bayard: Um den Betreiber eines angrenzenden Luftschiffhangars zu schädigen, errichtete der Eigentümer eines Grundstücks auf seinem Grund und Boden lange Pfähle mit Eisenspitzen. Auf diese Weise wollte er den Betreiber des Hangars dazu nötigen, ihm sein Grundstück zu einem erhöhten Preis abzukaufen.159 Mit der Zeit fand die Figur des abus de droit in verschiedenen Rechtsgebieten breite Anwendung, so auch im Verfahrensrecht als abus du droit d’agir en justice.160 In bemerkenswertem Gegensatz zu ihrer Bedeutung in der Praxis161, steht eine inhaltliche Präzisierung der Lehre vom abus de droit allerdings noch aus. Gleiches gilt für die genaue dogmatische Verortung des Prinzips: Nicht eindeutig ist, ob es sich beim abus de droit (nur) um eine Begrenzung subjektiver Rechte oder (zusätzlich) um den Grund für einen außervertragliche Haftung handelt.162 Überwiegend wird der Missbrauch eines Rechts indes in Zusammenhang mit der deliktischen Generalklausel der Art. 1382, 1383 CC besprochen.163 Unter Voraussetzungen, die unten noch näher zu besprechen sind, stellt der Missbrauch eines Rechts eine faute im Sinne der Vorschriften dar.164
157
Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 161. Cour de Colmar, 2 mai 1855, D. 1856. 2. 9. 159 Cass. req., 3 août 1915, D. 1917. 11. 79. 160 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 735; Catala/Weir, 38 Tul.L.Rev. (1964) 221, 225 f. 161 Vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1128 m.w.N. 162 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 144. 163 Vgl. Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 710; Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 623; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1128; für eine Einordnung zwischen der Beschränkung subjektiver Rechte und einem haftungsrechtlichen Tatbestand, Carbonnier, Les obligations, Nr. 232. Die Verortung des Rechtsmissbrauchs bei den deliktischen Haftungstatbeständen ist auch aus der deutschen Rechtsgeschichte bekannt. Dort wurde teilweise über eine auf § 826 BGB gestützte Unterlassungsklage in Fällen des Rechtsmissbrauchs eine faktische Beschränkung subjektiver Rechte erzielt, ohne am ausgeübten Recht selbst anzusetzen und dieses einzuschränken, vgl. Haferkamp, Rechtsmissbrauch, S. 128 f. Natürlich forderte eine Klage über § 826 BGB auch ein Element persönlicher Vorwerfbarkeit. 164 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 738. 158
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
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Was die dogmatische Verankerung des Rechtsmissbrauchsverbots angeht, wird der abus de droit im Gegensatz zum deutschen Recht nicht als Ausprägung des Gebots von Treu und Glauben gesehen.165 Die bonne foi bzw. loyauté166 hat im französischen Recht als Instrument der Einzelfallkorrektur einen geringen Anwendungsbereich, was mit der naturrechtlichen Tradition des Code Civil insgesamt zusammenhängt: Durch seine Verbürgung in Art. 1134 Abs. 3 CC167 stand das Gebot redlichen Verhaltens im Schatten des in Abs. 1 derselben Vorschrift verfügten pacta sunt servanda168.169 Darüber hinaus bezieht sich die Vorschrift nach Wortlaut und Systematik nur auf vertragliche Sonderverbindungen; eine Ausdehnung des hierin niedergelegten Gedankens auf andere Rechtsverhältnisse ist in der französischen Lehre und Praxis nicht erfolgt.170 Die Theorie des abus de droit hat sich demnach unabhängig von den speziellen Anforderungen redlichen Verhaltens in Art. 1134 Abs. 3 CC entwickelt und dabei zwei Ausprägungen erhalten: Neben einem reinen Schikaneverbot ist auch ein Verbot der Rechtsausübung für Fälle erfasst, in denen diese dem wirtschaftlichen oder sozialen Zweck des jeweiligen Rechts zuwiderläuft.171 a) Ausschluss bestimmter droits absolus? Bezugspunkt des abus de droit ist ausschließlich ein subjektives Recht des Handelnden, womit im Unterschied zur deutschen Lehre vom Rechtsmissbrauch das unredliche Berufen auf bestimmte Rechtslagen und sonstige vorteilhafte Situationen nicht erfasst ist. So sieht man es beispielsweise nicht als abus de droit an, dass sich auf die Nichteinhaltung einer Formvorschrift berufen wird. Gelöst werden diese Fälle über einen stillschweigenden Verzicht,172 wie er für das venire contra factum proprium auch im deutschen Recht vereinzelt und in anderen Rechtsordnungen diskutiert wird.173 Allerdings bejaht man aber auch recht freimütig die Existenz subjektiver Rechte, um einen abus de droit annehmen zu können. Dies gilt etwa für das Recht des Klägers, unter verschiedenen gerichtlichen Zuständigkeiten im Zivilverfahren wählen zu können.174 165 Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 32; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1128. 166 Vgl. dazu Sonnenberger, in: FS Odersky, S. 703, 707. 167 Art. 1134 Abs. 3 CC: „Elles (les conventions) doivent être exécutées de bonne foi.“ 168 Art. 1134 Abs. 1 CC: „Les conventions légalement formées tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faites.“ 169 Sonnenberger, in: FS Odersky, S. 703, 705. 170 Vgl. Sonnenberger, in: FS Odersky, S. 703, 705. 171 Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 34. 172 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1129. 173 S.o., Fn. 143. 174 S.u., S. 196.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Trotzdem sollen wiederum nicht alle subjektiven Rechte dem Anwendungsbereich des abus de droit unterfallen. Ausgenommen werden sog. droits absolus oder discrétionaires, worunter so verschiedene Tatbestände gefasst werden, wie etwa das Recht der Eltern, der Heirat ihres minderjährigen Kindes die Einwilligung zu erteilen oder zu versagen175 oder das Recht des Grundstückseigentümers, Wurzeln, die in das Erdreich seines Grundstück eindringen, abzuschneiden176. Zum Teil stützt man diesen Ausschluss darauf, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der entsprechenden Rechte sehr detailliert ausgestaltet seien.177 Ein anderer Ansatz führt ins Feld, die ausgeschlossenen Rechte seien einer höchstpersönlichen Sphäre zugeordnet, welche keinerlei richterlicher Kontrolle unterliege.178 Der pauschale Ausschluss bestimmter Rechtsnormen aus dem Anwendungsbereich eines allgemeinen Rechtsprinzips, was der abus de droit nun einmal ist, überzeugt allerdings nicht.179 Wie später für das Zivilverfahrensrecht noch ausführlich erörtert werden wird, steht hinter dem a priori erfolgenden Ausschluss bestimmter ‚absoluter‘, ‚strenger‘ oder ‚unverrückbarer‘ Rechte oder Situationen letztlich nur eine den typischen Fall verallgemeinernde, damit aber höchst bedenkliche Aussage;180 in einer atypischen Situation muss die der Verallgemeinerung zugrunde liegende Abwägung selbstverständlich nachvollzogen werden können und auch ein vom Regelfall abweichendes Ergebnis möglich sein. Mit anderen Worten, selbst solche Rechte, die in der französischen Diskussion als ‚absolute‘ Rechte dem abus de droit entzogen sein sollen, können dies in dieser Allgemeinheit nicht sein.181 Nicht umsonst erfährt dieser Ansatz in der französischen Lehre selbst einige Kritik.182
175
Ghestin/Hauser/Huet-Weiller, La famille, Nr. 120; Josserand, Abus des droits, Nr. 329. 176 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 705. 177 Josserand, Abus des droits, Nr. 306. Hierin zeigt sich eine Parallele zum Common Law, in dem die Relevanz von Rechtsmissbrauchserwägungen traditionell mit einer ähnlichen Argumentation abgelehnt wird, vgl. unten, S. 51 f. 178 Ripert, La régle morale dans les obligations civiles, Nr. 99 ff. 179 Ebenso: Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 154; Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 70 m.w.N. 180 S.u., S. 228 ff. 181 Entsprechend der zum deutschen Recht noch ausführlich dazustellenden Diskussion rund um die sog. strengen Rechtsnormen (s.u., S. 228 ff., insbesondere Kap. 2 Fn. 102) verlagert die Einordnung eines Rechts als droit absolu das Problem lediglich auf die Frage, anhand welcher Kriterien diese zu bestimmen sind, vgl. dazu Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 706. 182 Vgl. Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 707 m.w.N.
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b) Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines abus de droit Wie schon angedeutet wurde, wird der abus de droit überwiegend als Grundlage für eine deliktische Haftung erachtet. Die Rechtsfolge des Schadenersatzes wird daher relativ einmütig konsentiert. 183 Teilweise gesteht man dem missbräuchlich in Anspruch genommenen Beklagten eine Einrede gegen die unzulässige Rechtsverfolgung zu und schafft so eine Lösung, die mit derjenigen des deutschen Rechts vergleichbar ist.184 Reichlich umstritten sind hingegen die Tatbestandsvoraussetzungen eines abus de droit. Ein Ende der in der Rechtswissenschaft geführten Debatte ist nicht abzusehen und auch die Rechtsprechung verfolgt keine klare Linie und trägt so wenig zur Klärung bei.185 Die Auseinandersetzungen spiegeln die – trotz des grundsätzlich vorhandenen Konsenses – bestehende Restunsicherheiten bezüglich der systematischen Einordnung des abus de droit als haftungsrechtlichen Tatbestand oder als bloße Begrenzung subjektiver Rechte wider.186 Dabei dreht sich die Diskussion hauptsächlich um die Frage der Notwendigkeit subjektiver Elemente. Auf Ausführungen Riperts zurückgehend, wurde ursprünglich ein recht enges Konzept verfolgt, nach dem, ganz im Sinne eines § 226 BGB, nur ein ausschließlich von Schädigungsabsicht (intentention de nuire) getragenes Verhalten einen abus de droit darstellen sollte. 187 Dieses wurde nach und nach durch eine an objektiven Kriterien orientierte Herangehensweise verdrängt, wenngleich sich auch heute noch vereinzelt Stimmen finden, welche die Schädigungsabsicht als notwendigen Bestandteil des abus de droit ansehen;188 schließlich versinnbildlichen die hohen Anforderungen dieses subjektiven Moments die überragende Bedeutung des subjektiven Rechts in der französischen Dogmatik.189 Überwiegend schließt man heute aus dem Nichtvorliegen eines legitimen Interesses (intérêt légitime) an der Rechtsausübung auf die Schädigungsabsicht.190 Daneben knüpft man aber auch direkt an den objektiven Umstand fehlenden Interesses an der Rechtsausübung an oder fragt im Sinne der deliktsrechtlichen faute danach, ob „der Rechtsinhaber nicht so gehandelt hat, wie
183
Vgl. Terré/Simler/Lequette, Les obligations, Nr. 744; vgl. auch Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 166. 184 Merz, ZfRV 1977, 162, 165. 185 Vgl. Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 693, 709; Karayannis, CDE 1999, 521, 525: „(La jurisprudence) fait preuve d’un grand pragmatisme.“ 186 Vgl. oben, bei Fn. 162. 187 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 714. 188 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 156 m.w.N. 189 Vgl. Karayannis, CDE 1999, 521, 525. 190 Starck/Roland/Boyer zit. nach Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 716; Schammo, ELJ 14 (2008) 351, 355.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
es […] ein normaler, vorsichtiger und vernünftiger Mensch, l’homme normal, prudent, raisonable, getan hätte.“191 In dogmatischer Hinsicht spielt die Missbrauchsabsicht freilich noch eine wichtige Rolle in der französischen Doktrin: Man pflegt einen sehr liberalen Ansatz hinsichtlich der Idee des subjektiven Rechts. Der individuelle Handlungsspielraum soll nur in Ausnahmefällen eingeschränkt werden. Die Eingriffsbefugnisse infolge eines abus de droit müssen daher in der Theorie an strenge Voraussetzungen geknüpft sein.192 Allerdings sprechen sich selbst diejenigen, welche eine Schädigungsabsicht konstruktiv für unverzichtbar halten, für die dargestellte Beweiserleichterung aus.193 Damit ergeben sich bemerkenswerte Parallelen zur Dogmatik des § 226 BGB bzw. der Fallgruppe fehlenden schutzwürdigen Eigeninteresses im Rahmen des deutschen Rechtsmissbrauchsverbots.194 Auch das unionsrechtliche Missbrauchsverbot wird durch den EuGH entsprechend ausgelegt.195 In der französischen Rechtsprechung, die, wie gesagt, eine recht undurchsichtige Methodik verfolgt, werden häufig die verschiedenen Kriterien der Missbrauchsabsicht und des mangelnden schutzwürdigen Eigeninteresses kombiniert.196 Abweichendes gilt nur für das Verfahrensrecht, in dem an der Missbrauchsabsicht als notwendiger Voraussetzung festgehalten wird, was eine gewisse Inkonsistenz bedeutet. 197 Der Grund hierfür liegt in dem Umstand, dass man über eine möglichst restriktive Anwendung der Regeln des abus de droit der Garantie auf Zugang zu Gericht bestmöglich Rechnung tragen möchte.198 Dass im Zivilverfahrensrecht versucht wird, Mechanismen, die vom abstrakt formulierten Regelfall abweichen, keinen allzu großen Raum zu geben, ist auch eine der deutschen Prozessrechtslehre bekannte Erscheinung. Zwar ist der Ansatzpunkt in der deutschen Diskussion der formalisierte Ablauf des gerichtlichen Verfahrens, dessen ‚starre‘ Vorschriften. Verfassungsrechtliche Erwägungen werden darüber hinaus jedoch ebenfalls einbezogen.199
191
Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 157. Voyame/Cottier/Rocha, in: Abuse of rights, S. 23, 31; vgl. Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 144. Ein ähnlicher Zusammenhang zeigt sich auch auf Ebene des Unionsrechts, mit Blick auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot: Auch dort soll der übertriebenen Aufweichung von Unionsrecht durch ein subjektives Element vorgebeugt werden, s.u., S. 160 f. 193 Catala/Weir, 38 Tul.L.Rev. (1964) 221, 224. 194 „L'usufruit peut aussi cesser par l'abus que l'usufruitier fait de sa jouissance, soit en commettant des dégradations sur le fonds, soit en le laissant dépérir faute d'entretien.“ 195 Vgl. unten, S. 154 ff. 196 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 736. 197 Catala/Weir, 38 Tul.L.Rev. (1964) 221, 230 f. Vgl. auch Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 624. 198 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 167. 199 S.u., S. 227 ff. 192
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c) Verhältnis des abus de droit zur Auslegung Wenn sich in der französischen Lehre überhaupt mit dem Konkurrenzverhältnis von Auslegung und der Lehre vom abus de droit auseinandergesetzt wird, spricht man sich für die Subsidiarität letzterer aus. Der Anwendungsbereich des abus de droit steht unter dem Vorbehalt der Gesetzesauslegung, die zur Bestimmung der Grenzen des Rechts dient. Nur wenn sich der Rechtsinhaber innerhalb der Grenzen seines Rechts halte, könne überhaupt erst von einem Missbrauch dieses Rechts gesprochen werden.200 Eine Durchbrechung soll erst erfolgen, wenn die entsprechende Rechtsnorm ausgelegt wurde. Hiermit werden die sog. limites externes eines subjektiven Rechts durchgesetzt, die ihnen ihrer Natur oder ihrem Zweck nach zuzuschreiben sind.201 Letztendlich handelt es sich hiermit um einen Vorbehalt teleologischer Auslegung vor Fragen der Rechtsfortbildung, wie er vom deutschen Recht her bekannt ist. Allerdings muss diese Zweiteilung deshalb an praktischer Relevanz verlieren, als im französischen Recht (begrifflich) überwiegend nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung getrennt wird; 202 ein Umstand, der sich auf europäischer Ebene widerholen wird.203 d) Verhältnis zur anderen Lösungsansätzen Der abus de droit ist vom Gedanken der Billigkeit getragen. Deshalb muss er sich zwangsläufig mit Art. 1135 CC überschneiden, der den Richter zu einer Rechtsfindung nach den Gesichtspunkten der équité legitimiert. Unabhängig davon, ob man hierin eine Stütze für eine reine Billigkeitsentscheidungen des Richters nach dessen Rechtsgefühl sieht204 oder nicht205, sind schon die Rahmenbedingungen für die Anwendung der Vorschrift nicht klar, insbesondere wie die équité zur bonne foi abzugrenzen ist.206 Jedenfalls scheint sie sich, wie die bonne foi auch, auf die Korrektur von vertraglichen Leistungspflichten zu beschränken. Damit stünde die équité für eine Beschränkung der missbräuchlichen Ausübung sonstiger subjektiver Rechte nicht zur Verfügung; ein Bereich, der in der Folge dem abus de droit zuzuschlagen wäre.
200
Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 155. Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 697. 202 Vgl. Fikentscher, Methoden des Rechts I, S. 546; ausführlich: Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 289 ff. m.w.N. 203 Vgl. unten, S. 146. 204 Sonnenberger, in: FS Odersky, S. 703, 709 f. 205 Esser, in: summum ius, summa iniuria, S. 22, 28 f. 206 Sonnenberger, in: FS Odersky, S. 703, 710. 201
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Abgrenzungsschwierigkeiten bestehen aber vor allem zur französischen Lehre von der Gesetzesumgehung, der sog. fraude à la loi. Die Grenzen zwischen beiden Rechtsinstituten verschwimmen.207 Der zwischen beiden Rechtsinstituten bestehende Graubereich und die diesbezüglich vorhandenen Unsicherheiten in der französischen Lehre machen es notwendig, abus de droit und fraude à la loi gemeinsam zu untersuchen. Die Eigenheiten der fraude à la loi werden unten noch ausführlich dargestellt.208 Hier sollen deshalb einige kurze Bemerkungen ausreichen. Prinzipiell müsste es relativ einfach sein, die beiden Rechtsinstitute zumindest teilweise auseinanderzuhalten: Der abus de droit fordert als Anknüpfungspunkt im Grundsatz immer ein subjektives Recht, das Umgehen objektiven Rechts – Formvorschriften, Gerichtsstandsregelgungen etc. – wäre damit eindeutig der fraude à la loi zuzuschlagen.209 Jedoch sieht man in der französischen Rechtswissenschaft keine großen Unterschiede zwischen beiden Rechtsinstituten. Beiden wohne schließlich jeweils ein Element des Missbrauchs inne.210 Eine klare Trennung unterbleibt daher oft. Ein weiterer Grund für die unklaren Verhältnisse ist, dass bei der fraude à la loi nicht zwischen erschlichener und umgangener Rechtsnorm unterschieden wird, sondern eine einheitliche Betrachtung des Umgehungsvorgangs stattfindet. 211 Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem erstrebten Vorteil des Handelnden; das Umgehen einer Vorschrift unter Ausnutzen einer anderen erscheint damit als Missbrauch letzterer. Dementsprechend wird auch das Instrument des abus de droit als Lösungsmöglichkeit für Fälle der Gesetzesumgehung angesehen.212 Nach alledem kann kaum die Rede davon sein, das französische Recht trenne sorgsam zwischen beiden Rechtsinstituten.213
207
Schammo, 14 ELJ (2008) 351, 355. Vgl. auch Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 390. S.u., S. 81 ff. 209 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 C 147. 210 Vgl. Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 390; Schammo, 14 ELJ (2008) 351, 356 m.w.N. Interessant ist, dass es diesbezüglich in der französischen steuerrechtlichen Rechtsprechungspraxis ähnliche Unklarheiten gibt, wie sie im Rahmen der Anwendung des § 42 AO im deutschen Recht zu finden sind, vgl. zur deutschen Rechtslage unten, S. 72. 211 Vgl. unten, S. 83. 212 Vgl. Vrellis, in: Liber Amicorum Gaudemet-Tallon, S. 633, 633 f., Fn. 3, zwar in einem Aufsatz über ‚abus‘ und ‚fraude‘ in der Rechtsprechung des EuGH, allerdings aus einem französischen Blickwinkel. 213 So aber Fleischer, JZ 2003, 865, 870. 208
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2. England Selbst wenn in der Vergangenheit teilweise versucht wurde, die römisch-rechtlichen bona fides in das Common Law – als Gesamtsystem aus ungeschriebenem common law und dem geschriebenen statutory law214 – einzupassen, kennt dieses heute keine allgemeine Theorie des Rechtsmissbrauchs (abuse of law).215 Im Speziellen gilt für das Vertragsrecht, dass ein Korrekturmechanismus für Einzelfallgerechtigkeit auf Grundlage von Treu und Glauben (good faith) keinen Platz hat.216 Gepflegt wird ein tradierter, recht liberaler Ansatz, wobei insbesondere das Stadium der Vertragsanbahnung von derartigen Einschränkungen freigehalten werden soll:217 „Each party to the negotiations is entitled to pursue his (or her) own interests, so long as he avoids making misrepresentations. A duty to negotiate in good faith is as unworkable in practice as it is inherently inconsistent with the position of the negotiating parties.“218
Auch für die Vertragserfüllung bzw. die aus einem Vertrag fließenden Pflichten wird diese Einschätzung geteilt und die Geltung von good faith-Erwägungen allgemein abgelehnt.219 Was für good faith in vertraglichen Sonderbeziehungen vertreten wird, gilt auch für sonstige Rechtsbereiche. Die eine Person bei der Ausübung eines Rechts leitenden Beweggründe, und mögen sie auch noch so sehr von Habgier, Geiz und Eigennutz geprägt sein, werden für unbeachtlich erklärt. 220 Dem pragmatischen Ansatz englischen Rechts entsprechend, stützt man diese ablehnende Haltung teilweise darauf, dass Motive des Handelnden vernünftigerweise nicht durch Dritte ergründet werden könnten. Eine Rechtsfindung auf
214
Zu begrifflichen und inhaltlichen Unterscheidung von ‚legislated‘ oder ‚statutory law‘, ‚customary law‘, ‚case law‘ und ‚common law‘ als Bestandteile des ‚Common Law‘, vgl. Gardner, in: Edlin, Common Law Theory, S. 51 ff. 215 Vgl. Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159, 165; Gutterridge, 5 C.L.J. (1933) 22, 22; Reid, 8 EJCL (1994) 1 ff., die auch die Rezeption der aus dem Common Law hergebrachten Entscheidungsgrundsätze aus dem Blinkwinkel schottischen Rechts analysiert, v.a. wegen der diesem zukommenden Sonderrolle zwischen Civil Law und Common Law (dazu vgl. Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 198, 201); Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 41. Für eine Einbeziehung hingegen Brownsword, 7 JCL (1994) 197. 216 Vgl. mit umfassenden Nachweisen Chitty on Contracts, Vol. 1, Rn. 1-039 und Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, S. 1874 m.w.N. 217 Selbst Autoren, die sich dafür aussprechen, good faith-Erwägungen in das Vertragsrecht des Common Law einzubeziehen, distanzieren sich hiervon für das Stadium der Vertragsverhandlungen, vgl. Brownsword, 7 JCL (1994) 197, 200. 218 Walford v Miles [1992] 2 AC 128 per Lord Ackner at 138. 219 Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 7, 39 f. 220 Gutterridge, 5 C.L.J. (1933) 22, 22 der davon spricht, das Common Law sei in dieser Angelegenheit „the consecration of the spirit of unrestricted egoism.“
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derart unsicherer Grundlage wird als wenig sinnvoll erachtet.221 So wurde es beispielsweise in einer der wichtigsten Gerichtsentscheidungen zu Fragen des Rechtsmissbrauchs, der Rechtssache Bradford v Pickles, als legitime Ausübung subjektiver Rechte angesehen, dass eine Privatperson durch Grabungen auf ihrem Grundstück einer Gemeinde buchstäblich ‚das Wasser abgräbt‘, um diese zu zwingen, ihr entweder das Wasser oder betreffendes Grundstück abzukaufen.222 Die tragenden Gründe der Entscheidung wurden auf einer Reihe anderer Fälle übertragen,223 beispielsweise auf den eines Gewerkschafters, der einen Arbeitgeber unter Druck setzte, eine Gruppe von nicht in derselben Gewerkschaft organisierten Arbeitnehmer zu kündigen. Eine hierauf gestützte deliktischen Verantwortlichkeit des Gewerkschafters lehnte man dementsprechend ab.224 a) Individualistischer Ansatz des Common Law Die Gründe für diese ablehnende Haltung gegenüber Rechtsmissbrauchserwägungen sind sicher auch auf den individualistischen Ansatz des Common Law bezüglich der subjektiven Rechtsmacht des Einzelnen zurückzuführen,225 der in Zusammenhang mit dessen Rechtsprechungs- und Gesetzgebungstradition gesehen werden muss. Rechte des Einzelnen werden und wurden sehr präzise definiert, sei es über das fortschreitende Fallrecht der Gerichte, sei es über das mit Ausnahmecharakter versehene legislativ gesetzte Recht, das sog. statutory law. Wird der Inhalt eines Rechts auf dieser Grundlage klar umrissen, sind die Vorbehalte gegenüber einem zusätzlichen Korrekturmechanismus verständlich.226 Daneben erfolgt eine gegebenenfalls notwendige Anpassung subjektiver Rechte an sich ändernde äußere Bedingungen im Gegensatz zu einem durch Kodifikation geprägten Rechtssystem nicht durch einen Rückgriff auf Generalklauseln und allgemeine Rechtsgrundsätze, sondern durch das fortschreitende case law der Gerichte.227 Einzelfallgerechtigkeit durch singuläre Korrekturen zu schaffen, gerät darüber hinaus in Konflikt mit der sog. stare decisisrule.228
221 O’Sullivan, 8 C.L.P. (1955) 61, 65 ff. Vgl. auch Voyame/Cottier/Rocha, in: Abuse of rights, S. 23, 40. 222 Vgl. The Mayor of Bardford v Pickles [1895] AC 587. 223 Vgl. die Nachweise bei Reid, 8 EJCL (2004) 1, 4. 224 Allen v Flood [1898] AC 1. 225 Voyame/Cottier/Rocha, in: Abuse of rights, S. 23, 40. Vgl. auch Catala/Weir, 38 Tul.L.Rev. (1964) 221, 222. 226 Catala/Weir, 38 Tul.L.Rev. (1964) 221, 237 f. 227 Styles, in: Forte, Good faith, S. 157, 158 f. 228 Vgl. Gutterridge, 5 C.L.J. (1933) 22, 32.
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Dies vorausgeschickt wird verständlich, warum in der Debatte rund um ein Rechtsmissbrauchsverbot im Common Law auch nicht im Sinne einer Innentheorie gefragt wird, ob der Inhalt eines Rechts im Einzelfall anzupassen ist. Das Rechtsmissbrauchsverbot wird vielmehr als ‚außentheoretischer Ansatz‘ eingeordnet und in der Folge abgelehnt. Lord Halsbury betonte in Bradford v Pickles dementsprechend, dass es alleine entscheidend sei, ob dem Beklagten Pickles ein Recht zustehe, der Gemeinde das Wasser zu entziehen oder nicht. Habe er ein Recht, so sei eine Frage nach Motiven überflüssig.229 Mit anderen Worten: Das Recht des Einzelnen ist dann nicht in Zweifel zu ziehen, wenn die nach Fallrecht oder statute vorgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind.230 Das entspricht dem im Common Law allgemein anzutreffenden Misstrauen gegenüber zu weitgehenden richterlichen Gestaltungsspielräumen231 und dessen heutzutage überwiegend ablehnender Haltung mit Blick auf allgemeine Rechtsgrundsätze232.233 b) Funktionale Äquivalente zu einem Rechtsmissbrauchsverbot Dennoch führt der Ansatz des Common Law in den entscheidenden Fällen zu Resultaten, die in aller Regel denjenigen, die auf Grundlage eines kontinentaleuropäischen Standpunkts erzielt werden, zu vergleichbar sind. Im Common Law wird das, was im deutschen oder französischen Recht durch die Figur des Rechtsmissbrauchs oder abus de droit erreicht wird, funktional durch andere Mechanismen und Vorkehrungen erzielt.234 Der Standard des good faith findet zum einen – gleichsam versteckt – Eingang in die gerichtliche Rechtsfortbildung, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, die den Umständen des Einzelfalls gerecht werden.235 Daneben ist eine Teilmaterie des englischen Common Law an sich, die equity, gerade
229
The Mayor of Bardford v Pickles [1895] AC 587 per Lord Halsbury at 594. Vgl. auch Venables, 6 EC T.J. (2002) 119, 124 f. 231 Vgl. Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, S. 1878. Diese Sichtweise schlägt sich auch im richterlichen Gestaltungsspielraum hinsichtlich der Auslegung von Gesetzen nieder, vgl. unten, S. 88 f. 232 Vgl. McKendrick, in: Forte, Good faith, S. 39, 46 f. 233 Hopt, Schadensersatz aus unberechtigter Verfahrenseinleitung, S. 18. 234 Vgl. Catala/Weir, 38 Tul.L.Rev. (1964) 221, 237 ff.; McKendrick, in: Forte, Good faith, S. 39, 41 ff.; O’Sullivan, 8 C.L.P. (1955) 61, 65; Whittaker/Zimmermann, in: Zimmermann/Whittaker, Good faith, S. 651, 675. 235 O’Connor, Good faith, S. 101. Vgl. aber auch Esser, in: summum ius, summa iniuria, S. 22, 39 mit dem Hinweis, dass Gerichtsentscheidungen, die sich zentral auf Aspekte der Billigkeit gründen, im Recht der precedents einen oftmals schweren Stand haben (werden). 230
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
aus der Notwendigkeit eines zusätzlichen Billigkeitskorrektivs heraus entstanden236:237 Ließ sich auf Grundlage der starren Regeln des Common Law oder wegen Unzulänglichkeiten im formalistischen Prozessrecht im England des 14. Jahrhunderts entgegen der Grundsätze von Moral und Gewissen kein sinnvolles Ergebnis erzielen, wandten sich die Untertanen zunehmend an den König und dieser sich an seinen Lord Chancellor. Die durch ihn verfügten Entscheidungen traten mit der Zeit als verselbständigte Rechtsmaterie neben statute und common law, vor allem, weil sich eine eigene Präjudizienbindung etabliert hatte. Bis zur Auflösung durch die Supreme Court Judicature Acts 1873-5 wurde Rechtsprechung ‚in equity‘ von einem eigenen Gericht, dem Court of Chancery, betrieben. Die mit der Auflösung bedingte Fusion238 von equity und common law hatte zur Folge, dass englische Gerichte heute ursprünglich genuines Billigkeitsrecht anwenden. Des Weiteren wirkt good faith in der Auslegung von Verträgen über die Lehre von den sog. implied terms239. Gegenstand dieser Lehre ist es, unvernünftige und unfaire Ergebnisse durch Einbeziehung von Billigkeitserwägungen und den konkreten Umständen des Vertragsschlusses zu vermeiden.240 Daneben haben sich diverse Rechtsinstitute, wie etwa das des promissory estoppel, die doctrine of frustration241 und die Lehre von der unconscionability of contract auf dem Boden von good faith-Erwägungen entwickelt.242 Des Weiteren wurden unter dem Einfluss der europäischen Privatrechtsharmonisierung vorvertragliche Informationspflichten eingeführt.243 Und auch die ablehnende Haltung bezüglich der Relevanz subjektiver Intentionen und Motiven in der Rechtsfindung wird teilweise relativiert, wenn aus objektiven Umständen mit Sicherheit auf Subjektives rückgeschlossen werden kann. Der oben angesprochene Grundsatz des Common Law, dass ein gesetzesgemäßes Verhalten nicht durch die Intentionen des Rechtsinhabers zu Unrecht werden kann, wird beispielsweise dann durchbrochen, wenn mehrere gemeinsam – an sich rechtmäßig aber – schädigend handeln. In Crofter Hand Woven Harris Tweed v Veitch 236
Vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1153 m.w.N. Im Folgenden nach Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 184 ff.; vgl. auch Blechschmidt, ZfRV 1987, 3 ff. 238 Zu den diesbezüglich noch bestehenden Vorbehalten, vgl. Burrows, 22 Ox.J.L.S. (2002) 1, 3 m.w.N. 239 Vgl. Chitty on Contracts, Vol. 1, Rn. 1-051 ff.; Grobecker, Implied terms, passim; Treitel, The Law of Contracts, Rn. 6-031 ff. 240 Vgl. Cargill International SA v Bangladesh Sugar and Food Industries Corp [1998] 1 WLR 461 per Lord Potter at 468; krit. Micklitz, Judicial Co-operation in the EU, S. 295: „‘twisting’ the meaning of words.” 241 McKendrick, in: Forte, Good faith, S. 39, 43. 242 Berger, Kodifizierung, S. 164 m.w.N.; O’Connor, Good faith, S. 101; Ranieri, Europäisches Obligationenrecht, S. 1877; Lehmann, ZEuP 2009, 693, 697 f. 243 Dazu Lehmann, ZEuP 2009, 693, 698. 237
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erklärte Viscount Simon in Abgrenzung zu Bradford v Pickles und Allen v Flood, dass Motive, als Grundlage einer deliktischen Haftung wegen conspiracy, dann nicht mehr unbeachtlich seien, wenn sie sich in einer Handlung mehrerer materialisierten.244 Die mit Subjektivem zusammenhängenden Unsicherheiten akzeptiert das Common Law also dann, wenn es vernünftigerweise keine andere Erklärung für ein bestimmtes Verhalten gibt, als eine entsprechende Intention. Das englische Common Law kennt demnach parallel zu den kontinentaleuropäischen Rechtsmissbrauchsverboten durchaus eine an Billigkeitsgesichtspunkten orientierte Einzelfallkorrektur. Der Einzelfallgerechtigkeit ist jedenfalls dann der Vorzug zu geben, wenn die Motive des Handelnden nicht bloße Mutmaßung sind, sondern diese aus objektiven Gegebenheiten mit hinreichender Sicherheit abgeleitet werden können. Das Gebot der Billigkeit steht damit unter dem Vorbehalt vorhersehbarer gerichtlicher Entscheidungen und der hierdurch bedingten Rechtssicherheit – Rechtswerte, denen das Common Law auch ansonsten überragende Bedeutung beimisst.245 Damit reduziert sich die Frage, ob Rechtsmissbrauchsgedanken in der Rechtsfindung relevant werden, in Teilen darauf, ob entsprechende äußere Umstände beweisbar sind.246 IV. Zusammenfassung Ziel des Rechtsmissbrauchsverbots ist es, billige Ergebnisse in der Rechtsanwendung durch eine Durchbrechung von Recht im Einzelfall zu erreichen. Das gesetzte oder ansonsten in abstrakt-genereller Form existierende Recht nicht anzuwenden, muss aber immer Ultima Ratio sein. In Sachverhalten, die auf den ersten Blick das Verdikt der Missbräuchlichkeit in sich tragen, müssen angemessene Ergebnisse vorrangig durch Gesetzesauslegung erzielt werden. Mag dies beispielsweise in Fällen eines unredlichen Rechtserwerbs unter Umständen zu stimmigen Ergebnissen führen, stößt man bei widersprüchlichem oder schädigendem Verhalten jedoch an die Grenzen dessen, was durch Auslegung bewältigt werden kann. Als kleinsten gemeineuropäischen Nenner in der Bewältigung missbräuchlichen Verhaltens kann man mit einiger Vorsicht die bona fides römischen Rechts nennen. So hat sich im deutschen Recht das Verbot des Rechtsmissbrauchs als Unterfall eines Verstoßes gegen Treu und Glauben entwickelt; das in den bonna fides zum Ausdruck kommende Vertrauensprinzip lebt deutlich noch in der Fallgruppe des Verbots widersprüchlichen Verhaltens fort. Der
244
Crofter Hand Woven Harris Tweed v Weitch [1942] AC 435 per Viscount Simon at 442–444. Vgl. dazu O’Sullivan, 8 C.L.P. (1955) 61, 71. 245 Vgl. Micklitz, Judicial Co-operation in the EU, S. 295, der allerdings auch auf gegenläufige Ansätze verweist. 246 Vgl. O’Sullivan, 8 C.L.P. (1955) 61, 72.
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Wirkbereich von Treu und Glauben wurde damit durch das Rechtsmissbrauchsverbot erheblich ausgeweitet. Im Gegensatz dazu steht die Entwicklung im französischen Recht, das wegen seines äußerst liberalen Grundverständnisses hinsichtlich subjektiver Rechte einen Rekurs auf die bonne foi zur Einschränkung der individuellen Freiheiten vermied. Dennoch entstand mit der Lehre vom abus de droit ein mittlerweile auf diverse Rechtsbereiche ausgedehnter Korrekturmechanismus, der, wegen methodischer Beschränkungen der Rechtsprechung in der Auslegung, auf breite Zustimmung stieß. Im Unterschied zum deutschen Rechtsmissbrauchsverbot wird der abus de droit aber überwiegend als eine haftungsrechtliche Kategorie gesehen und setzt nicht, als Beschränkung subjektiver Rechte, an diesen selbst an. Dass dabei versucht wird, gewisse Rechte vom Anwendungsbereich des abus de droit auszunehmen, widerspiegelt nur die französische Grundhaltung hinsichtlich einer möglichst umfassenden Gewährleistung subjektiver Rechte, auch wenn die darin steckende petitio principii freilich abzulehnen ist. Die Bedeutung des subjektiven Rechts in der französischen Dogmatik wird darüber hinaus in der relativ vorbehaltlosen Forderung nach einem subjektiven Element deutlich. Ähnlich allgemeine Bestrebungen zur Missbrauchsverhinderung sucht man im englischen Common Law vergeblich. Auch wenn sich gewisse Rechtsinstitute aus good faith-Erwägungen heraus entwickelt haben, spielt eine Billigkeitskorrektur im Einzelfall eine weit weniger wichtige Rolle, als in anderen Rechtsordnungen. Das fein ausdifferenzierte Fallrecht der Gerichte und das ebenso gesetzte statutory law bieten aufgrund deren Eigenheiten naturgemäß weniger Ansatzpunkte für Ergebnisse, die als grob unbillig empfunden werden. Damit zusammenhängend toleriert das Common Law in weitaus höherem Maße einen Widerspruch zwischen Recht und Moral, als dies für das deutsche oder französische Recht der Fall ist. Zentrales Element der Missbrauchslehre nach deutschem Methodenverständnis ist die Abwägung der widerstreitenden Interessen mit den jeweils zu tragenden Risiken und anderen allgemeinen Rechtsprinzipien. Dass die typischen Fälle missbräuchlichen Verhaltens zu Fallgruppen ‚verselbständigt‘ wurden, entbindet den Rechtsanwender nicht von einer Interessenabwägung im (atypischen) Einzelfall. Die hierbei einzustellenden Variablen können sich je nach Anwendungsbereich ändern. Subjektive Momente in der Person des Rechtsinhabers bilden dabei in jedem Fall nur einen Teilaspekt, können aber das Ergebnis der Abwägung erheblich beeinflussen. Um die Frage nach den Motiven des Handelnden ranken sich im französischen und englischen Recht wiederum unzählige Probleme. Das Common Law steht ihnen solange und soweit gleichgültig gegenüber, als sie sich nicht mit hinreichender Sicherheit aus objektiven Umständen ableiten lassen. Auch die französische Lehre vom abus de droit, die sich zwar zentral auf das Erfordernis der Schädigungsabsicht stützt, lässt es mittlerweile zu, diese aus objektiven
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Umständen abzuleiten oder an gewisse objektive Tatsachen selbst den Missbrauchsvorwurf anzuknüpfen.
B. Gesetzesumgehung Der Aufbau einer Rechtsnorm, deren Aufspaltung in Tatbestand und Rechtsfolge, liefert den Ausgangspunkt für das, was gemeinhin unter dem Topos Gesetzesumgehung diskutiert wird: das zielgerichtete Vermeiden einer Rechtsnorm. Welcher Lebenssachverhalt der Rechtsfolge einer Rechtsnorm unterstellt werden soll, wird durch Begriffe sprachlich abstrakt umschrieben, die auf der Suche nach dem Normsinn ausgelegt werden müssen. 247 Will sich ein Rechtssubjekt der Anwendung einer ihm als nachteilig erscheinenden Rechtsnorm entziehen, wird er sich in erster Linie an dem ihm durch den Wortlaut vermittelten Geltungsbereich der Norm ausrichten und seine Rechtsverhältnisse dementsprechend gestalten. Die Flucht vor belastenden Rechtsnormen durch derartiges Verhalten, ist eine von alters her bekannte Erscheinung.248 Der Vorgang der Gesetzesumgehung wird gewöhnlich als ‚fraus legis‘ bzw. ‚in fraudem legis agere‘ bezeichnet, was eine Verwurzlung des Phänomens im römischen Recht vermuten lässt.249 Jedenfalls wurde nachgewiesen, dass durch die Art und Weise, wie Gesetze römischen Rechts abgefasst und ausgelegt wurden, Umgehungshandlungen geradezu Vorschub geleistet wurde. Denn stilprägend für diese Epoche war eine außerordentlich detaillierte inhaltliche Präzisierung von Rechtsnormen und im Rahmen der Auslegung eine übertonte Orientierung an deren Wortlaut. Diese Selbstbeschränkung machte es Rechtsunterworfenen möglich, sich außerhalb des Wortlauts einer belastenden Rechtsnorm zu bewegen, aber gleichwohl ein Ergebnis zu erreichen, das Regelungsgegenstand eben der umgangenen Norm war. Einziger Ausweg war das Abfassen immer neuer Gesetze.250 Auch heute spielen Fragen der Gesetzesumgehung eine Rolle bei der Rechtsanwendung. So kann etwa das Internationale Privatrecht mit einer Fülle 247
Vgl. nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 133 ff.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 717 f. 248 Vgl. Westerhoff, Gesetzesumgehung, S. 1; Honsell, in: FS Kaser, S. 111, 111. Zur Geschichte der Gesetzesumgehung umfassend Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung passim. Vgl. auch Rütten, Gesetzesumgehung, S. 14 ff.; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 3 ff. 249 Z.B. Heeder, Fraus legis, S. 37; kritisch hierzu Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 377 und kritisch zur Arbeit selbst ders., RablesZ 65 (2001), 746 ff. 250 Vgl. Pfaff, In fraudem legis agere, S. 8 ff.; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 4; Honsell, in: FS Kaser, S. 111, 113; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 377; Teichmann, JZ 2003, 761, 762.
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an Beispielen aufwarten.251 Ein historisch bedeutsames Beispiel des englischen Common Law sind die sog. ‚Gretna Green-Fälle‘: Durch ein Gesetz aus dem Jahre 1753 252 konnten englische Paare unter 21 Jahren nur mit dem Einverständnis ihrer Erziehungsberechtigen eine Ehe eingehen. In Schottland hingegen waren die Altersgrenzen erheblich niedriger und auch einer Einwilligung der Erziehungsberechtigten bedurfte es nicht. Einer der erstbesten Orte hinter der schottischen Grenze, Gretna Green, wurde so von vielen englischen Heiratswilligen ab dem 18. Jahrhundert bis in die 1970er-Jahre hinein zur Umgehung der englischen Ehevoraussetzungen aufgesucht.253 Im materiellen deutschen Recht trifft man auf Fragen der Gesetzesumgehung z.B. bei der sog. ‚verdeckten‘ oder ‚verschleierten Sacheinlage‘ im Gesellschaftsrecht, 254 beim Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten im Steuerrecht,255 im europäisierten Verbraucherrecht 256 und bei Kettenarbeitsverträgen im Arbeitsrecht.257 Im nachfolgenden Teil der Arbeit soll das Phänomen des zielgerichteten Vermeidens von Rechtsnormen näher untersucht werden. Am Anfang steht wiederum die Behandlung des Problems im deutschen Recht. Als erstes soll die Struktur von Umgehungsvorgängen genauer analysiert werden (unten, I.). Dieser Teil ist nicht auf die Suche nach einer subsumtionsfähigen Definition von dem angelegt, was unter einer Gesetzesumgehung zu verstehen ist. Das hat seinen Grund darin, dass – was zu zeigen sein wird (unten, II.) – es sich nach deutschem Methodenverständnis bei dem Vorgang der Gesetzesumgehung um eine mit gewöhnlichen methodischen Mitteln zu lösende Erscheinung handelt und sich spezifische Unterschiede zur Rechtsanwendung abseits von als Umgehung eingeordneten Sachverhalten nicht ergeben. Insbesondere können aus dem Vorliegen eines Umgehungsversuchs keine besonderen Eingriffsbefugnisse des Rechtsanwenders abgeleitet werden. Mit einer Begriffsbildung wäre damit nichts gewonnen. Abschließend soll ein Blick ins französische und eng-
251
Zahlreiche Beispiel aus verschiedenen Rechtsordnungen finden sich bei Fawcett, 49 C.L.J. (1990) 44 ff., Graveson, 19 J.Comp.Leg. (1937) 21, 27 ff. und Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 387 ff. 252 Marriage Act 1753, 26 Geo. II. c. 33. 253 Vgl. hierzu Fawcett, 49 C.L.J. (1990) 44, 45 f. 254 Vgl. BGH, Urt. v. 15.1.1990, II ZR 164/88, BGHZ 110, 47; dazu Teichmann, JZ 2003, 761, 766. 255 Vgl. § 42 AO. 256 Z.B. bei dem zur Umgehung des Verbrauchsgüterkaufrechts eingesetzten sog. ‚Agenturgeschäft‘, vgl. dazu Lorenz, in: MüKo-BGB, § 475 BGB Rn. 36 m.w.N. 257 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.1.2012, Rs. C-586/10 (Bianca Kücük ./. Land Nordrhein-Westfalen), EuZW 2012, 143; BAG, Urt. v.12.5.1955, 2 AZR 23/54, BAGE 2, 6 und die Nachweise bei Müller-Glöge, in: ErfKomm, § 14 TzBfG Rn. 1 ff.
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lische Recht geworfen werden, was deren Umgang mit dem Problem zielgerichteten Vermeidens und Erschleichens von Rechtsnormen angeht (unten, III.) und eine Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgen (unten, IV.). I. Struktur von Umgehungsvorgängen Der Vorgang der Gesetzesumgehung ist dadurch gekennzeichnet, dass durch rechtliche und/oder tatsächliche 258 Gestaltung eines Lebenssachverhalts die Anwendung einer für nachteilig empfundenen Rechtsnorm vermieden werden soll. Hierbei kann zugleich das Interesse bestehen, in den Anwendungsbereich einer anderen Rechtsnorm zu gelangen, diese zu erschleichen.259 Zwingend ist dies aber nicht: Möglich ist auch, dass es dem Handelnden ausschließlich darum geht, die Anwendung einer nachteiligen Rechtsnorm zu vermeiden,260 z.B. bestimmten gesetzlichen Genehmigungs- oder Formerfordernissen zu entgehen. Umgekehrt existieren genauso Sachverhalte, in denen versucht wird, in den Anwendungsbereich einer vorteilhaften Rechtsnorm zu gelangen, ohne eine bestimmte nachteilige Rechtsnorm zu umgehen.261 Besonders im Bereich der Leistungsverwaltung des öffentlichen Rechts bieten sich hierzu mannigfaltige Möglichkeiten, etwa im Rahmen der Subventionierung von Agrarexporten262 oder der Gewährung von Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz.263 Hier spricht man auch von „reiner“ Gesetzeserschleichung. 264 Das Erschleichen einer Rechtsnorm kann demnach mit dem Vermeiden einer Rechtsnorm zusammenfallen und umgekehrt, das gilt aber nicht in jedem Fall.
258
Vgl. Römer, Gesetzesumgehung, S. 38 f., 40; Schurig, in: FS Ferid, S. 375. 379. Eine klare Trennung zwischen rechtlicher und tatsächlicher Gestaltung ist nicht möglich, aber auch nicht notwendig: So liegt beispielsweise im Verändern des Wohnsitzes mit Blick auf einen bestimmten Tatbestand, der umgangen werden soll, gleichfalls eine rechtliche Gestaltung der Verhältnisse des Handelnden. Vgl. auch Vetsch, Gesetzesumgehung, S. 269 f. 259 Die Gesetzeserschleichung wird ebenfalls als „Umgehung begünstigender Normen“ (Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 48), „Aufsichziehen eines Rechtssatzes“ (Vetsch, Gesetzesumgehung, S. 231) oder als „Gesetzesergehung“ (Benecke, Gesetzesumgehung, S. 35) bezeichnet. 260 Baur, Missbrauch im Kartellrecht, S. 99; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 78; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 398; a.A. Henningsen, Umgehung, S. 48; Römer, Gesetzesumgehung, S. 76; Rütten, Gesetzesumgehung, S. 12 f. 261 Vgl. Römer, Gesetzesumgehung, S. 34 f.; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 48. 262 Vgl. BFH, Urt. v. 24.4.2001, VII R 5/98, ZfZ 2001, 383. 263 Vgl. OVG Berlin, Urt. v. 18.1.2001, 6 B 120.96, NVwZ-RR 2002, 118 264 Benecke, Gesetzesumgehung, S. 36.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
1. Umgehen und Erschleichen von Rechtsnormen Eine Trennung beider Phänomene wird nicht immer durchgeführt. Oftmals wird nur eine Kombination von Vermeiden und Erschleichen von Rechtsnormen als Gesetzesumgehung verstanden; dabei wird die erschlichene Norm auch als sog. „Umgehungsnorm“ bezeichnet, mit deren Hilfe der Handelnde eine andere, die sog. „umgangene Norm“, umgehen möchte.265 Teils wird eine Differenzierung zwischen beiden Komponenten als überflüssig erachtet, manche bezeichnen sie gar als lediglich „sprachkosmetischer und begriffsjuristischer Natur.“266 Dieser Einschätzung kann allerdings nicht gefolgt werden, für die vorliegende Arbeit wird zwischen beiden Erscheinungen getrennt. Dies, weil sich in der Normanwendung in beiden Fällen jeweils unterschiedliche Fragen stellen: Im Falle der Normvermeidung muss geklärt werden, ob derjenige, der die Anwendung einer Rechtsnorm verhindern möchte, gleichwohl deren Rechtsfolge unterstellt werden kann, im Falle des Erschleichens steht demgegenüber die Frage im Raum, ob man die zu erschleichen versuchte und für den Handelnden vorteilhafte Rechtsnorm trotz allem anwenden muss. Der Blickwinkel und die Motivation des Rechtsanwenders sind demnach verschieden. Auch der Umstand, dass beide Probleme nach deutschem Verständnis – so viel kann vorweggenommen werden – unterschiedlich aufgelöst werden, und die Frage des Erschleichens vor allem im Rahmen der im Zivilverfahrensrecht so bedeutsamen Zuständigkeitserschleichung eine wichtige Rolle spielt, macht eine differenzierte Betrachtung notwendig. Letztlich gilt dies aber vor allem deshalb, weil in den Urteilen des EuGH zur Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht bei der Behandlung von Umgehungsvorgängen eine Fokussierung auf die zu erschleichen versuchte Rechtsnorm erfolgt,267 was wiederum an die französische Dogmatik angeknüpft ist.268 Die Rechtsprechung des Gerichtshofs bildet aber die Grundlage vorliegender Arbeit in der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch, weshalb beide Phänomene zu unterscheiden sind. 2. Erschleichen von Rechtsnormen Dem Phänomen des Erschleichens von Rechtsnormen soll zum deutschen Recht kein eigener Abschnitt gewidmet werden. Hintergrund ist nicht etwa eine geringe praktische Relevanz. Vielmehr spricht hierfür, dass die theoretische Auflösung derartiger Situationen in der deutschen Methodenlehre als relativ unproblematisch erachtet wird. Zentral geht es hierbei um die Frage der teleo-
265
Römer, Gesetzesumgehung, S. 37. Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 12. 267 S.u., S. 123 ff. 268 Vgl. unten, S. 83 ff. 266
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
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logischer Reduktion derjenigen Rechtnorm, die versucht wird, zu erschleichen.269 Entspricht das Verhalten des Erschleichenden zwar dem Buchstaben des Gesetzes, nicht aber dessen Zweck, muss letzterem zur Durchsetzung verholfen werden. Das erfolgt durch eine Einschränkung des möglichen Wortsinns anhand des eigentlich intendierten Normzwecks, indem man den Wortlaut im Einzelfall berichtigt.270 Der durch das Rechtssubjekt intendierte Vorteil wird deshalb nicht gewährt, weil der Normzweck und schließlich die Norm an sich dem entgegenstehen. Das Erschleichen von Rechtsnormen bereitet methodisch demnach keine großen Probleme. Lösungsansätze im Bereich der Gesetzesumgehung leiden in Theorie und Praxis aber oft unter der oben schon dargestellten undifferenzierten Betrachtungsweise. Vorliegende Analyse des deutschen Rechts konzentriert sich zwar auf das Vermeiden von Rechtsnormen, wo es aber notwendig erscheint, werden die Eigenheiten des Erschleichens in die weitere Erörterung mit einbezogen. Gleiches gilt für die rechtsvergleichende Umschau. Was die Begrifflichkeiten angeht, wird die Arbeit sich an Rechtsprechung und Literatur orientieren, die zur Beschreibung des Tatsächlichen bzw. des Rechtsproblems des Vermeidens von Rechtsnormen den Begriff der Gesetzesumgehung verwendet. Stehen speziell Probleme des Erschleichens zur Diskussion, werden diese dementsprechend benannt. Wird mit dem Begriff der Gesetzesumgehung lediglich der tatsächliche Vorgang umschrieben – der auch aus einer Kombination von Erschleichen und Vermeiden bestehen kann – und interessiert rechtstechnisch besonders das Vermeiden einer Vorschrift, wird dies deutlich gemacht. 3. Gesetzesumgehung als Frage der Rechtsgeltung Umgehungsfälle sind durch das Problem der Rechtsgeltung bestimmt: Kann eine Rechtsnorm mit dem durch diese intendierten Regelungsziel für einen bestimmten, durch den Normadressaten gestalteten Sachverhalt Geltung beanspruchen oder nicht? Zentrales Element ist hierbei der Wortlaut der Rechtsnorm: Dieser stellt gemeinhin den „Ausgangspunkt richterlicher Sinnermittlung“271 bei der Normanwendung dar, der durch den Wortlaut vermittelte mögliche Wortsinn die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung.272 Soll die Anwendung einer Rechtsnorm vermieden werden, wird der Umgehende versuchen, sich außerhalb des Wortlauts einer Rechtsnorm zu bewegen. Der geplante Abschluss mehrerer aufeinanderfolgender Arbeitsverträge mit
269
Vgl. z.B. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 37; Rütten, Gesetzesumgehung, S. 68; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 49; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 400. 270 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 903. 271 Meier-Hayoz, Richter als Gesetzgeber, S. 42. 272 Bydlinski, Methodenlehre, S. 441; Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 143.
62
1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
bestimmter Dauer, um die Anwendung des Kündigungsschutzes für ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu umgehen, wurde schon erwähnt.273 Erscheint das Verhalten des Umgehenden aber mit Blick auf den Zweck der Vorschrift als nicht zu billigen oder streiten übergeordnete Erwägungen dafür, dass der Rechtsunterworfene in seinem Verhalten beschränkt wird, fragt sich, wie diese Situation methodisch aufzulösen ist, insbesondere, welche Folgen an das Verhalten des Umgehenden zu knüpfen sind. Offensichtlich konfligiert hier die allgemeine Handlungsfreiheit des Subjekts mit dem Geltungsanspruch von Rechtsnormen. Das führt insbesondere im vom Primat der Vertragsfreiheit geprägten Vertragsrecht zu der Frage, wie zwischen noch erlaubter zweckgerichteter Tatbestandsplanung 274 unter Ausnutzung rechtlicher Schlupflöcher und nicht mehr zulässigem Verhalten abzugrenzen ist. Abseits der §§ 138, 134 BGB, welche keine besondere Berücksichtigung erhalten werden, ist dies, wie zu zeigen sein wird, eine Frage der Auslegung und der Analogiebildung.275 4. Umgehungsobjekte Taugliches Objekt einer Gesetzesumgehung kann jede Rechtsnorm sein, nicht nur ein Gesetz im formellen Sinne. Gegebenenfalls gilt dies sogar für Gewohnheitsrecht,276 was allerdings die Ausnahme sein wird, schließlich ist Ausgangspunkt einer Gesetzesumgehung stets ein äußerst präziser Wortlaut, der Gewohnheitsrecht häufig fehlen wird.277 Der Begriff der Gesetzesumgehung ist demnach unpräzise – freilich verwendet ihn auch die vorliegende Arbeit, weil über den tradierten Begriff ein gewisses Problemfeld inzidenter abgesteckt ist. Auch um ein Verbotsgesetz im Sinne des § 134 BGB muss es sich nicht handeln.278 Wegen ihres prohibitiven Charakters und der in der Regel sensiblen 273
Vgl. BAG, Urt. v.12.5.1955, 2 AZR 23/54, BAGE 2, 6. Schurig, in: FS Ferid, S. 175, 175. 275 S.u., S. 65. 276 Benecke, Gesetzesumgehung, S. 95; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 375. 277 Pfaff, In fraudem legis agere, S. 7; Römer, Gesetzesumgehung, S. 29 m.w.N. Auch eine Umgehung von Vertragsbestimmungen ist möglich, vgl. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 50 f.; von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 35 Tamussino, Umgehung, S. 118 ff.; a.A. die unter Fn.278 a.E. Genannten. 278 H.M., z.B. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 94; Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 1162; Flume, Allgemeiner Teil, S. 350; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, § 45 Rn. 27; Vetsch, Gesetzesumgehung, S. 271, ff., 279; Römer, Gesetzesumgehung, S. 30; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 10 f.; von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 34; Westerhoff, Gesetzesumgehung, S. 170 f.; Dorn, in: HKK, § 134 BGB FRn. 24; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 380; Zerres, MDR 2004, 1334, 1337; a.A. in neuerer Zeit Najdecki, Umgehung, S. 17; Armbrüster, in: MüKo-BGB, § 134 BGB Rn. 11 ff. und die Vorauflagen zusammen mit bzw. von Mayer-Maly; Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 1120; Palm/Arnold, in: Erman, § 134 BGB Rn. 18; wohl auch Sack/Seibl, in: Staudinger, § 134 BGB Rn. 144. 274
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63
Regelungsmaterie fordern diese Gesetze zwar gerade dazu heraus, sich ihrem Geltungsanspruch zu entziehen. Mit Bezug auf Verbotsgesetze wird deshalb zum einen eine gewisse Häufung an Umgehungsfällen eintreten und diesen zum anderen aufgrund der tangierten Interessen besondere Beachtung geschenkt werden. Allerdings können sich die einer Gesetzesumgehung eigentümlichen Fragen bei der Anwendung einer jeden Rechtsnorm stellen, die eine Rechtsfolge anordnet; schließlich geht es nur darum, die Reichweite deren Regelungsgehalts zu bestimmen. Die teilweise vertretene Ansicht, die Rechtsfolge der Norm müsse eine zwingende sein279, kann demnach ebenfalls vernachlässigt werden. 5. Rechtsbereiche Jeder Rechtsbereich bietet im Grundsatz die Möglichkeit und den Anreiz, sich außerhalb des Wortlauts einer Norm zu bewegen.280 Zwar liegen die historischen Wurzeln der Gesetzesumgehung im Privatrecht, dennoch werden heute auch und häufig im öffentlichen Recht Rechtsnormen umgangen. Der Grund hierfür liegt in dem Umstand, dass das öffentliche Recht den Großteil der Rechtsnormen beherbergt, die vom Einzelnen als unbequeme Beschränkung der individuellen Handlungsfreiheit wahrgenommen werden. 281 Besonders hervorzuheben ist hierbei das Steuerrecht, in dem sich nicht umsonst mit § 42 AO eine seit 1919 unveränderte Vorschrift findet, die der Umgehung des Steuergesetzes vorbeugen will.282 Als ebenfalls dem öffentlichen Recht zuzuordnende Materie gilt das Gesagte auch für das (Internationale283) Zivilverfahrensrecht.284
279 Dafür: Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 1162; Römer, Gesetzesumgehung, S. 29; dagegen: Benecke, Gesetzesumgehung, S. 94 f.; von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 35; Rütten, Gesetzesumgehung, S. 6; Tamussino, Umgehung, S. 123; Westerhoff, Gesetzesumgehung, S. 167. 280 Römer, Gesetzesumgehung, S. 30. 281 Vetsch, Gesetzesumgehung, S. 26. Das Zitat bezieht sich indes auf privatrechtlich zu qualifizierende Normen des römischen Rechts. Auf S. 30 stellt Vetsch dies aber in Zusammenhang zu öffentlich-rechtlichen Normen späterer Zeit. 282 Die Vorschrift geht auf § 5 Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 (RGBl. S. 1993) zurück. Ihre Bedeutung, insbesondere deren Einordnung in das tradierte methodische Vorgehen in Umgehungsfällen ist umstritten, vgl. ausführlich Ratschow, in: Klein, § 42 AO Rn. 5; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 383. 283 Die Qualifikation des internationalen Zivilverfahrensrechts als öffentlich-rechtliche Rechtsmaterie zieht insbesondere Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 12 m.w.N. in Zweifel. 284 Vgl. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 315 ff.; Riezler, Internationales Zivilprozessrecht, S. 329 ff.; Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 57 ff.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
II. Auflösung von Umgehungssachverhalten in der deutschen Methodenlehre In der Vergangenheit war die Umgehung von Rechtsnormen Gegenstand verschiedenster Lösungsansätze, die heute allesamt nicht mehr genutzt werden.285 Letzte Überbleibsel zeigen sich indes in speziellen Rechtsbereichen, etwa dem Steuerrecht.286 Allgemein begegnet man dem zielgerichteten Vermeiden von Rechtsnormen heutzutage mit den Mitteln der Auslegung und der Analogie. 1. Auslegung und Analogie als Lösungsansatz Diese Ansicht hat sich mit der Arbeit Teichmanns287 aus dem Jahre 1962 in der neueren deutschen und deutschsprachigen288 Rechtslehre endgültig durchgesetzt. Eine eigenständige Umgehungslehre ist nicht notwendig.289 Unter dem Begriff der Gesetzesumgehung – der demnach eher der Problembeschreibung als der Problemlösung dient290 – sind eine Reihe methodischer Probleme versammelt, die nicht auf einen einheitlichen Lösungsansatz gestützt werden können.291 Teilweise wird aber auch vertreten, Gesetzesumgehung sei alleine eine Frage der richtigen Auslegung.292 Die gegebenenfalls notwendige Analogiebildung wird nicht besonders hervorgehoben. Allerdings ist das in der Diskussion zugrunde gelegte Verständnis des Verhältnisses von Auslegung und Analogie 285 So vertrat etwa Savigny, dass zur Lösung des Problems alleine die richtige Sachverhaltsauslegung notwendig sei, vgl. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, S. 324 f. Dieser Ansatz sah sich jedoch der Kritik ausgesetzt, dass er sich über den wahren Parteiwillen hinwegsetzte und die Grenzen zwischen Simulation und Umgehung verwischte, vgl. Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 378. Auch eine Behandlung der Gesetzesumgehung als Simulation wird heute nicht mehr verfolgt, was mit einem veränderten Verständnis vom Begriff der Simulation zu tun hat, vgl. Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 404. 286 Vgl. unten, S. 72. 287 Teichmann, Gesetzesumgehung, passim. Schon ab Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich in der Methodenlehre eine Strömung ausgebildet, die Umgehungsfälle mittels ändernder oder ausdehnender Auslegung der fraglichen Norm lösen wollte, vgl. Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, S. 38. Hierauf bezog sich auch Teichmann in seiner Arbeit, vgl. Teichmann, JZ 2003, 761, 765. 288 Zur Behandlung der Gesetzesumgehung im schweizerischen Recht, vgl. Rütten, Gesetzesumgehung, S. 84 m.w.N.; zur Rechtslage in Österreich, vgl. Tamussino, Umgehung, S. 123 f. 289 Statt vieler, jeweils m.w.N.: v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht, S. 631 f.; Baur, Missbrauch im Kartellrecht, S. 102; Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 1121; Flume, Allgemeiner Teil, S. 350; Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, § 45 Rn. 27; Medicus, Allgemeiner Teil, Rn. 660; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 8 ff.; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 105; Armbrüster, in: MüKo-BGB, § 134 BGB Rn. 15 m.w.N.; a.A. in neuerer Zeit nur Heeder, Fraus legis, S. 83; Mayr-Maly, in: MüKo-BGB, 4. Aufl. 2001, § 134 BGB Rn. 11 ff. 290 Baur, Missbrauch im Kartellrecht, S. 102. 291 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 105. 292 Z.B. von Flume, Allgemeiner Teil, S. 350 und Medicus, Allgemeiner Teil, Rn. 660 ff.
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nicht immer hinreichend klar;293 ein Problem, das sich auch auf Ebene des Unionsrechts fortsetzt.294 Das führt zu recht pragmatischen Ansätzen, wenn etwa Römer295 und Schurig296 wegen desselben Ziels, das Auslegung und Analogie im Falle des Vermeidens von Rechtsnormen erreichen wollen, eine Grenzziehung zwischen beiden Methoden für nicht notwendig erachten. Dem kann allerdings wegen der strukturellen Unterschiede, die zwischen Auslegung und Analogiebildung bestehen, nicht gefolgt werden, vor allem, was die kompetenzrechtliche Rückanbindung angeht. Alleine Schwierigkeiten in der Rechtsanwendung entbinden ohnehin nicht von einer dogmatisch sauberen Vorgehensweise. a) Prüfungsschritte Nimmt man die im Rahmen von Umgehungsfällen häufig aber nicht notwendigerweise auftauchenden Erschleichungskomponente aus der Betrachtung aus, ist die Gesetzesumgehung methodisch in einer zweistufigen Prüfung aufzulösen:297 Zunächst ist zu fragen, ob der ermittelte Sachverhalt als Ergebnis gewöhnlicher Auslegung der Rechtsnorm noch unterstellt werden kann. Die Ermittlung des Normsinns erfolgt dabei anhand der tradierten Kanones, insbesondere der teleologischen Auslegung298. Ist die fragliche Norm nach alledem auf diesen Fall anzuwenden, ergeben sich keine weitergehenden Probleme. Teilweise werden diese Fälle schon gar nicht als Gesetzesumgehung bezeichnet, da die zu umgehen versuchte Rechtsnorm – nach Auslegung – anwendbar ist, den Sachverhalt also direkt erfasst.299 Knüpft man allerdings an das äußere Erscheinungsbild an, kann man durchaus von einer (versuchten) Gesetzesumgehung sprechen.
293
Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 86 f. Vgl. Baldus, in: Riesenhuber, Europäische Mehtodenlehre, S. 26, 29 ff. 295 Römer, Gesetzesumgehung, S. 31. 296 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 400. 297 Im Folgenden nach Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 105 f. 298 Auch wenn der Kritik von Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 7 f. der Sache nach beizupflichten ist, dass es stets Ziel der Auslegung sei, den Telos einer Norm zu ergründen und eine spezielle teleologische Auslegung damit nicht existieren könne, wird vorliegende Arbeit diese „Auslegung aus dem inneren Systems der Rechtsordnung“ (a.a.O., S. 9) trotzdem als teleologische Auslegung bezeichnen. Das hat auch damit zu tun, dass sich im Unionsrecht eine derartige Terminologie (teleologic reasoning, teleological approach) bereits eingebürgert hat und diesem letztlich das Hauptaugenmerk gilt, vgl. dazu auch Conway, Limits of Legal Reasoning, S. 22; Neergaard/Nielsen, in: Neergaard/Nielsen/Roseberry, European Legal Method, S. 95, 108 f.; Fennelly, 20 Fordham Int‘l L.J. (1996) 656, 664; Lord, 29 Cornell Int'l L.J. (1996) 571; Sloan, Statutory Interpretation in the EU, S. 6. 299 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 64 f. 294
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Lässt sich der Sachverhalt nicht unter die Rechtsnorm subsumieren, überschreitet er also den möglichen Wortsinn, liegt eine Gesetzeslücke vor. 300 Streiten Gerechtigkeitserwägungen prima facie dafür, diesen Fall entsprechend der direkt nicht anwendbaren Norm zu lösen, muss eine Analogie geprüft und gegebenenfalls bejaht werden.301 Entscheidend ist also die Frage der Ähnlichkeit des gestalteten Sachverhalts mit demjenigen, den die (ausgelegte) Rechtsnorm zu regeln beabsichtigt.302 Auch hierbei ist wieder der Telos der Vorschrift zu berücksichtigen.303 Liegen die Voraussetzungen für eine Analogiebildung vor, wird der Umgehungsversuch von der (analog angewandten) Rechtsnorm erfasst. Kann eine Umgehungskonstellation demgegenüber nicht durch Auslegung oder Analogie aufgelöst werden, ist das Verhalten des Umgehenden uneingeschränkt zulässig.304 b) Abgrenzung zwischen erlaubter Tatbestandsplanung und unzulässiger Gesetzesumgehung Es zeigt sich, dass die Abgrenzung zwischen erlaubter Tatbestandsplanung und nicht mehr erlaubter Umgehung des Gesetzes schlichtweg durch Anwendung der fraglichen Rechtsnorm erfolgt. Im Bereich der Auslegung bestimmt der Geltungsanspruch der Rechtsnorm, was als zulässiges oder unzulässiges Verhalten anzusehen ist, welches Verhalten der Vorschrift unterfällt und welches nicht. Gleiches gilt im Prinzip für diejenigen Fälle, die über eine analoge Anwendung der fraglichen Norm gelöst werden. Hierbei streitet aber nicht der Geltungsanspruch der analog angewandten Norm für eine Erstreckung der Rechtsfolgen, sondern der Gleichheitssatz und das sog. Rechtsverweigerungsverbot305. Wie noch zu zeigen sein wird, kann im Rahmen dieser Fragen insbesondere subjektiven Momente alleine, vor allem der Absicht, eine Rechtsnorm zu umgehen, keine entscheidende Bedeutung beigemessen werden, gleichwohl diese natürlich die Rechtsanwendung beeinflussen können.306 Die Versuchung ist aber groß, allgemeingültige Aussagen über die Zulässigkeit eines bestimmten Umgehungsverhaltens zu treffen. Teilweise versucht man dies dadurch zu erreichen, dass man zwischen sog. Weg- und Zielverboten
300
Canaris, Lücken im Gesetz, S. 25. Für die Rechtfertigung der Analogie über den Gleichheitssatz Canaris, Lücken im Gesetz, S. 21, 25, 72, dort Fn. 47 m.w.N. 302 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 202. 303 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 188. 304 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 106. 305 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 823. Ausführlich Schumann, ZZP 81 (1968), 79, 100. 306 S.u., S. 78. 301
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differenziert.307 Ein Wegverbot soll hiernach nur einen bestimmten Weg zu einem wirtschaftlichen Erfolg ‚verbieten‘, ein Zielverbot demgegenüber generell das Erreichen des Zieles. Das überzeugt in mehrerlei Hinsicht nicht: Zum einen zeigt schon die Wortwahl des Ansatzes, dass man sich hier einseitig auf Verbotsgesetzes konzentriert, zum anderen – und entscheidend – kann darüber, ob ein Gesetz einen bestimmten Erfolg verbietet oder nicht, nur im Wege der Auslegung eine Aussage getroffen werden. Damit ist man wieder am Ausgangspunkt des Lösungsansatzes angelangt, der Tatsache, dass in Umgehungsfällen die zu umgehen versuchte Norm ausgelegt werden muss.308 c) Bedeutung von Umgehungsverboten für die Lösung von Umgehungsfällen Vorschriften, die sich ausdrücklich gegen Umgehungsversuche wenden, sog. gesetzliche Umgehungsverbote, finden sich vor allem im Verbraucherschutzrecht.309 Aber auch in anderen Rechtsbereichen ist dem Gesetz die Formulierung geläufig, eine bestimmte Norm finde auch dann Anwendung, wenn sie durch anderweitige Gestaltung umgangen werde.310 Bedenkt man, dass die Normanwendung in Umgehungsfällen durch gewöhnliches methodisches Vorgehen, durch Auslegung und möglicherweise Analogiebildung erfolgt, kann geschriebenen Umgehungsverboten kein eigener rechtlicher Gehalt beigemessen werden. Diese sind lediglich deklaratorische Aufforderung zu Auslegung und Analogiebildung bzw. eine Mahnung an den Rechtsanwender, die Wichtigkeit des Regelungsbereichs der Norm betreffend.311 Andersherum gefasst:
307
Z.B. Westerhoff, Gesetzesumgehung, S. 46 ff.; vgl. auch Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 380 m.w.N. 308 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 380. 309 Z.B. §§ 475 Abs. 1 S. 2, 312i S. 1, 487 S. 2, 511 S. 2 BGB. Zu Umgehungsverboten im Verbraucherschutzrecht vgl. Zerres, MDR 2004, 1334 ff. und Koziolek, Umgehungsregelung, passim. Speziell zu § 475 Abs. 1 S. 2 BGB vgl. Najdecki, Umgehung, passim und Zolper, Umgehungsverbot, passim. 310 Z.B. §§ 306a, 478 Abs. 1 S. 3 BGB, § 42 AO. Weitere Nachweise bei Heeder, Fraus legis, S. 48 ff. 311 H.M., z.B. Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 1161; Flume, Allgemeiner Teil, S. 350; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 39; Tamussino, Umgehung, S. 118; Armbrüster, in: MüKo-BGB, § 134 BGB Rn. 15; Mansel, in: Jauernig, § 134 BGB Rn. 18; Palm/Arnold, in: Erman, § 134 BGB Rn. 18; Schmidt, in: Ulmer/Brandner/Hensen, § 306a BGB Rn. 1 und 3; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 383; Teichmann, JZ 2003, 761, 767; BGH, Urt. v. 24.1.1991, BGHZ 113, 287. Unklar Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 1120 f.; ebenfalls unklar Sack/Seibl, in: Staudinger, § 134 BGB Rn. 48.; a.A. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 78, die eine Funktion dieser Vorschriften in der Erweiterung der Möglichkeiten einer Analogiebildung sieht; ähnlich auch Linn, Missbrauchsverhinderungsnormen, S. 28. Der Ansatz Beneckes verfolgt dasselbe Ziel wie ein anderer von ihr gemachter Vorschlag mit Bezug auf die Bedeutung einer Umgehungsabsicht (s.u., S. 77) und ist aus den dort genannten Gründen ebenfalls abzulehnen. Gegen sie direkt Armbrüster, in: MüKo-BGB, § 134
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Die Anwendungsvoraussetzungen für eine Lösung von Umgehungsfällen mittels Auslegung und Analogiebildung sind immer gegeben, es sei denn, sie sind ausdrücklich (z.B. in Art. 103 Abs.2 GG) oder inzidenter (z.B. über den Vorbehalt des Gesetzes im öffentlichen Recht) eingeschränkt oder aufgehoben.312 Auf dieser Linie und mit dem Hinweis auf die mögliche suggestive Wirkung den auslegenden Richter betreffend, wurde ein allgemeines Umgehungsverbot konsequenterweise schon im Rahmen der Beratungen zum BGB abgelehnt.313 Deshalb kann für einen normativen Gehalt von Umgehungsverboten auch nicht vorgebracht werden, die betreffenden Vorschriften würden ansonsten leerlaufen, wie Zerres meint.314 Zwar ist im Zweifel nicht davon auszugehen, dass der Gesetzgeber Vorschriften erlässt, denen keinerlei rechtliche Wirkungen beizumessen sind.315 Hat sich der Gesetzgeber allerdings allgemein und dezidiert gegen die Notwendigkeit eines bestimmten Typus von Vorschriften ausgesprochen, verliert dieses ohnehin schwache Argument weiter an Überzeugungskraft. Die Einordnung von gesetzlichen Umgehungsverboten als bloße Programmsätze wird dadurch gestützt, dass sich im europäisierten bzw. europäischen Verbraucherrecht mit einer gewissen Regelmäßigkeit derartige Vorschriften finden, mit denen nur die Wichtigkeit und Sensibilität eines bestimmten Regelungsbereichs unterstrichen werden soll.316 Schließlich ist nicht zu erkennen, dass die Rechtsbereiche, in denen Umgehungsverbote heute häufig zu finden sind, eine andere normative Struktur aufweisen als andere und deshalb derartiger ‚Regeln‘ zu ihrer Durchsetzung bedürfen. Bei der praktischen Lösung von Umgehungsfällen kann daher auf geschriebene Umgehungsverbote gänzlich verzichtet werden. d) Missbräuchlichkeit des Umgehungsverhaltens irrelevant; Konkurrenz von Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauchsverbot Für die Lösung von Umgehungsfällen ist der Rekurs auf Missbrauchserwägungen unergiebig, das Verhalten des Umgehenden betreffend. Trotzdem wird
BGB Rn. 15. Für einen eigenen normativen Gehalt dagegen auch Zerres, MDR 2004, 1334, 1339. 312 Vgl. Ratschow, in: Klein, § 42 AO Rn. 36 für das Steuerrecht. 313 Vgl. die Nachweise bei Flume, Allgemeiner Teil, S. 350. 314 Zerres, MDR 2004, 1334, 1339. 315 Bydlinski, Methodenlehre, S. 464, freilich nur für das Problem des Normwiderspruchs. 316 Hingewiesen sei auf Art. 1 Nr. 3 des Vorschlags für eine Verordnung über ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht KOM(2011) 635 endgültig, in dem es heißt: „Für Verträge zwischen Unternehmern und Verbrauchern enthält diese Verordnung umfassende Verbraucherschutzvorschriften, um ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, das Vertrauen der Verbraucher in den Binnenmarkt zu stärken und die Verbraucher zu Einkäufen im Ausland zu ermutigen.“
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diese Verbindung häufig untersucht317 – ein Grund hierfür dürfte das prominente steuerrechtliche Umgehungsverbots in § 42 AO sein, wo niedergelegt ist, dass eine Umgehung des Steuergesetzes durch „Missbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten“ nicht möglich sei.318 Die Bedeutung der Missbrauchskomponente im Rahmen dieser Vorschrift wird in neuerer Zeit freilich immer mehr angezweifelt.319 Gegenständlich kann die Frage des Missbrauchs nur dort relevant werden, wo entweder isoliert oder zusätzlich zur Umgehung einer Rechtsnorm eine ebensolche erschlichen werden soll.320 Steht ausschließlich das Vermeiden einer Rechtsnorm im Raum, findet sich nichts, das missbraucht werden könnte;321 vor allem nicht die zu vermeiden versuchte Rechtsnorm. Notwendig wird eine Abgrenzung zum Rechtsmissbrauch nur, weil Missbrauch und Umgehung teils recht undifferenziert in Bezug zueinander gesetzt werden, zwischen Erschleichen und Vermeiden von Rechtsnormen nicht immer hinreichend präzise unterschieden wird.322 Trennt man jedoch beide Erscheinungsformen, erübrigt sich eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragen. Die wesentlichen Eckpunkte der Diskussion seien hier dennoch kurz angerissen.323 Ihr praktischer Nutzen und die dogmatischen Erkenntnisse sind letztlich zweifelhaft.324
317 Z.B. Baur, Missbrauch im Kartellrecht, S. 96 ff.; Benecke, Gesetzesumgehung, S. 47; Römer, Gesetzesumgehung, S. 54 ff.; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 76 ff.; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 406. 318 Auf § 42 AO bzw. dessen Vorgängervorschriften als Ausgangspunkt für die Diskussion verweisen z.B. Römer, Gesetzesumgehung, S. 29; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 71, mit dem Hinweis auf Pfaff, In fraudem legis agere, S. 158 f., der nach Ansicht Teichmanns Umgehung und Missbrauch als erster zueinander in Bezug gesetzt hat. 319 Vgl. Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 22 m.w.N. 320 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 406. 321 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 78; Honsell, in: BK, Art. 2 ZGB Rn. 31; a.A. Reuß, Forum Shopping, S. 220 f.; Römer, Gesetzesumgehung, S. 40 f.: Missbraucht werde die rechtliche Gestaltungsmöglichkeit an sich. 322 Vgl. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 50: „Mißbrauch der ergangenen oder umgangenen Norm“. Zwischen Erschleichen und Vermeiden von Rechtsnormen wird auch von der französischen Rechtslehre überwiegend nicht getrennt (s.u., S. 83), weshalb auch hier teils eine Abgrenzung zum abus de droit für notwendig erachtet wird; die Grenzen beider Rechtsinstitute verschwimmen häufig, vgl. Schammo, 14 ELJ (2008) 351, 356. 323 Ausführlich und jeweils m.w.N. z.B. Baur, Missbrauch im Kartellrecht, S. 96 ff.; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 76 ff.; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 12 ff. 324 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 406: „recht unfruchtbare Streitfrage“; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 16: „Der Gedanke des institutionellen Rechtsmißbrauchs hat für die Beurteilung potentieller Umgehungssachverhalte keinen eigenständigen rechtlichen Gehalt.“ Tamussino, Umgehung, S. 112.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Teilweise wird der sog. institutionelle Rechtsmissbrauch als integraler Bestandteil jeder Gesetzesumgehung gesehen, 325 mithin als Abgrenzungskriterium zwischen zulässiger Tatbestandsgestaltung und unzulässigem Umgehungsverhalten. Wie bereits dargestellt wurde, 326 ist Anknüpfungspunkt für das Missbrauchsverdikt in Fällen, die als institutioneller Missbrauch eingeordnet werden, der Verstoß gegen den Zweck oder die Funktion des jeweiligen Rechtsinstituts. Zu dessen Verteidigung erfolgt die Normanwendung demnach unter Einbeziehung objektiver teleologischer Erwägung in die Auslegung der fraglichen Norm. 327 Damit gleicht das Vorgehen demjenigen in Erschleichungskonstellationen: Auch hier wird die zu erschleichen versuchte Norm teleologisch ausgelegt und gegebenenfalls reduziert.328 Der Erschleichende handelt, entsprechend der Konzeption des Rechtsmissbrauchs nach der heute herrschenden „Innentheorie“329, außerhalb des Zuweisungsgehalts der Rechtsnorm, ohne Recht.330 Damit decken sich methodisches Vorgehen und dogmatischer Unterbau beider Problemkomplexe, eigenständige Bedeutung kann Missbrauchserwägungen bei der Bewältigung von Fällen dieser Art nicht zugesprochen werden.331 Für die Behandlung der Gesetzesumgehung als eigenständiges Problem ist die Frage der Missbräuchlichkeit eines bestimmten Verhaltens somit unerheblich. Davon zu trennen ist die Frage, ob auf einer nachgelagerten Ebene das aus § 242 BGB hergeleitete Verbot des Rechtsmissbrauchs angewandt werden kann: Wird die eigene Rechtsstellung unredlich erworben, kann dies einen Rechtsmissbrauch darstellen und von daher unbeachtlich sein. 332 Allerdings darf das Rechtsmissbrauchsverbot immer nur als Ultima Ratio angewandt werden, die Mittel der Auslegung sind auszuschöpfen und damit eben auch diejenigen, welche in Fällen der Gesetzesumgehung bemüht werden.333 Diese Erkenntnis wird für die Behandlung der sog. Zuständigkeitserschleichung im Europäischen Zivilverfahrensrecht relevant werden, insbesondere mit Blick auf Art. 8 Nr. 1 EuGVVO. Zwischen Auslegung und Missbrauchsverhinderung
325
Vgl. Pestalozza, Formenmissbrauch, S. 80 f.; Reuß, Forum Shopping, S. 220 f.; Römer, Gesetzesumgehung, S. 42. 326 S.o., S. 37 f. 327 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 16; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 77; Raiser, summum ius, summa iniuria, S. 145, 152. 328 S.o., S. 61. 329 S.o., S. 36. 330 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 77. 331 Sieker, Gesetzesumgehung, S. 16; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 77; differenzierend Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 67; a.A. Maday, Gesetzesumgehung, S. 34; Benecke, Gesetzesumgehung, S. 50. 332 S.o., S. 39 f. 333 S.o., S. 33 f.
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aufgrund weitergehender Eingriffsbefugnisse ist sauber zu trennen.334 Demgegenüber werden vor allem im deutschen Zivilverfahrensrecht diese Fragen vermengt.335 2. Umgehungsabsicht Nach der heute ganz herrschenden Meinung in der deutschen und deutschsprachigen Rechtslehre336 ist eine spezielle Umgehungsabsicht bei der Lösung von Umgehungskonstellationen unbedeutend. Diese Ansicht teilt auch die Rechtsprechung337. Demgegenüber findet sich in Abhandlungen zur Gesetzesumgehung und in der Rechtsprechung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts häufig die Forderung nach absichtlichem Handeln;338 dies korrespondiert mit der damals noch vorherrschenden Einordnung der Gesetzesumgehung als selbständige Rechtsfigur.339 Abgeleitet wurde das Erfordernis intendierten Handelns wenig überzeugend unter anderem aus dem in Zusammenhang mit der Gesetzesumgehung benutzten römisch-rechtlichen Begriff der ‚fraus‘, der absichtliches
334
Vgl. unten, S. 326 f. S.u., S. 248 f. 336 Nach Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 69 wohl seit Vetsch, Gesetzesumgehung, S. 217 f. Zur h.M. z.B. Baur, Kartellrecht, S. 100 f. m.w.N; Bork, Allgemeiner Teil, Rn. 1120; Dürrenberger, Gesetzesumgehung und Scheingeschäft, S. 54 f.; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil, S. 1162; Flume, Allgemeiner Teil, S. 350; Medicus, Allgemeiner Teil, Rn. 660; Römer, Gesetzesumgehung, S. 45; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 70; Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 68; Armbrüster, in: MüKo-BGB, § 134 BGB Rn. 16 m.w.N. zur Rspr.; Palm/Arnold, in: Erman, § 134 BGB Rn. 18; Sack/Seibl, in: Staudinger, § 134 BGB Rn. 145; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 403 m.w.N.; Teichmann, JZ 2003, 761, 764 f. A.A. Heeder, Fraus legis, S. 220; Maday, Gesetzesumgehung, S. 41 mit dem wenig überzeugenden Argument, dass ansonsten „völlig gutgläubige und ahnungslose Personen von aussergewöhnlichen (sic., Anmerkung des Verfassers) rechtlichen Sanktionen betroffen“ wären. Rechtsnormen gelten indes ganz allgemein unabhängig vom Willen des Normadressaten. Sieht man darüber hinaus, dass es in Umgehungsfällen keine spezifische Rechtsfolge gibt, sondern nur die Anwendung der zu umgehen versuchten Norm die ‚Sanktion‘ darstellt, was auch Maday sieht (S. 98), kann dessen Argument insgesamt nicht überzeugen. Für Umgehungsabsicht auch Reuß, Forum Shopping, S. 227 (Benecke, Gesetzesumgehung, S. 338 fälschlicherweise zu seiner Unterstützung anführend), der Subjektives nur bei Bestehen eines ausdrücklichen Umgehungsverbots für unnötig hält. Auch weil Umgehungsverboten keine selbständige rechtliche Funktion beigemessen werden kann (s.o., S. 68), überzeugt dies nicht. 337 Vgl. die Nachweise bei Armbrüster, in: MüKo-BGB, § 134 BGB Rn. 16. Nicht nachvollziehbar Heeder, Fraus legis, S. 194 der von einer „ganz überwiegenden Rechtsprechung“ spricht, die sich für eine Umgehungsabsicht ausspreche. Die Nachweise Heeders brechen jedoch, von einer Ausnahme abgesehen, in den 1960er-Jahren ab. 338 Zur Rspr. des RG, vgl. die Nachweise bei Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 68. 339 Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, S. 43 f.; vgl. Heeder, Fraus legis, S. 193. 335
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Handeln notwendigerweise voraussetze. 340 Dieses vorkodifikatorische Verständnis lebt teilweise noch in § 42 AO fort, der den Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten als besonderes steuerrechtliches Umgehungsverbot für unbeachtlich erklärt, indes dort immer weiter an Bedeutung verliert.341 Mit der Einordnung der Gesetzesumgehung als unselbständiges Problem der richtigen Auslegung einer Norm bzw. deren analoger Anwendung, kann vorsätzliches Handeln des Umgehenden bei der Behandlung von Umgehungsversuchen nicht mehr notwendige Voraussetzung sein.342 Gegenstand der Gesetzesumgehung ist nach deutschem Verständnis nicht die Ahndung persönlichen Unrechts, sondern die Frage der Rechtsgeltung einer Rechtsnorm aus sich selbst heraus.343 Die in der Vergangenheit angenommene Eigenständigkeit der Umgehungslehre hing mit den begrenzten methodischen Möglichkeiten des Auslegenden, dessen starker Bindung an den Willen des historischen Gesetzgebers zusammen. 344 Die Umgehungsabsicht war dabei deren konstitutives Merkmal. In Zeiten geänderter, weiterreichender Auslegungsmöglichkeiten spielt sie konsequenterweise keine Rolle mehr.345 Dass sich damit die Konturen des Begriffs der Umgehung in der deutschen Methodik auflösen,346 ist eine normale Folge der methodischen Einordnung des Problems und nicht zu bedauern sondern vielmehr zu begrüßen:347 Letztlich stellen sich in jedem Fall der Rechtsanwendung die Fragen von Auslegung und Analogiebildung unabhängig davon, ob ein Sachverhalt in irgendeiner Weise als Umgehung bezeichnet oder wahrgenommen wird. Damit ist dem in der Sache unbegründeten Drang entgegengewirkt, in einem als ‚Umgehung‘ bezeichneten Sachverhalt anders zu verfahren, als in sonstigen Fällen der Rechtsanwendung.348 Eine eingehende Betrachtung der Relevanz subjektiver Merkmale
340 Z.B. Pfaff, In fraudem legis agere, S. 83 ff.; vgl. auch die Nachweise bei Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 67. Die Ableitung von Tatbestandsvoraussetzungen aus Begriffen, die zur Beschreibung eines Rechtsproblems verwendet werden, ist jedoch nicht nur wegen der im römischen Recht unscharfen Konturen der ‚fraus legis‘ im römischen Recht wenig sinnvoll, vgl. Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 377. 341 Vgl. Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 272 m.w.N.: „Die Missbrauchsabsicht ist ein Relikt einer noch nachwirkenden ‚außentheoretischen‘ Vergangenheit, in welcher der Umgehungsvorsatz einer selbständigen Figur der Gesetzesumgehung Konturen verliehen hatte.“ Vgl. auch Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 39 ff. 342 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 69 m.w.N. 343 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 69. 344 Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, S. 18 ff. Zu dieser sog. subjektiven Theorie auch Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 18 ff. 345 Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, S. 46 f. 346 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 398. 347 Vgl. Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 105 f. 348 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 106: „nüchterne, objektive Betrachtungsweise alleine entscheidend“; vgl. Flume, Allgemeiner Teil, S. 350.
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ist allerdings mit Blick auf die später zu erörternden Fragen der Missbrauchsverhütung im Unionsrecht notwendig. Dort stützt man sich, wie im französischen Recht, auf eine eigenständige Rechtsfigur.349 a) Umgehungsabsicht als Abgrenzungskriterium zwischen zulässigem und unzulässigem Verhalten? Eine gewisse Funktion wurde der Umgehungsabsicht bei der Abgrenzung zwischen unzulässigem Umgehungsverhalten und noch zulässiger Tatbestandsplanung zugeschrieben.350 So finden sich in der neueren Rechtsprechung einige wenige Fälle, in denen ein Verhalten als unzulässige Umgehung eingeordnet und damit nicht geduldet wurde, weil die Umgehung der relevanten Normen subjektiv intendiert war, bzw. es wurde ein gewisses Verhalten als zulässig erachtet, weil es an Umgehungsabsicht fehlte.351 Diese Fälle stellen allerdings eher die Ausnahme als die Regel dar: In neuerer Zeit hat die Rechtsprechung Entscheidungen in Umgehungsfällen nicht mehr alleine vom Vorliegen oder Nichtvorliegen einer derartigen Absicht abhängig gemacht.352 Diese derart in den Fokus zu stellen, passt nicht zu dem generell konsentierten methodischen Vorgehen von Auslegung und Analogiebildung in Umgehungssachverhalten und dem Geltungsanspruch von Rechtsnormen. Wenn Rechtsnormen ganz allgemein unabhängig vom Willen des Rechtssubjekts gelten, kann die grundsätzliche Frage bezüglich deren Anwendung bzw. Nichtanwendung nicht alleine von subjektiven Momenten abhängig gemacht werden.353 Gleiches gilt für Auslegung und Analogiebildung: Zwar kann das Auslegungsergebnis und auch die Frage der Möglichkeit einer Analogiebildung vom Vorliegen subjektiver Momente beeinflusst werden,354 allerdings können diese nicht zur notwendigen Bedingung erhoben werden oder im Sinne einer konditionalen Verknüpfung das Ergebnis der Rechtsanwendung bestimmen.
349
Vgl. unten, S. 81 ff., 154 ff. Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 68. 351 Teichmann, JZ 2003, 761, 764, mit Verweis etwa auf BGH, Urt. v. 28.11.1953, II ZR 203/52, BGHZ 11, 124, 127. 352 Teichmann, JZ 2003, 761, 764. Teichmann verweist darauf, dass sich aus den 200 Entscheidungen, die sich in der amtlichen Sammlung des Geirchtshofs mit Fragen der Gesetzesumgehung beschäftigen, nur drei dadurch auszeichneten, dass der BGH der Umgehungsabsicht entscheidende Bedeutung zugemessen habe. 353 Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 69. Vgl. auch Baur, Missbrauch im Kartellrecht, S. 101. 354 S.u., S. 78. 350
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b) Absicht zur Verwirklichung eines sog. Gesamtplans und Umgehungsabsicht Gleichsam im Dunstkreis der Forderung nach Umgehungsabsicht auf Grundlage eines eigenständigen Rechtsinstruments, der Sachverhaltsauslegung und der Idee, Umgehungsabsicht zur Abgrenzung von zulässigem und unzulässigem Verhalten heranzuziehen, liegt das Argumentationsmuster des sog. Gesamtplans, das – auf § 42 AO zurückgehend355 – im Steuerrecht prominente Bedeutung erlangt hat.356 Hierbei werden materiell zusammengehörige Rechtsgeschäfte, die auf eine einheitliche Planung zurückgehen, formell verklammert und so anhand des von Anfang an beabsichtigten wirtschaftlichen Erfolgs bewertet und vor allem besteuert.357 Dies trägt der steuerrechtlichen Devise des „substance over form“358 Rechnung: Steuerrechtliche Normen wollen nach ihrem Sinn und Zweck generell die wirtschaftliche Bedeutung eines Lebenssachverhalts erfassen, wobei dessen formale Untergliederung in zivilrechtliche Rechtsgeschäfte grundsätzlich unerheblich ist.359 Für die Zwecke der Besteuerung wird die steuerrechtliche Eigenständigkeit der Teilakte unter der Voraussetzung aufgehoben, dass die zugrundeliegende Gestaltung von der Absicht getragen ist, einen Gesamtplan zu verwirklichen.360 Dieser subjektive Umstand wird überwiegend aus Objektivem abgeleitet, so vor allem aus einem engen zeitlichen Zusammenhang der gegebenen Teilakte.361 Den Gegenbeweis, dass ein Gesamtplan nicht bestehe, kann der Steuerpflichtige dadurch antreten, dass er beachtliche wirtschaftliche Gründe (good
355
Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 357; Förster, in: FS Korn, S. 3, 5; Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114, 114. 356 Dazu Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 44; Förster, in: FS Korn, S. 3 ff.; Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114 ff.; Offerhaus, FR 2011, 878 ff.; Söffing, BB 2004, 2777 ff.; Spindler, DStR 2005, 1 ff.; Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 356 ff.; krit. Ratschow, in: Klein, § 42 AO Rn. 13. 357 Spindler, DStR 2005, 1, 1. 358 Die Bezeichnung ‚substance over form‘ ist dem US-amerikanischen Steuerrecht entlehnt. Zu einem Vergleich der Gesamtplanrechtsprechung mit entsprechenden Argumentationsmustern im US-amerikanischen, britischen und belgischen Steuerrecht, vgl. Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114, 118 ff. 359 Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 317 mit Verweis auf BVerfG, Entscheidung v. 22.7.1970, 1 BvR 285/66, 1 BvR 445/67, 1 BvR 192/69, BVerfGE 29, 104, Rn. 45: „[…] denn es kommt im Steuerrecht nicht auf die rechtstechnische Einkleidung des Sachverhalts, sondern auf dessen tatsächlichen Inhalt an. Es ist auch von der Verfassung her nicht geboten, bei der Anwendung des Steuerrechts Begriffe und Institute stets und ausschließlich entsprechend ihrem bürgerlich-rechtlichen Gehalt auszulegen.“ Vgl. auch Offerhaus, FR 2011, 878, 880. 360 Vgl. Söffing, BB 2004, 2777, 2777. 361 Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114, 121 m.w.N.; Spindler, DStR 2005, 1, 3 mit Verweis auf BFH, Urt. v. 18.1.2001, IV R 58/99, BFHE 194, 377.
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business reasons) ins Feld führt oder mittels anderer außersteuerlicher Gründe die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Teilakte darzulegen vermag.362 Eine Spielart des Gesamtplans ist die Aufspaltung eines einheitlichen Sachverhalts in mehrere Teilakte, denen bei wirtschaftlicher Gesamtbetrachtung keine eigenständige Bedeutung beizumessen ist.363 Als wirtschaftliche Einheit wurde dabei z.B. ein Vertrag über die Veräußerung eines Gegenstandes und die Schenkung des für den Erwerb notwendigen Betrags durch den Veräußerer an den Erwerber betrachtet, wenn andere beachtliche Gründe außer dem Ziel der hierdurch eintretenden Steuerbegünstigung in Bezug auf sog. Anschaffungskosten nicht ersichtlich waren.364 Die innere Einstellung des Handelnden hierbei darf nicht verwechselt werden mit der Absicht, eine Rechtsnorm umgehen zu wollen.365 Zwar kann in Fällen, die auf einem Gesamtplan beruhen, durchaus intendiert gewesen sein, eine steuerrechtliche Vorschrift zu umgehen, notwendig ist dies allerdings nicht. So kann die Verklammerung mehrere Teilakte im Sinne einer einheitlichen wirtschaftlichen Betrachtungsweise auch zugunsten des Steuerpflichtigen erfolgen.366 In jedem Fall ist der Bezugspunkt ein anderer: Nicht die Norm, die umgangen werden soll, ist Gegenstand der Absicht des Handelnden, sondern der wirtschaftliche Gesamtplan.367 Hinter dem Argumentationsmuster des Gesamtplans verbirgt sich letztlich eine mit steuerrechtlichem Vorverständnis durchgeführte Qualifikation des relevanten Sachverhalts, allerdings immer mit Blick auf die potentiell anwendbare (ausgelegte) Norm; diese bestimmt den wirtschaftlichen Kontext. Eine Nähe zu Fragen der Gesetzesumgehung ergibt sich schon dadurch, dass das Zusammenfassen mehrerer Teilakte zu einem wirtschaftlichen Ganzen, umgehungsorientiertem Vorgehen entgegenwirkt.368 Dennoch kann sich ebenso erst nach der Ermittlung des steuerrechtlich relevanten Gesamtsachverhalts die Frage der Umgehung stellen.369 Ganz allgemein ist es danach schwierig, das Argumentationsmuster des Gesamtplans von Fragen der Gesetzesumgehung
362
Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 369; ders., in: FS Reiß, S. 621,
631. 363
Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 362 m.w.N. BFH, Beschl. v. 22.5.2005, X B 164/04, Rn. 7. 365 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 44 f., 176; Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 272. 366 Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 356; Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114, 114; Spindler, DStR 2005, 1, 5. 367 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 45. Vgl. auch Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 272. 368 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 44. 369 Förster, in: FS Korn, 3, 14: Nicht die Einzelschritte sind auf eine Steuerumgehung hin zu untersuchen, sondern das wirtschaftliche Gesamtergebnis. 364
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
abzugrenzen. Das ist vor allem mit Blick auf die innere Einstellung des Handelnden von Bedeutung: Für Auslegung und Analogiebildung von Normen ist eine wie auch immer geartete Absicht nicht erforderlich – was sich selbst im diesbezüglich konservativen Steuerrecht immer mehr durchsetzt370 – für das Argumentationsmuster des Gesamtplans hingegen schon. In der Praxis findet bedauerlicherweise eine klare Zuordnung zum einen oder anderen Rechtsproblem oftmals nicht statt. So werden beispielsweise Fälle, die in der Rechtsprechung seit jeher ohne Rekurs auf Subjektives und das Erfordernis eines Gesamtplans gelöst wurden, als Beleg für die sog. Gesamtplanrechtsprechung angeführt.371 Darüber hinaus ist die Abgrenzung zu § 42 AO oftmals nicht hinreichend klar.372 Insgesamt harrt die Figur des Gesamtplans im deutschen Steuerrecht noch ihrer methodischen Ausformung und Abgrenzung gegenüber anderen Korrekturmechanismen,373 weshalb eine Übertragung der gefundenen Ergebnisse auf andere Rechtsgebiete bzw. deren Verallgemeinerung mit gebotener Vorsicht zu erfolgen hätte. Es verwundert nicht, dass man sich im Steuerrecht von diesem Konzept immer mehr distanziert. So wird teilweise schon ein „Ende der Gesamtplanrechtsprechung“374 proklamiert. Die Rechtsfigur ist aber deshalb von Interesse für den Untersuchungsgegenstand der Arbeit, da zum einen der EuGH das unionsrechtliche Missbrauchsverbot maßgeblich im Kontext steuerrechtlicher Entscheidungen entwickelt hat und zum anderen gerade die Verklammerung von Teilakten im Zuständigkeitsrecht zur Verhinderung von Erschleichungsversuchen angewandt werden kann. Dabei wird das Fehlen von beachtlichen wirtschaftlichen Gründen als Indiz für missbräuchliches Handeln dienen.375 c) Modifikation von Auslegung und Analogiebildung aufgrund subjektiver Momente? Die Bedeutung des Subjektiven und konkret der Umgehungsabsicht wird in neuerer Zeit in Verbindung mit Auslegung und Analogiebildung im Rahmen 370
Vgl. oben, Fn. 341. Fischer, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 42 AO Rn. 272 verweist beispielsweise auf BFH, Urt. v. 9.3.1994, II R 82/92 (gemeint ist II R 82/91). Diese Entscheidung knüpft mittelbar an BFH, Urt. v. 19.3.1980, II R 23/77, BFHE 130, 422 an, in der die Veräußerung von Gesellschaftsanteilen an einer Grundstücke verwaltenden Gesellschaft bürgerlichen Rechts als grundsteuerpflichtige Veräußerung der Grundstücke selbst gesehen und dabei auf die Lehre zur Gesetzesumgehung rekurriert wurde (Rn. 14). 372 In zahlreichen Entscheidungen des BFH, die Sieker als Anwendungsfälle des Gesamtplans betrachtet, rekurriert der BFH teils ausschließlich auf § 42 AO, was auch die Verfasserin sieht, vgl. Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 55 Fn. 33, S. 83 Fn. 118, S. 125 Fn. 352. Dazu auch Söffing, BB 2004, 2777, 2779 ff. 373 Ratschow, in: Klein, § 42 AO Rn. 13. 374 Prinz, DB 2013, Heft 7, M1 (Editorial). 375 Vgl. unten, S. 345. 371
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der Auflösung von Umgehungskonstellationen gebracht: Schurig spricht davon, dass über die „subjektiven Elemente der Umgehung […] u.U. die gewöhnlichen Grenzen des Anwendungsbereichs dieser methodischen Mittel“376 erweitert werden könnten. Selbst wenn Schurig nicht direkt von Umgehungsabsicht spricht, so deuten die Begriffe377, die er zur Umschreibung der seiner Ansicht nach relevanten subjektiven Elemente in der Person des Umgehenden verwendet, genau auf das, was gemeinhin unter dem Topos der Umgehungsabsicht verstanden wird.378 In welcher Weise die Umgehungsabsicht in das methodische Vorgehen einfließen soll, wird bei Schurig allerdings nicht recht klar. Benecke, die die Idee Schurigs aufgreift, spricht sich für ein Absenken der Anforderungen an die Analogiebildung in Zweifelsfällen aus: Seien Regelungslücke und vergleichbare Interessenlage zwar denkbar aber nicht sicher, könnten subjektive Momente den Ausschlag für eine analoge Anwendung der fraglichen Norm geben.379 Eine methodische Rechtfertigung, warum dies gerade aufgrund subjektiver Momente in der Person des Umgehenden der Fall sein soll, liefert sie aber nicht. Der Vorschlag bleibt auch im Übrigen unsubstantiiert und überzeugt nicht. Werden zur Lösung von Umgehungsfällen Auslegung und Analogie bemüht, können die Grenzen dieser Instrumente nicht pauschal durch die vorgeblichen Eigenheiten des Problems erweitert werden. Auch wird nicht klar, warum gerade subjektive Momente den Ausschlag für oder gegen eine Analogiebildung oder eine entsprechende Auslegung geben sollen. Hinzu kommt, dass hierzu zwischen einer ‚gewöhnlichen‘ Rechtsanwendung (im Sinne von Auslegung und ggf. Analogiebildung) und einer Rechtsanwendung im Umgehungsfall (im Sinne von Auslegung und ggf. Analogiebildung) unterschieden werden müsste, was zu sehr von der subjektiven Einschätzung des Betrachters abhinge. Vielmehr müssen sich die methodischen Operationen der Rechtsanwendung in jedem Fall gleichen. Subjektives, wie die Absicht, eine Norm umgehen zu wollen, kann nur die Bedeutung im Rahmen der Methodik haben, die ihm hierbei eben beizumessen ist.380 Die definitorischen Grenzen von Auslegung und Analogiebildung sind in jedem Fall zu wahren. Da, wie noch zu zeigen sein wird, die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots nach der Konzeption des EuGH von einem subjektiven Moment abhängig ist, muss auch hierbei die Einordnung in den Kontext von
376
Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 404. Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 404 spricht von Arglist, dem Bewusstsein, Vorteile zu erzielen, die dem Handelnden nach dessen Überzeugung nicht zustehen, von einer manipulierten Tatbestandsverfüllung und der Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen. 378 Vgl. die Ausführungen bei Vetsch, Gesetzesumgehung, S. 216 f. 379 Benecke, Gesetzesumgehung, S. 185 f. 380 Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 40: „Die Relevanz subjektiver Merkmale bestimmt sich […] ausschließlich nach den allgemeinen Regeln der Rechtsanwendung.“ 377
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Auslegung und Rechtsfortbildung erfolgen. Die soeben dargestellten Argumentationslinien werden auch auf europäischer Ebene wieder auftauchen. Auch diesbezüglich vertritt die Arbeit wiederum die Ansicht, dass eine Modifikation des Auslegungsspielraums aufgrund subjektiver Momente nicht überzeugend ist.381 d) Restwert des Subjektiven in Umgehungsfällen Faktisch wirkt es sich in der praktischen Rechtsfindung sicherlich aus, wenn ein bestimmtes Verhalten von der allgemein als negativ wahrgenommenen Absicht getragen ist, eine Rechtsnorm umgehen zu wollen.382 Darüber hinaus – und das auf einer hier alleine interessierenden rechtlichen Ebene – kann Subjektives in der Person des Umgehenden bei Auslegung und Analogiebildung (nur) über die beiden Instrumenten immanente Wertungskomponente in die Rechtsanwendung einfließen.383 Dies ist freilich keine Besonderheit in Umgehungsfällen, sondern eine allgemeingültige Aussage, die auch in nicht als Umgehung eingeordneten sonstigen Fällen gilt. Eine besondere Bedeutung haben hierbei allgemeine Rechtsprinzipien oder Rechtsgrundsätze.384 Sie werden dem sog. inneren System der Rechtsordnung zugeordnet und spiegeln der Gesamtrechtsordnung immanente Wertungen wider. Funktional stellen sie Optimierungsgebote dar,385 die vor allem der Entwicklung eines konsistenten Systems der Rechtsanwendung dienen, bei Auslegung und Rechtsfortbildung.386 Im Rahmen der Gesetzesumgehung kann man beispielsweise den Gedanken verminderte Schutzwürdigkeit aufgreifen, wie er auch über das Verbot des Rechtsmissbrauchs Eingang in die Rechtanwendung findet387: Der Umgehende ist in Bezug auf die Nichtanwendung einer Norm, die er bewusst zu umgehen sucht, als wenig schutzwürdig zu erachten, da er
381
Vgl. unten, S. 147. Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 404 diskutiert dies unter dem Stichwort der „Erheblichkeitsschwelle“. 383 Vgl. Canaris, Lücken im Gesetz, S. 23 m.w.N. zu Wertungsaspekten bei der Auslegung und S. 93 ff. zu Wertungsaspekten bei der Analogiebildung. Vgl. auch Hubmann, AcP 155 (1956), 85, 115 ff.; Rümelein, Werturteile im Zivilrecht, S. 24 ff. Generell Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 17: „Der Richter ist befugt und angewiesen, volitive Elemente, eigene Wertungen bei der Deutung der Norm anzuwenden.“ Zur Strukturverwandtschaft von Auslegung und Analogiebildung diesbezüglich vgl. Sax, Analogieverbot, S. 97 ff. 384 Bydlinski, Methodenlehre, S. 481 ff. Nach Esser, Grundsatz und Norm, S. 70 sind sie „immanente Seins- und Funktionsprinzipien des Einzelnen“; ähnlich Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, S. 11, wonach diese im geltenden Recht schon vorausgesetzt seien. 385 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. 386 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 757. 387 S.o., S. 39 ff. 382
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mit deren Anwendung rechnen musste.388 Gleiches gilt für diejenige Rechtsnorm, welche er gegebenenfalls zu erschleichen sucht.389 3. ‚Rechtsfolge‘ einer Gesetzesumgehung Eine spezifische Rechtsfolge existiert in Fällen der Gesetzesumgehung nach deutschem Methodenverständnis nicht. Kann die Rechtsfolge der zu umgehen versuchten Norm auf den fraglichen Sachverhalt im Wege der Auslegung oder der Analogiebildung erstreckt werden, tritt eben diese Rechtsfolge ein.390 Teilweise spricht man hierbei auch von „Gleichstellung“391, was irreführend ist, denn dies suggeriert eine über Auslegung und Analogiebildung hinausgehende methodische Operation, der es in Wirklichkeit nicht bedarf. Kann ein Verhalten der Rechtsfolge der (analog angewandten) Norm unterstellt werden, liegt nur ein Verstoß gegen die Norm an sich vor.392 Nichtigkeit „der Umgehung“, wie teilweise zu lesen ist,393 ist allenfalls dann die Folge einer Umgehung, wenn eine Norm zu umgehen versucht wird, die selbst eine Nichtigkeitsanordnung enthält und diese Rechtsfolge auf den Sachverhalt und das konkrete Rechtsgeschäft erstreckt werden kann.394 Wird versucht, eine Rechtsnorm durch rein tatsächliches Verhalten zu umgehen, passt diese Rechtsfolge schon gar nicht. Da im deutschen Schrifttum nicht immer zwischen Erschleichen und Vermeiden von Rechtsnormen differenziert wird und teilweise nur eine Kombination aus Normvermeidung und Normerschleichen als Gesetzesumgehung verstanden wird,395 könnte die erwähnten Nichtigkeit des Umgehungsvorgangs auch ‚untechnisch‘ dahingehend zu verstehen sein, dass aus der zu erschleichen versuchten Vorschrift keinerlei Rechtsfolgen herbeiführt werden können.
388
Vgl. Baur, Missbrauch im Kartellrecht, S. 101. Zu dieser Argumentationsstruktur in Zusammenhang mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot, unten, S. 255. 390 H.M., z.B. Wolf/Neuner, Allgemeiner Teil, § 45 Rn. 27; Sieker, Umgehungsgeschäfte, S. 11; Westerhoff, Gesetzesumgehung, S. 86; Armbrüster, in: MüKo-BGB, § 117 BGB Rn. 20; Jauernig, in: Jauernig, § 134 BGB Rn. 18; Sack/Seibl, in: Staudinger, § 134 BGB Rn. 145; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 380; differenzierend Benecke, Gesetzesumgehung, S. 110; Tamussino, Umgehung, S. 220. 391 Vgl. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 98. 392 Dürrenberger, Gesetzesumgehung und Scheingeschäft, S. 54. 393 Vgl. Sack/Seibl, in: Staudinger, § 134 BGB Rn. 145. Diejenigen Autoren, die als Umgehungsobjekte nur Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB ansehen (vgl. oben, Fn. 278 a.E.), kommen freilich immer zur Nichtigkeit des Umgehungsgeschäfts, ohne dies besonders begründen zu müssen. 394 Unhaltbar ist deshalb auch die Lösung der h.M. in sog. Agenturgeschäften, vgl. Lorenz, in: MüKo-BGB, § 475 Rn. 36 m.w.N. 395 Vgl. oben, S. 59. 389
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
III. Gesetzesumgehung in anderen europäischen Rechtsordnungen Für den Rechtsvergleich mit Lösungsansätzen in anderen Rechtsordnungen kann man von der Annahme ausgehen, dass sich das Phänomen der Gesetzesumgehung in jeder beliebigen Rechtsordnung stellen muss. Das aus rechtsvergleichender Sicht relevante Sachproblem396 liegt im Auseinanderfallen von Wortlaut und Sinn einer Rechtsnorm im Einzelfall. Dies stellt einen Umstand dar, der unabhängig von der Zuordnung einer Rechtsordnung zu einem Rechtskreis oder Ähnlichem eintreten kann. In die Untersuchung einbezogen werden nach der Konzeption der Arbeit wiederum nur die Rechtsordnungen Frankreichs und Englands.397 Der Blick ins französische Recht ist deshalb besonders reizvoll, weil sich hier im Gegensatz zum deutschen Recht zur Lösung von Umgehungssachverhalten ein eigenes Rechtsinstitut etablieren konnte. Das Interesse für die englische Rechtsordnung gründet sich auf dessen besondere Struktur, das Zusammenwirken von geschriebenem und ungeschriebenem Recht. Wiederum ist auch der Umstand von Interesse, dass im Common Law gerade keine umfassende Rezeption römischen Rechts stattgefunden hat.398 Wenn Umgehungslehren in anderen Rechtsordnungen an römisch-rechtliche Rechtssätze angebunden wurden, so fehlte eine derartige Grundlage im englischen Common Law. 1. Frankreich Nach herrschender Ansicht in der französischen Rechtswissenschaft wird die Gesetzesumgehung, im Gegensatz zum deutschen Recht, mittels einer eigenen Rechtsfigur gelöst, der sog. fraude à la loi.399 Deren Ursprung liegt im Internationalen Privatrecht, allerdings wurde sie mit der Zeit auch ins Sachrecht überführt.400 Dort findet sie nicht nur im Privatrecht Anwendung, sondern auch im öffentlichen Recht, z.B. im Steuerrecht,401 wobei man eine allgemeingültige gesetzliche Anordnung bzw. Ausformung der Rechtsfigur vergeblich sucht.402 396
Vgl. Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 33. Weitere europäische Rechtsordnungen untersucht von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 68 ff. 398 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 192. 399 Einzelheiten sind umstritten, vgl. Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 F 657 m.w.N. Nachweise zur Gegenansicht bei Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 387 f. Allgemein zur ‚fraude à la loi‘ vgl. Audit, Fraude à la loi, passim; Desbois, Fraude à la loi, passim; Carbonnier, Les Obligations, Nr. 74; Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 741 ff.; Heeder, Fraus legis, S. 77; Ligeropoulo, Fraude à la loi, passim; Rütten, Gesetzesumgehung, S. 22 ff.; Vidal, Fraude à la loi, passim. 400 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 387. 401 Vgl. Ligeropoulo, Fraude à la loi, S. 293 ff. 402 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 F 654 mit Nachweisen zu einzelnen gesetzlichen Ausformungen des Rechtsinstituts. 397
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Allgemein wurde die fraude à la loi von Rechtsprechung und Wissenschaft geschaffen und durch erstere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer festen Größe in der Rechtslehre fortentwickelt.403 Zentrales Anliegen dieser Umgehungslehre ist es, das Ansehen der Rechtsordnung vor derjenigen Geringschätzung zu schützen, die sich ihr gegenüber im Verhalten des Umgehenden ausdrückt, der das Recht durch Tricksereien verhöhnt.404 Regelungsgegenstand ist damit vor allem, im Unterschied zum deutschen Verständnis der Gesetzesumgehung, die Ahndung persönlichen Unrechts. a) Anwendungsvoraussetzungen der fraude à la loi Konstitutiv für die fraude à la loi sind drei Elemente: Eine zwingende Rechtsnorm (règle obligatoire), das Handeln in Umgehungsabsicht durch mindestens eine beteiligte Person405 und die Anwendung eines „wirksamen Mittels“ zu diesem Ziel, womit zwischen Simulation und ernsthaft gewollter Tatbestandserfüllung abgegrenzt wird.406 Bezugspunkt der fraude ist dabei in der Regel ein konkretes Umgehungsgeschäft, in Form eines acte juridique. Vor allem in Fällen des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts wird aber auch auf rein tatsächliches Handeln (fait matériel) abgestellt, beispielsweise auf eine Veränderung des Wohnorts, um sich in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Staats zu begeben.407 Besonders um das Herzstück der Rechtsfigur, die Umgehungsabsicht, ranken sich eine Reihe von Problemen: Neben dem allgemeinen als problematisch bezeichneten Nachweis subjektiver Momente408 ist etwa nicht klar, ob die Absicht, eine Rechtsnorm umgehen zu wollen, das einzige Motiv des Handelnden sein muss oder ob es ausreicht, dass es unter mehreren vorhanden bzw. dominant ist.409 Die Bedeutung dieser Unsicherheiten ist groß, schließlich grenzt man im französischen Recht über das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen der Umgehungsabsicht zwischen zulässiger Tatbestandsplanung (habileté) und nicht mehr zulässiger Gesetzesumgehung ab.410 Zwar bemüht man hierzu teilweise
403
Cornut, Fraude à la loi, Nr. 47; Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 741. Audit, Fraude à la loi, S. 436; Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 745; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 388 m.w.N. 405 Vgl. Desbois, Fraude à la loi, S. 21. 406 Vidal, Fraude à la loi, S. 62. 407 So z.B. in der ‚affaire de Bauffremont’, Cass. civ., 18 mars 1878, S. 1878. 1. 193; vgl. allgemein Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 752. 408 Vgl. Cornut, Fraude à la loi, Nr. 60. 409 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 389. 410 Vgl. Cornut, Fraude à la loi, Nr. 60. 404
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
auch objektive Kriterien,411 doch widerspiegelt sich gerade in der Umgehungsabsicht der tiefere Sinn für das Korrektiv der fraude à la loi, die Würde des Gesetzes vor Missachtung zu schützen. Dies hat aber nur dann zu erfolgen, wenn das die Geringschätzung ausdrückende Verhalten subjektiv vorwerfbar ist.412 b) Einheitliche Betrachtungsweise des Umgehungsvorgangs Was den Vorgang der Gesetzesumgehung angeht, so wird im französischen Recht überwiegend nicht unterschieden zwischen dem Vermeiden nachteiliger und dem Erschleichen vorteilhafter Rechtsnormen, wie dies in vorliegender Arbeit in den Ausführungen zum deutschen Recht erfolgte. Es wird vielmehr eine einheitliche Betrachtung angestellt und (nur) eine Kombination aus Vermeiden und Erschleichen als fraude à la loi verstanden. Zwar wird vor allem auch daraus, dass die Anwendung einer Rechtsnorm vermieden werden soll, das Verwerflichkeitsurteil hinsichtlich eines bestimmten Verhaltens abgeleitet.413 Der Fokus in den Rechtsfolgen richtet sich freilich auf die Rechtsnorm, die erschlichen werden soll.414 Das zeigt sich darin, wie die Sanktionierung einer fraude à la loi umschrieben wird: „La fraude ‚fait exception à toutes les règles‘“415. Diskutiert wird also nicht, ob und – wenn ja – wie die umgangene Rechtsnorm auf den Umgehungssachverhalt angewandt werden kann, sondern die Frage ist, ob sich der Handelnde auf die durch den fraudulösen Akt formal erlangten Vorteile berufen kann. Diese Betrachtungsweise liegt deshalb nahe, da die fraude à la loi das persönlich vorwerfbare Verhalten des Einzelnen zum
411
Vgl. Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 755 f. Die hier gemachten Ausführungen weichen meines Erachtens allerdings nicht wesentlich von denen ab, die zur Abgrenzung von Scheingeschäft und ernsthaft gewollter Tatbestandserfüllung gemacht werden. 412 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 756; Vidal, Fraude à la loi, S. 212; von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 75. Nicht erforderlich ist demgegenüber die Absicht, ein anderes Rechtssubjekt zu schädigen. Hierüber wird herkömmlich zum abus de droit abgegrenzt, vgl. Schammo, 14 ELJ (2008) 351, 356. 413 Vgl. Vidal, Fraude à la loi, S. 63. 414 Vgl. Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 741: „(La théorie de la fraude) s’agit alors de sanctionner les manœuvres des individus qui, par ruse, tentent de tirer parti des règles juridique afin de bénéficier d’un droit ou, plus généralement d’un advantage dont ils ne devraient pas profiter.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). Differenzierend Ligeropoulo, Fraude à la loi, S. 74; vgl. auch Rütten, Gesetzesumgehung, S. 44 ff. 415 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 761. Anders Cornut, Fraude à la loi, Nr. 564: „Pour être valablement sanctionnée, la fraude à la loi doit être déclarée inefficace, c’est-à-dire que la sanction par le biais de l’eception de fraude à la loi doit permettre de replacer l’intéressé dans la situation qui ètait la sienne avant la rèalisation de sa manœuvre, afin de rétablir dans sa compétence la loi laquelle il tenta d’èchapper.“ (Hervorhebung durch den Verfasser).
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Anknüpfungspunkt nimmt und die Vorteile, auf die sich dieser dann nicht berufen können soll, am direktesten durch die erschlichene Vorschrift vermittelt werden. c) Verhältnis der fraude à la loi zur Auslegung Wie die Ausführungen zum deutschen Recht gezeigt haben, hängt das Problem der Gesetzesumgehung untrennbar mit der Auslegung von Rechtsnormen zusammen. Vor allem ist der Auslegungsspielraum entscheidend, den man dem Rechtsanwender hierbei zugesteht. Das Rechtsinstitut der fraude à la loi und dessen Eigenständigkeit gründen sich auf die (vormals gegebenen416) methodischen Grenzen der Auslegung im französischen Recht, die teilweise sehr starke Bindung des Auslegenden an den Wortlaut einer Vorschrift und dadurch an deren historischen Sinngehalt. Ganz im Sinne der Aufklärung sollte über diese Buchstabentreue sichergestellt werden, dass der Wille des historischen Gesetzgebers bei der Normauslegung verwirklicht wird.417 Besonders streng war die Bindung an den Willen des historischen Gesetzgebers in der Mitte des 19. Jahrhunderts, was eine regelrechte Flut an wissenschaftlichen Arbeiten zur fraude à la loi in der darauf folgenden Zeit bedingte.418 Zwar war besagte Buchstabentreue in ganz Europa ein Kind ihrer Zeit.419 Jedoch widersetzten sich in Frankreich Rechtswissenschaft und Praxis einer Loslösung – im Gegensatz zur Entwicklung in Deutschland, die Anfang des 19. Jahrhunderts unter maßgeblichem Einfluss von Savigny stand420 –, was bis heute deutlich fortwirkt.421 Die Lehre von der fraude à la loi konnte damit eine erhebliche Zeit im französischen Recht überdauern und sich ihren Platz in der Rechtsanwendung sichern. Die historischen Arbeiten prägen das Methodenverständnis in Frankreich bis heute, wobei sie besonderen Niederschlag im französischen Steuerrecht gefunden haben.422 416
Dazu sogleich. Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 298 f. Die Grundlagen dazu finden sich schon in der Theorie von Montesquieu, De l’esprit des lois, Buch XI, Kapitel 6: „Mais les juges de la notion ne sont […] que la bouche qui prononce les paroles de la loi.“ Sie werden indes auch heute noch gelebt, vgl. Babusiaux, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 720, 729. 418 Rütten, Umgehung, S. 28 f. m.w.N. Ein vergleichbares Ursache-Wirkungs-Verhältnis zeigt sich auch in der gemeinrechtlichen Lehre des 19. Jahrhunderts und der Eigenständigkeit einer Rechtsfigur der ‚fraus legis‘, vgl. Schröder, Gesetzesauslegung und Gesetzesumgehung, S. 18 und oben, S. 71 f. 419 Vgl. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 359 ff.; Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 19 f. 420 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 18 ff. 421 Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 17. 422 Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 270. Das Steuerrecht scheint dabei einen gewissen Nährboden für eine eigenständige Rechtsfigur der Gesetzesumgehung zu bieten. Denn auch 417
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Die starke Betonung des Wortlauts im Rahmen der Auslegung hat sich in der Vergangenheit zur sog. acte clair-Regel verdichtet: Hiernach setzt sich ein eindeutiger Wortlaut selbst dann durch, wenn er zu unvernünftigen und ungerechten Ergebnissen führt.423 Eine Auslegung hat zu unterbleiben, ist der Wortlaut doch schließlich klar.424 Fällt ein Sachverhalt eindeutig unter den Wortlaut eines Gesetzes, ist dieses anzuwenden, wobei die Gerichte mit einer gewissen Vehemenz betonen, dass, wenn der Sinn eines Gesetzes klar und präzise sei, „(dieses) dem Buchstaben nach angewandt werden (müsse).“425 Gleiches gilt für den umgekehrten Fall, dass ein Sachverhalt eindeutig nicht unter den Wortlaut eines Gesetzes fällt; eine Extension hat grundsätzlich zu unterbleiben.426 Diese Prinzipien finden auch heute noch erheblichen Rückhalt in der französischen Rechtswissenschaft und Praxis,427 wenngleich vor allem im Einflussbereich des Unionsrechts die nationalen Beschränkungen aufgebrochen werden mussten428. Die Beurteilung, ob ein Sachverhalt klar und eindeutig von einer Rechtsnorm erfasst ist oder nicht, stellt nach überwiegendem französischem Methodenverständnis keine Auslegung dar. Vielmehr geht man von der Prämisse aus, dass einer Rechtsnorm ein eindeutiger Anwendungsbereich zugeschrieben werden kann, innerhalb dessen nur die bloße Anwendung der Rechtsnorm notwendig sei. Wird eine Vorschrift als eindeutig im Sinne der acte clair-Regel eingeordnet, ist eine Auslegung nicht nötig und möglich.429 Allerdings existieren Ausnahmen, wenngleich sich klare Aussagen über deren Zulässigkeit im Einzelfall nicht treffen lassen. Fakt ist jedoch, dass dem Wortlaut als Grenze der Auslegung bzw. Anwendung einer Rechtsnorm im französischen Recht größte Bedeutung zukommt.430 Dieser enge Auslegungsansatz provoziert einen fehlenden Bezug des Rechts zum Einzelfall, der aber vom Rechtsanwender beurteilt werden muss. Zwar im deutschen Steuerrecht hält sich in Auslegung des § 42 AO bis heute eine Überbleibsel der historischen fraus legis-Lehre in Form einer Umgehungsabsicht, s.o., S. 72. 423 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 361; Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 261. 424 Die acte clair-Doktrin geht zurück auf die Parömie ‚In claris non fit interpretatio‘, vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 17. Parallelen hierzu finden sich mit der sog. literal oder plain meaning rule auch im englischen Recht, vgl. unten, S. 89. 425 Vgl. Cass. civ., 7 avril 1909, S. 1912. 1. 281 (Hervorhebung in der deutschen Übersetzung durch den Verfasser). Im Übrigen vgl. die Nachweise bei Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 254 ff. 426 Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 250. 427 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 361 m.w.N. 428 Babusiaux, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 720, 730. 429 Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 248; zur Fragwürdigkeit dieser Annahme, erweiternd in einem europäischen Kontext, Baldus, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 26, 35. 430 Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 294 f.
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gehen die französischen Gerichte hiermit, wie gesehen, ‚flexibel‘ um, dennoch sind die Lücken im Normgefüge ein Umstand, auf die sich die Daseinsberechtigung der fraude à la loi gründet.431 Zwar ist nicht zu verkennen, dass die beschriebene Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung im Laufe des 20. Jahrhunderts immer geringer wurde. Das hat vor allem mit einer größeren methodischen Unabhängigkeit des Rechtsanwenders in der Auslegung zu tun und der Art und Weise, wie Gesetze nunmehr verfasst wurden.432 Ein Rückgriff auf die fraude à la loi war nicht mehr in dem vormals gegeben Maße notwendig, was sich in der geringen Anzahl an Fällen niederschlägt, in denen das Rechtsinstitut in der jüngeren Vergangenheit tatsächlich bemüht wurde.433 Gleichwohl ist für die französische Methodenlehre immer noch ein recht enges Verständnis der Auslegung stilbildend.434 Die im Laufe der Zeit erkämpfte Freiheit in der Auslegung bedingte denklogisch Friktionen mit der tradierten Rechtsfigur der fraude à la loi. In der Praxis besteht ein Graubereich zwischen beiden Komplexen, in dem eine konsequente Auflösung lege artis nicht vollzogen wird: So existieren Fälle, in denen ein nach gefestigtem französischen Verständnis als Umgehungsgeschäft einzuordnender Sachverhalt mittels Auslegung der relevanten Norm als direkt gegen diese verstoßend angesehen und somit nicht durch Anwendung der Grundsätze der fraude à la loi gelöst wird.435 Dies, obwohl zwischen fraude à la loi und Auslegung eigentlich ein Stufenverhältnis existiert: Sind die Voraussetzungen der fraude à la loi erfüllt, ist ein Rückgriff auf die Auslegung der entsprechenden Vorschriften gerade nicht möglich, denn Eingangsbedingung ist, dass ein Umgehungsversuch mit dem gewöhnlichen Instrumentarium der Auslegung nicht verhindert werden kann.436 Oder, andersherum ausgedrückt: Die Regeln der fraude à la loi greifen nur dann, wenn ein Umgehungsversuch eben nicht von einer Vorschrift erfasst wird;437 hierin spiegelt sich die historische Bedeutung des Rechtsinstituts wider.438
431
Rütten, Umgehung, S. 28 f. Vgl. Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 A 382 ff.; Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 308 (zur geänderten Gesetzgebungstechnik), S. 309 (zum gewachsenen Auslegungsspielraum französischer Gerichte). 433 Vgl. Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 745. 434 Babusiaux, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 720, 721. 435 Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 F 653; Rütten, Gesetzesumgehung, S. 31 f. zu Abgrenzungsversuchen in der französischen Rechtslehre. Auch auf europäischer Ebene treten hier nur schwer verständliche Wechselwirkungen auf, vgl. unten S. 140 ff. 436 Vgl. Desbois, Fraude à la loi, S. 17; Rütten, Gesetzesumgehung, S. 5. 437 Vidal, Fraude à la loi, S. 214. 438 Vgl. oben, S. 84. 432
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Dass im Dunstkreis der fraude à la loi in neuerer Zeit eher versucht wird, die Gesetzesumgehung durch Rekurs auf eine geschriebene Vorschrift zu lösen, als eine Lösung über die ungeschriebene Rechtsfigur zu suchen, scheint mit einem Bestreben der Gerichte zusammenzuhängen, hierdurch Rechtssicherheit zu schaffen. Auch wenn an sich unüberwindbare methodische Schwierigkeiten in Kauf genommen werden müssen, wird versucht, der fraude à la loi aus dem Weg zu gehen und vordergründig eine Lösung auf dem Boden des Gesetzes zu erzwingen. Dies ist ein in Fragen der Rechtsfortbildung allgemein zu beobachtendes Verhalten der französischen Rechtsprechung;439 „Le juge néanmoins force le texte“, kommentiert Vidal.440 d) Abgrenzung zu anderen Lösungsansätzen Neben dem unklaren Verhältnis zu Fragen der Auslegung vermisst man in der französischen Dogmatik auch eine nachvollziehbare Abgrenzung zu denjenigen Lösungsansätzen, die in Umgehungsfällen ebenfalls angewandt werden können. 441 Das Verhältnis zu Lehre vom abus de droit wurde schon dargestellt. 442 Daneben bestehen Abgrenzungsschwierigkeiten beispielsweise zur cause-Lehre: Ein Vertrag, der ein unsittliches Ziel (cause illicite) verfolgt, ist gemäß Art. 1131 CC nichtig, was bei einer intendierten Umgehung von Rechtsnormen die Regel sein wird.443 Verkompliziert wird die Lage, da man in der französischen Lehre zugleich ein Vorgehen über die deliktische Generalklausel für möglich hält, Art. 1382, 1383 CC.444 Zwischen diesen verschiedenen Herangehensweisen hat sich eine Rangfolge (noch) nicht eingestellt; die Praxis folgt Zweckmäßigkeitserwägungen, wobei vor allem die unterschiedlichen Rechtsfolgen der Lösungsansätze ausschlaggebend sind.445 Die fraude à la loi führt dazu, dass sich auf die durch das Umgehungsgeschäft erlangten Vorteile (nur) nicht berufen werden kann, der Vorgang im Übrigen aber Rechtsgültigkeit. Das gleiche Ergebnis kann auch über die deliktsrechtliche
439
Vgl. Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 290 f. Vidal, Fraude à la loi, S. 214. 441 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 387; krit. zum Theoriendefizit allgemein Heeder, Fraus legis, S. 77. 442 S.o., S. 50. 443 Rütten, Gesetzesumgehung, S. 30 f. mit dem treffenden Hinweis, dass die in Art. 1133 CC enthaltene Regel, will man die cause-Lehre generell zur Lösung von Umgehungsfällen anwenden, eine allgemeine Ausdehnung auf Rechtsgeschäfte erfordern würde. Nicht erfasst werden damit jedoch Fälle, in denen eine Norm durch rein tatsächliche Gestaltung zu umgehen versucht wird. 444 Vgl. Rütten, Gesetzesumgehung, S. 35 f.; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 390. 445 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 769: „En réalité, le choix de la technique utilisée est essentiellement affaire d’opportunité.” Vgl. Cornut, Fraude à la loi, Nr. 566 ff.; Heeder, Fraus legis, S. 77; krit. Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 392. 440
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Generalklausel und deren Rechtsfolge der Naturalrestitution erreicht werden.446 Demgegenüber führt die Annahme einer cause illicite zur Nichtigkeit des Umgehungsgeschäfts im Falle rechtsgeschäftlichen Handelns.447 2. England Im Gegensatz zu den Rechtsordnungen des kontinentaleuropäischen Rechtskreises findet sich im englischen Common Law keine eigene Theorie der Gesetzesumgehung. 448 Weder statutory law noch das ungeschriebene Fallrecht der Gerichte und das Gewohnheitsrecht enthalten abstrakt erfassbare, direkte Bestrebungen, Gesetzesumgehung zu verhindern. 449 Natürlich versucht man auch im Common Law, die nachteiligen Rechtsfolgen von Rechtsnormen zu vermeiden. Ein prominentes rechtsgeschichtliches Beispiel liefert die Entstehung des Treuhandverhältnis des sog. trusts: Das dem englischen Recht ureigene Rechtsinstitut wurde im 12. und 13. Jahrhundert aus der Motivation heraus entwickelt, die mit dem Lehen an Grundstücken zusammenhängenden unliebsamen Feudallasten zu umgehen.450 Es finden sich dann auch in der jüngeren Rechtsprechung Fälle, in denen englische Gerichte Umgehungsvereitelung betreiben.451 Generell sind sie dabei aber eher zurückhaltend. Umgehungsversuchen soll, wenn überhaupt, auf Ebene der Rechtsetzung denn auf Ebene der Rechtsanwendung begegnet werden.452 a) Struktur des Common Law und Gesetzesumgehung Ein Grund für diese Zurückhaltung ist in der Struktur des englischen Common Law zu suchen.453 Das Auseinanderfallen von Wortlaut und Sinn einer Rechtsnorm wurde hier lange Zeit als durchaus legitim hingenommen. Wird im deutschen Recht eine derartige Diskrepanz durch die Ausdehnung des Regelungsgehalts einer Rechtsnorm und gegeben falls eine Einschränkung der erschlichenen Rechtsnorm erreicht, im französischen Recht in derartigen Fällen durch einen Eingriff ‚von außen‘, mittels eines eigenen Rechtsinstituts vorgegangen, 446
Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 F 659. Ferid/Sonnenberger, Französisches Zivilrecht, Rn. 1 F 651. 448 Ehrenzweig, Private International Law, S. 166 f.; Graveson, Conflict of Laws, S. 170; ders., 19 J.Comp.Leg. (1937) 21, 26; Kahn-Freund, Private International Law, S. 284; von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 80. Ausführlich zur Gesetzesumgehung im englischen Privatrecht, vgl. Henningsen, Umgehung, S. 110 ff. 449 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 392 und 397 m.w.N.; zur Gesetzesumgehung im englischen Recht auch Schick, Gesetzesumgehung, S. 79 ff. 450 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 185; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 376. 451 Vgl. Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 1036 f. m.w.N. 452 Graveson, Conflict of Laws, S. 174; Fawcett, 49 C.L.J. (1990) 44, 57 ff.; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 395. 453 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 395. 447
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war eine solche Korrektur im englischen Recht, zumindest mit Blick auf das statutory law, bis in die jüngere Vergangenheit hinein nicht denkbar. Dies folgt daraus, dass das Common Law sich über Jahrhunderte durch das Fallrecht der Gerichte fortentwickelt hat und ein Eingreifen des Gesetzgebers deshalb als freiheitsbeschränkend angesehen wurde und wird.454 Die legislativ gesetzten Vorschriften wurden fast nie ausdehnend ausgelegt, geschweige denn analog angewandt.455 Funktional gelten die Regeln des statutory law dementsprechend als Ausnahmen zum ungeschriebenen Fallrecht. Sie dürfen deshalb nicht über ihren – idealerweise – klaren, äußerst präzise gehaltenen Wortlaut hinaus ausgedehnt werden.456 Neben dem faktisch präzisen Wortlaut der Parlamentsgesetze gründet sich dies auf die Annahme, dass der Gesetzgeber sich in klaren Worten ausdrücken wollte.457 Dies findet Ausdruck in der sog. literal oder plain meaning rule, welche die Gerichte dazu verpflichtet, sich bei einem eindeutigen Wortlaut nur von diesem leiten zu lassen, weil sich hierin der Wille des Gesetzgebers klar manifestiert habe;458 die Lehre hat damit Ähnlichkeiten zur acte clair-Regel des französischen Rechts. Gifford/Salter schreiben zur plain meaning rule: „The words of the Act are to be given their plain meaning even if doing so creates practical difficulties: these difficulties cannot displace the plain meaning of the words. It is for Parliament and not for the courts to cure any injustice in what Parliament has enacted.”459
Bei eindeutigem Wortlaut galt dies sogar gegen den Willen des Gesetzgebers, solange dieses Vorgehen nicht zu offenkundigen Absurditäten und Ungerechtigkeiten führt, sog. golden rule.460 Dass darüber hinaus hin und wieder in der Auslegung von statutory law nach dem ursprünglichen Regelungsziel des Gesetzgebers gefragt wurde (mischief rule), darf angesichts der weiterhin großen Bedeutung des Wortlauts nicht überbewertet werden.461
454
Vgl. Pollock, Essays, S. 85: „(Statutory law) cannont well be accounted for except on the theory that Parliament generally changes the law for the worse, and that the business of the judges is to keep the mischief of its interference within the narrowest possible bounds.” Vgl. auch M. Stürner, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 79, 82 ff. 455 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 260; Graveson, 19 J.Comp.Leg. (1937) 21, 27; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 395. Selbst wenn englische Gerichte einmal eine Analogie vornehmen, scheuen sie sich, diese so zu bezeichnen, vgl. Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 1018. 456 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 260 m.w.N. 457 Rensen, 14 Stat.L.R. (1993) 186, 187. 458 Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 1003. 459 Gifford/Salter, Act of Parliament, S. 72. 460 Gifford/Salter, Act of Parliament, S. 72, 75. 461 Styles 14 Ox.J.L.S. (1994) 151, 152 fasst die Bedeutung des Wortlauts mit Blick auf die mischief rule entsprechend prägnant zusammen: „The statute, the whole statute and nothing but the statute.“
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
89
Wird eine Rechtsnorm umgangen, erschwert diese Herangehensweise eine ausdehnende Anwendung von Rechtsnormen für den Fall, dass der Sachverhalt dem Wortlaut der Norm nicht unterfällt, teleologische Erwägungen aber für eine Anwendung sprechen. Spiegelbildlich gilt dies für den Fall des Erschleichens einer Rechtsnorm, wenn ein Sachverhalt dem Wortlaut einer Rechtsnorm unterfällt, deren Zweck aber gegen eine Anwendung spricht.462 Hierin kommt die Vorstellung von der Judikative als Sprachrohr des Gesetzgebers ohne eigene schöpferische Kompetenz Ausdruck („courts as agents“463). Ein Widerspruch zwischen Wortlaut und Sinn einer Rechtsnorm im Einzelfall ist unter diesen Vorzeichen ein Umstand, der der Rechtsordnung eigen ist und deshalb lange Zeit als unproblematisch gesehen bzw. der Deutungshoheit der Gerichte entzogen wurde.464 Auch was die Regelbildung im common law angeht, wird Gesetzesumgehung nicht in der Rechtsanwendung behandelt, sondern vielmehr vorgelagert, in der Ausarbeitung umgehungsresistenter Tatbestandsmerkmale.465 b) Der zweckorientierte Ansatz bei der Auslegung von statutory law Mit Blick auf die Auslegung des statutory law lässt sich jedoch seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine vermehrte Einbeziehung teleologischer Erwägungen beobachten.466 Diese Entwicklung wird als sog „purposive approach“ 467 bzw. „zweckorientierter Ansatz“ 468 bezeichnet. Eine wegweisende Entscheidung hierbei war diejenige des House of Lords in der Rechtssache Pepper v Hart469, in der die sog. exclusionary rule gelockert wurde. Nach dieser Entscheidung war ein Rückgriff auf die aufgezeichneten Parlamentsdebatten im Gesetzgebungsprozess (Hansard) in Zweifelsfällen oder Fällen eines 462
Vgl. Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 1005, 1025. Sunstein, 103 Harv.L.Rev. (1989) 405, 415. 464 Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 393. 465 V.a. Graveson, 19 J.Comp.Leg. (1937) 21, 28; vgl. auch Henningsen, Umgehung, S. 120 ff., 146 f.; Kahn-Freund, Private International Law, S. 284; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 394 mit Nachweisen zum englischen Internationalen Privatrecht. Zu dieser Art der Verhinderung von Missbrauch im Zusammenhang mit dem Erschleichen von § 23 ZPO, s.u., S. 248. 466 Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 1004 ff.; Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 260 f.; Lonnquist, 13 Revenue LJ (2003) 18, 21; Styles 14 Ox.J.L.S. (1994) 151, 152 datiert die Entwicklung zurück auf die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg; zum US-amerikanischen Recht, vgl. Sunstein, 103 Harv.L.Rev. (1989) 405, 426. 467 Beatson, 56 C.L.J. (1997) 291, 301; ebenso Bennion, Common Law Legislation, S. 42 f.; Gifford/Salter, Act of Parliament S. 83 ff. 468 Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 963 ff. 469 Pepper (Inspector of Taxes) v Hart [1992] UKHL 3, [1993] AC 593, 617, 633–634 m. Anm. Styles, 14 Ox.J.L.S. (1994) 151, der kritisch bemerkt (S. 158), mit der Entscheidung seien die Gerichte ihrer Freiheit verlustig gegangen, Gesetze auszulegen, sie dürften sie nun vielmehr nur noch anwenden. 463
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
drohenden absurden Auslegungsergebnisses erstmals möglich, um den Willen des Gesetzgebers zu ergründen. Bemerkenswert ist, dass englische Gerichte besonders dann teleologische Kriterien in die Auslegung einbezogen, wenn sie es mit (sekundärem) Unionsrecht zu tun hatten.470 In kontinentaleuropäischer Tradition und im Unterschied zu statutory law sind diese Vorschriften bewusst weit gefasst und fordern häufiger eine Einbeziehung teleologischer Erwägungen in die Rechtsanwendung, um zu sinnvollen Ergebnissen zu gelangen.471 Damit findet Sinn und Zweck einer Vorschrift vermehrt Beachtung, womit sich die Möglichkeit für einen offenen Widerspruch zwischen Wortlaut und Sinn eines Parlamentsgesetzes ergibt. Englische Gerichte haben diesbezüglich in einer Reihe von Entscheidungen gezeigt, dass sie Umgehungsversuchen durch ausdehnende Anwendung von Rechtsnormen begegnen.472 Zur Entwicklung einer eigenständigen Umgehungslehre haben die Ansätze in der englischen Rechtsprechung (noch) nicht geführt.473 Denn auch weiterhin wird an der literal rule festgehalten, selbst wenn dies nur prima facie gelten soll.474 Darüber hinaus ist Voraussetzung des zweckorientierten Ansatzes aber immer – zumindest im rein nationalen Recht – ein mehrdeutiger Wortlaut; über die Annahme eines eindeutigen Wortlauts greift freilich die die literal rule Platz: „There is no room for a purposive construction if the words to be construed will not bear the interpretation sought to be put upon them and it must always be borne in mind that the art of statutory interpretation can be applied only when the provision to be interpreted is ambiguous.”475
470
Vgl. Beatson, 56 C.L.J (1997) 291, 301. Dies erinnert an den in der französischen Methodenlehre unter dem Eindruck des Unionsrechts vollzogenen Wandel, vgl. oben im Text bei Fn. 428. 471 Zweigert/Kötz, Rechtsvergleichung, S. 260 f.; Rensen, 14 Stat.L.R. (1993) 186, 186; vgl. auch die Ausführungen von Lord Denning in HP Bulmer Ltd v J Bollinger SA [1974] Ch 401 per Lord Denning at 425. 472 Vgl. die Nachweise bei Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 1036. 473 Vgl. für den Bereich des Steuerrechts Förster/Schmidtmann, StuW 2003, 114, 119 mit Verweis auf die Entscheidung MacNiven v Westmoreland Investments Ltd [2001] 1 AC 311, in der klargestellt wurde, dass im englischen Steuerrecht bisher keine allgemeine Missbrauchsdoktrin entwickelt wurde und das seit der Entscheidung W. T. Ramsay Ltd. v Inland Revenue Commissioners, Eilbeck (Inspector of Taxes) v Rawling [1982] AC 300 aufgestellte sog. ‚Ramsay Principle‘ lediglich eine zweckorientierte, wirtschaftliche Betrachtungsweise von Steuergesetzen darstelle. Zum ‚Ramsay Principle‘, Simpson, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 485, 488; vgl. aber zur Verpflichtung, Steuergesetze eng auszulegen, Gifford/Salter, Act of Parliament, S. 131 f.; krit. Freedman, 123 L.Q.R. (2007) 53, 53 ff., 90. 474 Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 1020 f., 1043, 1149 f.; Schillig, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 748, 756. 475 R v Inland Revenue Commissioners, ex p Woolwich Equitable Building Society [1990] 1 WLR 1400, per Lord Lowry at 1428.
§ 4 Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht
91
c) Public policy als Schranke Selbst wenn durch die Einbeziehung teleologischer Kriterien in die Auslegung einer Rechtsnorm faktisch Umgehungsverhinderung betrieben wird, 476 liegt der Fokus der englischen Rechtswissenschaft, sofern sie sich allgemein zu Fragen der Gesetzesumgehung äußert, eher woanders. In neueren Beiträgen zur Behandlung von evasion oder evasive contracts werden meist nur Fälle gestörter Vertragsparität behandelt477 oder solche, in denen ebenfalls öffentliche Belange tangiert sind, insbesondere der Vertrag gegen die common law-rechtliche Schranke der public policy verstößt. 478 Dieses Korrektiv soll aber nicht das Auseinanderfallen von Wortlaut und Sinn einer Vorschrift verhindern, sondern solchen Verträgen die Wirksamkeit nehmen, die voraussichtlich und nicht nur möglicherweise Schaden für die Allgemeinheit bewirken würden.479 Natürlich kann es Fälle geben, in denen versucht wird, mittels eines bestimmten rechtserheblichen Verhaltens eine Vorschrift zu umgehen, wobei das Verhalten des Rechtssubjekts außerhalb des Wortlauts der Vorschrift liegt, deren Sinn aber für die Anwendung der Rechtsnorm streitet und dieser Vertrag zusätzlich allgemeinschädliche Folgen bewirken würde. Bemüht man hier das Rechtsinstitut der public policy, ist Anknüpfungspunkt letztlich nur die mögliche Allgemeinschädlichkeit des Verhaltens; spezifische Umgehungserwägungen müssen nicht berücksichtigt werden. IV. Zusammenfassung Gesetzesumgehung ist das zielgerichtete Vermeiden der Anwendung einer Rechtsnorm, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme einer weiteren, die erschlichen werden soll. Beide Fragen sind nach deutschem Methodenverständnis ein Problem der Geltung einer Rechtsnorm. Das Hauptaugenmerk wird dabei grundsätzlich auf die umgangene Norm gerichtet, welche ihrem Wortlaut nach nicht direkt einschlägig ist. Auslegung und Analogie sind dabei die maßgeblichen methodischen Mittel. Wie die Ausführungen zum französischen und englischen Recht deutlich gezeigt haben, ist es für die Behandlung dieses Phänomens durch eine Rechtsordnung entscheidend, welcher Gestaltungsspielraum dem Rechtsanwender bei der Auslegung zugestanden wird. Die weitreichenden Möglichkeiten deutscher 476
Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 397. Vgl. Tetley, 39 McGill L.J. (1994) 303, 332. 478 Vgl. Fawcett, 49 C.L.J. (1990) 44, 56: „What is needed is an approach towards stopping evasion which reflects the fact that evasion is objectionable in cases where there is unfairness an in cases where the national interest is affected.” Vgl. ebenfalls Henningsen, Umgehung, S. 121 ff.; Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 396; Tetley, 39 McGill L.J. (1994) 303, 313 f. 479 Vgl. Fender v St John Mildmay [1938] AC 1, 13; allgemein zur Schranke der ‘public policy’, vgl. Treitel, The Law of Contract, Rn. 11–32 ff. 477
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Gerichte zur teleologischen Auslegung und Analogiebildung ermöglichen es ihnen, Umgehungsfälle mit diesen Mitteln anzugehen. Eine gesonderte Umgehungslehre konnte sich unter diesen Vorzeichen nicht behauptet und musste dies auch nicht. Als Rechtsanwender ist man lediglich gehalten, die Anwendbarkeit der fraglichen Norm auf den Sachverhalt zu überprüfen; einer spezifischen gesetzlichen Berechtigung in Form eines geschriebenen Umgehungsverbots bedarf es hierzu nicht. Gleiches gilt für Subjektives in der Person des Umgehenden. Anders ist die Rechtslage in Frankreich. Rechtslehre und Rechtsprechung praktizierten und praktizieren teils immer noch eine enge und statische Auslegung von Rechtsnormen. Die hierdurch bedingte Lückenhaftigkeit im Normgefüge führte zur Herausbildung eines eigenen Rechtsinstituts, mit dem außerhalb der Auslegungskanones Umgehungsversuchen beigekommen werden sollte. Selbst wenn dem Rechtsanwender mit der Zeit ein größerer Auslegungsspielraum zugestanden wurde, behielt man die fraude à la loi bei. Dies vielleicht, weil mit dem Achtungsanspruch der Rechtsordnung mehr auf dem Spiel zu stehen schien, als dies der Fall gewesen wäre, hätte man die Gesetzesumgehung als bloßes Rechtsanwendungsproblem eingeordnet. Das Nebeneinander von fraude à la loi und geändertem Auslegungsspielraum musste aber zu einer Reihe von Abgrenzungsschwierigkeiten führen, vor allem hinsichtlich der sonstigen in Umgehungsfällen einschlägigen Rechtsbehelfe. Die im Rahmen des Rechtsinstituts angestellte einheitliche Betrachtung von Vermeiden und Erschleichen einer Rechtsnorm wird durch das Erfordernis der Umgehungsabsicht von der Problemlösung via Auslegung getrennt. Sie ist zentrales Abgrenzungskriterium zwischen zulässigem und unzulässigem Verhalten, auch wenn nicht klar ist, welche Anforderungen genau an sie zu stellen sind. Wird ein Sachverhalt schließlich als fraude à la loi klassifiziert, kann sich das Rechtssubjekt auf die durch den Vorgang formal erlangten Vorteile nicht berufen. Der Fokus in den Rechtsfolgen liegt auf der erschlichenen Vorschrift. Ebenfalls eng ausgelegt wurde und wird das englische statutory law. Im Gegensatz zur französischen Rechtslehre ist hieraus aber kein eigenes Rechtsinstitut der Gesetzesumgehung erwachsen, was auf die dargestellten strukturellen Besonderheiten des Common Law zurückzuführen ist. Widersprüche im Normgefüge wurden in der Vergangenheit in verstärktem Maße hingenommen. Wenn überhaupt, so soll der Gesetzgeber regelnd tätig werden. Auch wenn Sinn und Zweck einer Vorschrift im englischen Recht mit der Zeit – vor allem unter dem Eindruck fortschreitender Europäisierung der eigenen Rechtsordnung – immer mehr Beachtung beigemessen wurde, hat dies nicht zur Ausbildung einer abstrakten Betrachtungsweise von Fällen geführt, in denen der ermittelte Sinn einer Rechtsnorm und deren Wortlaut auseinanderfallen.
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
Auch im Anwendungsbereich des Unionsrechts stellt sich die Frage, wie Fälle zu behandeln sind, in denen Rechtsvorschriften umgangen oder erschlichen werden oder in denen das Berufen auf eine Rechtsnorm missbräuchlich erscheint. Eine von Einzelfällen losgelöste wissenschaftliche Diskussion findet hierzu erst seit den 1990er-Jahren statt.1 Für die Untersuchung von Verfahrensmissbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht ist es erforderlich, allgemein zu analysieren, wie das Unionsrecht zu missbräuchlichem Verhalten in seinem Anwendungsbereich steht. Auszugehen ist von dem dieser Arbeit zugrundegelegten breiten Missbrauchsbegriff, der entsprechend der Reichweite des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots neben Fragen der Gesetzesumgehung auch den individuellen Rechtsmissbrauch umfasst. Auf dem Weg zu einem tiefergehenden Verständnis von Missbrauch im Unionsrecht soll das Europäische Zivilverfahrensrecht zunächst weitestgehend ausgeblendet werden. Das hat seinen Grund darin, dass das unionsrechtliche Missbrauchsverbot abseits des Europäischen Zivilverfahrensrechts entwickelt wurde. Des Weiteren verhindert man so, dass die Besonderheiten dieser Regelungsmaterie den unbefangenen Blick auf die Grundlagen des Grundsatzes trüben. Die vorliegende Arbeit widmet sich zuerst der Frage, ob im Unionsrecht ein allgemeines Rechtsprinzip zu finden ist, nach dem Gesetzesumgehung und individueller Rechtsmissbrauch verboten ist (unten, A.). Da die Arbeit hierbei zu einem positiven Befund kommen wird, sollen anschließend die Erscheinungsformen eines derartigen Missbrauchsverbots dargestellt werden (unten, B.). Nach Ausführungen zu dessen Anwendungsvoraussetzungen (unten, C.), wird dargestellt, wie ein derartiges Rechtsprinzip gegenüber anderen abzuwägen ist (unten, D). Schließlich sollen die Wirkungen des Missbrauchsverbots näher beleuchtet werden (unten, E.) und die gefundenen Ergebnisse zusammengefasst werden (unten, F.).
1
Als erster substantieller wissenschaftlicher Beitrag gilt allgemein der Aufsatz von L. Neville Brown, Is there a General Principle of Abuse of Rights in European Community Law?, in: FS Schermers, S. 511 ff.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
A. Unionsrechtliches Missbrauchsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz Es ist teilweise schon im Grundsatz umstritten, ob im Unionsrecht ein allgemeines Prinzip zu finden ist, nach dem der Missbrauch von Unionsrecht verboten ist. Unter einem allgemeinen Rechtsprinzip versteht man gemeinhin eine abstrakte Formel, auf die sich alle hierunter behandelten Fälle zurückführen lassen2 bzw. von einem prozeduralen Ausgangspunkt, wenn sich diese Formel im Wege der Induktion aus Rechtssätzen ergibt und sie hinreichende Anerkennung in der Rechtspraxis erfährt.3 Der Begriff des Rechtsprinzips kann zu dem des allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts4 abgegrenzt werden, wie er beispielsweise in Art. 340 AEUV zum Ausdruck kommt: Allgemeine Grundsätze des Unionsrechts stellen dem Grunde nach ein im Sinne des Unionsrechts dogmatisch qualifiziertes allgemeines Rechtsprinzip dar; aus dieser Einordnung folgen spezielle Rechtswirkungen.5 Daraus ergibt sich, dass jeder allgemeine Grundsatz des Unionsrechts die einem allgemeinen Rechtsprinzip eigenen und eben dargestellten Charakteristika erfüllen muss. Auf Ebene des Unionsrechts verschwimmen beide Kategorien jedoch nachhaltig, da der EuGH allgemeine Rechtsgrundsätze beispielsweise aus den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten ableitet und damit die Form ihrer Gewinnung im Vordergrund steht. Wie noch zu zeigen sein wird, geht der Gerichtshof hierbei vor allem nicht im Sinne streng formaler Logik vor.6 Die wissenschaftliche Grundhaltung bezüglich der Existenz eines allgemeinen Rechtsprinzips, wonach der Missbrauch von Unionsrecht verboten ist, ist nicht einheitlich. Teils wird die Geltung eines solchen Prinzips vorbehaltlos bejaht,7 von andern hingegen (kategorisch) abgelehnt.8 In jedem Fall herrscht 2
Tridimas, General Principles, S. 1. Verkürzt nach Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 26; vgl. auch Groussot/Lidgard, in: Bernitz/Nergelius/Cardner, General Principles, S. 155, 160. 4 Hierzu allgemein Arnull, General Principles, passim; die Beiträge in Bernitz/Nergelius, General Principles; die Beiträge in Bernitz/Nergelius/Cardner, General Principles; Horspool/Humphreys, European Union Law, S. 127 ff.; Tridimas, General Principles, passim; Usher, General Principles, passim. 5 Wird ein allgemeines Rechtsprinzip zum allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts erkoren, stellt er in jedem Fall unmittelbar geltendes Recht dar, vgl. Schulze, ZEuP 1993, 442, 462. 6 Vgl. unten, S. 99 f. 7 Z.B. Tridimas, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 169, 198; Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 458. 8 Z.B Englisch, StuW 2009, 3, 22; Kjellgren, 11 E.B.L.R. (2000) 179, 192; Wilke, UR 2011, 925, 926 f. Zweifelnd: Hailbronner, in: FS Stürner, S. 1901, 1901; Vrellis, in: Liber Amicorum Gaudemet-Tallon, S. 633, 646. 3
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
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Streit über die korrekte dogmatische Erfassung, die Voraussetzungen und Wirkungen eines etwaigen Missbrauchsverbots,9 was zur Notwendigkeit führt, diesen Fragen selbst nachzugehen. Dass der EuGH in neueren Entscheidungen das Verbot des Missbrauchs von Unionsrecht als „allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts“ 10 bezeichnet, ändert hieran nichts. Zwar kann man daraus den Schluss ziehen, dass missbräuchliches Verhalten im Anwendungsbereich des Unionsrechts generell nicht legitim ist, was auch den Ansatzpunkt für vorliegende Arbeit darstellt. Um die Spezifika von Verfahrensmissbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht untersuchen zu können, ist ein tiefergehendes Systemverständnis für den Missbrauch von Unionsrecht von Nöten. Nachfolgende Ausführungen beschränken sich in Anbetracht der Vielzahl allgemeiner Untersuchungen zu Fragen des Missbrauchs von Unionsrecht11 auf das für die vorliegende Arbeit notwendige Maß. Dennoch muss in manchen Punkten ein gewisser Aufwand betrieben werden, um die recht pauschal gehaltenen Präzisierungsversuche des Grundsatzes im rechtswissenschaftlichen Schrifttum zu verfeinern. Dabei wird sich insbesondere der rechtsvergleichende Ansatz der Arbeit als fruchtbringend erweisen.12 I. Induktive Ableitung des Missbrauchsverbots Eine abstrakte unionsrechtliche Norm, die dem Gedanken Ausdruck verleiht, dass der Missbrauch von Unionsrecht nicht zulässig ist, existiert nicht. Die einzige Möglichkeit, ein allgemeines Rechtsprinzip aufzufinden, ist also dessen 9 Vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 571; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV, Rn. 302: „(Es) bestehen aber zahlreiche Zweifelsfragen, die häufig in der Rechtsprechung oder der Literatur noch nicht einmal angesprochen, geschweige denn gelöst sind.“ Umstritten ist beispielsweise, ob das Missbrauchsverbot nur der Interpretation von EU-Recht dient oder ob es darüber einen eigenständigen materiellen Gehalt hat, vgl. Farmer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 3, 4 und unten S. 140 ff. 10 So z.B. in seinem Urt. v. 5.6.2007, Rs. C-321/05 (Hans Markus Kofoed ./. Skatteministeriet), Slg. 2007, I-5795, 5830, Rn. 38. 11 Vgl. z.B. die Monographien von Ionsecu, Abus de droit, passim; Ottersbach, Rechtsmissbrauch, passim; Saydé, Abuse of EU Law, passim; Schick, Gesetzesumgehung, passim; von Lackum, Gesetzesumgehung, passim; Zimmermann, Rechtsmissbrauch, passim. Ausführlich behandelt wird das Thema im Sammelband de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, passim. Aus der Flut an Aufsätzen seien genannt: grundlegend Brown, in: FS Schermers, S. 511 ff.; Baudenbacher, ZfRV 2008, 205 ff.; Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159 ff.; de la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395 ff.; Eidenmüller, KTS 2009, 137 ff.; Englisch, StuW 2009, 3 ff.; Fleischer, JZ 2003, 865 ff.; Kjellgren, E.B.L.R. 11 (2000) 179 ff.; Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010) 1121 ff.; Schmidt-Kessel, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2001, S. 61 ff.; Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423 ff. 12 Vor allem bei der Frage um die Einordnung des Missbrauchsverbots als Legitimation für einer erweiternde Auslegung oder als selbstständige Eingriffsbefugnis auf nachgelagerter Ebene besteht erheblicher Präzisierungsbedarf, vgl. unten, S. 131 ff.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
induktive Ableitung aus Recht und Gesetz.13 Das Schlussverfahren der Induktion meint hierbei den Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine.14 Im Kontext allgemeiner Rechtsprinzipien geht es folglich um das Ableiten allgemeingültiger Prinzipien aus besonderen Ausprägungen eines entsprechenden rechtlichen Gedankens. 1. Analogie und Induktion Man kann dieses Schlussverfahren von dem der Analogie trennen: Das durch Einzel- oder Gesamtanalogie gewonnene Ergebnis ist nur auf die Lösung des konkreten Falls zugeschnitten – es wird vom Besonderen auf das Besondere geschlossen –, wohingegen im Wege der Induktion gefundene Ergebnisse Allgemeingültigkeit beanspruchen können. Hier führt die Induktion zur Herausbildung eines unabhängigen Prinzips.15 Die Terminologie ist jedoch alles andere als einheitlich: Teils wird das Herausbilden allgemeiner Rechtsprinzipien auch der Gesamtanalogie zugeordnet, da aus mehreren positivrechtlichen Ausprägungen ein allgemeiner Gedanke formuliert wird.16 Die Verfahren eint, dass es gerade der Analogie auf Grundlage einer oder mehrerer Normen immanent ist, bei deren konkreter Anwendung die allgemeinen Wertungen zu ermitteln, die hinter der oder den Normen stehen, die analog angewandt werden.17 Diese allgemeinen Wertungen sind letztlich nichts anderes, als die Grundlage des allgemeinen Rechtsprinzips, welches im Wege der Induktion abgeleitet werden kann.18 Insoweit bildet der Rekurs auf das allgemeine Rechtsprinzip auch bei Einzel- und Gesamtanalogie ein notwendiges Zwischenstadium. Im Folgenden soll die Vorgehensweise dennoch als Induktion bezeichnet werden. 2. Induktionsgrundlage Im Mehrebensystem EU sind für die Frage der Geltung eines allgemeinen Missbrauchsverbots mit oben beschriebenem Inhalt die Normen des Primärund Sekundärrechts heranzuziehen. Darüber hinaus ist aber vor allem das 13
Ausführlich zur induktiven Ableitung allgemeiner Rechtsprinzipien Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, passim; Weinberger, Rechtslogik, S. 341 ff. 14 Vgl. Schneider/Schnapp, Rechtslogik, S. 150. 15 Canaris, Lücken im Gesetz, S. 97 ff.; Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 57; Sax, Analogieverbot, S. 97 ff., 103; Schneider/Schnapp, Rechtslogik, S. 150; Teichmann, Gesetzesumgehung, S. 81. 16 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 205. 17 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 204 ff. 18 Unsicher Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 58: „dürfte es sich häufig um ein zugrunde liegendes allgemeines Rechtsprinzip handeln“; klarer Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 205, die den Unterschied beider Fälle deutlich machen: Im Falle der Induktion wird das grundlegende Prinzip allgemein formuliert, wohingegen es in Fällen der Analogie in den zu ermittelnden Wertungen aufgeht.
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
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Recht der Mitgliedstaaten zu beachten.19 Das findet seine Berechtigung in dem Umstand, dass der EuGH zur Vervollständigung des oftmals lückenhaften acquis communautaire gerade das Recht der Mitgliedstaaten herangezogen hat und immer noch heranzieht.20 Gemäß Art. 19 EUV kommt dem Gerichtshof die Befugnis zur „Wahrung des Rechts“ zu, wovon nach unbestrittener Ansicht Rechtsfortbildung und Rechtsgewinnung umfasst sind.21 Die Befugnisse des EuGH gehen damit über das hinaus, was man aus kontinentaleuropäischer Sicht einem ‚erkennenden‘ Gericht zubilligen würde. Der Gerichtshof wird neben dem bloßen Auffinden, dem Erkennen des Rechts, selbst schöpferisch kreativ tätig.22 Die Rechtsgewinnung findet dabei zu einem großen Teil in der Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Unionsrechts statt. 23 Diese gründen sich überwiegend24 auf eine rechtsvergleichende Ableitung aus den Rechtsgrundsätzen, wie sie den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemein sind.25 Deren Bedeutung ist erheblich. Eine Einordnung in den Gesamtkontext des Unionsrechts findet sich beispielsweise in Schlussanträgen des GA Mazák aus dem Jahre 2007: „Durch die Formulierung allgemeiner Grundsätze des Gemeinschaftsrechts hat der Gerichtshof – entsprechend seiner nach Art. 220 EG bestehenden Verpflichtung zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrags – dem Gemeinschaftsrecht Substanz verliehen; andernfalls wäre es – als eine Rechtsordnung, die auf einem Rahmenvertrag beruht – nur ein Stückwerk von Vorschriften geblieben, ohne wirklich eine eigentliche rechtliche ‚Ordnung‘ darzustellen.“26
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Vgl. Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 159 ff., 414 ff. Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 414. 21 Vgl. Seyr, Effet utile, S. 329 ff.; Neuner, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 373, 377 m.w.N.; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 19 EUV, Rn. 40; Huber, in: Streinz, Art. 19 EUV Rn. 12 ff. 22 Vgl. Mayer, in: Gabritz/Hilf/Nettesheim, Art. 19 EUV, Rn. 32; zum politiktheoretischen Hintergrund, s.u., S. 135 f. 23 Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 19 EUV, Rn. 16, 17. Zum Streit, ob allgemeine Rechtsgrundsätze aufgefunden oder herausgebildet werden, vgl. Groussot/Lidgard, in: Bernitz/Nergelius/Cardner, General Principles, S. 155, 159 und Semmelmann, 19 ELJ (2013) 457, 462 f. 24 Vgl. Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 145 ff.; Lenaerts/van Nuffel, European Union Law, Rn. 22-038; Neergaard/Nielsen, in: Neergaard/Nielsen/Roseberry, European Legal Method, S. 95, 167. 25 Herdegen, in: Bernitz/Nergelius, General Principles, S. 15, 17, mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur ./. Deutschland; The Queen ./. Secretary for Transport, ex parte Factortame Ltd), Slg. 1996, I-1029, 1144, Nr. 27; Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 414 ff.; Tridimas, General Principles, S. 5; speziell zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbot vgl. Ionescu, L‘abus de droit, S. 309 ff. 26 Schlussanträgen des GA Mazák v. 15.2.2007, Rs. C-411/05 (Félix Palacios de la Villa ./. Cortefiel Servicios SA), Slg. 2007, 8531, 8553, Rn. 85. 20
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Die demnach als essentiell verstandene Aufgabe des EuGH folgt dabei nicht den Regeln strenger Logik, sondern bedient sich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen eher als Inspirationsquelle. 27 Der Gerichtshof sucht dabei nach der für das Unionsrecht optimalen Lösung und gibt28 dieser die Qualität eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts. In jedem Fall kann aus der Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs auf die Existenz eines allgemeinen Rechtsprinzips im Unionsrecht geschlossen werden. Im Gegensatz zur Ableitung aus geschriebenem Unionsrecht muss hierbei nicht selbst induktiv vorgegangen werden; dieser Arbeitsschritt liegt den Entscheidungen des EuGH gerade zugrunde.29 Dementsprechend verwundert es nicht, wenn die einschlägige Literatur, die das Unionsrecht auf ein allgemeines Prinzip des Verbots des Missbrauchs von Unionsrecht hin untersucht, ohne größere Diskussion ihr besonderes30 bzw. alleiniges31 Augenmerk auf die Entscheidungspraxis des Gerichtshofs legt. Auch vorliegende Arbeit stellt dessen Entscheidungen in den Mittelpunkt der Betrachtung, bezieht aber auch Quellen des Primär- und Sekundärrechts zur Absicherung der gefundenen Ergebnisse mit ein. Da der EuGH sich in Ausgestaltung des Missbrauchsverbots letztlich an den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten orientiert hat, wird den Erkenntnissen aus den vorangegangenen Abschnitten immer wieder besondere Relevanz für das Verständnis von EuGH-Entscheidungen und des Missbrauchsverbots insgesamt zukommen. II. Rechtsprechung des EuGH Mit Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH und in dieser selbst tauchten die Begrifflichkeiten des ‚Rechtsmissbrauchs‘ bzw. der ‚Missbräuchlichkeit‘ eines 27 Herdegen, in: Bernitz/Nergelius/Cardner, General Principles, S. 343, 346; Schumann, JRP 18 (2000), 240, 244 f. 28 Für das Unionsrecht gilt die These Essers uneingeschränkt, allgemeine Rechtsprinzipien würden nicht ‚erkannt‘, sondern im Sinne ‚judizieller Rechtsschöpfung‘ geschaffen, vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 89 f. 29 Der EuGH führt nur äußerst selten etwas zur angewandten Methodik aus, die seinen Urteilen zugrunde liegt, wenn er sich mit allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts befasst, vgl. Meessen, JIR 1974, 283, 300. Eine Ausnahme ist das Urt. v. 12.7.1957, verb. Rs. 7/56 und 3-7/57 (Frl. Dineke Algera u.a. ./. gemeinsame Versammlung der EGKS), Slg. 1957, 85, dort S. 118. Dennoch muss man von einem methodisch stimmigen Konzept der Urteilsfindung, bei dem die Rechtsvergleichung eine bedeutende Rolle spielt, ausgehen, vgl. Fuß, in: FS Raschhofer, S. 43, 55 ff. m.w.N. 30 Vgl. Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010) 1121, 1128; Reuß, Forum Shopping, S. 231 ff.; Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 425. 31 Vgl. Baudenbacher, ZfRV 2008, 205 ff.; de la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395 ff.; Englisch, StuW 2009, 3 ff.; Fleischer, JZ 2003, 865, 868; Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271 ff.; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 434; Tridimas, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 169 ff.
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bestimmten Verhaltens im Bereich des Unionsrechts zunächst im Kontext der Grundfreiheiten auf. Die Terminologie des Gerichtshofs ist dabei alles andere als einheitlich: Teilweise spricht er in Fällen, welche die gleiche rechtliche Grundproblematik aufweisen und gemeinhin als Beleg für ein allgemeines Prinzip des Verbots des Missbrauchs von Unionsrecht gesehen werden, neben ‚Missbrauch‘, ‚Rechtsmissbrauch‘, ‚pratiques abusives‘ und ‚fraude‘ unter anderem auch von ‚Betrug‘, ‚künstlichen Konstruktionen‘, ‚Scheingeschäft‘, ‚Umgehung‘ oder ‚Vermeidung‘.32 Das erfolgt oft in einem Sinnzusammenhang, weshalb Zweifel an der Unterscheidungskraft der verwendeten Begriffe angebracht sind. Den Begrifflichkeiten wird deshalb zunächst keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Entscheidungspraxis des EuGH, die sich überwiegend aus Vorabentscheidungsverfahren i.S.d. Art. 267 AEUV zusammensetzt, ist allgemein davon gekennzeichnet, dass nach einer Phase, in welcher der Rekurs auf Gedanken der Missbrauchsverhinderung nur hin und wieder bemüht wurde, dieser in der Folgezeit in einer Vielzahl völlig unterschiedlicher Fallgestaltungen eine – dogmatisch noch nicht näher präzisierte – Rolle spielte. Dieses Phänomen ist von anderen durch den EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsprinzipien her bekannt. 33 Einhergehend mit dieser extensiven Anwendung ist ab Ende der 1990er-Jahre zu beobachten, dass der Gerichtshof den Missbrauchsgedanken feiner ausdifferenziert und in seinem Anwendungsbereich beschränkt,34 wobei erstmals abstrakt auch konkrete Voraussetzungen für die Annahme missbräuchlichen Handelns formuliert wurden. Dies bildet den Ausgangspunkt für eine seither in der Rechtswissenschaft intensiv geführte Diskussion. Um dem inhomogenen Fallmaterial eine gewisse Struktur zu geben, werden die Entscheidungen des Gerichtshofs gewöhnlich nach ihrem äußeren Erscheinungsbild grob in zwei Fallgruppen eingeteilt: Fälle, in denen die ‚Umgehung‘ nationalen Rechts im Anwendungsbereich des Unionsrechts Gegenstand der Betrachtung ist und solche, in denen es um die ‚Erschleichung‘ von Vorteilen geht, die durch Unionsrecht vermittelt werden.35 Die Abgrenzung beider Fallgruppen ist nicht immer klar. So werden entsprechend der im französischen 32 Vgl. Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 431; Venables, 6 EC T.J. (2002) 119, 127 f.; Vrellis, in: Liber Amicorum Gaudemet-Tallon, S. 633, 633; Vogenauer in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 512, 524 mit einer Vielzahl an Beispielen. 33 Zum effet utile-Grundsatz, vgl. Rott, Effektivität, S. 21. 34 Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 447. 35 Statt vieler z.B. Tridimas, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 169, 198., Auch wenn aus den bloßen Begrifflichkeiten keine Rechtsfolgen abgeleitet werden (dürfen), spricht meines Erachtens mehr dafür, Fälle, in denen sich aus Unionsrecht ergebende Vorteile in einer missbräuchlichen Art und Weise gezogen werden sollen, nicht als u-turn- oder Umgehungssachverhalte zu bezeichnen. Schließlich wird in den betreffenden Fällen nicht zwangsläufig etwas umgangen, sondern vielmehr etwas ‚ergangen‘, nämlich die den Vorteil gewährende Norm, vgl. dazu auch Benecke, Gesetzesumgehung, S. 34 ff.
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und teilweise auch im deutschen Recht vorgefundenen einheitlichen Betrachtungsweise teils solche Fälle als Umgehungs- bzw. u-turn-Konstellationen36 bezeichnet, die vorliegend unter der Bezeichnung Erschleichungsfälle zusammengefasst werden.37 Selbst wenn einer bloßen Systematisierung keine allzu große Beachtung geschenkt werden darf, spricht meines Erachtens mehr dafür, Fälle, in denen sich aus Unionsrecht ergebende Vorteile in einer missbräuchlichen Art und Weise gezogen werden sollen, nicht als u-turn- oder Umgehungssachverhalte zu bezeichnen. Schließlich wird in den betreffenden Fällen nicht zwangsläufig etwas umgangen, sondern vielmehr etwas ‚ergangen‘, nämlich die den Vorteil gewährende Norm. Vorliegende Arbeit fügt den beiden allgemein akzeptierten Fallgruppen noch eine dritte hinzu, diejenige der missbräuchlichen Rechtsausübung.38 1. Umgehungsfälle In die Richtung eines Missbrauchsverbots ließ sich der EuGH zuerst in seinem Urteil in der Sache van Binsbergen39 aus dem Jahre 1974 ein, das als Ausgangspunkt der Diskussion gilt und in dem es um die Vereinbarkeit einer niederländischen Rechtsvorschrift mit der Dienstleistungsfreiheit in Art. 59 des EWGVertrags ging:40 Während eines laufenden Verfahrens verzog der Rechtsbeistand des in den Niederlanden prozessierenden Klägers van Binsbergen nach Belgien und verlor deshalb, in Einklang mit niederländischem Recht, seine Zulassung vor niederländischen Gerichten. Der Gerichtshof führte aus, dass eine nationale Vorschrift, wie die niederländische, prinzipiell als Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit angesehen werden könne.41 Eine solche Beschränkung könne allerdings dann gerechtfertigt sein, wenn sie verhindern solle, „dass der Erbringer einer Leistung, dessen Tätigkeit ganz oder vorwiegend auf das Gebiet dieses Staates ausgerichtet ist, sich die durch Artikel 59 garantierte Freiheit zunutze macht,
36
Begriff bei Kjellgren, 11 E.B.L.R. (2000) 179, 183. Vgl. Fleischer JZ 2003, 865, 870; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 528. 38 Wie hier z.B. von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 237; Reuß, Forum Shopping, S. 308; Zimmermann, Rechtsmissbrauch, S. 227; Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159, 170; Fleischer, JZ 2003, 865, 870; Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010) 1121, 1133; Vrellis, in: Liber Amicorum Gaudemet-Tallon, S. 633, 634. 39 EuGH, Urt. v. 3.12.1974, Rs. 33/74 (Johannes Henricus Maria van Binsbergen ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid), Slg. 1974, 1299. 40 De la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 399: „landmark case“. 41 EuGH, Urt. v. 3.12.1974, Rs. 33/74 (Johannes Henricus Maria van Binsbergen ./.Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid), Slg. 1974, 1299, Nr. 10–12. 37
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um sich den Berufsregelungen zu entziehen, die auf ihn Anwendung fänden, wenn er im Gebiet dieses Staates ansässig wäre.“42
Unter Verweis auf seine Ausführungen in van Binsbergen urteilte der EuGH in der Folgezeit in einer Reihe von Fällen, die derartige u-turn-Konstellation zum Gegenstand hatten. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass unter Berufen auf Unionsrecht eine (nationale) Rechtsnorm umgangen werden sollte. So ging es in der Rechtsache Leclerc43 aus dem Jahre 1985 um die Umgehung französischer Vorschriften der Buchpreisbindung unter dem Deckmantel der Warenverkehrsfreiheit. In den 1990er-Jahren hatte der Gerichtshof darüber hinaus in einigen Fällen zu urteilen, die allesamt u-turn-Konstellationen im Bereich der Tätigkeit von Sendeanstalten betrafen.44 In den Schlussanträgen des Generalanwalts Lenz zu einem dieser Fälle, der Rechtssache TV1045, bezeichnete dieser die durch den EuGH seit van Binsbergen eingeschlagene und ausgearbeitete Linie schon als „Umgehungsrechtsprechung“, mit dem Inhalt, „daß bei der Umgehung mitgliedstaatlicher Vorschriften bzw. dem Mißbrauch gemeinschaftsrechtlicher Freiheiten dem Betroffenen eine Berufung auf die Grundfreiheiten verwehrt wird.“46
An diesen Ausführungen zeigt sich gut, was die dargestellten Fälle eint: In der Umgehung nationaler Rechtsvorschriften unter Berufung auf das Unionsrecht wird ein Missbrauch desselbigen gesehen, was dessen Nichtanwendung zur Folge hatte. Da das Unionsrecht damit keinen Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht hat, kommt den Mitgliedstaaten die Befugnis zu, im Falle eines solchen Missbrauchs das nationale Recht dennoch zur Anwendung zu bringen. Die umgangene Norm behält also ihre Geltung vor dem Unionsrecht. Die Kombination von Erschleichen und Umgehen unter dem Dach einer Rechtsfigur ist von der französischen fraude à la loi her bekannt, 47 welche
42 EuGH, Urt. v. 3.12.1974, Rs. 33/74 (Johannes Henricus Maria van Binsbergen ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid), Slg. 1974, 1299, Nr. 13. 43 EuGH, Urt. v. 10.1.1985, Rs. 229/83 (Association des Centres distributeurs Edouard Leclerc u.a. ./. „Au blé vert“ u.a.), Slg. 1985, 1. 44 EuGH, Urt. v. 16.12.1992, Rs. C-211/91 (Kommission ./. Königreich Belgien), Slg. 1992, I-6773, 6777, Nr. 12; Urt. v. 3.2.1993, Rs. C-148/91 (Vereniging Veronica Omroep Organisatie ./. Commissariaat voor de Media), Slg. 1993, I-487, 519, Nr. 12; Urt. v. 5.10.1994, Rs. C-23/93 (TV10 ./. Commissariaat voor de Media),Slg. 1994, I-4824, 4833, Nr. 21. 45 EuGH, Urt. v. 5.10.1994, Rs. C-23/93 (TV10 ./. Commissariaat voor de Media),Slg. 1994, I-4824. 46 Schlussanträge des GA Lenz v. 16.6.1994, Rs. C-23/93 (TV10 ./. Commissariaat voor de Media), Slg. 1994, I-4797, 4811, Nr. 50. 47 Vgl. oben, S. 83.
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wohl schon in den frühen Verfahren vor dem Gerichtshof in Entwicklung des Missbrauchsverbots Pate stand.48 Ähnlich strukturiert wie van Binsbergen ist auch die Entscheidung in der Sache Daily Mail 49 , selbst wenn der EuGH dort den Missbrauchsgedanken nicht offen aussprach: Daily Mail, eine Gesellschaft englischen Rechts wollte ihren Sitz in die Niederlande verlegen, um die Zahlung englischer Kapitalertragssteuer zu vermeiden, was ihr von der zuständigen englischen Stelle verwehrt wurde. Im Verfahren vor dem EuGH erklärte dieser die Verweigerung der englischen Stelle als mit den Grundfreiheiten des EWG-Vertrags für vereinbar, denn „(Artikel 52 und 58 des EWG-Vertrags gewähren) den Gesellschaften nationalen Rechts kein Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung unter Bewahrung ihrer Eigenschaft als Gesellschaften des Mitgliedstaats ihrer Gründung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen.“50 Auch in der Rechtssache Centros51 aus dem Jahre 1999 erkannte der EuGH, unter Verweis auf eine mittlerweile reichhaltige Sammlung an Urteilen aus unterschiedlichen Bereichen des Unionsrechts, dass „die mißbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht […] nicht gestattet“52 ist. Im Ergebnis entschied er sich aber dafür, dass im Falle des dänischen Ehepaars, das eine englische Limited zur Umgehung der dänischen Mindestkapitalregeln gegründet hatte und mittels einer Tochtergesellschaft in Dänemark tätig werden wollte, eine „legitime Umgehung“53 der dänischen Mindestkapitalregeln vorlag. Der Niederlassungsfreiheit sei es gerade immanent, dass im Ausland gegründete Gesellschaften im Inland mittels einer Zweigniederlassung oder Ähnlichem tätig werden könnten, wobei es legitim sei, sich für die Gründung einer Gesellschaft den Mitgliedstaat auszusuchen, der diesbezüglich die größte Freiheit biete.54 Hierauf nahm er auch in diversen Folgeentscheidungen Bezug.55 48 Zu weiteren Querverbindungen mit Bezug auf das subjektive Element des Missbrauchsverbots, s.u., S. 154 ff. 49 EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87 (The Queen ./. H. M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, ex parte Daily Mail u.a.), Slg. 1988, 5483. 50 EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87 (The Queen ./. H. M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, ex parte Daily Mail u.a.), Slg. 1988, 5483, 5512, Nr. 23, 24. 51 EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97 (Centros Ltd ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen), Slg. 1999, I-1459. 52 EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97 (Centros Ltd ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen), Slg. 1999, I-1459, 1492, Nr. 24. 53 De la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 405. 54 EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97 (Centros Ltd ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen), Slg. 1999, I-1459, 1492, Nr. 26, 27. 55 Z.B. EuGH, Urt. v. 30.9.2003, Rs. C-167/01 (Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd), Slg. 2003, I-10155; Urt. v. 12.9.2006, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes plc u.a. ./. Commissioners of Inland Revenue), Slg. 2006, I-7995; Urt. v. 5.1.2002, Rs. C-208/00 (Überseering BV ./. Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (NCC)), Slg. 2002, I-9919.
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2. Erschleichungsfälle Von den sog. u-turn oder fraude à la loi-Konstellationen unterscheiden sich die vorliegend als Erschleichungsfälle zusammengefassten Entscheidungen des EuGH dadurch, dass nicht (nationales) Recht umgangen, sondern in nicht zu billigender Weise Vorteile aus Unionsrecht oder nationalen, auf Unionsrecht aufbauenden Vorschriften gezogen werden sollen. Entgegen der Annahme von Fleischer ist für diese Fälle indes nicht immer der Umstand kennzeichnend, dass „Ausländer ins Inland streben, um auf diese Weise anders nicht erhältliche Vorteile zu erlangen“.56 Das Problem weist vielmehr ein deutlich breiteres Spektrum auf.57 Über die ersten Erschleichungsfälle hatte der Gerichtshof im Bereich des Im- und Exports landwirtschaftlicher Erzeugnisse und darauf bezogener Exportbeihilfen bzw. sonstiger deswegen von staatlichen Stellen auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage geleisteten Zahlungen zu befinden, wobei an deren Anfang das Urteil in der Sache Cremer58 stand. Gegenständlich ging es um die Zahlung von Exportbeihilfen. Der EuGH stellte fest, dass der Anwendungsbereich einer diese Beihilfen gewährenden Verordnung „keinesfalls so weit ausgedehnt werden darf, daß er mißbräuchliche Praktiken eines Exporteurs unter Ausnutzung der für die Berechnung der Erstattungen vorgenommenen pauschalen Beurteilung deckt.“59 Eine ähnliche Äußerung ist einem Urteil aus dem Jahre 1980 zu entnehmen, das Getreideexporte eines zu diesem Zeitpunkt schon vor dänischen Gerichten angeklagten deutschen Unternehmers zum Gegenstand hatte, die mit dem alleinigen Zweck durchgeführt wurden, sog. Beitrittsausgleichsbeiträge 60 auf Grundlage einer europäischen Verordnung zu erlangen. Nachdem das Getreide von Dänemark nach England exportiert worden war und dort die Zollformalitäten durchlaufen hatte, wurde es sofort wieder auf ein Schiff verfrachtet und nach Deutschland ausgeführt. Für die ‚Ausfuhr‘ nach England verlangte der Unternehmer die genannten Beihilfen, obwohl das Getreide den englischen
56
Fleischer, JZ 2003, 865, 869. Vgl. EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, in dem nicht Ausländer ins Inland strebten, sondern eine (deutsche) inländische Gesellschaft ins EU-Ausland strebte, um auf diese Weise Exportbeihilfen zu erlangen. Dass die Gesellschaft nach ihrem Schritt ins Ausland wieder ins Inland strebte, ist sekundär, da für die Zahlung von Exportbeihilfen – und alleine darauf kam es der Gesellschaft an – einzig der erste Teilschritt von Bedeutung war. 58 EuGH, Urt. v. 11.10.1977, Rs. 125/76 (Firma Peter Cremer ./. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1977, 1593. 59 EuGH, Urt. v. 11.10.1977, Rs. 125/76 (Firma Peter Cremer ./. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1977, 1593, 1607, Nr. 21. 60 Vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 7.10.1981, Rs. 250/80 (Anklagemyndigheden ./. Hans Ulrich Schumacher u.a.), Slg. 1981, 2465, 2467. 57
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Markt nie erreicht und – wichtiger noch für die Zahlung von Beitrittsausgleichsbeiträgen – den heimischen Markt faktisch nie verlassen hatte. Ohne die offenkundig missbräuchliche Vorgehensweise des Unternehmers als eine solche zu bezeichnen, führte der EuGH aus, dass ein Verhalten, wie das des Unternehmers, vom Anwendungsbereich der Verordnung nicht erfasst sei, da es deren Regelungszweck zuwiderlaufe. 61 Unter Verweis auf dieses Urteil bezeichnete der Gerichtshof ein identisches Verhalten in der Rechtssache General Milk Products im Jahre 1993 als einem „normalen Handelsgeschäft“ nicht entsprechend und missbräuchlich.62 Ein paar Jahre zuvor hatte der EuGH in der Rechtssache Lair63 zu entscheiden: Eine französische Staatsangehörige zog nach Deutschland und ging dort für zweieinhalb Jahre einer Arbeit als Bankangestellte nach. Nach mehreren Jahren der Arbeitslosigkeit schrieb sie sich für ein Studium an der Universität Hannover ein und beantragte Studienförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Dessen damalige Fassung stellte Studienförderung an Ausländer unter den Vorbehalt, dass diese sich seit mindestens fünf Jahren in der Bundesrepublik aufhielten und dort erwerbstätig waren. Der Gerichtshof entschied, dass diese Regelung mit Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 nicht vereinbar sei, deutete aber an, dass er den Mitgliedstaaten zur Vermeidung von Missbräuchen einen gewissen Gestaltungsspielraum zugestehe; Missbrauch sei von Gemeinschaftsrecht nicht gedeckt.64 Bedeutend konkreter wurde der Gerichtshof in seiner Entscheidung zur Rechtssache Emsland-Stärke65 im Jahre 2000. Dort ging es um die Rückerstattung von Exportbeihilfen, die nach der Verordnung (EWG) Nr. 2730/7966 an ein deutsches Handelsunternehmen gezahlt wurden, das landwirtschaftliche Produkte zunächst aus der Gemeinschaft ausgeführt und sofort wieder eingeführt hatte. Der EuGH befand, dass Gemeinschaftsverordnungen bei missbräuchlichen Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern keine Anwendung fänden, wobei er unter Missbrauch im konkreten Fall „ein rein formales, allein zum
61
EuGH, Urt. v. 27. 10. 1981, Rs. 250/80 (Anklagemyndigheden ./. Hans Ulrich Schumacher u.a.), Slg. 1981, 2465, 2479, Nr. 16. 62 EuGH, Urt. v. 3.3.1993, Rs. C-8/92 (General Milk Products GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 1993, I-779, 799, Nr. 21. 63 EuGH, Urt. v. 21.6.1988, Rs. 39/86 (Sylvie Lair ./. Universität Hannover), Slg. 1988, 3161. 64 EuGH, Urt. v. 21.6.1988, Rs. 39/86 (Sylvie Lair ./. Universität Hannover), Slg. 1988, 3161, 3201, Nr. 42 f. 65 EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569 m. Anm. Weber, 31 L.I.E.I. (2004) 43 ff. 66 Verordnung (EWG) Nr. 2730/79 der Kommission vom 29.11.1979 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, ABl. L 317 v. 12. 12. 1979, S. 1.
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Zwecke der Erlangung von Ausfuhrerstattungen“ 67 geprägtes Handeln verstand. Unter Verweis auf seine Urteile in den Rechtssachen Cremer und General Milk Products führte er aus: „Die Feststellung eines Missbrauchs setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde. Zum anderen setzt sie ein subjektives Element voraus, nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das Vorliegen dieser beiden Elemente festzustellen, für das der Beweis nach nationalem Recht zu erbringen ist, soweit dies die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigt […].“68
Mit Halifax dehnte der Gerichtshof diese Rechtsprechung auf das unter anderem durch die Richtlinie 95/7/EG69 harmonisierte Recht der Mehrwertsteuer aus und berief sich dabei auf ein „grundsätzliches Verbot missbräuchlicher Praktiken“ 70 bei der Anwendung von Gemeinschaftsrecht; als ‚Grundsatz‘ wurde das unionsrechtliche Missbrauchsverbot in Ampliscientifica und Amplifinin bezeichnet.71 In der Rechtssache Kofoed72 schließlich, in der es um die Auslegung der Fusionsrichtlinie 90/434/EWG 73 ging, fand diese Rechtsprechung ihren Abschluss. Der EuGH führte aus: „Art. 11 Abs. 1 Buchst, a der Richtlinie 90/434 spiegelt somit den allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts wider, wonach Rechtsmissbrauch verboten ist. Die betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf die Normen des Gemeinschaftsrechts ist nicht gestattet. Die Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften kann nicht so weit reichen, dass missbräuch-
67
EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11612, Nr. 50, 51. 68 EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11612, Nr. 51-54. 69 Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG und zur Einführung weiterer Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer – Geltungsbereich bestimmter Steuerbefreiungen und praktische Einzelheiten ihrer Durchführung, ABl. L 102 v. 5. 5. 1995, S. 18. 70 EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1675, Nr. 70. 71 EuGH, Urt. v. 22.5.2008, Rs. C-162/07 (Ampliscientifica Srl und Amplifin SpA ./. Ministero dell’Economia e delle Finanze und Agenzia delle Entrate), Slg. 2008, I-4019, 4033, Nr. 27, 28. 72 EuGH, Urt. v. 5.6.2007, Rs. C-321/05 (Hans Markus Kofoed ./. Skatteministeriet), Slg. 2007, I-5795. 73 Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, ABl. L 225 v. 20.8.1990, S. 1.
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liche Praktiken, d. h. Vorgänge geschützt werden, die nicht im Rahmen des normalen Geschäftsverkehrs, sondern nur zu dem Zweck durchgeführt werden, missbräuchlich in den Genuss von im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen.“74
Diese Formel wurde in verschiedenen steuerrechtlichen Entscheidungen wiederholt. 75 Allerdings verkürzte der EuGH diese Formel in der Rechtssache Foggia, in der es ebenfalls um die Auslegung des Art. 11 der Fusionsrichtlinie 90/434/EWG ging; das Verbot der „betrügerische(n) Berufung […] auf Normen des Gemeinschaftsrechts“ als Ausdruck eines unionsrechtlichen Missbrauchsverbots kommt darin nicht mehr vor.76 3. Missbräuchliche Rechtsausübung Im Unterschied zu den oben angeführten Entscheidungen sind die vorliegend als Fallgruppe zusammengefassten Entscheidungen des EuGH dadurch gekennzeichnet, dass der Fokus der Betrachtung sich verstärkt auf die Ausübung einer durch Unionsrecht gewährten Rechtsposition durch ein Rechtssubjekt und die Umstände richtet, weniger auf die Gestaltung eines Rechtsverhältnisses.77 Ende der 1990er-Jahre hatte der EuGH über eine Reihe griechischer Fälle zu entscheiden, in denen es um die missbräuchliche Ausübung aktienrechtlicher Klagerechte ging. In den im Wesentlichen deckungsgleichen Entscheidungen Pafitis, Kefalas und Diamantis war zur Restrukturierung von Aktiengesellschaften durch die griechische Anstalt für Unternehmensneuordnung OAE die Erhöhung des Grundkapitals außerhalb der Hauptversammlung angeordnet worden.78 Diese Maßnahme wurde von einzelnen Aktionären der Unternehmen unter Berufen auf die unstreitig direkt anwendbare, weil fehlerhaft umgesetzte
74 EuGH, Urt. v. 5.6.2007, Rs. C-321/05 (Hans Markus Kofoed ./. Skatteministeriet), Slg. 2007, I-5795, 5830, Nr. 38. (Hervorhebung durch den Verfasser) 75 Z.B. EuGH, Urt. v. 31.1.2013, Rs. C-643/11 (LVK – 56 EOOD ./. Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ – Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite), DStRE 2013, 745; Urt. v. 6.12.2012, Rs. C-285/11 (BONIK (EOOD) ./. Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ – Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite, DStRE 2013, 803; Urt. v. 27.10.2011, Rs. C-504/10 (Tanoarch ./. Daňové riaditeľstvo Slovenskej republiky), Slg. 2011, I-10853, 10859 f., Rn. 50, 51; Urt. v. 10.11.2011, Rs. C-126/10 (Foggia – Sociedade Gestora de Participações Sociais SA ./. Secretário de Estado dos Assuntos Fiscais), Slg. 2011, I-10923, 10943, Rn. 50. 76 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.11.2011, Rs. C-126/10 (Foggia – Sociedade Gestora de Participações Sociais SA ./. Secretário de Estado dos Assuntos Fiscais), Slg. 2011, I-10923, 10943, Nr. 50. 77 Vgl. unten, S. 128. 78 Zu den Rechtssachen Kefalas und Diamantis, vgl. Schmidt-Kessel, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2001, S. 61 ff.
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sog. Zweite Gesellschaftsrechtliche Richtlinie79 gerichtlich angefochten. Hierbei ergab sich für griechische Gerichte die Frage, ob das sich aus der Richtlinie ergebende Klagerecht unter Verweis auf ein nationales Rechtsmissbrauchsverbot80 außer Betracht gelassen werden durften, weil es in diesem Sinne missbräuchlich ausgeübt worden war. In der Rechtssache Pafitis81 sprach der EuGH obiter dictum die Möglichkeit der Missbrauchskontrolle anhand nationaler Vorschriften an, verwies aber auch darauf, dass dies in jedem Fall die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts nicht beeinträchtigen dürfe. Die Verbindung zu seiner bis dato vorhandenen Rechtsprechung zu Umgehungs- und Erschleichungsfällen zog er in dieser Entscheidung nicht. Das erfolgte allerdings in seinem Urteil zur Rechtssache Kefalas, wo er auf seine Ausführungen in der Rechtssache Pafitis und darüber hinaus auf seinen Entscheidungen zu Umgehungs- und Erschleichungsfällen verwies und ausführte: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist die mißbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Gemeinschaftsrecht nicht gestattet […]. Es kann daher nicht als gemeinschaftsrechtswidrig angesehen werden, daß nationale Gerichte eine innerstaatliche Rechtsvorschrift, wie Artikel 281 des griechischen Zivilgesetzbuchs, anwenden, um zu beurteilen, ob ein sich aus einer Gemeinschaftsbestimmung ergebendes Recht mißbräuchlich ausgeübt wird.“82
Der EuGH betonte weiter, dass eine Missbrauchskontrolle durch nationale Gerichte die einheitliche Anwendung und volle Wirksamkeit des Unionsrechts
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Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates vom 13. Dezember 1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. L 26 v. 31. 1. 1977, S. 1. 80 Die griechischen Gerichte wandten Art. 281 des griechischen ZGB an, der, nach der Übersetzung des EuGH im Urt. v. 12.3.1996, Rs. C-441/93 (Panagis Pafitis u.a. ./. Trapeza Kentrikis Ellados A.E. u.a.), Slg. 1996, I-1347, 1382, Nr. 67 folgenden Wortlaut hat: „Die Ausübung eines Rechts ist unzulässig, wenn sie offensichtlich die Grenzen überschreitet, die durch Treu und Glauben, die guten Sitten oder den sozialen oder wirtschaftlichen Zweck des betreffenden Rechtes geboten sind.“ 81 EuGH, Urt. v. 12.3.1996, Rs. C-441/93 (Panagis Pafitis u.a. ./. Trapeza Kentrikis Ellados A.E. u.a.), Slg. 1996, I-1347, 1382, Nr. 68. 82 EuGH, Urt. v. 12.5.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1998, I-2843, 2869, Nr. 20, 21.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
nicht beeinträchtigen dürfe, insbesondere nicht deren Tragweite verändern beziehungsweise deren Zweck vereiteln dürfe.83 Auf Kefalas nahm er seiner Diamantis-Entscheidung84 wiederum Bezug, wobei er, im Gegensatz zu Kefalas, die Missbrauchskontrolle griechischer Gerichte im Ergebnis billigte. III. Primär- und Sekundärrecht Auch im geschriebenen Unionsrecht findet sich eine Reihe unterschiedlicher Bestimmungen, die den Gedanken widerspiegeln, wonach Gesetzesumgehung und missbräuchlicher Rechtsausübung im Unionsrecht verboten sind. Normen des Primärrechts, die missbräuchliches Verhalten zu unterbinden suchen, können allerdings in der Mehrzahl nicht als Ausdruck eines unionsrechtlichen Missbrauchsverbots angesehen werden. Das Sekundärrecht ist hierbei deutlich ergiebiger.85 1. Ableitung aus geschriebenem Unionsrecht Wie dargestellt, lässt sich aus verschieden Vorschriften des Sekundärrechts entnehmen, dass in bestimmten Bereichen des Unionsrechts die Umgehung nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht, das Erschleichen von Unionsrecht und dessen missbräuchliche Ausübung unzulässig ist. Eine Differenzierung nach Regelungsbereichen oder ähnlichem, insbesondere der Art der ‚missbrauchten‘ Vorschrift ist nicht ersichtlich. Hieraus kann geschlossen werden, dass Erschleichen, Umgehen und die Ausübung eines Rechts auf Grundlage nicht zu billigender Motive unabhängig von der Qualität der zur Diskussion stehenden unionsrechtlichen Rechtsvorschrift unzulässig ist. Weiter kann geschlossen werden, dass dies zumindest in allen Bereichen gilt, aus denen vorliegend Rechtsvorschriften angeführt wurden. Eine sichere Aussage darüber, ob dies auch in anderen Rechtsbereichen der Fall ist, lässt sich hieraus aber nicht ableiten.86 Zwar bindet der EuGH in Kofoed und anderen steuerrechtlichen Entscheidungen sein entwickeltes Konzept an geschriebenes Sekundärrecht an. Jedenfalls zeigen die Ausführungen, dass dem Unionsrecht die Verhütung derartigen Missbrauchs nicht fremd ist, was der gleich zu diskutierenden Ableitung eines entsprechenden Prinzips aus den
83 EuGH, Urt. v. 12.5.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1998, I-2843, 2869, Nr. 22. 84 EuGH, Urt. v. 23.3.2000, Rs. C-373/97 (Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 2000, I-1705, 1734, Nr. 33. 85 A.A. Englisch, StuW 2009, 3, 3: „im Primärrecht (finden sich) praktisch keine Aussagen […] und auch im sekundären Gemeinschaftsrecht (sind) nur wenige Missbrauchsklauseln positiviert“. Zu entsprechenden Vorschriften im Europäischen Zivilverfahrensrecht, s.u., S. 188. 86 Vgl. Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 173.
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Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durch den EuGH einen starken Rückhalt im Unionsrecht liefert. 2. Wettbewerbsregeln, Art. 101 ff. AEUV In den Wettbewerbsregeln des AEUV finden sich mit Art. 102 und Art. 108 Abs. 2 AEUV zwei Vorschriften, die sich begrifflich auf die Bekämpfung eines missbräuchlichen Verhaltens im Anwendungsbereich des Unionsrechts beziehen. So verbietet Art. 102 AEUV das missbräuchliche Ausnutzen einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 108 Abs. 2 AEUV die missbräuchliche Anwendung einer staatlichen Beihilfe durch den Beihilfeempfänger. Ob diese Vorschriften allerdings dem allgemeinen Gedanken Ausdruck verleihen, nach dem ein Missbrauch von Unionsrecht untersagt ist, erscheint in hohem Maße fragwürdig.87 Wird eine beherrschende Stellung auf dem Markt i.S.d. Art. 102 AEUV missbraucht, ist dies zunächst und im Sinne der Vorschrift etwas rein Faktisches. Auch wenn man solches Verhalten als einen „Missbrauch des Gemeinsamen Marktes“88 begreift, und es dadurch den Grundfesten des Unionsrechts zuordnet,89 führt dies nicht dazu, den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung als hier alleine interessierendes Problemen der korrigierenden Rechtsanwendung zu sehen. Bei der Bekämpfung von Marktmissbrauch geht es nicht um ein methodisches Eingreifen des Richters im Zuge der Normanwendung – die Durchbrechung rechtlicher Abstraktion zugunsten der Besonderheiten des konkreten Einzelfalls –, sondern um ein Austarieren wirtschaftlicher Macht.90 Nach dem oben dargelegten Missbrauchsverständnis91 fällt dieser Sachverhalt damit aus dem hier interessierenden Rahmen.92 Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass es bei der Anwendung von Wettbewerbsregeln zu einem Missbrauch eben dieser Regeln kommt; mit der Frage, ob Art. 102 AEUV dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot Ausdruck verleiht, hat dies aber nichts zu tun. Es überrascht daher nicht, wenn in Entscheidungen des EuGH, in denen das unionsrechtliche Missbrauchsverbot herausgebildet wurde, nie auf Art. 102
87 So aber Reuß, Forum Shopping, S. 231. Auf Art. 86 EGV als Vorgängervorschrift zu Art. 102 AEUV verweist auch Brown, in: FS Schermers, S. 511, 519, allerdings ohne nähere Auseinandersetzung. Ebenfalls Schmidt-Kessel, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2001, S. 61, 66, Fn. 21. 88 Lyons, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 493, 496, 507. 89 Vgl. Art 3 Abs. 3 EUV. 90 Fleischer, JZ 2003, 865, 871; Lyons, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 493, 496; recht vage Zimmermann, Rechtsmissbrauch, S. 15; für das deutsche Kartellrecht so schon Baur, Missbrauch im Kartellrecht, S. 102 ff. 91 S.o., S. 15. 92 Zu insoweit parallel liegenden Wettbewerbsregeln österreichischen Rechts Mader, Rechtsmissbrauch, S. 154.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
AEUV oder dessen Vorgängervorschrift Art. 82 EGV verwiesen wurde bzw. umgekehrt.93 Gleiches gilt für das in Art. 108 Abs. 2 AEUV vorgesehene Recht der Kommission, bei missbräuchlicher Anwendung einer staatlichen Beihilfe einzuschreiten: ‚Missbrauch‘ meint in diesem Zusammenhang nur den Verstoß des Beihilfeempfängers gegen einen Beschluss der Kommission gemäß Art. 1 lit. g Verfahrensverordnung94 im Sinne eines Fehlgebrauchs. Auch hier stellt Missbrauch wiederum kein Problem der einzelfallbezogenen Rechtsanwendung dar.95 3. Nichtigkeitsklage wegen Ermessensmissbrauchs, Art. 263 Abs. 2 AEUV Gegen ermessensmissbräuchliches Verhalten von Unionsorgangen kann gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV im Wege der Nichtigkeitsklage vor dem EuGH geklagt werden. 96 Ein Verhalten ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs97 dann ermessensmissbräuchlich, wenn es vorgenommen wird „ausschließlich oder zumindest überwiegend zu anderen als den angegebenen Zwecken oder mit dem Ziel, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen.“98 Erforderlich ist ein nach objektiven Kriterien zu ermittelnder subjektiv rechtswidriger Zweck oder ein subjektiv rechtswidriges Ziel.99 Im Unterschied zu Art. 102 AEUV und Art. 108 Abs. 2 AEUV befasst sich diese Norm tatsächlich mit einem Problem der Rechtsanwendung. In der Definition des EuGH für ermessensmissbräuchliches Verhalten erinnert deren erster Teil stark an das, was im deutschen Recht unter dem Rechtsmissbrauchsverbot diskutiert 93 Ergebnis einer umfassenden Recherche juristischer Datenbanken durch den Verfasser. Auch der Umstand, dass im Rahmen des Art. 102 AEUV ein rein objektives Missbrauchsverständnis vertreten wird (vgl. EuGH, Urt. v. 13.2.1979, Rs. 85/76 [Hoffmann-La Roche & Co. AG ./. Kommission], Slg. 1979, 461, 541, Nr. 91; Grill, in: Lenz/Borchardt, Art. 102 AEUV, Rn. 22; Weiß, in: Calliess/Ruffert, Art. 102 AEUV, Rn. 29; differenzierend Jung, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 102 AEUV, Rn. 126) passt nicht zu der durch den EuGH geprägten objektiv-subjektiven Konzeption des Missbrauchs von Unionsrecht, vgl. dazu unten, S. 154 ff. 94 VO (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 93 des EG-Vertrags, ABl. L 83 v. 27. 3. 1999, S. 1. 95 Anders Reuß, Forum Shopping, S. 231, ohne Begründung. 96 Dazu Bleckmann, in: FS Kutscher, S. 25 ff. Die in Art. 263 Abs. 2 AEUV aufgezählten Klagegründe entsprechenden den im französischen Verwaltungsrecht beheimateten Klagegründen im Rahmen des sog. recours pour excès de pouvoir, vgl. Biervert, Missbrauch von Handlungsformen, S. 61 m.w.N. zum französischen Recht. 97 Vgl. Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 263 AEUV, Rn. 89 m.w.N. 98 EuGH, Urt. v. 13.6.1995, Rs. C-156/93 (Europäisches Parlament ./. Kommission), Slg. 1995, I-2019, 2050, Nr. 31. 99 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 263 AEUV, Rn. 90; Ehricke, in: Streinz, Art. 263 AEUV, Rn. 86.
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wird, der zweite Teil an Fragen der Gesetzesumgehung.100 Bedenkt man weiter, dass sich der Begriff des Ermessens nach unionsrechtlicher Doktrin auf Voraussetzungen und Rechtsfolgen einer Norm bezieht, 101 umfasst dessen Missbrauch Fälle der Willkür102 und damit im weitesten Sinne Fälle, die nach vorliegendem Verständnis als Missbrauch von Unionsrecht zu verstehen sind. Mithin kann Art. 263 Abs. 2 AEUV als Anhaltspunkt dafür gesehen werden, dass entsprechender Missbrauch im Unionsrecht nicht legitim ist.103 4. Richtlinien und Verordnungen In einer Vielzahl an europäischen Richtlinien und Verordnungen finden sich Hinweise darauf, wie der europäische Gesetzgeber Fragen der Umgehung und der missbräuchlichen Ausübung von Unionsrecht bewertet. Einige davon seien hier herausgegriffen. 104 Bemerkenswert ist diesbezüglich, dass die entsprechenden Missbrauchsvorbehalte in der Regel erst ab den 1990er-Jahren Eingang in das Sekundärrechte gefunden haben und so als Reaktion des Gesetzgebers auf die Rechtsprechung des EuGH gesehen werden können.105 Hierin zeigt sich, dass der Gesetzgeber die Rechtsschöpfung des Gerichtshofs ausdrücklich billigt. Der Bekämpfung von Umgehungspraktiken zu dienen bestimmt ist zum Beispiel Art. 11 Abs. 1 lit. a der Fusionsrichtlinie 90/434/EWG 106. Dort ist das sich auf alle Bereiche der Richtlinie erstreckende Recht der Mitgliedstaaten niedergelegt, eine Fusion, Spaltung, Einbringung von Unternehmensteilen oder ein Austausch von Anteilen im Sinne der Richtlinie zu versagen oder rückgängig zu machen, wenn sie der Steuerhinterziehung oder Steuerumgehung dient.107 In der Rechtssache Kofoed hatte der EuGH diese Regelung als Ausdruck des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots erachtet.108 Dass Steuerumgehung oder Steuermissbrauch nicht durch das Unionsrecht gedeckt sind, zeigt
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Hierzu Benecke, Gesetzesumgehung, S. 8 ff. Zimmermann, Rechtsmissbrauch, S. 17 ff.; Ehricke, in: Streinz, Art. 263 AEUV, Rn. 86 mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 8.7.1965, Rs. 110/63 (Alfred Willame ./. Kommission), Slg. 1965, 865, 878; Bleckmann, in: FS Kutscher, S. 25, 26. 102 Bleckmann, in: FS Kutscher, S. 25, 26. 103 Brown, in: FS Schermers, S. 511, 520; krit. Fleischer, JZ 2003, 865, 871: „nur sehr lose verbunden“. 104 Vgl. ergänzend Reuß, Forum Shopping, S. 232 ff.; speziell zu Umgehungsfällen von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 183 f. 105 Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 522 f. 106 Vgl. EuGH, Urt. v. 5.6.2007, Rs. C-321/05 (Hans Markus Kofoed ./. Skatteministeriet), Slg. 2007, I-5795, 5830, Nr. 38. 107 Vgl. Tumpel/Prechtl, in: Lang/Schuch/Staringer, Grenzen steuerlicher Gestaltung, S. 67, 71. 108 Vgl. oben, S. 107. 101
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
sich auch in verschiedenen Artikeln der Mehrwertsteuersystem-Richtlinie109, so etwa in Art. 11, 19, 80 Abs. 1, 131, 158 Abs. 2. Des Weiteren ist Erwägungsgrund Nr. 14 der Richtlinie 97/36/EG110 zu nennen, in dem der Gesetzgeber die Rechtsprechung des EuGH zu Umgehungspraktiken von Sendeanstalten im Anschluss an die Rechtssachen van Binsbergen und TV 10 kodifiziert hat.111 Das Umgehungsverbot findet sich ferner in Art. 7 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran.112 Der Gerichtshof stellte diese Regelung in einem dazu ergangenen Urteile in eine Linie mit seiner Rechtsprechung in Sachen van Binsbergen, Leclerc und TV10.113 Auch das Erschleichen einer Rechtsnorm wird durch das Sekundärrecht behandelt. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 3665/87114 dient der Verhinderung des Erschleichens von Vorteilen, Ausfuhrerstattungen betreffend. 115 Um bloß formale Ausfuhren in Drittstaaten auszuschließen, haben nationale Behörden das Recht, in Zweifelsfällen die Zahlung von Ausfuhrerstattungen von der Vorlage entsprechender Nachweise abhängig zu machen. Aus diesen muss sich ergeben, dass das ausgeführte Produkt tatsächlich auf den drittstaatlichen Markt gelangt ist. In Zusammenhang mit der Rückführung illegaler Einwanderer aus Drittstaaten zeigt sich das Verbot, einen unionsrechtlichen Vorteil zu erschleichen, in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG.116 Der Verhinderung missbräuchlicher Rechtsausübung zu dienen bestimmt ist Art. 21 der Verordnung (EG) Nr. 874/2004, in der die Registrierung und
109 Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L 347 v. 11. 12. 2006, S. 1. 110 Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, ABl. L 202 v. 30.7.1997, S. 60. 111 De la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 400. 112 Verordnung (EG) Nr. 423/2007 des Rates vom 19. April 2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran, ABl. L 103 v. 20.4.2007, S. 1. 113 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-72/11 (Strafverfahren gegen Mohsen Afrasiabi u.a.), Slg. 2011, I-14285. 114 Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 der Kommission vom 27. November 1987 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen, ABl. L 351 v. 14.12.1987, S. 1. 115 So auch die Einschätzung von GA Sharpston in ihren Schlussanträgen v. 7.6.2006, Rs. C-279/05 (Vonk Dairy Products BV ./. Productschap Zuivel), Slg. 2007, I-239, 253, Rn. 37. 116 Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008, über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 v. 24.1.2008, S. 98.
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Durchführung der Domäne ‚.eu‘ geregelt wird.117 Art. 21 betrifft dabei die Folgen einer spekulativen oder missbräuchlichen Registrierung einer Domäne, wobei dessen Abs. 1 lit. b den Fall erfasst, dass eine Domäne in böser Absicht registriert oder genutzt wird. In Abs. 3 der Vorschrift wird der Begriff der ‚Bösgläubigkeit‘ näher definiert, wobei sich hier beispielsweise der Fall findet, dass eine Domäne nur dazu genutzt werden soll, die berufliche oder geschäftliche Tätigkeit eines Wettbewerbers zu stören, also ein gesetzesfremdes Ziel verfolgt wird, vgl. Art. 21 Abs. 3 lit. c. IV. Analyse des Fallmaterials: Allgemeingültiges Missbrauchsverbot Liegt nun allen Fällen, in denen der Missbrauch von Unionsrecht diskutiert wird ein und dasselbe allgemeine Prinzip zugrunde? Nach obiger Definition ist für ein allgemeines Rechtsprinzip konstituierend, dass sich hierfür eine abstrakte Formel finden lässt, unter der alle diskutierten Fälle zusammengefasst werden können bzw., dass sich eine solche Formel im Wege der Induktion aus Rechtssätzen ableiten lässt und dass diese Formel die notwendige Anerkennung in der Rechtspraxis erfährt.118 Nach der Überprüfung dieser Vorgaben (unten, 1.) und 2.)) wird im Anschluss einem Umstand nachgegangen, der gegen eine Allgemeingültigkeit des Rechtsmissbrauchsverbots angeführt werden könnte, namentlich die terminologische Vielfalt in der Rechtsprechung des EuGH (unten, 3.). 1. Ableitung durch den EuGH Aus den angeführten Entscheidungen des EuGH ergibt sich eine mit der Zeit immer deutlicher werdende Rechtsprechungslinie, was die Verhinderung von Missbrauch im Anwendungsbereich des Unionsrechts angeht. Die Lösung dieser Fälle gründet sich, wie schon ausgeführt, auf rechtsvergleichende Untersuchungen des Gerichtshofs und der Generalanwälte, was in seinen Entscheidungen oder den vorbereitenden Schlussanträgen allerdings nicht immer deutlich wird. Mit der Zeit verdichtete der EuGH seine anfangs nur recht spärlichen Äußerungen zu Fragen des Missbrauchs von Unionsrecht zu einer eigenständigen Doktrin und formulierte hierbei insbesondere einen abstrakt-generellen Missbrauchsbegriff, was konstituierend für allgemeine Rechtsprinzipien erachtet wird.119
117 Verordnung (EG) Nr. 874/2004 der Kommission vom 28. April 2004 zur Festlegung von allgemeinen Regeln für die Durchführung und die Funktionen der Domäne oberster Stufe ‚.eu‘ und der allgemeinen Grundregeln für die Registrierung, ABl. L v. 30.4.2004, S. 40. 118 Vgl. oben, S. 95. 119 Vgl. oben, S. 95.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
a) Abstrakt-genereller Missbrauchsbegriff In seiner Entscheidung Emsland-Stärke legte der EuGH zum ersten Mal abstrakt-generell dar, unter welchen Voraussetzungen ein Missbrauch von Unionsrecht anzunehmen ist. Ohne nach Fallgruppen, Rechtsbereich oder Ähnlichem zu differenzieren, stellte er fest, dass ein Missbrauch dann anzunehmen sei, wenn trotz formaler Einhaltung der Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm das durch diese intendierte Ziel verfehlt werde und das hierauf abzielende Verhalten von der Absicht getragen sei, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil zu verschaffen.120 Unabhängig davon, was hierunter im Einzelfall zu verstehen ist, wird deutlich, dass der EuGH die Bekämpfung von Vermeiden, Erschleichen und missbräuchlicher Rechtsausübung im Anwendungsbereich des Unionsrechts auf eine einheitliche Grundlage stellt. Insbesondere unterscheidet er hierbei nicht, wie es beispielsweise dem deutschen Recht eigen ist, nach Umgehungs- und Erschleichungsfällen einerseits und individuellem Rechtsmissbrauch andererseits.121 Den in Emsland-Stärke festgesetzten Maßstab, der in der englischsprachigen Literatur als sog. abuse test122 bezeichnet wurde, legte er – mit kleineren Änderungen – auch in Folgeentscheidungen an. Zu nennen sind insbesondere die Rechtssachen Eichsfelder Schlachtbetrieb123, Vonk Dairy124, Halifax125 und Cadburry Schweppes126.127 Auch bei späterer Bezugnahme auf Emsland-Stärke oder Folgeurteile, differenziert der EuGH nicht zwischen den dargestellten
120
Vgl. oben, S. 106. Vgl. Amand, in: Glauser, Evasion fiscale, S. 45, 49 ff. Vor diesem Hintergrund erscheint es verfehlt, dem europäischen Konzept der Missbrauchsbekämpfung eine dem nationalen Recht entlehnte Systematisierung aufzwingen zu wollen. Dies aber befürwortend Fischer, in: FS Reiß, S. 621, 627, der davon spricht, eine „deutsche Traditionslinie und die neueren dogmatischen Erkenntnisse zum Rechtsmissbrauch offensiv nach Europa“ zu tragen. 122 De la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 409. O’Shea, 11 EC T.J. (2010) 77, 115 bezeichnet den Missbrauchstest als „settled case law”. 123 EuGH, Urt. v. 21.7.2005, Rs. C-515/03 (Eichsfelder Schlachtbetrieb GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2005, I-7355, 7386, Nr. 39. 124 EuGH, Urt. v. 11.1.2007, Rs. C-279/05 (Vonk Dairy Products BV ./. Productschap Zuivel), Slg. 2007, I-239, 283, Nr. 31 ff. 125 EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1675, Nr. 69; vgl. dazu de la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 423. 126 EuGH, Urt. v. 12.9.2006, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes plc u.a. ./. Commissioners of Inland Revenue), Slg. 2006, I-7995, 8051, Nr. 64. 127 Allgemein zur Anwendung der Kriterien aus Emsland-Stärke bzw. Halifax in Folgeentscheidungen, vgl. de la Feria, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. xv; Koutrakos, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 203 ff.; Pernegger/Stöger, in: FS Nolz, S. 285, 289. 121
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
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Fallgruppen.128 Weiter ist beachtlich, dass die in Emsland-Stärke erstmals ausdrücklich dargelegten Kriterien die Rechtsprechung des EuGH auch schon vorher prägten, was sich gut an der Centros-Entscheidung zeigen lässt. Hier erachtete er das offensichtlich 129 der Umgehung dänischer Mindestkapitalvorschriften dienende Berufen auf die Niederlassungsfreiheit deshalb als legitim, weil er es als vom Zweck dieser Grundfreiheit umfasst ansah.130 Trotz der unstreitigen vorhandenen Umgehungsabsicht lehnte der Gerichtshof einen Missbrauch von Unionsrecht durch das dänische Ehepaar ab, da das objektive Kriterium der Zweckwidrigkeit nicht gegeben war. b) Verweisungstechnik Dass die in Emsland-Stärke aufgestellte abstrakte Formel ihre Berechtigung hat, zeigt sich ebenfalls in der Verweisungstechnik des Gerichtshofs bezüglich der oben aufgeführten Urteile seit den 1970er-Jahren. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als eine „alle Anwendungsfälle überwölbende Leitidee“131 zeigt sich deutlich darin, dass der EuGH in seinen Entscheidungen Rechtssachen aufeinander bezieht, unabhängig davon, welcher Fallgruppe oder welchen Lebensbereichen sie zuzuordnen sind oder welche Rechtsvorschriften sie zum Gegenstand haben.132
128 Vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-72/11 (Strafverfahren gegen Mohsen Afrasiabi u.a.), Slg. 2011, I-14275, 14329, Nr. 62; Urt. v. 5.5.2011, verb. Rs. C-230/09 und C-231/09 (Hauptzollamt Koblenz ./. Kurt und Thomas Etling in GbR; Hauptzollamt Oldenburg ./. Theodor Aissen u.a.), Slg. 2011, I-3097, 3146, Nr. 78; Urt. v. 4.6.2009, Rs. C-158/08 (Agenzia Dogane Ufficio delle Dogane di Trieste ./. Pometon SpA), Slg. 2009, I-4695,4710, Nr. 28 m. Anm. Killmann, AW-Prax 2009, 334; Urt. v. 29.4.2004, verb. Rs. C-487/01 und C-7/02 (Gemeente Leusden [C-487/01] und Holin Groep BV cs [C-7/02] ./. Staatssecretaris van Financiën), Slg. 2004, I-5337, 5397, Nr. 78. Auch in ihren Schlussanträgen v. 14.4.2011, Rs. C-186/10 (Tural Oguz ./. Secretary of State for the Home Department), Slg. 2011, I6957, 6964, Nr. 30 verweist GA Kokott auf das Urteil in Emsland-Stärke und dessen strukturierende Kraft. 129 Diese Tatsache wurde im Verfahren durch das dänische Ehepaar nicht bestritten, vgl. EuGH, Urt. v 9.3.1999, Rs. C-212/97 (Centros Ltd ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen), Slg. 1999, I-1459, 1491, Nr.18. 130 EuGH, Urt. v 9.3.1999, Rs. C-212/97 (Centros Ltd ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen), Slg. 1999, I-1459, 1493, Nr. 27 und die Schlussanträge des GA Maduro v. 7.4.2005, Rs. C255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1638, Nr. 67. 131 Fleischer, JZ 2003, 865, 871. 132 Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 306; Englisch, StuW 2009, 3, 4; Fleischer, JZ 2003, 865, 871; Lang/Heidenbauer, in: FS Vanistendael, S. 597, 600; Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1273. Eine derartige Verschränkung von Rechtsbereichen war auch prägend für die Entwicklung der französischen fraude à la loi, vgl. Cornut, Fraude à la loi, S. 26.
116
1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Ab etwa Ende der 1990er-Jahre zeigt sich, dass die Zuordnung zu einer bestimmten Fallgruppe nicht von Bedeutung für die Behandlung eines Missbrauchsfalls ist. Zwar finden sich mit van Binsbergen für Fragen der Umgehung und mit Cremer für Fragen der Erschleichung zwei Referenzentscheidungen, auf deren Grundlage der Gerichtshof zwei sich parallel entwickelnde Stränge an Entscheidungen aufbaute.133 Mit den Entscheidungen Kefalas und Diamantis – Entscheidungen, die vorliegend einer dritten Fallgruppe zugesprochen werden – führte der EuGH beide Stränge aber zusammen und zeigte damit, dass er an eine Zuordnung zu einer dieser Fallgruppen keine besonderen Rechtsfolgen knüpft:134 So findet sich in der Diamantis-Entscheidung, in der es um die missbräuchliche Ausübung von Unionsrecht ging, unter anderem der Verweis auf die Rechtssachen van Binsbergen und Leclerc, die die Umgehung nationaler Vorschriften zum Gegenstand hatten, sowie die Rechtssachen Lair und General Milk Products, in denen es um ein Erschleichen von auf Unionsrecht zurückführbare Vorteile ging. 135 Der Gerichtshof kombiniert demnach diejenigen Problemfälle, welche im deutschen Recht als Fragen der Gesetzesumgehung auf der einen Seite und des individuellen Rechtsmissbrauchs auf der anderen Seite einzuordnen sind.136 In der Ausgestaltung des Missbrauchsverbots orientiert er sich am französischen Recht.137 Es empfiehlt sich daher, die fraude à la loi und den abus de droit als Orientierungshilfen im Auge zu behalten. Die Kombination der beiden Rechtsfiguren durch den EuGH wird dann verständlich, wenn man die nach französischem Recht zwischen beiden bestehende Schnittmenge bedenkt.138 An der Diamantis-Entscheidung zeigt sich darüber hinaus sehr gut, dass die Qualität der missbrauchten Vorschrift irrelevant ist; erforderlich ist lediglich deren mittelbarer Bezug zum Unionsrecht.139 Die Rechtssache van Binsbergen betraf die Umgehung nationalen Rechts unter Berufen auf Grundfreiheiten, Diamantis selbst einen Fall des Missbrauchs einer direkt anwendbaren weil fehlerhaft umgesetzten Richtlinie, General Milk Products und Lair den Missbrauch von EU-Verordnungen. Der EuGH behandelte alle diese Fälle als eine
133
Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 529. Zur Entscheidung in der Rechtssache Kefalas, vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 529. 135 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2000, Rs. C-373/97 (Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 2000, I-1705, 1734, Rn. 33. 136 Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159, 171; vgl. auch Whittaker, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 253, 258. 137 Vgl. unten, z.B. S. 157; vgl. auch Vrellis, in: Liber Amicorum, Gaudemet-Tallon, S. 633, 633. 138 S.o., S. 50 f. Im Übrigen Vrellis, in: Liber Amicorum, Gaudemet-Tallon, S. 633, 633, Fn. 3. 139 Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 532. 134
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
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„gedankliche Einheit“140, als Bestandteile eines einheitlichen Missbrauchsverbots. c) Anerkennung des Missbrauchsverbots in der Praxis Die Vielzahl an Entscheidungen des EuGH zum Verbot des Missbrauchs von Unionsrecht zeigt dessen Praxisrelevanz. Aber auch die Gerichte der Mitgliedstaaten141, die Generalanwälte beim EuGH142 und die Wissenschaft143 beschäftigen sich mit dem Missbrauch von Unionsrecht entsprechend der Konzeption, die es durch den EuGH erhalten hat. Damit erfährt es die notwendige Anerkennung in der Rechtspraxis, um von einem allgemeinen Rechtsprinzip sprechen zu können.144 d) Unionsrechtliches Missbrauchsverbot als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts Spätestens mit der Entscheidung in Sachen Kofoed qualifizierte der EuGH das unionsrechtliche Missbrauchsverbot, wie er es mit der Zeit herausgebildet hatte, erstmals ausdrücklich als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts.145
140
Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1273. Aus neuerer Zeit z.B. BFH, Beschl. v. 29.7.2009, XI B 24/09, BFHE 226, 449 (zur Umgehung inländischer Erwerbssteuer); BGH, Beschl. v. 20.11.2008, 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45 (zur Umsatzsteuerverkürzung); OVG Lüneburg, Urt. v. 17.5.2011, 10 LC 287/08, AUR 2011, 354 357 f., Rn. 29 (zum Erschleichen von Ausfuhrerstattungen); OVG Lüneburg, Urt. v. 17.1.2012, 10 LC 193/07 (zum Erschleichen von Ausfuhrerstattungen); OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.11.2006, OVG 1 S 136.05 (zur Umgehung eines inländischen Fahrerlaubnisentzugs); FG Hamburg, Urt. v. 26. 1. 2006, IV 106/05 (zum Erschleichen von Ausfuhrerstattungen); OVG Berlin, Urt. v. 18.1.2001, 6 B 120.96, NVwZRR 2002, 118 (zum Erschleichen von Ausbildungsförderung). 142 Aus neuerer Zeit z.B. Schlussanträge der GA Kokott v. 14.4.2011, Rs. C-186/10 (Tural Oguz ./. Secretary of State for the Home Department), Slg. 2011, I-6957, 6964, Rn. 29 ff.; Schlussanträge der GA Sharpston v. 8.7.2010, Rs. C-303/08 (Metin Dozkurt ./. Land BadenWürttemberg), Slg. 2010, I-13445, 13484, Rn. 58; Schlussanträge der GA Kokott v. 15.2.2007, Rs. C-178/05 (Kommission ./. Hellenische Republik), Slg. 2007, I-4185, 4200, Rn. 50; Schlussanträge des GA Alber v. 16.5.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11587, Rn. 61. Vgl. auch die Nachweise bei Weber, 31 L.I.E.I. (2004) 43, 54. 143 Vgl. die Nachweise oben, Fn.11. 144 Dies gilt unabhängig davon auch mit der Qualifikation des Missbrauchsverbots durch den EuGH als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts. Damit wird das Prinzip zur Norm, vgl. Schulze, ZEuP 2003, 442, 462. 145 EuGH, Urt. v. 5.6.2007, Rs. C-321/05 (Hans Markus Kofoed ./. Skatteministeriet), Slg. 2007, I-5795, 5830, Nr. 38. 141
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Zwar hatte der EuGH schon in seinem Urteil in der Sache Deka Getreideprodukte146 im Jahre 1983 von einem „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ gesprochen, der gläubigerbenachteiligende Abtretungen von Forderungen verbiete.147 Dies darf aber deshalb nicht überbewertet werden, da es hier zum einen einseitig um den Schutz der wirtschaftlichen Interessen der EWG ging und zum anderen nicht der Missbrauch von Gemeinschaftsrecht abstrakt zu einem allgemeinen Grundsatz erhoben wurde, sondern nur das Verbot der Abtretung von Forderungen in gläubigerbenachteiligender Absicht; ein Judikat, das im Übrigen auch in späteren Entscheidungen des Gerichtshofs zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbot keine weitere Nennung fand. Der Schritt des EuGH in Kofoed zeigt, dass der Gerichtshof die mittlerweile erfolgte Ausformung des Missbrauchsverbots als hinreichend konkretisiert erachtete. Aufgrund der Wirkungen allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts ist dies notwendig, kommt dem Missbrauchsverbot so doch definitiv nicht mehr nur die Qualität als interpretatorische Leitlinie und Lückenfüller zu.148 Vielmehr führt die dogmatische Verortung des allgemeinen Rechtsprinzips im Unionsrecht dazu, dass es am Vorrang des Unionsrechts teilnimmt.149 Das Missbrauchsverbot kann mithin nationales Recht überspielen und von nationalen wie europäischen Gerichten als eigenständiger Rechtsgrundsatz angewandt werden.150 Notwendige Bedingung hierfür ist dessen praktische Handhabbarkeit, die der EuGH mit der Einordnung als allgemeinen Grundsatz für gegeben erachtete. Indem er in seinen Entscheidungen keine dezidierte Verbindung zu dem auch im Unionsrecht anerkannten Grundsatz des Gebots von Treu und Glauben zieht, begreift er das Missbrauchsverbot als davon unabhängig. 151 Hiermit steht er wiederum in der Tradition der französischen Doktrin.152 2. Terminologische Vielfalt in der EuGH-Rechtsprechung Sprechen die abstrakte Formel in Emsland-Stärke, die Verweisungstechnik des EuGH und die Einordnung als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts für ein 146 EuGH, Urt. v. 1.3.1983, Rs. 250/78 (Deka Getreideprodukte ./. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft), Slg. 1983, 412, 430, Nr. 15. 147 Vgl. dazu Fleischer, JZ 2003, 865, 871. 148 De la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 438. 149 Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 466; Nergelius, in: Bernitz/Nergelius, General Principles, S. 233, 227. 150 De la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 438. 151 Vgl. Schammo, ELJ 14 (2008) 351, 371; vgl. auch Reuß, Forum Shopping, S. 240, allerdings mit Widerspruch zu S. 300 ff. 152 Vgl. oben zum abus de droit, S. 45. Unstimmigkeiten ergeben sich allerdings mit Blick auf Kodifikationsprojekte der EU im Bereich des Vertragsrechts, etwa den Vorschlag für ein Gemeinsames Europäisches Kaufrecht, KOM(2010) 348 endgültig v. 1.7.2010: Teilweise wird das unionsrechtliche Missbrauchsverbot hier als Ausprägung des Grundsatzes von Treu und Glauben erachtet, vgl. Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010) 1121, 1145.
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
119
einheitliches Prinzip, nach dem der Missbrauch von Unionsrecht verboten ist, irritiert die terminologische Vielfalt, mit der der EuGH hierbei operiert.153 Es fragt sich, ob die verwandten Begriffe Synonyme für ein und dasselbe Problem sind, oder ob ihnen nicht doch ein materieller Gehalt beizumessen ist, sie vielleicht Ausdruck völlig unterschiedlicher Probleme, einer feiner gewobenen Dogmatik sind, als es auf den ersten Blick erscheint.154 Die Gründe für die Vielzahl an Begriffen sind sicherlich in der Menge unterschiedlicher Verfahrenssprachen beim EuGH, dem schon in den Mitgliedstaaten vorhandene Begriffsreichtum im Zusammenhang mit Fragen der Verhinderung missbräuchlichen Verhaltens155, der teils unklaren Abgrenzung verschiedener Mechanismen zur Verhinderung der Gesetzesumgehung und des individuellen Rechtsmissbrauchs im nationalen Recht 156 und der sich bei der Übersetzung abstrakter Rechtstermini in den Urteilen ergebenden Problemen zu suchen.157 Gegen einen eigenständigen materiellen Gehalt der verschiedenen Begriffe spricht – neben der Verweisungstechnik des EuGH158 – aber vor allem, dass der EuGH die Zahl der verwendeten Begriffe nach und nach reduzierte. Diese Entwicklung fällt in die Zeit, in welcher er das unionsrechtliche Missbrauchsverbot inhaltlich präzisierte und dogmatisch im Unionsrecht verankerte. Hier hat sich der Gerichtshof offenkundig unliebsamen Ballasts entledigt. Denn die schrittweise Präzisierung von Begrifflichkeiten über einen gewissen Zeitraum ist ein Umstand, der die Rechtsprechungspraxis des Gerichtshofs allgemein prägt und vor allem auch im Bereich der Präjudizien zu beobachten ist.159 Als in der Entscheidung Kofoed das unionsrechtliche Missbrauchsverbot schließlich als „allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ bezeichnet wurde, benutzte der EuGH, um den Inhalt dieses Grundsatzes zu umschreiben, nur noch die Begriffe ‚missbräuchlich‘ und ‚betrügerisch‘.160 In der Rechtssache Foggia aus dem Jahre 2011, die weitgehend parallel zu Kofoed lag, war es sogar nur noch der Begriff des ‚missbräuchlichen‘ Berufens auf Unionsrecht.161 153
Vgl. oben, S. 100. Vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 524. 155 Vgl. Mader, Rechtsmissbrauch, S. 20. 156 Z.B. hinsichtlich fraude à la loi und abus de droit im französischen Recht, s.o., S. 50 f. 157 Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 524. 158 Der EuGH zeigt durch seine Bezugnahme auf die oben unterschiedlich kategorisierten Fälle inzidenter auch, dass er den dort jeweils verwendeten Begrifflichkeiten keine Unterscheidungskraft im Einzelfall zubilligt. 159 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 226 f., 376 f. 160 S.o., S. 107. 161 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.11.2011, Rs. C-126/10 (Foggia – Sociedade Gestora de Participações Sociais SA ./. Secretário de Estado dos Assuntos Fiscais), Slg. 2011, I-10923, 10943, Nr. 50; allerdings wieder mit einer Kombination beider Begriffe, EuGH, Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-324/11 (Gábor Tóth ./. Nemzeti Adó- és Vámhivatal Észak-magyarországi Regionális Adó Főigazgatósága), RIW 2013, 492, 494, Nr. 37. 154
120
1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Vor diesem Hintergrund erscheint der zuvor geprägte Begriffsreichtum nicht als notwendige Bedingung, um den Missbrauch von Unionsrecht sprachlich zu erfassen. Vieles spricht dafür, dass die Vielzahl unterschiedlicher Begriffe nicht mit einer entsprechenden dogmatischen Verästelung einhergeht,162 was durch neuere Entscheidungen des Gerichtshofs bestätigt wird.163 Da der EuGH aber in einer Vielzahl an Entscheidungen164 und insbesondere in Kofoed die Begriffe ‚missbräuchlich‘ und ‚betrügerisch‘ in einem Sinnzusammenhang verwendet, ergibt sich die Frage, wie diese zueinander stehen.165 Dass mit ‚Betrug‘ nicht das Vorspiegeln von Tatsachen, also ein Betrug im ‚technischen Sinne‘ bzw. eine Simulation gemeint sein kann, ist offensichtlich: Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm formal nicht einmal vor, muss der EuGH nicht darüber entscheiden, ob sich aus dieser Norm Rechtsfolgen herleiten lassen. Handelt es sich um ein Vorabentscheidungsverfahren, wäre dieses auch gar nicht zulässig, da es sich nicht um die Auslegung einer konkreten unionsrechtlichen Vorschrift handelt, Art. 267 Abs. 1 AEUV. Hier geht es nur um die konkrete Sachverhaltsermittlung,166 das aber ist Sache der mitgliedstaatlichen Gerichte. Bleibt die Frage, ob dem Verweis auf den ‚Betrug‘ im Rahmen des Missbrauchsverbots ein rechtlicher Gehalt beizumessen ist. Man könnte ihn als eine Unterkategorie des Missbrauchs einordnen, was man auf die parallele Zitierung durch den EuGH in einer Vielzahl an Entscheidungen stützen könnte.167 Dagegen spricht aber die Entscheidung des EuGH in Sachen Foggia. In dieser hatte der EuGH, ähnlich wie in Kofoed, Art. 11 der Fusionsrichtlinie auszulegen. Er verweist in den Gründen bezüglich der Auslegung der fraglichen Bestimmung auch komplett auf seine Ausführungen in Kofoed, in der er die entsprechende Richtlinienbestimmung als Ausdruck eines „allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts“ bezeichnet hatte, nach dem der Missbrauch von Unionsrecht verboten ist. Hierbei lässt er aber den Passus „betrügerische Berufung auf (Unionsrecht)“ schlicht unerwähnt.168 162 De la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 496 f.; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibtion of Abuse of Law, S. 521, 525; a.A. Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 432. 163 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.12.2013, Rs. C-116/12 (Ioannis Christodoulou u.a. ./. Elliniko Dimosio), ZfZ 2014, 66, 69, Nr. 63: „(Der) Anwendungsbereich von Unionsverordnungen (kann) nicht so weit sein, dass er missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern deckt.“ 164 Vgl. die Nachweise bei Englisch, StuW 2009, 3, 4. 165 Vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 560 f. 166 Eidenmüller, KTS 2009, 137, 144; ders., in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 137, 142. 167 So Kjellgren, 11 E.B.L.R. (2000) 179, 180. 168 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.11.2011, Rs. C-126/10 (Foggia – Sociedade Gestora de Participações Sociais SA ./. Secretário de Estado dos Assuntos Fiscais), Slg. 2011, I-10923, 10943, Nr. 50.
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
121
Macht man sich bewusst, dass in Kofoed das unionsrechtliche Missbrauchsverbot erstmals ausdrücklich auf eine dogmatische Grundlage gestellt wurde, kann dieser Veränderung nicht genug Beachtung geschenkt werden. Dem oben Gesagtem nach zu urteilen, stellt dieser Verzicht eine weitergehende sprachliche Präzisierung dar, was im Gegenzug bedeutet, dass dem ‚Betrug‘ für die Zwecke des Missbrauchsverbots kein eigener materieller Gehalt zukommt. Eine Erklärung für die vormals dennoch recht breite Verwendung des Begriffs ist es, ‚Betrug‘ schlicht in einem untechnischen, umgangssprachlichen Sinne zu verstehen, beispielsweise als „ungehöriges Verhalten“ 169 bzw. als schlecht gewähltes Synonym für ‚Missbrauch‘. Hält man sich vor Augen, dass die Beratungen im Richtergremium des EuGH in französischer Sprache erfolgen, vermag dies umso mehr zu überzeugen: Die Wendung ‚Betrug‘ ist damit leicht als Anlehnung an die fraude à la loi, die französische Lehre von der Gesetzesumgehung, enttarnt.170 Demnach wurde mit dem Begriff des betrügerischen Berufens auf Unionsrecht nur auf die Konstellation der fraude à la loi verwiesen. So wird der EuGH auch in der französischen Lehre verstanden.171 Dies stützt wiederum den in vorliegender Arbeit gewählten Ansatz, der neben den Fällen des individuellen Rechtsmissbrauchs (‚missbräuchlich‘) eben auch die Fälle der Gesetzesumgehung einbezieht (‚betrügerisch‘). V. Zwischenergebnis Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ist ein allgemeines Rechtsprinzip, dem die Qualität eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts zukommt. Von ihm sind Fälle erfasst, in denen Rechtsnormen erschlichen, vermieden oder missbräuchlich in Anspruch genommen werden sollen. Das Verbot findet Rückhalt im geschrieben Unionsrecht, auch wenn es sich hieraus nicht unbedingt rechtsbereichsübergreifend ableiten lässt. Demgegenüber hat der EuGH über mehrere Jahrzehnte ein immer konsistenter werdendes Konzept zur Verhinderung von Missbrauch im Unionsrecht entwickelt. Unter einem einheitlichen konzeptionellen Dach fasst er dabei Fälle zusammen, die nach nationalem Recht verschiedenen Kategorien der Missbrauchsbekämpfung zuzuschlagen wären. Das spricht indes nicht gegen die Einordnung als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts,172 sondern ist vielmehr Ausdruck eines unionseigenen Missbrauchsverständnisses. 169
Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 560 f. So treffend Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159, 161. 171 Vgl. z.B. Vrellis, in: Liber Amicorum Gaudemet-Tallon, S. 633, 634. 172 So aber Englisch, StuW 2009, 3, 22: „Es bedarf […] einer Differenzierung zwischen institutionellem Rechtsmissbrauch von Grundfreiheiten, der Umgehung oder Ergehung von Gemeinschaftsrecht […]. Dementsprechend gibt es auch kein einheitliches Prinzip des Verbots von Rechtsmissbrauch im Gemeinschaftsrecht.“ (Hervorhebung durch den Verfasser) 170
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Den in Emsland-Stärke artikulierten Voraussetzungen für die Annahme eines Missbrauchs von Unionsrecht ist der EuGH in Folgeentscheidungen im Wesentlichen gefolgt.173 Kleinere, nicht fundamentale Änderungen in der Anwendung des Missbrauchsverbots sprechen nicht dagegen, von einem allgemeinen Prinzip zu sprechen. Es ist gerade dem Wesen allgemeiner Rechtsprinzipien eigen, sie aufgrund ihrer induktiven Ableitung immer in Abwägung mit anderen Prinzipien und Argumenten im Einzelfall anzuwenden.174 Das zeigt sich auch daran, dass der EuGH in Centros festgestellt hat, die Frage des Missbrauchs im Unionsrecht müsse von Fall zu Fall entschieden werden.175
B. Erscheinungsformen von Missbrauch in der Rechtsprechung des EuGH Nachdem festgestellt wurde, dass sich im Unionsrecht ein einheitliches Konzept der Missbrauchsbekämpfung findet, sind die einzelnen Erscheinungsformen näher darzustellen, die nach dem EuGH hierunter zu fassen sind. Dabei ist insbesondere zwischen den verschiedenen Fallgruppen missbräuchlichen Verhaltens abzugrenzen. I. Vermeiden nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht Ein Großteil der Fälle, in denen der EuGH sich auf das Missbrauchsverbot gestützt hat, waren Sachverhalte, in denen unter Berufen auf Unionsrecht nationales (nachteiliges) Recht vermieden werden sollte.176 Die sprachliche Einordnung als ‚Umgehung‘ darf nicht den Blick darauf verstellen, dass diese Fälle im Gegensatz zur Gesetzesumgehung nach deutschem Methodenverständnis anders strukturiert sind. Zwar lag den EuGH-Entscheidungen im weitesten Sinne auch das Problem der Rechtsgeltung von Normen zugrunde. Im deutschen Recht ist Gegenstand der Gesetzesumgehung im eigentlichen Sinne die Frage, ob auf den gegebenen Sachverhalt die Rechtsfolgen einer Norm erstreckt werden können, obwohl die Norm nach ihrem Wortlaut keine Geltung beanspruchen kann.177 Bei der Umgehung nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht geht es demgegenüber um die Frage, ob das zur Legitimierung
173
Vgl. O’Shea, 11 EC T.J. (2010) 77, 114 f. Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 238; ders., Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 52; Weinberger, Rechtslogik, S. 270. 175 EuGH, Urt. v 9.3.1999, Rs. C-212/97 (Centros Ltd ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen), Slg. 1999, I-1459, 1493, Nr. 25. 176 Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 259 ff. 177 Vgl. oben, S. 66 f. 174
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
123
eines bestimmten Verhaltens angeführte Unionsrecht – häufig Grundfreiheiten – aufgrund dessen Anwendungsvorrangs178 die an sich anwendbare nationale Rechtsnorm überspielt.179 Bei der Lösung dieser Fälle konzentriert man sich demnach auch weniger auf das umgangene nationale Recht, als auf die Frage, ob das in Anspruch genommene Unionsrecht eine entsprechende Umgehungskonstellation noch trägt. Zu lösen ist ein Normkonflikt. Ist das Ergebnis negativ, weil das Unionsrecht missbraucht wurde, gilt die nationale Rechtsnorm. Wenn nationales Recht unter Berufen auf Unionsrecht ‚umgangen‘ wird, geht es also in erster Linie um die Frage, ob das hierzu verwandte Unionsrecht anwendbar ist. Die Fälle ähneln demnach denen der Gesetzeserschleichung deutschen Rechts: Entscheidend ist letztlich, ob das Unionsrecht angewandt sein will bzw. angewandt werden kann.180 Damit sind die Fälle strukturell mit denen der fraude à la loi verwandt, denn diese trennt nicht zwischen Vermeiden und Erschleichen von Rechtsnormen.181 Im Rahmen der fraude à la loi ist der Blick auf diejenige Vorschrift gerichtet, welche entsprechende Vorteile verfügt. Für die hier interessierende Sachverhaltskonstellation ist dies das Unionsrecht. Nach der fraude à la loi ist das Berufen auf vorteilhafte Rechtsnormen dann unzulässig, wenn dies unter Umgehung einer anderen nachteiligen Rechtsnorm erfolgt; hier die Vorschrift nationalen Rechts. Indem sich die Bestrebungen des Handelnden letztlich auf ein Ausnutzen der Vorrangwirkung beziehen, lässt sich für das Unionsrecht formulieren: Der Vorrang des Unionsrechts gilt dann nicht, wenn unter seinem Deckmantel durch künstliche Gestaltungen nationalem Recht die Wirkung genommen werden soll. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass von Kennern des französischen Rechts das Vermeiden nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht direkt mit der fraude à la loi in Verbindung gebracht wird.182 II. Vermeiden von Unionsrecht Entscheidungen zum Vermeiden unionsrechtlicher Vorschriften in dessen Anwendungsbereich sind rar. Verschiedentlich wurde das Missbrauchsverbot (implizit) Entscheidungen zugrunde gelegt, welche die Auslegung geschriebener
178 Grundlegend: EuGH, Urt. v. 15.7.1964, Rs. 6/64 (Flaminio Costa ./. E.N.E.L.), Slg. 1964, 1253. 179 Unerheblich ist, ob die nationale Norm selbst umgangen wurde, wenn sie nur in Anwendung der Regeln über die Gesetzesumgehung nach nationalem Recht letztlich doch anwendbar ist. Rein nationale Fälle der Umgehung unter Berufen auf eine konfligierende Norm nennt Vetsch, Gesetzesumgehung, S. 234 ff. 180 Vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 530. 181 Vgl. oben, S. 83 182 Vgl. Schammo, 14 ELJ (2008) 351, 358.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
unionsrechtlicher Umgehungsverbote183 zum Gegenstand hatten.184 Direkt waren Fragen der dieser Art der Gesetzesumgehung – soweit ersichtlich – noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbot. Bei Reuß findet sich allerdings der Verweis auf zwei Entscheidungen des EuG, die er in Bezug zum durch den EuGH ausgeformten Missbrauchsverbot setzt und in denen eine Umgehung primärrechtlicher Vorschriften vorliegen soll.185 In beiden ging es um die Zulässigkeit von Schadenersatzklagen gemäß Art. 288 Abs. 2, 235, 255 Abs. 1 EGV, jetzt Art. 340 Abs. 2, 268, 256 Abs. 1 AEUV. In einem der beiden Verfahren wurde die Klage deshalb für unzulässig erachtet, weil mit ihr nur das erreicht werden sollte, was mit der zuvor schon in derselben Sache für unzulässig erklärten Nichtigkeitsklage gegen den relevanten Unionsakt intendiert war: dessen inzidente Überprüfung und Nichtigerklärung. Das EuG spricht hierbei von „Umgehung“ und dem „Missbrauch des eigentlichen Zwecks der Klage“.186 Parallel lag das andere Verfahren, in dem die Schadenersatzklage allerdings deshalb als unzulässig abgewiesen wurde, weil die ebenfalls und mit materiell identischem Ziel erhobene Nichtigkeitsklage bereits verfristet war; beide Klagen wurden daneben auch auf die identischen tatsächlichen Gründe gestützt. Das EuG führt in seinem Urteil aus, es sei offensichtlich das Ziel der Kläger, „die Klagefrist des Art. 173 EG-Vertrag zu umgehen“, was einen „Missbrauch der Klage nach Art. 178 EG-Vertrag darstelle“.187 In der Literatur werden die Fälle nicht als Gesetzesumgehung oder als Vermeiden von Rechtsnormen, sondern unter dem Gesichtspunkt fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses der Schadenersatzklage diskutiert. 188 Damit haben 183
Zu Begriff und Inhalt im deutschen Recht, vgl. Benecke, Gesetzesumgehung, S. 52 f.,
70 ff. 184 Z.B. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-72/11 (Strafverfahren gegen Mohsen Afrasiabi u.a.), Slg. 2011, I-14285, 14328, Nr. 60. 185 Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 268 ff. unter Verweis auf EuG, Urt. v. 21.6.2006, Rs. T-47/02 (Manfred Danzer u.a. ./. Rat), Slg. 2006, II-1779; Urt. v. 7.2.2001, Rs. T-186/98 (Compañía Internacional de Pesca y Derivados (Inpesca) SA ./. Kommission), Slg. 2001, II557. 186 Vgl. EuG, Urt. v. 21.6.2006, Rs. T-47/02 (Manfred Danzer u.a. ./. Rat), Slg. 2006, II1779, 1796, Rn. 39. Entgegen Reuß, Forum Shopping, S. 267 ist von Rechtsmissbrauch nicht die Rede. 187 Urt. v. 7.2.2001, Rs. T-186/98 (Compañía Internacional de Pesca y Derivados (Inpesca) SA ./. Kommission), Slg. 2001, II-557, 582 f., Rn. 76, 77. 188 Frenz, Handbuch Europarecht, Rn. 3050; ders., Europarecht, Rn. 1371 f.; Lenaerts/Arts/Maselis, Procedural Law, Rn. 11-004; Pechstein, EU-Prozessrecht, Rn. 696 ff.; Thiele, Europäisches Prozessrecht, S. 186; Bogdandy/Jacob, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 340 AEUV, Rn. 48 ff. mit Verweis u.a. auf EuGH, Urt. v. 12.11.1981, Rs. 543/79 (Anton Birke ./. Kommission u.a.), Slg. 1981, 2669, 2695, Nr. 28 m.w.N.; Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 268 EUV, Rn. 6; Bittmann, in: FS Kaissis, S. 57, 65.
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sie eine gewisse Nähe zum Rechtsmissbrauchsverbot und der Frage eines legitimen Interesses an der Rechtsausübung.189 Keine besondere Nähe besteht aber zur Gesetzesumgehung im Sinne des Vermeidens von Rechtsfolgen einer nachteiligen Rechtsnorm. Zwar mag das EuG diese Fälle faktisch an den Kriterien beurteilen, die der EuGH bei der Umgehung nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht anwendet,190 weshalb man auch hier eine Einbeziehung unter die gedankliche Einheit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots diskutieren kann. Die Fälle weisen aber nicht die einer klassischen Tatbestandsvermeidung eigenen Besonderheiten auf. Eine Kombination aus Vermeiden und Erschleichen im Sinne der fraude à la loi kann hierin nicht gesehen werden. Für eine der fraude à la loi vergleichbare Situation wäre es notwendig, dass der Kläger Vorteile aus einer unionsrechtlichen Norm ziehen wollte, die er nur unter Umgehung einer anderen erlangen kann. Das ist nicht der Fall. Selbst wenn man im zuerst genannten Urteil des Gerichts den notwendigen Vorteil in der Möglichkeit der Schadensersatzklage sieht, umginge der Kläger hiermit keine andere negative Rechtsnorm. Gleiches gilt für das zweite Beispiel. Vielmehr stand das EuG vor der Frage, wie es die an sich zulässigen Schadensersatzklagen unter den gegeben Umständen verhindern konnte. Die den Urteilen zugrunde liegenden Sachverhalte und die Entscheidung sollten demnach nicht für Fragen der Umgehung von Unionsrecht fruchtbar gemacht werden. Dies wird durch Entscheidungen gestützt, wie diejenige in der Sache Agip Petroli191: Dort wollte die Gesellschaft italienischen Rechts Agip Petroli, welche ein Schiff unter griechischer Flagge für eine Fahrt zwischen zwei sizilianischen Häfen gechartert hatte, die Anwendung des für sie vorteilhaften griechischen Flaggenrechts für alle Fragen im Zusammenhang mit der Besatzung des Schiffs erreichen, was in Art. 3 Abs. 3 der VO (EWG) Nr. 3577/92192 unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. In Art. 3 Abs. 2 derselben Verordnung wird jedoch der Grundsatz formuliert, wonach sich diese Fragen grundsätzlich nach dem Recht des Aufnahmestaats, hier also Italiens, richten. Zwar führt der Gerichtshof an, die Anforderungen des Art. 3 Abs. 2 dürften nicht umgangen werden.193 Er konzentriert sich in der Folge aber ausschließlich auf den Missbrauch der vorteilhaften Bestimmung des Art. 3 Abs. 3 und spricht
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Vgl. unten, S. 205 f. Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 267 f., der allerdings anerkennt, dass sich teilweise die „Voraussetzungen des Missbrauchs […] nicht ganz so klar zeigen.“ 191 EuGH, Urt. v. 6.4.2006, Rs. C-456/04 (Agip Petroli SpA ./. Capitaneria di porto di Siracusa u.a), Slg. 2006, I-3395. 192 Verordnung (EWG) Nr. 3577/92 des Rates vom 7. Dezember 1992 zur Anwendung des Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs auf den Seeverkehr in den Mitgliedstaaten (Seekabotage), ABl. L 364 v. 12.12.1992, S. 7. 193 Vgl. EuGH, a.a.O., S. 3419, Nr. 20. 190
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davon, auf diese Vorschrift könne sich unter Umständen nicht berufen werden.194 III. Erschleichen Ein Großteil der Sachverhalte, in denen der Gerichtshof das unionsrechtliche Missbrauchsverbot entwickelte, stellen Fälle des Erschleichens von Rechtsnormen dar, in denen nicht zugleich die Umgehung nationalen Rechts intendiert war. Ihre Einordnung in das Missbrauchsverbot bereiten keine größeren Schwierigkeiten, weshalb vorliegende Ausführungen knapp gehalten werden können. Bedeutung hat insbesondere die schon des Öfteren erwähnte Entscheidung in der Rechtssache Emsland-Stärke erlangt, in welcher der Gerichtshof abstrakt die Voraussetzungen für die Annahme eines Missbrauchs von Unionsrecht festgelegt hatte.195 Der EuGH hat, soweit ersichtlich, seinen Fokus immer auf diejenige Norm gerichtet, welche dem Handelnden einen (geldwerten) Vorteil vermittelte. Dass aber etwa in den steuerrechtlichen Fällen durch den Handelnden gleichzeitig unionsrechtliche Vorschriften vermieden werden sollten, insbesondere diejenigen Vorschriften, welche ansonsten eine höhere Steuerlast zur Folge hätten, versteht sich von selbst. Damit ist wiederum klar, dass das Vermeiden einer Vorschrift nicht notwendiger Bestandteil eines Missbrauchs im Sinne des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots sein muss, dies aber durchaus der Fall sein kann, sich der Gerichtshof in der Behandlung dieser Fälle aber auf die Nichtgewähr des durch die vorteilhafte Norm vermittelten Vorteils konzentriert. IV. Missbräuchliche Rechtsausübung Der Fallgruppe der Umgehung nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht werden teilweise auch die vorliegend als missbräuchliche Ausübung unionsrechtlicher Rechte qualifizierten Sachverhalte zugeordnet.196 Andere sehen diese als Unterfall des Erschleichens von Unionsrecht an.197 Das ist einer prominent vertretenen Auffassung in der Literatur geschuldet, wonach sich das durch den EuGH entwickelte Missbrauchsverbot auf Fälle der Umgehung oder des Erschleichen beschränke.198 194 Vgl. EuGH, a.a.O., S. 3420, Nr. 22: „Es ist daher nicht zulässig, dass der Reeder die Voraussetzungen für eine internationale Ballastfahrt künstlich herbeiführt, damit auf ihn Artikel 3 Absatz 3 der Verordnung und demnach die Rechtsvorschriften des Flaggenstaats und nicht Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung und damit die Rechtsvorschriften des Aufnahmestaats angewandt werden.“ 195 Vgl. oben, S. 106. 196 Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 556. 197 Vrellis, in: Liber Amicorum Gaudemet-Tallon, S. 633, 634. 198 Vgl. stellvertretend Tridimas, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 169, 171; a.A. von Lackum, Gesetzesumgehung, S. 237; Reuß, Forum Shopping, S. 308;
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Für die hier befürwortete Dreiteilung in Vermeiden, Erschleichen und missbräuchliche Rechtsausübung spricht jedoch, dass der EuGH in besagten Urteilen im Gegensatz zu Fällen der Umgehung oder des Erschleichens, zentral auf die Umstände der Ausübung eines bestimmten Rechts und die Belange der dadurch Betroffenen abstellt. Diese Fälle eigenständig zu behandeln, erscheint sinnvoll, da im Berufen auf die in concreto direkt anwendbare Zweite Gesellschaftsrechtliche Richtlinie allenfalls mit einigen dogmatischen Klimmzügen eine Umgehung der nach nationalem Recht bereits durchgeführten Kapitalerhöhung gesehen werden könnte.199 Dass den Entscheidungen des Gerichtshofs eben ein anderer Blickwinkel zugrunde lag, zeigt sich daran, dass er insbesondere darauf abstellte, welche Zwecke durch den Einzelnen mit der Rechtsausübung intendiert waren und bezieht dabei den hierdurch vermittelten wirtschaftlichen Erfolg in seine Betrachtung ebenfalls ein.200 Der Gerichtshof erklärte in Diamantis, dass das Berufen auf die Rechtsbehelfe der Richtlinie dann unzulässig ist, wenn der Kläger „unter den verschiedenen Rechtsbehelfen, die für die Behebung einer durch einen Verstoß gegen diese Bestimmung entstandenen Lage zur Verfügung stehen, denjenigen ausgewählt hat, der den berechtigten Interessen Dritter einen derart schweren Schaden zufügt, daß er offensichtlich unverhältnismäßig ist.“201
Aus den Urteilen lässt sich ableiten, welche Gesichtspunkte der EuGH für Beurteilung der Missbräuchlichkeit heranzieht. Diese sind Bestandteil einer umfassenden Interessenabwägung. Einige davon lassen sich im Sinne eines fehlenden legitimen Eigeninteresses bzw. als Hinweis auf ein widersprüchliches Verhalten verstehen. Etwa, dass der Kläger bloßer Minderheitsaktionär sei – relativ geringes Eigeninteresse –, er von der Sanierung der Gesellschaft profitiert habe – Verfolgen gesetzesfremder Ziele beziehungsweise geringes Eigeninteresse – und er seinerzeit selbst diese Sanierung beantragt hatte – widersprüchliches Verhalten.202 Bemerkenswert ist noch, was schon angedeutet wurde203, dass der EuGH in diesen Urteilen und auch in seiner sonstigen Rechtsprechung zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbot keine dezidierte Verbindung zum Gebot von Treu
Zimmermann, Rechtsmissbrauch, S. 185 f., 227; Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159, 170; Cerioni, 21 E.B.L.R. (2010) 783, 800; Fleischer, JZ 2003, 865, 870; Lenaerts, 18 E.R.P.L (2010) 1121, 1133. Vgl. auch Janssens, Mutual Recognition in EU Law, S. 63. 199 So aber Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 556. 200 Rybarz, Billigkeitserwägungen, S. 169. 201 EuGH, Urt. v. 23.3.2000, Rs. C-373/97 (Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 2000, I-1705, 1737, Nr. 43. (Hervorhebung durch den Verfasser) 202 Vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 23.3.2000, Rs. C-373/97 (Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 2000, I-1705, 1737, Nr. 44. 203 S.o., S. 119.
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und Glauben herstellt.204 Es ist umstritten, ob diesem Gebot im Unionsrecht die überhaupt Qualität eines allgemeinen Grundsatzes zukommt. 205 Da sich der Gerichtshof in keinem der oben genannten Urteile, in denen er das unionsrechtliche Missbrauchsverbot entwickelte, auf Treu und Glauben oder die Verbürgung dieses Prinzips im Unionsrecht stützte, spricht viel dafür, dass er im Unterschied zu einigen Rechtsordnungen der EU – insbesondere der deutschen, aber auch der griechischen, niederländischen und portugiesischen206 – Fragen missbräuchlicher Rechtsausübung als davon unabhängig erachtet.207 Dass sich der Gerichtshof in Ausformung des Missbrauchsverbots nicht an Treu und Glauben orientiert, ist aus rechtspraktischer Sicht jedenfalls nachvollziehbar. Diesem Konzept folgt auch vorliegende Arbeit und dies vor allem, weil eine (theoretische) Anbindung des Missbrauchsverbots an das Gebot von Treu und Glauben meines Erachtens keinen inhaltlichen Mehrwert brächte: Das Missbrauchsverbot wurde durch den EuGH mit der Zeit zunehmend präzisiert, insbesondere an abstrakte Voraussetzungen angebunden und erlangte so die notwendige Praxistauglichkeit. 208 Dagegen ist Treu und Glauben im Unionsrecht immer noch eine nur schwer fassbare Größe, die nicht einmal einstimmig als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt wird und der Entwicklung zu einem eigenständigen Begriff noch harrt.209.
C. Voraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Unter welchen Voraussetzungen der Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots eröffnet ist, hat der EuGH erstmals in seiner Ent-
204 Vgl. Schammo, ELJ 14 (2008) 351, 371; Reuß, Forum Shopping, S. 240, allerdings in Widerspruch zu S. 300, wo er Fälle eines Verstoßes gegen Treu und Glauben als Ausprägung des Missbrauchsverbots behandelt, die nach seiner Meinung von diesem gerade nicht erfasst sind; a.A. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1183, allerdings ohne jegliche Begründung. Zu frühen Querverbindungen eines Schikanesverbots und dem Grundsatz von Treu und Glauben in der Rechtsprechung des EuGH, vgl. Lecheler, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 99 ff. 205 Vgl. die Nachweise bei G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 Rn. 151. 206 Vgl. Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010) 1121, 1127. 207 So auch Zimmermann, Rechtsmissbrauchsverbot, S. 52; Schammo, ELJ 14 (2008) 351, 371. A.A. Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 285; G. Roth/Schubert, in: MüKoBGB, § 242 Rn. 156. Eine Verbindung des Missbrauchsverbot zum Gebot von Treu und Glauben stellt auch her GA Trestenjak in ihren Schlussanträgen v. 3.2.2011, Rs. C-482/09 (Budějovický Budvar, národní podnik ./. Anheuser-Busch Inc.), Slg. 2011, I-8701, 8745, Nr. 119 Fn. 72. 208 Hingewiesen sei nur auf das Urteil in der Sache Emsland-Stärke, s.o. S. 106. 209 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1185. So auch Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 284.
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scheidung Emsland-Stärke abstrakt dargelegt. Im Einzelnen sind die Voraussetzungen und deren Inhalt umstritten, weshalb sie hier näher untersucht seien. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass das Missbrauchsverbot noch keinen Grad der Konkretisierung erreicht hat, der eine Aussage frei von Zweifeln über Voraussetzungen und Wirkungen dieses allgemeinen Grundsatzes zulässt.210 Mögliche Unsicherheiten in der Auslegung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots werden in vorliegender Arbeit durch das Einbinden der Erkenntnisse aus den rechtsvergleichenden Untersuchungen zu den nationalen Rechten zu lösen versucht. Ergänzend stützt sich die Arbeit auf Erfahrungswerte zu sonstigen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts in die Untersuchung. Gerade der rechtsvergleichende Ansatz wird dabei besondere Berücksichtigung finden, stützt sich doch das Verbot selbst auf die Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten. I. Formales Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen Der EuGH betont, das Missbrauchsverbot greife nur dort Platz, wo formal betrachtet die Tatbestandsvoraussetzungen einer unionsrechtlichen Rechtsnorm vorliegen.211 Damit ist klargestellt, dass ein Problem der Rechtsanwendung bestehen muss, womit Fälle mangelnder Sachverhaltsaufklärung ausgeschieden werden.212 Der EuGH spricht in Emsland-Stärke ganz generell davon, dass die „gemeinschaftsrechtlichen Bedingungen“ formal vorliegen müssten.213 In späteren Entscheidungen spricht er auch von der „formale(n) Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen.“214 Aufschlussreicher sind hier die englische und die französische Sprachfassung des – allerdings – in deutscher Sprache ergangenen Urteils in Emsland-Stärke, in denen es heißt, notwendig sei „formal observance of the conditions laid down by the Community rules“ bzw. das Missbrauchsverdikt könne gefällt werden „malgré un respect formel des conditions prévues par la réglementation communautaire“.215 Diese Formel führt jedoch zu komplizierten Folgefragen, bei denen es allgemein um den Auslegungsspielraum des Rechtsanwenders in der Auslegung 210
Vgl. z.B. Vrellis, in: Liber Amicorum Gaudemet-Tallon, S. 631, 637. Stellvertretend EuGH, Urt. v. 30. 9. 2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11612, Nr. 52. 212 Vgl. oben, S. 15 ff. 213 Vgl. EuGH, a.a.O., S. 11612, Nr. 52; hierzu Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 531 f.; Reuß, Forum Shopping, S. 306 nennt diese Eingangsvoraussetzung nicht. 214 Z.B. EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1676, Nr. 74. 215 Vgl. die jeweilige Sprachfassungen in EuGH, Urt. v. 30. 9. 2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11612, Nr. 52. 211
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von Unionsrecht geht und die Wirkungen, die dem Missbrauchsverbot zuzubilligen sind. Zunächst muss geklärt werden, wann von einem formalen Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen einer unionsrechtlichen Rechtsnorm gesprochen werden kann, wozu die Grundlagen der Auslegung von Unionsrecht beleuchtet werden müssen (unten, 1.). Des Weiteren ergeben sich Fragen nach der Wechselwirkung von Auslegung und Missbrauchsverbot, was die Eingangsvoraussetzungen des durch den Gerichtshof aufgestellten Konzepts angeht (unten, 2.). Bei der Betrachtung der nationalen Rechte hat sich schließlich gezeigt, dass das Gros der Missbrauchsfälle durch Einbeziehung teleologische Erwägungen in die Auslegung gelöst werden kann216, was prima facie auch für die Auslegung von Unionsrecht gelten muss. Daneben kann aus den Ergebnissen zum unklaren Verhältnis von fraude à la loi als eigener Rechtsfigur und Fragen der Auslegung im französischen Recht 217 geschlossen werden, dass eine praktische Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots nur dann gelingen kann, wenn der zwischen beiden Problemkomplexen bestehende Graubereich näher beleuchtet wird (unten, 3.). 1. Grundlagen der Auslegung von Unionsrecht Um feststellen zu können, ob die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm vorliegen, ist diese auszulegen. Auslegung kann dabei in allgemeingültiger Weise definiert werden, als Ermittlung des Textsinns einer Rechtsnorm.218 Im Recht der Mitgliedstaaten hat sich hierzu über die Jahrhunderte jeweils eine eigene, gefestigte Methodik entwickelt, selbst wenn im Detail zwischen diesen erhebliche Unterschiede bestehen mögen. Das Unionsrecht steckt diesbezüglich noch in den Kinderschuhen. Eine „Gemeineuropäische Methodenlehre“ befindet sich bestenfalls in der Entwicklung.219 Für die vorliegende Arbeit bildet freilich die Rechtsprechungslinie des Gerichtshofs den Dreh- und Angelpunkt der Betrachtung. Aus dieser muss schließlich abgeleitet werden, wann von einem ‚formalen Vorliegen‘ der Tatbestandsvoraussetzungen einer Rechtsnorm ausgegangen werden kann. Die besondere Bedeutung der EuGH-Rechtsprechung für die Auslegungsmethodik das Unionsrecht betreffend ergibt sich auch daraus, dass der EuGH über das Vorabentscheidungsverfahren nicht nur das Ergebnis der Auslegung für verbindlich erklärt, sondern naturgemäß auch die zugrunde liegende Methodik. Systematisierungsversuche der Rechtswissenschaft werden ergänzend einbezogen
216 Vor allem das Problem der Gesetzesumgehung im deutschen Recht, vgl. oben, S. 65 ff. 217 Vgl. oben, S. 86 f. 218 Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 26. 219 Vgl. Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 2; Rösler, Rechtstheorie 43 (2012), 495, 497 f. mit umfangreichen Nachweisen; Vogenauer, ZEuP 2004, 234, 243
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a) Der sog. teleologische Ansatz des EuGH Aus der Rechtsprechung des EuGH lassen sich grobe Leitlinien zur Auslegung von Unionsrecht ableiten, wenngleich er sich, im Gegensatz zur anfänglichen Spruchpraxis 220 , relativ selten dazu äußert, welche Auslegungsmethode im konkreten Fall angewandt wurde. Eine der wenigen Ausnahmen bildet vor allem die C.I.L.F.I.T.-Entscheidung, in welcher er in allgemeingültiger Weise die das Unionsrecht kennzeichnenden Besonderheiten und das methodische Vorgehen bei dessen Auslegung näher dargestellt hat, weshalb die relevanten Passagen hier vollständig wiedergegeben seien:221 „Zunächst ist dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in mehreren Sprachen abgefaßt sind und daß die verschiedenen sprachlichen Fassungen gleichermaßen verbindlich sind; die Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift erfordert somit einen Vergleich ihrer sprachlichen Fassungen. Sodann ist auch bei genauer Übereinstimmung der sprachlichen Fassungen zu beachten, daß das Gemeinschaftsrecht eine eigene, besondere Terminologie verwendet. Im übrigen ist hervorzuheben, daß Rechtsbegriffe im Gemeinschaftsrecht und in den verschiedenen nationalen Rechten nicht unbedingt den gleichen Gehalt haben müssen. Schließlich ist jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen.“222
Die Vielzahl unterschiedlicher, verbindlicher Amtssprachen in der EU – derzeit 24 – bildet demnach den Ausgangspunkt der Überlegungen des EuGH in C.I.L.F.I.T. Dass der Sprachenreichtum in der EU durchaus einen Vorteil für die Auslegung von Unionsrecht darstellen kann, soll hier nicht weiter beleuchtet werden.223 Denn die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eher nicht von einer starken Betonung des Wortlauts bzw. der divergierenden Wortlaute ge-
220 Vgl. Neergaard/Nielsen, in: Neergaard/Nielsen/Roseberry, European Legal Method, S. 95, 97. 221 Ausführlich zur Auslegung von Unionsrecht, vgl. Arnull, European Court of Justice, 605 ff.; Bengoetxea, Legal Reasoning, passim; Seyr, Effet utile, S. 30 ff.; Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 344 ff.; Maduro, Interpreting European Law, S. 3; Neergaard/Nielsen, in: Neergaard/Nielsen/Roseberry, European Legal Method, S. 95 ff. 222 EuGH, Urt. v. 6.10.1982, Rs. 283/81 (Srl CILFIT u.a. ./. Ministero della Sanità), Slg. 1982, 3415, 3430, Nr. 17-20 223 Dazu Sloan, Statutory Interpretation in the EU, S. 26 f.
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prägt, sondern von teleologischen Erwägungen, die – übergehend in eine sozusagen meta-teleologische Auslegung224 – dem abstrakten Ziel des Binnenmarktes und dem Gedanken umfassender Integration verpflichtet ist.225 Das wird auch im Urteil des EuGH in van Gend & Loos recht deutlich, dem zweiten Vorabentscheidungsverfahren in der Geschichte der EU überhaupt.226 Zwar ist anzuerkennen, dass die Wortlautauslegung in der Rechtsprechung des EuGH mit zunehmender Festigung des Unionsrechts einen anderen Stellenwert eingenommen hat.227 Allerdings stehen in der EU die besagten strukturellen Besonderheiten einer vollständigen Gleichwertigkeit von Wortlautauslegung und teleologischem Ansatz entgegen. Die besondere Bedeutung teleologischer Argumentation in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ebenfalls daraus, dass er sich im Interpretationsvorgang häufig allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts bedient,228 auf dessen ‚inneres System‘ rekurriert und das über dessen lückenfüllende Funktion hinaus. Des Weiteren bezieht er teleologische Erwägungen nicht nur bei divergierenden Sprachfassungen in seine Betrachtung ein, er verfährt auch umgekehrt und zieht primär Schlüsse aus dem Telos einer Vorschrift oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen und rekurriert zur Absicherung dieses Auslegungsergebnisses (pro forma) auf einen in allen Sprachfassungen identischen Wortlaut bzw. einen Vergleich verschiedener Sprachfassungen.229 Eine klare Rangfolge der Auslegungsmethoden kann folglich nicht ausgemacht werden.230 Der Gerichtshof schreckt zwar hin und wieder nicht davor 224 Lasser, Judicial Deliberations, S. 230. Vgl. dazu Conway, Limits of Legal Reasoning, S. 22; Maduro, Interpreting European Law, S. 3. Eine sich ändernde Rechtsprechungspraxis diesbezüglich meinen Neergaard/Nielsen, in: Neergaard/Nielsen/Roseberry, European Legal Method, S. 95, 127 f. erkannt zu haben. 225 Vgl. Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 355; Ipsen, in: Schwarze, Europäischer Gerichtshof als Verfassungsgericht, S. 29, 50; Everling, JZ 2000, 217, 223; Kakouris, 6 Pace Int’l L.Rev. (1994) 267, 273. Die Rechtsnormen des Unionsrechts sind in der Weise auf Integration ausgelegt, als sie nicht einen vorgefundenen Rechtzustand abbilden, sondern den aktuellen verändern wollen, vgl. Triantafyllou, C.D.E. 2002, 611, 613. Dieses Prinzip liegt auch der Union selbst zugrunde, wie sich aus Art. 1 Abs. 2 EUV ergibt, der von einer „immer engeren Union der Völker Europas“ spricht, vgl. dazu Potacs, EuR 2009, 465474 f. 226 EuGH, Urt. v. 5.2.1963, Rs. 26/62 (NV Algemene Transport-en Expeditie Onderneming van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 24. 227 Seyr, Effet utile, S. 44. 228 Vgl. Maduro, Interpreting European Law, S. 3 f. Zur Auslegung unter Berücksichtigung allgemeiner Rechtsgrundsätze vgl. Tridimas, General Principles, S. 29 ff. 229 Paunio/Lindroos-Hovinheimo, 16 ELJ (2010) 395, 409; Sloan, Statutory Interpretation in the EU, S. 21. 230 Vgl. Arnull, European Court of Justice, S. 611, 617; Buck, Auslegungsmethoden, S. 141; Conway, Limits of Legal Reasoning, S. 22, 24 f.; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 240 f.; Potacs, EuR 2009, 465, 472 f.; a.A. Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 315, 340 ff.
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zurück, einen Wortlaut als ‚eindeutig‘ zu bezeichnen und berücksichtigt in der Folge etwa teleologische Erwägungen überhaupt nicht. 231 Selbst wenn der EuGH den Wortlaut einer Regelung mit gewisser Regelmäßigkeit als Ausgangspunkt der Auslegung nimmt, fühlt er sich diesem insgesamt dennoch nicht in gleicher Weise verpflichtet, wie dies für Gerichte monolingualer Rechtsordnungen gilt. Er kann dies auch nicht sein.232 Die geringere Relevanz des Wortlauts in der Auslegung zeigt sich auch darin, dass der EuGH in aller Regel e contrario-Argumente, wie sie bevorzugt in der Interpretation des detailliert ausgearbeiteten englischen statutory law Platz greifen, nicht zulässt.233 Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der Gerichtshof für entsprechende Auslegungsvorschläge wenig übrig hat.234 b) Die politische Dimension des teleologischen Ansatzes Als Rechtfertigung für den teleologische Ansatz des EuGH wird vorgebracht, dass eine Auslegungsdoktrin, die dem Wortlautargument höheren Stellenwert einräumte, der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit richterlicher Entscheidungen abträglich wären.235 Dieses Argument hat zwar wegen der Sprachenvielfalt im Unionsrecht eine gewisse Attraktivität, auf der anderen Seite kann aber nach derzeitigem Stand der Dinge nur bedingt davon gesprochen werden, EuGH-Entscheidungen seien verglichen mit einer stärker am Wortlaut orientierten Auslegung in einem höheren Maße voraussehbar und damit der Rechtssicherheit zuträglicher.236
231
Vgl. EuGH, Urt. v. 23.10.2003, Rs. C-245/01 (RTL Television GmbH ./. Niedersächsische Landesmedienanstalt für privaten Rundfunk), Slg. 2003 I-12489, Nr. 59. Zur Frage einer acte clair-Doktrin im Unionsrecht, vgl. Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 362 ff. und sogleich unter, S. 137. In der Rechtsprechung des EuGH existieren aber auch umgekehrt Fälle, in denen trotz relativ klarem Wortlaut weitere Auslegungsschritte vollzogen werden, vgl. EuGH, Urt. v. 15.3.1989, Rs. 51/88 (Knut Hamann ./. Finanzamt HamburgEimsbüttel), Slg. 1989, 767, 784, Nr. 18. Vgl. weiter Buck, Auslegungsmethoden, S. 163; Fennelly, 20 Fordham Int’l L.J. (1996) 656, 665. 232 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 374 f.; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 315, 325; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 10. 233 Arnull, European Court of Justice, S. 613; Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 362. 234 So argumentierte z.B. McGuire, Verfahrenskoordination, S. 126 mit dem „nach dem Wortlaut insoweit eindeutigen Anwendungsbereich des Art. 27 EuGVVO (a.F., Anm. des Verfassers)“, der in Fällen einer ausschließlichen Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts nichtsdestotrotz anzuwenden sei. Der EuGH sah dies anders, ohne sich mit dem Wortlaut der Regelung überhaupt zu beschäftigen, vgl. EuGH, Urt. v. 3.4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469, dazu, s.u., S. 297 ff. 235 Paunio/Lindroos-Hovinheimo, 16 ELJ (2010) 395, 410; in diese Richtung auch Fennelly, 20 Fordham Int’l L.J.(1996) 656, 665. 236 Vgl. z.B. Adinolfi, in: Micklitz/de Witte, European Court of Justice, S. 281, 288; a.A. Maduro, Interpreting European Law, S. 7.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Dem EuGH in Methodenfragen jedoch Ignoranz zu unterstellen, wäre vermessen.237 Beschränkt man sich bei der Untersuchung der Interpretationsmethodik des EuGH auf die von einem nationalen Methodenverständnis geprägte handwerkliche Ausführung lege artis, droht dies den Blick für gewichtige politische Gründe zu verstellen, die zur Herausbildung seines Interpretationskonzepts geführt haben.238 Gerade diese Hintergründe sind für die Verortung des Missbrauchsverbots im Unionsrecht von besonderer Bedeutung.239 Der ‚offene Ansatz‘ des Gerichtshofs – der Fokus auf teleologische Erwägungen, Vermeiden einer klaren Hierarchie der Auslegungsmethoden – ist auf Grundlage der Besonderheiten des Unionsrechts, der Union an sich und der veränderten Rolle des EuGH in diesem Zusammenhang zu beleuchten und zu bewerten.240 In jedem zu ihm gebrachten Verfahren versucht der Gerichtshof, durch die Lösung der sich hierbei ergebenden individuellen Fragen die Fortentwicklung des Unionsrechts sicherzustellen und dem Ziel möglichst umfassender Integration zu dienen. Für den Bereich grenzüberschreitenden Zivilrechtsverkehrs haben hierbei in der Vergangenheit die Normen des Europäischen Zivilverfahrensrechts eine erhebliche Rolle gespielt.241 Es ist jedoch ungleich einfacher, den genannten, sehr abstrakten Policybzw. Zielvorgaben gerecht zu werden, wenn ergebnisorientiert vorgegangen und die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Resultat der Rechtsanwendung gelenkt wird, weniger auf die Rechtsanwendung an sich.242 In einer von Pluralismus geprägten Gemeinschaft, wie der EU, erhält sich der Gerichtshof hiermit eine gewisse Flexibilität, die freilich unter rechtsstaatlichen und kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten problematisch ist.243 Aus der Perspektive der Politikwissenschaft hat insbesondere Höpner anschaulich dargelegt, wie der EuGH mit der Zeit selbst zu einem politischen Akteur auf der europäischen Bühne geworden ist, der sich „vom ‚Hüter der
237 Krasse Ausnahmen, wie z.B. die Mangold-Entscheidung, bestätigen die Regel, vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2005, Rs. C-144/04 (Werner Mangold ./. Rüdiger Helm), Slg. 2005, I9981, dazu Jahn, NJW 2008, 1788, 1788: “Methodenwillkür”. 238 Dies in der Sache bestätigend Streinz, in: Griller/Rill, Rechtstheorie, S. 223, 255; Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, S. 152. 239 Vgl. unten, S. 142 ff. 240 Vgl. ausführlich Maduro, Interpreting European Law, passim. 241 Vgl. Hay/Lando/Rotunda, in: Cappelletti/Seccombe/Weiler, S. 161 ff.; vgl. auch Gillies, 8 J. Priv. Int. L. (2012) 489, 490 f. 242 Vgl. Conway, Limits of Legal Reasoning, S. 26: “Failing to make explicit interpretative assumptions makes inconsistency less obvious; it focuses attention on outcomes, rather than process. That facilitates judicial choice and discretion […].” 243 Vgl. die Nachweise bei Neergaard/Nielsen, in: Neergaard/Nielsen/Roseberry, European Legal Method, S. 95, 118.
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
135
Verträge‘ zum ‚Motor der Integration‘ entwickelt hat.“ 244 Höpner unterstreicht, wie der teleologische Ansatz des Gerichtshofs als Transmissionsriemen dieses Prozesses fungiert, der durch kontinuierliche Fortbildung des Rechts eine Ausweitung des Kompetenzbereichs europäischer Institutionen und des Wirkbereichs europäischen Rechts bedingt.245 Mit Blick auf die Gründungsverträge verwirklicht der EuGH mit einer derartigen Auslegungsstrategie etwas, was Ipsen plastisch beschrieben hat als „Integrationsverfassung, (die) selbst auf den Wandel hin ausgelegt (ist).“246 Dieser Zusammenhang von Auslegungsstrategie und den abstrakten Zielen der Union wird bei der Einordnung des Missbrauchsverbots in den unionsrechtlichen Gesamtzusammenhang eine wichtige Rolle spielen, vor allem auch, was die Möglichkeiten teleologischer Reduktion angeht.247 Denn schließlich sind nach dem Gesagten gerade Lösungen zu vermeiden, welche den dargestellten Zielen der Union zuwiderlaufen. 2. ‚Eindeutiger‘ Wortlaut und Hierarchie von Auslegung und Missbrauchsverbot hinsichtlich dessen Anwendungsvoraussetzungen Diese Eckpunkte abgesteckt, fragt sich, wie die Formulierung ‚formales Vorliegen‘ der Tatbestandsvoraussetzungen einer Rechtsnorm nun zu verstehen ist. Man könnte den Schluss ziehen, dass hiermit ein Sachverhalt gemeint ist, der auf den ersten Blick, ohne nähere methodische Untersuchung, ohne Auslegung, „den Buchstaben des Gesetzes“ entspricht.248 Unter dieser Prämisse bieten sich zwei Deutungsmöglichkeiten an: Man könnte diese Annahme mit acte clair-Erwägungen nach französischem Vorbild bzw. den hinter der sog. literal oder plain meaning rule des englischen Rechts stehenden Gedanken anreichern, wonach eine Norm dann nicht ausgelegt werden muss und darf, wenn 244 Höpner, dms 2010, 165, 16; teils a.A. Everling, JZ 2000, 217, 224. Die Ansicht von Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, S. 138, die politische Dimension der Rolles des EuGH sei in der deutschen Politikwissenschaft noch nicht hinreichend untersucht, überzeugt schon alleine mit Blick auf die Arbeiten Höpners nicht. 245 Höpner, Usurpation statt Delegation, S. 6, 12 u. 23 f. Ein Beispiel aus dem Europäischen Zivilverfahrensrecht ist das Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, in dem sich der Gerichtshof u.a. mit der Frage zu befassen hatte, ob das EuGVÜ auch dann zur Anwendung gelangt, wenn der Rechtsstreit nur eine Verbindung zu einem Vertragsstaat und einem Drittstaat aufweist. Die mit der Entscheidung letztlich verbundende Ausweitung des Anwendungsbereichs des Übereinkommens wurde vor allem von englischer Seite heftig kritisiert, vgl. z.B. Briggs, 121 L.Q.R. (2005) 535, 539 f. 246 Ipsen, in: Schwarze, Europäischer Gerichtshof als Verfassungsgericht, S. 29, 50. Ähnlich Basedow, in: Micklitz/de Witte, European Court of Justice, S. 65, 72; ein anderes Rollenverständnis des EuGH unter mittlerweile anderen Umständen anmahnend Streinz, in: Griller/Gill, Rechtstheorie, S. 223, 256 f. 247 S.u., S. 142 248 So Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 531.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
ihr Wortlaut eindeutig ist. Ein eindeutiger Wortlaut führt im Sinne dieser Ansätze dazu, dass eine Norm angewandt werden muss, auch wenn dies zu widersinnigen Ergebnissen führt.249 So verstanden wäre das unionsrechtliche Missbrauchsverbot in Teilen ein Korrekturmechanismus auf nachgelagerter Ebene, bei Vorliegen eines eindeutigen Wortlauts. Allerdings stellt die Annahme, es gebe Rechtsnormen mit eindeutigem Wortlaut, die einer Auslegung nicht bedürfen, nach modernem Methodenverständnis einen Zirkelschluss dar: Sie ist selbst Auslegung.250 Das gilt, entgegen vereinzelter Entscheidungen des Gerichtshofs251, umso mehr im Unionsrecht, wegen der dort vorhandenen Sprachenvielfalt. Hier kann guten Gewissens nie von einem eindeutigen Wortlaut gesprochen werden; acte clair-Erwägungen bzw. die literal rule können im Unionsrecht keinen Platz haben.252 Man könnte die Formulierung aus Emsland-Stärke ebenfalls so verstehen, dass eine Norm bloß dem anerkanntermaßen nicht ohne weiteres aussagekräftigen Wortlaut nach erfüllt ist. Das ‚formale Vorliegen‘ der Tatbestandsvoraussetzungen einer Rechtsnorm diente damit eher der Beschreibung des Sachverhalts, in dem Missbrauchserwägungen Eingang finden könnten, als dass dies zu rechtlichen Schlussfolgerungen führen würde. In diesem Sinne wäre der Prüfungspunkt ‚formales Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen einer Rechtsnorm‘ allerdings keine Anwendungsvoraussetzung des Missbrauchsverbots. Es ergibt schließlich keinen Sinn, die Entscheidung über die Anwendung einer bestimmten Rechtsfigur von einem relativ beliebigen Umstand abhängig zu machen. Letztere Sichtweise hätte überdies zur Folge, dass das Missbrauchsverbot primär und ohne die Auslegung der relevanten Vorschrift zur Anwendung käme. Eine derartige Annahme wird von der tatsächlichen Vorgehensweise des EuGH und der Generalanwälte allerdings nicht gestützt. Hingewiesen sei auf die Schlussanträge des GA Mázak in der Rechtssache RBS Deutschland. Hierin betont der GA, dass die Auslegung der missbrauchten Vorschrift und die Anwendung des Missbrauchsverbots getrennt von- und vor allem nacheinander zu
249
Für das Common Law, vgl. oben, S. 89. Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, S. 146 f. Larenz/Canaris, Methodenlehre, S. 141; Busche, in: MüKo-BGB § 133 BGB Rn. 53 m.w.N.; Weinheimer, NJW 1959, 566, 566; im Übrigen, vgl. Meder, Mißverstehen und Verstehen, S. 18 m.w.N. 251 Vgl. oben Fn 231. 252 Buck, Auslegungsmethoden, S. 162 m.w.N.; Grundmann, Auslegung, S. 194 f.; Martens, Methoenlehre des Unionsrechts, S. 364; Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 315, 323, 341; Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 359 f., mit Nachweisen zur Gegenansicht; Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 11; Paunio/Lindroos-Hovinheimo, 16 ELJ (2010) 395, 416. Einen eindeutigen Wortlaut für möglich hält hingegen Seyr, Effet utile, S. 37, wenngleich dies „eher als Ausnahmefall zu betrachten“ sei. 250
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
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erfolgen habe.253 In dieser Weise ist auch der EuGH in seinem daraufhin ergangenen Urteil 254 und in anderen Entscheidungen verfahren. 255 So legte er beispielsweise im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Slowakische Republik zuerst die Art. 27 und 30 der Freizügigkeitsrichtlinie256 aus und konnte es dann, da er deren Anwendungsvoraussetzungen nicht für gegeben erachtete, mit einem als Obiter Dictum ergangenen Hinweis auf die im Übrigen nicht vorliegenden Voraussetzungen des Missbrauchsverbots bewenden lassen.257 Eine entsprechende Prüfungsreihenfolge findet sich gleichfalls in den Schlussanträgen der GA Trstenjak in der Rechtssache Budějovický Budvar: Nach Auslegung des streitgegenständlichen Richtlinienartikels widmet sie sich am Ende ihrer Ausführen der Frage, ob eine Korrektur im Sinne des Rechtsmissbrauchsverbots angezeigt ist.258 Das ‚formale Vorliegen‘ der Tatbestandsvoraussetzungen kann also nur dahingehend gedeutet werden, dass der Sachverhalt der ausgelegten Rechtsnorm 253
Schlussanträge des GA Mázak v. 30.10.2010, Rs. C-277/09 (The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs ./. RBS Deutschland Holdings GmbH), Slg. 2010, I13805, Nr. 28; dazu Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 559, der allerdings nicht recht deutlich macht, ob er eine Trennung von Auslegung und Missbrauchsverbot bei der Prüfung der Eingangsvoraussetzungen des letzeren befürwortet oder ob er sich auf dessen Wirkungsweise bezieht. Im Sinne des GA Mázak auch die Schlussanträge der GA Kokott, s.u. Fn. 271. 254 EuGH, Urt. v. 22.12.2010, Rs. C-277/09 (The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs ./. RBS Deutschland Holdings GmbH), Slg. 2010, I-13805, 13840 ff. Nr. 28 u. 47; vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 559. 255 Z.B. EuGH, Urt. v. 8.9.2011, verb. Rs. C-78/08 bis 80/08 (Ministero dell’Economia e delle Finanze und Agenzia delle Entrate ./. Paint Graphos Soc. coop. Arl; u.a.), Slg. 2011, I7611, 7643, Nr. 1: „Die Vorabentscheidungsverfahren betreffen die Auslegung von Art. 87 EG und des Rechtsmissbrauchsverbots im Steuerrecht“. Auch in älteren Entscheidungen findet sich diese Prüfungsreihenfolge, z.B. im Urt. v. 6.4.2006, Rs. C-456/04 (Agip Petroli SpA ./. Capitaneria di porto di Siracusa u.a), Slg. 2006, I-3395, 3419, Nr. 18: „Doch können ungeachtet dieser Feststellung (Anmerkung des Verfassers: dieser Auslegung) Ballastfahrten, die missbräuchlich unternommen werden, um die Bestimmungen des Artikels 3 der Verordnung und das mit der Verordnung selbst verfolgte Ziel, wie es in Randnummer 13 des vorliegenden Urteils dargestellt ist, zu umgehen, nicht zugelassen werden.“ Vgl. auch die Nachweise bei Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 430. 256 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. L 158 v. 30.4.2004, S. 77. 257 EuGH, Urt. v. 16.10.2012, Rs. C-364/10 (Ungarn ./. Slowakische Republik), BeckRS 2012, 82022, Nr. 59. 258 Schlussanträge der GA Trstenjak v. 3.2.2011, Rs. C-482/09 (Budějovický Budvar, národní podnik ./. Anheuser-Busch Inc.), Slg. 2011, I-8701, 8745 ff., Nr. 118 ff.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
an sich unterfällt.259 Deren Rechtsanwendungsbefehl ist erteilt, steht aber unter dem Vorbehalt des Missbrauchsverbots. Diese Sichtweise fügt sich gut in das auf nationaler Ebene ermittelte Verhältnis von Auslegung und speziellen Missbrauchsverhinderungsmaßnahmen ein. Erinnert sei an den Vorbehalt der Auslegung in Fällen des abus de droit260 und des Verbots unzulässiger Rechtsausübung261 oder vor Anwendung der fraude à la loi im französischen Recht:262 Dort müssen gerade die Möglichkeiten der Auslegung ausgeschöpft sein, bevor ein Rückgriff auf die weitergehende Eingriffsbefugnisse gewährende Rechtsfigur zugelassen wird. Im deutschen Recht wird parallel hierzu die Subsidiarität rechtsfortbildender Maßnahmen gegenüber der Auslegung aus kompetenzrechtlichen Gründen betont. 263 Die hier vertretene Sichtweise wird auch dadurch gestützt, dass der EuGH in neueren Entscheidungen davon spricht, bei einer „formale(n) Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen“264 drohe deren Missbrauch. Letztendlich überzeugt diese Sichtweise aber deshalb, da nur mit einem Vorrang der Auslegung vor der Anwendung des Missbrauchsverbots die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts so weit wie möglich gewährleistet wird. Denn als Folge des Missbrauchsverbots steht die Nichtanwendung von Unionsrecht.265 Diese weitreichenden Befugnisse den Mitgliedstaaten ohne jede Einschränkung zu eröffnen, kann nicht überzeugen. Dem Filter der Auslegung kommt in Missbrauchsfällen allerdings nicht dieselbe Bedeutung zu, wie in (manchen) nationalen Rechtsordnungen, was im Folgenden gezeigt wird. 3. Zusammenspiel von Auslegung und Missbrauchsverbot Wie dargestellt, hat die Normauslegung vor der Anwendung des Missbrauchsverbots ihren legitimen Platz. Dem rechtsvergleichenden Grundlagenteil der Arbeit kann entnommen werden, wie in den Mitgliedstaaten häufig schon über diesen ersten Arbeitsschritt missbräuchliches Verhalten verhindert werden kann. Besonders in Fällen des zielgerichteten Vermeidens und des Erschleichens von Rechtsnormen lassen sich sinnvolle Ergebnisse über eine teleologische Auslegung, die analoge Anwendung einer zu vermeiden versuchten Rechtsnorm oder die teleologische Reduktion einer zu erschleichen versuchten 259 Im Anwendungsbereich von richtlinienumsetzenden nationalen Vorschriften bereitet diese Prüfung naturgemäß Schwierigkeiten, was hier aber nicht weiter vertieft werden soll, vgl. dazu Eidenmüller, KTS 2009, 137, 145. 260 S.o. S. 49. 261 S.o., S. 32. 262 S.o., S. 83 f. 263 S.o, S. 33. 264 Z.B. EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1676, Nr. 74. 265 Vgl. unten, S. 167.
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Rechtsnorm erzielen.266 Damit stellt sich die Frage, inwieweit die hier interessierenden Missbrauchskonstellationen schon durch das gewöhnliche Auslegungsinstrumentarium des EuGH erfasst werden können. Immerhin räumt der Gerichtshof teleologischen Erwägungen in der Auslegung von Unionsrecht einen großen Stellenwert ein. Dieser Auslegungsansatz scheint auf den ersten Blick geradezu prädestiniert, Missbrauch zu verhindern. Und tatsächlich beschäftigt sich der EuGH in einigen der oben dargestellten Entscheidungen lediglich mit Fragen der Auslegung.267 Hieraus ergibt sich die Frage nach der Notwendigkeit eines eigenständigen Missbrauchsverbots.268 Noch undurchsichtiger wird die Situation dadurch, dass, wie häufig zu lesen ist, das unionsrechtliche Missbrauchsverbot (gerade) über die Auslegung wirke269 bzw. im Wege der Auslegung und als eigenständige Rechtfertigung für Entscheidungen contra legem 270 . Wie stehen demnach Auslegung und Missbrauchsverbot zueinander? Stellt das Missbrauchsverbot nur eine Erweiterung des gewöhnlichen Auslegungsspielraums zugunsten der mitgliedstaatlichen Institutionen dar? Die Arbeit kommt in nachfolgendem Abschnitt zu dem Ergebnis, dass eine Lösung von Missbrauchssachverhalten auf einer der Auslegung nachgelagerten Ebene erfolgen muss und nicht mit jener vermengt werden darf.271 Zum einen, 266
S.o. S. 92 ff. Vgl. die Nachweise bei Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 429 f. Mit Blick auf den Missbrauch von Grundfreiheiten ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Schwenk von der Tatbestands- auf die Rechtfertigungseben zu beobachten, vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 529, 552. Natürlich handelt es sich auch bei der Auslegung der Rechtfertigungsgründe um Auslegung, allerdings zeigt der Gerichtshof hiermit, dass Missbrauch keine allgemeine Frage der Reichweite einer Rechtsposition ist, sondern dass es um eine Einschränkung im Einzelfall geht. 268 Dezidiert: Schlussanträge des GA Tesauro v. 4.2.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1996, I-2843, 2856, Nr. 23. Vgl. auch Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 558 f. 269 Z.B. Baudenbacher, ZfRV 2008, 205, 214; Dourado, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 469, 470; Eidenmüller, KTS 2009, 137, 144; Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1283 ff.; Wilke, UR 2011, 925, 930. Vgl. auch die Schlussanträge des GA Maduro v. 7.4.2005, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1638, Nr. 69. 270 Vgl. de la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 438; Snell, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 219, 227 f.; ähnlich Zimmermann, Rechtsmissbrauch, S. 203 f. und Sørensen, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 25, 27. 271 Ebenso Cuniberti, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 282; Ranieri, in: Ranieri, Die Europäisierung der Rechtswissenschaft, S. 132; Schmidt-Kessel, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2001, S. 61, 73; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 559; Weber, 31 LIEI (2004) 43, 51; vgl. auch die Schlussanträge der GA Kokott v. 17.3.2005, Rs. C-63/04 (Centralan Property Ltd ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2005, I-11087, 11104, Nr. 60 f.: „Die hier vertretene Auslegung der Sechsten Richtlinie schließt es jedoch aus, dass diese künstlichen 267
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weil die Forderung nach praktischer Wirksamkeit von Unionsrecht die gewöhnlichen Möglichkeiten der Auslegung in Missbrauchssachverhalten einschränkt, es überdies methodisch nicht überzeugend ist, die Wirkungen des Missbrauchsverbots im Sinne einer nachgelagerten Korrektur des gefundenen Auslegungsergebnisses einzuordnen und letztlich die Kompetenzverteilung zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten gerade einen derartigen Ansatz fordert. Auch wenn sich die praktischen Ergebnisse im Einzelfall nicht unterscheiden mögen, sprechen doch Erwägungen für diese Einordnung, die sich auf das Unionsrechts als Gesamtsystem beziehen. In der Erörterung dieser Fragen ist es unerlässlich, schon einige an spätere Stelle zu besprechende Punkte vorweg zu nehmen. a) Effet utile und Anwendungsvorrang von Unionsrecht als limitierende Faktoren missbrauchsorientierter Auslegung Der Gerichtshof verfolgt mit der Auslegung von Unionsrecht das übergeordnete Ziel möglichst umfassender Integration.272 Seine Methode ist, wie schon angeklungen, naturgemäß auf eine Ausweitung des Anwendungsbereichs von Unionsrecht angelegt,273 das wegen seines Anwendungsvorrangs274 nationales Recht verdrängt. Bekanntestes Stilmittel in der Rhetorik des Gerichtshofs ist hierbei die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts, dessen effet utile. Kurz gesagt zwingt der effet utile-Grundsatz den Rechtsanwender unter anderem dazu, eine Rechtsnorm so zu handhaben, dass ihr Regelungsziel voll oder auch bestmöglich erreicht wird.275 Dabei ist er verpflichtet, zwischen mehreren Auslegungsvarianten diejenige zu wählen, welche die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts – dessen Anwendung – bedingt.276 Besondere Bedeutung erlangt Operationen zu einer Steuerbefreiung führen, die den Zielen der Richtlinie zuwiderläuft und die unter Rückgriff auf ungeschriebene Grundsätze, wie das Verbot des Rechtsmissbrauchs, korrigiert werden müsste.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser). Interessant mit Blick auf das System des Europäischen Ziviverfahrensrechts Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 34, freilich ohne Bezug auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot. 272 S.o. Fn. 225. 273 Vgl. oben S. 132 ff. 274 Grundlegend: EuGH, Urt. v. 15.7.1964, Rs. 6/64 (Flamino Costa ./. E.N.E.L.), Slg. 1964, 1253. 275 Z.B. EuGH, Urt. v. 19.12.2013, Rs. C-84/12 (Rahmanian Koushkaki ./. Bundesrepublik Deutschland), NVwZ 2014, 289, 292, Nr. 76: „volle Wirksamkeit des Unionsrechts“; EuGH, Urt. v. 17.10.2013, Rs. C-184/12 (United Antwerp Maritime Agencies (Unamar) NV ./. Navigation Maritime Bulgare), EuZW 2013, 956, 958, Nr. 49: „volle Wirksamkeit“; Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, Rn. 103 (größter praktischer Nutzen; Erreichen der Normziele „möglichst in idealer Weise“); Riesenhuber, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 315, 337. 276 EuGH, Urt. v. 14.10.1999, Rs. C-223/98 (Adidas AG), Slg. 1999, I-7081, 7107, Nr. 24; vgl. dazu Seyr, Effet utile, S. 292 f.
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der effet utile, wenn der Vollzug des Unionsrechts in einem nationalen Verfahrens erfolgt: Hier verpflichtet er die Mitgliedstaaten, bei der Anwendung des nationalen Rechts die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts nicht zu beeinträchtigen, womit er die Funktion eines bloßen Auslegungsgrundsatzes verlässt.277 Die Bedeutung des effet utile für die Rechtsentwicklung in der Union ist demnach erheblich, was jedoch nicht immer durch die mitgliedstaatliche Methodik nachvollzogen wird.278 Für das Verständnis des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots sind effet utile und der hiermit zusammenhängende Vorrang des Unionsrechts entscheidend.279 Im übertragenen Sinne erzeugt die Forderung nach praktischer Wirksamkeit meines Erachtens eine vergleichbar starke Bindung der mitgliedstaatlichen Institutionen in der Normanwendung, wie sie im französischen Recht des 19. Jahrhunderts und dem Recht des Common Law mit der Bindung an den Gesetzeswortlaut existierte; 280 die damit einhergehenden Unwägbarkeiten in Missbrauchssachverhalten hatten etwa im französischen Recht zur Herausbildung der fraude à la loi geführt.281 Was den effet utile im Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten angeht, so gewährt das unionsrechtliche Missbrauchsverbot heutzutage meines Erachtens ähnliche methodische Freiheiten unter einer anderen Art des Zwangs: Die Möglichkeit der Nichtanwendung von Unionsrecht, trotz der grundsätzlich bestehende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das Unionsrecht zu vollziehen, dessen Anwendungsvorrang sicherzustellen und hierdurch dessen praktische Wirksamkeit zu gewährleisten.282 Der Stellenwert gewöhnlicher (teleologischer) Auslegung in der Auflösung von Missbrauchssachverhalten muss daher gering sein. Selbst wenn sich so in Randbereichen Gesetzesumgehung und missbräuchliche Rechtsausübung verhindern lässt, die Forderung nach praktischer Wirksamkeit des Unionsrechts 277 Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, S. 156, 159; Tomasic, Effet utile, S. 213; Bobek, in: Micklitz/de Witte, European Court of Justice, S. 305, 316; vgl. EuGH, Urt. v. 14.10.1999, Rs. C-223/98 (Adidas AG), Slg. 1999, I-7081, 7108, Nr. 25. 278 Vgl. Rösler, Rechtstheorie 43 (2012), 495, 497. 279 So auch Ringe, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 107, 113. Vgl. auch Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 459. 280 Vgl. oben S. 83 ff. und S. 88 ff. 281 Vgl. oben, S. 83. 282 Vgl. Simpson, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 485, 486, der für den Bereich des Steuerrechts das Missbrauchsverbot als ein Zugeständnis an die Mitgliedstaaten in diesem Kontext ansieht (“abuse reasoning by the Court as a ‘shield’, ie as a means of protecting domestic tax provisions”). Natürlich kann das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch Organe der Union legitimieren und verpflichten, Unionsrecht unter bestimmten Umständen nicht anzuwenden, wenn diese unmittelbar Unionsrecht vollziehen, vgl. EuG, Urt. v. 8.5.2007, Rs. T-271/04 (Citymo SA ./. Kommission), Slg. 2007, II-1375 und Tridimas, General Principles, S. 44 ff. Sein Ursprung liegt aber im Verhältnis der EU zu den Mitgliedstaaten. Vgl. auch Simon/Rigaux, Mélanges en hommage à Guy Isaac, S. 559, 581.
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steht einer solchen Lösung regelmäßig entgegen. Denn jede Einschränkung des Anwendungsbereichs einer unionsrechtlichen Norm durch Auslegung in einem Missbrauchsfall bewirkt eine über das inter partes-Verhältnis hinausgehende Verkürzung des Wirkbereichs von Unionsrecht. In diesem Sinne unproblematisch sind zwar Fälle des Vermeidens von Rechtsnormen, denn diese lassen sich, wie die Ausführungen zum deutschen Recht gezeigt haben, durch eine (extensive) teleologische Auslegung und eine gegebenenfalls durchzuführende Analogiebildung lösen.283 Das muss unbefangen betrachtet auch für das Unionsrecht gelten. Und tatsächlich dehnt der EuGH mit einer gewissen Regelmäßigkeit Rechtsnormen über ihren Wortlaut und ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus aus.284 Hiermit wird zum einen der Geltungsanspruch des Unionsrechts durchgesetzt und – entsprechend des integrativen Ansatzes des EuGH – dessen Einflussbereich systematisch vergrößert. Ein Konflikt mit dem Prinzip praktischer Wirksamkeit von Unionsrecht besteht nicht. Handlungsbefugnisse, die über den teleologischen Ansatz des EuGH hinausgehen, erscheinen hier grundsätzlich285 nicht notwendig. Jedoch lassen sich Fälle reiner Normvermeidung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie dargestellt, selten bis gar nicht finden.286 Für den letztendlich interessierenden Untersuchungsgegenstand, das Europäische Zivilverfahrensrecht, ist diese Spielart missbräuchlichen Verhaltens ohnehin von untergeordneter Bedeutung. Die Umgehungs-Rechtsprechungslinie des EuGH wurde anhand von Fällen entwickelt, in denen die Vermeidung nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht erstrebt wurde. Dass diese Fälle parallel zu den Anwendungsfällen der französischen fraude à la loi287 funktional eine Normerschleichung darstellen, wurde schon gezeigt.288 Würde man nach deutschem Vorbild versuchen, diese Fallgestaltung mittels teleologischer Reduktion der unionsrechtlichen Vorschrift zu lösen, stünde auch hier wieder ein Konflikt mit dem Gebot praktischer Wirksamkeit im Raum. Der teleologische Ansatz des 283
Vgl. oben S. 65. Vgl. die Nachweise bei Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 363 und Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 202 f. Vor allem bei Befugnisnormen, welchen den mitgliedstaatlichen Gerichten die Kompetenz zur Nichtanwendung von Unionsrecht bzw. einer gewissen Hemmung der Binnenmarktfreizügigkeit einräumen, pflegt der EuGH aber wiederum einen sehr restriktiven Ansatz, vgl. EuGH, Urt. v. 26.9.2013, Rs. C-157/12 (Salzgitter Mannesmann Handel GmbH ./. SC Laminorul SA), NJW 2014, 203, 204, Nr. 39, zur analogen Anwendung des Art. 34 Nr. 4 EuGVVO a.F. auf zwei in demselben Mitgliedstaat ergangene Entscheidungen. Zwar könnten gerade diese Normen häufig zur Verhinderung von Missbräuchen beitragen, indem sie über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hin ausgedehnt werden. Dies erfährt jedoch offensichtlich nicht die Billigung des Gerichtshofs, krit. zu Recht Mäsch, EuZW 2013, 905 f. 285 Vgl. aber die Ausführungen in Fn. 284. 286 S.o. S. 125. 287 S.o. S. 83. 288 S.o. S. 124. 284
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Gerichtshofs weist gerade in eine andere Richtung und wird hier in der Regel nicht als Lösungsansatz fungieren können.289 Das bestätigt sich auch für das Europäische Zivilverfahrensrecht.290 Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass die teleologische Reduktion in der Methodik des EuGH ganz allgemein kein besonders häufig verwandtes Mittel der Rechtsfortbildung darstellt. 291 So hat er sich in der Rechtssache Neumann ausdrücklich gegen die Reduktion eines Verordnungsartikels ausgesprochen und dies mit dem effet utile der Regelung begründet: „Gegen diese Zuständigkeitsverteilung würde es nämlich verstoßen, wenn eine innerstaatliche Behörde berechtigt oder sogar verpflichtet wäre, eine Bestimmung des Gemeinschaftsrechts in einem Fall nicht anzuwenden, in dem sie meint, daß die Anwendung dieser Vorschrift zu einem Ergebnis führen würde, das der Verordnungsgeber erkennbar zu vermeiden gesucht hätte, wenn er beim Erlaß der betreffenden Bestimmung an diesen Fall gedacht hätte. Die Anerkennung eines solchen allgemeinen Grundsatzes wäre geeignet, die volle Entfaltung der Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen in den Mitgliedstaaten zu verhindern und würde den wesentlichen Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in der gesamten Gemeinschaft beeinträchtigen.“292
Gleiches gilt für die Fälle missbräuchlicher Rechtsausübung: Zum einen geht es auch hier darum, Unionsrecht unter bestimmten Voraussetzungen nicht anzuwenden, was wiederum vor dem Prinzip praktischer Wirksamkeit zu rechtfertigen wäre. Eine teleologische Auslegung ist aber deshalb nicht zielführend, weil in Konstellationen missbräuchlicher Rechtsausübung die Umstände der Ausübung entscheidend sind und nicht zentral auf die Zwecke der Rechtsnorm abgestellt werden kann. In den oben dargestellten griechischen Fällen billigte der EuGH die Nichtanwendung von Unionsrecht, weil die entsprechenden Aktionäre unter anderem ein relativ geringes Eigeninteresse an der Rechtsausübung hatten und sich in ihrem Verhalten widersprachen. 293 Zwar wird das (schutzwürdige bzw. legitime) Eigeninteresse wiederum über den Zweck der 289
Vgl. Schön, in: FS Wiedemann, S. 2171, 1285. Zweifelnd bezüglich einer teleologischen Reduktion des Art. 29 EuGVVO in Fällen sog. Torpedoklagen Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 722; vgl. auch Thole, ZZP 122 (2009), 423, 439, der die Haltung des EuGH in Freeport mit dessen restriktiver Haltung bezüglich einer teleologischen Reduktion erklärt. 291 Vgl. Conaway, Limits of Legal Reasoning, S. 170; Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 374 f.; teilweise anders ders., in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 559; Forsthoff, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 45 AEUV Rn. 302; hingegen zur Cassis de Dijon-Entscheidung des EuGH als Anwendungsfall einer teleologischen Reduktion Walter, Rechtsfortbildung durch den EuGH, S. 182 ff. Im Übrigen vgl. Thole, ZZP 122 (2009), 423, 439 zur Freeport-Entscheidung des EuGH und der Frage der Übertragbarkeit des Missbrauchsvorbehalt aus Art. 6 Nr. 2 EuGVVO a.F. (= Art. 8 Nr. 2 EuGVVO) auf dessen Nr. 1. 292 EuGH, Urt. v. 14.11.1985, Rs. 299/84 (Firma Karl-Heinz Neumann ./. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1985, 3663, 3688, Nr. 25. 293 Vgl. S. 128 ff. 290
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Regelung bedingt, 294 dennoch beruht die Einschränkung deren Geltungsbereichs vor allem auf der entsprechenden Intention des Handelnden; in Fällen widersprüchlichen Verhaltens versagt die Frage nach dem Gesetzeszweck sogar gänzlich. Hiermit ist die Notwendigkeit des Missbrauchsverbots aufgezeigt und dessen Anwendungsbereich abgesteckt: In fraude à la loi-Konstellationen, Fällen reiner Normerschleichung und solchen missbräuchlicher Rechtsausübung darf und muss auf Grundlage des unionsrechtlichen Missbrauchsverbot, entgegen des Prinzips praktischer Wirksamkeit, Unionsrecht nicht angewandt werden. Die Verbindung zum effet utile ergibt sich daraus, dass eine Durchbrechung dieses Grundsatzes (nur) unter den Voraussetzungen des Missbrauchsverbots möglich ist. Dieses fordert, wie noch dazustellen ist, mit der Missbrauchsabsicht ein subjektives Element, womit hohe Hürden für die Nichtanwendung von Unionsrecht aufgestellt werden, was ganz im Sinne der praktischen Wirksamkeit von Unionsrecht und dem integrativen Ansatz des EuGH ist.295 b) Trennung von allgemeingültiger Auslegung und einzelfallbezogener Rechtsanwendung Im Unionsrecht ist es nicht einfach, zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung nach deutschem Methodenverständnis zu unterscheiden. Der EuGH sieht beides in französisch-rechtlicher Tradition als Frage der intérprétation.296 Dagegen spricht nicht, dass es dem EuGH gemäß Art. 267 AEUV obliegt, über die ‚Auslegung‘ von Unionsrecht zu befinden. Dieser Begriff ist schließlich autonom auszulegen und umfasst die schon angesprochene Befugnis zur Rechtsschöpfung.297 Man könnte demnach die Notwendigkeit der Zuordnung
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Vgl. oben Fn. 125. So auch Weber, 31 L.I.E.I. (2004) 43, 52. Auf dieser Linie, wenngleich in die Auslegung von Unionsrecht einbeziehend Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1285. Vgl. dazu unten S. 154 ff. Anders: Baudenbacher, ZfRV 2008, 205, 216, die gar meint, das subjektive Element sei als Hindernis einer vermehrten Anwendung des Missbrauchsverbots fehl am Platz. Diese Einschätzung widerspricht jedoch offensichtlich der Idee des Unionsrechts und des durch den EuGH gepflegten Auslegungsansatzes und ist damit systemwidrig. Die Bedeutung der Missbrauchsabsicht als bewusst zur Limitierung potentiellen Missbrauchs und damit der Nichtanwendung von Unionsrecht verwandten Elements bleibt Baudenbacher verschlossen. 296 Höpfner/Rüthers, AcP 209 (2009), 1, 5; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 224, 246; Rösler, Rechtstheorie 43 (2012), 496, 511; vgl. auch Vogenauer, Gesetzesauslegung, S. 366. Zum französischen Recht, s.o. S. 49 f. Speziell zur Rechtsfortbildung im Sinne der französisch-rechtlichen intérprétation vgl. Walter, Rechtsfortbildung, S. 47 ff. Anderer Befund bei Hess, IPRax 2006, 348, 361 für das Europäische Zivilverfahrensrecht. 297 S.o. Fn. 21. 295
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zu einer der beiden – vielleicht nur dem deutschen Juristen sichtbaren298 – Kategorien bestreiten. Allerdings zeigen insbesondere die oben schon angesprochene Rechtssache RSB Deutschland und Folgeentscheidungen 299 , dass der EuGH eine Trennung beider Komplexe in Fällen des Missbrauchs tatsächlich vornimmt. Die kompetenzrechtliche Bedeutung dieser Trennung muss nicht hervorgehoben werden. Im Folgenden sollen noch weitere Argumente für eine Zuordnung des Missbrauchsverbots zu einer von Fragen der Auslegung unabhängigen Ebene dargelegt werden. Erstens ist es notwendig, das Missbrauchsverbot von Fragen der Auslegung zu trennen, da die Alternative, eine nachträgliche oder inzidente Änderung des Auslegungsergebnisses aufgrund subjektiver Momente in der Person des Handelnden, unter methodischen Gesichtspunkten nicht überzeugen kann. Die Argumente hierzu wurden an andere Stelle bereits ausführlich dargelegt.300 Das gilt auch insoweit, als es um eine Auslegung durch den EuGH mit Blick auf allgemeine Rechtsgrundsätze geht. Bei objektiv formulierten Rechtsgrundsätzen, wie demjenigen der Rechtssicherheit und dem Schutz berechtigter Erwartung301, mag dies Sinn ergeben, nicht aber mit Blick auf das subjektiv geprägte Missbrauchsverbot: Das Erfordernis der Missbrauchsabsicht spiegelt gerade die gegenüber der Auslegung unabhängige Stellung des Missbrauchsverbots als eigener Rechtsfigur wider.302 Es verwundert deshalb nicht, dass diejenigen Autoren, welche das Missbrauchsverbot (schon) im Rahmen der Auslegung für beachtlich halten, die Relevanz bzw. die Notwendigkeit der Missbrauchsabsicht hierbei überhaupt nicht thematisieren.303 Zweitens wird über eine Trennung von Auslegung und Missbrauchsverbot die Lösung individueller Konflikte von der allgemeingültigen Inhaltsbestimmung des Unionsrechts getrennt. Die Korrektur über das Missbrauchsverbot dient der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit und der Anpassung von Rechtsanwendungsbefehlen in Ausnahmefällen, im weitesten Sinne billigen
298 Vgl. Baldus, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 26, 107 f.; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 254 f. 299 S.o. Fn. 254 u. 255. 300 S.o. S. 77 ff. 301 Zu beiden vgl. Tridimas, General Principles, S. 242 ff. 302 Vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 559; a.A. GA Maduro in seinen Schlussanträgen v. 7.4.2005, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1638, Nr. 70. 303 Vgl. de la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395, 437 f.; Snell, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 219, 227 spricht an, dass die Bedeutung Subjektiven im Rahmen des Missbrauchsverbots, das er als bloßen Auslegungsgrundsatz sieht, fragwürdig erscheint. Die richtigen Schlussfolgerungen zieht er allerdings nicht, hinterfragt seine Prämisse nicht. GA Maduro thematisiert in seinen Schlussanträgen v. 7.4.2005, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1638, Nr. 70 die Frage des subjektiven Element und hält es letztlich nicht für notwendig.
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Ergebnissen. Dies erfordert es, Missbrauchsfragen einer zweiten, nachgelagerten Eingriffsebene zuzuordnen. Nur so fügt sich das Missbrauchsverbot in das Konzept des EuGH ein, den Wirkbereich des Unionsrechts durch sein Monopol der letztverbindlichen Auslegung systematisch auszudehnen.304 Deutlich wird dies beispielsweise in Zusammenhang mit dem Missbrauch von Grundfreiheiten: Hier prüft der Gerichtshof Fragen des Missbrauchs ausdrücklich auf der Ebene der Rechtfertigung und nicht auf Tatbestandsebene, 305 um die tatbestandliche Reichweite der jeweiligen Freiheit nicht einzuengen.306 Es kommt daher nicht von ungefähr, wenn er in Kefalas ganz allgemein betont, die nationalen Gerichte dürften bei der Beurteilung von Missbrauchssachverhalten die inhaltliche Tragweite des Unionsrechts nicht verändern; 307 diese Gefahr besteht allerdings nur, wenn es sich um eine über den einzelnen Anwendungsfall hinausgehende Auslegung von Unionsrecht handelt. Letztlich sprechen für den hier vertretenen Ansatz vor allem aber die Fälle missbräuchlicher Rechtsausübung: Hier ist der Inhalt des Unionsrechts nicht in Zweifel zu ziehen, eine Durchbrechung ist nur aufgrund der Umstände der Ausübung angezeigt und notwendig, was über die Auslegungskompetenz des EuGH nicht zu erfassen wäre und damit denknotwendig einer subsidiären Eingriffsebene zugeordnet werden muss.308 c) Kompetenzverteilung zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten Ein weiterer Grund, das Missbrauchsverbot einer der Auslegung nachgelagerten Ebene zuzuweisen, stellt die Kompetenzverteilung zwischen Gerichtshof und den Gerichten der Mitgliedstaaten dar. Letzteren kommt die alleinige Befugnis zur Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts und zur Anwendung des Unionsrechts im Einzelfall zu, dem Gerichtshof dagegen die Kompetenz zu dessen letztverbindlicher Auslegung.309 Die Grenzen zwischen Auslegung und Anwendung, mithin die Kompetenzgrenzen zwischen EuGH 304
Vgl. oben, S. 136. Vgl. die Nachweise bei Edwards/Farmer, in: FS Vanistendael, S. 359, 365; Lang/Heidenbauer, in: FS Vanistendael, S. 597, 607; Thömmes, in: FS Wassermeyer, S. 207, 222; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 553. 306 Die Verallgemeinerung von Einzelfallentscheidungen zur Regel hätte dies naturgemäß zur Folge. Das zeigt sich auch im Common Law, welches auch wegen der stare decisis-rule kein abstraktes Konzept der Missbrauchsverhinderung entwickelt hat, vgl. oben bei Fn. 228. 307 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.5.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1998, I-2843, 2869, Nr. 22; vgl. zu diesem Gedanken auch Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 548. 308 In diesem Sinne Snell, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 219, 223; a.A. Renger, Restschuldbefreiung, S. 195, der Fragen des Rechtsmissbrauchs – allerdings ohne direkten Bezug zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbots – über eine teleologische Auslegung erfassen will. 309 Vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV Rn. 1, 5. 305
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und mitgliedstaatlichen Gerichten, sind allerdings nicht immer einfach zu bestimmen. 310 Insbesondere bei der Konkretisierung von Generalklauseln des Unionsrechts traten in der Vergangenheit Spannungen zwischen mitgliedstaatlichen Gerichten und Gerichtshof auf. Erinnert sei insbesondere an die Fälle Océano und Freiburger Kommunalbauten, in denen es in zivilverfahrensrechtlichem Kontext um die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Klauselrichtlinie311 ging.312 Vor allem in der Océano-Entscheidung überspannte der EuGH damit den kometenzrechtlichen Rahmen, dass er für sich das Recht proklamierte, evident und per se missbräuchliche Klauseln selbst für rechtswidrig zu erklären.313 Die Entscheidungen geben aber Anhaltspunkte dafür, wie entsprechende Generalklauseln nach den Vorgaben des Gerichtshofs im Unionsrecht zu konkretisieren sind und wo annäherungsweise die kompetenzrechtliche Trennlinie zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten verläuft. Bieder verweist auf den hierbei zu vollziehenden mehrstufigen Abwägungsvorgang: Nach einer abstrakten Feststellung der durch die Rechtnorm zu regeln beabsichtigten Interessen und deren ebenso gehaltener Bewertung, sind die Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen. Hierbei ist der konkrete Interessenkonflikt aufzulösen. Letzterer Teil des Abwägungsvorgangs ist der Kompetenz des EuGH entzogen, auch wenn er hin und wieder gewisse ‚allgemeine Kriterien‘ zur Bestimmung der Missbräuchlichkeit aufstellt.314
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So scheint der Gerichtshof hin und wieder nicht davor zurückzuschrecken, den relevanten Sachverhalt selbst festzustellen bzw. zu werten, vgl. dazu Arnull, European Court of Justice, S. 105 ff. und die Nachweise bei Stotz, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 653, 666. 311 Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5 April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl. L 95 v. 21.4.1993, S. 29. Art. 3 Abs. 1 hat folgenden Wortlaut: „Eine Vertragsklausel, die nicht im einzelnen ausgehandelt wurde, ist als mißbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Mißverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“ 312 EuGH, Urt. v. 27.6.2000, verb. Rs. C-240-244/98 (Océano Grupo Editorial SA ./. Roció Murciano Quintero; Salvat Editores SA ./. José M. Sánchez Alcón Prades; u.a.), Slg. 2000, I-4941; Urt. v. 1.4.2004, Rs. C-237/02 (Freiburger Kommunalbauten GmbH Baugesellschaft & Co. KG ./. Ludger Hofstetter und Ulrike Hofstetter), Slg. 2004, I-3403. Vgl. hierzu Bieder, in: Gsell/Hau, Zivilgerichtsbarkeit und Europäisches Justizsystem, S. 155 ff.; Röthel, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 349, 359 f.; Stotz, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 653, 668. Allgemein zur Konkretisierung von Generalklauseln im Europäischen Privatrecht, Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 516 ff.; Roth, in: FS Drobnig, S. 135 ff. 313 Bieder, in: Gsell/Hau, Zivilgerichtsbarkeit und Europäisches Justizsystem, S. 155, 165 f. Eine zivilverfahrensrechtliche Entscheidung mit ähnlicher ‚Kompetenzanmaßung‘ ist das an anderer Stelle noch zu besprechende Urteil in der Sache MSG, s.u., S. 182. 314 Bieder, in: Gsell/Hau, Zivilgerichtsbarkeit und Europäisches Justizsystem, S. 162 f. Die Entscheidung in der Rs. Océano bildet hierbei einen Sonderfall, da der EuGH dort eine
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Diese Gedanken sind auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot übertragbar, das insoweit funktional einer Generalklausel im eben bezeichneten Sinne entspricht. Mit dem Missbrauchsverbot wird Unionsrecht durchbrochen, um einen konkreten Individualkonflikt zu lösen. Dabei ist es an den mitgliedstaatlichen Gerichten, die Umstände des Einzelfalls zu würdigen und das Missbrauchsverbot anzuwenden.315 Letztlich behält sich der Gerichtshof eine gewisse Steuerungsmöglichkeit vor, da er über die objektive Komponente des Missbrauchsverbots – den Zweck der jeweiligen Regelung – und auch in Ausgestaltung der Anforderungen an das Vorliegen der Missbrauchsabsicht auf das Ergebnis Einfluss nehmen kann.316 Die Festlegung ‚allgemeiner Kriterien‘ für die einzelfallbezogene Anwendung des Missbrauchsverbots durch die mitgliedstaatlichen Gerichte muss sich hierbei, wie in Fällen der Klauselrichtlinie, in gewissen Grenzen halten. Bedenkt man, dass das Missbrauchsverbot im Gegensatz zur Anwendung sonstiger generalklauselartiger Tatbestände in letzter Konsequenz zur Nichtanwendung von Unionsrecht führt, wird sich der EuGH diesbezüglich aber eine noch größere Einwirkungsmöglichkeit auf die Mitgliedstaaten bewahren wollen, als in den vorstehenden Entscheidungen. Ein bestimmtes Verhalten in der Sache für missbräuchlich zu erklären, obliegt dem Gerichtshof natürlich nicht. Das ist auf Linie mit der in der Entscheidung Freiburger Kommunalbauten erkennbaren Tendenz des EuGH. 317 (Unhaltbare) Ausnahmen bestätigen auch hier wiederum die Regel.318 4. Zwischenergebnis Über das Tatbestandsmerkmal des formalen Vorliegens der Voraussetzungen einer unionsrechtlichen Rechtsnorm wird zwischen Normauslegung und Anwendung des Missbrauchsverbots abgegrenzt. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass hierbei eine gewisse Restunsicherheit besteht. Mehrere Ergebnisse können dennoch mit Sicherheit festgehalten werden: Zunächst, dass das formale Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen einer Rechtsnorm nach Klausel explizit für missbräuchlich erklärte und damit in die Befugnisse der mitgliedstaatlichen Gerichte eingriff, vgl. Röthel, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 349, 361. 315 Vgl. Schmidt-Kessel, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2001, S. 61, 74. 316 Koutrakos, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 203, 201; Weber, 31 L.I.E.I. (2004) 43, 52 f. 317 Vgl. Stotz, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 653, 669. 318 So hat der EuGH in seinem Urt. v. 21.2. 2008, Rs. C-425/06 (Ministero dell’Economia e delle Finanze ./. Part Service Srl.), Slg. 2008, I-897, 919, Nr. 62 die Tatsachenbeurteilung dem nationalen Gericht praktisch vorweggenommen. Krit. folglich die Anmerkung von Korf, IStR 2008, 261, 261. Anders EuGH, Urt. v. 22.12.2010, Rs. C-277/09 (The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs ./. RBS Deutschland Holdings GmbH), Slg. 2010, I13805, vgl. Korf, IStR 2011, 146, 146. Allgemein dazu Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 544.
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dem Konzept des EuGH eine Frage gewöhnlicher Auslegung ist. Die hierbei bestehenden Möglichkeiten in der Auslegung von Unionsrecht sind auszuschöpfen, bevor auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot zurückgegriffen wird, womit der Gefahr dessen ausufernder Anwendung und damit einer Aushöhlung des Vorrangdogmas vorgebeugt wird. Jedoch lassen sich nur wenige Fälle potentiellen Missbrauchs alleine über die Auslegung lösen, was seinen Grund in den Besonderheiten des Unionsrechts hat. Hierzu zählen insbesondere das Prinzip praktischer Wirksamkeit und die mit der Auslegung zusammenhängende Gefahr einer Einschränkung des Wirkbereichs von Unionsrecht über den zu regelnden Einzelfall hinaus. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ermöglicht es den Gerichten der Mitgliedstaaten aber, Unionsrecht unter besonderen Umständen, entgegen der Verpflichtung möglichst umfassender Anwendung, außer Acht zu lassen. Diese Befugnis ist von Fragen der Auslegung zu trennen, was mehrere Gründe hat und sich neben den Eigenheiten des Missbrauchsverbots (subjektives Element) auch auf dessen strukturelle Besonderheiten als Generalklausel zurückführen lässt. Die hiermit bedingte Kompetenzverteilung zwischen dem EuGH und den mitgliedstaatlichen Gerichten gewährt (nur) letzteren die Möglichkeit, die Umstände des Einzelfalls angemessen würdigen zu können. II. Zweckwidrigkeit der Rechtsanwendung Nach den Vorgaben des Gerichtshofs ist als zweite Voraussetzung des Missbrauchsverbots zu prüfen, ob der Zweck der potentiell missbrauchten Regelung bei deren Anwendung verfehlt würde.319 Die Bezugnahme auf teleologische Erwägungen ist die logische Konsequenz aus der durch den EuGH im Unionsrecht allgemein gepflegten Methodik, wie sie etwa im Rahmen der Auslegung praktiziert wird.320 Dabei hängt der Bezugspunkt von der jeweils zu bewertenden Situation ab: Soweit Fragen der missbräuchlichen Rechtsausübung im Raum stehen, muss der Zweck der ausgeübten Vorschrift beachtet werden, in fraude à la loi-Konstellationen bzw. reinen Normerschleichungskonstellationen der Zweck der zu erschleichen versuchten Norm.321 Auch die Gewichtung dieses Kriteriums gegenüber der Missbrauchsabsicht hängt von den Besonderheiten des Falls ab.
319 Grundlegend: EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569. 320 Koutrakos, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 203, 210. 321 Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159, 171.
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1. Einbeziehung primärrechtlicher Wertungen und Strukturprinzipien Da das gesamte Sekundärrecht der Union letztlich im Sinne des Art. 26 Abs. 1 AEUV mit der Intention erlassen ist, einen europäischen Binnenmarkt mit entsprechender Freizügigkeit zu errichten/zu erhalten, können und werden derartige Erwägungen im Rahmen der Zweckwidrigkeitsprüfung immer mitschwingen.322 Bedenkt man, dass die Bezugnahme auf meta-teleologische Erwägungen ein gängiges Muster in der Auslegungspraxis des EuGH darstellt,323 existiert hier eine gewisse Rückanbindung. Bei der Antwort auf die Frage nach der Zweckwidrigkeit kann somit der Zweck der konkret zu analysierenden Rechtsnorm durch allgemein gehaltene Erwägungen, den integrativen Ansatz des Unionsrechts oder die Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt betreffend, ergänzt oder auch überspielt werden.324 Allerdings birgt die Argumentation mit dem Binnenmarktziel oder anderen abstrakten Strukturprinzipien der Union die Gefahr, dass Unionsrecht vorschnell nicht angewandt wird. Denn im Unterschied zur Auslegung von Rechtsnormen würde im Anwendungsbereich des Missbrauchsverbots der Rekurs auf diese reichlich abstrakten Leitbilder nicht zur Anwendung sondern zur Nichtanwendung von Unionsrecht führen. Die Gefahr ist deshalb gegenwärtig, da der Binnenmarkt als Idealbild der Union und Schlüsselbegriff des europäischen Selbstverständnisses325 auf der einen Seite notwendigerweise überhöhte Anforderungen an Mitgliedstaaten und Union stellt, dies aber auf der anderen Seite dazu führt, dass Friktionen hiermit relativ schnell bejaht werden können. Dementsprechend erscheint es vorzugswürdig, bei Fragen des Missbrauchs sekundärrechtlicher Vorschriften primär auf den konkret greifbaren Zweck der jeweiligen Vorschrift zu rekurrieren. Eine Beurteilung anhand des abstrakten Binnenmarktziels bzw. sonstiger primärrechtlicher Strukturprinzipien der Union kann schwerlich Rechtssicherheit bewirken und sollte daher nur ergänzend oder zur Konkretisierung des speziellen Zwecks der jeweiligen Rechtsnorm verwandt werden. 2. Die Bedeutung des Zweckwidrigkeitskriteriums für die Fälle missbräuchlicher Rechtsausübung Die Zweckwidrigkeit der Rechtsanwendung als Voraussetzung einer Missbrauchslehre ist von der deutschen Rechtsmissbrauchslehre und dem französischen abus de droit her bekannt.326 Im deutschen Recht hat sich mit der Zeit
322
Reuß, Forum Shopping, S. 307; Wilke, UR 2011, 925, 927. Vgl. oben S. 133. 324 Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 307 f. 325 Bast, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 40 AEUV Rn. 5 f.: „Daueraufgabe.“ 326 Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 239. 323
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
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sogar die Fallgruppe des fehlenden oder geringfügigen schutzwürdigen Eigeninteresses als Fallgruppe des Rechtsmissbrauchs herausgebildet, in der gerade dem Zweck der missbrauchten Vorschrift besondere Bedeutung zukommt.327 Verfolgt der Rechtsinhaber mit der Ausübung seines Rechts oder seiner Rechtsposition lediglich Zwecke, die mit den gesetzlich oder vertraglich festgelegten Zwecken in Widerspruch stehen, so ist dies unter Umständen unzulässig. Zu beachten ist aber, dass auch im deutschen Recht die Bedeutung des Kriteriums der Zweckwidrigkeit je nach Fallgruppe missbräuchlichen Verhaltens schwankt: Vor allem bei der Beurteilung widersprüchlichen Verhaltens oder rücksichtsloser Rechtsausübung verliert es an Bedeutung.328 Der EuGH prüft die Zwecke der jeweiligen Rechtsnorm in der Regel recht ausführlich, was auch daran liegen mag, dass er hierüber eine wichtige Einwirkungsmöglichkeit auf die mitgliedstaatlichen Gerichte hat.329 Bedenkt man allerdings, dass der Gerichtshof in den oben dargestellten griechischen Fällen Situationen einbezog, die unter anderem durch schikanöses Verhalten geprägt waren, zeigt sich, dass er das Zweckwidrigkeitskriterium flexibel handhabt und unter Umständen zugunsten der subjektiven Komponente des Missbrauchsverbots Abstriche zulässt.330 Denn in Fällen der Schikane kann der Zweck einer Vorschrift durchaus erfüllt sein, deren Anwendung aber aufgrund der Schädigungsabsicht aus übergeordneten Erwägungen unhaltbar erscheinen. 3. Die Bedeutung des Zweckwidrigkeitskriteriums in Fällen des Umgehens und des Erschleichens von Rechtsnormen Für die andere Teilmaterie des Missbrauchsverbots, die Fälle des Erschleichens von Rechtsnormen bzw. fraude à la loi-Konstellationen, ist die Frage nach dem konkreten Zweck der jeweiligen Rechtsnormen entscheidend. Neben dem schon oft zitierten Urteil in Sachen Emsland-Stärke331 sei auf die Urteile des EuGH in den Rechtssachen Cremer332 und Eichsfelder Schlachtbetrieb333 hingewiesen. In letzterem Fall war Regelungsziel der streitgegenständlichen Verordnung die Zahlung von Ausfuhrerstattungen im Zuge des Exports von Stärke in Drittstaaten. Hintergrund derartiger Zahlungen ist, dass der Weltmarktpreis für landwirtschaftliche Erzeugnisse in der Regel niedriger ist, als der auf dem 327
S.o. S. 40. Vgl. oben S. 41 ff. 329 Vgl. dazu auch oben S. 148 und Schammo, 14 ELJ (2008) 351, 367. 330 Vgl. dazu unten S. 162 f. 331 EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11613, Nr. 53. 332 EuGH, Urt. v. 11.10.1977, Rs. 125/76 (Firma Peter Cremer ./. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1977, 1593, 1605, Nr. 13 f. 333 Urt. v. 21.7.2005, Rs. C-515/03 (Eichsfelder Schlachtbetrieb GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2005, I-7355. 328
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Binnenmarkt erzielbare Preis. Beim Export bestimmter Waren wird demnach ein Ankauf durch staatliche (Zoll-)Stellen zu einem Mindestpreis garantiert,334 um den Binnenmarkt zu schützen. 335 Die durch den Exporteur in EmslandStärke gewählte Konstruktion hatte jedoch zur Folge, dass die exportierte Stärke eben nicht endgültig auf dem drittstaatlichen Markt verblieb, stattdessen wieder mit Produkten auf dem Binnenmarkt konkurrierte. Hierdurch wurde der Zweck der streitgegenständlichen Regelung verfehlt, das Preisniveau des Binnenmarkts gegenüber dem Weltmarkt zu schützen. III. Missbrauchsabsicht Zentrale Bedeutung für das richtige Verständnis des Missbrauchsverbots kommt dem subjektiven Kriterium der Missbrauchsabsicht zu. Bis zur Entscheidung in Emsland-Stärke war es in der Literatur umstritten, ob Voraussetzungen für einen Missbrauch von Unionsrecht das Vorliegen einer speziellen Missbrauchsabsicht ist.336 Heute ist dies relativ unstreitig.337 Erforderlich ist, wie der EuGH formuliert, „ein subjektives Element […], nämlich die Absicht, sich einen gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“338 Wie schon zur Frage der Zweckwidrigkeit dargestellt, verstehen sich diese Ausführungen des Gerichthofs wiederum nur als Leitlinie, die eine Konkretisierung in den verschiedenen durch das Missbrauchsverbot erfassten Fällen erfordert. So erfährt das subjektive Element beispielsweise in den klassischen uturn-Konstruktionen unter Umständen eine relativ unspektakuläre Bedeutung, im Sinne planvollen Handelns, wie dies von den sog. Gesamtplanfällen des deutschen Steuerrechts her bekannt ist, wohingegen es in Fragen missbräuchlicher Rechtsausübung eine entscheidende Rolle in Form einer Schädigungsabsicht spielen kann. Selbst wenn der EuGH in älteren Entscheidungen mit
334
Vgl. Grupp, C.: Ausfuhrerstattungen, in: Handlexikon der Europäischen Union. Priebe, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 40 AEUV Rn. 41. 336 Vgl. Weber, 31 L.I.E.I. (2004) 43, 51. 337 Vgl. z.B. Ionescu, L‘abus de droit, S. 249; Niemann, Missbrauch, S. 224; Reuß, Forum Shopping, S. 309; Cerioni, 21 E.B.L.R. (2010) 783, 788; Fleischer, JZ 2003, 865, 872; Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010 1121, 1133; Schammo, 14 ELJ (2008) 351, 369; Triantafyllou, CDE 2002, 611, 632; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 5534 ff.; Vrellis, in: Liber Amicorum Gaudemet-Tallon, S. 631, 638; Weber, 31 L.I.E.I. (2004) 43, 51 ff.; a.A. Rehberg, EuLF 2004, 76, 3; Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 457; krit. auch Eidenmüller, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 137, 143. 338 Urt. v. 21.7.2005, Rs. C-515/03 (Eichsfelder Schlachtbetrieb GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2005, I-7355, 7386, Nr. 39. 335
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‚um…zu‘-Konstruktionen gearbeitet hat,339 was einen finalen Zusammenhang umschreibt oder davon gesprochen hat, der Handelnde müsse einen bestimmten Vorteil „bezwecken“340, so ist immer eine genaue Analyse des Einzelfalls notwendig. Dementsprechend bereitet es auch gewisse Schwierigkeiten, dem subjektiven Element des Missbrauchstests einen treffenden Namen zu geben. Auch der hier und von anderen 341 gewählte Begriff der Missbrauchsabsicht sieht sich Kritik ausgesetzt, denn hiermit ist ein verschlagenes Verhalten impliziert, das sich in erster Linie gegen die Rechtsordnung als solche wendet. Im Unterschied zur französischen fraude à la loi ist es dem EuGH jedoch nicht oberstes Anliegen, mit dem Missbrauchsverbot den ‚Achtungsanspruch‘, die Würde der Rechtsordnung vor Geringschätzung zu bewahren, sondern zweckmäßige und interessengerechte Ergebnisse zu erzielen. Dennoch soll im Folgenden von Missbrauchsabsicht die Rede sein. Die Arbeit kommt in nachfolgendem Abschnitt zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Missbrauchsabsicht um ein notwendiges subjektives Merkmal des Missbrauchsverbots handelt. Wegen der inhomogenen Struktur der durch das Missbrauchsverbot erfassten Tatbestände kommt ihr aber jeweils eine unterschiedliche Bedeutung und Gewichtung zu (unten, 5.), wobei sich auch Wechselwirkungen mit dem Kriterium der Zweckwidrigkeit ergeben (unten, 4.). Funktional dient sie auch dazu, eine unkontrollierte Nichtanwendung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten unter Berufen auf das Missbrauchsverbot zu verhindern (unten, 3.). Selbst wenn die Missbrauchsabsicht rechtspraktisch unter Umständen aus objektiven Umständen abgeleitet wird (unten, 1.) und dabei im weitesten Sinne mit Erfahrungswerten gearbeitet werden muss (unten, 2.), ist sie letztlich ein wichtiges Strukturprinzip dieses Mechanismus und damit unverzichtbar. 1. Ableitung der Missbrauchsabsicht aus objektiven Umständen Die Missbrauchsabsicht ist eng damit verbunden, ob eine Gestaltung ‚künstlichen‘ Charakter hat oder nicht;342 der EuGH bringt beides miteinander in Verbindung. Zwar sprach er anfangs noch von ‚willkürlichen‘ Gestaltungen. Sprachlich und inhaltlich treffender ist allerdings der Begriff der ‚künstlichen‘ Gestaltungen, der sich nicht nur in den verschiedenen Sprachfassungen jenes
339 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.3.2000, Rs. C-373/97 (Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 2000, I-1705, 1734, Nr. 33. 340 EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1676, Nr. 75. 341 Z.B. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 534; 342 Zu „wholly artificial arrangements“, vgl. Lang/Heidenbauer, in: FS Vanistendael, S. 597 ff.
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Urteils343, sondern auch in anderen Entscheidungen findet.344 Inhaltliche Unterschiede werden mit den verschiedenen offensichtlich nicht angezeigt, da der Gerichtshof sie auch häufig kombiniert verwendet345.346 Gleiches gilt für die Generalanwälte beim EuGH.347 Klargestellt sei, dass die Frage nach der Künstlichkeit sich dabei nicht auf die Simulation von Tatbestandsvoraussetzungen oder Konstruktionen im Sinne eines Scheingeschäfts bezieht. Denn weder werden die Voraussetzungen einer Rechtsnorm nur vorgespiegelt – z.B. verlässt das fragliche Produkt in den uturn-Fällen tatsächlich zunächst einmal den Binnenmarkt – noch ist diese Geschäftsgestaltung nicht ernstlich gewollt – so soll z.B. die Ausfuhr einer Ware ja gerade den Anknüpfungspunkt einer staatlichen Leistung bilden. a) Künstlichkeit der Gestaltung und weitere Indizien Funktional dient die Frage nach der Künstlichkeit der ‚Beweiserleichterung‘: Wenn eine gewisse Gestaltung rein formalen Charakter hat, beispielsweise kein „normales Handelsgeschäft“348 darstellt, so liegt der Schluss nahe, dass dies nur von der Intention getragen wurde, lediglich in den Genuss eines unionsrechtlichen Vorteils zu gelangen. Der Gegenbeweis obliegt dabei demjenigen, der aus der Gestaltung einen Vorteil ziehen möchte. 349 Das subjektive
343 So z.B. in der englischen (‚artifcially‘), französischen (‚artificiellement‘), italienischen (‚artificiosa‘), spanischen/portugiesischen (‚artificialmente‘) und niederländischen (‚kunstmatig‘) Sprachfassung des Urteils. 344 Vgl. EuGH, Urt. v. 20.6.2013, Rs. C-653/11 (Her Majesty’s Commissioners of Revenue and Customs ./. Paul Newey), DStRE 2014, 32, 35, Nr. 45 ff. 345 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.10.2012, Rs. C-364/10 (Ungarn ./. Slowakische Republik), BeckRS 2012, 82022, Nr. 58: „dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden“ und Nr. 60: „dass die Slowakische Republik nicht künstlich die Voraussetzungen für die Anwendung der Richtlinie […] geschaffen hat.“ 346 Zur Kombination der verschiedenen Begriff allgemein Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 553. 347 Z.B. Schlussanträge der GA Kokott v. 14.4.2011, Rs. C-186/10 (Tural Oguz ./. Secretary of State for the Home Department), Slg. 2011, I-6957, 6964 f., Nr. 30-36. 348 EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1675, Nr. 69. 349 Vgl. Saydé, Abuse of EU Law, S. 197; Fleischer, JZ 2003, 865, 873; Weber, 53 ET (2013) 313, 327 m.w.N.
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Merkmal wird demnach aus dem objektiven Umstand der Künstlichkeit abgeleitet;350 es handelt sich nicht um kumulativ zu prüfende Voraussetzungen.351 Ähnliches ist auch vom französischen abus de droit her bekannt, bei dem die Frage nach dem intérêt légitime einen Rückschluss auf die zu prüfenden subjektiven Voraussetzungen zulässt.352 Im deutschen Recht verfährt man im Rahmen des § 226 BGB ähnlich, wenn aus der wirtschaftlichen Sinnlosigkeit auf die Schädigungsabsicht des Handelnden rückgeschlossen wird.353 Damit kann auch den aus dem Common Law her bekannten Vorbehalten gegenüber der Entscheidungserheblichkeit von Motiven und Intentionen in der Rechtsanwendung begegnet werden, die sich gelegentlich auch in den Schlussanträgen der Generalanwälte beim EuGH finden.354 Für den Bereich der Exportsubventionen gab der EuGH den mitgliedstaatlichen Gerichten in Emsland-Stärke Indizien an die Hand, die für eine rein künstliche Gestaltung und in der Folge das Vorliegen intendierten Handelns sprechen. So könne das Gericht beispielsweise die personelle und wirtschaftliche Verflechtung von Re-Importeur und dem im Drittstaat ansässigen Käufer darauf hin untersuchen, ob hierin ein kollusives Zusammenwirken liege.355 Ähnliche Ausführungen finden sich in Halifax.356 Die für die Beurteilung relevanten Umstände variieren jedoch mit dem jeweiligen Lebenssachverhalt und Rechtsbereich, in dem das Missbrauchsverbot angewandt werden soll. Der EuGH verwendet häufig die Formel, wonach die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit eines bestimmten Verhaltens entscheidend sei. Dies stellt natürlich nur eine der möglichen Frageformen dar. Gegenständlich ist sie auf den Bereich eines handelsrechtlichen Umsatzes zu-
350 Schlussanträge des GA Maduro v. 7.4.2005, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1639 f., Nr. 71; Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010) 1121, 1134; Snell, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 219, 226; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 535; Weber, 31 L.I.E.I. (2004) 43, 53; ders., in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 395, 397. Anders: Lang/Heidenbauer, in: FS Vanistendael, S. 597, 608 f. Gegen die Beachtlichkeit des Subjektiven generell Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 452. 351 So auch Weber, 53 ET (2013) 251, 253 m.w.N. 352 S.o., S. 48. 353 S.o., S. 36. 354 Vgl. Ziegler, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 291, 306 unter Verweis auf die Schlussanträge es GA Geelhoed v. 27.2.2003, Rs. C-109/01 (Secretary of State for the Home Department ./. Hacene Akrich), Slg. 2003, I-9607, 9660, Nr. 174. 355 EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11613 f., Nr. 53, 58. 356 EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1678, Nr. 81.
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geschnitten und damit vor allem im steuerrechtlichen Kontext von Bedeutung.357 Schließlich gilt auch im Unionsrecht die Devise des „substance over form“ 358 und „künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltung(en)“359 können hier ebenfalls nicht anerkannt werden. Mit anderen Worten, es sollen Fälle reguliert werden, in denen sich für ein bestimmtes Verhalten keinerlei vernünftige wirtschaftliche Gründe finden lassen.360 Betrachtet man das breite Anwendungsfeld des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im gesamten Unionsrecht, so wird klar, dass es beispielsweise in Sachverhalten im Anwendungsbereich der persönlichen Freizügigkeit nicht entscheidend auf die Frage ankommen kann, ob ein ‚normales Handelsgeschäft‘ vorliegt oder nicht. Selbst wenn es nicht von der Hand zu weisen ist, dass wirtschaftlichen Motiven in der Regel ein hoher Stellenwert in der Entscheidungsfindung zukommt, müssen auch andere Kriterien definiert werden können, anhand derer ein mangelndes Eigeninteresse des Handelnden an einer bestimmten, bloß formalen Gestaltung und damit das subjektive Element des Missbrauchsverbots ermittelt werden kann.361 So ist nach Vogenauer auch der zeitliche Abstand zwischen einer Veränderung von Tatsachen, wodurch erst die Tatbestandsvoraussetzungen einer vorteilhaften Rechtsnorm geschaffen werden und einem daraufhin erfolgenden Antrag auf Erhalt einer Leistung etc., beispielsweise von Ausbildungsförderung, ein Indiz für missbräuchliches Handeln.362 Ein zeitlich enger Zusammenhang zwischen einem bestimmten Verhalten und der Inanspruchnahme eines durch Unionsrecht gewährten Vorteils kann gerade für Missbrauch im Recht der internationalen Zuständigkeit eine bedeutende Rolle spielen: In der Variante der sog. Zuständigkeitserschleichung werden anknüpfungsrelevante Merkmale einer Zuständigkeitsnorm mit Blick auf ein danach durchzuführendes gerichtliches Verfahren verändert, um sich einen bestimmten Gerichtsstand zu sichern.363 Im Europäischen Insolvenzrecht wird dieses Indiz von manchen
357 So z.B. in Halifax (s.o. Fn. 348) oder in Urt. v. 20.6.2013, Rs. C-653/11 (Her Majesty’s Commissioners of Revenue and Customs ./. Paul Newey), DStRE 2014, 32, 35, Nr. 46 m.w.N. zum Steuerrecht. EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1678, Nr. 81. 358 Vgl. Weber, 31 L.I.E.I. (2004) 43, 53. 359 EuGH, Urt. v. 19.7.2012, Rs. C-33/11 (A Oy), UR 2012, 873, 880, Nr. 63 m.w.N. 360 Vgl. Wilke, UR 2011, 925, 926 f. und oben S. 74 ff. Zum in der englischen Literatur aus der Rechtsprechung des EuGH teilweise gezogenen Fehlschluss, es komme auf die „economic reality“ des Vorgangs an, Saydé, Abuse of EU Law, S. 89 f. 361 Dazu sogleich. Zu einseitig daher z.B. Amand, in: Glauser, Evasion fiscale, S. 45, 72. 362 Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 536 unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 21.6.1988, Rs. 39/86 (Sylvie Lair ./. Universität Hannover), Slg. 1988, 3161; ebenso Reuß, Forum Shopping, S. 313. 363 Ausführlich dazu, s.u., S. 245 ff.
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schon heute dazu verwandt, die Fragen nach einer möglichen Schädigungsabsicht des Insolvenzschuldners zu beantworten.364 b) Interessenabwägung Letztlich bleibt die Frage nach der Künstlichkeit, nach dem legitimen Interesse an einer speziellen Gestaltung, immer eine Abwägungsentscheidung. Der stark normative Charakter des Künstlichkeitskriteriums und der Missbrauchsabsicht belassen den Gerichten der Mitgliedstaaten einen gewissen Ermessenspielraum,365 wobei die eben genannten Indizien immer nur Ausgangspunkt für eine weitere Auseinandersetzung mit der Frage der Missbräuchlichkeit sind. Dass Missbrauchsverhinderung in letzter Instanz Abwägung bedeutet, konnte auch zum deutschen Rechtsmissbrauchsverbot festgestellt werden.366 Hier wie dort darf dieser Spielraum jedoch nicht in praxisfremder Weise als Quelle der Rechtsunsicherheit verstanden werden, sondern als notwendiges Mittel interessengerechter Entscheidung. 2. Ermittlungsschwierigkeiten? Die Missbrauchsabsicht aus objektiven Umständen abzuleiten, heißt nicht, dass auf sie generell verzichtet werden könnte.367 In diese Richtung wird aber teilweise von Anhängern des Common Law argumentiert,368 was angesichts dessen grundsätzlicher Ablehnung gegenüber der Relevanz des Subjektiven in der Rechtsfindung369 nicht weiter verwundert. Subjektives muss in der Praxis ohne entsprechende Einlassung beweisrechtlich jedoch immer aus objektiven Umständen deduziert werden, wobei man sich auf gewisse Erfahrungssätze stützt. Das gilt etwa bezüglich aller Vorsatzdelikte im Strafrecht und den dort ebenfalls anzutreffenden besonderen subjektiven Merkmalen, wie der Absicht gewerbsmäßiger Begehung, die beispielsweise in § 243 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu finden ist.370 Beides muss zur Überzeugungsbildung des Gerichts als Folge freier richterlicher Beweiswürdigung im Sinne des § 261 StPO vorliegen. 371 Die
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Vgl. Rotstegge, ZIP 2008, 955, 961. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 540. 366 S.o., S. 34. 367 In diese Richtung aber: Koutrakos, in: de la Feria/Vogenauer, Pohibition of Abuse of Law, S. 203, 210. 368 Vgl. Schammo, 14 E.L.J. (2008) 351, 368; Koutrakos, in: de la Feria/Vogenauer, Pohibition of Abuse of Law, S. 203, 209 f. 369 Vgl. S. 52. 370 Diesen Vergleich zieht auch Ottersbach, Rechtsmissbrauch, S. 41, die sich im Ergebnis jedoch gegen ein subjektives Element ausspricht. 371 Vgl. grundlegend RG, Urt. v. 14.3.1932, III 52/32, RGSt 66, 163, 164 f.: „Diese (Überzeugung) wird nicht durch das Bewußtsein ausgeschlossen, daß jedes auf menschlicher 365
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
Konsequenzen für den Betroffenen sind hierbei im Strafrecht ungleich drastischer als bei einer Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots, weshalb der mit einer gewissen Regelmäßigkeit im Zusammenhang mit dem Missbrauchsverbot anzutreffende Hinweis auf die nur schwer zu beweisende subjektive Komponente des Grundsatzes und deren darauf gestützte Ablehnung372 nicht recht überzeugt. Denn hier wie dort rechtfertigen die möglichen Schwierigkeiten in der Beweiswürdigung keinen Verzicht auf subjektive Elemente;373 in beiden Bereichen kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Für das unionsrechtliche Missbrauchsverbot soll dies in den nächsten Zeilen näher dargelegt werden. 3. Subjektives Element als Schutz vor ausschweifender Anwendung Bekanntlich beeinträchtigt die Nichtanwendung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten den Vorrang und die praktische Wirksamkeit von Unionsrecht.374 Zwar sichert der EuGH schon zu einem gewissen Maß über die objektive Komponente des Missbrauchsverbots, dass dieses nicht zur gänzlichen Wirkungslosigkeit von Unionsrechts führt. Wirklich limitierende Kraft kommt aber nur der subjektiven Komponente des Verbots zu, der Missbrauchsabsicht. Diese schützt das Unionsrecht vor einer allzu voreiligen Demontage durch die Mitgliedstaaten.375 Dies gilt unabhängig davon, dass teilweise eine Verobjektivierung der subjektiven Komponente des Missbrauchsverbots festgestellt wird.376 Der Gerichtshof muss objektive Kriterien definieren, anhand derer auf die Missbrauchsabsicht geschlossen werden kann, will er nur in irgendeiner Weise darauf Einfluss nehmen, wie die Mitgliedstaaten Unionsrecht (nicht) an-
Erkenntnis beruhende Urteil, mag es auch noch so sicher erscheinen, allen Fehlern und Irrtümern unterworfen ist, die durch die Unzulänglichkeit dieser Erkenntnisart bedingt sind. Objektive Wahrheit ist nur gedanklich vorstellbar. Ihr Nachweis durch menschliche Erforschung und Erkenntnis ist begrifflich unmöglich, weil diese als an die erkennende Person gebunden von Natur subjektiv, also relativ sind. Das gilt auf allen Gebieten menschlichen Wissens und Erkennens. Auch dem Richter ist deshalb die Findung absoluter Wahrheit verschlossen; auch er vermag sich nur auf Grund der Abwägung des Für und Wider zu einer für sein richterliches Gewissen gültigen, also subjektiven oder relativen Wahrheit, nämlich zur richterlichen Überzeugung durchzuringen.“ 372 Vgl. Ottersbach, Rechtsmissbrauch, S. 41 ff., 373 So aber bezüglich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Koutrakos, in: de la Feria/Vogenauer, Pohibition of Abuse of Law, S. 203, 209 f.; speziell für das Europäische Zivilverfahrensrecht, Mäsch, IPRax 2005, 509, 513. 374 S.o., S. 142 ff. 375 Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1285; Snell, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 219, 225; speziell für das Europäische Zivilverfahrensrecht, vgl. Thole, ZZP 122 (2009), 324, 438; vgl. auch Janssens, Mutual Recognition in EU Law, S. 65. Nicht gesehen von Lang/Heidenbauer, in: FS Vanistendael, S. 597, 610 f. 376 Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 538.
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wenden. Hierdurch ändert sich nichts daran, dass die Missbrauchsabsicht Garant für eine notwendigerweise restriktive Anwendung des Verbots durch die Mitgliedstaaten ist.377 Denn letztlich bleiben die für die Ableitung der Missbrauchsabsicht relevanten Umstände zu beweisen.378 Aus dem französischen Recht ist eine ähnliche Funktion subjektiver Elemente im Zusammenhang mit der Verhinderung von Missbrauch bekannt. So wurde für den abus de droit zum Schutze des subjektiven Rechts die intention de nuire gefordert.379 Auch wenn dies in der Sache einer Schädigungsabsicht entspricht und in der Praxis zunehmend durch objektivierende Konzepte überformt wird380, besteht doch eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit zwischen beiden Konzepten: Die Reduktion des Anwendungsbereichs eines Korrekturmechanismus über eine subjektive Komponente. Wie an anderer Stelle bereits angesprochen wurde, hat sich die Handhabe des Missbrauchsverbots durch den Gerichtshof mit der Zeit dahingehend geändert, einen Missbrauch von Unionsrecht weniger häufig zuzulassen. 381 Dass der EuGH erst mit Emsland-Stärke die Missbrauchsabsicht als notwendigen Bestandteil des Verbots erklärte, passt in die allgemein zu beobachtende Entwicklung, den Vorrang und die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts in höherem Maße zu gewährleisten. Diese restriktive Tendenz stützt die im Hauptteil der Arbeit aufgestellte These von der Übertragbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrecht.382 4. Verbindungslinien zwischen Zweckwidrigkeit und Künstlichkeit Dass zwischen Künstlichkeit und Missbrauchsabsicht ein direkter Zusammenhang besteht, wurde schon aufgezeigt. Allerdings sind auch Zweckwidrigkeit und Künstlichkeit miteinander verbunden, wenngleich sich dies nicht mit derselben Deutlichkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt.383 Wenn ein Verhalten lediglich künstlichen Charakter hat, wie beispielsweise die Ausfuhr von Stärke in einen Drittstaat in Emsland-Stärke, so ist damit in der Regel der Zweck der zugrunde liegenden Rechtsnorm nicht erreicht; teilweise werden
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Anders: Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Pohibition of Abuse of Law, S. 521,
539. 378
Zu Fragen der Beweislast, s.u., S. 163. Vgl. Karayannis, CDE 1999, 521, 524 f. 380 S.o. S. 46. 381 Vgl. oben S. 100. 382 Im Bereich des Europäischen Zivilverfahrensrechts erfährt das subjektive Element des Missbrauchsverbots eine besondere Bedeutung mit Blick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit, insbesondere in dessen Ausformung als Gebot, die Vorhersehbarkeit von Gerichtsständen zu gewährleisten, vgl. unten, S. 267. 383 Vgl. Weber, 53 ET (2013) 251, 255. 379
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
deshalb Zweckwidrigkeit und Künstlichkeit mit einander in Verbindung gebracht.384 Allerdings ist dies nicht ausnahmslos so, wie sich in der CentrosEntscheidung gezeigt hat. Dort hatte der EuGH trotz einer offensichtlich künstlichen Gestaltung und der entsprechenden Absicht des dänischen Ehepaars das Berufen auf die Niederlassungsfreiheit nicht als missbräuchlich erachtet. 385 Zwar kann man von einer Regelvermutung dahingehend sprechen, dass im Falle künstlicher Gestaltungen auch die Zweckwidrigkeit zu bejahen ist. Dennoch gibt es Ausnahmen und ein ‚Umgehungsverhalten‘, wie im Falle von Centros, kann legitim sein, soweit der Zweck der zugrundeliegenden Norm dies trägt. 5. Unterschiedliche Bedeutung der Missbrauchsabsicht Die Vielgestaltigkeit potentiell erfasster Sachverhalte macht es notwendig, das Missbrauchsverbot flexibel zu handhaben. Ähnlich wie für die Zweckwidrigkeitsprüfung gilt dies auch für die Missbrauchsabsicht. Deren Bedeutung hängt von den jeweiligen Umständen des Falls, der konkreten ‚Fallgruppe‘, ab. So betont beispielsweise Snell, in Schikanefällen müsse anstatt der Absicht, sich einen unionsrechtlichen Vorteil zu verschaffen, die Absicht zu schädigen ausreichen. 386 Zugegebenermaßen lässt sich eine Schädigungsabsicht auch als Mehr und nicht als wesensverschiedenes aliud gegenüber einer bloßen Missbrauchsabsicht verstehen. Die Ausführungen Snells zeigen jedenfalls, dass er es für notwendig erachtet, der Missbrauchsabsicht in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen unterschiedliches Gewicht bzw. einen unterschiedlichen Gehalt beizumessen. Auch Fleischer387 und Schön388 sprechen sich dafür aus, dass in Anbetracht der Vielgestaltigkeit möglicher Missbrauchsfälle im Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots eine nach Fallgestaltungen differenzierende Betrachtung notwendig sei. 389 Für Fälle missbräuchlicher Rechtsausübung verweist Fleischer ebenfalls darauf, dass in Schikanefällen der Absicht zur Schädigung entscheidende Bedeutung zukommen soll, sogar wohl unter Verzicht auf das Kriterium der Zweckwidrigkeit.390 Dem kann nur zugestimmt werden, schließlich wird in Fällen der Schikane nicht notwendigerweise gegen
384
Vgl. Cerioni, 21 E.B.L.R. (2010) 783, 789; Schammo, 14 E.L.J. (2008) 351, 368; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, 521, 537. 385 S.o., S. 103. 386 Snell, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 219, 226 f. 387 Fleischer, JZ 2003, 865, 872 388 Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1286. 389 Ebenso: Reuß, Forum Shopping, S. 309. 390 Fleischer, JZ 2003, 865, 872.
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
161
den Zweck einer Rechtsnorm verstoßen.391 Für Fälle geringfügigen legitimen Eigeninteresses gilt dies nach Schön aber sinnigerweise nicht.392 In den klassischen Vermeidungs- oder Erschleichungskonstellationen verstehen beide das subjektive Element des Missbrauchsverbots hingegen als Absicht zweckgerichteter Tatbestandsplanung. So sprechen beide in u-turn-Konstellationen wie Emsland-Stärke der Missbrauchsabsicht die Funktion zu, beide Teilaspekte des Sachverhalts – z.B. die Ausfuhr von Stärke und deren Wiedereinfuhr – miteinander zu verklammern.393 Hiermit bewegen sich beide auf den Spuren der Gesamtplanrechtsprechung deutschen Steuerrechts. Zu Erinnerung: Dort wird die Absicht zur Verwirklichung eines Gesamtplans aus objektiven Umständen abgeleitet und dem Steuerpflichtigen der Gegenbeweis dadurch eröffnet, dass er ‚good business reasons‘ für die potentiell missbräuchliche Gestaltung anführt.394 Mit dieser Erkenntnis verliert eine andere Frage ebenfalls an Bedeutung, nämlich diejenige, ob die Absicht, sich einen unionsrechtlichen Vorteil zu verschaffen, das einzige Ziel395 oder das wesentliche Ziel396 sein muss. Die Entscheidungen des EuGH lassen hier keine einheitliche Linie erkennen, was nicht verwundert, denn die Bedeutung des subjektiven Elements hängt von der jeweiligen Fallgestaltung ab.397 Dem widerspricht es nicht, dass vorliegende Arbeit den parallel gelagerten Streit im französischen Recht zur fraude à la loi als beachtlich eingestuft hat.398 Denn zum einen nimmt das unionsrechtliche Missbrauchsverbot einen deutlich breiteren Anwendungsbereich ein als die fraude à la loi, zum anderen wird es gerade nicht mit der alleinigen Intention angewandt, den Achtungsanspruch der Rechtsordnung zu verteidigen.399 IV. Beweislastfragen Von besonderer Bedeutung für den praktischen Umgang mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot ist die Frage, wer den Nachweis der Missbräuchlichkeit führen muss.400 Grundsätzlich ist es so, dass der EuGH den Gerichten der Mitgliedstaaten einen gewissen Spielraum in der Beweiserhebung zugesteht,401
391
Vgl. oben, S. 153. Schön, in: FS Wiedemann, S. 1271, 1287. 393 Fleischer, JZ 2003, 865, 872. 394 S.o. S. 74 f. 395 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11612, Nr. 50. 396 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.7.2012, Rs. C-33/11 (A Oy), UR 2012, 873, 880, Nr. 64. 397 Vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 540. 398 Vgl. oben, S. 82. 399 Vgl. oben, S. 155. 400 Fleischer, JZ 2003, 865, 873. 401 Fleischer, JZ 2003, 865, 873. 392
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
der nur durch den effet utile-Grundsatz eingeschränkt ist.402 Eine konkrete Äußerung zu der Verteilung der Beweislast zwischen den beteiligten Akteuren findet sich jedenfalls ausdrücklich nicht. Fleischer403weist zutreffend darauf hin, dass GA Alber in der Rechtssache Emsland-Stärke den Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots demjenigen auferlegte, der sich darauf beruft, aber auch die Möglichkeit eines prima facie-Beweises in Erwägung zog.404 Es ist interessengerecht, demjenigen, der durch die Anwendung des Missbrauchsverbots begünstigt wird, die Beweislast aufzuerlegen. Ob ein prima facie-Beweis notwendig oder überhaupt möglich ist, erscheint zweifelhaft. Dieser wird gewöhnlich nur dort benötigt, wo Lücken in einem Kausalverlauf durch die Anwendung eines allgemein anerkannten Erfahrungssatzes überbrückt werden sollen. Notwendig ist darüber hinaus ein typischer Kausalverlauf.405 Da aber Missbrauchsgestaltungen zum einen in der Regel keine typischen Fälle sein werden und der an sich beweisbelastete Akteure letztlich nur diejenigen Tatsachen vortragen muss, aus denen sich die Tatbestandsvoraussetzungen nach der Überzeugungsbildung des Gerichts ergeben,406 können und müssen die Regeln des Anscheinsbeweises keine Anwendung finden. Steht etwa das missbräuchliche Erschleichen von Exportsubventionen im Raum, wie in Emsland-Stärke, obliegt es der normalerweise zur Zahlung verpflichteten Zollbehörde, das Gericht von einem Missbrauch durch den Exporteuer zu überzeugen. Hierzu kann sie etwa vortragen und beweisen, dass der Exporteur die exportierte Ware umgehend wieder in die Union eingeführt hat und damit – auf Ebene der rechtlichen Würdigung– eine rein künstliche Gestaltung gegeben ist.407
D. Abwägung mit widerstreitenden Prinzipien Allgemeine Rechtsprinzipien sind das Ergebnis eines induktiven Schlussverfahrens, bei dem vom Besonderen auf das Allgemeine geschlossen wird. 408 Diese Form der Ableitung bedingt naturgemäß eine gewisse Unsicherheit der
402
Vgl. unten, S. 212 f. Fleischer, JZ 2003, 865, 873. 404 Schlussanträge des GA Alber v. 16.5.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11571, 11592, Nr. 83. 405 Kollhosser, AcP 165 (1965), 46, 47. 406 Zu möglichen Abweichungen im Zuständigkeitsrecht über die Figur der sog. doppelrelevanten Tatsachen, s.u., S. 327 ff. 407 Vgl. dazu auch EuGH, Urt. v. 13.3.2014, Rs. C-107/13 (FIRIN OOD ./. Direktor na Direktsia «Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika»), DStR 2014, 650, 652, Nr. 44. 408 S.o., S. 97. 403
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gefundenen Regel: Ausnahmen sind immer möglich, was im Bereich der Erkenntnistheorie zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat, die hier allerdings nicht weiter vertieft werden können. 409 Allgemeine Rechtsgrundsätze fordern letztlich aufgrund dieser Ableitung eine Abwägung mit widerstreitenden Grundsätzen und Interessen. Die abstrakt formulierte Regel muss für den jeweils interessierenden Einzelfall nachvollzogen werden.410 Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz kann demnach nie nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip angewandt werden, 411 da ihm gerade die Frage der Gewichtung immanent ist. Dworkin spricht von einer „dimension of weight.“412 Von rein dogmatischem Interesse und ohne praktische Folgen ist dabei die Frage, ob diese Abwägung bereits im Rahmen der Anwendungsvoraussetzungen des jeweiligen Rechtsgrundsatzes zu erfolgen hat – die Anwendbarkeit eines bestimmten Grundsatzes wäre demnach schon nicht gegeben – oder auf einer nachgelagerten Ebene – ein entsprechender Grundsatz wäre auf den Sachverhalt anwendbar, würde aber von gegenläufigen Grundsätzen überspielt.413 Allgemeine Rechtsgrundsätze sind eine Art Flexibilisierungsinstrument gegenüber den konditional aufgebauten Rechtsregeln.414 Und auch Fragen des (Rechts-)Missbrauchs selbst werden, wie gesehen, zentral anhand einer Abwägung der betroffenen Interessen behandelt.415 Ob man hierin eine Verwirklichung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sehen kann, ist eher zweifelhaft.416 Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot teilt mit dem Verhältnismäßigkeits-
409
Der Streit um die Induktion als Erkenntnisquelle reicht zurück bis in das 17. Jahrhundert, vgl. Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 37. Als bekanntester neuzeitlicher Kritiker gilt Karl Popper, der die Geeignetheit des Induktionsschlusses insgesamt ablehnte, vgl. Popper, Logik der Forschung, S. 5: „Die […] Schwierigkeiten der Induktionslogik sind, wie wir glauben, unüberwindlich.“ Für die Rechtswissenschaft können die Bedenken Poppers aber insoweit ausgeräumt werden, als die beispielsweise von Kant zur Lösung des Induktionsproblems a priori vorausgesetzte Gleichmäßigkeit der Ereignisse eine normative Anbindung in Gleichheitssatz und der Forderung nach Rechtssicherheit etc. hat, Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 49 f. 410 Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 52; ders. in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 238; vgl. auch Weinberger, Rechtslogik, S. 270; Binder, euvr 2012, 164, 164. 411 Vgl. Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 24. 412 Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 26. 413 Dazu auch im Rahmen des Verbots unzulässiger Rechtsausübung im deutschen Recht, S. 34. 414 Auer, Materialisierung, S. 54 f. 415 Vgl. oben, S. 34. 416 Befürwortend Niemann, Missbrauch, S. 243 ff., die aber lediglich die Anwendung nationaler Missbrauchsverhinderungsmechanismen im Blick hat; angedacht auch bei Meyer, Forum Shopping, S. 137 f.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
grundsatz zwar die Notwendigkeit der Abwägung und beide dienen der Auflösung von Interessenkonflikten bzw. des Konflikts von Prinzipien.417 Die Verweise des EuGH auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Ausformung des Missbrauchsverbots sind für dessen heutiges Verständnis aber eher zu vernachlässigen.418 Und schließlich wäre die Annahme, wonach bei der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots die Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu beachten sind, in der praktischen Rechtsanwendung nur wenig hilfreich: Das Missbrauchsverbot fordert wie gesehen aus sich heraus die Abwägung mit widerstreitenden Prinzipien.419 Mit welchen Grundsätze und Interessen das Missbrauchsverbot abzuwägen ist, kann nicht abstrakt dargelegt werden. Eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich, aber auch nicht notwendig. Aus der Rechtsprechung des EuGH und der darauf bezogenen Literatur können aber mittlerweile einige herausgefiltert werden, die in jedem Fall zu berücksichtigen sind: das Gebot bestimmter und vorhersehbarer Rechtsakte als Ausprägung des übergeordneten Gebots der Rechtssicherheit,420 andere allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, wie beispielsweise die einheitliche Anwendung des Unionsrechts,421 die Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt422 und das Ziel möglichst umfassender Integration423.424 Aus zivilverfahrensrechtlicher Sicht sind für die vorliegende Arbeit dabei vor allem folgende Prinzipien von Bedeutung: der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in die Rechtspflege der anderen Mitgliedstaaten, das Gebot der Rechtssicherheit und, darauf aufbauend, das Gebot, vorhersehbare Zuständigkeiten zu schaffen, das Gebot einheitlicher Anwendung des Unionsrechts und die Verhinderung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen. Der genaue Inhalt dieser Prinzipien und Werte wird an andere Stelle noch näher dargestellt und – als Reaktion auf die teilweise recht allgemein gehaltene Zurückweisung von Missbrauchserwägungen durch Teile der Literatur im Europäischen Zivilverfahrensrecht – abstrakt geprüft, ob sie per se einer Übertragung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Wege stehen.425 417 Vgl. zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, M. Stürner, Verhältnismäßigkeit, S. 330 ff., 347 ff. 418 Zu den Gründen, s.u., Kap. 2 Fn. 12. 419 Vgl. oben, S. 119. 420 EuGH, Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1675, Nr. 72. 421 Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 547 ff. 422 Z.B. EuGH, Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97 (Centros Ltd ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen), Slg. 1999, I-1459. 423 Vgl. die Nachweise bei Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 549. Vgl. auch Ziegler, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 295, 307. 424 Vgl. Simon/Rigaux, Mélanges en hommage à Guy Isaac, S. 559, 582 ff. Vgl. auch Reuß, Forum Shopping, S. 315 f. 425 S.u., S. 210 ff.
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E. Wirkungen des Missbrauchsverbots Liegen die Voraussetzungen des Missbrauchsverbots vor, so darf die entsprechende Norm nicht angewandt werden.426 Unerheblich ist, ob es sich dabei um eine Rechtsnorm handelt, die dem Einzelnen subjektive Rechte nach deutschem Methodenverständnis gewährt. 427 In der Diktion des französischen Rechts könnte man sagen, das unionsrechtliche Missbrauchsverbot „fait exception à toutes les règles.“428 Ist ein bestimmtes Verhalten als nur teilweise missbräuchlich einzustufen, ist auch die Rechtsfolge nur eine teilweise Nichtanwendung der entsprechenden Rechtsnorm.429 Das mag man als Folge des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sehen, der die Rechtsfolgen des Missbrauchsverbots – mit anderen Worten, die Nichtanwendung von Unionsrecht – auf das nötige Maß beschränkt.430 Letztlich liegt es in der Natur der Sache: Kann die Rechtsfolge einer Rechtsnorm auch teilweise verwirklicht werden und bezieht sich der Missbrauch nur auf einen Teil, ist eben nur der daraus fließende Vorteil nicht zu gewähren. Ist die Wirkung des Missbrauchsverbots an sich relativ klar, bereiten andere Fragen größere Schwierigkeiten. Von Interesse ist vor allem, wie weit das Missbrauchsverbot in sachlicher Hinsicht wirkt, ob es vor allem auch in privatrechtliche Beziehungen hineingreift (unten, I.). Des Weiteren muss geklärt werden, welche Grenzen dem Missbrauchsverbot in subjektiver Hinsicht gezogen sind, ob es über die konkrete Rechtsbeziehung hinaus auch gegenüber Dritten wirkt (unten, I,) und letztlich, wie die Wirkungsweise des Missbrauchsverbots im Konkurrenzverhältnis von nationalem Recht und Unionsrecht einzuordnen ist (unten, III.). I. Sachlicher Wirkungsbereich Die ursprüngliche Domäne des Missbrauchsverbots ist das öffentliche Recht. In den ersten Entscheidungen des EuGH, die heute als Ausgangspunkt des Missbrauchsverbots gesehen werden, beispielsweise van Binsbergen, steht eher die Frage der Kompetenzabgrenzung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten im Raum. Die Befugnis zur Missbrauchsverhinderung erscheint dort als Zugeständnis des Gerichtshofs an die Mitgliedstaaten, dass diese unter 426 Statt vieler, vgl. EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11612, Nr. 51. 427 Statt vieler, vgl. Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 554 ff. m.w.N.; a.A. mit Blick auf Art. 27 EuGVVO a.F. Leitzen, GRUR Int. 2004, 1010, 1014. 428 Vgl. oben, S. 83. 429 Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 542; Weber, 53 ET (2013) 313, 325. 430 Sørensen, C.M.L.R. 43 (2006) 423, 458.
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gewissen Umständen nicht verpflichtet sind, die mit dem Binnenmarkt zusammenhängende Bürde der Freizügigkeit, die sich vor allem im Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht ausdrückt, bedingungslos zu tragen. Dahinter steht der Gedanke, die Akzeptanz des Binnenmarktprojekts durch (eng umgrenzte) Abweichungsbefugnisse zugunsten der Mitgliedstaaten zu erhöhen.431 Allerdings hat sich das Missbrauchsverbot mit der Zeit zu einem abstrakten Korrekturmechanismus entwickelt, der sich in Funktion und Anwendungsbereich stark von seinen Anfängen unterscheidet. 1. Unmittelbare Wirkung im Gleichordnungssystem So wirkt das Missbrauchsverbot mittlerweile auch in Beziehungen der Gleichordnung hinein, vornehmlich in den Privatrechtsverkehr. Dies ist deshalb systemkonform, da das Missbrauchsverbot aufgrund seiner Qualität als allgemeiner Rechtsgrundsatz in sachlicher Hinsicht im gesamten Unionsrecht Anwendung finden muss. Unterstützung findet diese These durch einen Blick auf die Geltungskraft, welche allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts in der Vergangenheit zugestanden wurde.432 Eine Analyse der Rechtsprechung des EuGH bestätigt dies ebenfalls: Eine unterschiedliche Behandlung von Sachverhalten in Abhängigkeit von deren Zuordnung zu einem bestimmten Rechtsbereich lässt sich nicht beobachten.433 Selbst wenn die Entscheidungspraxis des EuGH bisher nur eine Hand voll Fälle liefert, in denen das Missbrauchsverbot unmittelbar horizontale Beziehungen zwischen Privatrechtssubjekten betraf,434 spricht dies nicht gegen dessen Anwendung in diesem Bereich. Denn auch für andere allgemeine Grundsätze des Unionsrechts lässt sich eine Entwicklung beobachten, wonach die in öffentlich-rechtlichem Umfeld ge-
431
Sørensen, C.M.L.R. 43 (2006) 423, 424; vgl. auch Kjellgren, 11 E.B.L.R. (2000) 179, 192. Zur Parallele auf Ebene des Europäischen Zivilverfahrensrechts, s.u., S. 287 ff. 432 Vgl. Semmelmann, in: Besson/Pichonnaz, Les principes en droit européen, S. 233, 240; Schulze, ZEuP 1993, 442, 451. A.A. Rybarz, Billigkeitserwägungen, S. 52, der behauptet, allgemeine Rechtsgrundsätze könnten nur in dem Bereich Geltung beanspruchen, in dem sie geschaffen wurden – der Verweis auf Metzger, Allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 373 f. überzeugt zur Absicherung dieser These indes nicht, da Metzger am bezeichneten Ort nur die Relativität allgemeiner Rechtsgrundätze (‚dimension of weight‘) betont. 433 Vgl. oben, S. 115 f. 434 Vgl. oben, S. 107 f. und EuG, Urt. v. 8.5.2007, Rs. T-271/04 (Citymo SA ./. Kommission), Slg. 2007, II-1375 (Vergaberecht).
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
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schaffenen Grundsätze mit der Zeit in das Unionsprivatrecht übertragen wurden.435 Die überwiegende Meinung in der Literatur gesteht dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot daher zu Recht einen Anwendungsbereich zu, der über das in traditioneller Weise verstandene öffentliche Recht hinausgeht.436 2. Public/private-divide und Europäisches Zivilverfahrensrecht Da das unionsrechtliche Missbrauchsverbot die Grenzen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht überwindet, kann eine weitergehende Frage eigentlich offen gelassen werden. Sie soll hier dennoch beantwortet werden, da die eben aufgestellte These von der transzendierenden Wirkung des Missbrauchsverbots an sich gerade voraussetzt, dass im Unionsrecht die dem kontinentaleuropäischen Juristen so gebräuchliche Trennung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht, das sog. public/private-divide,437 ebenfalls in gleicher Weise gilt. Interessant ist diese Untersuchung daneben deshalb, da sich das letztendlich interessierende Europäische Zivilverfahrensrecht selbst einer klaren Einordnung als öffentlich-rechtliche Materie bzw. als Privatrecht verwehrt.438 Dabei ist die Trennung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht ein Ansatz, der sich in vielen kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen wiederfindet.439 Eine deutliche Ausnahme bildet das Common Law, welches traditionell einen einheitlichen Ansatz pflegt und nicht in gleicher Weise zwischen zwei verschiedenen Rechtsmaterien trennt.440 Und auch im Unionsrecht kann ganz allgemein nicht (mehr441) trennscharf zwischen beiden Bereichen unterschieden werden.442 So beinhalten die vormals lediglich die Mitgliedstaaten bindenden Grundfreiheiten nunmehr subjektive Rechte und aus Richtlinien, die
435
Semmelmann, in: Besson/Pichonnaz, Les principes en droit européen, S. 233, 240; a.A. Rybarz, Billigkeitserwägungen, S. 51 f. Zu den jedoch problematischen Begriffen von Privatrecht und öffentlichem Recht im Unionsrecht sogleich bei Fn. 437 ff. 436 Vgl. Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159, 172 f.; Lennaerts, 18 E.R.P.L. (2010) 1121, 1151 m.w.N.; Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 2535, 240; Sørensen, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 25, 31; Triantafyllou, CDE 2002, 611, 632. Zweifelnd: Spaventa, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 315, 319 f. 437 Zum public/private-divide in Europa, vgl. Heidemann, 20 E.B.L.R. (2009) 119 ff. 438 Vgl. Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 12 m.w.N. und Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, S. 85 ff.: „Mischgebilde“ (S. 87); zu den Parallelproblemen im Internationalen Privatrecht, vgl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 139 ff. 439 Zulegg, ZEuP 2001, 533, 534. Allerdings ist auch dort die Trennung in vielen Bereichen mittlerweile stark aufgeweicht, vgl. Tridimas, General Principles, S. 47; Verbruggen, EUI Working Paper, S. 1, 1. 440 Verbruggen, EUI Working Paper, S. 1, 1. 441 Verbruggen, EUI Working Paper, S. 1, 16. 442 Maduro, Interpreting European Law, S. 1; Reich, in: Micklitz/Cafaggi, European Private Law, S. 56, 87; Zuleeg, ZEuP 2001, 533, 534: allenfalls Randerscheinung.
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ihrer Funktion nach nur einen Rechtsetzungsauftrag der Mitgliedstaaten darstellen, werden unter besonderen Umständen ebenfalls Rechte der Unionsbürger abgeleitet.443 Wenn Private auf dem Binnenmarkt interagieren, betreiben sie damit eine Art private enforcement von gewissen, eigentlich an die Mitgliedstaaten gerichteten Handlungsgeboten.444 Ein ähnlich diffuses Bild zeichnet die Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Zivilverfahrensrecht. Insbesondere die Auslegung des Begriffspaars ‚Zivil- und Handelssache‘ im Sinne des Art. 1 Abs. 1 EuGVVO bzw. der jeweiligen Passagen in den sonstigen Verordnungen dieses Bereichs spiegelt einen im besten Falle als funktional zu bezeichnenden Ansatz wider. Zwar stellt der EuGH grundsätzlich darauf ab, ob ein Verhältnis der Über- bzw. Unterordnung zwischen den Verfahrensbeteiligten vorliegt oder nicht.445 In der Rechtssache Realchemie Nederland betonte der Gerichtshof aber stärker den Zweck einer bestimmten Handlung und ordnete staatliches Verhalten dann als Zivilsache ein, wenn es der Sicherung privater Rechte dient.446 In der Folge wurde auch die Rückforderung staatlicher Enteignungsentschädigungsleistungen durch eine staatliche Stelle als Zivilsache eingeordnet.447 Dahinter verbirgt sich im Ergebnis eine systematische Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verordnungen; ob eine Materie nach gebräuchlichem Verständnis als öffentlich-rechtliche zu qualifizieren ist, soll bewusst keine Rolle spielen.448 3. Zwischenergebnis Die Ausführungen machen deutlich, warum das unionsrechtliche Missbrauchsverbot im gesamten Unionsrecht, insbesondere im Europäischen Zivilverfahrensrecht449 prinzipiell Geltung erlangen muss: Wegen seiner Qualität als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der tatsächlichen Rechtsprechungspraxis des EuGH, weil dem public/private-divide im Unionsrecht keine konstitutive Bedeutung zukommt und überdies das Europäische Zivilverfahrensrecht selbst die gebräuchlichen Grenzen zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht überwindet.
443 Vgl. statt vieler Köndgen, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 189, 199 ff. 444 Vgl. Verbruggen, EUI Working Paper, S. 1, 9 ff.; Löwisch, Die horizontale Direktwirkung der Europäischen Grundfreiheiten, S. 190 f. Zur steuerungstheoretischen Persepektive, vgl. Gehring, Supranationale Steuerung durch die Europäische Union, S. 22. 445 G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 1 EuGVVO Rn. 13. 446 EuGH, Urt. v. 18.10.2011, Rs. C-406/09 (Realchemie Nederland BV ./. Bayer CropScience AG), Slg. 2011, I-9773, 9817, Nr. 42. 447 Vgl. EuGH, Urt. v. 11.4.2013, Rs. C-645/11 (Land Berlin ./. Ellen Mirjam Sapir u.a.), NJW 2013, 1661. 448 Basedow, in: FS Canaris, S. 54. 449 Hierzu ausführlich unten, S. 179 ff.
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II. Persönlicher Wirkungsbereich In persönlicher Hinsicht wird durch das Missbrauchsverbot jeder erfasst, der Adressat unionsrechtlicher Bestimmungen sein kann.450 Wesentlich bedeutsamer ist die Frage, wie weit die Wirkungen des Missbrauchsverbots in persönlicher Hinsicht reichen. Mit anderen Worten: Werden auch außenstehende Dritte durch das Missbrauchsverdikt beeinflusst bzw. können sie sich aktiv darauf berufen? Diese Fragen sind mit Blick auf später zu behandelnde Zivilverfahren deshalb von Bedeutung, da dort häufig ein Verfahren durch eine Zweipersonenkonstellation geprägt ist, die Wirkungen des Verfahrens sich aber auch auf Dritte erstrecken können. 1. Subjektiv-rechtliche Dimension Dabei muss zunächst geklärt werden, ob sich Rechtssubjekte überhaupt auf das Missbrauchsverbot berufen können, oder ob dieses lediglich zu deren Nachteil geltend gemacht werden kann. Letzteres drängt sich auf den ersten Blick zunächst auf, da die Mehrzahl der Fälle aus der Rechtsprechung des EuGH dadurch gekennzeichnet ist, dass Mitgliedstaaten das Missbrauchsverbot gegenüber Privatrechtssubjekten zu deren Lasten angewandt wissen wollten.451 Daraus kann aber nicht gefolgert werden, dass das Missbrauchsverbot zwischen Letzteren nie Geltung beanspruchen könnte. So spricht sich etwa Sørensen dafür aus, dass auch Privatrechtssubjektiven der Rekurs auf das Missbrauchsverbot offensteht, ohne allerdings den argumentativen Unterbau hierfür zu liefern. Dieser ergibt sich aus der Rechtsprechung von EuGH und EuG zu sonstigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen: Hieraus lässt sich ableiten, dass dem Einzelnen ein subjektives Recht aus dem jeweiligen allgemeinen Grundsatz zugestanden wird, so beispielsweise für den Grundsatz des Schutzes berechtigter Erwartungen.452 Konsequenterweise wurde es einem Bieter in einem Vergabeverfahren dementsprechend gestattet, die Verletzung seiner berechtigten Erwartungen gegenüber der öffentlichen Hand geltend zu machen.453 Darüber hinaus hat der EuGH mit Entscheidungen wie Bosman454 und Angonese455 450
Dies gilt auch für die Organe der EU, vgl. oben, S. 143. Sørensen, 43 C.M.L.R. (2006) 423, 442. Vgl. im Übrigen die Entscheidungen auf S. 100 ff. 452 Vgl. die Nachweise bei EuG, Urt. v. 8.5.2007, Rs. T-271/04 (Citymo SA ./. Kommission), Slg. 2007, II-1375, 1414, Nr. 108. 453 EuG, Urt. v. 17.12.1998, Rs. T-203/96 (Embassy Limousines & Services ./. Europäisches Parlament, Slg. 1998, II-4239, 4265, Nr. 74 ff. 454 EuGH, Urt. v. 15.12.1995, Rs. C-415/93 (Union royale belge des sociétés de football association ASBL ./. Jean-Marc Bosman, u.a.), Slg. 1995, I-4921. 455 EuGH, Urt. v. 6.6.2000, Rs. C-281/98 (Roman Angonese ./. Cassa di Risparmio di Bolzano SpA), Slg. 2000, I-4139. 451
170
1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
auch den Grundfreiheiten des Primärrechts horizontal direkte Wirkung zuerkannt.456 Es sind in der Folge keine Gründe ersichtlich, warum dies für das unionsrechtliche Missbrauchsverbot anders sein sollte. 2. Reichweite erga omnes? Nicht entschieden ist damit allerdings die Frage, ob das Missbrauchsverdikt über die konkrete Rechtsbeziehung hinaus Wirkungen zeitigt. Die Arbeit hat an anderer Stelle schon angesprochen, dass im deutschen Recht die Wirkungen des Rechtsmissbrauchsverbots auf die Beziehung inter partes beschränkt werden.457 Hintergrund mag auch der fides-Gedanke sein, das dem anderen Teil gegenüber abgegebene Versprechen und das darauf gestützte Vertrauen.458 Besonders deutlich wird dies für das Verbot widersprüchlichen Verhaltens: Dort kommt es, wie gesehen, entscheidend auf die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des anderen Teils an.459 Wollte man die Wirkungen des Rechtsmissbrauchsverbots auf Dritte erstrecken, würde man entweder auch völlig schutzunwürdige Dritte schützen oder müsste bei diesen ebenfalls eine Prüfung ihrer Schutzwürdigkeit durchführen. Diskutiert wird in der Literatur eine Erstreckung auf Dritte für den Fall des Rechtserwerbs.460 Außerhalb von Einzel- oder Gesamtrechtsnachfolge werden die Erklärungsansätze für eine Wirkungserstreckung dünn.461 Beim unionsrechtlichen Missbrauchsverbot entstehen vor allem dadurch Unsicherheiten, dass es neben den Fällen individuellen Rechtsmissbrauchs auch diejenigen des Erschleichens und Vermeidens von Rechtsnormen erfasst. Letztere Fälle sind nicht so sehr von subjektiver Vorwerfbarkeit und enttäuschtem Vertrauen gekennzeichnet, als dies die Fälle individuellen Rechtsmissbrauchs sind, was eher Raum für eine Wirkungserstreckung auf Dritte ließe. Im Rahmen der französischen fraude à la loi hält man dies folglich auch durchaus für möglich. 462 Hinsichtlich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots
456 Tridimas, General Principles, S. 49 f., allerdings mit Fokus auf grundrechtliche Rechtspositionen. 457 Vgl. oben, S. 42. 458 Vgl. oben, S. 27. 459 Vgl. S. 41 f. 460 Z.B. Canaris, Vertrauenshaftung, S. 518 f.; Schmidt-Kessel, in: Prütting/Wegen/Weinreich, § 242 Rn. 32; Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB, Rn. 277. 461 Vgl. Hohloch, in: Erman, § 242 BGB, Rn. 132; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB, Rn. 229: Rechtsgedanke der §§ 429 Abs. 3, 425 Abs. 1 BGB. 462 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 760 f.: Die französische Lehre unterscheidet danach, ob der Dritte durch die Anwendung der fraude à la loi einen entgeltlichen oder unentgeltlichen Vorteil verlieren würde, wie dies von der action paulienne her bekannt ist. In letzterem Fall muss er den Verlust der Vorteile hinnehmen, in ersterem Fall nur dann, wenn er Komplize des Handelnden ist.
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
171
würde eine derartige Herangehensweise allerdings zu einer gespaltenen Auslegung führen, was dessen Rechtswirkungen angeht und ist daher mit Vorsicht zu begegnen. Eine generalisierende Antwort auf diese Frage lässt sich ohnehin schwerlich geben, da die dem Verbot innewohnende Abwägungsnotwendigkeit und seine Einzelfallbezogenheit die Berücksichtigung der jeweils konkreten Umstände erfordert. Es wird daher, soweit dies notwendig ist, bei den unten zu besprechenden Missbrauchskonstellationen darauf zurückzukommen sein. III. Wirkungsweise Einzelheiten zur Wirkungsweise des Missbrauchsverbots wurden schon in Zusammenhang der Wechselwirkung von Auslegung und Missbrauchsverbot besprochen.463 Hier sollen nur noch die offen gebliebenen Fragen beantwortet werden, insbesondere das Verhältnis des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots zu nationalen Ansätzen, mit denen Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch verhindert werden. 1. Verhältnis zu nationalen Ansätzen der Missbrauchsverhinderung Da die Mitgliedstaaten über eigenständige Mechanismen zur Verhinderung von Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch verfügen, fragt sich, wie deren Verhältnis zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbot einzuordnen ist. Auch wenn Entscheidungen wie Kefalas464 den Anschein erwecken, als gestatte der EuGH den Mitgliedstaaten den bedingungslosen Rückgriff auf nationale Missbrauchsverhinderungsmechanismen, kann dies aus Gründen des effet utile und des Vorrangs des Unionsrechts natürlich nicht angehen.465 Es ist vielmehr so, dass die mitgliedstaatlichen Institutionen ihre nationalen Konzepte zur Verhinderung von Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung anwenden dürfen, aller-
463
Vgl. oben, S. 140 ff. EuGH, Urt. v. 12.5.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1998, I-2843, 2869, Nr. 21. 465 Manche Autoren diskutieren auch, ob es Bereiche im Unionsrecht gibt, in denen die Mitgliedstaaten freie Hand bei der Missbrauchsverhinderung haben, so z.B. Weber, Tax Avoidance, S. 170 ff. Habe der Unionsgesetzgeber die Kompetenz zur Verhinderung von Missbräuchen ausdrücklich auf die Mitgliedstaaten übertragen, so komme ihnen eine Einschätzungs- und Vollzugsprärogative zu. Zu nennen ist hier z.B. Art. 35 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. L 158 vom 30.4.2004, S. 77. Da im Europäischen Zivilverfahrensrecht derartige Kompetenzübertragungen nicht festgestellt werden können, soll diesen Fragen hier nicht weiter nachgegangen werden. 464
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
dings modifiziert durch die Vorgaben des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots. Denn nur das Unionsrecht kann über seine Nichtanwendung selbst entscheiden, nimmt man das Vorrangprinzip ernst.466 Diese Sichtweise wird von vielen Stimmen in der Literatur467 und auch von Generalanwälten 468 geteilt. Der Gerichtshof hat sich in seiner knapp zwei Jahre nach Kefalas ergangenen Diamantis-Entscheidung ebenfalls in diesem Sinne ausgesprochen.469 Die in älteren Entscheidungen anzutreffende Fixierung auf nationale Missbrauchsverhinderungsmechanismen unter dem Vorbehalt des effet utile ist einer genuin unionsrechtlichen Betrachtung der Missbrauchsverhinderung gewichen. Die deutsche Rechtsprechung hingegen ist von einem uneinheitlichen Ansatz geprägt: Während die Finanzgerichtsbarkeit konsequent vor allem § 42 AO anhand der Vorgaben des EuGH modifiziert,470 vollzieht das BAG zwar das unionsrechtliche Missbrauchsverbot durch Anwendung von § 242 BGB und des Rechtsmissbrauchsverbots, bleibt aber, was deren Anwendungsvoraussetzungen betrifft, den deutschen Kategorien verhaftet und vernachlässigt so insbesondere das subjektive Element des Missbrauchsverbots in nicht zu rechtfertigender Weise.471 2. Referenzmodell: Der unionsrechtliche Staatshaftungsanspruch Ein ähnliches Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht ist im Zusammenhang mit der Staatshaftung wegen Verletzung von Unionsrecht bekannt.
466
So auch Schmidt-Kessel, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2001, S. 61, 75; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 563. 467 Rybarz, Billigkeitserwägungen, S. 170; Cornut, 134 Clunet (2007), 27, 39; Hahn, IStR 2007, 323, 326; Kokott, FR 2008, 1041, 1041; Lange, DB 2006, 519, 521; Sørensen, C.M.L.R. 43 (2006) 423, 452; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 562 f.; Weber, in: Prohibition of Abuse of Law, S. 395, 400; Wilke, UR 2011, 925, 931; differenzierend: Schmidt-Kessel, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2001, S. 61, 76; für ein paralleles Vorgehen Niemann, Missbrauch, S. 231 f., die aber dann eine Orientierung am unionsrechtlichen Missbrauchsverbot für nötig erachtet. 468 GA Saggio in seinen Schlussanträgen v. 28.10.1999, Rs. C-373/97 (Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 2000, I-1705, 1715 f, Nr. 22 ff. 469 EuGH, Urt. v. 23.3.2000, Rs. C-373/97 (Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 2000, I-1705, 1735,Nr. 35: „Es obliegt dem vorlegenden Gericht, […] festzustellen, ob die Anwendung von Artikel 281 des Zivilgesetzbuchs mit dieser Anforderung vereinbar ist.“ Vgl. zu diesem Wandel die Schlussanträge des GA Maduro v. 7.4.2005, Rs. C255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1636, Nr. 65. 470 Vgl. BFH, Urt. v. 9.11.2006, VR 43/04, BFHE 215, 379, 388. Ohne Nennung des § 42 AO, aber mit Verweis auf die eben genannte Entscheidung des BFH z.B. das FG BadenWürttemberg, Urt. v. 7.2.2013, 12 K 4851/09, Nr. 14 f. (juris). 471 BAG, Urt. v. 18.7.2012, 7 AZR 443/09, NJW 2013, 1254 (Leitsatz) und Nr. 38.
§ 5 Missbrauchsverhinderung im Unionsrecht
173
Mit der Entscheidung in Sachen Francovich472 verpflichtete der EuGH die Mitgliedstaaten in Form eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts, unter bestimmten Umständen ihren Bürgern denjenigen Schaden zu ersetzen, der aus einer Verletzung von Unionsrecht heraus entsteht. Der Grund der Haftung wird als unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch bezeichnet. 473 Es ist aber noch nicht endgültig geklärt, ob es sich um einen selbständigen Anspruch des Unionsrechts handelt oder dieser vielmehr aus dem nationalen Recht fließt bzw. das nationale Recht eine entsprechende Haftungsgrundlage wegen der Entscheidung des EuGH in Francovich bereitstellen muss, die deren Voraussetzungen entspricht.474 Vor allem die die deutsche Rechtsprechung verfolgt dabei erstere Linie.475 In der Literatur spricht man sich hingegen häufig für letztere Lösung aus.476 Der EuGH selbst formulierte in Brasserie du Pêcheur: „Wie sich aus dem Urteil Francovich […] ergibt, hat der Staat vorbehaltlich des Entschädigungsanspruchs, der, sofern die in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen erfüllt sind, seine Grundlage unmittelbar im Gemeinschaftsrecht findet, die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben, wobei die dort festgelegten Voraussetzungen nicht ungünstiger sein dürfen als bei entsprechenden innerstaatlichen Ansprüchen […].“477
Unabhängig davon, ob man den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch als eigenständigen Anspruch des Unionsrechts betrachtet oder ihm lediglich die Funktion eines normativen Rahmens zuerkennt, können die Erkenntnisse zum unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch für das Missbrauchsverbot fruchtbar gemacht werden. Denn Einigkeit besteht bezüglich ersterem dahingehend, dass die ‚Haftungsfolgen‘, also der Vollzug der Haftung, dem nationalen Recht zuzuordnen ist.478 Dies unterstützt das in vorliegender Arbeit entwickelte Verständnis hinsichtlich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots: Es ist zum einen Legitimationsgrundlage für die mitgliedstaatlichen Institutionen, Unionsrecht unter bestimmten Voraussetzungen nicht anwenden zu müssen, zum anderen kommt ihm eine entsprechende Wächterfunktion zu. Damit ist gemeint, 472 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 (Andrea Francovich u. a. ./. Italienische Republik), Slg. 1991, I-5357. 473 Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 595. 474 Vgl. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 627; Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 103. 475 Z.B. BGH, Urt. v. 14.12.2000, III ZR 151/99, BGHZ 146, 153. Für einen eigenständigen unionsrechtlichen Anspruch auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 340 AEUV, Rn. 70 m.w.N. 476 Tridimas, General Principles, S. 533; Papier, in: MüKo-BGB, § 839 BGB, Rn. 103 m.w.N.; Weber, NVwZ 2001, 287, 288 f. m.w.N. 477 EuGH, Urt. v. 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und 48/93 (Brasserie du Pêcheur ./. Deutschland; The Queen ./. Secretary for Transport, ex parte Factortame Ltd), Slg. 1996, I1029, 1153, Nr. 67. 478 Vgl. Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 625 f.
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1. Kapitel: Missbrauch im nationalen Recht und im Unionsrecht
dass nationale Maßnahmen zur Missbrauchsverhinderung den unionsrechtlichen Vorgaben entsprechen müssen. Daneben kommt aber auch eine isolierte Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots selbst in Betracht.479
F. Zusammenfassung Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot stellt einen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, der in allen Bereichen des Unionsrechts zur Anwendung gelangt. Ob er letztlich auch Wirkung zeitigt, ist eine Frage der Abwägung mit widerstreitenden Interessen und Grundsätze, was zum einen eine Eigenheit der Verhinderung von Missbrauch darstellt, zum anderen aus der Qualität des Missbrauchsverbots als induktiv abgeleiteter allgemeiner Rechtsgrundsatz folgt. Tatbestandlich deckt das Missbrauchsverbot einen Bereich ab, der im nationalen Recht den Fragen der Gesetzesumgehung bzw. der fraude à la loi und dem individuellen Rechtsmissbrauch zugeschlagen wird. Die Kombination unterschiedlicher Instrumente erschwert es, die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Missbrauchs von Unionsrecht im Einzelfall festzulegen und fordert eine Anpassung auf den jeweils vorliegenden Fall. Zentrale Aufgabe des Missbrauchsverbots ist es, mitgliedstaatliche Institutionen in der Rechtsanwendung zu legitimieren, Unionsrecht unter besonderen Voraussetzungen nicht anwenden zu müssen. Dabei liegt es am EuGH, die Kriterien für einen Missbrauch von Unionsrecht zu bestimmten, wohingegen es in die Kompetenz der mitgliedstaatlichen Gerichte fällt, das Verbot anzuwenden und eine bestimmte Gestaltlung für missbräuchlich zu erklären. Hierbei können die mitgliedstaatlichen Gerichte nationale Instrumente der Missbrauchsverhinderung anwenden, solange und soweit sie den Vorgaben des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots entsprechen. Unklarheiten hinsichtlich dessen Reichweite und Inhalt sind gegebenenfalls durch Vorlage an den EuGH zu klären. Da der effet utile der nationalen Methodenlehre praktische Grenzen setzt, spielt die Auslegung bei der Lösung von Missbrauchsfällen nur eine untergeordnete Rolle, was nicht heißt, dass sie bedeutungslos wäre. Wie die Ausführungen zur Wechselwirkung von Auslegung und Missbrauchsverbot zeigen konnten, erhebt der EuGH die Auslegung der potentiell missbrauchten Rechtsnorm zu einer integralen Voraussetzung für die Anwendung des Missbrauchsverbots. Allerdings können beispielsweise die bedeutsamen Fälle des Erschleichens von Rechtsnormen regelmäßig nicht im Wege einer teleologischen Reduktion gelöst werden. Gleiches gilt für die Fallgruppe der missbräuchlichen Rechtsausübung. Insbesondere das subjektive Element des Missbrauchsverbots ist hier zu beachten. . 479
So auch Reuß, Forum Shopping, S. 254, Fn. 253.
Kapitel 2
Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht Nachdem die Grundlagen der Missbrauchsverhinderung auf nationaler Ebene und auf Ebene des Unionsrechts ausführlich beleuchtet worden sind, soll im folgenden zweiten Kapitel der Arbeit der Verfahrensmissbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht in den Fokus gerückt werden. Die These der Arbeit ist es, dass das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als Grundlage zur Verhinderung von Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht dienen kann. Um dies zu untermauern, wird in den folgenden Abschnitten zunächst die prinzipielle Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht begründet (unten, § 6). Hierbei wird anhand der dogmatischen Einordnung des Grundsatzes und Hinweisen in Rechtsprechung und Gesetzgebung gezeigt, dass durchaus das Bedürfnis und die Möglichkeit bestehen, Verfahrensmissbrauch mittels des generalklauselartigen Verbots zu begegnen. Daran anschließend wird mit Blick auf die wichtigsten Strukturprinzipien des Europäischen Verfahrensrechts geprüft, ob es abstrakte Gründe gibt, die gegen eine Anwendung des Verbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht sprechen (unten, § 7).
§ 6 Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im EuZVR
Von zentraler Bedeutung für die Arbeit ist die Frage, ob das unionsrechtliche Missbrauchsverbot im Bereich des Europäischen Zivilverfahrensrecht Geltung beanspruchen kann oder nicht. Die Arbeit kommt in nachfolgendem Abschnitt diesbezüglich zu einem positiven Ergebnis. Neben den schon an anderer Stelle vorgetragenen Argumenten 1 stützen sich die Ausführungen dabei auf allgemeine Erwägungen hinsichtlich der Geltungskraft allgemeiner Rechtsgrundsätze (unten, A.), die Rechtsprechung des EuGH zum unionsrechtlichen Missbrauchsverbot (unten, B. I.) sowie auf Entscheidungen in unmittelbar zivilverfahrensrechtlichem Kontext, in denen der EuGH Missbrauchsverhinderung betrieb, sowie entsprechende Ansätze im geschriebenen Europäischen Zivilverfahrensrecht (unten, B. II.). Danach wird in einer rechtsvergleichenden Untersuchung der Diskussionsstand zum deutschen Zivilverfahrensrecht und anderen europäischen Rechtsordnungen aufgezeigt, was die Handhabung von Verfahrensmissbrauch angeht. Hieraus sollen Rückschlüsse auf die Praxistauglichkeit des von vorliegender Arbeit verfolgten Ansatzes gezogen werden (unten, C.). Zum Abschluss wird die Notwendigkeit der Übertragung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrecht diskutiert (unten, D.), wobei insbesondere die Möglichkeit einer Missbrauchskontrolle anhand nationaler Maßstäbe und die Kontrolle anhand des zumindest unionsweit einheitlichen Maßstabes von EMRK und Grundrechte-Charta untersucht wird. Anschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst (unten, E.).
A. Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts Es mag trivial klingen: Die Qualität des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts fordert, dass es im Europäischen Zivilverfahrensrecht beachtet werden muss bzw. in Erwägung gezogen werden kann. Es ist notwendigerweise mit anderen Prinzipien in Abwägung zu brin-
1
S.o., S. 167 f.
§ 6 Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im EuZVR
177
gen, mag seine Durchsetzung wegen höherrangiger anderer Prinzipien im Einzelfall auch zu unterbleiben haben.2 Dies wird mittlerweile auch im verfahrensrechtlichen Schrifttum erkannt, wobei man sich in der Regel auf Teilprobleme beschränkt. Eine vorbehaltlose Anerkennung findet sich vor allem im deutschen Schrifttum selten.3 Demgegenüber wird die Geltung des Missbrauchsverbots aber auch offen abgelehnt.4 Und selbst ein generelles Bewusstsein für die unionsrechtliche Dimension des Problems scheint nicht die Regel zu sein, wenn manche Autoren ohne besondere Begründung (wohl) nationale Konzepte der Missbrauchsverhinderung im Europäischen Zivilverfahrensrecht anwenden wollen.5 Abstrakte Argumente gegen die Geltung eines allgemeinen Grundsatzes in einem Teilrechtsbereich des Unionsrechts lassen sich jedoch schlicht nicht finden. Die Entscheidungspraxis des EuGH zwingt vielmehr sogar dazu, sich mit der Geltung des Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht auseinanderzusetzen. Denn letztlich ist das System der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das einheitliche System von Gerichtsständen und Verfahren, nur ein Mittel, um die allgemeinen Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt zu gewährleisten6, die durch Grundfreiheiten gesichert ist.7 Wenn aber selbst Grundfreiheiten über das unionsrechtliche Missbrauchsverbot eingeschränkt werden können, muss das auch für deren spezielle Ausformung, das Europäische Zivilverfahrensrecht, gelten. Ein Systembruch ist ohnehin nicht zu befürchten, schließlich ist die bisher durch den EuGH gepflegte Vorgehensweise in der Auslegung des Europäischen Zivilverfahrensrechts stark prinzipiengetragen.8 Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als allgemeiner Rechtsgrundsatz fügt sich demnach in die schon gepflegte Methodik gut ein.
2 Zur Notwendigkeit der Abwägung widerstreitender Prinzipien im Europäischen Zivilverfahrensrecht Binder, euvr 2012, 164, 167 ff. 3 Jedenfalls bei Meyer, Forum Shopping, S. 153 ff. (aber wiederum stark einschränkend); Reuß, Forum Shopping, passim; Lüttringhaus, ZZP 127 (2014) 29, 33 f. (zwar in der Sache nur auf Gerichtsstandsmissbrauch bezogen, aber in den Ausführungen eine allgemeine Geltung des Grundsatzes im Europäischen Zivilverfahrensrecht befürwortend); Thole, ZZP 122 (2009), 423, 433 f. Aus französischer Sicht Cornut, 134 Clunet (2007), 27 ff.; aus belgischer Sicht Nuyts, 3 GJA (2003) 1. ff.; ders., in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55 ff.; aus tschechischer Sicht Tichý, in: FS Martiny, S. 851, 852. 4 Z.B. Prütting, in: FS Stürner, S. 455, 457. 5 Vgl. oben, Einleitung Fn. 21 und unten, S. 200. 6 Vgl. z.B. Erwägungsgründe Nr. 1 und 2 EuGVVO a.F., Erwägungsgründe Nr. 3 und 4 EuGVVO, Erwägungsgründe Nr. 1 und 5-8 EuErbVO, Erwägungsgründe Nr. 1 und 2 EuGFVO. 7 Hess, in: Kramer/van Rhee, Civil Litigation in a Globalising World, S. 159, 166 m.w.N.; Kramer, NIPR 2011, 633, 640. 8 Hess, IPRax 2006, 348, 358.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Diese Annahme wird durch die Ergebnisse aus der rechtsvergleichenden Umschau im zweiten Teil der Arbeit bestätigt: Auch hier ist es so, dass die ursprünglich in einem Rechtsbereich – vornehmlich dem materiellen Recht – entwickelten Lösungsansätze mit der Zeit auch in andere Rechtsbereiche, vor allem das Verfahrensrecht, hineingetragen wurden.9
B. Hinweise in Rechtsprechung und geschriebenem Recht zur Vereinbarkeit von Missbrauchsverhinderung und Europäischem Zivilverfahrensrecht Ein weiterer Ansatzpunkt, um die Frage nach der prinzipiellen Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht zu beantworten, ist die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu missbräuchlichem Verhalten in diesem Bereich. Darüber hinaus zeigt sich in den Arbeiten des europäischen Gesetzgebers, dass dieser die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch als einen legitimen Belang im Zivilverfahrensrecht anerkennt. Selbst wenn in beiden Referenzmaterien eine ausdrückliche Bezugnahme auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot nicht zu finden ist, zeigt sich in der Art und Weise, wie hier Fälle potentiellen Verfahrensmissbrauchs gehandhabt werden, dass eine Anwendung des Missbrauchsverbots systemkonform wäre. I. Rechtsprechung des EuGH Der Gerichtshof hatte in der Vergangenheit in mehreren Entscheidungen Gelegenheit, über Verfahrensmissbrauch nach dem hier verwandten Verständnis zu entscheiden. In der Sache folgte er dabei den Vorgaben des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots,10 auch wenn er sich hierauf nicht ausdrücklich berief.11 Die Entscheidungspraxis wird von einigen Autoren dennoch als Beweis für eine direkte oder wenigstens mittelbare Anerkennung des/eines Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht gesehen.12 Selbst wenn man so weit nicht gehen möchte, zeigt sich hieran, dass der EuGH einer Verhinderung missbräuchlichen Verhaltens im Europäischen Zivilverfahrensrecht nicht gänzlich gleichgültig gegenüber eingestellt ist. Das wird ebenfalls durch die Aussagen des Generalanwalts Tesauro in der Rechtssache Tatry deutlich. Dort 9
Vgl. oben, z.B. S. 44, 64, 81. Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55, 67. 11 Cuniberti, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 283. 12 So z.B. durch Reuß, Forum Shopping, S. 270 ff.; Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 36; Cuniberti, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 282; Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 245; Nuyts, in: de VareillesSommières, Forum Shopping, S. 55, 65. 10
§ 6 Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im EuZVR
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führt er aus, die Gerichte der Mitgliedstaaten seien verpflichtet, etwaige Missbräuche zu bekämpfen, die aus der Inanspruchnahme von Regeln des Europäischen Zivilverfahrensrechts resultierten.13 Dieser Hinweis ist deshalb so interessant, da Tesauro auch in Verfahren vor dem EuGH als Generalanwalt aufgetreten ist, in denen der EuGH das Missbrauchsverbot entwickelte, so zum Beispiel in der Rechtssache Kefalas14. Nach Ansicht des Generalanwalts wäre die Verhinderung von Missbräuchen im Europäischen Zivilverfahrensrecht auf Grundlage des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots damit systemkonform. 1. MSG, Réunion européenne, Kalfelis, AS-Autoteile, Kiesel Baumaschinen, Solvay, Painer, Rinau und Agguire Zarraga Der EuGH bezog in einer Reihe unterschiedlicher Entscheidungen Missbrauchserwägungen in seine Argumentation mit ein. Sie werden alle noch an der passenden Stelle ausführlich besprochen. Bis dahin soll der Hinweis auf die Entscheidungen genügen. Um die Möglichkeit der Missbrauchsverhinderung im Europäischen Zivilverfahrensrecht zu untermauern, werden im Schrifttum in aller Regel die Entscheidungen in den Rechtssachen MSG15, Réunion européenne16, Kalfelis17, AS-Autoteile 18 und das Urteil in Reisch Montage 19 genannt. 20 Daneben sind
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GA Tesauro, Schlussanträge v. 13.7.1994, Rs. C-406/92 (The owners of the cargo lately laden on board the ship "Tatry" ./. the owners of the ship "Maciej Rataj”), Slg. 1994, I-5439, 5454, Nr. 22. 14 Vgl. die Schlussanträge v. 4.2.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1996, I-2843, 2856, Nr. 23 f.; zu daran anschließenden Entscheidungen des EuGH, s. oben, S. 107 ff. 15 EuGH, Urt. v. 20.2.1997, Rs. C-106/95 (Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL), Slg. 1997, I-911. 16 EuGH, Urt. v. 27.10.1998, Rs. C-51/97 (Réunion européenne u.a. ./. Spliethoff's Bevrachtingskantoor u.a.), Slg. 1998, I-6534. 17 EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 189/87 (Athanasios Kalfelis ./. Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565. 18 EuGH, Urt. v. 4.7.1985, Rs. 220/84 (AS-Autoteile Service GmbH ./. Pierre Malhé), Slg. 1985, 2267. 19 EuGH, Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-103/05 (Reisch Montage AG ./. Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827. 20 Z.B. durch Reuß, Forum Shopping, S. 270 ff.; Basedow, in: FS Stathopoulos, S. 159, 179; Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 35; Cuniberti, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 282 ff.; Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 33 f.; Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 244 f.; Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55, 67; ders., 3 GJA (2003) 1, 11 ff.; krit. Meyer, Forum Shopping, S. 143. Vgl. auch unten, S. 297 ff. die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Weber, in welcher er Torpedoklagen bei ‚offensichtlicher Unzuständigkeit‘ des zuerst angerufenen Gerichts einen Riegel vorschiebt.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
auch die Rechtssachen Painer21 und Solvay22 zu beachten. In allen befasste sich der EuGH mit spezifischen Missbrauchsgestaltungen, überwiegend in Form sog. Zuständigkeitserschleichungen23. So erklärte er beispielsweise Verhalten für unzulässig, mit welchem Beklagten lediglich deren allgemeiner Gerichtsstand entzogen werden sollte24 oder über die Vereinbarung eines fiktiven Erfüllungsortes eine günstige Zuständigkeit geschaffen und die Regeln über Gerichtsstandsvereinbarungen umgangen werden sollten 25 . Darüber hinaus befasste sich der Gerichtshof auch in seinen Urteilen in den Rechtssachen Rinau und Agguire Zarraga mit Fragen des Verfahrensmissbrauchs, wo er den Ausschluss der Anfechtung eines Beschlusses auf Rückgabe eines Kindes gemäß Art. 42 EuEheVO damit rechtfertigte, dass andernfalls Verfahrensmissbrauch eben durch eine Anfechtung ohne legitimes Interesse möglich wäre.26 2. Die Gasser-Entscheidung des EuGH als bedingungsloser Ausschluss von Missbrauchserwägungen im Europäischen Zivilverfahrensrecht? Praktisch wäre die Diskussion um die Übertragung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots jedoch von geringem Nutzen, wenn sich der Gerichtshof schon explizit für einen bedingungslosen Ausschluss von Missbrauchserwägungen aus dem Europäischen Zivilverfahrensrecht ausgesprochen hätte. Besondere Bedeutung wird hierbei der Entscheidung in Sachen Gasser27 zugesprochen. Dort hatte sich der EuGH mit der Frage einer in Widerspruch zu einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung anhängig gemachten Torpedoklage zu beschäftigen. Im Ergebnis verneinte der Gerichtshof die Möglichkeit des später angerufenen Gerichts, die Rechtshängigkeitsregel des Art. 21 EuGVÜ bei Bestehen einer ausschließlichen Zuständigkeit aufgrund Parteivereinbarung unangewendet zu lassen.28 Macht die Partei einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung eine negative Feststellungsklage vor einem (prima 21
EuGH, Urt. v. 1.12.2011, Rs. C-145/10 (Eva-Maria Painer ./. StandardVerlagsGmbH u.a.), Slg. 2010, I-12533. 22 EuGH, Urt. v. 12.7.2012, Rs. C-616/10 (Solvay SA ./. Honeywell Fluorine Products Europe BV u.a), GRUR 2012, 1169. 23 Hierzu ausführlich unten, S. 245 ff. 24 Vgl. die Urteile in den Sachen Réunion européenne und Reisch Montage, oben Fn. 16 und 19. Zur (mittlerweile) fragwürdigen Prominenz der Entscheidung des EuGH in Sachen Freeport in diesem Zusammenhang, s.u., S. 321. 25 Vgl. das Urteil in der Rechtssache MSG, unten, S. 249 f. 26 EuGH, Urt. v.11.7.2008, Rs. C-195/08 PPU (Inga Rinau), Slg. 2008, I-5271, 5334, Nr. 85; Urt. v. 22.12.2010, Rs. C-491/09 PPU (Joseba Andoni Aguirre Zarraga ./. Simone Pelz), Slg. 2010, I-14247, 14301, Nr. 50. 27 EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693. 28 EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14741, Nr. 54.
§ 6 Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im EuZVR
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facie) unzuständigen Gericht anhängig, steht jedoch schnell der Vorwurf der Missbräuchlichkeit im Raum, was umso mehr gilt, wenn das betroffene Gericht wegen seiner langsamen Arbeitsweise berüchtigt ist und/oder keinerlei Verbindung zum Streitgegenstand aufweist. Mit Blick hierauf hatte auch die Regierung des Vereinigten Königreichs im Verfahren vor dem EuGH in der Rechtssache Gasser eingewandt, ein bedingungsloser Vorrang der Rechtshängigkeitsregel schaffe gerade die Möglichkeit des Verfahrensmissbrauchs. Der Gerichtshof nahm darauf in Randnummer 53 des Urteils Bezug: „Schließlich können Schwierigkeiten wie diejenigen, auf die das Vereinigte Königreich hinweist, die sich daraus ergeben, dass Parteien in dem Wunsch, die Sachentscheidung zu verzögern, Klage bei einem Gericht erheben, dessen Unzuständigkeit ihnen wegen des Vorliegens einer Gerichtsstandsvereinbarung bekannt ist, die Auslegung einer Bestimmung des Brüsseler Übereinkommens, die sich aus deren Wortlaut und Ziel ergibt, nicht in Frage stellen.“29
Diese Passage wurde häufig dahingehend verstanden, dass sich der Gerichtshof dort über den konkret zu entscheidenden Fall hinaus bedingungslos gegen die Relevanz von Missbrauchserwägungen bzw. den Gedanken der Einzelfallgerechtigkeit im EuGVÜ und in der Folge im gesamten Europäischen Zivilverfahrensrecht ausgesprochen habe. 30 Wenn man die Entscheidung in dieser Weise deutet, wäre für die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht folgerichtig kein Raum mehr. Allerdings ist diese Sichtweise aus mehreren Gründen nicht haltbar, was im Folgenden näher ausgeführt sei. a) Beschränkte Wirkung von Obiter dicta Unabhängig davon, dass es wenig überzeugend ist, Teile einer einzelnen Entscheidung als unumstößliche Antwort auf eine sehr abstrakte Fragestellung zu sehen, muss berücksichtigt werden, dass Randnummer 53 der Entscheidung ein Obiter Dictum darstellt, was deren Verallgemeinerungsfähigkeit zweifelhaft 29
EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14741, Nr. 53. 30 Besonders apodiktisch: Briggs, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 262, 263: „It could hardly have been put more clearly than that; there is no ambiguity to be found.” Ebenso Mance, 120 L.Q.R. (2004) 357, 363; im Ansatz auch Althammer, in: GS Konuralp, S. 103, 123 (aber wiederum mit einer Ausnahme für „Extremfälle“ auf S. 125); für den Problemkomplex Torpedoklagen auch Goltz/Janert, MDR 2014, 125, 129: „kein Platz für wertende Betrachtungen“; Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6 Rn. 168; Taschner, EWS 2004, 494, 499. Aus der Rechtsprechung in jüngerer Zeit BGH, EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2161, Nr. 10 („grundsätzlich“), aber mit Vorbehalten bei einer ausschließlichen Zuständigkeit gemäß Art. 22 EuGVVO a.F. (= Art. 24 EuGVVO). A.A. z.B. Reuß, Forum Shopping, S. 298 f. und die unter Fn. 31 Zitierten.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
erscheinen lässt. 31 Auch wenn die Figur des Obiter Dictum im Unionsrecht nicht dieselbe, klare Ausformung gefunden hat, wie sie etwa das Präjudizienrecht des Common Law prägt,32 ist man sich doch einig, dass die Reichweite einer Vorabentscheidung des EuGH gegenständlich auf den Tenor der Entscheidung unter Auslegung nach den Urteilsgründen beschränkt ist.33 Für Obiter Dicta lehnt man eine rechtliche Bindungswirkung hingegen ab.34 Natürlich mögen diese außerhalb der Antwort auf die eigentliche Vorlagefrage liegenden – entbehrlichen35 – Äußerungen des Gerichtshofs nachgehende Entscheidungen tatsächlich beeinflussen und eine gewisse Sichtweise des Gerichtshofs zu einer abstrakten Frage deutlich machen, wie etwa im Bereich des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes.36 Jedoch ist angesichts der Folgen, die mit einem generellen Ausschluss von Missbrauchserwägungen aus dem Europäischen Zivilverfahrensrecht einhergingen, vor einer Verallgemeinerung einer bloßen Randbemerkung zu warnen, deren Kontext und Inhalt – was im Folgenden gezeigt wird – alles andere als eine klare Schlussfolgerung in diesem Sinne zulassen. Dazu passt es, dass der EuGH in den nachfolgenden Entscheidungen zu anti-suit injunctions37 und sonstigem Verfahrensmissbrauch38 zwar auf den in Gasser mitgeprägten Grundsatz gegenseitigen Vertrauens verwies, nicht aber auf Randnummer 53 des betreffenden Urteils. Gerade dies hätte man aber erwarten dürfen, hätte sich der EuGH in besagter Passage tatsächlich zu etwas so 31 Cuniberti, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 281; Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55, 69. 32 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 230. 33 Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV Rn. 46 m.w.N; vgl. auch Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 426 f. m.w.N. 34 Germelmann, Die Rechtskraft von Gerichtsentscheidungen, S. 430 f.; a.A. Arnauld, Rechtssicherheit, S. 506; Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 232, der eine Bindung an obiter dicta des EuGH für möglich erachtet, aber immer eine Einzelfallprüfung für entscheidend hält. 35 W. Schlüter, Das Obiter dictum, S. 5 36 Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 231 unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 12.11.1969, Rs. 29/69 (Erich Stauder ./. Stadt Ulm – Sozialamt), Slg. 1969, 419, 425, Nr. 7. 37 Weder in der Turner-Entscheidung (EuGH, Urt. v. Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 [Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.], Slg. 2004, I-3565) noch in der Entscheidung des EuGH in Sachen West Tankers [EuGH, Urt. v. EuGH, Urt. v. 10.2.2009, Rs. C-185/07 (Allianz SpA u.a. ./. West Tankers Inc.), Slg. 2009, I-663] bezog sich der EuGH auf besagte Randnummer. Wäre hierin tatsächlich der generelle Ausschluss von Missbrauchserwägungen aus dem Europäischen Zivilverfahrensrecht zum Ausruck gebracht worden, wäre es ihm ein Leichtes gewesen, unter Verweis auf diese Aussage die betreffenden Vorlagen zu entscheiden. Dies gilt umso mehr, als in Turner a.a.O., Nr. 28 durch den Kläger und die Regierung des Vereinigten Königreichs eingewandt gerade wurde, die Prozessführungsverbote dienten der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch und müssten müssten daher zulässig sein. 38 Vgl. EuGH, Urt. v. 3.4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469, 471, Nr. 51-53.
§ 6 Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im EuZVR
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Folgenschwerem, wie dem bedingungslosen Ausschluss jeglicher Möglichkeit der Missbrauchsverhinderung im Europäischen Zivilverfahrensrecht geäußert. b) Klägerverhalten in Gasser kein offensichtlicher Missbrauch Darüber hinaus ist die genaue Bedeutung des Obiter Dictums im Kontext besehen weit weniger klar, als es gerne dargestellt wird:39 Gasser lag gerade kein offensichtlicher Missbrauchsfall zugrunde, da die Umstände des Zustandekommens der streitgegenständlichen Gerichtsstandsvereinbarung alles andere als klar waren.40 Auch wenn der betreffende Schuldner als Kläger einer negativen Feststellungsklage sich auf wohl zweifelhafter Grundlage einer internationalen Zuständigkeit in Italien berühmte, machte der Gläubiger im Verfahren vor den österreichischen Gerichten jedenfalls gar nicht geltend, der Schuldner handle missbräuchlich. Wie Randnummer 53 des Urteils darlegt, wurden die damit zusammenhängenden Gedanken durch die Regierung des Vereinigten Königreichs eingebracht. c) Vorbehalte gegenüber einer willkürlichen Abweichung von Unionsrecht Schließlich und entscheidend kann es dem EuGH in Randnummer 53 der Entscheidung sinnvollerweise aber nicht darum gegangen sein, auf Zeit und Ewigkeit die Möglichkeit unfairer Verzögerungstaktiken zu schaffen und das Europäische Zivilverfahrensrecht in seiner Gesamtheit für Missbrauchstaktiken zu öffnen. Der Passus, wonach die durch die Regierung des Vereinigten Königreichs angeführten Missbrauchsbedenken die Auslegung der Verordnung nicht in Frage stellen könnten, kann nicht gegen die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots angeführt werden. Vielmehr unterstützt er sogar die vorliegender Arbeit zugrunde liegende Annahme von der Übertragbarkeit dieses allgemeinen Rechtsgrundsatzes ins Europäische Zivilverfahrensrecht. Dies gründet sich auf die durch den EuGH verwandte Formulierung, wonach missbräuchliches Verhalten einer Partei „die Auslegung einer Bestimmung des Brüsseler Übereinkommens, die sich aus deren Wortlaut und Ziel ergibt, nicht 39
Cuniberti, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 281. Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55, 69. In der Entscheidung ging es um die Begründung eines ausschließlichen Gerichtsstands in Form eines internationalen Handelsbrauchs im Sinne von Art. 17 Abs. 1 lit. c EuGVÜ (jetzt: Art. 25 Abs. 1 lit. c EuGVVO). Die hieran zu stellenden Anforderungen sind alles andere als einfach zu beantworten, vgl. Hausmann, in: unalex Komm, Art. 23 EuGVVO Rn. 95. In Gasser stritten die Parteien vor österreichischen Gerichten etwa darum, ob durch einen auf Rechnungen angebrachten Vermerk ‚Gerichtsstand Dornbirn‘ österreichische Gerichte prorogiert wurden, obwohl auf den jweiligen Bestellungen nichts Derartiges Eingang gefunden hatte, vgl. EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14729, Nr. 15. Vgl. auch Cuniberti, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 280. 40
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
in Frage stellen“41 könne. Eine ähnliche Formulierung verwandte der Gerichtshof auch in der an anderer Stelle schon erwähnten Entscheidung in Sachen Kefalas42, was ihn dort aber nicht daran hinderte, in der Folge Missbrauchsverhinderung nach dem von ihm aufgestellten Konzept gerade zuzulassen. Meines Erachtens muss die Motivation des EuGH in Gasser genauer beachtet werden: Mit seinem Obiter Dictum wollte er lediglich klarstellen, dass es den mitgliedstaatlichen Gerichten untersagt ist, durch eine entsprechende Auslegung von Unionsrecht dessen Bedeutung über den einzelnen Missbrauchsfall hinaus für eine unbestimmte Vielzahl noch nicht näher konkretisierter Sachverhalte in seiner Bedeutung einzuschränken. Es steht nicht im Belieben der mitgliedstaatlichen Gerichte, Unionsrecht aufgrund eines möglichen Missbrauchs der entsprechenden Vorschriften einschränkend auszulegen. Dies ist genau genommen Ausdruck des integrativen Ansatzes des EuGH.43 Kefalas aber zeigt, dass der Gerichtshof trotzdem eine kontextbezogene Rechtsanwendung für notwendig erachtet, die zwar nicht an der allgemeinen Reichweite von Unionsrecht ansetzen kann (Auslegung), wohl aber am konkreten Einzelfall (Missbrauchsverbot). Die betreffende Passage in Gasser bringt damit bei Licht besehen nur eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck und ist im Zusammenhang mit Entscheidungen wie Kefalas nicht als Absage an eine einzelfallbezogene Missbrauchsverhinderung zu sehen. Das Obiter Dictum in Gasser wird neben der eben dargelegten Furcht vor einer nicht hinreichend effektiven Auslegung und Anwendung von Unionsrecht nach dem Gutdünken der Mitgliedstaaten vor allem durch die Umstände motiviert gewesen sein. Der Hinweis auf möglichen Verfahrensmissbrauch erfolgte schließlich durch das Vereinigte Königreich. In Entscheidungen wie Turner44, West Tankers45 und Owusu46 zeigte sich, dass es gerade vor englischen Gerichten nicht unüblich war, Regeln des Europäischen Zivilverfahrensrechts auf Grundlage nationaler Missbrauchsverhinderungsmechanismen in ih-
41 EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14741, Nr. 53. 42 S.o., S. 109. Vgl. EuGH, Urt. v. 12.5.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1998, I-2843, 2869, Nr. 22: „Insbesondere können die nationalen Gerichte bei der Beurteilung der Ausübung eines sich aus einer Gemeinschaftsbestimmung ergebenden Rechtes nicht die Tragweite dieser Bestimmung verändern oder die mit ihr verfolgten Zwecke vereiteln.“ 43 Dazu s.o., S. 135 f. 44 EuGH, Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565. 45 EuGH, Urt. v. 10.2.2009, Rs. C-185/07 (Allianz SpA u.a. ./. West Tankers Inc.), Slg. 2009, I-663. 46 EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383.
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rer Wirksamkeit zu beschränken. Eine uneinheitliche Anwendung von Unionsrecht wiegt aber im Europäischen Zivilverfahrensrecht besonders schwer, dort an erster Stelle natürlich im Zuständigkeitsrecht. Die Äußerung des EuGH in Gasser wird man daher allenfalls als Mahnung in dieser Angelegenheit interpretieren können. Steht mit der in vorliegender Arbeit aber befürworteten Übertragung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrecht die Anwendung eines unionsweit einheitlichen Standards zur Debatte, sind die durch den EuGH geäußerten Bedenken nicht angebracht.47 Dass der Gerichtshof das unionsrechtliche Missbrauchsverbot in Gasser nicht erwähnte, stellt hierfür kein Hindernis dar. Denn zum einen war es zu jenem Zeitpunkt als solche noch nicht ausdrücklich anerkannt,48 zum anderen war der Gerichtshof nicht hiernach gefragt worden; Randnummer 53 stellt ein Obiter Dictum dar. II. Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts In den Verordnungen des Europäischen Zivilverfahrensrechts finden sich ebenfalls Hinweise auf die Haltung des europäischen Gesetzgebers bezüglich der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch. Im Gegensatz zum sonstigen Unionsrecht ist der Bestand jedoch dünn.49 Dennoch zeigt der Gesetzgeber vor allem mit der reformierten EuGVVO, dass er das Problem missbräuchlichen Berufens auf Unionsrecht in diesem Kontext gesehen hat und es nicht billigt. Zunächst sei auf Erwägungsgrund Nr. 26 EuErbVO hingewiesen. Dieser legt fest, dass „die Verordnung […] ein Gericht nicht daran hindern (sollte), Mechanismen gegen die Gesetzesumgehung wie beispielsweise gegen die fraude à la loi im Bereich des Internationalen Privatrechts anzuwenden.“
Da die Verordnung neben kollisionsrechtlichen Regelungen in Kapitel II auch eine verfahrensrechtliche Komponente aufweist, könnte man daran denken, diesen Missbrauchsvorbehalt auf den verfahrensrechtlichen Teil zu erstrecken.50 Im Kontext der übrigen Erwägungsgründe besehen, bezieht sich der Vorbehalt allerdings nur auf den kollisionsrechtlichen Teil der Verordnung, selbst wenn man darüber streiten könnte, ob der Begriff des Internationalen Privatrechts sich nicht auch auf die Regeln der internationalen Zuständigkeit erstreckt.
47
S.u., S. 312 ff. Vgl. oben, S. 106. 49 Vgl. oben, S. 112 f. 50 So die Stellungnahme zum Vorschlag für eine Europäische Erbrechtsverordnung Version 2009/157 (COD) vom 16.1.2012 der Generaldirektion ‚Interne Politikbereiche‘ des Europäischen Paralments, S. 17, Fn. 11 und S. 24 f.; ebenfalls Meyer, Forum Shopping, S. 162. 48
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Eindeutig ist hingegen das in Art. 8 Nr. 2 EuGVVO zu findende Bekenntnis des europäischen Gesetzgebers gegen Missbräuche im Bereich der Zuständigkeit. Der Vorbehalt erfasst passgenau einen Anwendungsfall des Missbrauchsverbots, nämlich die Fälle des Erschleichens von Zuständigkeiten.51 Die Regelung soll noch öfter Gegenstand der Ausführungen sein,52 weshalb hier lediglich der Hinweis auf ihre Existenz erlaubt sei. Ausdrückliche Erwähnung findet das Problem des Verfahrensmissbrauchs in Erwägungsgrund Nr. 22 EuGVVO. Dort heißt es, der Gesetzgeber wolle mit der Neuregelung dazu beitragen „die Wirksamkeit von ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen zu verbessern und missbräuchliche Prozesstaktiken zu vermeiden.“53 Die Passage bezieht sich auf Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO, der mit einem speziellen Abhilfeverfahren Fällen von Torpedoklagen zu regulieren versucht, welche in Widerspruch zu einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung anhängig gemacht werden. Ziel ist es vor allem, zugunsten des mutmaßlich prorogierten Gerichts die Rechtshängigkeitssperre des Art. 29 EuGVVO zu durchbrechen, vgl. Art. 31 Abs. 2 EuGVVO. Pate standen dabei Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen (2005), die im Anwendungsbereich des Übereinkommens einen ähnlichen Mechanismus vorsehen.54 Nach der Präambel des Übereinkommens soll dieser lediglich die „Wirksamkeit ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen gewährleiste(n)“, was über einen Vorrang des prorogierten Gerichts in der Entscheidungskompetenz über seine Zuständigkeit aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung und entsprechenden Aussetzungspflichten anderer Gerichte erreicht wird.55 Der Reformgesetzgeber der EuGVVO fügte daneben in Erwägungsgrund Nr. 22 als Ziel der Reform die Vermeidung missbräuchlicher Prozesstaktiken an. Damit bringt er zum Ausdruck, dass die zweckwidrige Nutzung der Rechtshängigkeitssperre ein Umstand ist, welchen er zumindest im Bereich ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen für nicht tolerabel erachtet.56 Im Vergleich mit der entsprechenden Formulierung in der Präambel 51
Statt vieler, Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235,
244. 52
S.u., S. 245, 321 ff. Hervorhebung durch den Verfasser. 54 Brand, 45 N.Y.U.J.Int'l Law & Pol. (2013) 1003, 1015. Das Übereinkommen ist abrufbar unter: http://www.hcch.net/ (zuletzt abgerufen am: 1.9.2015). Art. 5 Abs. 2 des Übereinkommens lautet: „Ein nach Absatz 1 zuständiges Gericht darf die Ausübung seiner Zuständigkeit nicht mit der Begründung verweigern, dass ein Gericht eines anderen Staates über den Rechtsstreit entscheiden sollte.“ Art. 6 des Übereinkommens lautet: „Ein Gericht eines Vertragsstaats, der nicht der Staat des vereinbarten Gerichts ist, setzt Verfahren, für die eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung gilt, aus oder weist die Klage als unzulässig ab […].“ Vgl. hierzu Kruger, 55 ICLQ (2006) 447, 453. 55 Vgl. Kruger, 55 ICLQ (2006) 447, 453. 56 Vgl. Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO Rn. 5. 53
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des Haager Übereinkommens wird die Notwendigkeit der Verhinderung von Missbrauch selbstständig anerkannt.57 Selbst wenn sich der Gesetzgeber in Erwägungsgrund Nr. 22 lediglich auf Torpedoklagen bezieht, die in Widerspruch zu ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarungen erhoben werden, zeigt sich darin, dass das Europäische Zivilverfahrensrecht nicht gänzlich unempfänglich für Konzepte zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch sein kann.58
C. Praxistauglichkeit: Rückschlüsse aus der Behandlung von Verfahrensmissbrauch in einigen europäischen Zivilverfahrensrechten Ob das unionsrechtliche Missbrauchsverbot im Europäischen Zivilverfahrensrecht zur Geltung gelangen kann, hängt abseits dogmatischer und methodischer Fragen von der Praxistauglichkeit dieses Ansatzes ab. Kann über einen derart allgemein gehaltenen Grundsatz sinnvollerweise Verfahrensmissbrauch verhindert werden? Anschauungsmaterial hierzu liefern die nationalen Verfahrensrechte Deutschlands und Frankreichs, die vor allem eines zeigen: Auch wenn – oder gerade weil – es sich bei den Fällen des Missbrauchs von Verfahrensrecht um Fälle abseits des Gewöhnlichen handelt, scheint ein deutliches Bedürfnis für einen allgemeinen Maßstab zur Verhinderung derartigen Verhaltens im Einzelfall zu bestehen. Denn in beiden Verfahrensordnungen wendet man allgemeine Rechtsgrundsätze zur Missbrauchsverhinderung im Zivilverfahrensrecht an. Dass man sich dabei auf die aus dem materiellen Recht her bekannten Eingriffsbefugnisse, wie etwa fraude à la loi und Rechtsmissbrauchsverbot stützt, spricht ebenfalls für die hier aufgestellte These der Übertragbarkeit. Vor allem in der deutschen Diskussion finden sich jedoch auch äußerst kritische Stimmen, die eine Vereinbarkeit von Zivilverfahrensrecht und einzelfallbezogener Missbrauchsverhinderung generell anzweifeln. Ein Umstand, der sich auf europäischer Ebene wiederfindet und daher anhand der Erkenntnisse aus dem deutschen Recht beleuchtet werden muss. Und schließlich zeigt wiederum das englische Common Law als Gegenentwurf zum Vorgehen in den kontinentaleuropäischen Rechtsordnungen, dass das Bedürfnis zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch direkt mit der Reichweite richterlicher Befugnisse in der Gestaltung von Verfahren und der Anwendung von Verfahrensrecht zusammenhängt.
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So auch Bittmann, in: FS Kaissis, S. 57, 66; Tichý, in: Lein, Brussels I Review Proposal, S. 179, 181. 58 Für eine weite Deutung dieser Formulierung Vogl, EWiR 2014, 131, 132, der die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch auch über den von Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO erfassten Bereich hinaus als anerkennenswerten Belang der Verordnung sieht.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
I. Deutsches Recht Ein Blick auf die Behandlung missbräuchlichen Verhaltens in Zivilverfahren vor deutschen Gerichten stützt die These von der Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht. Zugleich ergibt sich hieraus aber die hauptsächliche Konfliktlinie, entlang derer auf europäischer Ebene die Diskussion um die Geltung des Missbrauchsverbots geführt werden muss: Das Gebot der Rechtssicherheit im Verfahren auf der einen Seite und die Durchbrechung von Verfahrensrecht in Ausnahmefällen auf der anderen.59 Schließlich herrschte im deutschen Zivilverfahrensrecht lange Zeit die Auffassung vom Verfahrensrecht als ‚technischem‘ Recht vor, das für Einzelfallgerechtigkeit und methodische Mittel, wie etwa das Rechtsmissbrauchsverbot, blind sei.60 Erst in der jüngeren Vergangenheit setzte sich zunehmend die Ansicht durch, dass auch im Zivilverfahren individueller Rechtsmissbrauch und die Umgehung von Verfahrensvorschriften beachtlich und mit den aus dem materiellen Recht her bekannten Mitteln verhindert werden kann und muss. Die rechtlichen Rahmenbedingungen im deutschen Zivilverfahrensrecht sind dabei denjenigen des Europäischen Zivilverfahrensrechts nicht unähnlich. Es fehlt an einem expliziten geschrieben verfahrensrechtlichen Missbrauchsverbot. Zwar hält die ZPO beispielsweise mit § 765a ZPO Vorschriften vor, die in bestimmten Fällen das an sich anzuwendende Verfahrensrecht zugunsten der materiellen Gerechtigkeit durchbrechen. Daneben statuiert § 138 ZPO eine Wahrheitsplicht der Parteien, Kostennormen und gewisse normierte Fälle eines Verbot des venire contra factum proprium haben darüber hinaus eine begrenzte Disziplinierungsfunktion auf die am Verfahren beteiligten Rechtssubjekte. 61 Eine abstrakt-generelle Verhaltensnorm bzw. eine Vorschrift zur Verhinderung von Gesetzesumgehung oder Verfahrensmissbrauch, wie sie sich beispielsweise in Art. 2 des japanischen Zivilprozessgesetzes62, § 5 des neuen tschechischen IPR-Gesetzes 63 , Art. 3:31 des Burgerlijk Wetboek 64 oder Art. 52 der
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Dazu unten, S. 220 ff. S.u., S. 227. 61 Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 38 ff.; Hess, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 151, 152; Teichmann, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 83. 62 Vgl. die Übersetzung von Taniguchi, 8 Tul.J.Int'l & Comp.L. (2000) 167, 172: „Parties shall conduct civil actions in accordance with the principles of good faith and trust.” 63 Gesetz Nr. 91/2012 Coll. v. 25. Januar 2012, in Kraft getreten am 1. Januar 2014. § 5 des Gesetzes lautet: „Nepřihlíží se ke skutečnostem vytvořeným nebo předstíraným záměrným jednáním v úmyslu, aby se těch ustanovení tohoto zákona, od nichž se nelze odchýlit ujednáním stran, nepoužilo nebo aby se jich použilo jinak, než kdyby takto vytvořené nebo předstírané skutečnosti nebyly.“ 64 „Degene aan wie een bevoegdheid toekomt, kan haar niet inroepen, voor zover hij haar misbruikt.” Vgl. dazu und zur Anwendnung des Grundsatzes im Zivilverfahrensrecht, Taelman, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 125 ff. 60
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schweizerischen ZPO65 findet, existiert aber nicht. Dies scheint im deutschen Recht das Bedürfnis geschaffen zu haben, die aus dem materiellen Recht her bekannten Eingriffsbefugnisse infolge eines Rechtsmissbrauchs oder einer Gesetzesumgehung mit den bekannten Mitteln auflösen, was im Folgenden näher dargestellt sei. 1. Verhinderung von Gesetzesumgehung Fragen der Gesetzesumgehung werden im deutschen Zivilverfahrensrecht vor allem in Form der Zuständigkeitserschleichung aktuell.66 Wie oben herausgestellt wurde,67 handelt es sich nach der deutschen Dogmatik bei dem Problem der Gesetzesumgehung um eine Frage der richtigen Auslegung einer Rechtsnorm bzw. deren analoger Anwendung. Es bedurfte daher keiner gesonderten Begründung, warum diese methodischen Mittel den Gerichten auch im Zivilverfahren zur Verfügung stehen sollten. Schließlich gelten auch im Zivilverfahrensrecht dieselben Auslegungsregeln wie in der angestammten Domäne der Gesetzesumgehung, dem materiellen Recht.68 2. Individueller Rechtsmissbrauch Gestritten wurde jedoch lange Zeit über Möglichkeit und Notwendigkeit richterlicher Eingriffsbefugnisse auf Grundlage des allgemeinen Rechtsmissbrauchsverbots. Im Jahre 1925 prägte Goldschmidt die bekannten Worte von der Moralinfreiheit des Prozessrechts.69 Heute herrscht dagegen Einigkeit, dass die Verfahrensbeteiligten in Erkenntnisverfahren und Zwangsvollstreckung zu redlichem Verhalten verpflichtet sind und es ihnen insbesondere untersagt ist, prozessuale Befugnisse zu funktionsfremden oder missbilligten Zwecken auszuüben. Wo dies doch der Fall sein sollte, kann mithilfe des Rechtsmissbrauchsverbots im Einzelfall regelnd eingegriffen werden.70 Dabei überträgt
65 „Alle am Verfahren beteiligten Personen haben nach Treu und Glauben zu handeln.“ Die Norm stellt eine Erweiterung zum auch im Zivilverfahrensrecht geltenden (Honsell, in: BK, Art. 2 ZGB Rn. 54 m.w.N.) allgemeinen Grundsatz des Art. 2 Abs. 2 ZGB dar. 66 Vgl. z.B. Riezler, Internationales Zivilprozessrecht, S. 329 ff.; ausführlich dazu unten, S. 245 ff. 67 S.o., S. 65 ff. 68 Vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 7 Rn. 8, 16. 69 Goldschmidt, Der Prozess als Rechtslage, S. 292. Vgl. dazu aber Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 223 Fn. 425, der zutreffend darauf hinweist, dass Goldschmidt selbst (S. 477 f.) einen Verstoß gegen Treu und Glauben unter Umständen für beachtlich ansah. 70 Stellvertretend für die Rechtsprechung, vgl. BGH, Beschl. v. 10.5.2007, V ZB 83/06, BGHZ 172, 218, 222 mit umfangreichen Nachweisen. Aus dem Schrifttum vgl. Fleck, Redlichkeitspflichten der Parteien im Zivilprozess, S. 184 mit umfangreichen Nachweisen; Hellwig, Zivilprozessrecht, S. 458 ff.; Holthausen, Rechtsmissbrauchsschranke für Prozessparteien, S. 49; Pfister, Treu und Glauben im Prozess, passim; Riezler, Internationales Zivilpro-
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
man die aus der allgemeinen Diskussion her bekannten Fallgruppen des materiellen Rechts auch auf das Verfahrensrecht: Diskutiert werden das arglistige Schaffen eigener bzw. das Vereiteln prozessualer Befugnisse der anderen Seite, die missbräuchliche Ausübung prozessualer Befugnisse, das Verbot widersprüchlichen Verhaltens und die Verwirkung prozessualer Befugnisse. 71 Hierbei handelt es sich um eine genuin verfahrensrechtliche Betrachtung von Missbrauchsfällen – die Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots im Verfahrensrecht.72 Ungeachtet des Umstands, dass das Rechtsmissbrauchsverbot im Zivilverfahrensrecht damit recht breite Zustimmung erfährt, herrscht Streit darüber, welche Reichweite ihm konkret zuzubilligen ist. Gekennzeichnet ist die Diskussion von einer Einschränkung des Anwendungsbereichs gegenüber demjenigen im materiellen Recht. Hierfür wird zum einen angeführt, die Parteien stünden sich ‚im Streit‘ gegenüber, was eine noch vorsichtigere – gemeint ist wohl ‚zurückhaltendere‘73 – Anwendung als im materiellen Recht erfordere.74 Mit derselben Intention wird in älteren Abhandlungen von einem „Kampf ums Recht“75 gesprochen, der eine Rücksichtnahme auf die Belange der anderen Seite nicht zulasse. Aus einer bloßen Deklarierung allerdings Einschränkungen ableiten zu wollen, ist jedenfalls nicht überzeugend.76 So ist auch dem materiellen Recht die Gegensätzlichkeit der Interessen von Gläubiger und Schuldner zessrecht, S. 329 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 2 Rn. 17 f.; R. Stürner, Aufklärungspflicht, S. 89 (verneinend lediglich für aus Treu und Glauben abzuleitende spezielle Aufklärungspflichten; dies nimmt Bezug auf die hier nicht interessierende Pflichtenebene des Gebots von Treu und Glauben, s.o. Kap. 1 Fn. 56); Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 15 m.w.N.; Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 90 f.; ders., ZZP 86 (1973), 353, 355; Bernhardt, ZZP 66 (1953), 77, 86; Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 34 f.; Ulrich, in: FS Gamm, S. 233, 233; Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 221; Hohloch, in: Erman, § 242 BGB Rn. 53; Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1062; Musielak, in: Musielak, Einleitung, Rn. 56; Rauscher, in: MüKo-ZPO, Einleitung Rn. 34; G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 103; Teichman, in: Soergel, § 242 BGB Rn. 84; Vollkommer, in: Zöller, Einleitung Rn. 56 ff.; Walker, in: FS Stürner, S. 829, 829. A.A. in neuerer Zeit nur Prütting, in: FS Stürner, S. 455, 457 ff., der allerdings zu einseitig und wenig überzeugend auf die Vorschrift des § 242 BGB abstellt, s.u. Fn. 72. 71 Grundlegend Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 51. Aus neuerer Zeit, vgl. Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 228 ff. Abweichend Konzen, Rechtsverhältnisse zwischen Prozessparteien, S. 254, der lediglich die Fälle der Verwirkung und des Missbrauchs prozessualer Befugnisse für beachtlich hält. 72 Deswegen ist auch Prütting, in: FS Stürner, S. 455, 461 zu widersprechen: Nicht die Anwendung des § 242 BGB im Zivilverfahrensrecht steht zur Diskussion, sondern die Anwendung des in der Norm niedergelegten Rechtsprinzips, vgl. dazu oben S. 32. 73 Vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1064. 74 Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 222. Vgl. auch Prütting, in: FS Stürner, S. 455, 459 f. 75 Görres, ZZP 34 (1905), 1, 7. 76 Gegen Görres direkt Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 91.
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immanent, was dort nicht an einer Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots hindert. 77 Umgekehrt sind Verfahrensrecht wie materielles Recht auf einen Ausgleich widerstreitender Interessen angelegt, womit die Notwendigkeit der Feinabstimmung über das Rechtsmissbrauchsverbot gerade begründet ist. Wird demnach ein genereller Ausschluss des Rechtsmissbrauchsverbots aus dem Zivilverfahrensrecht heute ganz überwiegend nicht mehr vertreten, gibt es dennoch Ansätze, bestimmte Verfahrensvorschriftenvorschriften und bestimmte Verfahrenslagen aus dem Anwendungsbereich dieses Korrektivs auszuschließen. Hierbei wird auf die Eigenheiten des Zivilverfahrens abgestellt, dass eine gewisse Justizförmigkeit erfordere, was der Vorhersehbarkeit, kurz, der Rechtssicherheit diene. Eine Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots gefährde aber gerade dieses Anliegen.78 Dieser Ansatz entbehrt nicht einer gewissen Wahrheit, als er das Interesse aller Verfahrensbeteiligten an Planungssicherheit im Verfahren unterstreicht. Er ist aber in der Sache nicht überzeugend, da seine Vertreter teilweise ohne jegliche Begründung bestimmte Gruppen von Verfahrensvorschriften und bestimmte Verfahrenslage a priori aus dem Anwendungsbereich des Rechtsmissbrauchsverbots ausschließen ohne dies auf Grundlage einer Einzelfallabwägung zu begründen, was noch ausführlich erörtert werden wird.79 II. Andere europäische Zivilverfahrensrechtsordnungen Auch die Zivilverfahrensrechte sonstiger EU-Mitgliedstaaten stehen einem missbräuchlichen Berufen auf deren Vorschriften nicht gleichgültig gegenüber, selbst wenn in der konkreten Behandlung des Missbrauchsfalls Unterschiede im Detail bestehen mögen.80 Im Falle eines Missbrauchs reagiert das Verfahrensrecht im Wesentlichen auf zweierlei Weise: Eine bestimmte Verfahrenshandlung wird für unwirksam/unbeachtlich erklärt bzw. ist aus sich heraus unbeachtlich, daneben besteht die Möglichkeit, dass missbräuchliches Verhalten zu einer pekuniären Sanktion führt. 81 Was letzteren Gesichtspunkt angeht, existieren teilweise allgemeine Kostentragungsregelungen für die unterliegende Partei, wie etwa § 91 ZPO im deutschen Recht, die in Fällen eines Missbrauchs im Bereich der Zuständigkeit dann angewandt werden können, wenn eine Klage als unzulässig abzuweisen ist. Natürlich mögen derartige Regelun-
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Schellhammer, Zivilprozess, Rn. 1271: grundsätzlich andere Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots im Prozessrecht nicht angezeigt 78 S.u., S. 227. 79 Vgl. unten, S. 227 ff. 80 Taruffo, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 3 f.; vgl. auch Lüttringhaus, ZZP 127 (2014) 29, 31 ff. 81 Taruffo, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 22 ff.; Tichy, in: FS Martiny, S. 851, 858.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
gen im Ergebnis eine Disziplinierungsfunktion gegenüber einem missbräuchlich handelnden Kläger haben. Allerdings sind sie immer nur die Folge einer Klageabweisung, die auf anderer Grundlage erfolgen muss, eben einem Missbrauchsverbot oder Ähnlichem. Sie werden daher in dieser Arbeit nicht weiter verfolgt. Spezielle Buß- oder Ordnungsgeldvorschriften für missbräuchliches Verfahrensverhalten sind seltener; ein Beispiel stellt allerdings der gleich zu besprechende Art. 32-1 des Nouveau Code de Procédure Civile dar. Abseits konkreter positiv-rechtlicher Sanktions- oder Disziplinierungsnormen stützt man sich auf allgemeine Rechtsgrundsätze, wobei die Lösungsvorschläge weitestgehend denjenigen entsprechen, die an anderer Stelle schon zum materiellen Recht dargestellt wurden.82 Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich daher auf einige Besonderheiten und nehmen wiederum die Rechtsordnungen Frankreichs und Englands in den Blick. 1. Frankreich Im französischen Zivilverfahrensrecht existiert mit dem angesprochenen Art. 32-1 des Nouveau Code de Procédure Civile eine positiv-rechtliche Norm, durch die Versuche der Verfahrensverschleppung oder sonstigen Missbrauchs von Verfahren sanktioniert wird.83 Hiernach kann gegenüber einem Verfahrensbeteiligten, der ein gerichtliches Verfahren verschleppt oder missbraucht, ein Bußgeld (ammende civile) von bis zu 3.000 Euro verhängt werden.84 Hierin wird eine Ausgestaltung des abus de droit gesehen,85 der in Form des abus de droit d’agir (en justice) als allgemeines Prinzip im Verfahrensrecht Anwendung findet.86 Gerade hier wird er besonders häufig von den Beteiligten eingewandt. 87 Diese Form des Rechtsmissbrauchs bezieht sich eigentlich nur auf eine an sich missbräuchliche Klageerhebung bzw. Verteidigung, wird aber auch beim Missbrauch sonstiger verfahrensrechtlicher Befugnisse zur Anwendung gebracht. 88 Zwar bereitet die Anwendung im Verfahrensrecht vordergründig deshalb gewisse Probleme, weil der abus de droit den Missbrauch eines subjektiven Rechts voraussetzt. 89 Allerdings wird in der französischen
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S.o. zum Rechtsmissbrauch, S. 43 ff. und zur Gesetzesumgehung, S. 80 ff. Vgl. Dondi, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 109, 117. 84 Vgl. den Wortlaut der Vorschrift: „Celui qui agit en justice de manière dilatoire ou abusive peut être condamné à une amende civile d'un maximum de 3 000 euros, sans préjudice des dommages-intérêts qui seraient réclamés.“ 85 Vgl. Dondi, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 109, 118. 86 Holthausen, Rechtsmissbrauchsschranke für Prozessparteien, S. 52. 87 Ghestin/Goubeaux, Introduction générale, Nr. 735. 88 Hopt, Schadensersatz aus unberechtigter Verfahrenseinleitung, S. 87, Fn 5 und S. 97 ff. 89 S.o., S. 46. Vgl. auch Holthausen, Rechtsmissbrauchsschranke für Prozessparteien, S. 54 ff. 83
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Lehre relativ freimütig beispielsweise im Wahlrecht des Klägers hinsichtlich mehrerer besonderer Gerichtsstände ein subjektives Recht gesehen.90 Vor allem für Fragen der Zuständigkeitserschleichung werden in der französischen Rechtsprechung daneben die Grundsätze der fraude à la loi angewandt. 91 Ein bekanntes Rechtsprechungsbeispiel ist die ‚affaire de Bauffremont‘92, in welcher sich die Prinzessin de Bauffremont in Sachsen-Altenburg niederließ, um vor einem dortigen Gericht nach dem ihr günstigeren Sachrecht geschieden zu werden.93 Die Entscheidung wird zwar auch als Beispiel einer Gesetzesumgehung im Kollisionsrecht angesehen,94 weil die Prinzessin durch ihre Wohnsitzverlagerung das ihr unliebsame französische Scheidungsrecht zu vermeiden suchte. Von französischen Autoren wird demgegenüber der zuständigkeitsrechtliche Aspekt in den Vordergrund gerückt und der Umzug nach Sachsen-Altenburg als Beispiel für eine Zuständigkeitserschleichung genannt.95 Dies beschreibt das Bestreben der Prinzessin wohl am treffendsten, denn vor der Frage des anwendbaren Rechts steht denklogisch zunächst diejenige nach einer internationalen Zuständigkeit sächsisch-anhaltinischer Gerichte. Daneben wurde der Einwand der fraude à la loi im Zuständigkeitsrecht auch dann erhoben, wenn ein Kläger zum Zweck des Erschleichens einer günstigeren sachlichen Zuständigkeit sein Klagebegehren in Teilklagen aufspaltete.96 Das in einem derartigen Fall angerufene Tribunal d’Instance de Avesnes-surHelpe behandelte den Einwand des Beklagten im Ergebnis zwar nicht anhand der Vorgaben der fraude à la loi. Es legte vielmehr die entsprechende Zuständigkeitsvorschrift einschränkend aus. 97 Die Auflösung von fraude à la loiKonstellationen mit den Mitteln der Auslegung ist eine in der neueren französischen Rechtspraxis insgesamt anzutreffende Erscheinung und wurde an andere Stelle schon dargestellt. Dabei wurde ebenfalls darauf hingewiesen, dass die französischen Gerichte hierbei teils einen sehr liberalen und daher oftmals
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Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 34 f. Clavel, Trav. comité fr. DIP 2010/2012, 255, 256 f.; Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 32; de Vareilles-Sommières, Trav. comité fr. DIP 1998/2000, 49, 62; Vgl. auch Nuyts, 3 GJA (2003) 1, 10 f. Allgemein zur fraude à la loi im französischen Urteilsverfahren, Holthausen, Rechtsmissbrauchsschranke für Prozessparteien, S. 58 f. 92 Cass. civ., 18 mars 1878, S. 1878. 1. 193. 93 Vgl. Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 391. 94 So von Schurig, in: FS Ferid, S. 375, 391. 95 Vgl. Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 32. 96 Holthausen, Rechtsmissbrauchsschranke für Prozessparteien, S. 122, unter Verweis auf die Entscheidung des Tribunal d’Instance de Avesnes-sur-Helpe, 25 octobre 1963, J.C.P. 1964. II. 13901. 97 Holthausen, Rechtsmissbrauchsschranke für Prozessparteien, S. 122. 91
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kritisierten Umgang mit den Möglichkeiten der Auslegung pflegen. 98 Allerdings findet sich die fraude à la loi auch in neueren Entscheidungen der Cour de cassation, etwa, wenn eine Klageforderung an einen Franzosen abgetreten wird, um in den Genuss des Klägergerichtsstands aus Art. 14 C.C. zu gelangen.99 2. England Im materiellen Recht folgt das Common Law keiner speziellen Rechtsmissbrauchslehre 100 und Fragen des Umgehens und Erschleichens von Gesetzen stellen nach diesem Verständnis ebenfalls kein Problem dar, das einem abstrakten Lösungskonzept zugeordnet wird.101 So überrascht es nicht, dass im Zivilverfahrensrecht das, was als abuse of process im weiteren Sinne bezeichnet wird102, nicht Gegenstand einer übergeordneten Doktrin ist, sondern Bezugspunkt einer Vielzahl unterschiedlicher Lösungsansätze, unter anderem deliktischer Haftungstatbestände.103 Das Gros der Fälle bezieht sich dabei auf die unberechtigte Rechtsverfolgung, eine Verfahrenseinleitung trotz fehlender oder zweifelhafter materiell-rechtlicher Grundlage.104 Dennoch finden auch andere missbräuchliche Verhaltensweisen von Kläger und Beklagtem Beachtung, etwa die sogleich anzusprechende erpresserische Prozessführung im Ausland. In der Behandlung von Verfahrensmissbrauch richtet sich der Blick der englischen Rechtswissenschaft nicht auf den Missbrauch bestimmter verfahrensrechtlicher Bestimmungen, sondern auf einen möglichen Rechtsbehelf gegen derartiges Verhalten.105 Missbrauch zu verhindern oder dessen Folgen zu beseitigen obliegt demnach in erster Linie den am Verfahren beteiligten Rechtssubjektiven selbst und ist nicht Aufgabe des Gerichts, obwohl diesem unter bestimmten Voraussetzungen auch eine eigene Befugnis zukommt, missbräuchliche Verfahrenshandlungen der Beteiligten zurückzuweisen (striking out). 106 Allgemein sind die Reaktionsmöglichkeiten des Gerichts gegenüber missbräuchlichem Verhalten eine Ermessensfrage. 107 Besondere Bedeutung
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S.o., S. 83 ff. Cass. civ., 24 novembre 1987, Rev. crit. DIP 1988, 364, vgl. dazu unten, Fn. 194. 100 S.o., S. 51. 101 S.o., S. 87 102 Vgl. Andrews, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 65, 65 f. 103 Hopt, Schadensersatz aus unberechtigter Verfahrenseinleitung, S. 58 ff.; Fentiman, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 53, 54 f. Vgl. auch Andrews, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 65 ff. 104 Fentiman, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 53, 56. 105 Fentiman, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 53, 54. 106 Vgl. Andrews, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 65, 79 ff. 107 Fentiman, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 53, 54, so vor allem bei Fragen des forum non conveniens, dazu unten, S. 255 f. 99
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kommt diesbezüglich den sog. anti-suit injunctions zu:108 Mittels diesen gerichtlichen Untersagungsverfügungen wird in Fällen der Umgehung von Gerichtsstands- oder Schiedsvereinbarungen109 aber auch in anderen Fällen der Prozessführung im Ausland zum Zwecke der Erpressung110 der missbräuchlich Handelnde zur Unterlassung der Prozessführung bei Strafandrohung aufgefordert.111 Im Anwendungsbereich des Europäischen Zivilverfahrensrechts haben jene Verfügungen zu erheblichen Diskussionen bezüglich ihrer Vereinbarkeit mit den unionsrechtlichen Vorgaben geführt, was noch ausführlicher Gegenstand der Arbeit sein wird.112
D. Notwendigkeit der Übertragung Vorliegende Arbeit vertritt die These, dass es zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Europäischen Zivilverfahrensrechts notwendig ist, das unionsrechtliche Missbrauchsverbot in diesen Teilbereich des Unionsrechts zu übertragen. Diverse Argumente für diese Sichtweise wurden schon vorgetragen. Allerdings sollen hier noch einmal die möglichen Einwände der Kritiker ermittelt werden. Zum einen könnte man argumentieren, das nationale Recht stelle ausreichende Mittel zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch zur Verfügung. Wegen des im Unionsrecht geltenden Subsidiaritätsgrundsatzes könnte man folglich eine Lösung des Problems auf Ebene der Union anzweifeln (unten, I.). Zum anderen könnte man einwenden, dass mit der Figur des Rechtsschutzbedürfnisses ein Lösungsmodell für die hier diskutierten Formen von Verfahrensmissbrauch auf europäischer Ebene existiere (unten, II.). Und schließlich, dass mit den europaweit einheitlichen Standards der EMRK und der Grundrechte-Charta ein uniformes Konzept zur Verhinderung grob unbilliger Auswirkungen staatlicher Verfahren etabliert sei (unten, III.). Dass alle Einwände in der Sache fehlgehen, soll im nachfolgenden Abschnitt gezeigt werden.
108 Ausführlich zur anti-suit injunction im Common Law, Raphael, The Anti-Suit Injunction, passim; speziell zum Schutz von Gerichtsstandsvereinbarungen durch anti-suit injunctions im Common Law, vgl. Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, S. 201 ff. 109 Vgl. West Tankers Inc v RAS Riunione Adriatica di Sicurta SpA and others [2007] UKHL 4, [2007] 1 All ER (Comm) 794; Continental Bank NA v Aeakos SA [1994] 1 WLR 588. 110 Vgl. Aerospatiale v Lee Kui Jak [1987] AC 871. 111 Fentiman, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 53, 61. 112 S.u., S. 273 ff. und S. 371 ff.
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I. Anwendung nationaler Missbrauchsverhinderungsmechanismen? Das deutsche Zivilverfahrensrecht bietet wie gesehen diverse Möglichkeiten, um unredlichem Verhalten im Zivilverfahren Herr zu werden.113 Gleiches gilt für die sonstigen Verfahrensordnungen innerhalb der EU.114 Vor diesem Hintergrund kann man sich fragen, ob es sich bei der Anwendung von Korrekturinstrumenten wie Rechtsmissbrauchsverbot, Rechtsschutzbedürfnis oder fraude à la loi im Anwendungsbereich des Europäische Zivilverfahrensrechts um ‚Verfahrensfragen‘ handelt, die im Anschluss an die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kongress Agentur Hagen den nationalen Gerichten überantwortet sind.115 Hierauf aufbauend könnte man die Notwendigkeit ablehnen, das unionsrechtliche Missbrauchsverbot im Europäischen Zivilverfahrensrecht anzuwenden. Diese Annahme korreliert mit relativ unkritischen Aussagen im Schrifttum116 und Rechtsprechung117, wonach für Fragen des Verfahrensmissbrauchs – ohne die Frage der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten freilich überhaupt anzureißen – die Regelungsmechanismen des nationalen Rechts anzuwenden seien bzw. angewandt werden könnten. Neben der fehlenden Notwendigkeit könnte man unter dem Blickwinkel des in Art. 5 Abs. 3 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzips auch die rechtliche Zulässigkeit einer Kompetenzannahme durch die EU in diesem Bereich hinterfragen. 1. Regelungsanspruch des Unionsrechts und effet utile Entscheidend ist zunächst, wie weit der Regelungsanspruch des jeweiligen Rechtsakts reicht, der Gegenstand eines Verfahrensmissbrauchs ist. Innerhalb 113
S.o., S. 191 ff. S.o., S. 195 ff. und darüber hinaus allgemein Taruffo, in: Taruffo, Abuse of Procedural Rights, S. 3, 4. 115 Nuyts, 3 GJA (2003), 1, 4 mit Bezug auf EuGH, Urt. v. 15.5.1990, Rs. C-365/88 (Kongress Agentur Hagen GmbH ./. Zeehaghe BV), Slg. 1990, I-1845, 1865 f., Nr. 19 m.w.N.; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 432. 116 Z.B. Collins, 106 L.Q.R. (1990) 535, 538; Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO, Rn. 32 f. Auch Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, Art. 27 EuGVVO scheint das Rechtsschutzbedürfnis in nationaler Ausprägung im Sinn zu haben, wenn er Torpedoklagen unter Umständen hierüber die Zulässigkeit versagen möchte. Ausdrücklich so: Marongiu Buonaiuti, 11 Yrbk.Priv.Int’l L. (2009) 511, 537 f.; für eine Anwendung von Treu und Glauben nach (offensichtlich) nationalem Verständnis zur Verhinderung missbräuchlichen forum shoppings, Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, S. 349 f., die auf S. 348 gerade diesen Einwand in der Sache aber nicht gelten lassen will. Ein Plädoyer für ein europäisches Rechtsschutzbedürfnis findet sich bei Bittmann, in: FS Kaissis, S. 57 ff. 117 Z.B. OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.01.2010, I-2 U 127/08, BeckRS 2010, 16640, das den (offensichtlich nicht an unionsrechtlichen Kategorien orientierten) Arglisteinwand bei der Behandlung von Testkäufen im Rahmen des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. (= Art. 7 Nr. 2 EuGVVO) anwenden will (vgl. unten, S. 335 ff.); ebenso OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.1.2010, I-2 U 131/08, NJOZ 2010, 1781, 1782. 114
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dieses Bereichs dürfen nationale Konzepte wegen des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht nicht angewandt werden. Da ein Missbrauchsverdikt zur Folge hat, dass Unionsrecht nicht oder nicht vollständig angewandt würde, ist klar, dass jedenfalls dort, wo der Unionsgesetzgeber erschöpfend regeln tätig geworden ist, ein Rückgriff auf nationales Recht in jedem Fall ausscheiden muss. Das gilt zunächst für Missbrauchsfragen innerhalb des vereinheitlichten Zuständigkeitsrechts118, beispielsweise Fälle von Zuständigkeitserschleichung oder missbräuchlichem forum shopping 119. Die Sichtweise des Gerichtshofs hierzu zeigt sich insbesondere in der Melzer-Entscheidung.120 Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot fungiert in diesen Fällen, wie oben aufgezeigt, als Mittler zwischen nationalem Recht und Unionsrecht, indem es zum einen die Mitgliedstaaten autorisiert, Missbräuche zu regulieren und zum anderen inhaltliche Vorgaben macht, denen nationale Regelungsinstrumente entsprechen müssen.121 Über das Zuständigkeitsrecht hinaus ebenfalls klar von einem bedingungslosen Rückgriff auf nationales Recht ausgenommen sind Fragen der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung122 und der Koordinierung von Parallelverfahren123. Einzelfragen können aber mitunter Schwierigkeiten bereiten.124 Für Bereiche, in denen der Gesetzgeber dagegen nicht regelnd tätig geworden ist, insbesondere also Zulässigkeitsfragen, kann grundsätzlich auf nationale Missbrauchsverhinderungsmechanismen zurückgegriffen werden, aller-
118 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 433; Mankowski, in: Rauscher, Vorbem Art. 2 EuGVVO Rn. 3; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Einleitung vor Art. 2 EuGVVO Rn. 31. 119 Dazu unten, S. 240 ff. 120 EuGH, Urt. v. 16.5.2013, Rs. C-228/11 (Mezler ./. MF Global UK Ltd), EuZW 2013, 544, 545, Nr. 34: „Die Heranziehung nationaler Rechtskonzepte im Rahmen der Verordnung Nr. 44/2001 würde aber in den Mitgliedstaaten zu voneinander abweichenden Lösungen führen, die geeignet wären, das Ziel einer Vereinheitlichung der Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit, das die Verordnung nach ihrem zweiten Erwägungsgrund verfolgt, zu beeinträchtigen.“ 121 Vgl. S. 173. 122 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-139/10 (Prism Investments BV ./. Jaap Anne van der Meer), Slg. 2011, I-9511 zur Frage der Erweiterung der Anerkennungsversagungsgründe des Art. 34 EuGVVO a.F. durch nationales deutsches Recht. 123 BGH, Urt. v. 11.12.1996, VIII ZR 154/95, BGHZ 134, 201: Rechtsschutzbedürfnis nationaler Prägung kann nicht zur Rechtfertigung eines Vorrangs nachträglich anhängig gemachter Leistungsklage vor negativer Feststellungsklage angeführt werden; Thole, AG 2013, 73, 79. 124 G. Wagner, in: Stein/Jonas, Einleitung vor Art. 1 EuGVVO Rn. 26.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
dings nur, soweit die praktische Wirksamkeit von Unionsrecht nicht beeinträchtigt wird.125 Ausgeschlossen ist es jedenfalls, Missbräuche im Regelungsbereich des Unionsrechts in ein Zulässigkeitsproblem zu transformieren. Es ist den mitgliedstaatlichen Gerichten beispielsweise nicht gestattet, bei einer erschlichenen Zuständigkeit oder bei einem missbräuchlichen forum shopping das Rechtsschutzbedürfnis des Rechtsschutzsuchenden zu verneinen, was – nach deutscher lex fori – als Zulässigkeitsfrage zu qualifizieren wäre, letztlich aber die Wirksamkeit der Zuständigkeitsregelungen aufheben würde. 126 Der EuGH nimmt diesbezüglich zu Recht eine restriktive Haltung ein. So ist er auch Versuchen von Vertretern des Common Law127 entgegengetreten, wonach die Zulässigkeit von anti-suit injunctions zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch als reine Verfahrensfrage zu qualifizieren sei.128 2. Ausdrückliche Vorbehalte zugunsten der lex fori Den Geltungsanspruch nationalen Rechts im Anwendungsbereich des Unionsrechts abzustecken, bereitet dort noch größere Probleme, wo innerhalb neuerer europäischer Verordnungen, mit denen eigenständige europäische Erkenntnisverfahren beschränkten Umfangs geschaffen werden sollen, ein Rückgriff auf nationales Verfahrensrecht ausdrücklich zugelassen ist. So gestattet es beispielsweise Art. 26 EuMahnVO, das nationale Verfahrensrecht dort zur Anwendung zu bringen, wo Verfahrensfragen nicht ausdrücklich129 durch die Verordnung selbst geregelt werden. Der EuGH hat demnach beispielsweise den Rückgriff auf eine polnische Verfahrensvorschrift für zulässig erachtet, nach
125
EuGH, Urt. v. 15.5.1990, Rs. C-365/88 (Kongress Agentur Hagen GmbH ./. Zeehaghe BV), Slg. 1990, I-1845, 1866, Nr. 20. Für das Rechtsschutzbedürfnis, vgl. Bittmann, in: FS Kaissis, S. 57 ff. 126 So auch Huber, Forum non conveniens, S. 184. 127 Lord Hobhouse in der Vorlageentscheidung des House of Lords an den EuGH in der Rechtssache Turner, vgl. Turner v Grovit and others [2001] UKHL 65, [2002] 1 WLR 107, Nr. 30. Vgl. hierzu Ambrose, 52 ICLQ (2003) 401, 410 ff. 128 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565, 3589, Nr. 29; dazu Dutta/Heinze, ZEuP 2005, 431, 455 f.; Huber, Forum non conveniens, S. 183 f. 129 Auch wenn der Verordnungstext dezidiert von ‚ausdrücklich‘ in der Verordnung nicht geregelten Fragen spricht, kann dies nicht dahingehend gedeutet werden, dass nationales Recht dort anwendbar ist, wo eine Lösung gleichwohl durch Auslegung des Verordnungstextes erreicht werden könnte. Auch wenn die französische Sprachfassung (‚expréssement‘) und die englische (‚specially‘) hier ebenfalls nicht wirklich klarer sind, ergibt sich dies in jedem Fall aus der Ablehnung von acte clair-Eräwgungen bei der Auslegung von Unionsrecht, s.o., S. 137. Gleiches gilt für Art. 41 Abs. 1 EuKPfVO. Diese Sichtweise bestätigt der funktional parallel liegende Vorbehalt in Art. 19 EuGFVO: Dort heißt es, nationales Recht könne angewandt werden, sofern die „Verordnung nichts anders bestimm(e)“.
§ 6 Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im EuZVR
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welcher der Antragssteller im Rahmen des Verfahrens auf Erlass eines Europäischen Zahlungsbefehls den Streitwert beziffern muss.130 Ein Rückgriff auf nationale Mechanismen zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch ist mit diesen Vorbehalten jedoch sicher nicht intendiert. Denn Sinn und Zweck dieser Vorschriften ist, ein ansonsten unvollständiges Verfahren zu komplettieren.131 Bedenkt man, dass in Missbrauchsfällen die Nichtanwendung von Unionsrecht zur Debatte steht, überzeugt es nicht, diese Öffnungsklauseln als vorbehaltlose Delegation an die lex fori zu betrachten.132 Allenfalls dort, wo die Verordnungen bewusst keine Regelungen vorsehen, könnte man den nationalen Gerichten auch zugestehen, Missbrauch anhand ihrer nationalen Kategorien zu verhindern. Jedoch sollte auch in diesen Bereichen meines Erachtens ein Rückgriff auf nationales Recht beim Vollzug dieser Verordnungen ausscheiden. Zu befürchten ist vor allem eine völlig uneinheitliche Anwendung von Unionsrecht.133 Daneben muss berücksichtigt werden, dass der EuGH in der Sache Kongress Agentur Hagen einen Rückgriff auf nationales Verfahrensrecht außerhalb des Regelungsbereichs des EuGVÜ, also insbesondere für Zulässigkeitsfragen, nur unter der Bedingung gestattete, dass die praktische Wirksamkeit des Übereinkommens nicht beeinträchtigt wird.134 Dies muss auch für ausdrückliche Öffnungsklauseln zugunsten des nationalen Verfahrensrechts gelten. Die völlige Nichtanwendung von Verfahrensvorschriften aufgrund einer nationalen Befugnisnorm würde jedoch den effet utile des Unionsrechts vollständig aufheben und wäre nie zu rechtfertigen.135 Vor allem besteht aber kein praktisches Bedürfnis dafür, nationales Recht für die Lösung von Missbrauchsfällen bedingungslos heranzuziehen, da mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot ein methodischer Ansatz für die mitgliedstaatlichen Gerichte tatsächlich vorhanden ist. Über dessen Anwendung kann die in Zweifelsfällen schwierige Abgrenzung vermieden werden, wann ein bestimmter Aspekt in den neuen europäischen Verfahren durch Unionsrecht erschöpfend geregelt ist und wann nicht.136 Schließlich ist zu bedenken, dass Verordnungen wie Mahn- oder Bagatellverordnung nach der Vorstel-
130
EuGH, Urt. v. 13.12.2012, Rs. C-215/11 (Iwona Szyroka ./. SiGer Technologie GmbH), EuZW 2013, 147, 148, Nr. 34. 131 Vgl. Varga, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 19 EuBagatellVO, Rn. 1. 132 Es liegt gerade keine Delegation der Missbrauchsverhinderung an die Mitgliedstaaten vor, wie dies in anderen Zusammenhängen vertreten wird, vgl. dazu oben, Fn. 465. 133 Nuyts, 3 GJA (2003) 1, 20; vgl. auch Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 37; Meyer, Forum Shopping, S. 145. 134 EuGH, Urt. v. 15.5.1990, Rs. C-365/88 (Kongress Agentur Hagen GmbH ./. Zeehaghe BV), Slg. 1990, I-1845, 1865 f., Nr. 19 f.; vgl. Thole, ZZP 122 (2009) 423, 433. 135 Huber, Forum non conveniens, S. 183 f. 136 Vgl. Thole, ZZP 122 (2009), 423, 433.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
lung des Gesetzgebers einen weiteren Schritt in Richtung europäische Integration darstellen. Die Möglichkeit eines Rückgriffs auf nationales Recht kehrte die Zielsetzung des Projekts ins Gegenteil um. 3. Kein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip Legt man obige Ausführungen zugrunde, kann die Antwort auf die Frage nach einem Verstoß gegen das in Art. 5 Abs. 3 EUV niedergelegte Subsidiaritätsprinzips bei Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots kurz gehalten werden: Die richtige Handlungsebene für die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch ist diejenige des Unionsrechts.137 Verfahrensmissbrauch durch die mitgliedstaatlichen Institutionen anhand nationaler Konzepte verhindern zu lassen, würde den Bedürfnissen des Europäischen Zivilverfahrensrechts nicht gerecht und wäre damit keine ausreichende Verwirklichung im Sinne der Vorschrift. II. Anwendung einer europäischen Lehre vom Rechtsschutzbedürfnis? Die methodische Notwendigkeit der Übertragung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrecht bestünde dann nicht, wenn auf europäischer Ebene schon ein Lösungsansatz für die hier thematisierten Fälle des Verfahrensmissbrauchs existieren würde. Die im vorhergehenden Abschnitt vorgetragenen Einwände gegen eine unkontrollierte Anwendung nationaler Standards würden hierbei nicht greifen. Betrachtet man das nationale (deutsche) Zivilverfahrensrecht, wird hin und wieder die Figur des Rechtsschutzbedürfnisses bemüht, um in Fällen von Verfahrensmissbrauch nach der hier gebrauchten Definition regelnd einzugreifen. So sieht man etwa die stückweise Aufteilung eines Klagebegehrens in Teilbeträge, um die Zuständigkeit des Amtsgerichts zu erschleichen, als Frage des Rechtsschutzbedürfnisses an.138 Ähnliche Ansätze existieren auch in weiteren europäischen Zivilverfahrensordnungen.139 Würde eine eigene unionsrechtliche Lehre vom Rechtsschutzbedürfnis existieren, könnte über deren Anwendung in Missbrauchsfällen der in vorliegender Arbeit interessierenden Art nachgedacht werden, was wiederum die Frage nach der Notwendigkeit der Übertragung des Missbrauchsverbots evident werden ließe. Bei näherer Betrachtung stellt eine Lösung über eine unionsrechtliche Rechtsschutzbedürfnislehre jedoch keinen gangbaren Weg dar.
137
Vgl. Bast, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 5 EUV Rn. 49. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1074 m.w.N. 139 Vgl. die Nachweise bei Bittmann, in: FS Kaissis, S. 57, 60 ff. zu Österreich, England und Wales, Frankreich und Italien. 138
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1. Kein belastbares Konzept einer unionsrechtlichen Lehre vom Rechtsschutzbedürfnis Eine genuin europäische Rechtsschutzbedürfnislehre müsste überhaupt existieren. Zwar hat Bittmann den Nachweis eines „europäischen Rechtsschutzbedürfnisses“ im Europäischen Zivilverfahrensrecht zu führen versucht.140 Allerdings ist der Inhalt dieses kleinsten gemeinsamen europäischen Nenners derzeit alles andere als klar. Das Problem der Unbestimmtheit des Konzepts des Rechtsschutzbedürfnisses gilt auch schon für die im deutschen Recht gebräuchliche Lehre. Dieser wird nicht ganz zu Unrecht in Teilen der Vorwurf einer „prozessualen ‚Leerformel‘“141 von erheblicher Unbestimmtheit142 mit deutlich zu weitem Anwendungsbereich gemacht.143 Wenn sich demnach nicht einmal für die über viele Jahrzehnte in der deutschen Prozessrechtslehre gebrauchte Formel eine klare Linie herausgebildet hat, mag man über die Möglichkeit eines gemeineuropäischen Ansatzes trefflich streiten. Natürlich kann hier eingewandt werden, dass dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot gleichfalls eine gewisse Wertungsoffenheit inne wohnt. Dennoch ist es mittlerweile an klar ausgeformte Voraussetzungen gebunden und wird durch EuGH und nationale Gerichte tatsächlich genutzt. Gegenüber dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot bedeutete die Entscheidung für ein europäisches Rechtsschutzbedürfnis als Grundlage der Behandlung von Verfahrensmissbrauch letztlich eine nicht notwendige Erhöhung von Rechtsunsicherheit und methodischer Beliebigkeit. 2. Unterschiedliche Zielrichtung von Missbrauchsverbot und Rechtsschutzbedürfnis Darüber hinaus unterscheidet sich die Lehre vom Rechtsschutzbedürfnis von der des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots von ihrer Zielrichtung her: Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt einem Rechtsschutzsuchenden nach der gebräuchlichen Definition im deutschen Zivilverfahrensrecht, wenn er sein Begehren auf einem einfacheren, billigeren Weg verfolgen könnte oder er aus dem konkreten Verfahren keinen schutzwürdigen Vorteil erzielen will oder kann.144 Da-
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Bittmann, in: FS Kaissis, S. 57 ff. H. Roth, in: Stein/Jonas, vor § 253 ZPO Rn. 135. 142 H. Roth, in: Stein/Jonas, vor § 253 ZPO Rn. 138. 143 Thannhäuser, Rechtsschutzbedürfnis, S. 81. 144 BGH, Urt. v. 18.4.2013, III ZR 156/12, BGHZ 197, 147; BGH, Beschl. v. 9.7.2009, IX ZR 29/09, NJW-RR, 2009, 1148, 1149; vgl. auch Bittmann, in: FS Kaissis, S. 57, 59; Schönke, AcP 150 (1949), 216, 229 ff.; ders., Rechtsschutzbedürfnis, passim; H. Roth, in: Stein/Jonas, vor § 253 ZPO Rn. 145. 141
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
mit soll in erster Linie der staatliche Rechtsschutzapparat vor unnützer Inanspruchnahme geschützt werden.145 Zwar zeigt sich hier eine Querverbindung zu den Fällen, die unter das unionsrechtliche Missbrauchsverbot subsumiert werden können, denn auch dort ist die Frage der Zweckverfehlung zentral; bei künstlichen Gestaltungen wird ein durch Unionsrecht garantierter Vorteil nicht gewährt.146 Dennoch liegt der Fokus des Rechtsschutzbedürfnisses nicht auf dem Verhältnis der Rechtsschutzsuchenden untereinander, sondern bezieht sich auf das Verhältnis Staat-Bürger.147 Freilich lassen sich diverse Fallgestaltungen finden, in denen ein Missbrauch zwischen Rechtsschutzsuchenden überindividuelle Belange der staatlichen Rechtspflege berührt, etwa das Zivilverfahren als Institution148: Der bewusst Schädigende, welcher keinerlei eigenen Vorteil durch ein staatliches Zivilverfahren zu erreichen gedenkt, entwertet das Zivilverfahren als Mittel der Konfliktlösung. Allerdings handelt es sich bei diesen Fällen lediglich um eine Teilmenge des in vorliegender Arbeit besprochenen Problemfeldes. Das, was als Missbrauch nach dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot behandelt werden kann, ist nicht notwendigerweise deckungsgleich mit dem Anwendungsbereich des Rechtsschutzbedürfnisses. Deshalb und wegen des völlig unklaren Inhalts eines derartigen Lösungsmodells auf europäischer Ebene, ist die methodische und praktische Notwendigkeit nicht aufgehoben, das unionsrechtliche Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrecht zu übertragen. III. Anwendung von EMRK und Grundrechte-Charta ausreichend? Betrachtet man die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots unter dem Aspekt effektiver Justizgewährung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte, könnte man argumentieren, dass mit den Garantien aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 Grundrechte-Charta ein gemeineuropäischer Standard vorhanden ist, mit dem grob unbillige Ergebnisse verhindert werden können.149 Ein Blick in die deutsche Literatur zeigt deutlich, dass häufig ein das Problem vermeintlich relativierender Verweis auf Art. 6 Abs. 1 EMRK erfolgt, nach-
145
Schönke, Rechtsschutzbedürfnis, S. 13; Baumgärtel, ZZP 86 (1973), 353, 357 f. und
368; 146
Vgl. oben, S. 161. Schönke, Rechtsschutzbedürfnis, S. 13; ders., AcP 150 (1949), 216, 218; Thannhäuser, Rechtsschutzbedürfnis, S. 13 f.; ebenso Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 99; a.A. wohl für das deutsche Recht H. Roth, in: Stein/Jonas, vor § 253 ZPO Rn. 154, der es als eine rein terminologische Frage ansieht, ob das Rechtsschutzbedürfnis oder das Gebot von Treu und Glauben angewandt wird. 148 Vgl. zum Institutionenschutz durch das Rechtsschutzbedürfnis, Schönke, AcP 150 (1949), 216, 216 ff.; aus Sicht des Schweizerischen Rechts, Honsell, in: BK, Art. 2 ZGB Rn. 65. 149 So etwa Leible, in: Rauscher, EuzPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO, Rn. 18a. 147
§ 6 Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im EuZVR
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dem man, beispielsweise bei Torpedoklagen, eine Lösung de lege lata ablehnen musste.150 Stilprägend für die deutschen Prozessualisten sind insoweit die Ausführungen von Leible: Er sieht, dass die durch ihn favorisierte Auslegung des Art. 27 EuGVVO a.F. (= Art. 29 EuGVVO) zu „unerfreulichen Verzögerungen“ führen und zu „Missbrauch einladen“ kann, hält aber keine andere Lösung für möglich; „auch insoweit gebührt der Rechtssicherheit der Vorrang.“151 Unter der nächsten Überschrift („Prozessverschleppung“) hält er dann fest, dass das derart verstandene Regelungskonzept der Verordnung Missbrauch geradezu begünstige, aber in jedem Fall den Anforderungen der EMRK genügen müsse. Dort wo effektiver Rechtsschutz im Sinne der Menschenrechtskonvention konkret nicht mehr möglich sei, müsse eine Ausnahme von Art. 29 EuGVVO möglich sein. Zwar bringt Leible im nachfolgenden Absatz auch den Verweis auf ein im Unionsrecht verankertes allgemeines Missbrauchsverbot. Diesem wird aber nicht weiter nachgegangen: Er stellt nämlich schon infrage, ob dessen Anwendung unterhalb der Schwelle von EMRK und GrundrechteCharta überhaupt möglich sei.152 Nicht, dass vorliegende Arbeit die beschränkende Wirkung der EMRK und sonstiger menschenrechtlicher Garantien leugnen oder ablehnen würde. Gerade die Inkorporierung von Wertungen aus EMRK und Grundrechte-Charta in das Europäische Zivilverfahrensrecht durch den EuGH und die mitgliedstaatlichen Gerichte stellt einen weiteren Schritt in Richtung einer leistungsfähigen, weil mit einer Wertungsgrundlage ausgestatteten Verfahrensordnung dar. 153 Dennoch ist das aufgezeigte Vorgehen mit Blick auf Art. 29 EuGVVO und sonstige Fälle von Verfahrensmissbrauch zu bedauern, was mehrere Gründen hat: Erstens sucht man so die Lösung nicht im Verfahrensrecht selbst, sondern gibt buchstäblich die Verantwortung ab. Denn letztlich entscheidet so der EGMR (mittelbar) über die Grenzen der Anwendung der EuGVVO; dessen Auslegung der EMRK wird zur entscheidenden Größe. Zweitens wird so die Frage eines an sich lösbaren einfachgesetzlichen Regelungsproblems zum Verfassungs- bzw. Menschenrechtsproblem stilisiert. 154 Das ist nicht nur ein in
150 Z.B. Linke/Hau, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 255; Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO Rn. 5. 151 Leible, in: Rauscher, EuzPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO, Rn. 16b. 152 Leible, in: Rauscher, EuzPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO, Rn. 18 f. Ebenso Dörner, in: Saenger, Art. 27 EuGVVO, Rn. 10; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 27 EuGVVO, Rn. 58; Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO, Rn. 26. 153 Vgl. Grothe, IPRax 2004, 205, 209; Hess, IPRax 2005, 540, 541, allerdings noch zum Europäischen Verfassungsvertrag; ders., in: Kramer/van Rhee, Civil Litigation in a Globalising World, S. 159, 170. 154 Pabst, Ehesachen mit Europabezug, S. 269 m.w.N.; Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 169. Parallel hierzu liegt die bei Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale
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methodischer Hinsicht fragwürdiger Ansatz155 – wer würde im deutschen Verfahrensrecht oder materiellen Recht auf die Idee kommen, Einzelfallprobleme, wie beispielsweise das arglistige Berufen auf die Formunwirksamkeit eines Vertrages, in den Bereich des Verfassungsrechts zu verweisen? –, er kann auch praktisch nicht überzeugen. Denn im Ergebnis lässt man die Rechtsschutzsuchenden so am langen Arm des Verfassungsrechts verhungern.156 Bei der Verletzung von Menschenrechten steht nicht mehr der Individualkonflikt der Rechtsschutzsuchenden im Fokus des Rechtsanwenders, sondern es wird eine gesamtgesellschaftliche Ebene berührt. Damit entfernt sich das Recht vom zu lösenden Einzelfall und so von zweckmäßigen Lösungen. Mit einem Verweis auf eine menschenrechtliche Rechtsposition überhöht man lediglich unzweckmäßig die Anforderungen an die gerichtliche Kontrolle in Fällen potentiellen Missbrauchs. Dass ein derartiger Ansatz keine praxistauglichen Lösungen liefern kann, wird wiederum in Zusammenhang mit der Rechtshängigkeitssperre des Art. 29 EuGVVO deutlich. Zwar wird für einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK bei überlangen Zivilverfahren betont, dass dieser jeweils einzelfallbezogen beurteilt werden müsse.157 Allerdings ist nicht zu verkennen, dass unterhalb eines Zeitraums von eineinhalb bzw. zwei Jahren die Verletzung des Rechts auf Entscheidung in angemessener Frist regelmäßig nicht anerkannt werden wird.158 In Fällen von Torpedoklagen müsste ein Rechtsschutzsuchender damit diesen Zeitraum abwarten, bevor er das später angerufene Gericht noch einmal um eine Sachentscheidung angehen könnte und dies selbst bei offenkundiger Schädigungsabsicht des Torpedoklägers. Dabei könnte dem betroffenen Zweitkläger häufig auch ein entsprechender Rechtsbehelf fehlen, sofern das Gericht nicht von sich aus das Verfahren weiter betreibt. In jedem Fall hätte der Torpedokläger sein Ziel, die Verzögerung des Verfahrens, dann schon erreicht.159 Gerechtigkeit, S. 296 ff. dargestellte Diskussion um die ‚Versteinerung‘ des Verfahrensrechts durch die – nach Meinung der Kritiker – überbordende Integration verfassungsrechtlicher Wertungen. Auch hier wird, freilich vor einem anderen tatsächlichen Hintergrund, argumentiert, die Denkweise, Lösungen für verfahrensrechtliche Fragestellungen dem Verfassungsrecht zu überantworten, behindere die Entwicklung eigener, verfahrensrechtlicher Lösungsanstätze. 155 Vgl. für die Frage der Ableitung konkreter Vorgaben an das Verfahrensrecht aus dem Verfassungsrecht R. Stürner, Aufklärungspflicht, S. 29 m.w.N. 156 Vgl. Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO, Rn. 26 f.: Maßstab des Art. 6 EMRK sei lediglich „Grenze des verfassungsrechtlich gerade noch Erträglichen“. 157 EGMR, Urt. v. 16.12.2010, 39778/07, 11171/08, 43336/08, 52719/08, 15895/09, 16123/09, 16127/09, 16129/09, 27529/09, 27533/09, 27596/09 – Dudek ./. Deutschland, Nr. 83; Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, S. 271 ff. m.w.N. 158 Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, S. 275 m.w.N.; vgl. auch Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 77 ff. 159 Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 722; Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 417; Otte, ZZPInt 8 (2003) 521, 526.
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E. Zusammenfassung Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot kann auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht Geltung beanspruchen. Dies folgt unter methodischen Gesichtspunkten schon aus dessen Eigenschaft als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts. Daneben finden sich in der Rechtsprechung des EuGH einzelne Hinweise darauf, dass missbräuchliches Verhalten im Europäischen Zivilverfahrensrecht keinen Platz hat. Zwar sind diese Hinweise sachlich auf bestimmte Einzelfallregelungen beschränkt und enthalten keine Stellungnahme zur Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots. Dennoch kann aus ihnen abgeleitet werden, dass der Gerichtshof das Erschleichen von Zuständigkeiten, das Vermeiden bestimmter Verfahrensvorschriften und das missbräuchliche forum shopping nicht für zulässig erachtet. Vor diesem Hintergrund erscheint die Anwendung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes mit genau diesem Inhalt möglich. Daneben existieren in neueren Rechtsakten Vorschriften, welche ausdrücklich auf die Vermeidung missbräuchlichen Verhaltens im Europäischen Zivilverfahrensrecht ausgerichtet sind. Neben Art. 31 Abs. 2 EuGVVO, der das spezielle Problem von Torpedoklagen im Geltungsbereich ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen zum Gegenstand hat, enthält Art. 8 Nr. 2 EuGVVO einen Missbrauchsvorbehalt für Fälle der Zuständigkeitserschleichung. Dieser ist zwar auf den ersten Blick auf ein Erschleichen der Zuständigkeit nach Art. 8 Nr. 2 EuGVVO beschränkt, drückt aber ein allgemeingültiges Prinzip aus und zeigt damit die Offenheit des Gesetzgebers gegenüber Einzelfallregulativen. Der rechtsvergleichende Befund bestätigt diese Annahme, zeigt er doch im Grundsatz eine deutliche Öffnung nationalen Zivilverfahrensrechts für Missbrauchserwägungen. Auch wenn die Herangehensweise unterschiedlich ausfällt, zeigt sich, dass die Verhinderung missbräuchlichen Verhaltens mittels abstrakter Generalklauseln gebräuchlich ist. Aus den Erkenntnissen zum deutschen Zivilverfahrensrecht lassen sich aber Rückschlüsse ziehen, was die hauptsächlichen Kritikpunkte bzw. Grenzen von Missbrauchserwägungen im Zivilverfahrensrecht angeht. Dies wird im nächsten Abschnitt ausführlicher untersucht werden. Letztlich existieren keine anderen gemeineuropäischen Lösungsansätze, um mit Verfahrensmissbrauch nach dem Verständnis vorliegender Arbeit umzugehen. Ein Rückgriff auf nationale Lösungsmodelle scheitert allgemein an der Grenze des effet utile und selbst dort, wo man den Mitgliedstaaten einen eigenen Spielraum in der Anwendung von Unionsrecht gelassen hat, ist es zweckmäßiger und überzeugender, das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als einheitlichen Lösungsansatz heranzuziehen. Vor allem ist der Rekurs auf Menschenrechtsgarantien, wie sie in EMRK oder Grundrechte-Charta verbürgt sind, kein gangbarer Weg, um mit einfachgesetzlichen Rechtsanwendungsproblemen umzugehen. Da sie von ihrer Zielrichtung her anders und von ihrer
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Eingangsschwelle hoch angesiedelt sind, lassen sich praktische Lösungen, die ein funktionierendes Justizsystem voraussetzt, hierüber nicht erzielen. Gleiches gilt auch für eine Lösung über ein europäisches Rechtsschutzbedürfnis. Der Inhalt eines gemeineuropäischen Ansatzes ist alles andere als klar. Letztlich bezöge es sich aber in der Sache nicht auf die individuelle Missbräuchlichkeit im Handeln der Rechtsschutzsuchenden, auf die sich vorliegende Arbeit aber stützt.
§ 7 Vereinbarkeit des Missbrauchsverbots mit Grundprinzipien des Europäischen Zivilverfahrensrechts Missbrauchsverbot und Grundprinzipien des EuZVR
Die Ausführungen im vorangegangenen Abschnitt haben gezeigt, dass es in der zivilverfahrensrechtlichen Literatur und Rechtsprechung nicht unüblich ist, die Möglichkeit der Missbrauchsverhinderung im Zivilverfahrensrecht über etwaige geschriebene Kompetenznormen hinaus pauschal zu verneinen. Ein ähnlicher Befund ergibt sich für das Europäische Zivilverfahrensrecht: Auch dort sind recht allgemein gehaltene Zurückweisungen von Missbrauchserwägungen nicht unüblich.1 Nicht immer stützt man sich dabei auf gewisse Grundsätze des Unionsrechts, sondern stellt recht pauschale Behauptungen auf.2 Allerdings ist die Antwort auf die Frage, ob das unionsrechtliche Missbrauchsverbot im Europäischen Zivilverfahrensrecht Geltung beanspruchen kann oder nicht, wie dargestellt3 eine Frage des Einzelfalls;4 pauschale Antworten können damit in keinem Fall überzeugen. Auch wenn vorliegende Arbeit einen pauschalisierenden Ansatz somit nicht unterstützen kann, setzt sie sich dennoch im Folgenden mit den Vorbehalten der Kritiker auseinander. Deren Zurückweisungen werden dahingehend überprüft, ob hinter ihnen (unausgesprochen) vielleicht eine grundlegende Unverträglichkeit des Europäischen Zivilverfahrensrechts gegenüber dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbots steht, die nach Ansicht der Kritiker im Rahmen der Abwägung immer zulasten des letzteren geht. Ungeachtet dessen, dass die generelle Vereinbarkeit des Missbrauchsverbots mit den Grundsätzen des Europäischen Zivilverfahrensrechts jeweils bei der Behandlung spezifischer Einzelprobleme überprüft werden könnte, bietet ein generalisierender Ansatz jedenfalls den Vorteil, dass hiermit eine abstrakte Ermittlung und Bewertung 1 In Zusammenhang mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit, vgl. Briggs, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 262, 263; in Zusammenhang mit dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 167. 2 Vgl. aber Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6 Rn. 167 f.; Briggs, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 281, 262 f.; Simons, in: unalexKomm, Art. 27 EuGVVO Rn. 27. 3 S.o., S. 164. 4 Vgl. für den Konflikt von Prinzipien im Europäischen Zivilverfahrensrecht, Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 85; ders., IPRax 2006, 348, 360.
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möglicher Spannungsfelder in der Missbrauchsverhinderung auch für noch nicht näher konkretisierte verfahrensrechtliche Missbrauchsgestaltungen möglich ist. Im folgenden Abschnitt gelangt die Arbeit zu dem Ergebnis, dass eine generelle Unverträglichkeit des Europäischen Zivilverfahrensrechts mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot nicht existiert. Nachdem der für diese Erkenntnis zentrale Prüfungsmaßstab festgelegt und anhand neuerer Entwicklungen in der EuGH-Rechtsprechung gezeigt wurde, dass der Gerichtshof mittlerweile eine gewisse Sensibilität gegenüber einer kontextbezogenen Anwendung von Verfahrensrecht aufbringt (unten, A.), wird unter Bezugnahme auf den Grundsatz der Rechtssicherheit (unten, B.), des gegenseitigen Vertrauens (unten, C.), des Interesses an der Verhinderung von Parallelverfahren und unvereinbaren Entscheidungen (unten, D.), sowie des Grundsatzes einheitlicher Anwendung (unten, E.) dargelegt, dass diese abstrakt gesehen einer Anwendung des Missbrauchsverbots nicht entgegenstehen. Hiermit werden auch die Grundlagen für die im vierten Teil der Arbeit besprochenen Einzelfälle missbräuchlicher Verfahrensgestaltung gelegt.
A. Prüfungsmaßstab und Möglichkeit kontextbezogener Anwendung von Verfahrensgarantien Um die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit dem Europäischen Zivilverfahrensrecht überprüfen zu können, muss zunächst der dabei verwandte Prüfungsmaßstab festgelegt werden. Die folgenden Ausführungen werden diesbezüglich insbesondere zeigen, dass der Grundsatz des effet utile entgegen häufiger anderslautender Aussagen im Schrifttum selbst keine Schranke in der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots darstellt (unten, I.). Deutlich wichtiger ist hingegen die Frage, ob die Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts einer kontextbezogenen, relativen Sichtweise überhaupt zugänglich sind (unten, II.). Die Vertreter einer konservativen Auffassung bewegen sich häufig auf den Spuren der im Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten vor etlichen Jahrzehnten vertreten Auffassung vom ‚technischen‘ und ‚strengen‘ Recht. Zwar scheint man sich auf europäischer Ebene, im Unterschied zur vormals im deutschen Zivilverfahrensrecht geführten Diskussion, auf die Autorität einer Reihe von EuGH-Entscheidungen berufen zu können. In ihrem Aussagewert sind diese jedoch keinesfalls eindeutig. Angeführt werden insbesondere die Urteile in Sachen Gasser5, Turner6 und 5 EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693. 6 EuGH, Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565.
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Owusu7, die im Folgenden demnach besondere Aufmerksamkeit erhalten werden. I. Effet utile kein Prüfungsmaßstab Dass die Arbeit das unionsrechtliche Missbrauchsverbot nicht am Gebot praktischer Wirksamkeit überprüft, hat einen einfachen Grund: Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot führt zwingend zu einer Nichtanwendung von Unionsrecht und stellt damit gerade eine Ausnahme von der Pflicht zur Anwendung, zur Gewährung praktischer Wirksamkeit dar. Diese Befugnis zur Nichtanwendung ist jedoch nur unter den tatbestandlichen Voraussetzungen des Missbrauchsverbots selbst eröffnet, stellt also einen unionsinternen8 Vorbehalt dar, der durch den EuGH selbst ausgestaltet worden ist und wird. Ob das Missbrauchsverdikt in seinen Rechtsfolgen durch Anwendung des allgemeinen Grundsatzes selbst vollzogen wird oder durch nationale Rechtsvorschriften unter Beachtung des unionsrechtlichen Rahmens, 9 macht dabei keinen Unterschied. Ein Rekurs auf das Gebot praktischer Wirksamkeit, quasi als nachgelagerte Grenze des Missbrauchsverbots, wäre in jedem Fall sinnwidrig und unterbleibt deshalb. 10 Ein zentraler Prüfungspunkt des Missbrauchsverbots ist schließlich die Zweckwidrigkeit der Rechtsanwendung im konkreten Einzelfall. Es wäre unlogisch, auf einer nachgelagerten Prüfungsebene zu argumentieren, eine Nichtanwendung der konkreten Norm würde ihre praktische Wirksamkeit, ihren Zweck vereiteln. Selbst wenn man diese methodischen Erwägungen außer Betracht lässt, würde eine zusätzliche Anwendung des effet utileGrundsatzes unter praktischen Gesichtspunkten keinen Sinn ergeben. Denn hiermit würden die verhältnismäßig klar ausgeformten tatbestandlichen Voraussetzungen des Verbots durch einen schwer abstrakt zu fassenden Grundsatz untergraben. Zwar finden sich in Zusammenhang mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot Verweise des EuGH auf das Gebot praktischer Wirksamkeit,11 die von manchen Autoren zum Anlass genommen werden, eine Abwägung des Missbrauchsverbots hiermit zu fordern.12 Bei genauerer Betrachtung beziehen 7 EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383. 8 S.o., S. 173. 9 S.o., S. 173 f. 10 Vgl. oben S. 145 f. 11 Z.B. in EuGH, Urt. v. 12.12.2013, Rs. C-116/12 (Ioannis Christodoulou u.a. ./. Elliniko Dimosio), ZfZ 2014, 66, 69, Nr. 65. 12 Meyer, Forum Shopping, S. 137; Reuß, Forum Shopping, S. 254; unklar G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 154; Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 548, der in Fn. 263 die Entscheidungen in Sachen EmslandStärke, Eichsfelder Schlachtbetriebe und Halifax hierfür in Anspruch nimmt. Die im Übrigen gemachten Verweise von Vogenauer (a.a.O., Fn. 262) auf die Urteile in Sachen Pafitis,
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sich die Verweise des Gerichthofs aber nur auf die Frage der Ermittlung der Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots durch die nationalen Gerichte anhand nationaler Beweisregeln und nicht auf das Missbrauchsverbot an sich.13 Wenn der EuGH demnach betont, der Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen haben nach nationalem Recht zu erfolgen, „soweit dies die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt“14, dann ist hiermit nur gemeint, dass das Verfahren der Ermittlung am effet utile-Grundsatz gemessen werden muss.15 Dies ist ein bekannter allgemeiner Vorbehalt im Zusammenhang mit der sog. Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten16 und stellt somit keine Besonderheit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots dar. Bezüglich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ist der effet utile-Vorbehalt bei Anwendung nationalen Beweisrechts natürlich missverständlich: Dürfen die nationalen Verfahrensordnungen die praktische Wirksamkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots als Unionsrecht nicht beeinträchtigen – was in der Konsequenz zur Nichtanwendung anderen Unionsrechts führte – oder soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass das nationale Verfahrensrecht keine zu laxen Anforderungen an die Ermittlung der Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots stellen soll, weil ansonsten leichtfertig die Nichtanwendung von Unionsrecht drohte? Letzteres wird wohl gemeint sein.
Kefalas und Diamantis (s. dazu oben, S. 107 f.) sind wenig aussagekräftig, da der EuGH hier zu einseitig auf eine Verhinderung von Missbrauch anhand eines nationalen Maßstabs abstellte und damit notwendigerweise einen effet utile-Vorbehalt fordern musste. Spätestens mit der Anerkennung des Missbrauchsverbots allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts hat sich dieser Ansatz jedoch überholt, vgl. auch Lenaerts, 18 E.R.P.L. (2010), 1121, 1132. 13 So etwa in EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11613, Nr. 54: „Es ist Sache des nationalen Gerichts, das Vorliegen (der Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots) festzustellen, für das der Beweis nach nationalem Recht zu erbringen ist, soweit dies die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigt“ (Hervorherbung durch den Verfasser). Deutlicher sogar noch EuGH, Urt. v. 21.7.2005, Rs. C-515/03 (Eichsfelder Schlachtbetrieb GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2005, I-7355, 7386, Rn. 40: „Es obliegt dem vorlegenden Gericht, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch die Effektivität des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigt wird – festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines solchen missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 14 Z.B. EuGH, Urt. v. 12.12.2013, Rs. C-116/12 (Ioannis Christodoulou u.a. ./. Elliniko Dimosio), ZfZ 2014, 66, 69, Nr. 65. 15 So auch Weber, 53 ET (2013) 313, 319. 16 Vgl. Schroeder, AöR 129 (2004), 3, 22 ff.
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II. Relativität verfahrensrechtlicher Rechte in der neueren EuGHRechtsprechung Da das unionsrechtliche Missbrauchsverbot einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts darstellt, ist es zu anderen Interessen und Prinzipien in Abwägung zu bringen. Dabei ist zu beachten, dass im Europäischen Zivilverfahrensrecht das Missbrauchsverbots nicht nur hinter Prinzipien, wie beispielsweise Rechtssicherheit oder gegenseitiges Vertrauen zurücktreten kann, 17 sondern auch umgekehrt das Missbrauchsverbot gegenläufige Prinzipien zu überspielen in der Lage ist. Es wurde bereits angedeutet, dass sich diese Einsicht im insoweit parallel gelagerten deutschen zivilverfahrensrechtlichen Diskurs, was das Spannungsverhältnis von Rechtsmissbrauchsverbot und Rechtssicherheit angeht, nur sehr langsam durchgesetzt hat.18 Auf Ebene des Unionsrechts hinkt man der Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten sogar noch hinterher, ohne dass dies durch Besonderheiten des Europäischen Zivilverfahrensrechts gerechtfertigt wäre.19 Dies steht allerdings in Widerspruch zu neueren Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH, die zunehmend von der Relativität bzw. Kontextbezogenheit verfahrensrechtlicher Rechte gekennzeichnet ist. Unter besonderen Umständen ist der Gerichtshof hier mittlerweile in sehr großem Maße bereit, verfahrensrechtliche Garantien und Rechte untereinander abzuwägen. Unter Umständen schränkt der EuGH eine dieser Positionen vollkommen zugunsten anderer Erwägungen ein. Dies gilt vor allem dann, wenn der Schutz von Beklagtenrechten im Raum steht.20 Hierin mag man ein sich entwickelndes inneres System des Europäischen Verfahrensrechts erkennen21 bzw. die Rechtsprechung des Gerichthofs als Ausdruck einer übergeordneten Wertungsebene22 sehen. In jedem Fall ist damit ein gewisser rechtstatsächlicher Nährboden vorhanden, auf dem die Idee eines verfahrensrechtlichen Missbrauchsverbots heranwachsen kann. 1. Gambazzi – Hypoteční banka – de Visser Das erste Glied in einer Kette an neueren Fällen, in welchen der Gerichtshof ausdrücklich die gegenseitigen Belange der Betroffenen untereinander abwog und im Ergebnis weitreichende Einschränkungen von Verfahrensgarantien zulasten eines Beteiligten billigte, stellt die Entscheidung in Sachen Gambazzi dar: Ein italienischer Beklagter wurde in einem englischen Zivilverfahren nach 17 Binder, euvr 2012, 164, 164; Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 245 f. 18 Vgl. oben, S. 193 ff. 19 Vgl. insbesondere S. 220 ff. 20 M. Stürner, GPR 2013, 228, 230. 21 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 83 ff.; ders., IPRax 2006, 348, 358 f. 22 Vgl. Hess, in: FS Jayme, S. 339, 353.
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Missachtung einer sog. disclosure order des Gerichts vom Verfahren vollständig ausgeschlossen, sog. contempt of court. Gegen die Vollstreckbarerklärung des daraufhin ergangenen Urteils durch ein italienisches Gericht wandte der Beklagte einen Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen ordre public im Sinne des Art. 34 Nr. 1 EuGVVO a.F. (= 45 Abs. 1 lit. a EuGVVO) ein. Der EuGH entschied, dass selbst so zentrale Verfahrensrechte, wie das durch Art. 6 EMRK geschützte Recht, sich überhaupt am Verfahren beteiligen zu können, dann unter Umständen sogar völlig aufgehoben sein könnte, wenn damit eine Prozessverschleppung durch eine Partei abgewendet werden solle, die ansonsten zur Rechtsverweigerung zulasten der anderen Partei führen würde. Im Ergebnis lehnte er einen Verstoß gegen den ordre public-Vorbehalt ab und ermöglichte eine Vollstreckbarerklärung des Urteils in Italien.23 In dieselbe Richtung weist das Urteil in der Rechtssache Hypoteční banka: Bekanntlich eröffnete der EuGH dort unter gewissen Voraussetzungen eine Klagemöglichkeit gegen den mit unbekanntem Aufenthalt verzogenen Verbraucher entgegen Art. 18 Abs. 2 EuGVVO an dessen letztem bekannten Wohnsitz.24 Unter Verweis auf das Urteil in der Sache Gambazzi betonte der Gerichtshof, dass Verteidigungsrechte keine absoluten Rechte seien und unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eingeschränkt werden könnten.25 Im Vorlageverfahren führte dies dazu, dass der beklagte Verbraucher den durch Art. 18 Abs. 2 EuGVVO vermittelten Schutz verlor. Bedenkt man, welches Gewicht der Gerichtshof dem Verbraucherschutz ansonsten in der Auslegung von Verfahrensvorschriften beimisst,26 kann diese Abwägungsbereitschaft in ihrer Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden. Dass es
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EuGH, Urt. v. 2.4.2009, Rs. C-394/07 (Mario Gambazzi ./. Daimler Chrysler Canada Inc. u.a.), Slg. 2009, I-2563, 2592, Nr. 31 ff. Mit Blick auf Fragen des ordre public ließe sich überdies in der hier aufgezeigten Kette noch das Urteil des EuGH in der Sache Krombach anführen, EuGH, Urt. v. 28.3.2000, Rs C-7/98 (Dieter Krombach ./. André Bamberski), Slg. 2000, I-1935). Es bleibt vorliegend deshalb außer Betracht, da nicht so sehr die Konkretisierung des ordre public-Einwands interessiert, sondern die Übertragung der in Gambazzi vollzogenen Abwägung auf andere Bereich des Verfahrens, insbesondere das Zuständigkeitsrecht. 24 EuGH, Urt v. 17.11.2011, Rs. C-327/10 (Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner), Slg. 2011, I-11543. Ein erster Schritt in diese Richtung war auch das Urt. v. 20.3.2010, Rs. C-111/09 (Česká podnikatelská pojišťovna as, Vienna Insurance Group ./. Michal Bilas), Slg. 2010, 4545. Der EuGH ermöglichte hiermit die rügelose Einlassung im Anwendungsbereich der Art. 8 ff. EuGVVO a.F. (= Art. 10 ff. EuGVVO) und dies, obwohl durch diese Vorschriften eigentlich der Schutz einer schwächeren Verfahrenspartei durchgesetzt werden soll, vgl. Erwägungsgrund Nr. 13 EuGVVO a.F. 25 EuGH, Urt v. 17.11.2011, Rs. C-327/10 (Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner), Slg. 2011, I-11543, 11599, Nr. 50. 26 Vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 5.12.2013, Rs. C-508/12 (Walter Vapenik ./. Josef Thurner), NJW 2014, 841, 841, Nr. 24 ff. m. krit. Anm. Klöpfer/Ramić, GPR 2014, 107 ff.; Urt. v.
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sich bei diesen Entscheidungen nicht um Ausreißer handelt, zeigt sich in der Rechtssache de Visser. Hier betont der Gerichtshof in einem ähnlich gelagerten Sachverhalt noch einmal den nicht absoluten Gehalt von verfahrensrechtlichen Rechtspositionen mit Blick auf das Zuständigkeitsrecht der EuGVVO.27 2. Bewertung der neueren EuGH-Rechtsprechung Diese Entscheidungen zeigen eines ganz klar: Der EuGH ist im Europäischen Zivilverfahrensrecht bereit, Einzelfallentscheidungen zur Sicherung von Verfahrensrechten eines Beteiligten zuzulassen und dabei widerstreitende Belange untereinander abzuwägen. Hierbei überträgt er den mitgliedstaatlichen Gerichten, welchen die Anwendung der Vorschriften und damit die Abwägung im Konkreten obliegt, die Befugnis zur Einschränkung von Unionsrecht. 28 In Gambazzi betonte er insbesondere, dass die Gefahr der Verschleppung einer Sachentscheidung durch einen der Beteiligten eine Einschränkung von Verfahrensrechten rechtfertigen kann. Eine Erkenntnis, welche für die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in Fällen der Torpedoklage von Bedeutung sein wird.29 Dass der Gerichtshof für den Bereich des ordre public unter Verweis auf Art. 6 Abs. 1 EMRK eine Wertungsebene in das Europäische Zivilverfahrensrecht einzieht, ist nicht neu und dem ausfüllungsbedürftigen ordre public gerade eigen.30 Allerdings bezieht sich der Gerichtshof auch dann auf diese – um Art. 47 der Grundrechte-Charta erweiterte31 – Wertungsebene und durchbricht Verfahrensrecht, wenn er sich in Hypoteční banka und de Visser mit Fragen der internationalen Zuständigkeit befasst, die von ihrer Anlage her diesbezüglich grundsätzlich indifferent sind. Gerade letztere Entscheidungen haben für die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Bereich der Zuständigkeitsregeln eine erhebliche Bedeutung, zeigen sie doch, dass auch diese, entgegen des Dogmas von der Vorhersehbarkeit der Gerichtstände32, Einschränkungen zugänglich sind.33 17.10.2013, Rs. C-218/12 (Lokman Emrek ./. Vlado Sabranovic), NJW 2013, 3504 m. krit. Anm. Klöpfer/Wendelstein, JZ 2014, 298 ff. 27 EuGH, Urt. v. 15.3.2012, Rs. C-292/10 (G ./. Cornelius de Visser), EuZW 2012, 381, 384, Nr. 49 f. 28 Vgl. zu der insoweit parallel liegenden Kompetenzverteilung zwischen EuGH und mitgliedstaatlichen Gerichten bei der Konkretisierung von Generalklauseln, S. 148 f. 29 S.u., S. 359 ff. 30 Vor der Krombach-Entscheidung des EuGH war dies nicht unumstritten, vgl. Matscher, IPRax 2001, 428 ff. 31 Vgl. EuGH, Urt. 17.11.2011, Rs. C-327/10 (Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner), Slg. 2011, I-11543, 11598, Nr. 49. 32 Vgl. unten, S. 234 ff. 33 Natürlich kann man die Urteile auch unter effet utile-Gesichtspunkten als Sicherung des integrativen Ansatzes von Unionsrecht deuten, vgl. Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1, 18.
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Hieraus kann zumindest abgeleitet werden, dass es zu oberflächlich gedacht ist, wenn man Missbrauchserwägungen im Recht der internationalen Zuständigkeit ablehnt, weil dieses gegenüber einer einzelfallbezogenen Bewertung blind sei. Was für die internationale Zuständigkeit gilt, muss schließlich auch für sonstige Bereiche des Europäischen Zivilverfahrensrechts gelten: Der vorgeblich apodiktische Ausschluss von Missbrauchserwägungen durch den EuGH in Entscheidungen wie Gasser, Turner und Owusu und die darauf zurückzuführende Zurückhaltung im Schrifttum muss hinterfragt werden. 3. Interessenjurisprudenz und Internationales Zivilverfahrensrecht Neben dem Konzept allgemeiner Rechtsgrundsätze bietet die Interessenjurisprudenz einen Erklärungsansatz für eine derartige kontextbezogene Betrachtung von Verfahrensvorschriften.34 Ursprünglich im materiellen Recht beheimatet, fand sie im 20. Jahrhundert gerade auch im Internationalen Privatrecht Anhänger. Vor allem Kegel35 arbeitete die speziellen Interessen im System des Internationalen Privatrechts heraus und stellte dabei die ‚Interessenten‘, die Rechtssubjekte, und die diesen zugedachte kollisionsrechtliche Gerechtigkeit in den Fokus seiner Betrachtung.36 Das Auffinden, Bewerten und Abwägen relevanter Interessen dient dabei in erster Linie der dogmatischen Untermauerung tradierter Kollisionsregeln und deren Anwendung, weshalb die Interessenjurisprudenz in der praktischen Rechtsfindung regelmäßig nicht als eigener Argumentationstopos zutage tritt. Sie gewinnt aber dann an Bedeutung, wenn vom Normalfall abweichende Sachverhalte einer Lösung zugeführt werden müssen.37 Die Frage nach den Interessen der Beteiligten fand bald Eingang in das Internationale Zivilverfahrensrecht, wobei man sich hier hauptsächlich mit Fragen der internationalen Zuständigkeit befasste.38 Aber auch darüber hinaus er-
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Grundlegend zur Interessenjurisprudenz: Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, passim; ders. Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), 1. 35 Grundlegend: Kegel, in: FS Lewald, S. 159 ff. 36 Flessner, Interessenjurisprudenz im Internationalen Privatrecht, S. 1 f., 13. 37 Flessner, Interessenjurisprudenz im Internationalen Privatrecht, S. 14 f.; Schurig, RabelsZ 59 (1995), 229, 235. 38 Vgl. die Monographien von Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, S. 102 ff.; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, passim (insbesondere S. 51 ff.); Schröder, Internationale Zuständigkeit, passim; Wahl, Die verfehlte internationale Zuständigkeit, S. 28 ff.; vgl. auch Sachse, Der Verbrauchervertrag im Internationalen Privat- und Prozessrecht, S. 36 ff.; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 229 ff.; Caponi, in: Gottwald/Hess, Procedural Justice, S. 493, 502 ff.; Geimer, in: FS Schwind, S. 17 ff.; Juenger, in: Essays in honor of Cornelis Carel Albert Voskuil,
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scheint es legitim, die Grundgedanken der Interessenjurisprudenz, das (vereinheitlichte Europäische) Kollisionsrecht betreffend, auf das Europäische Zivilverfahrensrecht zu übertragen. 39 Es besteht eine gewisse Systemverwandtschaft beider Materien, die sich positivrechtlich beispielsweise in Erwägungsgrund Nr. 7 der Rom I-VO zeigt und auch Niederschlag in der Rechtsprechung des EuGH gefunden hat,40 wenngleich das Internationale Privatrecht zugegebenermaßen, vor allem wegen positivrechtlich verankerter Auflockerungsmöglichkeiten41, nicht dasselbe Maß an vordergründiger Formenstrenge aufweist wie das Verfahrensrecht.42 Nichtsdestotrotz wird eine rechtsaktübergreifende Auslegung zwischen den Rom-Verordnungen und den Verordnungen des Zivilverfahrensrechts zunehmend diskutiert und im Ergebnis befürwortet,43 was es legitim erscheinen lässt, auch den Ansatz der Interessenjurisprudenz umfassend in das Zivilverfahrensrecht hineinzutragen. Fruchtbringend ist der Blick auf die relevanten Interessen in Missbrauchsfällen vor allem deshalb, da gegen eine Durchbrechung von Verfahrensrecht oftmals öffentliche Interessen angeführt werden: So wird beispielsweise gegen die Möglichkeit der Nichtanwendung des Art. 29 EuGVVO in Fällen der Torpedoklagen mit dem reichlich abstrakten öffentlichen Interesse gegenseitigen S. 137 ff.; Klöpfer/Wendelstein, JZ 2014, 298, 302 f.; Koechel, IPRax 2014, 412, 315; Oberhammer, in: FS Schlosser, S. 651, 662 ff.; Pfeiffer, in: FS 50 Jahre BGH III, S. 617 ff.; Schack, RabelsZ 58 (1994), 41, 45. 39 Zu den Interessen im Anerkennungsrecht, vgl. Martiny, in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. III/1 Kap. I, Rn. 75 ff.; H Roth, IPRax 2014, 136, 139. 40 Vgl. EuGH, Urt. v. 5.12.2013, Rs. c-508/12 (Walter Vapenik ./. Josef Thurner), NJW 2014, 841, 842, Nr. 29: Auslegung von Art. 6 Abs. 1 lit d EuVTVO u.a. anhand Erwägungsgründe Nr. 23 und 24 Rom I-VO; Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-190/11 (Daniela Mühlleitner ./. Ahmad Yusufi und Wadat Yusufi), NJW 2012, 3225, 3226, Nr. 33: Auslegung von Art. 15 Abs. 1 lit. c EuGVVO a.F. anhand Erwägungsgrund Nr. 24 Rom I-VO; Urt. v. 15.3.2011, Rs. C-29/10 (Heiko Koelzsch ./. État du Großherzogtum Luxemburg), Slg. 2011, I-1595, 1650 f., Nr. 41: Auslegung von Art. 6 EVÜ anhand der Rechtsprechung zu Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ); Urt. v. 7.12.2010, verb. Rs. C-585/08 und 144/09 (Peter Pammer ./. Reederei Karl Schlüter GmbH & Co. KG; Hotel Alpenhof GesmbH ./. Oliver Heller), Slg. 2010, I-12527, 12587, Nr. 39: Auslegung von Art. 15 Abs. 3 EuGVVO a.F. anhand des EVÜ bzw. der Rom I-VO. Unhaltbar allerdings die Entscheidung des EuGH, Urt. v. 17.10.2013, Rs. C-218/12 (Lokman Emrek ./. Vlado Sabranovic), NJW 2013, 3504, wo er die offensichtliche Notwendigkeit der Bezugnahme auf das in Erwägungsgrund Nr. 25 S. 2 Rom I-VO verankerte Kausalitätserfordernis misachtete, vgl. dazu Klöpfer/Wendelstein, JZ 2014, 298 ff. 41 Z.B. Art. 4 Abs. 3 Rom I-VO; Art. 4 Abs. 3 Rom II-VO; Art. 21 Abs. 2 EuErbVO. 42 Zur Parallelität von Zuständigkeitsrecht und Kollisionsrecht auch Pfeiffer, in: FS 50 Jahre BGH III, S. 617, 619 f. 43 Domej, Jahrbuch Junge Zivilrechtswissenschaftler 2009, 405, 410 m.w.N.; Klöpfer/Wendelstein, JZ 2014, 298, 299; Lüttringhaus, RabelsZ 77 (2013), 31 ff.; Rühl, GPR 2013, 122 ff. Zur gegenseitigen Beinflussung von Internationalem Privat- und Zivilverfahrensrecht in der EU, vgl. Kramer, in: Kramer/van Rhee, Civil Litigation in a Globalising World, S. 121 ff.
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Vertrauens in die mitgliedstaatliche Rechtpflege argumentiert,44 in Fällen erschlichener Zuständigkeiten wird eine Lösung de lege lata aus Gründen des geordneten Verfahrensablaufs eher kritisch betrachtet45. Es entsteht der Anschein, als seien diese besonderen öffentlichen Interessen im Verfahrensrecht von bedingungsloser Natur, blind gegenüber den Interessen des Rechtsverkehrs oder einzelner Rechtsschutzsuchender.46 Bei der Betrachtung internationalprivatrechtlicher Kollisionsregeln und deren Anwendung durch die Interessenjurisprudenz werden die ermittelten öffentlichen Interessen 47 demgegenüber wie alle sonstigen Interessen gehandhabt, was zur Folge hat, dass ordnungspolitische Interessen das Nachsehen gegenüber Individual- oder Verkehrsinteressen haben können.48 Das wird mittlerweile auch im deutschen Recht der internationalen Zuständigkeit so gesehen.49 Bemerkenswert ist noch ein weiterer Umstand: Der Sicherung von Ordnungsinteressen dient im Kollisionsrecht ebenfalls die Struktur der Kollisionsregeln, mit deren in gewisser Weise vom Einzelfall losgelöster Vertypisierung von Interessenlagen. Hier zeigt sich eine Parallele zu den vertypten Zuständigkeitsregeln des Europäischen Zivilverfahrensrechts.50 Im Internationalen Privatrecht hält man jedoch dann nicht mechanisch an einer derart strukturierten Norm fest, wenn der Rechtsverkehr hiermit billigerweise nicht rechnen muss.51 Die Ausführungen zeigen, dass eine völlige Nichtbeachtung der Interessen der Rechtsschutzsuchenden gegenüber möglichen öffentlichen Interessen kein gangbarer Weg darstellt. Natürlich können öffentliche Interessen theoretisch das Interesse des Einzelnen an einem bestimmten Ergebnis überspielen. Dazu ist es aber notwendig, diese darzulegen und mit gegenläufigen Interessen in Abwägung zu bringen. Ein bedingungsloser Vorrang öffentlicher Interessen, ohne dass diese auch nur im Ansatz Gegenstand einer Abwägung waren, ist
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Dazu s.u., S. 269 ff. Z.B. Meyer, Forum Shopping, S. 153. 46 Vgl. zu sog. Torpedoklagen unter Art. 27 EuGVVO a.F. und dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens, krit. Hess, in: FS Jayme, S. 339, 357. 47 Vgl. Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, S. 143; vgl. die Erwägungsgründe Nr. 6 und Nr. 16 Rom I-VO sowie Erwägungsgründe Nr. 6 und Nr. 16 Rom II-VO. 48 Schurig, RabelsZ 59 (1995), 229, 236 f. Dabei existieren allerdings gewisse Strömungen im Schrifttum. So wird beispielsweise Kegel durch seine Kritiker vorgeworfen, er bevorzuge in letzter Konsequenz Ordnungsinteressen, vor allem die Rechtssicherheit gegenüber anderen, insbesondere Parteiinteressen (so z.B. Flessner, Interessenjurisprudenz im internationalen Privatrecht, S. 45 f.), womit sich eine bemerkenswerte Parallele zur Lage der Dinge im Zivilverfahrensrecht (s.u., S. 224 ff.) zeigt. Gegen Flessner aber direkt Schurig, RabelsZ 59 (1995), 229, 236 f. 49 Pfeiffer, in: FS 50 Jahre BGH III, S. 617, 621 ff. 50 S.u., S. 254 f. 51 Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, S. 143; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, S. 182 ff. 45
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völlig verfehlt. Gerade dieser Eindruck entsteht aber bei der Analyse von Literatur und Rechtsprechung, etwa zur Vorhersehbarkeit von Gerichtsständen und dem gegenseitigen Vertrauen in die mitgliedstaatliche Rechtspflege.52 Dies gilt umso mehr, wenn man sich den letztlich doch recht geringen Stellenwert öffentlicher Interessen etwa bei der Ausgestaltung des Zuständigkeitsrechts vor Augen führt. Geimer betont zu Recht, dass dort unmittelbare Staatsinteressen keine bzw. allenfalls eine „extrem untergeordnete Rolle“53 spielen können. Vorschriften wie §§ 39, 40 ZPO und Art. 25, 26 EuGVVO bestätigen dies. Sieht man neben der individualschützenden Dimension, welche der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch zukommt, die Selbstbehauptung des Rechts vor missbräuchlicher Inanspruchnahme als zusätzliches öffentliches Interesse, spricht in Missbrauchsfällen sogar noch ein weiteres Interesse für die Möglichkeit der Auflockerung. Es ist daher wenig überzeugend, wenn die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch mit einem undifferenzierten Verweis auf vorrangige öffentliche Interessen ausgeschlossen wird.
B. Rechtssicherheit Aus den Diskussionen zum Verfahrensmissbrauch im deutschen Recht und den verschiedentlich schon gemachten Andeutungen ergibt sich, dass es insbesondere der Gedanke der Rechtssicherheit ist, welcher ein zentrales Hindernis gegen die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht darstellen könnte. Dessen Bedeutung ist auch auf unionsrechtlicher Ebene erheblich: Ihm wird eine Schlüsselrolle in der Entwicklung des Europäischen Zivilverfahrensrechts durch den EuGH zugesprochen.54 Als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts55 misst ihm der Gerichtshof in der Auslegung besondere Bedeutung bei56 und bezeichnet ihn gar als Grundlage des Europäischen Zivilverfahrensrechts57. Allerdings bleibt der Inhalt dessen, was als Rechtssicherheit im Zivilverfahren verstanden wird, in der
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Dazu unten, S. 234 ff. und S. 269 ff. Geimer, in: FS Schwind, S. 17, 18. 54 Dickinson, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 115, 116. 55 Von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 497; Tridimas, General Principles, S. 242 ff.; Temple Lang, in: Bernitz/Nergelius, General Principles, S. 163 ff. 56 Zur EuGVVO, vgl. Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Einl EuGVVO Rn. 77. 57 EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1460 f., Nr. 41 a.E. 53
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Rechtsprechung und dem verfahrensrechtlichen Schrifttum weitestgehend inhaltsleer.58 In der Literatur begnügt man sich oft mit wenigen Zeilen, wobei sich diese fast ausschließlich den Vorschriften der internationalen Zuständigkeit in den jeweiligen Verordnungen widmen. 59 Gleiches gilt größtenteils für die Entscheidungspraxis des EuGH in der Vergangenheit. 60 Dieser verzichtete und verzichtet in aller Regel auf eine Abwägung der Rechtssicherheit mit anderen, widerstreitenden Interessen.61 Es ist demnach keine Überraschung, wenn es an Versuchen fehlt, den genauen materiellen Gehalt der Rechtssicherheit im Europäischen Zivilverfahrensrecht zu ergründen.62 Dies mag sicher durch die Eigenheiten dieses Grundsatzes bedingt sein,63 steht jedoch in offensichtlichem Widerspruch zur Häufigkeit seiner Anwendung. Eine Argumentation im Ungewissen ist aber vor allem dann nicht überzeugend, wenn der Rechtssicherheit als entscheidender oder wenigstens zentraler Faktor in der Argumentation für ein bestimmtes Ergebnis bemüht wird, was der EuGH beispielsweise in Gasser tat.64 Mangels substanzieller speziell europäisch-zivilverfahrensrechtlicher Erklärungsansätze kann eine Präzisierung des Rechtssicherheitsgrundsatzes nur über einen Blick auf parallel verlaufende Diskussionen im Unionsrecht und auf nationaler Ebene gewonnen werden. Der allgemeine unionsrechtliche Diskurs zu Fragen der Rechtssicherheit bietet gewisse Anhaltspunkte dafür, welcher 58
Wenig zielführend bzw. logisch unzulässig, z.B. die allgemeine Definition von Pontier/Burg, EU Principles on Jurisdiction and Recognition and Enforcement, S. 69: „In a general sense, legal certainty […] requires that with respect to the topics that the Convention aims to regulate certainty exists as to what the Convention implies.” (Hervorhebung durch den Verfasser). 59 Vgl. Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 81: Rechtssicherheit bedeute begriffliche Klarheit in der Auslegung, Abweichungen vom Wortsinn seinen nur ausnahmsweise gerechtfertigt; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 2; Gottwald, in: MüKo-ZPO, Art. 27 EuGVVO Rn. 23; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 5 EuGVVO Rn. 6; ders., in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Vorbem Art. 2 EuGVVO Rn. 14 zur Lehre vom forum non conveniens, ohne den Inhalt des Grundsatzes abstrakt abzustecken; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Einleitung vor Art. 1 EuGVVO Rn. 39. 60 Etwa EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14740, Nr. 51; EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1460, Nr. 40. 61 S.u., Fn. 112. 62 Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Pontier/Burg, EU Principles on Jurisdiction and Recognition and Enforcement, S. 69 ff. Zu Recht kritisch hinsichtlich des methodischen Ansatzes der Arbeit, Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 82 f. 63 Dazu sogleich. 64 Vgl. EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14740, Nr. 51.
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Wirkbereich der Rechtssicherheit im Europäischen Zivilverfahrensrecht zugesprochen werden muss (unten, I.). Selbst wenn dessen Bedeutung dort durch genuin verfahrensrechtliche Interessen modifiziert sein kann, müssen die grundlegenden Eckpunkte nichtsdestotrotz beachtet werden; dies gilt umso mehr, als gerade ein Grundlagenbezug im Europäischen Zivilverfahrensrecht zu fehlen scheint. Unerlässlich ist es darüber hinaus, sich über die allgemeine Bedeutung der Rechtssicherheit im Zivilverfahrensrecht klar zu werden (unten, II.), was in vorliegender Arbeit auch anhand einer Analyse der Rechtslage im deutschen Zivilverfahrensrecht erfolgen soll (unten, III.). Bevor der Blick auf einen der bedeutendsten Teilaspekte der Rechtssicherheit im Verfahrensrecht gerichtet wird, die Vorhersehbarkeit gerichtlicher Zuständigkeiten (unten, V.), soll in der dem Zivilverfahrensrecht strukturell verwandten Materie des Steuerrechts die Geltung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit der Rechtslage im Europäischen Zivilverfahrensrecht kontrastiert werden (unten, IV.). Anschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst und die Vereinbarkeit des Missbrauchsverbots mit dem Gebot der Rechtssicherheit näher begründet (unten, VI.). I. Rechtssicherheit im allgemeinen unionsrechtlichen Diskurs Im europarechtlichen Schrifttum wird im Zusammenhang mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit vor allem der Gedanken der Planungssicherheit und des Vertrauensschutzes betont,65 wenngleich der Schwerpunkt der Betrachtung eher auf dem Handeln der Legislative und der Exekutive liegt.66 Dabei wird Vertrauensschutz als Teilmenge dessen verstanden, was nach deutscher Doktrin dem Grundsatz der Rechtssicherheit zugeordnet wird, soweit es um den Schutz subjektiver Rechte geht. Von Rechtssicherheit im engeren Sinne wird dagegen dann gesprochen, wenn der Schutz objektiven Rechts im Raum steht, unabhängig von subjektiven Rechten des Einzelnen.67 Der Grundsatz fand in der Vergangenheit unter anderem bei der Rückforderung von unionsrechtswidrig gezahlten Subventionen Anwendung.68 Von besonderer Bedeutung für das vorliegend interessierende Thema ist hierbei, dass die Stimmen im Schrifttum, welche sich um eine Präzisierung des Rechtssicherheitsgrundsatzes bemühen,
65 Von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 499 f.; Tridimas, General Principles, S. 242; Temple Lang, in: Bernitz/Nergelius, General Principles, S. 163, 164; Usher, General Principles, S. 52. 66 Zur Anwendung des Grundsatzes der Rechtssicherheit die Rechtsprechung betreffend, vgl. Weber, Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 146. 67 Weber, Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 145; Basedow, ZEuP 1996, 570, 571 ff. 68 Vgl. Tridimas, General Principles, S. 289 ff.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
einen abstrakten Wert der Rechtssicherheit nicht feststellen können.69 Rechtssicherheit wird als eine kontextbezogene Größe eingeordnet, deren tatsächliche Wirkungen durch die Eigenheiten des jeweiligen Falls bestimmt werden.70 Insbesondere soll Rechtssicherheit durch andere Interessen überspielt werden können.71 Es wird in neuerer Zeit eindringlich davor gewarnt, die Bedeutung von Rechtssicherheit kontextlos zu überhöhen und ihr im Gefüge rechtlicher Interessen und Grundsätze eine abstrakte Vorrangstellung zuzuschreiben. 72 Wenn der Rechtssicherheit im Europäischen Zivilverfahrensrecht demgegenüber ein abstrakter Eigenwert zugesprochen wird,73 muss dies nachdenklich stimmen. Aus dem Schrifttum lässt sich noch ein weiteres wichtiges Detail mit besondere Bedeutung für die in vorliegender Arbeit interessierenden Fragen ableiten: Rechtssicherheit, auch mit Blick auf den Unterfall der Rechtsklarheit, wird als Garantie zugunsten der von Unionrecht Betroffenen verstanden.74 Der durch die Rechtssicherheitsgarantie vermittelte Schutz muss daher zur Disposition der Rechtsschutzsuchenden stehen, soweit übergeordnete Interessen dem nicht entgegenstehen.75 Diese Erkenntnis lässt sich mit anderen Worten so zusammenfassen, dass der durch die Regeln der internationalen Zuständigkeit und anderer Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts gewährte Schutz untrennbar mit der Schutzbedürftigkeit der Betroffenen zusammenhängt.76 Dabei kann die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit eines Akteurs vermindert sein, der ihm durch rechtssichere Verfahrensvorschriften zugedachte Schutz in der Folge vermindert sein. Rechtssicherheit besteht also nicht um der Rechtssicherheit Willen, sondern als Absicherung der individuellen Rechtsverwirklichung. Dies macht im Streitfall eine Abwägung der widerstreitenden Belange notwendig.77
69
So etwa Tridimas, General Principles, S. 243; Temple Lang, in: Bernitz/Nergelius, General Principles, S. 163, 164. 70 S.u., S. 254. 71 Von Arnauld, Rechtssicherheit, S. 501 m.w.N.; Saydé, Abuse of EU Law, S. 182. 72 Saydé, Absue of EU Law, S. 212 f. 73 So z.B. Meyer, Forum Shopping, S. 153; Thiele, RIW 2002, 383, 386; ders., RIW 2004, 285, 287. 74 Tridimas, General Principles, S. 244 f. 75 Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 19 EUV Rn. 37 m.w.N. 76 S.u., S. 254; allgemein, Weber, Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 142. 77 Vgl. Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 193 f.
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II. Verfahrensrechtliche Notwendigkeit klarer Strukturen und der Zweck des Zivilverfahrens Versucht man hierauf aufbauend die Argumentation mit dem Gedanken der Rechtssicherheit im Europäischen Zivilverfahrensrecht zu überprüfen, muss eines zunächst festgehalten werden: Allgemein haben die an einem gerichtlichen Verfahren beteiligten Akteure ganz sicher ein besonderes Interesse am geordneten Ablauf des Verfahrens aufgrund klar strukturierter Rechtsregeln, was Vorhersehbarkeit und Planbarkeit vermittelt.78 Dieses Interesse an Planungssicherheit besteht unabhängig davon, ob das jeweilige Verfahren rein nationalen Regeln untersteht oder unionsrechtlich überformt ist. Jenes Bedürfnis nach klaren Strukturen dient in erster Linie den Rechtsschutzsuchenden in der Durchsetzung ihrer Rechte, was in letzter Konsequenz durch verfassungsrechtliche Garantien abgesichert ist.79 Zudem erfüllen klare Verfahrensregeln aber auch eine Funktion in der gerichtlichen Organisation des Staates. Dem Hoheitsträger kann ein eigenes Interesse daran zugesprochen werden, dass Rechtsstreitigkeiten mit Bezug zu Staatsgebiet, Staatsgewalt oder Staatsvolk durch seine Institutionen effektiv gelöst werden.80 Dahinter stehen relativ schwer fassbare Größen, wie etwa die Sicherung des Rechtsfriedens im Staate.81 Nicht zu leugnen ist jedoch, dass diese Staatsinteressen eine tatsächlich effektiv arbeitende Rechtspflege erforderlich machen. Dabei wird ein öffentliches Interesse an klaren Verfahrensregeln herausgearbeitet und teilweise zu einem ‚Metainteresse‘ am Zivilverfahren als Institution ausgebaut,82 was in der Folge bei der Auslegung und Anwendung von Verfahrensrecht zu berücksichtigen sei. Im unionsrechtlichen Kontext könnte man die Notwendigkeit klarer verfahrensrechtlicher Strukturen darüber hinaus mit dem – ebenfalls im öffentlichen Interesse stehenden – Interesse am integrativen Charakter83 des Unionsrechts an sich zu begründen versuchen: Nur wenn das Verfahrensrecht klar und übersichtlich strukturiert ist, 78
Vgl. nur Dickinson, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 115, 115. Im deutschen Verfassungsrecht beispielsweise durch die aus Art. 19 Abs. 4 GG abgeleiteten Gebote der Rechtsweg- und der Rechtsmittelklarheit, vgl. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 230 ff. 80 Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 2; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 225; Grothe, IPRax 2004, 205, 210, in Fällen sog. Torpedoklagen. 81 Hillgruber, in: Maunz/Dürig, Art. 92 GG, Rn. 8. Gerade was die Sicherung des Rechtsfriedens angeht, wird häufig bestritten, dass dies ein Teil des Verfahrenszwecks darstellt. Oftmals wird die Befriedung nur als automatisch mitverwirklichter Effekt des auf den Schutz subjektiver Rechte angelegten Verfahrens gesehen, so z.B. von Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 1 Rn. 10. 82 Thiere, Die Wahrung überindividueller Interessen im Zivilprozeß, § 1. Vgl. auch Pfeiffer, in: FS 50 Jahre BGH III, S. 617, 640 f. 83 Dazu oben, S. 135 f. 79
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
wird es praktisch wirksam und dient so dem Ziel möglichst umfassender Integration innerhalb der Union. Eine Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots zur Durchbrechung des Verfahrensrechts könnte insofern an der mangelnden Dispositionsfreiheit der Akteure scheitern. Gleichwohl besteht der eigentliche, primäre Zweck des Verfahrens, und das gilt auch bei dessen unionsrechtlicher Überformung, im Schutz subjektiver Rechte bzw. subjektiven Rechts.84 Daher dürfen Interessen, wie die reichlich abstrakte Institutsgarantie zugunsten eines Zivilverfahrens oder der Gedanke möglichst umfassender Integration, nicht den eigentlichen Zweck des Verfahrens im Einzelfall, die Durchsetzung subjektiven Rechts, verhindern oder unmöglich machen. Zwar sind strenge verfahrensrechtliche Formen bis zu einem gewissen Grad notwendig, um ein (justizförmiges) gerichtliches Verfahren als solches zu ermöglichen. Leidet dieses, leidet in letzter Konsequenz auch die Verwirklichung des materiellen Rechts, was für Rechtsschutzsuchenden und Staat gleichermaßen unerwünscht ist. Genau dieser Gedanke zwingt aber dazu, sich für die theoretische Möglichkeit der Durchbrechung unbillig strenger Formen in Ausnahmefällen auszusprechen: Die dienende Funktion des Verfahrensrechts gegenüber der Verwirklichung materiellen Rechts darf nicht dahingehend verkehrt werden, dass ein abstraktes Interesse an Rechtssicherheit bestünde, Rechtssicherheit damit zum Selbstzweck würde.85 Selbst wenn das Zivilverfahrensrecht gleichfalls öffentliche Interessen mitverwirklicht, müssen 84
Vgl. z.B. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 3; Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 234 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 1 Rn. 7; R. Stürner, Aufklärungspflicht, S. 49 m.w.N.; ders., in: FS Baumgärtel, S. 545, 546; Thiere, Die Wahrung überindividueller Interessen im Zivilprozeß, S. 9; Gilles, in: GS Wolf, S. 377, 382, der freilich den „Schutz aller nur erdenklichen privatrechtlichen Rechtspositionen“ (Hervorhebung im Original) als Zweck nennt; ähnlich Münch, in: Bruns/Münch/Stadler, Die Zukunft des Zivilprozesses, S. 5, 35: „Schutz subjektiven Rechts“; Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 Rn. 5; Rauscher, in: MüKo-ZPO, Einleitung Rn. 8. Vgl. allgemein auch Jauernig, JuS 1971, 329 ff. und Gaul, AcP 168 (1968), 27 ff. Speziell für das Anerkennungsrecht Martiny, in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd III/1 Kap. I, Rn. 75. Als Verfahren, das (nur) der Bewährung objektiven Rechts dienen soll, wird gerne das Verbandsklageverfahren nach dem UKlaG angeführt, vgl. die Nachweise bei Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 254 f. und Thiere, Die Wahrung überindividueller Interessen im Zivilprozeß, S. 295 ff. Doch selbst wenn man die überindividuelle Komponente der Verbandsklage in den Fokus nimmt (z.B. § 11 S. 1 UKlaG), gründet sich die Daseinsberechtigung das Verfahren doch auf den Schutz der Interessen einer Gruppe von Rechtssubjekten, womit ihr letztlich doch wieder eine materiell-rechtliche Komponente zukommt, vgl. Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO, Rn. 12 f.; Thiere, Die Wahrung überindividueller Interessen im Zivilprozeß, S. 18. 85 Aus der deutschen Rechtsprechung vgl. eindrucksvoll GmS-OGB, Beschl. v. 30.4.1979, GmS-OGB 1/78, BGHZ 75, 340, 348: „Verfahrensvorschriften dienen letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozessbeteiligten, sollen also die einwandfreie Durchführung des Rechtsstreits unter Wahrung der Rechte aller Beteiligten sicherstellen und
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diese theoretisch dann zurücktreten, wenn der Vollzug des Verfahrensrechts im Einzelfall zu sinnwidrigen oder unbillig strengen Formen führen würde, an denen im Interesse der Rechtsgemeinschaft nicht festgehalten werden kann. Dies gilt auch mit Blick auf den Institutionenschutz: Ist die Durchsetzung materiellen Rechts in einem gerichtlichen Verfahren nicht mehr effektiv möglich, muss ein solches Verfahren nicht bedingungslos verteidigt werden; der Institutionenschutz entzöge sich hier selbst seine Grundlage. Demnach müssen etwaige Formerfordernisse im Verfahren aufgelockert werden können und gegebenenfalls auch aufgelockert werden, damit aus Formenstrenge nicht schädlicher Formalismus wird.86 Das Rechtssicherheitsargument ist damit, vor allem soweit es sich lediglich auf öffentliche Interessen gründet, mit gewisser Vorsicht zu genießen. III. Der Rang der Rechtssicherheit im deutschen Zivilverfahrensrecht Für das Verständnis der unionsrechtlichen Zusammenhänge ist ein erneuter Blick auf das deutsche Zivilverfahrensrecht hilfreich. Dort herrschte bis in die jüngere Vergangenheit hinein eine rege Diskussion bezüglich der Ausgestaltung des Verfahrens durch klar strukturierte Formen, die unter dem Schlagwort „Formenstrenge des Verfahrensrechts“ bekannt geworden ist.87 Geprägt war diese Diskussion vom Widerstreit zwischen den Befürwortern eines technischen Verfahrensrechts und den Vertretern einer liberaleren Betrachtung. Neben dem Streit um die Formenstrenge des Verfahrens an sich (unten,1.), sprachen sich deutliche Teile des verfahrensrechtlichen Schrifttums für die Idee sog. ‚strenger‘ Rechtsnormen im Verfahrensrecht aus, die einer Anpassung im Einzelfall per se nicht zugänglich sein sollten (unten, 2.).
nicht behindern.“ RG, Urt. v. 8.12.1922, III 114/22, RGZ 105, 421, 427: „Das materielle Recht soll und darf unter der Herrschaft der Prozeßvorschriften nicht oder nur möglichst wenig leiden.“; BGH, Urt. v. 4.12.1964, I b ZR 151/63, NJW 1965, 585, 586: „Formvorschriften (sind) nicht um ihrer selbst willen erlassen […], sondern (um) einen vernünftigen Ablauf des Verfahrens in angemessener Zeit (zu) sichern.“ OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.8.2010, 13 UF 46/10, FamRZ 2010, 2015, 2017: „Das Verfahrensrecht soll keinen Selbstzweck erfüllen, sondern nur der sachgerechten Entscheidungsfindung dienen.“ Das OLG verweist dabei auf BVerfG, Beschl. v. 5.5.1987, 1 BvR 903/85, BVerfGE 75, 302, 316 f. Aus der Literatur: Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 9 f.; Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 9; Prütting, in: Wieczorek/Schütze, Einl Rn. 111; speziell zur internationalen Zuständigkeit Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 225 u. 238 m.w.N.; vgl. auch Neuhaus, 28 LCP (1963) 795, 796. 86 Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 107 f. Vgl. auch Benda, ZZP 98 (1985), 365, 366. 87 Vgl. den Titel der Habilitationsschrift von Vollkommer aus dem Jahre 1973: Formenstrenge und prozessuale Billigkeit. Ausführlich unten, S. 227 ff.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
1. Die sog. ‚Formenstrenge‘ im deutschen Zivilverfahrensrecht Wie bereits in den allgemeinen rechtsvergleichenden Ausführungen zur Missbrauchsverhinderung im deutschen Zivilverfahrensrecht deutlich wurde, ist es eine relativ junge Erkenntnis, wonach auch im Zivilverfahrensrecht eine zweckorientierte Auslegung oder die Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots für möglich erachtet wird.88 Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich diese Ansicht nach und nach durch.89 Zuvor herrschte ein Verständnis vom Verfahrensrecht als „‘technische(m) Recht‘ in seiner allerschärfsten Ausprägung“90 vor. Rechtssicherheit wurde als unangreifbarer Wert des Verfahrens verstanden, was zu einem recht lebendigen Formalismus führte.91 Im zivilverfahrensrechtlichen Schrifttum war es noch im Jahre 1963 Baur92, der eine stark ablehnende Haltung gegenüber einer Auflockerung des Verfahrensrechts einnahm und sich – in bemerkenswertem Widerspruch zum Titel des Bandes, in dem sein Beitrag erschien93 – für einen „rechtsstaatlichen Formalismus“94 aussprach. Die gerechte Entscheidung im Einzelfall wollte er in den von ihm sog. „Treu-und-Glauben-Fällen“ im Zweifel dem rigor iuris des Verfahrensrechts opfern.95 Im deutschen Zivilverfahrensrecht etwa kommen strenge Formen in den vielfältigen Fristenregelungen und Formerfordernissen im engeren Sinne zum Ausdruck, die das gerichtliche Verfahren durchziehen und Parteien und Gericht in ein Korsett an Verhaltensregeln zwingen. Aufmerksamkeit hat seit jeher die eigenhändige Unterschrift des Rechtsanwalts unter einer Rechtsmitteleinlegung oder Rechtsmittelbegründung auf sich gezogen.96 Als Formzwang im weiteren Sinne ist auch die Beschränkung von Handlungsformen der Verfahrensbeteiligten zu sehen; es herrscht ein sog. Typenzwang.97 Hiernach kann sich nur der im Verfahrensrecht vorgesehenen Handlungsformen bedient werden. Sinn und Zweck dieser wenig flexiblen Ausgestaltung ist wiederum, den geordneten Ablauf gerichtlicher Verfahren zu gewährleisten, aber ebenso, den Parteien die gleichen Chancen bei der Rechtsdurchsetzung einzuräumen, was
88
Vgl. oben, S. 191 ff. Vgl. demgegenüber die lange Tradition, was die Verhinderung von Gesetzesumgehung und Rechtsmissbrauch im deutschen materiellen Recht angeht, S. 25 ff. und S. 57 ff. 90 Stein, Grundriss des Zivilprozessrechts und des Konkursrechts, S. XIV. 91 Vollkommer, Formenstrenge, S. 50 f. 92 Baur, summum ius, summa iniuria, S. 97 ff. 93 Summum ius, summa iniuria, , vgl. Summum ius, summa iniuria, Benke/Meissel, Juristenlatein, S. 337. 94 Vollkommer, Formenstrenge, S. 42. 95 Vgl. Baur, in: summum ius, summa iniuria, S. 97, 114 f. 96 Vgl. nur Prütting, in: FS Vollkommer, S. 283, 284. 97 Z.B. Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 109. 89
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im Grundsatz ebenfalls Rechtssicherheit der Verwirklichung materiellen Rechts dient.98 2. Das Konzept ‚strenger‘ Rechtsnormen und das Rechtsmissbrauchsverbot Der Argumentationstops der Formenstrenge wurde im deutschen Zivilverfahrensrecht vor allem dann bemüht, wenn man die Frage nach der Wirkung des Rechtsmissbrauchsverbots im Zivilverfahren stellte. Diesbezüglich wird noch im moderne(re)n Schrifttum häufig die These aufgestellt, ein bestimmter Typus Rechtsnorm sei einer situativen Anpassung überhaupt nicht zugänglich. Diese Vorschriften werden als ‚strenge‘ Rechtsnormen bezeichnet, weil sie der Rechtssicherheit dienten, wozu beispielsweise Vorschriften bezüglich der Formerfordernisse von Klage- und Rechtsmittelschriften zu rechnen seien.99 Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Parallele zur Diskussion um den a priori erfolgenden Ausschluss sog. droits absolus im Anwendungsbereich des französischen abus de droit.100 Wie in der französischen Diskussion fehlen jedoch auch im deutschen Schrifttum tiefergehende Argumente, um diesen Ausschluss zu untermauern. So hielt es etwa Baumgärtel für ausreichend, festzustellen, dass diejenigen Rechtsnormen, welche vorwiegend (!) der Rechtssicherheit dienten, deshalb (!) Treu und Glauben nicht zugänglich seien.101 Mit dieser Behauptung wird das Problem aber natürlich nur auf die Frage verlagert, welche Vorschriften vorwiegend der Rechtssicherheit zu dienen bestimmt sind.102 In einer Abhandlung aus dem Jahre 2013 begnügt sich Prütting mit der Feststellung, es sei anerkannt, dass sich für prozessuale Fristen keine Ausnahme über § 242 BGB herleiten lasse103 – einen Nachweis hierfür bleibt er allerdings schuldig – und dass einer Anwendung von Treu und Glauben „grundlegende Strukturen des Verfahrensrechts“104 entgegenstünden.
98
Vollkommer, Formenstrenge, S. 39 f.; Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 ZPO Rn. 109. Maßgeblich Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 97; Ulrich, in: FS Gamm, S. 223, 224. 100 S.o., S. 46. Im französischen Schrifttum zum Internationalen Zivilverfahrensrecht wird die im materiellen Recht schon umstrittene Konstruktion der droits absolus, v.a. was die Wahl eines Gerichtsstands angeht, abgelehnt, vgl. Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 34 f. 101 Baumgärtel, ZZP 86 (1973), 353, 359. 102 Das sieht auch Baumgärtel, ZZP 86 (1973), 353, 359 f., der unter Verweis auf Larenz solche Vorschriften ausschließen möchte, deren Sinn „in der Gewährleistung des für den Gang des Verfahrens unerläßlichen Mindestmaßes von Rechtssicherheit“ (Hervorhebung durch den Verfasser) liege. Einen methodischen Mehrwert hat dieser Begriffsreigen natürlich nicht, weil nur ein ausfüllungsbedürftiger Begriff durch einen anderen ersetzt wird. Auch hier zeigt sich eine Parallele zur Diskussion um den Ausschluss sog. dorits absolus im Rahmen des abus de droit im französischen Recht, vgl. S. 46. 103 Prütting, in: FS Stürner, S. 455, 460. 104 Prütting, in: FS Stürner, S. 455, 465. 99
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Insgesamt bietet diejenige Ansicht, welche bestimmte Verfahrensvorschriften generell aus dem Anwendungsbereich des Rechtsmissbrauchsverbots ausschließen möchte, keine überzeugenden Argumente für ihren Standpunkt. Sie verkennt beispielsweise, dass es nie der wesenseigene Zweck einer Rechtsnorm sein kann, Rechtssicherheit zu gewährleisten – mit Ausnahme vielleicht von Übergangsregelungen in Gesetzeswerken. Auch hier gilt, was an anderer Stelle 105 schon ausgeführt wurde: Rechtssicherheit ist kein freischwebendes Etwas, sondern eine verfassungsrechtliche Forderung, die sich auf jede Rechtsanwendung und jeden Rechtsakt bezieht und nur die Art und Weise der Verwirklichung des jeweiligen Zwecks einer Rechtsnorm näher ausformt. Selbst wenn im verfahrensrechtlichen Kontext mit dem Ausdruck der Rechtssicherheit eigentlich der geordnete, sichere Verfahrensablauf gemeint ist,106 an dem tatsächlich ein Interesse der Beteiligten besteht, wird mit einem pauschalen Ausschluss bestimmter Vorschriften aus dem Anwendungsbereich des Gebots redlichen Verhaltens der Eindruck erweckt, als leiste die Rechtsordnung in den betreffenden Bereichen unredlichem Verhalten geradezu Vorschub. Im deutschen Zivilverfahrensrecht verhält es sich demnach nicht so, dass Vorschriften, wie beispielsweise die §§ 253 Abs. 4, 130 Nr. 6 ZPO mit dem darin verankerten Erfordernis eigenhändiger Unterschrift bei Klageschriften generell nicht den Anforderungen redlicher Rechtsausübung unterliegen würden, das Rechtsmissbrauchsverbot also schon tatbestandlich nicht Anwendung fände. Vielmehr kann das Rechtsmissbrauchsverbot angeprüft und insbesondere im Sinne der allgemein vorzunehmenden Interessenabwägung festgestellt werden, ob eine Rechtsausübung unzulässig ist oder nicht. Der Grund, warum es im Anwendungsbereich dieser Vorschriften in der Regel aber nicht zu einer Durchbrechung führt, liegt darin, dass die durch die entsprechenden Rechtsnormen transportierten und verwirklichten (öffentlichen) Interessen nahezu ausnahmslos höher zu gewichten sind, als die Individualinteressen des Einzelnen und andere gegenläufige Interessen.107 Täuscht beispielsweise der spätere Beklagte über das Unterschriftenerfordernis für eine Klageschrift, können daraufhin vorhandene Fehler nicht unter Berufen auf die Unredlichkeit des Beklagten im Sinne eines venire contra factum proprium für unbeachtlich erklärt
105
S.o., S. 225 f. So in einem Nebensatz Baumgärtel, ZZP 86 (1973), 353, 360; ebenfalls Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 35. 107 Vgl. G. Roth/Schubert, in: MüKo-BGB, § 242 BGB Rn. 103; nicht ausdrücklich unter Bezugnahme auf die allgemein im Rahmen des Rechtsmissbrauchsverbots anzustellende Interessenabwägung, aber inzidenter Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 96 f. 106
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werden, da dies in die Grundlagen eines geordneten und gesicherten Verfahrensablaufs eingreifen würde,108 der insbesondere Beweisbarkeit und einer Seriositätsgewähr bedarf.109 IV. Die Abkopplung des Europäischen Zivilverfahrensrechts Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Rechtsprechung des EuGH im Europäischen Zivilverfahrensrecht, entsteht der Eindruck einer gewissen Abkopplung von der Entwicklung in den Mitgliedstaaten (unten, 1.). In der rechtsvergleichenden Umschau steht der Gerichtshof mit der Überbetonung des Rechtssicherheitsarguments im Zivilverfahrensrecht deutlich isoliert da. Dieser Drift zwischen den Rechtssystemen muss zu Akzeptanzproblemen in den Mitgliedstaaten führen, was durch die zunehmende Harmonisierung der Materie, die Verdrängung nationaler Entscheidungskompetenzen, verstärkt wird.110 Jedoch nicht nur im Verhältnis des nationalen Rechts zum Unionsrecht, auch innerhalb des Unionsrechts selbst stellt die Rechtsprechungspraxis des EuGH zur Rechtssicherheit im Europäischen Zivilverfahrensrecht eine Ausnahmeerscheinung dar, die schwer zu rechtfertigen ist. So pflegt der EuGH im strukturell vergleichbaren Steuerrecht einen völlig anderen, fortschrittlichen Ansatz und erkennt die Gefahren einer Auslegung, die Rechtssicherheit zu einem selbständigen Belang erhebt. Dass das unionsrechtliche Missbrauchsverbot gerade in diesem Bereich seine maßgebliche Ausdifferenzierung erfuhr, überrascht daher nicht (unten, 2.).
108
Vgl. Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 97 f. Die im deutschen Recht vor allem in der jüngeren Vergangenheit vorzufindende Zurückhaltung gegenüber der theoretischen Möglichkeit einer Durchbrechung von als ‚streng‘ eingeordneten Verfahrensvorschriften bewirkt eine seltsame Dissonanz zwischen materiellem Recht und Verfahrensrecht. Zur Illustration und um die hier aufgestellte These zu unterstützen, soll ein Beispiel des materiellen Rechts dienen: Hat einer der Verhandlungspartner die Formnichtigkeit eines Vertrags (§ 125 BGB) treuwidrig herbeigeführt, ist ein Berufen hierauf in aller Regel nicht als Rechtsmissbrauch unzulässig, der Formverstoß demnach beachtlich. Der Grund hierfür liegt darin, dass der Schutzzweck der verletzten Formvorschrift bei einer Abwägung die individuellen Interessen des anderen Teils überwiegt. Ein entgegengesetztes Ergebnis ist möglich, dies aber nur dann, wenn es schlechthin untragbar wäre, an der Formnichtigkeit festzuhalten, weil der hintergangene Vertragsteil beispielsweise in seiner Existenz gefährdet ist, vgl. Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 447 f. mit erfrischender Klarheit in Rn. 450. Damit ist aber nur umschrieben, dass in diesem Fall die Interessen des benachteiligten Vertragsteils die durch die Vorschrift zu gewährleisten versuchten (öffentlichen) Interessen überwiegen. Vgl. auch BGH, Urt. v. 1.8.2013, VII ZR 6/13, NJW 2013, 3167, 3169, Nr. 30: „Eine nach § 134 BGB im öffentlichen Interesse und zum Schutz des allgemeinen Rechtsverkehrs angeordnete Nichtigkeit kann […] allenfalls in ganz engen Grenzen durch eine Berufung auf Treu und Glauben überwunden werden.“ 110 Vgl. oben, S. 6 ff. 109
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
1. Verwerfungen zwischen mitgliedstaatlichem und Europäischem Zivilverfahrensrecht Die Überbetonung des Rechtssicherheitsarguments in der Auslegung Europäischen Zivilverfahrensrechts durch den EuGH betraf in der Vergangenheit vor allem die Zuständigkeitsregeln der jeweiligen Verordnungen bzw. Übereinkommen.111 Beispiele finden sich aber ebenso im Bereich der Koordinierung von Parallelverfahren, wo er in begründeten Ausnahmefällen die Bereitschaft zur Abwägung der beteiligten Interessen vermissen ließ und so den Eindruck erweckte, als wolle er Rechtssicherheit zu einem Belang an sich erheben.112 Zum deutschen Zivilverfahrensrecht wurde gezeigt, dass dessen Zweck im Schutz subjektiver Rechte bzw. subjektiven Rechts liegt und weder von Seiten des Staates noch von Seiten der Parteien ein bedingungsloser Vorrang der Rechtssicherheit im Verfahren billigerweise erwartet werden kann und erwartet wird. In der Folge wurde die Sichtweise, wonach Verfahrensrecht als ‚strenges Recht‘ einer Anpassung im Einzelfall per se nicht zugänglich ist, als unhaltbare petito principii entlarvt. Selbst im französischen Zivil(verfahrens)recht, das auch in neuerer Zeit einen eher konservativen Auslegungsansatz pflegt, nahm man mit der Zeit Abstand vom Konzept der droits absolus.113 Im Internationalen Zivilverfahrensrecht der Mitgliedstaaten sind entsprechende Strömungen demnach längst verebbt. Denn es gilt hier ebenfalls, dass die Frage, ob eine bestimmte Norm angewandt werden kann oder nicht, immer von Fall zu Fall geklärt werden muss, selbst wenn sich gewisse Regelmäßigkeiten festhalten lassen. Im Europäischen Zivilverfahrensrecht kann nichts anderes gelten; Argumente für einen Antagonismus, die sich nur auf speziell unionsrechtliche Anforderungen der Auslegung gründen könnten, fehlen. Die fehlerhafte Prämisse des EuGH wird bedauerlicherweise durch das Schrifttum rezipiert. Dort trifft man mit gewisser Regelmäßigkeit auf eine äußerst unkritische Haltung zum Verhältnis von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit oder allgemein der Durchsetzung gegenläufiger Interessen. So formuliert etwa Naumann auf einem in dieser Weise unhaltbaren Abstraktionsniveau: „Der Rechtssicherheit gebührt im Rahmen der (EuGVVO) der Vorrang vor der Einzelfallgerechtigkeit.“114 Auch ansonsten finden sich zahlreiche bedenkliche Beispiele einer kontextlosen Überhöhung der Rechtssicherheit im Schrifttum115 und bei den Generalanwälten. So behauptet etwa Generalanwalt 111
Vgl. Bříza, 5 J. Priv. Int. L. (2009) 537, 547: „mechanical jurisprudence.“ Bříza, 5 J. Priv. Int. L. (2009) 537, 547; Dickinson, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 115, 121 f.; Fentiman, 63 C.L.J. (2004) 312, 313; vgl. auch Tichý, in: FS Martiny, S. 851, 859. 113 Vgl. Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 34 f. 114 Naumann, Anti-suit injunctions, S. 192. 115 So Meyer, Forum Shopping, S. 153; Goltz/Janert, MDR 2014, 125, 129: „kein Platz für wertende Betrachtungen“; Thiele, RIW 2002, 383, 386; ders., RIW 2004, 285, 288; 112
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Jääskinen in der Rechtssache Weber, bei der Auslegung von Art. 27 EuGVVO a.F. (= Art. 29 EuGVVO) seien die Garantien von Art. 6 EMRK und Art. 47 Grundrechte-Charta deshalb nicht zu berücksichtigen, weil es sich bei der Rechtshängigkeitsregel um eine „rein technische Vorschrift“ handle. 116 Nicht nur zeugt eine derartige Sichtweise von fehlendem Problembewusstsein und einem Hang zu unlogischer Argumentation. Methodisch führen die Schlussanträge des Generalanwalts zurück in eine Zeit am Anfang des 20. Jahrhunderts; die Parallele zu den Stein’schen Worten vom „technischen Recht in seiner schärfsten Ausprägung“ ist unübersehbar.117 Es existiert aber schlichtweg kein Argument, warum die Anwendung von Art. 29 EuGVVO den Vorgaben aus Grundrechte-Charta und EMRK nicht unterliegen sollte.118 Methodisch verwirklicht der EuGH seine Idee von Rechtssicherheit vor allem durch eine besondere Betonung des Wortlautarguments in der Auslegung des Europäischen Zivilverfahrensrechts. Um Rechtssicherheit zu erreichen, erachtet er es für notwendig, die entsprechenden Rechtsnormen möglichst wortlautgetreu auszulegen.119 Dabei provoziert er teilweise wenig stimmige Ergebnisse120 und setzt sich zu eigenem Verhalten in Widerspruch, wenn er ansonsten freimütig aufgrund teleologischer Erwägungen entscheidet. 2. Verwerfungen im Unionsrecht selbst: Steuerrecht Verwerfungen ergeben sich allerdings nicht nur zwischen Unionsrecht und den mitgliedstaatlichen Zivilverfahrensordnungen. Auch innerhalb des Unionsrechts selbst wirkt der scheinbar bedingungslose Vorrang der Rechtssicherheit im Europäischen Zivilverfahrensrecht verfehlt. So ist in Bereichen des Unionsrechts, die ebenfalls durch einen hohen Grad der Formalisierung geprägt sind, mittlerweile anerkannt, dass die hierdurch vermittelte Rechtssicherheit unter Leible, in: Rauscher, EuzPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO, Rn. 16b. Treffend gegen eine abstrakte Rangfolge von Systeminteressen (mit Blick auf das Internationale Privatrecht), Kegel, in: FS Lewald, S. 259, 268: „Der Versuch eine Rangfolge der Grundsätze aufzustellen, halte ich für unglücklich. Hier wird das Ergebnis, das erst im Einzelfall durch Festlegung und Abwägung der jeweils verschieden starken Interessen zu suchen ist, allgemein vorausgenommen.“ (Hervorhebungen im Original). Ebenso Heldrich, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht, S. 105, Fn. 10. 116 Schlussanträge des GA Jääskinen v. 30.1.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), Nr. 88. 117 S.o., im Text bei Fn. 90. 118 Vgl. nur Hess, in: FS Jayme, S. 339, 357. 119 Bříza, 5 J. Priv. Int. L. (2009) 537, 548. 120 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-103/05 (Reisch Montage AG ./. Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, 6850, Nr. 30 ff. m. krit. Anm. Würdinger, ZZPInt 11 (2006), 180; Urt. v. 22.5.2008, Rs. C-462/06 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline ./. Jean-Pierre Rouard), Slg. 2008, I-3965, 3988, Nr. 23-33 m. krit. Anm. Sujecki, EuZW 2008, 371; zur Gasser-Entscheidung, vgl. Hess, in: FS Jayme, S. 339, 356 f.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Umständen anderen Werten und Interessen untergeordnet werden muss. Eindrucksvoll ist insoweit die Vielzahl steuerrechtlicher Entscheidungen, in denen der EuGH das unionsrechtliche Missbrauchsverbot zu entwickeln und präzisieren begann.121 Dabei ist das Steuerrecht ebenfalls von sehr formaler Struktur und diesbezüglich dem Zivilverfahrensrecht vergleichbar. Hier wie dort ist Planungssicherheit ein wichtiges Systeminteresse, mit Blick auf die Rechtsunterworfenen, aber auch mit Blick auf den Staat. In beiden Rechtsbereichen ist dies direkt an entsprechende finanzielle Vor- oder Nachteile der Betroffenen gekoppelt, wobei dies im Steuerrecht vielleicht noch unvermittelter zutage tritt, als im Zivilverfahrensrecht. Die Entscheidungen des Gerichtshofs zum Steuerrecht zeigen deutlich, dass die Annahme, ein hoher Grad der Formalisierung stehe einer Anwendung des Missbrauchsverbots entgegen, für das Unionsrecht in dieser Allgemeinheit gerade nicht haltbar ist. Eine aussagekräftige Passage hierzu findet sich in den Schlussanträgen des Generalanwalts Maduro in der Rechtssache Halifax, welche die hier vorgetragenen Thesen stützt, insbesondere auch mit Blick auf die den Rechtsanwender treffende Abwägungslast: „Die Rechtssicherheit ist gegen andere Wertentscheidungen des Rechtssystems abzuwägen. Das Steuerrecht darf nicht eine Art rechtlicher Wilder Westen werden, in dem praktisch jedes opportunistische Verhalten zu tolerieren ist, solange es im Einklang mit einer streng formalistischen Auslegung der einschlägigen Bestimmungen steht und der Gesetzgeber nicht ausdrücklich Maßnahmen ergriffen hat, um dieses Verhalten zu unterbinden.“122
Über die Abwägungslast in der Anwendung des Rechtssicherheitsgebots hinaus, lassen sich aus diesen Ausführungen noch weitere Erkenntnisse ableiten: Zum einen, dass der hohe Formalisierungsgrad einer Materie zu opportunistischem Verhalten einladen kann und zum anderen, dass die Verhinderung derartigen Verhaltens nicht schon daran scheitern muss, dass sich aus den entsprechenden Rechtsnormen keine geschriebene bzw. ausdrückliche Kompetenz des Rechtsanwenders hierfür ableiten lässt. Demgegenüber sind Entscheidungen des EuGH zum Europäischen Zivilverfahrensrecht, die im Dunstkreis missbräuchlichen Verhaltens ergingen, eher holzschnittartigen Charakters – ein abstraktes Konzept, wie zwischen dem Grundsatz der Rechtssicherheit und gerechten Einzelfallentscheidungen zu vermitteln ist, fehlt dem EuGH bisher.123 So urteilte er beispielsweise in der Rechtssache Gasser vor allem deshalb gegen eine Durchbrechung der Rechtshängigkeitsregel des Art. 21 EuGVÜ124 in Fällen überlanger Verfahrensdauer, weil das EuGVÜ keine ausdrückliche Befugnis zu dessen Nichtanwendung 121
Vgl. oben, Kap. 1 Fn. 75. Schlussanträge des GA Maduro v. 7.4.2005, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609, 1642 f., Nr. 77. 123 Linke/Hau, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 265. 124 Art. 21 EuGVÜ entspricht Art. 27 EuGVVO. 122
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enthalte.125 Gerade dies ist jedoch, wie die Ausführungen des Generalanwalts Maduro unterstreichen, nicht denknotwendige Voraussetzung, um missbräuchliches Verhalten zu verhindern. 126 Speziell bei der Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze ist es typischerweise so, dass diese keine oder nur eine unzureichende positivrechtliche Verbürgung gefunden haben.127 Das Steuerrecht zeigt letztlich, dass Missbrauchsverhinderung durch Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots keineswegs am Grundsatz der Rechtssicherheit scheitern muss. V. Unterfall des Rechtssicherheitsgrundsatzes: Vorhersehbarkeit gerichtlicher Zuständigkeiten Eine besondere Ausprägung des Rechtssicherheitsgrundsatzes für Fragen der Zuständigkeit stellt das Streben nach vorhersehbaren gerichtlichen Zuständigkeiten dar.128 Die Stoßrichtung ist hierbei identisch: Über vorhersehbare gerichtliche Zuständigkeiten soll Planungssicherheit vermittelt werden. Dies dient den Rechtsschutzsuchenden in der Verwirklichung ihrer Rechte und stellt ein Kernanliegen des harmonisierten Zuständigkeitsrechts dar. So wird die Notwendigkeit vorhersehbarer Zuständigkeiten in den Erwägungsgründen der EuGVVO an prominenter Stelle betont.129 Auch der EuGH hat dies in einer Vielzahl an Entscheidungen immer wieder hervorgehoben.130 Dabei konzentrieren sich die Entscheidungen allerdings auf EuGVÜ und EuGVVO (a.F.); zu EuEheVO, EuUnthVO, EuMahnVO und EuGFVO fehlen entsprechende Belege.131 125
EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14746, Nr. 71. 126 So in der Sache auch Otte, ZZPInt 8 (2003) 521, 525. 127 Vgl. dazu Clarke, 18 E.B.L.R. (2007) 101, 115. 128 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-539/03 (Roche Nederland BV u. a. ./. Frederick Primus und Milton Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, 6582, Nr. 37; Pontier/Burg, EU Principles on Jurisidiction and Recognition and Enforcement, S. 92 ff. 129 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 11 EuGVVO a.F. bzw. Nr. 15 EuGVVO. 130 Z.B. EuGH, Urt. v. 29.6.1994, Rs. C-288/92 (Custom Made Commercial Ltd ./. Stawa Metallbau GmbH), Slg. 1994, I-2913, 2956, Nr. 18; Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1460 f., Nr. 41; Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-539/03 (Roche Nederland BV u. a. ./. Frederick Primus und Milton Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, 6582, Nr. 37; Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-4/03 (Gesellschaft für Antriebstechnik mbH & Co. KG ./. Lamellen und Kupplungsbau Beteiligungs KG), Slg. 2006, 6509, 6532 f., Nr. 28. 131 Dies ist bei den beiden letzteren Verordnungen nicht weiter verwunderlich, da sie für Fragen der internationalen (und teils der örtlichen) Zuständigkeit auf die EuGVVO verweisen, vgl. Art. 6 EuMahnVO. In der EuGFVO fehlt ein derartiger Verweis, die EuGVVO bestimmt dennoch innerhalb ihres Anwendungsbereichs die gerichtliche Zuständigkeit, Varga, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Einl. EG-BagatellVO Rn. 30. Dass sich allerdings zur EuEheVO keine Entscheidungen finden, hängt mit den Besonderheiten dieser Verordnung
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
1. Maßstab für vorhersehbare Zuständigkeiten: Die Handte-Entscheidung des EuGH Im Gegensatz zum Grundsatz der Rechtssicherheit existiert für das Gebot vorhersehbarer Zuständigkeiten eine – wenngleich in hohem Maße ausfüllungsbedürftige – allgemeine Definition des EuGH. Nach den bekannten Worten der Handte-Entscheidung, die zur Auslegung des EuGVÜ erging, ist zur Wahrung dieses Grundsatzes erforderlich, dass „ein normal informierter Beklagter vernünftigerweise vorhersehen kann, vor welchem anderen Gericht als dem des Staates, in dem er seinen Wohnsitz hat, er verklagt werden könnte.“132 Auf den ersten Blick scheint diese Definition einseitig die Interessen des Beklagten zu bevorzugen. Dass in der Sache aber gerade auch die Interessen des Klägers Beachtung finden, ist unstreitig und wird durch den EuGH bestätigt.133 Die Interessen der Verfahrensbeteiligten stehen im Mittelpunkt, wobei über die normative Aufladung des Begriffs der Vorhersehbarkeit (‚normal informiert‘, ‚vernünftigerweise‘) ein objektiv zu erwartender Standard etabliert wird, der für die Zwecke der Missbrauchsverhinderung nutzbar gemacht werden kann.134 Gleiches gilt etwa für die Bestimmung des zuständigkeitserheblichen Mittelpunkts hauptsächlicher Interessen im Sinne des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO, des sog. comi, welche „objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien“135 zu folgen hat. 2. Friktionen von Missbrauchsverhinderung und vorhersehbaren Zuständigkeiten Würde das unionsrechtliche Missbrauchsverbot auf einen Missbrauch im Bereich der Zuständigkeitsregeln angewandt, geriete es mit dem Gebot, vorhersehbare Zuständigkeiten zu gewährleisten, jedenfalls vordergründig in Konflikt. Schließlich wird gegen die Möglichkeit der Verhinderung von Zuständigkeitsmissbrauch unter Verweis auf die Owusu-Entscheidung des EuGH einge-
zusammen, welche der Vorhersehbarkeit von Gerichtsständen zugunsten anderweitiger Belange eine geringere Bedeutung beimisst, vgl. dazu unten, S. 261. 132 EuGH, Urt. v. 17.6.1992, Rs. C-26/91 (Jakob Handte & Co. GmbH ./. Traitements mécano-chimiques des surfaces SA), Slg. 1992, I- 3967, 3995, Nr. 18, wiederholt z.B. in EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1460, Nr. 40. 133 Ausdrücklich: EuGH, Urt. v. 25.10.2012 Rs. C-133/11 (Folien Fischer AG u.a. ./. Ritrama SpA), EuZW 2012, 950, 951, Nr. 33 und 45; vgl. auch Althammer, in: GS Konuralp, S. 103, 125; Pontier/Burg, EU Principles on Jurisidiction and Recognition and Enforcement, S. 94. 134 S.u., S. 255; vgl. auch Althammer, IPRax 2006, 558, 560, zur unzulässigen Ankerklage in Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. 135 Eidenmüller, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 137, 139.
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wandt, dass Zuständigkeiten, die an sich nach den Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts bestünden, nicht im Nachhinein durch gegenläufige Instrumentarien wieder eingeschränkt werden dürften. Die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots würde aber gerade zu einer derartigen Einschränkung führen. In den nachfolgenden Ausführungen soll jedoch dargelegt werden, warum das Missbrauchsverbot trotz allem in begründeten Einzelfällen zur Anwendung gelangen kann. Hierzu werden zunächst die verschiedenen Möglichkeiten eines Missbrauchs im Bereich des Zuständigkeitsrechts aufgezeigt und die Haltung von EuGH und Unionsgesetzgeber hierzu analysiert. Anschließend wird begründet, warum die abstrakt festgelegten Zuständigkeiten in Einzelfällen mangels Schutzwürdigkeit der Akteure einer Anpassung zugänglich sind. Die Arbeit legt daraufhin dar, dass weder die oft als Argument gegen die Regulierung von Missbrauch im Zuständigkeitsrecht angeführte Owusu-Entscheidung noch das System des Europäischen Zivilverfahrensrechts an sich gegen die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in begründeten Einzelfällen sprechen. Diese These stützt sich auch darauf, dass ein von den Interessen der Verfahrensbeteiligten abstraktes relevantes öffentliches Interesse an vorhersehbaren Zuständigkeiten nicht besteht und ebenfalls weder EMRK noch Grundrechte-Charta bei einer Verhinderung von Zuständigkeitsmissbrauch verletzt werden. 3. Missbrauchsvarianten im Zuständigkeitsrecht Nach der dieser Arbeit zugrunde liegenden Definition missbräuchlichen Verhaltens kommen für einen Missbrauch im Bereich der gerichtlichen Zuständigkeit zwei Varianten in Betracht: die sog. Zuständigkeitserschleichung136 und das sog. missbräuchliche forum shopping137. Orientiert man sich an den Fallgruppen der deutschen Diskussion zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch, so ist die Zuständigkeitserschleichung der Fallgruppe des arglistigen Schaffens einer prozessualen Rechtslage oder Befugnis zuzuordnen,138 zu der darüber hinaus so unterschiedliche Fälle gezählt werden, wie etwa die Abtre-
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Allgemein: Kropholler, in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Band I Kap. III Rn. 177 m.w.N.; Lasserre, Le droit de la procédure civile de l'Union européenne, Nr. 243; Riezler, Internationales Zivilprozessrecht, S. 329 ff.; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 554 ff.; ders., RabelsZ 58 (1994), 41, 43 m.w.N.; vgl. auch Benecke, Gesetzesumgehung, S. 322. 137 Allgemein: Lasserre, Le droit de la procédure civile de l'Union européenne, Nr. 619: „forum shopping malus“ (Hervorhebung im Original). 138 Vgl. etwa Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 108 f.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
tung einer Forderung durch einen Ausländer an einen Inländer, um die ansonsten gemäß § 110 ZPO fällig werdende Ausländersicherheit zu vermeiden139, die mit derselben Intention durchgeführten Gründung einer inländischen Tochtergesellschaft140 oder das Abtreten eines Anspruchs an einen Prozesskostenhilfeberechtigten, um Prozesskosten zu sparen141. In der Diktion des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots handelt es sich um einen Fall der Normerschleichung.142 Demgegenüber wäre das missbräuchliche forum shopping nach deutschem Verständnis der Fallgruppe der missbräuchlichen Ausübung verfahrensrechtlicher Rechte zuzuordnen.143 Andere hierunter diskutierte Fälle sind im deutschen Recht beispielsweise das Berufen auf die örtliche Unzuständigkeit eines Gerichts, wenn dies mit dem bloßen Zweck der Schädigung der anderen Partei erfolgt144, das künstliche Aufspalten eines Klagebegehrens in mehrere Teilklagen zur Belastung der anderen Partei145, eine wiederholte Richterablehnung zur Verschleppung einer Sachentscheidung146, wobei diverse Fälle auch über eine Ablehnung des Rechtsschutzbedürfnisses gelöst werden, das als Ausfluss des Grundsatzes von Treu und Glauben verstanden wird147. Ordnet man diese Art des Verfahrensmissbrauchs im Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ein, so ist sie der Fallgruppe der missbräuchlichen Rechtsausübung zuzuschlagen148.149 Versucht man beide Erscheinungsformen voneinander zu trennen, so zeigt sich, dass beiden jedenfalls ein zielgerichtetes Verhalten eines Verfahrensbeteiligten zugrunde liegt. Ansonsten unterscheiden sie sich jedoch grundlegend 139
Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 79 ff. (i.E. ablehnend) m.w.N.; zu einer ähnlichen Konstruktion im Rahmen eines sog. Zementkartells, vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 17.12.2013, 37 O 200/09, JZ 2014, 635 (Anwendung des § 138 BGB auf die Abtretung von Einzelansprüchen an eine prozessierende Gesellschaft) m. krit. Anm. Stadler, S. 613 ff. 140 LG Berlin, Urt. v. 29.10.2009, 33 O 433/07, IPRax 2011, 83; Schulz, in: MüKo-ZPO, § 110 ZPO Rn. 13. 141 Vgl. BGH, Urt. v. 20.3.1967, VII ZR 296/64, BGHZ 47, 289, 292. 142 Vgl. oben, S. 127. 143 Ausführlich: Brehm, in: Stein/Jonas, vor § 1 Rn. 232 f.; Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 113 ff. 144 Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 118. 145 OLG München, Beschl. v. 27.12.2010, 6 U 4816/10, WRP 2011, 364, 365. 146 Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 179 ff. 147 Looschelders/Olzen, in: Staudinger, § 242 BGB Rn. 1066 m.w.N.; H. Roth, in: Stein/Jonas, vor § 253 ZPO Rn. 154: bloße Frage der Terminologie. Zum allerdings unterschiedlichen Fokus des Rechtsschutzbedürfnisses und des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots – Gleiches gilt im Grundsatz für das Gebot von Treu und Glauben –, s.o., S. 205. 148 Vgl. oben, S. 128. 149 Zur Einordnung beider Missbrauchsvarianten im Recht der Zuständigkeit in das unionsrechtliche Missbrauchsverbot, vgl. Lasserre, Le droit de la procédure civile de l'Union européenne, Nr. 243; Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 33 f.
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voneinander: Unter einer Zuständigkeitserschleichung versteht man einen Sachverhalt, in dem eine an sich noch nicht bestehende Zuständigkeit durch ein Verhalten des Klägers erst geschaffen wird, in Fällen missbräuchlichen forum shoppings wird dagegen zwischen bestehenden Zuständigkeiten eine Auswahlentscheidung getroffen (= forum shopping), die aus besonderen Gründen als missbräuchlich einzustufen ist. Nicht oft genug betont werden kann, dass Fälle bloßer Simulation – beispielsweise das Vortäuschen eines Wohnsitzes oder eines comi im Gerichtsstaat – nicht unter die hier gebrauchte Definition von Missbrauch subsumiert werden und sinnigerweise auch nicht subsumiert werden können, da sie ein bloßes Problem der Sachverhaltsermittlung darstellen und allenfalls sekundär zu einem Problem der Rechtanwendung werden können.150 Dass in Fällen der Zuständigkeitserschleichung über die Frage, ob anknüpfungsrelevante Merkmale im Gerichtsstaat liegen – beispielsweise den tatsächlichen Anforderungen an eine comi-Verlegung genüge getan ist – zugegebenermaßen Streit herrschen kann und dabei notwendigerweise zunächst eine Auslegung der relevanten Zuständigkeitsvorschrift erfolgen muss, ändert hieran nichts. Denn im Unterschied zur aufgedeckten Simulation nimmt das Gericht im Rahmen der Auslegung bestimmte Umstände im Ergebnis vernünftigerweise als gegeben hin und füllt diese nur normativ aus.151 a) Motive für Zuständigkeitsmissbrauch Die Motivation für einen Rechtsschutzsuchenden, einen bestimmten Gerichtsstands zu schaffen oder zu wählen, kann völlig unterschiedliche Gründe haben. In Fällen missbräuchlichen forum shoppings wird die Schädigung oder Benachteiligung des Gegners bzw. ein anderer verfahrensfremder Zweck im Vordergrund stehen. Verständlicher sind in der Regel die Motive desjenigen, der eine bestimmte Zuständigkeit zu erschleichen versucht und damit unter Umständen auch eine ungünstigere Zuständigkeit vor einem anderen Gericht verhindern möchte. Zwar kann ein Kläger oder Antragssteller über eine erschlichene Zuständigkeit primär die Schädigung des anderen Teils verfolgen, beispielsweise durch das Schaffen einer geographisch abgelegenen Zuständigkeit. Grundsätzlich
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S.o., S. 15 f. Nicht gefolgt werden kann deshalb der pauschalen Eingruppierung von Simulationssachverhalten („Erschleichen eines Gerichtsstands durch falsche Angaben“) unter den Begriff des forum shopping, so z.B. von Beck, ZVI 2011, 355, 366; falsch auch Looschelders/Olzen, § 242 BGB Rn. 1074: kein Berufen auf Zuständigkeit, die durch unwahre Angaben erschlichen wurde. Dies ist schlicht keine Frage des § 242 BGB oder der Normauslegung. Ebenso unzutreffend: Weiß, Zuständigkeit kraft Sachzusammenhangs, S. 51. 151
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
wird der Antrieb des Handelnden aber dem entsprechen, was auch für das zulässige forum shopping charakteristisch ist: 152 Neben der Suche nach einem möglichst klägernahen Forum oder einer unabhängig davon kostengünstigeren sachlichen Zuständigkeit153, kann in internationalen Verfahren das anwendbare Recht Bezugspunkt der Bemühungen sein. Da über die Inanspruchnahme eines bestimmten Forums dessen Verfahrensrecht und Internationales Privatrecht als lex fori zur Anwendung kommen, können so zum einen die verfahrensrechtliche Ausgestaltung und das materielle Recht mitbestimmt werden.154 Was das Verfahrensrecht angeht, können insbesondere die in den Rechten des angloamerikanischen Rechtkreises vorgesehenen weitreichenden Befugnisse der Prozessparteien in der Sachaufklärung, vor allem die sog. pretrail discoveryoder disclosure-Verfahren, einen entsprechenden Anreiz darstellen.155 In Bezug auf das materielle Recht kommt der geschickten Wahl/Schaffung eines Forums im Europäischen Justizraum jedenfalls dort besondere Bedeutung zu, wo eine Harmonisierung des Internationalen Privatrechts durch europäische Rechtsakte nicht stattgefunden hat, beispielsweise im Bereich grenzüberschreitender Persönlichkeitsrechtsverletzungen. Diese sind wegen Art. 1 Abs. 2 lit. g Rom II-VO dem nationalen Internationalen Privatrecht zugeschlagen.156 Hier besteht für den Betroffenen einer Verleumdung durchaus der Anreiz, über einen Gerichtsstand in England oder Wales, die in Verleumdungsfällen als außerordentlich klägerfreundlich gelten, ein vorteilhaftes materielles Ergebnis herbeizuführen. Aber auch innerhalb des harmonisierten Bereichs kann über die jeweils an die lex fori angebundenen Korrekturmechanismen des ordre public157 bzw. der Eingriffsnormen158 das materiell-rechtliche Ergebnis beeinflusst werden. Eine ebenfalls bedeutende Einflussnahmemöglichkeit auf das materiell-rechtliche Ergebnis bietet daneben Art. 4 Abs. 1 EuInsVO, der als Insolvenzstatut die lex fori bestimmt.
152 Vgl. Luginbuehl, European Patent Law, S. 45 ff.; Vischer, in: Mélanges en l’honneur d‘Alfred E. Overbeck, S. 349, 350 ff. 153 Der bei Verfahren vor den deutschen Landgerichten herrschende Anwaltszwang (§ 78 Abs. 1 S. 1 ZPO) macht das Erschleichen einer amtsgerichtlichen Zuständigkeit finanziell interessant. 154 Statt vieler Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 251. 155 Huber, Forum non conveniens, S. 148; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 255; Juenger, RabelsZ 46 (1982), 708, 711 f. 156 Vgl. Klöpfer, JA 2013, 165, 166. Die Einbeziehung von Persönlichkeitsrechtsverletzungen in den Anwendungsbereich der Rom II-VO ist bisher nur Gegenstand einer Entschließung des Europäischen Parlaments mit entsprechenden Empfehlungen an die Kommission vom 10. Mai 2013, vgl. ABl. C 261 E, v. 10.9.2013, S. 17. 157 Art. 21 Rom I-VO, Art. 26 Rom II-VO, Art. 12 Rom III-VO. 158 Art. 9 Rom I-VO, Art. 16 Rom II-VO.
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b) Missbräuchliches forum shopping Dass der aus dem US-amerikanischen Zivilverfahrensrecht stammende Begriff159 des forum shopping ein grundsätzlich völlig unbedenkliches Verhalten beschreibt, wonach der Kläger durch die Wahl eines ihm günstigen Gerichtsstands in möglichst optimaler Art und Weise sein Begehren zu verfolgen versucht160, ist heute auf Ebene der nationalen Zivilverfahrensrechte allgemein anerkannt.161 Die in der Vergangenheit in der Diskussion vorherrschende Emotionalität ist größtenteils einer sachlichen Debatte gewichen.162 Ein Großteil des Konfliktpotentials scheint meines Erachtens ohnehin in den Unklarheiten hinsichtlich der sachlichen Reichweite des Begriffs forum shopping gelegen zu haben bzw. noch zu liegen.163 Trotz allem erkennt man an, dass unter bestimmten Umständen forum shopping, die grundsätzlich unbeschränkt zulässige Wahl unter mehreren zur Verfügung stehenden Gerichtsständen, als unzulässig weil missbräuchlich einzustufen sein kann.164 Im deutschen Zivilverfahrensrecht hat sich dies in der Vergangenheit insbesondere in Zusammenhang mit sog. fliegenden Gerichtsständen im Lauterkeits- oder Immaterialgüterrecht gezeigt.165 So wurde etwa die 159
Vgl. Juenger, 63 Tul.L.Rev (1989) 553, 553 Vgl. Juenger, 63 Tul.L.Rev (1989) 553, 556: „exploiting the opportunities offered by jurisdictional and venue rules.” 161 Für das deutsche Zivilverfahrensrecht, vgl. Patzina, in: MüKo-ZPO, § 35 ZPO Rn. 3 m.w.N.; für das deutsche Internationale Zivilverfahrensrecht, vgl. Juenger, RabelsZ 46 (1982), 708, 715; Patzina, in: MüKo-ZPO, § 35 ZPO Rn. 9; aus französischer Perspektive, Cornut, Fraude à la loi, Rn. 387; ders., Clunet 134 (2007), 27, 30; aus belgischer Perspektive, Nuyts, 3 GJA (2003) 1, 7 f. mit umfangreichen Nachweisen zur französischsprachigen Lehre. 162 Vgl. Ferrari, in: Ferrari, Forum Shooping, S. 1, 5 m.w.N. Bei undifferenzierter Verwendung des Begriffs forum shopping, unter Zurechnung der sich durch ein gewisses Manipulationspotential auszeichnenden Zuständigkeitserschleichung, lässt sich natürlich ein anderes Bild zeichnen, vgl. Verhoeven, ZInsO 2013, 2369, 2371. 163 Dazu sogleich unten, S. 251 ff. 164 Vgl. Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 334; Althammer, in: GS Konuralp, S. 103, 110 ff.; Clavel, Trav. comité fr. DIP 2010/2012, 255, 264; Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 33: „forum shopping malus“ (Hervorhebung im Original); McGuire, ZfRV 2005, 83, 87: Wahl des Forums anhand prozessfremder Kriterien sei „rechtsmissbräuchliches forum shopping“ (Hervorhebung im Original); Schwartze, in: FS von Hoffmann, S. 415, 417; Heinrich, in: Musielak, § 35 ZPO Rn. 4; Patzina, in: MüKo-ZPO, § 35 ZPO Rn. 3, mit Verweis auf die Entscheidung des OLG Hamm, Urt. v. 15.5.1986, 4 U 326/85, NJW 1987, 138 zu § 24 Abs. 2 UWG a.F.; H. Roth, in: Stein/Jonas, § 35 ZPO Rn. 5; Vollkommer, in: Zöller, § 35 ZPO Rn. 3; Toussaint, in: BeckOK ZPO, § 35 Rn. 7.1; zu § 14 Abs. 2 UWG, vgl. Köhler, in: Köhler/Bornkamm, § 14 UWG Rn. 1; LG Konstanz, Urt. v. 14.10.2005, 2 O 593/04 B, 2 O 593/04, IPRspr 2005, Nr. 122, 307, 310, allerdings mit der in der deutschen Praxis üblichen Vermengung von Zuständigkeitserschleichung und missbräuchlichem forum shopping. 165 Vgl. Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 41 ff. 160
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Wahl eines abgelegenen Gerichts, welches mit der Intention der Schädigung des anderen Teils angerufen wurde, als missbräuchlich eingestuft, was die Abweisung mangels Zuständigkeit zur Folge hatte.166 Dabei leiteten die Gerichte die Schädigungsabsicht des Klägers unter anderem aus einem fehlenden sachlich-räumlichen Bezug von Streitgegenstand und Gerichtsort ab und setzten dies in Bezug zu den legitimen Zielen der Zuständigkeitsvorschriften167, was auf Linie mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot liegt; dieses fordert schließlich neben seiner subjektiven Komponente, dass die Rechtsanwendung im konkreten Fall den Zweck der Rechtsnorm verfehlen würde.168 Das Missbrauchspotential in einzelnen Rechtsbereichen war dabei jedoch so groß, dass der Gesetzgeber regelnd tätig werden musste; mit dem neuen § 104a UrhG wird der fliegende Gerichtsstand im Urheberrecht abgeschafft.169 In anderen Rechtsbereichen bleibt es dabei, dass relativ beziehungsarme Gerichtsstände zu Zuständigkeitsmissbrauch einladen. Ein anschauliches Beispiel aus der Praxis ist insoweit die Entscheidung des ostfriesischen LG Aurich, das die Wahl einer an sich gegebenen örtlichen Zuständigkeit aus § 32 ZPO im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes wegen einer Wettbewerbsverletzung über das Internet als rechtsmissbräuchlich einstufte und für unzulässig erklärte.170 Dabei wertete das Gericht insbesondere den Umstand, dass der Gerichtsort erheblich von den Interessenmittelpunkten der Beteiligten bzw. derjenigen ihrer Interessenvertreter entfernt liege, keinerlei Beziehung zum Streitgegenstand aufweise und verkehrsmäßig äußerst schlecht zu erreichen sei, als gewichtige Indizien für eine Schädigungsabsicht des Antragsstellers.171 Lüttringhaus stellt diesbezüglich und zusammenfassend richtig heraus, dass die Möglichkeit der Gerichtsstandswahl lediglich der möglichst optimalen Verwirklichung der klägerischen Zwecke dienen soll. Die damit naturgemäß einhergehende Benachteiligung des anderen Teils ist hinzunehmen. Ist allerdings die Wahl eines Gerichtsstands ausschließlich oder überwiegend von der Absicht der Schädigung des anderen Teils getragen, fehlt es an einem legitimen Interesse des Klägers bezüglich einer entsprechenden Wahl.172 166 Z.B. OLG Hamm, Urt. v. 18.3.2010, 4 U 223/09, BeckRS 2010, 10797; KG Berlin, Beschl. v. 25.1.2008, 5 W 371/07, GRUR-RR 2008, 212, 213; LG Aurich, Beschl. v. 22.1.2013, 6 O 38/13 (5), MMR 2013, 249; vgl. auch LG Düsseldorf, Urt. v. 7.10.2008, 4a O 94/07, BeckRS 2012, 4047; weitere Nachweise bei Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 44 ff. 167 Vgl. Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 45. 168 S.o., S. 151 ff. 169 Vgl. Schlüter, GRUR-Prax 2014, 272, 272 f. 170 LG Aurich, Beschl. v. 22.1.2013, 6 O 38/13 (5), MMR 2013, 249. 171 LG Aurich, Beschl. v. 22.1.2013, 6 O 38/13 (5), MMR 2013, 249 f. 172 Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 44 ff.; vgl. auch Schlüter, GRUR-Prax 2014, 272, 273 ff. mit Nachweisen zur Instanzrechtsprechung.
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Auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht gilt im Grundsatz die Wahlfreiheit zwischen verschiedenen zur Verfügung stehenden (nicht ausschließlichen) Gerichtsständen.173 Der EuGH erhöht sogar die Möglichkeiten des forum shopping dadurch erheblich, dass er etwa im Bereich des Deliktsgerichtsstands gemäß Art. 7 Nr. 2 EuGVVO mit Entscheidungen wie Mines de Potasse174 sowie eDate und Martinez 175 eine Vervielfältigung von Zuständigkeiten bewirkt hat.176 Diese Tatsache steht jedoch schon in offensichtlichem Konflikt mit der durch den EuGH geforderten engen Auslegung besondere Zuständigkeiten in der EuGVVO177 und der allgemeinen politischen Leitlinie der Union, wonach forum shopping im Binnenmarkt reduziert werden soll.178 Rechtstechnisches Mittel zur Verringerung der Attraktivität von forum shopping war und ist insbesondere die Harmonisierung des Internationalen Privat- und Zivilverfahrensrechts.179 Die Inflation speziell des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO in neuerer Zeit ist in den Mitgliedstaaten verständlicherweise auf Widerstand gestoßen.180 Der EuGH schafft mit seinem liberalen Ansatz also die Voraussetzungen dafür, dass sich ein Verfahrensbeteiligter einer Vielzahl von Gerichtsständen in einer Streitsache bedienen kann. Dies ermöglicht es einem Kläger gerade erst, ein geographisch vom Interessenmittelpunkt der Beteiligten besonders weit abgelegenes Gericht anzurufen. Infolge der Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen eDate und Martinez könnte ein im nördlichsten Teil Finn-
173
Vgl. etwa Althammer, in: GS Korunalp, S. 103, 111; Hausmann, in: unalexKomm, vor Artt. 2-4 EuGVVO Rn. 11; H. Roth, in: Stein/Jonas, § 35 ZPO, Rn. 8; Stadler, in: Musielak, Art. 2 EuGVVO Rn. 1. 174 EuGH, Urt. v. 30.11.1976, Rs. 21/76 (Handelskwekerij G. J. Bier BV ./. Mines de potasse d'Alsace SA), Slg. 1976, 1735. 175 EuGH, Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269. 176 Luginbuehl, European Patent Law, S. 43 ff., allerdings mit anderer Einschätzung auf S. 114; Ferrari, in: Ferrari, Forum Shopping, S. 1, 6; Juenger, RabelsZ 46 (1982), 708, 715; vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6 Rn. 73 mit der Aussage, der EuGH wolle „exzessives forum shopping“ (Hervorhebung im Original) im Rahmen des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. eindämmen. Gerade die Entscheidung in eDate und Martinez zeigt das Gegenteil, vgl. dazu krit. Klöpfer, JA 2013, 165, 169 m.w.N. 177 Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Geimer, in: FS Martiny, S. 711, 731. 178 Ferrari, in: Ferrari, Forum Shopping, S. 1, 2, mit Verweis auf den jeweiligen sechsten Erwägungsgrund von Rom I- und Rom II-VO; aufgrund einer übergeordneten Zielvorgabe im Europäischen Justizraum krit. gegenüber einem zu liberalen Umgang mit forum shopping, Cornut, Fraude à la loi, Rn. 385; ders., Clunet 134 (2007), 27, 29. 179 Grundlegend: Hay/Lando/Rotunda, in: Cappelletti/Seccombe/Weiler, Integration Through Law, S. 161, 163 f. 180 Zur Entscheidung in den verbundenen Rechtssachen eDate und Martinez, vgl. Klöpfer, JA 2013, 165, 169 m.w.N. und mit entsprechender Kritik an der Schaffung völlig beziehungsarmer Erfolgsortzuständigkeiten; ebenfalls krit. hierzu Heinze, EuZW 2011, 947, 948 ff. und Oster, 26 I.R.L.C.T (2012) 113, 117.
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lands wohnhaftes potentielles Verleumdungsopfer den ebenfalls dort ansässigen potentiellen Verletzter bei einer über das Internet verbreiteten möglicherweise ehrverletzenden Äußerung auch im knapp 5.000 Kilometer entfernten Malta verklagen, da hier nach dem EuGH ein Erfolgsort belegen ist.181 Will der Beklagte kein Versäumnisurteil gegen sich ergehen lassen, wird er erhebliche Kosten aufwenden müssen, um sich überhaupt vor Gericht verteidigen zu können. Nutzt der Kläger die mit einem weit entfernten Gerichtsstand verbundenen Vorteile rechtlicher oder tatsächlicher Art für sich aus, liegt hierin aber im Grundsatz und nach dem Verständnis des Gerichtshofs eine legitime Ausübung verfahrensrechtlicher Rechte, wenn keine weiteren besonderen Umstände hinzutreten. Ein solches Verhalten unterfällt insbesondere nicht dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot. Dafür sei hier nur kurz an die Centros-Entscheidung182 des EuGH erinnert, die der Struktur nach freilich eher die sogleich zu besprechende Zuständigkeitserschleichung abbildet, bezüglich der Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt und damit in der Sache aber die richtige Leitlinie vorgibt. Dort erklärte der Gerichtshof die Entscheidung des dänischen Ehepaars, sich die Vorteile des englischen Gesellschaftsrechts für ihre Zwecke zunutze zu machen, für völlig legitim. Unterschiede auf dem Binnenmarkt dürften durch die Unionsbürger gerade in Anspruch genommen werden. Genau dies muss im Grundsatz auch für das forum shopping gelten.183 Damit ist aber zugleich gesagt, dass ein Auswahlverhalten nach dem Verständnis des EuGH von Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt dann nicht mehr akzeptiert werden kann, wenn es dem Auswählenden gar nicht darum geht, die Vorteile der Freizügigkeit in Form einer bestimmten Zuständigkeitsvorschrift in Anspruch zu nehmen, um seine Recht besonders effektiv durchzusetzen. Bezweckt der potentiell Verletzte im obigen Beispiel durch die Klage in Malta lediglich, den Beklagten mit hohen Reise- bzw. Anwaltskosten zu belasten oder ihn aufgrund der Umstände zu einem ungünstigen Vergleich zu nötigen, muss eine derartige Gerichtsstandswahl nach den Grundsätzen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots für unzulässig erklärt werden können. Das passt zur Rechtsprechungslinie des EuGH zu den Grundfreiheiten: In Centros gewährte er dem dänischen Ehepaar den Schutz der Grundfreiheiten nur deshalb, weil sie auf dem Binnenmarkt wirtschaftlich tätig werden wollten.184 Ein schrankenloses Wahlrecht, das missbräuchliches Verhalten trägt, ist folglich auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht nicht gewollt. Dies wird 181
EuGH, Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269, 10320, Nr. 44 182 S.o., S. 103. 183 Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 319, der allerdings ein anderes Verständnis des forum shopping zugrunde legt (s.u., Fn. 223), was für die hier besprochenen Fragen jedoch keinen Unterschied macht. 184 Vgl. oben, S. 103.
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teilweise durch die neuere Rechtsprechung des EuGH bestätigt. So betonte der Gerichtshof in der Rechtssache Purrucker, dass forum shopping zum Nachteil des Kindeswohls im Rahmen der EuEheVO nicht unbeschränkt zulässig sei.185 Im Zusammenhang mit der Frage, ob einstweiligen Maßnahmen im Sinne des Art. 20 EuEheVO die Anerkennungs- und Freizügigkeitsvorteile der Verordnung genießen, führt er aus: „Wie die Regierung des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, würde […] dies die Gefahr einer Umgehung der in dieser Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsvorschriften und eines ‚forum shopping‘ heraufbeschwören, was im Widerspruch zu den mit der Verordnung verfolgten Zielen und insbesondere zur Berücksichtigung des Kindeswohls stünde, die dadurch erfolgt, dass Entscheidungen, die das Kind betreffen, von dem in geografischer Nähe zu dessen gewöhnlichem Aufenthalt gelegenen Gericht erlassen werden, das nach Ansicht des Unionsgesetzgebers die im Interesse des Kindes anzuordnenden Maßnahmen am besten beurteilen kann.“
Selbst wenn der Gerichtshof hier die Phänomene der Gesetzesumgehung und des (missbräuchlichen) forum shopping zu vermischen scheint, zeigt die Passage doch, dass zur Sicherung gewisser höherrangiger Belange eine Einschränkung des Wahlrechts zulässig ist. Andersherum gewendet bestätigt sich hierin die oben aufgestellte These, dass eine durch verfahrensfremde oder im konkreten Fall zu missbilligende Zweck motivierte Auswahlentscheidung keine Bindungswirkung herbeiführen kann. Dies zeigt, dass die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots zur Verhinderung von missbräuchlichem forum shopping so falsch nicht sein kann. Selbst wenn angesichts des liberalen Ansatzes des EuGH bezüglich einer Vervielfältigung von Zuständigkeit und der im Grundsatz unbeschränkten Wahlmöglichkeit des Klägers zwischen mehreren Zuständigkeiten die Missbräuchlichkeit wohl begründet sein will, insbesondere die Wahl eines abgelegenen Gerichts alleine noch nicht ausreichend sein kann, stellt dies die generelle Tauglichkeit des hier gewählten Ansatzes nicht infrage. c) Zuständigkeitserschleichung Deutlich häufiger als das missbräuchliche forum shopping wird die sog. Zuständigkeitserschleichung als Form des Zuständigkeitsmissbrauchs auf nationaler 186 und europäischer 187 Ebene diskutiert. Im Europäischen Zivilverfahrensrecht existiert mit Art. 8 Nr. 2 a.E. EuGVVO sogar eine positiv-rechtliche 185 EuGH, Urt. v. 15.7.2010, Rs. C-256/09 (Bianca Purrucker ./. Guillermo Vallés Pérez), Slg. 2010, I-7353, 7442, Nr. 91. 186 Vgl. oben, Fn. 136. 187 V.a. in Zusammenhang mit Art. 8 Nr. 1 und Nr. 2 EuGVVO, vgl. OGH, Beschl. v. 15.1.2013, 4 Ob 221/12x, GRUR Int. 2013, 569; LG Dortmund, EuGH-Vorlage v. 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int. 2013, 842, 844, Nr. 20; Ionescu, L’abus de droit, S. 219 ff.; Köckert, Die Beteiligung Dritter im Internationalen Zivilverfahrensrecht,
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Schranke für das Erschleichen einer speziellen Zuständigkeit: Bezweckt ein Kläger lediglich, dem Beklagten über den Gerichtsstands der Streitgenossenschaft seinen allgemeinen Gerichtsstands zu entziehen, so ist eine Zuständigkeit nach Art. 8 Nr. 2 EuGVVO zu versagen.188 Im Unterschied zum missbräuchlichen forum shopping wird der Erschleichende häufig nicht die Schädigung des anderen Teils intendieren, sondern nur eine für ihn möglichst günstige Rechtsposition anstreben. Natürlich belastet ein derartiges Verhalten den anderen Teil, da er sich vor einem unter Umständen für ihn ungünstigeren Gericht verteidigen muss, als dies ohne das manipulative Verhalten der Fall gewesen wäre. Denn dem Erschleichenden wird häufig daran gelegen sein, eine vom allgemeinen Gerichtsstand des anderen Teils und folglich der Grundregel des actor sequitur forum rei abweichende Zuständigkeit zu schaffen. Klassische Strategien der Zuständigkeitserschleichung sind etwa: das Verbringen von Vermögen ins Inland, um in den Genuss eines Vermögensgerichtsstands zu gelangen 189 , der Wechsel des Wohnsitzes 190 , der Wechsel des vor allem im internationalen Kindschaftsrecht relevanten gewöhnlichen Aufenthalts191, die Verlegung des vor allem für die Zwecke des Insolvenzrechts relevanten Gesellschaftssitzes 192 bzw. die Verlegung des sog. comi193, das Abtreten einer Forderung an eine Person, die aufgrund einer speziellen persönlichen Eigenschaft einen Klägergerichtsstand in Anspruch
S. 81 ff.; Reuß, Forum Shopping, S. 270 ff.; Winter, Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, S. 56 f., 73 ff.; Althammer, IPRax 2008, 228, 231; ders., in GS Konuralp, S. 103, 119 ff.; Briggs, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 283 ff.; CoesterWaltjen, in: FS Kropholler, S. 747, 747 ff.; Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 33 f.; Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 244; Nuyts, 3 GJA (2003) 1, 11 f.; Sujecki, NJW 2007, 3706; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 426 f.; Würdinger, RIW 2008, 71, 72; ders., ZZPInt 11 (2006), 180, 186 f.; Geimer, in: Zöller, Art. 6 EuGVVO Rn. 2; Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 15 f.; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 6 EuGVVO Rn. 21; Stadler, in: Musielak, Art. 6 EuGVVO Rn. 2a; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 41 ff., 57 f. Auch die Diskussionen rund um die eigentliche Form des forum shopping im US-amerikanischen Recht beziehen sich in der Sache häufig auf Zuständigkeitserschleichungen, vgl. unten, S. 251 f. 188 Vgl. hierzu allgemein G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 57 m.w.N. und unten, S. 321 ff. 189 RG, Urt. v. 7.4.1902, VI 20/02, RGZ 51, 163. 190 Vgl. RG, Urt. v. 3.3.1983, IV 224/37, RGZ 157, 136. 191 Vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 13.6.1989, 1 UF 117/89, FamRZ 1989, 1109, i.E. ablehndend gegenüber einer eigenständigen, über die bloße Auslegung von Tatbestandsmerkmalen und das Institut der perpetuatio fori hinausgehenden Lösung; vgl. auch die Nachweise bei Mitzkus, Internationale Zuständigkeit, S. 237 ff. 192 Vgl. BGH, Beschl. v. 20.3.1996, X ARZ 90/96, BGHZ 132, 195, 197. 193 Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 324 ff. m.w.N.
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nehmen kann194 und die Provokation eines Schadens durch ein Verhalten des späteren Klägers195.196 Konzentriert man sich auf diejenigen Fällen, in denen Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt oder comi gewechselt werden, zeigt sich jedoch schon eines der zentralen Probleme der Zuständigkeitserschleichung: Da Gerichtsstände in der Mehrzahl wandelbar ausgestaltet sind, also bezüglich des Vorliegens ihrer Tatbestandsvoraussetzungen nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt (z.B. Vertragsschluss, Schädigungshandlung197) abstellen, müssen vor Anrufung eines Gerichts vorgenommene Änderungen der Sachlage – z.B. der Wegzug in einen anderen Staat – grundsätzlich als unbedenklich angesehen werden. Mit Blick auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot gelten hier die grundlegenden Ausführungen zum Zweckwidrigkeitskriterium:198 Ist die Veränderung zuständigkeitsrelevanter Anknüpfungsmomente auf eine Wahrnehmung von Freizügigkeiten auf dem Binnenmarkt zurückzuführen, wird man sie schwerlich als künstlich und damit als Bestandteil einer missbräuchlichen Zuständigkeitserschleichung bezeichnen können. Demgegenüber ist eine Änderung der anknüpfungsrelevanten Tatsachen während eines in Gang befindlichen Verfahrens kein Problem der Zuständigkeitserschleichung und nach den Regeln der perpetuatio fori unbeachtlich. Aus dem Gesagten kann aber nicht der Schluss gezogen werden, weil Zuständigkeiten wandelbar ausgestaltet seien, könne ein gezieltes Schaffen von Anknüpfungsmerkmalen nie als unzulässige Zuständigkeitserschleichung eingestuft werden. 199 Vielmehr ergibt sich lediglich eine Regelvermutung für die Unbedenklichkeit bei Veränderungen im Vorfeld eines
194 In Frankreich haben vor allem die Fälle Bedeutung erlangt, in welchen eine Forderung an einen französischen Staatsbürger oder eine französische juristische Person abgetreten wurde, mit dem Ziel, den Klägergerichtsstand des Art. 14 C.C. zu erschleichen, so etwa in dem Urteil der Cour de cassation in Sachen Garrett, vgl. Cass. civ., 24 novembre 1987, Rev. crit. DIP 1988, 364; vgl. hierzu de Vareilles-Sommières, Trav. comité fr. DIP 1998/2000, 49, 54 ff. und Cornut, Fraude à la loi, Nr. 344 ff. Das Gericht verneinte die Zuständigkeit französischer Gerichte, weil die Zession der streitgegenständlichen Forderung an ein französische juristische Person kein anderes Ziel hatte, als „de permettre (au cessionnaire) d’invoquer le privilège de juridiction reconnu aux Français en vertu de l’article 14 du Code civil et de créer ainsi un élément de rattachement artificiel destiné à soustraire le litige relatif au recouvrement de la créance à ses juges naturels, en l’espèce la juridiction américaine.“ 195 Vgl. Cass. civ., 8 juillet 2010, N°08-14.119; vgl. dazu Delpech, D. 2009, 1014 f.; Reinmüller/Bücken, IPRax 2013, 185 ff. Aus der deutschen Rechtsprechung, vgl. BGH, Urt. v. 3.5.1977, VI ZR 24/75, GRUR 1978, 194. 196 Weitere Nachweise bei Riezler, Internationales Zivilprozessrecht, S. 332 ff. 197 So aber z.B. Art. 7 Nr. 1 lit. a, Art. 7 Nr. 2 EuGVVO, §§ 29, 32 ZPO. 198 S.o., S. 152 f. 199 So aber Renger, Restschuldbefreiung, S. 193, allerdings mit Selbstwiderspruch zu S. 195.
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Gerichtsverfahrens. Diese kann aber, das zeigt die Existenz des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots, durchaus entkräftet werden. In der deutschen Diskussion hat insbesondere das Erschleichen des Vermögensgerichtsstands aus § 23 ZPO in der Vergangenheit einige Prominenz erlangt.200 Schon das Reichsgericht hatte sich damit zu beschäftigen, ob ein Kläger, der bewusst eine unzulässige Klage gegen einen im Ausland wohnhaften Kläger erhoben hatte, sich in einem Folgeprozess darauf berufen konnte, der Beklagte besitze nun mit dem gegen ihn gerichteten Kostenerstattungsanspruch Vermögen im Gerichtstaat, was eine Zuständigkeit deutscher Gerichte gemäß § 23 ZPO – im konkreten Fall § 24 CPO von 1877 – zur Folge habe.201 Nicht zu leugnen ist, dass die deutsche Rechtsprechung, von Ausnahmefällen abgesehen, sehr zurückhaltend ist, wenn es um die Zuständigkeitserschleichung als eigenständigen Argumentationstopos geht; Lösungen sucht man in erster Linie über eine zweckmäßige Auslegung von Zuständigkeitsvorschriften. 202 So wurde bei § 23 ZPO versucht, über eine einschränkende Auslegung des Begriffs des Vermögens dem Erschleichen der Zuständigkeit zu begegnen.203 Allgemein löst man diese Fälle heute aber über die Forderung nach einem „hinreichenden Inlandsbezug“ der Streitsache. 204 Dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal wurde zwar vor allem deshalb für die durch § 23 ZPO geschaffene sehr weitreichende Entscheidungskompetenz gefordert, weil sie im internationalen Kontext als exorbitant geächtet wird.205 Das wertungsoffene Kriterium hat aber in jedem Fall schon eine gewisse Filterfunktion, mit der unbillige Ergebnisse durch das Einbeziehen normativer Erwägungen verhindert werden können. Denn feste Leitlinien, was als hinreichender Inlandsbezug anzusehen ist, existieren nicht. Letztlich stützt man sich auf einen „bunten Strauß von Indizien“206. Und so verneint man einen hinreichenden Inlandsbezug etwa, wenn eine Beziehung zum Gerichtsstaat durch den Kläger erst künstlich geschaffen wurde.207 200
Vgl. etwa Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, S. 70 ff. m.w.N.; Baumgärtel, ZZP 69 (1956), 89, 109; ders., ZZP 86 (1973), 353, 362 ff. m.w.N.; Koechel, IPRax 2014, 312; Patzina, in: MüKo-ZPO, § 23 ZPO Rn. 3; H.Roth, in: Stein/Jonas, § 23 ZPO Rn. 33 f. 201 RG, Urt. v. 26.5.1886, I 121/86, RGZ 16, 391 (verneinend); vgl. im Übrigen die Nachweise zu dieser Art der Zuständigkeitserschleichung bei Schack, ZZP 97 (1984), 46, 61. 202 Vgl. Kroholler, in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Band I Kap. III Rn. 177 m.w.N.; Schack, RabelsZ 58 (1994), 41, 43 m.w.N. 203 Oberhammer, in: FS Schlosser, S. 651, ff.; H. Roth, in: Stein/Jonas, § 23 ZPO Rn. 13, 33. 204 Vgl. aus der Rechtsprechung: BGH, Urt. v. 2.7.1991, XI ZR 206/90, BGHZ 115, 90, 94. Aus der Literatur statt vieler Heinrich, in: Musielak, § 23 ZPO Rn. 2 m.w.N. 205 Grundlegend: BGH, Urt. v. 2.7.1991, XI ZR 206/90, BGHZ 115, 90; vgl. darüber hinaus Art. 5 Abs. 2 EuGVVO. 206 Krit. H. Roth, in: Stein/Jonas, § 23 ZPO Rn. 10; ebenso Schack, RabelsZ 59 (1994), 41, 47. 207 So Patzina, in: MüKo-ZPO, § 23 ZPO Rn. 15.
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Dass man Missbrauchsfällen zunächst mit dem Instrumentarium der Auslegung begegnet, entspricht dem gewöhnlichen Umgang mit Fällen der Normerschleichung in der deutschen Methodenlehre, was im Grundlagenteil der Arbeit näher dargestellt wurde.208 In der Literatur trägt man die Zurückhaltung der deutschen Rechtsprechung und die durch sie im Grundsatz bevorzugte Lösungsebene der Auslegung mit. Dennoch scheint man in Schrifttum 209 und Rechtsprechung210 die Hintertür der Zuständigkeitserschleichung als eigenem Argumentationstopos nicht zustoßen zu wollen. Damit ist in erster Linie eine Anwendung des Rechtsmissbrauchsverbots aus § 242 BGB gemeint, wenn eine Reduzierung des Anwendungsbereichs der Zuständigkeitsnorm über eine teleologische Auslegung kein sinnvolles Ergebnis liefert. Auch der EuGH und der Unionsgesetzgeber stehen dem Erschleichen von Zuständigkeiten nicht völlig gleichgültig gegenüber. Im Unterschied zur deutschen Rechtslage existiert mit dem schon angesprochenen Missbrauchsvorbehalt in Art. 8 Nr. 2 EuGVVO a.E. sogar ein positiv-rechtlicher Hinweis darauf, dass das Erschleichen einer Zuständigkeit im Europäischen Zivilverfahrensrecht nicht hingenommen wird. Der Missbrauchsvorbehalt der Vorschrift (‚es sei denn…‘) bezieht sich zwar auf den ersten Blick nur auf den äußerst speziellen Fall einer Gewährleistungs- oder Interventionsklage, die beispielsweise im deutschen Recht gar nicht existiert.211 Warum der darin zum Ausdruck kommende Gedanke aber nicht auch auf andere Zuständigkeitsvorschriften übertragen werden können soll, ist schwer zu begründen. Denn letztlich drückt der Missbrauchsvorbehalt nur einen allgemeinen Gedanken aus, wonach eine Zuständigkeitsbegründung ohne legitime (verfahrensrechtliche) Motive nicht hingenommen werden kann.212 Dabei geht es nicht so sehr um eine Übertragung 208
S.o., S. 65. Kroholler, in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Band I Kap. III Rn. 178: „Die Zurückhaltung der Praxis erscheint berechtigt […]. Außer bei ungewöhnlichen Umständen, die ein arglistiges Verhalten nahelegen, ist die internationale Zuständigkeit also begründet, wenn das Anknüpfungsmoment tatsächlich gegeben ist […].“ Schack, RablesZ 58 (1994), 41, 43: „Extremfälle“; ders., ZZP 97 (1984), 46, 61. Im Übrigen für eine Korrektur des § 23 ZPO in Fällen der Zuständigkeitserschleichung außerhalb des Wirkungsbereichs der Auslegung, Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 36 Rn. 5; Heinrich, in: Musielak, § 23 ZPO Rn. 15 f.; Patzina, in: MüKo-ZPO, § 23 ZPO Rn. 3; H. Roth, in: Stein/Jonas, § 23 ZPO Rn. 33. 210 Vgl. KG Berlin, Beschl. v. 25.7.2011, 25 W 33/11, ZIP 2011, 1566 (gewerbsmäßige Firmenbestattung). 211 Vgl. Art. 65 Abs. 2 EuGVVO. 212 Für Allgemeingültigkeit des im Missbrauchsvorbehalt aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO zum Ausdruck kommenden Gedankens für alle Zuständigkeiten der Verordnung sprechen sich deshalb z.B. aus: de Vareilles-Sommières, Trav.comité fr. DIP 1998/2000, 49, 60 m.w.N.; Grothe, in: FS Kerameus, S. 469, 478 m.w.N.; Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 33 f.; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 447; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 23. 209
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der Passage aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO a.E., beispielsweise im Wege der Analogie213, sondern vielmehr darum, dass dieser Vorbehalt eine gewisse Zugänglichkeit des Europäischen Zivilverfahrensrechts für Fragen der Verhinderung von Zuständigkeitserschleichungen anzeigt214. Denn die Entziehung des allgemeinen Gerichtsstands ist nur ein mögliches Motiv des Klägers, welches das Schaffen einer Zuständigkeit als missbräuchlich erscheinen lassen kann.215 In der Vergangenheit hat man sich demgegenüber hauptsächlich mit einer direkten Übertragung des Missbrauchsvorbehalts auf die Vorschrift des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO befasst, was an andere Stelle noch ausführlich diskutiert werden soll.216 Neben diesem klaren gesetzgeberischen Hinweis wird ebenfalls aus Entscheidungen des EuGH geschlossen, dass das Erschleichen einer Zuständigkeit im Europäischen Zivilverfahrensrecht nicht zulässig sein kann. Dabei handelt es sich zum einen um Entscheidungen, welche Art. 8 Nr. 1 EuGVVO zum Gegenstand hatten, die, wie angesprochen, zu einem späteren Zeitpunkt näher untersucht werden sollen. Daneben existiert aber mit der Entscheidung in der Rechtssache MSG217 ein relativ klarer Hinweis, dass der Gerichtshof eine Korrektur von Zuständigkeitsvorschriften über Missbrauchserwägungen zulässt. Der EuGH schob in besagter Entscheidung der Praxis einen Riegel vor, durch abstrakte, nicht mit der Vertragswirklichkeit übereinstimmenden Erfüllungsortvereinbarungen, die Zuständigkeit des Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ (= Art. 7 Nr. 1 EuGVVO) festzulegen. Er stützte sich dabei auf den Wortlaut der Vorschrift, begründete dies aber darüber hinaus218 auch mit dem Gedanken der Umgehung: Würde man abstrakte Erfüllungsortvereinbarungen zulassen, würde dies zu einer Umgehung der Vorschriften über Gerichtsstandsvereinbarungen führen. Über eine Prorogation sei es gerade möglich, ein Gericht zu vereinbaren, dass nicht in Zusammenhang mit dem streitigen Rechtsverhältnis stünde. Erfüllungsortvereinbarungen im Rahmen des Art. 5 Nr. 1 EuGVÜ müssten demgegenüber einer Verbindung zur Vertragswirklichkeit haben, dürften nicht bloß fiktiv sein und mit dem alleinigen Ziel vereinbart werden, einen so nicht existierenden Gerichtsstand festzulegen. 219 Auch wenn der 213 Dies etwa mangels Vorliegens einer Regelungslücke ablehnend Althammer, IPRax 2008, 228, 231. 214 Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 244; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 428. 215 S.o., S. 238 f. 216 S.u., S. 324 ff. 217 EuGH, Urt. v. 20.2.1997, Rs. C-106/95 (Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL), Slg. 1997, I-911. 218 Vgl. EuGH, Urt. v. 20.2.1997, Rs. C-106/95 (Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL), Slg. 1997, I-911, 944, Nr. 34: „auch.“ 219 EuGH, Urt. v. 20.2.1997, Rs. C-106/95 (Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL), Slg. 1997, I-911, 944, Nr. 32 ff.
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EuGH hier nicht auf seine Rechtsprechungslinie verwies, mit der er das unionsrechtliche Missbrauchsverbot in anderen Bereichen des Unionsrechts geschaffen hatte, liegen seine Ausführungen in MSG doch auf Linie mit dessen Vorgaben: Die Zweckwidrigkeit ist in der fehlenden Verbindung von Rechtsstreit und anvisiertem Gerichtsstand gegeben – keine Sach- und/oder Beweisnähe als zentraler Rechtfertigungsgrund des Gerichtsstands 220. Die Absicht, sich einen unionsrechtlichen Vorteil zu erschleichen, wird durch die Künstlichkeit der Konstruktion indiziert.221 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich Gesetzgeber und EuGH gegenüber Fragen der Zuständigkeitserschleichung klar positioniert haben. Werden Zuständigkeiten künstlich geschaffen, beispielsweise mit dem Ziel, zwingende Bestimmungen des Unionsrechts zu umgehen oder einem Beklagten seinen allgemeinen Gerichtsstand zu entziehen, muss geprüft werden, ob eine derartige Zuständigkeit nicht auf Grundlage des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots verneint werden muss. d) Fehlende Präzision in der gebräuchlichen Abgrenzung beider Phänomene Auf nationaler Ebene wird nicht trennscharf zwischen Zuständigkeitserschleichung, einer unbedenklichen Ausübung des Wahlrechts hinsichtlich mehrerer alternativ verfügbaren Zuständigkeiten (= forum shopping) und Fällen missbräuchlichen forum shoppings unterschieden. Das Gleiche gilt für das Europäische Zivilverfahrensrecht. Ein Grund hierfür ist sicherlich die fehlende sprachliche Präzision des Unionsgesetzgebers, die durch das Schrifttum rezipiert wird: So bezeichnet die EuInsVO in ihrem vierten Erwägungsgrund die Verlagerung von Vermögensgegenständen oder Rechtsstreitigkeiten in einen anderen Mitgliedstaat und die damit zusammenhängende Zuständigkeitsbegründung als forum shopping.222 Präziser wäre es gewesen, hier von einer Zuständigkeitserschleichung zu sprechen, da eine an sich nicht gegebene Zustän-
220
EuGH, Urt. v. 17.1.1980, Rs. 56/79 (Siegfried Zelger ./. Sebastiano Salinitri), Slg. 1980, 89, 96, Nr. 3. Über die Tauglichkeit dieses Ansatzes lässt sich freilich in besonderen Situationen streiten, krit. deshalb Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 5 EuGVVO Rn. 8. 221 Auf dieser Linie auch Reuß, Forum Shopping, S. 275; Cuniberti, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 279, 283; Metzger, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 235, 245; Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55, 66; unklar Meyer, Forum Shopping, S. 138 ff.; ebenfalls Ionescu, L’abus de droit, S. 222. 222 „Im Interesse eines ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarktes muss verhindert werden, dass es für die Parteien vorteilhafter ist, Vermögensgegenstände oder Rechtsstreitigkeiten von einem Mitgliedstaat in einen anderen zu verlagern, um auf diese Weise eine verbesserte Rechtsstellung anzustreben (sog. ‚forum shopping‘).“
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digkeit durch das Verbringen von Vermögen ins Ausland gerade erst geschaffen werden soll.223 Bloßes forum shopping, die Wahl unter mehreren bestehenden Gerichtsständen als Folge der Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt, sollte hiermit offensichtlich nicht adressiert werden. Zum einen, weil es keinen Grund gäbe, dass im insolvenzrechtlichen Kontext die Wahl zwischen mehreren durch die Verordnung selbst zugelassenen Zuständigkeiten in aller Regel zu missbilligen wäre und zum anderen, weil die EuInsVO tatsächlich eine Parallelität von Zuständigkeiten gerade nicht favorisiert, eine Wahl zwischen mehreren existierenden Zuständigkeiten (= forum shopping) in der Sache schon gar nicht möglich ist.224 Dass hier zwei nach kontinentaleuropäischem Verständnis unterschiedliche Phänomene miteinander vermischt werden, liegt wohl an der unkritischen Übernahme des Begriffs des forum shopping aus dem US-amerikanischen Zivilverfahrensrecht und dem darauf bezogenen Schrifttum, das seinerseits nicht die gewünschte Präzision aufweist – ein Umstand, der, soweit ersichtlich, noch keine Beachtung im europäischen rechtswissenschaftlichen Schrifttum gefunden hat. Dabei ist das US-amerikanische Zuständigkeitsrecht von einer völlig anderen Struktur als das unionsrechtliche: In der US-amerikanischen Diskussion erfasst der Begriff des forum shopping traditionellerweise jedenfalls auch das Schaffen möglichst vorteilhafter Zuständigkeiten durch ein Klägerverhalten.225 Der Grund hierfür liegt in den sehr weitreichenden Möglichkeiten eines Klägers im US-amerikanischen Recht, etwa durch Zustellung an den Beklagten personal jurisdiction 226 zu begründen. Dabei ist es unerheblich, ob der Be-
223
Ebenso Heneweer, Forum shopping, S. 19 f.; Haubold, IPRax 2003, 34, 36; Knof/Mock, ZInsO 2008, 253, 254; Rotstegge, ZIP 2008, 955, 958; für eine Einbeziehung der Zuständigkeitserschleichung in den Begriff des forum shopping – alle mit speziell insolvenzrechtlichem Hintergrund – Reuß, Forum Shopping, S. 6 f.; Klöhn, KTS 2006, 259, 260; Verhoeven, ZInsO 2013, 2369, 2371; undurchsichtig Mäsch, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 3 EG-InsVO Rn. 31, insbesondere Fn. 67 m.w.N.: Bei einer Verlagerung des sog. comi kurz vor Antragsstellung mit dem Ziel, ein günstigeres Insolvenzstatut zur Anwendung zu bringen, spricht Mäsch von einem „unerwünschten forum shopping“, das „unter dem Gesichtspunkt der Gesetzesumgehung als rechtsmissbräuchlich“ einzustufen sei. In der Fußnote wird dann der Begriff der Zuständigkeitserschleichung verwandt. Ein besonders absurdes Beispiel verfehlter Terminologie liefert das LG Leipzig, Urt. v. 27.2.2006, 12 T 1207/05, ZInsO 2006, 378, Orientierungssatz 1, wo die vorgetäuschte Sitzverlegung (also eine bloße Simulation von Tatbestandsvoraussetzungen!) als forum shopping bezeichnet wird. Unklar auch Ferrari, in: Ferrari, Forum Shopping, S. 1, 15. 224 Heneweer, Forum shopping, S. 19.225 Juenger, 63 Tul.L.Rev (1989) 553, 554. 225 Juenger, 63 Tul.L.Rev (1989) 553, 554. 226 Vgl. Kleinstück, Due Process, S. 6; zu Einschränkungen der gerichtlichen Zuständigkeit durch den US-amerikanischen Supreme Court in neuerer Zeit aber Metz, IPRax 2014, 365 ff.
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klagte irgendeine sonstige Verbindung in den Gerichtsstaat besitzt, beispielsweise dort wohnhaft ist.227 So wurde es im Sinne der sog. transient rule228 für ausreichend erachtet, dass einem Beklagten die gerichtliche Ladung zugestellt wurde, als er sich in einem Passagierflugzeug im Überflug über den Gerichtsstaat befand.229 Die Beliebigkeit der so erzielten Ergebnisse liegt auf der Hand und so ist es verständlich, warum eine völlig freie Zuständigkeitsbegründung auf Widerstand stoßen musste und grenzenloses ‚Auswahlverhalten‘ kritisch diskutiert wurde.230 Da an das Schaffen der Tatbestandsvoraussetzungen gewisser Zuständigkeitsnormen grundsätzlich keine Anforderungen gestellt werden, die sich außerhalb des Einflussbereichs des Klägers befinden, stehen diesem theoretisch in einer Vielzahl von Staaten Gerichtsstände ohne weiteres ‚zur Wahl‘. Ein Großteil der Bestrebungen zur Verhinderung von forum shopping in den USA ist damit tatsächlich auf die Verhinderung von Zuständigkeitserschleichungen nach deutschem Verständnis – missbräuchlich erscheinende Zuständigkeitsbegründungen – gerichtet. In der kontinentaleuropäischen Literatur231 und in Entscheidungen des EuGH232 zum Europäischen Zivilverfahrensrecht scheint man sich dessen nicht immer bewusst zu sein und vermengt in Anlehnung an die Terminologie der EuInsVO zwei unterschiedliche Sachprobleme miteinander: Fragen der Zuständigkeitserschleichung werden dem Begriff des forum shopping zugeschlagen und in der Folge das forum shopping undifferenziert kritisch diskutiert.233
227
Vgl. z.B. Smith v. Gibson, 83 Ala. 284, 3 So. 321 (1887): Zustellung einer gerichtlichen Ladung durch Sheriff begründet Zuständigkeit, allerings schon dort mit dem Vorbehalt verbunden, dass dies nicht gelte, wenn der Kläger den Beklagten missbräuchlich unter einem Vorwand in den Gerichtsstaat gelockt habe („fraudulent inducement to come“). 228 Ausführlich Ehrenzweig, 65 Yale L.J. (1956) 289 ff. 229 Grace v. MacArthur, 170 F.Supp. 442, 447 (E.D. Ark. 1959). 230 Vgl. Dodd, 23 Ill.L.Rev. (1929) 427, 438; Ehrenzweig, 65 Yale L.J. (1956) 289 ff. Zu Möglichkeiten der Einschränkung aufgrund von due process und minimum contacts, Köster, Forum shopping, S. 37 ff. 231 Z.B. Jasper, Forum Shopping, S. 17 (freilich vor dem Hintergrund entsprechender Definitionsversuche im englischen Schrifttum); Meyer, Forum Shopping, S. 18 f., 156; Schütze, Rechtsverfolgung im Ausland, Rn. 102 ff.; Mäsch, IPRax 2005, 509, 513 (allerdings mit anderslautender Feststellung am Ende der Seite); Proksch, in: FS Brogyányi, S. 397, 399; Prütting, in: Cross Border Treatment, S. 37, 51; Schwartze, in: FS von Hoffmann, S. 415, 417 Fn. 17; de Vareilles-Sommières, Trav. comité fr. DIP 1998/2000, 49, 60; unklar die folgenden Autoren: Beck, ZVI 2011, 355, 365; Kropholler, in: FS Firsching, S. 165, 166; Simons, in: unalexKomm, vor. Artt. 27-30 EuGVVO Rn. 36 f.; vgl. auch die Nachweise bei Cornut, Clunet 134 (2007), 27, 32 zur französischen Lehre. 232 Zu Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F.: EuGH, Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-539/03 (Roche Nederland BV u. a. ./. Frederick Primus und Milton Goldenberg), Slg. 2006, I-6535, 6582, Nr. 38. 233 Vgl. die Nachweise bei Köster, Forum Shopping, S. 21 f.
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Man könnte an dem Nutzen einer Unterscheidung zwischen beiden Kategorien missbräuchlichen Verhaltens zweifeln. Denn nach dem Konzept vorliegender Arbeit soll zur Missbrauchsverhinderung das unionsrechtliche Missbrauchsverbot zur Anwendung gebracht werden, das nicht zwischen Erschleichen und missbräuchlicher Rechtsausübung trennt. Es ist dennoch angezeigt, Zuständigkeitserschleichung und missbräuchliches forum shopping als eigenständige Probleme zu benennen und zu behandeln, was mehrere Gründe hat:234 Erstens wurde an andere Stelle bereits aufgezeigt wurde, dass der Stellenwert der Missbrauchsabsicht oder des Zweckwidrigkeitskriteriums im Rahmen der Prüfung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots von der jeweiligen Fallgruppe missbräuchlichen Handelns abhängt.235 Zwar gilt auch auf europäischer Ebene, dass die Zuordnung zu einer bestimmten Fallgruppe im Rahmen des generalklauselartigen Missbrauchsverbots nicht von der Pflicht entbindet, die Besonderheiten des Einzelfalls nachzuvollziehen.236 Der ‚rechtstheoretischen Präzisierung‘ ist eine saubere Zuordnung aber allemal dienlich. 237 Zweitens und entscheidend wird über eine Vermengung von Zuständigkeitserschleichung und missbräuchlichem forum shopping die an sich zulässige Wahl eines Gerichtsstandes (= forum shopping) ohne Grund mit dem Verdikt der Anrüchigkeit versehen.238 Die Wahl unter mehreren besonderen Zuständigkeiten im Europäischen Zivilverfahrensrecht ist in aller Regel völlig unbedenklich; das europäische Zuständigkeitsrecht unterscheidet sich in seiner Struktur vom USamerikanischen, dem der Begriff des forum shopping entnommen wurde, eklatant. Die klare Unterscheidung zwischen der Wahl und dem Schaffen von Zuständigkeiten ist notwendig, da alles andere den Blick auf die verschiedenen Varianten zulässigen und unzulässigen Verhaltens bezüglich der Wahl bzw. des Schaffens eines Gerichtsstandes verstellt: zulässiges forum shopping, unzulässiges, weil missbräuchliches forum shopping, zulässiges Verändern anknüpfungsrelevanter Tatsachen und das unzulässige Erschleichen einer Zuständigkeit.239 234 Vgl. dazu auch Huber, Forum non conveniens, S. 147; Ionescu, L’abus de droit, S. 218; Luginbuehl, European Patent Law, S. 42; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 251; Althammer, in: GS Konuralp, S. 103, 107; Haubold, IPRax 2003, 34, 36, Koch, The Geneva Papers 31 (2006), 293, 294; Kropholler, in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd I Kap. III Rn. 176 ff.; Vischer, in: Mélanges en l’honneur d’Alfred E. Overbeck, S. 349, 353 f. 235 S. oben, S. 151 ff. und S. 162 ff. 236 S. oben, S. 38. 237 Vgl. Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 5 ff. 238 Vgl. z.B. Heneweer, Forum shopping, S. 19; Luginbuehl, European Patent Law, S. 45; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 425. 239 So .E. auch Ionescu, L’abus de droit, S. 218; vgl. auch Benecke, Gesetzesumgehung, S. 325; Ferrari, in: Ferrari, Forum Shopping, S. 1, 13; Kropholler, in: FS Firsching, S. 165, 166 (wenn auch nicht ganz trennscharf); Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 30; G. Roth,
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4. Kontextbezogene Aktualisierung des Vorhersehbarkeitsarguments Die vorstehenden Ausführungen haben verdeutlicht, dass der Grundsatz der Vorhersehbarkeit von Gerichtsständen im Europäischen Zivilverfahrensrecht keine bedingungslose Durchsetzung erfährt. Die genannten Entscheidungen des EuGH sowie die Regelung des Art. 8 Nr. 2 EuGVVO zeigen, dass in gewissen Fällen Anpassungen zulässig und nötig sein können. Zwar sind Zuständigkeitsregeln nach kontinentaleuropäischem Verständnis durch eine abstrakte Typisierung des gewöhnlichen Falls gekennzeichnet und wollen so vor allem Rechtssicherheit für die Adressaten erzeugen. 240 Dennoch muss es möglich sein, diese abstrakt garantierte Vorhersehbarkeit daraufhin zu überprüfen, ob sie einem Rechtsschutzsuchenden im konkreten Fall sinnvollerweise zugestanden werden kann. Dabei geht es nicht um die generelle Überprüfung von Zuständigkeitsnormen mit dem Ziel, die Verwirklichung der sie legitimierenden Zwecke – etwa Sach- und Beweisnähe und der Schutz bestimmter Personengruppen– im Einzelfall und unabhängig von Anzeichen eines Zuständigkeitsmissbrauchs nachzuvollziehen, sondern um offensichtliche Fälle. Diese Möglichkeit ergibt sich genau genommen schon aus der Handte-Entscheidung des EuGH selbst, in der er die Leitlinien für den Umgang mit dem Vorhersehbarkeitsargument vorgibt.241 Dort hatte er ausgeführt, es sei erforderlich dass „ein normal informierter Beklagter vernünftigerweise vorhersehen kann, vor welchem anderen Gericht als dem des Staates, in dem er seinen Wohnsitz hat, er verklagt werden könnte.“ Der formulierte Maßstab gilt wie gesagt auch für die Erwartungen des Klägers.242 Über die normativen Elemente der Vernünftigkeit und der normalen Informiertheit lässt sich begründen, warum der Kläger in Fällen des Zuständigkeitsmissbrauchs den Schutz des Grundsatzes nicht verdient: Missbräuchliches Handeln kann schlicht nicht als ‚vernünftig‘ in diesem Sinne bezeichnet werden und stellt ebenfalls kein ‚normales‘ Klägerverhalten dar. Indem der Kläger eine Zuständigkeit im Sinne des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots missbräuchlich verschiebt oder auswählt, disponiert er über den ihm durch den Grundsatz der Vorhersehbarkeit zugedachten Schutz. Beruft er sich darauf, er habe nicht vorhersehen können, dass man den durch ihn gewählten/geschaffenen Gerichtsstand nicht gewähren
IPRax 1984, 1183, 184; Würdinger, ZZPInt 12 (2007), 221, 228; OLG Hamburg, Urt. v. 6.12.2008, 5 U 67/06, NJW 2006, 763, 763: „rechtsmissbräuchliches ‚forum shopping‘.“ 240 Vgl. Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 205; Schröder, Internationale Zuständigkeit, S. 487. 241 EuGH, Urt. v. 17.6.1992, Rs. C-26/91 (Jakob Handte & Co. GmbH ./. Traitements mécano-chimiques des surfaces SA), Slg. 1992, I- 3967, 3995, Nr. 18. 242 S.o., S. 235.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
würde, handelt er widersprüchlich. 243 Eine ähnliche Argumentationsstruktur findet sich in der deutschen Diskussion zur Zuständigkeitserschleichung durch Provokation eines Schadens im Recht des gewerblichen Rechtsschutzes und in einzelnen Entscheidungen des EuGH zum Zuständigkeitsrecht.244 Der Grundsatz der Vorhersehbarkeit von Gerichtsständen steht in Fällen des Zuständigkeitsmissbrauchs also schon tatbestandlich nicht in Konflikt mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot. 5. Ablehnung der forum non conveniens-Lehre durch den EuGH als Argument gegen die Anwendung des Missbrauchsverbots? Gegen die Möglichkeit, Zuständigkeitsmissbrauch zu verhindern, wird teilweise die Entscheidung des Gerichtshofs in Owusu angeführt, in welcher er es einem englischen Gericht nicht gestattete, seine nach dem EuGVÜ bestehende Zuständigkeit aufgrund von forum non conveniens-Erwägungen abzulehnen.245 Im Rechtskreis des Common Law dient diese dem schottischen Recht entlehnte Doktrin dazu, die eigentlich gegebene Entscheidungszuständigkeit in einem Rechtsstreit deshalb abzulehnen, weil nach der Überzeugung des angerufenen Gerichts ein anderes ebenfalls zuständiges Gericht für eine Entscheidung besser geeignet (more appropriate) ist. 246 Im englischen Common Law hat die Lehre ihre wesentliche Präzisierung mit der Entscheidung des House of Lords in Sachen Spiliada247 erhalten. Die Befugnis zur nachträglichen Verschiebung der Entscheidungskompetenz durch Gerichte des Common Law hängt bekanntlich mit deren generell recht weiten Entscheidungszuständigkeit und deren flexibler Handhabe von Zuständigkeiten zusammen.248 Vergleichbar mit dem USamerikanischen Recht reichen schon minimale Kontakte zum Forumstaat aus,
243
Althammer, in: GS Konuralp, S. 103, 125; zu dem Gedanken der Disposition des missbräuchlich Handelnden über den Grundsatz der Rechtssicherheit im steuerrechtlichen Anwendungsfeld des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots, vgl. Weber, 53 ET (2013) 251, 257. 244 Vgl. unten, S. 336 ff. und S. 343. 245 EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383. 246 Clarke, 18 E.B.L.R. (2007) 101, 103 f.; Kropholler, in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. I Kap. III Rn. 204 ff.; Hausmann, in: unalexKomm, vor Artt. 2-4 EuGVVO Rn. 26 ff. Ausführlich: Dorsel, Forum non conveniens, passim; Huber, Forum non conveniens, passim; König, Forum non conveniens, passim. Vgl. auch die Schlussanträge des GA Léger v.14.12.2004, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1392, Nr. 23 ff. 247 Spiliada Maritime Corp v Cansulex Ltd [1987] AC 460. 248 Kropholler, in: Handbuch des Internationalen Zivilverfahrensrechts, Bd. I Kap. III Rn. 208; Vischer, in: Mélanges en l’honneur d‘Alfred E. Overbeck, S. 349, 363.
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253
damit sich englische Gerichte für zuständig erachten. Demnach stellt die Möglichkeit, seine Zuständigkeit aufgrund von forum non conveniens-Erwägungen zu verneinen, ein notwendiges Korrektiv dieses Zuständigkeitssystems dar.249 Der EuGH begründete seine ablehnende Entscheidung in Owusu damit, dass eine Einrede aufgrund von forum non conveniens-Erwägungen durch die Verfasser des EuGVÜ nicht vorgesehen war.250 Zudem weist er auf die Gefahr uneinheitlicher Anwendung und die Schmälerung des Rechtsschutzes für in der Gemeinschaft ansässige Rechtsschutzsuchende hin, wenn Gerichte eine an sich durch die Regeln des EuGVÜ festgelegte Zuständigkeit nachträglich verneinen dürften.251 Man könnte daran denken, die ablehnende Haltung des EuGH gegenüber forum non conveniens-Erwägungen in der EuGVVO deshalb als Argument gegen die Möglichkeit der Verhinderung von Zuständigkeitsmissbrauch anzuführen. Denn wie die Verweisung an ein besser geeignetes Gericht nach den Grundsätzen des forum non conveniens wirkt auch die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots auf das Zuständigkeitssystem der EuGVVO ein und gerät vordergründig in Konflikt mit dem Ziel, voraussehbare Zuständigkeiten festzulegen.252 Des Weiteren löst das Common Law selbst mit den Mitteln der forum non conveniens-Lehre gerade auch Fälle, in denen eine Person eine bestimmte gerichtliche Zuständigkeit missbräuchlich in Anspruch nimmt. 253 Die Verbindung der beiden Streitfragen erscheint demnach angezeigt. a) Gefahr uneinheitlicher Anwendung und effet utile Es ist allerdings nicht überzeugend, aus der Ablehnung der forum non conveniens-Doktrin im Europäischen Zivilverfahrensrecht durch den EuGH darauf zu schließen, hiermit sei unweigerlich auch die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ausgeschlossen. Dies hat mehrere Gründe: Zum einen ist die Entscheidung des Gerichtshofs von den (vermeintlichen254) Besonderheiten der forum non conveniens-Doktrin und der Angst davor motiviert, dass der effet utile des Unionsrechtes durch eine mitgliedstaatliche Rechtsfigur 249
Koch, The Geneva Papers 31 (2006), 293, 296. EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1459 f., Nr. 37. 251 EuGH, a.a.O., 1460 ff., Nr. 38 ff. 252 Briggs, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 261, 269. In diese Richtung G. Wagner, in: Stein/Jonas, Einleitung vor Art. 2 EuGVVO Rn. 42 und Art. 27 EuGVVO Rn. 47. Vgl. auch de Vareilles-Sommières, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 101, 102. 253 Vgl. König, Forum non conveniens, S. 99; Riezler, Internationales Zivilprozessrecht, S. 337; Koch, The Geneva Papers 31 (2006), 293, 301; Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 32; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 430. 254 Dazu sogleich. 250
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
untergraben wird. Eine generelle Ablehnung von Einzelfallgerechtigkeit bzw. einer praxisorientierten Anwendung des Zuständigkeitsrechts kann hieraus nicht abgeleitet werden. Was die Besonderheiten der forum non conveniensDoktrin angeht, so ist diese nach Ansicht des EuGH von einem gewissen Moment der Unbestimmtheit geprägt. Selbst wenn die Frage, ob das alternative Forum geeigneter ist, im Common Law nach klar strukturierten Kriterien zu erfolgen hat,255 gesteht man dem jeweiligen Richter doch einen relativ weiten Ermessensspielraum zu.256 Der eigentliche Grund für die Entscheidung des Gerichtshofs in Owusu ist allerdings relativ trivial, doch er sollte nicht übersehen werden: Die forum non conveniens-Doktrin ist nationales Verfahrensrecht. Dessen Anwendung darf naturgemäß die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts, dessen Anwendungsvorrang und einheitliche Anwendung nicht beeinträchtigen. 257 Wie Nr. 37 der Entscheidung zeigt, ging es dem Gerichtshof lediglich um die Vereinbarkeit einer ausschließlich in einem nationalen Verfahrensrecht vorgesehenen Abweichungsbefugnis mit dem System des EuGVÜ, was auch durch den Verweis auf den Schlosser-Bericht zum Beitritts-Übereinkommen von 1978258 und Nr. 43 der Entscheidung259 gestützt wird. Die Vorbehalte des EuGH gegenüber nationalen Instrumenten, die eine Nichtanwendung oder eine modifizierende Anwendung von Unionsrecht zur Folge haben, sind aber berechtigterweise groß.260 In neuerer Zeit hat dies jedoch in Teilen hysterische Züge angenommen.261 255
Dickinson, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 115, 126. Koch, The Geneva Papers 31 (2006), 301; Schlussanträge des GA Léger v.14.12.2004, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1394, Nr. 31; a.A. Dickinson, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 115, 129. 257 Hess, IPRax 2006, 348, 358. 258 Schlosser-Bericht, S. 97, Nr. 78, wo Schlosser referiert, die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft hätte sich gegen eine Zulassung „derartiger Möglichkeiten“ (Hervorhebung im Original) entschieden, womit auf die Darstellung der forum non conveniens-Doktrin als Befugnis gewisser mitgliedstaatlicher Gerichte in Nr. 77 ff. verwiesen ist. 259 Dort weist der Gerichtshof auf die Gefahr uneinheitlicher Anwendung hin, da die forum non conveniens-Lehre nicht in allen Vertragsstaaten existiere. 260 So z.B. in EuGH, Urt. v. 15.5.1990, Rs. C-365/88 (Kongress Agentur Hagen GmbH ./. Zeehaghe BV), Slg. 1990, I-1845, 1866, Nr. 20. Dieselben Vorbehalte liegen auch dem Verbot sog. anti-suit injunctions durch den EuGH in Turner zugrunde, vgl. Layton, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 91, 95 und Illmer/Naumann, IHR 2007, 64, 67. 261 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.5.2013, Rs. C-228/11 (Melzer ./. MF Global UK Ltd.), EuZW 2013, 544, 545, Nr. 32-34. Das LG Düsseldorf, EuGH-Vorlage v. 29.4.2011, 15 O 601/09, RIW 2011, 810 hatte danach gefragt, ob im Rahmen des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. (= Art.7 Nr. 2 EuGVVO) eine wechselseitige Handlungsortzurechnung möglich sei. Der ‚Fehler‘ des Vorlagegerichts war, dass es auf die deutsche Entscheidungspraxis zu § 32 ZPO und § 830 BGB verwies (a.a.O., Nr. 32) und ausführte, dass unter Umständen eine wechselseitige Handlungsortzurechnung möglich sei. Anstatt einen eigenen Ansatz zu entwickeln, 256
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255
Dass es dem EuGH in der Sache nur darum gegangen sein kann, zeigt sich auch daran, dass er die Ablehnung von forum non conveniens-Erwägungen vor allem damit begründet, dem Beklagten sei es andernfalls gar nicht möglich, das Gericht vorherzusehen, vor dem er sich verteidigen müsse.262 Bedauerlicherweise stimmt dies in der Sache nur nicht, da die Einwendung des forum non conveniens durch den Beklagten selbst geltend gemacht werden muss, das Gericht kann dies nicht von Amts wegen. Es bestand in Wirklichkeit gar keine Gefahr, dass sich die forum non conveniens-Lehre zum Nachteil des Beklagten ausgewirkt hätte, weil er nicht mehr in der Lage gewesen wäre, das zuständige Gericht zu identifizieren.263 Die Lehre des forum non conveniens dient in Wirklichkeit dem Beklagtenschutz und damit gerade einem Umstand, auf den der EuGH sich in seiner Argumentation gestützt hat.264 Die Vorbehalte des EuGH sind also in Wirklichkeit darauf zurückzuführen, dass nationales Recht die praktische Wirksamkeit, die einheitliche Auslegung und den Vorrang des Unionsrechts ausgehebelt hätte.265 Wird allerdings eine Vorschrift des Unionsrechts deshalb nicht angewandt, weil ein übergeordnetes unionsrechtliches Prinzip dies legitimiert, gerät die Nichtanwendung zumindest nicht in Konflikt mit den Ausführungen des EuGH in Owusu. So hatte der Gerichtshof es dort ausdrücklich nicht ausgeschlossen, dass forum non conveniens-Erwägungen aus in der EuGVVO selbst angelegten Gründen zum Einsatz kommen könnten.266 Insgesamt steht die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Verbot des forum non conveniens somit einer Anwendung des unions-
konstruierte der EuGH an die Vorlage-Begründung des LG anknüpfend die Gefahr, dass nationale Gerichte im Rahmen des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. nationales Recht zur Bestimmung des notwendigen Zurechnungszusammenhangs anwenden würden, vgl. R. Wagner, EuZW 2013, 546, 547. Das LG hatte den EuGH allerdings nur danach gefragt, ob Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. entsprechend auszulegen sei; von einer Anwendung nationalen Rechts innerhalb der EuGVVO war nicht die Rede. Dem EuGH war es in der Sache unbenommen, parallel zur deutschen Rechtslage zu entscheiden, aber eben als Ergebnis einer Auslegung der EuGVVO. Stattdessen verneinte er eine Handlungsortzurechnung gänzlich. Ein weiteres Beispiel derart undifferenzierter effet utile-Auslegung stellt die EuGH-Entscheidung in Sachen Alder dar, vgl. M. Stürner, ZZP 126 (2013), 137, 144. 262 EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1459 f., Nr. 37. 263 Vgl. Cuniberti, 54 ICLQ (2005) 973, 977; Peel, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 1, 20. Über die Auswirkungen der Lehre zulasten des Klägers kann man freilich diskutierten, vgl. Cuniberti, 54 ICLQ (2005) 973, 977 f. und König, Forum non conveniens, S. 143 m.w.N. 264 Dickinson, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 115, 130. 265 Meyer, Forum Shopping, S. 146. 266 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 431 unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 1.3.2005, Rs. C281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383, 1462 f., Nr. 47 ff.
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rechtlichen Missbrauchsverbots nicht im Wege. Aus einer Zulassung von Missbrauchserwägungen im Anwendungsbereich des Europäischen Zivilverfahrensrechts kann im Umkehrschluss natürlich nicht gefolgert werden, dass damit auch die Anwendung der forum non conveniens-Lehre zulässig sei.267 b) Argument der Rechtssicherheit aus Owusu kein Hindernis für Anwendung des Missbrauchsverbots Selbst wenn man auf den vordergründig durch den EuGH in Owusu angeführten Gedanken der Rechtssicherheit abstellt, zeigt sich kein anderes Bild: Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ist mittlerweile an klar konturierte Voraussetzungen gebunden, die der EuGH selbst definiert.268 Nur deshalb wendet er es in anderen Bereichen des Unionsrechts, wie beispielsweise dem Steuerrecht, vorbehaltlos an. 269 Der Gerichtshof würde sich selbst widersprechen, wenn er dem Missbrauchsverbot die hinreichende inhaltliche Präzision absprechen würde, die er ihm ansonsten zuspricht. Ein naheliegender Einwand der Kritiker, im Europäischen Zivilverfahrensrecht sei in der Sache ein anderes Maß an Rechtssicherheit einzuhalten, als in anderen Bereichen des Unionsrechts, weshalb die Anwendung eines Einzelfallkorrektivs, wie beispielsweise des Missbrauchsverbots, unmöglich sei, kann nicht überzeugen. Dem zirkulären Argumentationsversuch des sog. strengen Verfahrensrechts wurde an anderer Stelle schon dem Grunde nach widersprochen.270 Einige weitere Argumente werden darüber hinaus in den nachfolgenden Abschnitten vorgetragen. 6. Forum non conveniens-Erwägungen im geltenden Europäischen Zivilverfahrensrecht Die ablehnende Haltung des EuGH gegenüber forum non conveniens-Erwägungen als Argument gegen die Anwendung des Missbrauchsverbots heranzuziehen, ist in dieser Allgemeinheit über die schon genannten Gründe hinaus deshalb nicht überzeugend, da sich im harmonisierten Europäischen Zivilverfahrensrecht mittlerweile mehrere Bereiche finden, in denen vorhersehbare Zuständigkeiten hinter einen anderen, de jure höher gewichteten Belang zurücktreten müssen.271 Ermessensspielräume im Europäischen Zivilverfahrensrecht fügen sich offensichtlich in das Gesamtsystem ein.
267
G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 27 EuGVVO Rn. 47. Vgl. Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6 Rn. 168, der die Entscheidung in Gasser deshalb begrüßt, da ein präziser Maßstab für die Auflösung von Missbrauchsfällen nicht existiere. 269 Vgl. oben, S. 119. 270 S.o., S. 227 ff. 271 Vgl. Mariottini, in: Pocar/Viarengo/Villata, Recasting Brussels I, S. 285, 294 ff.; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 431. 268
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Die Privilegierung bestimmter Belange wird in den angesprochenen Fällen durch einen forum non conveniens-Einwand umgesetzt, der allerdings naturgemäß nicht an nationalen Maßstäben ausgerichtet ist, vielmehr einen eigenständigen unionsrechtlichen Inhalt hat. Selbst wenn sich die EuGVVO272 oder das Europäische Verfahrensrecht insgesamt273 nicht generell gegenüber derartigen Erwägungen geöffnet haben mögen, kann eines aus der geschilderten Tatsache abgeleitet werden: Der Unionsgesetzgeber sieht das Prinzip vorhersehbarer Zuständigkeiten nicht als absoluten Wert an, sondern lässt es in begründeten Einzelfällen zurücktreten, um sachgerechte Ergebnisse zu gewährleisten, insbesondere wenn der Schutz besonderer Interessen zur Debatte steht.274 Ermessensentscheidung haben im vereinheitlichen europäischen Zuständigkeitsrecht deshalb durchaus ihren Platz.275 Ein Beispiel von forum non conveniens-Erwägungen im Europäischen Zivilverfahrensrecht findet sich für bestimmte erbrechtliche Streitigkeiten in Art. 6 lit. a EuErbVO. Dort wird dem angerufenen und an sich zuständigen Gericht die Befugnis eingeräumt, sich auf Antrag eines Verfahrensbeteiligten für unzuständig zu erklären, wenn für den Erbfall das Recht eines Mitgliedstaats gewählt wurde und dessen Gerichte in der Sache ‚besser entscheiden können.‘ Beachtlich ist, dass die Vorschrift die Entscheidung über den Antrag in das Ermessen des Gerichts stellt. Es kann unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls seine nach der Verordnung bestehende und für alle Beteiligten eigentlich vorhersehbare Zuständigkeit verneinen. Eine ähnliche Regelung enthält Art. 15 Abs. 1 EuEheVO. 276 Sie gewährt dem angerufenen und an sich zuständigen Gericht dieselben und sogar noch weitergehende Befugnisse, als dies nach der Regelung der EuErbVO und dem eigentlichen Regelungsgedanken des forum non conveniens der Fall ist.277 So kann neben der Unzuständigkeitserklärung durch das angerufene Gericht ins-
272
Mariottini, in: Pocar/Viarengo/Villata, Recasting Brussels I, S. 285, 294. Im Zuge der Reform der EuGVVO hatte sich das Europäische Parlament entschlossen, eine forum non conveniens-Einwendung in die neue EuGVVO zu implementieren, vgl. Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Einl EuGVVO Rn. 32 a.E. Im endgültigen Verordnungsvorschlag fand diese jedoch keinen Platz. 273 Vgl. Pabst, Ehesachen mit Europabezug, S. 291 f.; McGuire, in: FS Kaissis, S. 671, 676. 274 Pabst, Ehesachen mit Europabezug, S. 291 f. zu Art. 15 EuEheVO, der forum non conveniens-Erwägungen im Interesse des Kindeswohls zulässt. 275 A.A. Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 415, der zwar auf Art. 15 Abs. 1 EuEheVO als Ausnahme verweist, was ihn aber nicht von seiner Grundannahme abbringt. 276 Vgl. dazu Rauscher, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 15 EuEheVO Rn. 1; Solomon, FamRZ 2004, 1409, 1413. 277 Gottwald, in: MüKo-ZPO, Art 15 EuEheVO Rn. 1 spricht von einer „bemerkenswerten Ausnahme“ vom Zuständigkeitssystem des Europäischen Zivilverfahrensrechts.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
besondere eine Verweisung an das für besser geeignet erachtete Gericht erfolgen. Zudem kann der Antrag auf Verweisung auch von dem unzuständigen aber besser geeigneten Gericht ausgehen.278 Der englische Court of Appeal hat sich folgerichtig gegen die Übertragung der Owusu-Entscheidung des EuGH in die EuEheVO ausgesprochen.279 7. Die tatsächliche Vorhersehbarkeit von Gerichtsständen nach der Rechtsprechung des EuGH Aus den eben gemachten Ausführungen und den gleich folgenden ergibt sich, dass es dem Gerichtshof in Fragen der Rechtssicherheit tatsächlich immer nur um eines geht: die Rahmenbedingungen für die Anwendung des Unionsrechts selbst festzulegen. Das zeigt eine simple Gegenüberstellung: In Owusu wurde die Anwendung der forum non conveniens-Lehre deshalb abgelehnt, weil sie dem nationalen Richter einen nicht im Unionsrecht selbst niedergelegten Ermessensspielraum zugestanden hätte. Gewährt das Unionsrecht dagegen selbst Ermessen in der Anwendung von Zuständigkeitsnormen, wird kein Konflikt mit dem Prinzip der Rechtssicherheit gesehen.280 Schon angesprochen wurden die Fälle positiv-rechtlich verankerter forum non conveniens-Ausnahmen im europäischen Zuständigkeitsrecht, die dem angerufenen Gericht einen weitreichenden Ermessensspielraum zugestehen. Darüber hinaus schafft aber die Art und Weise der Auslegung von Zuständigkeitsnormen durch den Gerichtshof selbst gewisse Unsicherheiten, die zwar kritisiert281, aber akzeptiert werden (müssen). Selbst wenn demnach recht ‚flexible‘ Zuständigkeiten entstehen, die einen großen richterlichen Einschätzungsspielraum gewähren, entspricht dies den Vorstellungen des EuGH von vorhersehbaren Zuständigkeiten.282 Man mag hier einwenden, die sogleich angeführten Beispiele beträfen kein Ermessen im eigentlichen Sinne, also einen dem Gericht zugestandenen, nur eingeschränkt überprüfbaren Einschätzungsspielraum auf Rechtsfolgenseite, entsprechend den forum non conveniens-Befugnissen von Common Law-Gerichten. Unter dem Gesichtspunkt vorhersehbarer Zuständigkeiten und für das praktische Ergebnis aus der Sicht des Rechtsschutzsuchenden macht es jedoch keinen Unterschied, ob ein Entscheidungsspielraum auf Ebene des Tatbestandes oder auf Rechtsfolgenseite gewährt wird. Einige Beispiele aus dem Anwendungsbereich der EuGVVO zeigen, was gemeint ist.
278
Dörner, in: Saenger, Art. 15 EuEheVO Rn. 2. Mittal v Mittal [2013] EWCA Civ 1255. 280 Vgl. Harris, 54 ICLQ (2005) 933, 940. 281 S.u., Fn. 288, 291, 293. 282 Nuyts, Forum non conveniens, S. 218. 279
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a) Die Rechtssache Gruber Dort hatte der Gerichtshof den Verbrauchergerichtstand des EuGVÜ in Fällen des sog. dual use nur dann für eröffnet erklärt, wenn die gewerbliche Nutzung des Vertragsgegenstands nur eine „ganz untergeordnete Rolle“ einnimmt. 283 Eine relative Betrachtungsweise nach den Anteilen der Nutzung des Vertragsgegenstands, hatte er abgelehnt. Es ist jedoch mit erheblichen Unsicherheiten verbunden, die „ganz untergeordnete Rolle“ der Nutzung in der Praxis sicher festzustellen und das, obwohl der EuGH seine Auslegung vor allem mit Rechtssicherheitserwägungen begründet hat. 284 Einem ‚Verbraucher‘ ist es meines Erachtens in Grenzfällen – mit den Worten des EuGH in Handte285 – vernünftigerweise unmöglich, bei einem dual use im Vorgriff auf eine Entscheidung des Gerichts mit Sicherheit festzustellen, ob er unter den Schutz des Verbrauchergerichtstands fällt oder nicht. Umgekehrt bringt dies sogar noch tiefer greifende Probleme für den Unternehmer mit sich, der es bei einer Klage unter Verletzung von Art. 18 Abs. 2 EuGVVO riskiert, sein Urteil nicht grenzüberschreitend vollstrecken zu können, Art. 45 Abs. 1 lit. e Unterabs. i EuGVVO. b) Die sog. Tessili-Formel Im Rahmen des Art. 7 Nr. 1 lit. a EuGVVO entscheidet das Recht der lex causae über die Zuständigkeit.286 Vor einer umfangreichen materiellen Prüfung ist somit überhaupt nicht klar, vor welchem Gericht geklagt werden kann. Mag dies zwar aufwendig aber nicht unmöglich sein, gestaltet sich die Prüfung ungleich komplizierter, wenn im Falle einer (nicht abstrakten287) Erfüllungsortvereinbarung noch keine Klage anhängig ist und ein Anspruch außerhalb des durch die Rom-Verordnungen harmonisierten Bereichs eingeklagt wird. In diesen Fällen muss die lex causae abstrakt nach dem nationalen Internationalen Privatrecht des potentiell zuständigen Forums ermittelt werden und nachfolgend die Wirksamkeit der Erfüllungsortvereinbarung. Aber selbst im durch die
283
EuGH, Urt. v. 20.1.2005, Rs. C-464/01 (Johann Gruber ./. Bay Wa AG), Slg. 2005, I439, 474 ff., Nr. 39 ff. 284 EuGH, Urt. v. 20.1.2005, Rs. C-464/01 (Johann Gruber ./. Bay Wa AG), Slg. 2005, I439, 475, Nr. 45. 285 S.o., Fn. 132. 286 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.1976, Rs. 12/76 (Industrie Tessili ./. Dunlop AG), Slg. 1976, 1473, 1486, Nr. 13. 287 Denn diese Vereinbarungen sind an den für Gerichtsstandsvereinbarungen geltenden Regeln zu messen, vgl. EuGH, Urt. v. 20.2.1997, Rs. C-106/95 (Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL), Slg. 1997, I-911, 944 f., Nr. 34 und oben, S. 249 f.
260
2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Rom I-Verordnung harmonisierten Bereich können sich Eingriffsnormen nationalen Rechts im Sinne der Art. 9 Rom I-Verordnung auf die internationale Zuständigkeit auswirken. c) Erfüllungsort im Sinne des Art. 7 Nr. 1 EuGVVO Neben den Fällen mehrerer Lieferorte in einem bzw. in mehreren Mitgliedstaaten, wo das Kriterium des Hauptlieferortes eine gewisse prozessuale Unsicherheit in das Zuständigkeitsrecht trägt288, bereiten auch ‚gestreckte Dienstleistungen‘ Schwierigkeiten. Dies gilt jedenfalls, wenn sie nicht entsprechend der Situation in Rehder289 eine Leistung von A nach B betreffen, sondern sich gleichsam in mehreren Staaten relevante Anknüpfungspunkte bieten. Auch die Entscheidung in Sachen Wood Floor Solutions290 hat hier nur vordergründig Abhilfe geschaffen.291 d) Persönlichkeitsrechtsverletzungen über das Internet In den verbundenen Rechtssachen eDate Advertising und Martinez sprach sich der EuGH für eine Erfolgsortzuständigkeit gemäß Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. (= Art. 7 Nr. 2 EuGVVO) am „Mittelpunkt der Interessen“ des Geschädigten für Persönlichkeitsrechtsverletzungen über das Internet aus. 292 Zwar unterstrich der Gerichtshof, dass dieser im Allgemeinen dem gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers entspreche, allerdings kann über einen engeren Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat diese Regelvermutung entkräftet werden, was vor allem bei international bekannten Persönlichkeiten zu erheblichen Schwierigkeiten in der Bestimmung des Gerichtsstandes führen kann.293
288 Lehmann, ZZPInt 12 (2007), 206, 208 bemängelt vor allem, dass es an Anhaltspunkten dafür fehle, welche Kriterien bei der Bestimmung des Hauptlieferortes eine Rolle spielen sollten, in jedem Fall nur eine ex post-Beurteilung möglich sei und das durch den EuGH in der Entscheidung geschaffene Wahlrecht erhebliche Nachteile für den Kläger mit sich bringe. Kritisch auch Leible, EuZW 2009, 571, 572. 289 EuGH, Urt. v. 9.7.2009, Rs. C-204/08 (Peter Rehder ./. Air Baltic Corporation), Slg. 2009, I-6073. 290 EuGH, Urt. v. 1.3.2010, Rs. C-19/09 (Wood Floor Solutions Andreas Domberger GmbH ./. Silva Trade SA), Slg. 2010, I-2121. 291 Leible, EuZW 2010, 380, 382. 292 EuGH, Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269, 10321, Nr. 48. 293 Vgl. die Nachweise bei Klöpfer, JA 2013, 165, 169 f.; ebenfalls krit. W.-H. Roth, IPRax 2013, 215, 221.
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8. Öffentliches Interesse an vorhersehbaren Zuständigkeiten? Die Möglichkeit, das unionsrechtliche Missbrauchsverbot im europäischen Zuständigkeitsrecht anzuwenden, scheitert auch nicht an der fehlenden Dispositionsbefugnis der Rechtsschutzsuchenden bezüglich des Vorhersehbarkeitsgrundsatzes. Denn neben dem im Individualinteresse stehenden Schutz subjektiven Rechts ist ein allgemeines staatliches Interesse an vorhersehbaren Zuständigkeiten nur schwer begründbar.294 So zeigt sich gerade in der Möglichkeit, über eine rügelose Einlassung, eine Gerichtsstands- oder Erfüllungsortvereinbarung die gerichtliche Zuständigkeit abweichend von den sonstigen besonderen Gerichtsstandsregeln zu bestimmen,295 dass es den Parteien bis zu einem gewissen Maße freisteht, hierüber zu disponieren. Zwar ist im Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten ein eigenes staatliches Interesse vorhanden, dass gewisse Rechtsstreitigkeiten aus besonderen Gründen nur im Inland bzw. einem bestimmten Ort verhandelt werden. So sollen beispielsweise Streitigkeiten über den Bestand dinglicher Rechte an unbeweglichen Sachen vor dem forum rei sitae verhandelt werden, Streitigkeiten mit Registerbezug im Registerstaat.296 Daraus ergibt sich jedoch im Umkehrschluss, dass ansonsten ein besonderes staatliches Interesse an einer bestimmten Zuständigkeit gar nicht bestehen kann. Vor allem aber ist das öffentliche Interesse im Falle ausschließlicher Zuständigkeiten nur darauf bezogen, dass ein bestimmter Streitgegenstand an einem bestimmten Ort verhandelt wird. Es ist demnach dann nicht verletzt, wenn eine entsprechende Streitigkeit nicht an diesem Ort verhandelt wird, aber auch nirgendwo sonst, weil das angerufene Gericht eine Klage wegen fehlender, weil missbrauchter Zuständigkeit abweist. Man könnte schließlich noch daran denken, entsprechend der Ausführungen zum Grundsatz der Rechtssicherheit, den geordneten Verfahrensablauf mit dem Ziel der Schonung gerichtlicher Ressourcen als staatliche Interessen an vorhersehbaren Zuständigkeiten anzuführen. Allerdings verfängt dies im Zuständigkeitsrecht nicht, wird doch in Fällen nicht vorhandener Zuständigkeit das gerichtliche Verfahren ohnehin als unzulässig beendet oder (nur) auf Antrag des Klägers verwiesen297, bei wider Erwarten gegebener Zuständigkeit das Verfahren ganz normal fortgeführt. Eine Beeinträchtigung des Justizapparats liegt damit allenfalls in den Fällen eines Verweisungsantrags vor und dies le-
294
Dies deckt sich mit den Erkenntnissen zum Grundsatz der Rechtssicherheit, vgl. oben, S. 223. 295 Z.B. Art. 25, 26 EuGVVO, Art. 4, 5 EuUnthVO, §§ 38, 39 ZPO. 296 Vgl. Art. 24 EuGVVO. Andere ausschließliche Zuständigkeiten finden sich beispielsweise in Art. 6 EuEheVO und den §§ 29a, 32a, 32b ZPO. 297 Im deutschen Recht gemäß § 281 Abs. 1 S. 1 ZPO bei fehlender örtlicher Zuständigkeit bzw. bei fehlender sachlicher Zuständigkeit gemäß §§ 17, 17a GVG; dies allerdings von Amts wegen, vgl. § 17a Abs. 2 S. 1 GVG.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
diglich für eine Verweisung mangels örtlicher Zuständigkeit, da die Möglichkeit einer Verweisung mangels internationaler Zuständigkeit auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht nicht besteht.298 Auch infolge der Entscheidung in Sachen Gothaer Allgemeine299 hat sich hieran nichts geändert. Zwar führt hiernach ein klageabweisendes Prozessurteil, mit dem die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts wegen einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten eines anderen mitgliedstaatlichen Gerichts bzw. der Gerichte eines bestimmten Mitgliedstaates verneint wird, zur Bindung dieser. Allerdings kommt dem klageabweisenden Urteil nicht die Funktion einer von Amts wegen zu berücksichtigenden Verpflichtung zur Verfahrensfortführung vor dem/den prorogierten Gericht(en) zu, da immer eine erneute Klageerhebung notwendig ist. 9. Verfassungsrechtlicher und völkerrechtlicher Aspekt Die Rechtssicherheit im Verfahren ist in letzter Konsequenz an verfassungsrechtliche Garantien rückgekoppelt. Im deutschen Recht wurde gegen eine Übernahme der Lehre vom forum non conveniens in das Internationale Zivilverfahrensrecht die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG angeführt.300 Auch mit Blick auf die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Bereich der internationalen Zuständigkeit kann man sich fragen, ob dessen Anwendung im Zuständigkeitsrecht mit verfassungs- und völkerrechtlichen Anforderungen in Einklang steht. Den gemeineuropäischen Prüfungsmaßstab bilden dabei die entsprechenden Garantien aus EMRK und Grundrechte-Charta.301 Die Ausführungen können deshalb kurz gehalten werden, weil der EuGH mit Entscheidungen wie de Visser, Gambazzi und Hypoteční banka zeigt, dass er selbst den Zielkonflikt unterschiedlicher Verfahrensgarantien bzw. denjenigen von Verfahrensgarantien unterschiedlicher Akteure zueinander erkannt und Lösungen vorgeschlagen hat, welche die Anwendung des Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht tragen.302 So lässt er in Gambazzi etwa die vollkommene Einschränkung des in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgten Rechts, sich vor Gericht verteidigen zu können, deshalb und dann zu, wenn sie eine verhältnismäßige Reaktion des Gerichts auf eine andernfalls drohende
298
Auch Art. 15 Abs. 1 EuEheVO (dazu unten, S. 261) ist hiervon keine Ausnahme. Schließlich eröffnet die Vorschrift die Möglichkeit des forum non conveniens-Einwands nur bei Verfahren vor einem tatsächlich zuständigen Gericht. 299 300 Schack, RabelsZ 58 (1994), 41, 45; vgl. die Nachweise bei Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerechtigkeit, S. 389 f. 301 Vgl. Geimer, in: FS Martiny, S. 711, 718; Hess, JZ 2005, 540, 541, 548 ff. 302 S.o. ausführlich, S. 215 f.
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Verfahrensverschleppung durch den Beklagten darstellt.303 In Hypoteční banka eröffnete er einem Unternehmer die Möglichkeit, einen Verbraucher nicht an seinem aktuell unbekannten, sondern am letzten bekannten Wohnsitz zu verklagen, weil der betroffene Verbraucher sich nicht an die im Rahmen eines langjährigen Vertragsverhältnisses vertraglich vereinbarte Verpflichtung zur Mitteilungen von Wohnsitzwechseln gehalten hatte und dem Kläger andernfalls die Rechtslosstellung gedroht hätte. Die damit einhergehende Einschränkung der durch Art. 47 Grundrechte-Charta gewährleisteten Verteidigungsrechte des Verbrauchers wurde durch den Gerichtshof in Anbetracht der drohenden Rechtsverweigerung auf Seiten des Klägers hingenommen.304 Der EuGH erkennt in beiden Entscheidungen, dass die individuelle Schutzwürdigkeit des Beklagten ein wichtiger Punkt bei der Frage ist, ob die Einschränkung von Verfahrensgarantien zulässig ist oder nicht. Wird eine Zuständigkeit als Folge eines Missbrauchs nicht gewährt, beeinträchtigt dies das Recht des Klägers auf Zugang zu Gericht, allerdings ist dessen Schutzwürdigkeit durch sein eigenes Verhalten reduziert und zum anderen sind die berechtigten Belange des Beklagten zu berücksichtigen, den der Zuständigkeitsmissbrauch ansonsten hart träfe. Da es dem Kläger auch unbenommen bleibt, seine Klage vor anderen Gerichten erneut anhängig zu machen, trägt er ‚lediglich‘ die Kosten der Abweisung. Dies erscheint jedenfalls deshalb gerechtfertigt, da er den Grund hierfür durch sein missbräuchliches Verhalten gerade selbst geschaffen hat. Die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch stellt damit im Sinne der Dogmatik von EMRK und Grundrechte-Charta ein rechtfertigendes Allgemeininteresse dar.305 Die gebotene Verhältnismäßigkeit des Eingriffs306 ist angesichts des für das Missbrauchsverdikt notwendigen subjektiven Kriteriums indiziert und erfordert damit grundsätzlich keine gesonderte Prüfung. VI. Zwischenergebnis Auf Grundlage der vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass das unionsrechtliche Missbrauchsverbot mit den Vorgaben des Grundsatzes der Rechtssicherheit in Einklang gebracht werden kann. Das gilt auch für dessen spezielle Ausprägung, dem Gebot vorhersehbarer Zuständigkeiten. Zwar erfüllt der geordnete Verfahrensablauf, etwa in Form vorhersehbarer Zuständigkeiten oder
303
EuGH, Urt. v. 2.4.2009, Rs. C-394/07 (Mario Gambazzi ./. Daimler Chrysler Canada Inc. u.a.), Slg. 2009, I-2563, 2592, Nr. 31 f. 304 Vgl. EuGH, Urt v. 17.11.2011, Rs. C-327/10 (Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner), Slg. 2011, I-11543, 11598 ff., Nr. 49 ff. 305 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-619/10 (Trade Agency Ltd ./. Seramico Investments Ltd), EuZW 2012, 912, 915, Nr. 55 m.w.N. 306 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-619/10 (Trade Agency Ltd ./. Seramico Investments Ltd), EuZW 2012, 912, 915, Nr. 59 f.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
eines klar strukturierten Verfahrens eine wichtige Funktion in der Rechtsschutzgewährung. Jedoch ist Rechtssicherheit im Zivilverfahren kein absoluter Wert, weshalb die Durchbrechung von Verfahrensvorschriften in Extremfällen zulässig sein muss. Dass das Missbrauchsverbot nur auf diese Ausnahmefälle angewandt werden kann, hängt vor allem mit dessen subjektiver Komponente zusammen. Das gefundene Ergebnis wird dadurch gestützt, dass dem Grundsatz der Rechtssicherheit eine Garantiefunktion zugunsten der Verfahrensbeteiligten zukommt. In der Folge ist der Umfang der Gewährung von der Schutzwürdigkeit der Akteure abhängig. Diese ist beispielsweise dort reduziert oder sogar aufgehoben, wo Gerichtsstände erschlichen werden oder eine bestimmte Zuständigkeit nur deshalb in Anspruch genommen wird, weil der Beklagte hiermit geschädigt werden soll. Das Berufen auf Rechtssicherheit erscheint in diesen Fällen widersprüchlich. Insbesondere bei einem Handeln in Schädigungsabsicht lässt sich nicht begründen, warum sich der missbräuchlich handelnde Akteur auf Rechtssicherheit berufen können soll. Ansätze in der Gesetzgebung auf Unionsebene und die Rechtsprechung des EuGH bestätigen diesen Befund: Missbräuchliches forum shopping und Zuständigkeitserschleichungen sind nach heutigem Verständnis in Einzelfällen schon nicht zulässig. Eine Durchsetzung von Rechtssicherheit gegen die legitimen Interessen der Beteiligten, insbesondere diejenigen des Beklagten oder Antragsgegners, ist damit zu vermeiden. Es widerspricht auch nicht dem System des Europäischen Zivilverfahrensrechts, wenn die mitgliedstaatlichen Institutionen das unionsrechtliche Missbrauchsverbot anwenden, obwohl sich in Ersterem keine ausdrückliche Befugnis hierzu finden lässt. Für das parallel strukturierte Steuerrecht hat sich diese Erkenntnis beim EuGH mittlerweile schon durchgesetzt. Das gilt ebenfalls für die nationalen Verfahrensrechte, die den Konflikt von Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit oder einer von Missbräuchen unabhängigen Auflockerung nicht mehr bedingungslos im Sinne der Rechtssicherheit entscheiden. Will das Europäische Zivilverfahrensrecht seine Akzeptanz in den Mitgliedstaaten nicht verspielen, muss es sich hieran zwangsläufig orientieren. Die Möglichkeit, das unionsrechtliche Missbrauchsverbot vor allem im Zuständigkeitsrecht anzuwenden, wird durch die Ausführungen zur Diskussion rund um die forum non conveniens-Doktrin noch einmal unterstrichen: Es hat sich gezeigt, dass es nicht die Möglichkeit einer Ermessensentscheidung an sich ist, die dem System des Europäischen Zivilverfahrensrechts widerspricht. Denn schon heute ist zum einen festzustellen, dass der EuGH eine Wertungsoffenheit und Unbestimmtheit auf Tatbestandsseite von Zuständigkeitsvorschriften geschaffen hat. Zum anderen verfügte der Unionsgesetzgeber an die mitgliedstaatlichen Gerichte teilweise sogar die Befugnis zur Anwendung echten Entscheidungsermessens auf Rechtsfolgenseite. Dies insbesondere dann, wenn schützenswerte Belange eines Teils überwiegen. Hierin zeigt sich eine
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Parallele zur Anwendung des Missbrauchsverbots. Wenn sich schließlich die Nichtanwendung von Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts auf das einheitliche und durch die Auslegungskompetenz des EuGH flexibel fortentwickelbare Konzept des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots stützt, dann ist der Rechtssicherheit als abstraktem Belang gedient. In der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch auf Grundlage des Missbrauchsverbots ist letztlich noch auf dessen Subsidiarität gegenüber einer mit den Mitteln der Auslegung zu erzielenden Lösungen zu achten. Dies ist dem Missbrauchsverbot allerdings ohnehin wesenseigen und keine Besonderheit, die sich aus der Materie des Europäischen Zivilverfahrensrechts ergibt.
C. Gegenseitiges Vertrauen Gegen die Möglichkeit der Missbrauchsverhinderung im Europäischen Zivilverfahrensrecht wird – unabhängig von der konkreten Ausgestaltung und der Form des Missbrauchs – häufig der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in die mitgliedstaatliche Rechtspflege angeführt.307 Bemerkenswert ist dabei, dass in Parallelität zum Grundsatz der Rechtssicherheit308 der Inhalt dessen, was als gegenseitiges Vertrauen in die mitgliedstaatliche Rechtspflege bezeichnet wird, völlig im Dunkeln bleibt. 309 Eine ebenfalls bekannte Erscheinung ist auch, dass dem gegenseitigen Vertrauen in die mitgliedstaatliche Rechtspflege trotz seiner Unbestimmtheit eine erhebliche Bedeutung beigemessen wird, teil-
307 Z.B. durch Bogdan, 51 Scandinavian Studies in Law (2007) 89, 96; ebenso Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 167 mit dem pauschalen Hinweis, dass „der Gedanke der Rechtsmissbräuchlichkeit der Anrufung eines Gerichts eines europäischen Mitgliedstaates auch mit dem Gleichwertigkeitsdogma“ konfligiere. Denn, so die Autoren weiter, „Wie kann es rechtsmissbräuchlich sein, ein Gericht eines europäischen Mitgliedstaates anzurufen?“. Pauschal gegen die Möglichkeit, Zuständigkeitserschleichungen im Rahmen der EuInsVO über Missbrauchserwägungen zu regulieren Mansel/Thorn/Wagner, IPRax 2013, 1, 32; vgl. auch die Schlussanträge des GA Lèger v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser GmbH ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14718, Nr. 89, wo dieser den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens mit dem der Rechtssicherheit in Verbindung bringt. Berührt die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht den Grundsatz gegenseitgen Vertrauens, gelten die im Rahmen der Ausführungen zum Rechtssicherheitsgrundsatz gemachten Vorbehalte entsprechend, s.o., S. 220 ff. Vgl. zu den Verbindungslinien beider Grundsätze Andersson, in: Andenas/Hess/Oberhammer, Enforcement Agency Practice in Europe, S. 245, 249; Clarke, 18 EBLR (2007) 101, 120. 308 S.o., S. 221 f. 309 Kramer, 2 IJPL (2011), 202, 218.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
weise wird das gegenseitige Vertrauen gerade zum Geltungsgrund des Europäischen Zivilverfahrensrechts erhoben310. 311 Ernsthafte methodische Versuche zur Inhaltsbestimmung, die über Analyse und Kritik bestimmter EuGH-Entscheidungen im Europäischen Zivilverfahrensrecht hinausgehen, fehlen jedoch nahezu312 vollständig, selbst wenn dieser Umstand in den jeweiligen Abhandlungen erkannt wird.313 Erstmalige Erwähnung in Zusammenhang mit dem Europäischen Zivilverfahrensrecht fand der Begriff des gegenseitigen Vertrauens im Jenard-Bericht314, wo es als Grundlage für die Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung von Urteilen in den damaligen Vertragsstaaten des EuGVÜ genannt wurde. 315 Auch in der Folgezeit wurde die Formel vom gegenseitigen Vertrauen in die mitgliedstaatliche Rechtspflege (lediglich) dazu benutzt, legislative Richtungsentscheidungen zu rechtfertigen,316 etwa die Verminderung der Kontrolldichte im Bereich der Urteilsanerkennung in der EuGVVO a.F.317, die Abschaffung des Exequaturverfahrens bei unbestrittenen Forderungen und die Verringerung der Rechtsbehelfsmöglichkeiten – insbesondere hinsichtlich einer ordre public-Kontrolle – sowie deren Verschiebung in den Urteilsstaat im Rahmen der EuVTVO 318 , sowie letztlich die umfängliche Abschaffung des Exequaturverfahrens für Urteile in Zivilsachen unter der reformierten EuGVVO319.320 Dabei wurde durch den Gesetzgeber jeweils darauf verzichtet, den Inhalt gegenseitigen Vertrauens näher darzulegen. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Europäischen Zivilverfahrensrecht wurde der Begriff des gegenseitigen Vertrauens erstmals ausdrücklich in
310
Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 402; vgl. Crespi Reghizzi, 11 Yrbk.PrivInt’l L (2009) 427, 437. 311 Zur Bedeutung des Grundsatzes im Europäischen Zivilverfahrensrecht, Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, S. 281; Crespi Reghizzi, 11 Yrbk.PrivInt’l L (2009) 427, 436; Kramer, NIPR 2011, 633, 634 f.; dies., 2 IJPL (2011) 202, 217. 312 Versuch bei Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528-547 und Willer, ZZP 127 (2014), 99 ff. Allgemein zum gegenseitigen Vertrauen im Regelungsbereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, vgl. Mitsilegas, 31 YEL (2012) 319 ff. 313 Vgl. Sujecki, ZEuP 2008, 458, 469. 314 Jenard-Bericht, S. 46. 315 Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 401. Zum gegenseitigen Vertrauen als Grundlage gegenseitiger Anerkennung, vgl. Andersson, in: Andenas/Hess/Oberhammer, Enforcement Agency Practice in Europe, S. 245, 247 ff. 316 Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 531. 317 Erwägungsgründe Nr. 16 und 17 EuGVVO a.F. 318 Vgl. Erwägunsgrund Nr. 28 EuVTVO. 319 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 26 EuGVVO. 320 Vgl. darüber hinaus Erwägungsgrund Nr. 21 EuEheVO, Erwägungsgrund Nr. 27 EuMahnVO.
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der Gasser-Entscheidung321 erwähnt. Im Gegensatz dazu nutzte der EuGH im sonstigen Unionsrecht den Begriff schon länger als Argumentationshilfe und billigte dem dahinter stehenden Konzept in Zusammenhang mit der Warenverkehrsfreiheit die Qualität eines allgemeinen Grundsatzes zu.322 Im Europäischen Zivilverfahrensrecht findet sich der Verweis auf das gegenseitige Vertrauen in die mitgliedstaatliche Rechtspflege vor allem im Bereich der Koordinierung von Parallelverfahren. Neben der Gasser-Entscheidung sind insbesondere die Entscheidungen in Sachen Turner323 und West Tankers324 zu nennen. In der diesen Entscheidungen vorausgegangenen Rechtssache Overseas Insurance325 legte der Gerichtshof zwar den Grundstein für jene Folgeurteile, eine ausdrückliche Bezugnahme auf den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens findet sich hierin aber noch nicht. In der Sache entsprechen die Ausführungen des EuGH jedoch dem, was später als Ausdruck gegenseitigen Vertrauens in die mitgliedstaatliche Rechtspflege bezeichnet wird.326 Die Rechtsprechungslinie des Gerichtshofs zeichnet dabei insgesamt aus, dass mit sehr pauschalen Andeutungen und einem nicht konkretisierten Grundsatz gegenseitigen Vertrauens operiert wird, was es schwierig macht, dessen genauen Inhalt zu erfassen.327 Dennoch scheute der EuGH nicht davor zurück, gegenseitiges Vertrauen gerade als entscheidendes Argument für eine gewisse Auslegung heranzuziehen.328 Dabei übersteigt seine Methodik das, was noch als teleologische Normauslegung bezeichnet werden könnte.329 So leitete er in Turner das Verbot sog. anti-suit injunctions im Europäischen Zivilverfahrens-
321 EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14746 f, Nr. 70 ff. 322 EuGH, Urt. v. 11.5.1989, Rs. 25/88 (Strafverfahren gegen Esther Renée Wurmser, verwitwete Bouchara, und Firma Norlaine), Slg. 1989, 1105, 1129 f., Nr. 18; vgl. hierzu Janssens, Mutual Recognition in EU Law, S. 28. Die Qualität eines allgemeinen Grundsatz ausdrücklich zubilligend auch Binder, Die Kollision Prinzipien im Europäischen Zivilverfahrensrecht (im Erscheinen), passim; a.A. Willer, ZZP 127 (2014), 99, 103 f. 323 EuGH, Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565. 324 EuGH, Urt. v. 10.2.2009, Rs. C-185/07 (Allianz SpA u.a. ./. West Tankers Inc.), Slg. 2009, I-663, 697 f., Nr. 29. 325 EuGH, Urt. v. 27.6.1991, Rs. C-351/89 (Overseas Union Insurance Ltd u.a. ./. New Hampshire Insurance Company), Slg. 1991, I-3317, 3350, Nr. 23 ff. 326 Crespi Reghizzi, 11 Yrbk.PrivInt’l L(2009) 427, 438. 327 Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 27 und 30. 328 Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 23 f.; Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 531. 329 A.A. Crespi Reghizzi, 11 Yrbk.PrivInt’l L(2009) 427, 442.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
recht direkt und gleich in den ersten Randnummern seiner Antwort auf die Vorlagefrage aus dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens selbst her, ohne konkret an eine bestimmte Vorschrift anzuknüpfen.330 Um allerdings die Frage nach der Vereinbarkeit von Missbrauchsverbot und dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens beantworten zu können, muss der Inhalt von Letzterem bestimmt werden. Als generalklauselartiger Argumentationstopos lässt sich kein einfacher operabler Inhalt derart umschreiben, dass Inhalt des Grundsatzes die Pflicht der Mitgliedstaaten sei, in die Rechtssystem der anderen Mitgliedstaaten zu vertrauen, was zwangsläufig zirkulär wäre.331 Vorzugswürdig erscheint es daher, den Grundsatz, wie er in der Vergangenheit durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgeformt wurde, nach seiner positiven (unten, I.) und seiner negativen Komponente zu analysieren (unten, II.) und dabei jeweils die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit den aus dem Grundsatz abgeleiteten Beschränkungen zu überprüfen. Weiter soll die funktionale Komponente (unten, III.) des Grundsatzes im europäischen Integrationsprozess und im Anwendungsbereich des Europäischen Zivilverfahrensrechts untersucht und die Frage beantwortet werden, ob hierdurch die Möglichkeit zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch beeinflusst wird. Anschließend werden neuere Entwicklungslinien in Rechtsprechung und Gesetzgebung aufgezeigt, die den gemeinhin angenommenen Inhalt des Grundsatzes relativieren (unten, IV.). Zuletzt werden die Ergebnisse zusammengefasst (unten, V.). I. Positive Komponente Auch wenn sich (positive) Gebote leicht in (negative) Verbote umformulieren lassen, so kann doch ein gewisser, naturgemäß positiv zu formulierender Inhalt des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens ausgemacht werden. Er ist, zugegebenermaßen, relativ überschaubar und betrifft recht abstrakte Verhaltenspflichten der mitgliedstaatlichen Institutionen im Vollzug des Europäischen Zivilverfahrensrechts. So leitet man aus ihm in Zusammenhang mit Zuständigkeitsfragen ab, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte ihre eigene Zuständigkeit gewissenhaft unter Berücksichtigung der wesentlichen Verfahrensgarantien zu
330
Vgl. EuGH, Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565, 3587, Nr. 24 ff. 331 Zum ohne weitergehende Präzisierung nach Wirkungsweise und Inhalt ähnlich inoperablen Grundsatz von Treu und Glauben im deutschen Recht, vgl. Wieacker, Zur rechtshteoretischen Präzisierung des § 242 BGB, S. 5 ff.
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überprüfen haben.332 Gleichsam das Gegenstück hierzu bildet die Verpflichtung zur Anerkennung mitgliedstaatlicher Entscheidungen. 333 Diese gründet sich nach dem EuGH direkt auf den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens.334 Damit ist er auf Linie mit seinen Ausführungen zum allgemeinen Grundsatz gegenseitiger Anerkennung im Unionsrecht; diesen sieht er als Ausprägung des gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten an.335 Für die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots sind diese Feststellungen aber irrelevant. Aus der Verpflichtung zu einem bestimmten positiven Verhalten kann keine bestimmte Grenze für die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots abgeleitet werden. Bedeutung erlangt hier vielmehr die negative Komponente des Grundsatzes. II. Negative Komponente Diese ist deutlich ausgeprägter. Das gegenseitige Vertrauen in das jeweilige Justizsystem der Mitgliedstaaten schränkt mitgliedstaatliche Institutionen in der Ausübung bestimmter zivilverfahrensrechtlicher Befugnisse ein. Die negative Komponente ist daher für die Bewertung des Anwendungsspielraums, der dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot im Europäischen Zivilverfahrensrecht zukommt, von besonderer Bedeutung. So leitet man aus dem Grundsatz ein Verbot der Pauschalisierung336 bzw. Diskriminierung bestimmter mitgliedstaatlicher Rechts- und Justizsysteme ab und vor allem ein Verbot der Einmischung und Bevormundung bezüglich der Justizsysteme anderer Mitgliedstaaten. Die Einschränkungen betreffen in der Regel Parallelverfahren in derselben Streitsache vor unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Gerichten. Ein Hintergedanke der jeweiligen Einschränkung ist damit immer auch die Bestrebung, Parallelverfahren in den Mitgliedstaaten und dadurch im Ergebnis unvereinbare
332 EuGH, Urt. v. 15.7.2010, Rs. C-256/09 (Bianca Purrucker ./. Guillermo Vallés Pérez), Slg. 2010, I-7353, 7437, Nr. 73; Urt. v. 2.5.2006, Rs. C-341/04 (Eurofood IFSC Ltd), Slg. 2006, I-3813, 3870, Nr. 41; Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 402 f. 333 EuGH, Urt. v. 15.12.2012, Rs. C-456/11 (Gothaer Allgemeine Versicherung AG u.a. ./. Samskip GmbH), EuZW 2013, 60, 61 f., Nr. 35; vgl. Crespi Reghizzi, 11 Yrbk.PrivInt’l L(2009) 427. 334 Vgl. EuGH, Urt. v. 26.9.2013, Rs. C-157/12 (Salzgitter Mannesmann Handel GmbH ./. SC Laminorul SA), NJW 2014, 203, 204, Nr. 31. 335 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. .10.2011, Rs. C-139/10 (Prism Investments BV ./. Jaap Anne van der Meer), Slg. 2011, I-9511, 9537, Nr. 27. 336 Vgl. zu diesem Begriff bei Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6 Rn. 167.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Entscheidungen zu verhindern; 337 dieses Interesse wird der Anwendung des Missbrauchsverbots an anderer Stelle gesondert gegenüber gestellt.338 1. Verbot der Pauschalisierung Das hier sogenannte Verbot der Pauschalisierung betrifft in der Sache die Anwendung der Rechtshängigkeitsregeln aus EuGVÜ oder EuGVVO. Stilprägend ist dabei die EuGH-Entscheidung in der Rechtssache Gasser. a) Überlange Verfahrensdauer in einem bestimmten Mitgliedstaat In der Rechtssache Gasser wurde dem EuGH die Frage vorgelegt, ob bei einer (Nicht-)Anwendung der Rechtshängigkeitsregel des Art. 21 EuGVÜ durch ein später angerufenes Gericht berücksichtigt werden könne, dass Gerichtsverfahren im Staat des als erstes angerufenen Gerichts im Allgemeinen unvertretbar lange dauerten. Der Gerichtshof verneinte und begründete dies mit dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens. 339 Diese Sichtweise fand richtigerweise Zuspruch im Schrifttum, denn die Erlaubnis zu einer pauschalen Differenzierung zwischen effektiv arbeitenden und nicht effektiv arbeitenden Mitgliedstaaten, würde die Union in ihren Grundfesten berühren: der Idee gleichberechtigter und gleichwertiger Staaten.340 Zur Frage einer konkret überlangen Verfahrensdauer hatte sich der EuGH in Gasser allerdings nicht geäußert. Für diese Fälle wird zumindest in der Literatur ganz überwiegend eine Durchbrechung der Rechtshängigkeitsregel zum Schutze der in Art. 6 EMRK und Art. 47 Grundrechte-Charta verbürgten Rechtsschutzgarantie befürwortet. 341 Die an anderer Stelle schon erwähnten 337
Vgl. dazu McGuire, Verfahrenskoordination, S. 32 ff. Die Verhinderung von Parallelverfahren in Zusammenhang mit den Rechtshängigkeitsregeln der EuGVVO wird etwa in deren Erwägungsgrund Nr. 15 herausgestellt oder in Erwägungsgrund Nr. 21 EuGVVO. 338 S.u., S. 306 f. 339 EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14746 f, Nr. 70 ff. 340 G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 27 EuGVVO Rn. 49; vgl. auch Hartley, 54 ICLQ (2005) 813, 820. 341 OLG Frankfurt, Beschl. v. 29.6.2006, 12 U 195/05, IPRspr 2006, Nr. 163, 352, 356; andeutungsweise BGH, Urt. v. 6.2.2002, VIII ZR 106/01, NJW 2002, 2795, 2796; Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 722; Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, S. 366; Grothe, IPRax 2004, 205, 211; Otte, ZZPInt 8 (2003), 521, 526; Geimer, in: Zöller, Art. 27 EuGVVO Rn. 33; Försterling, in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 27 EuGVVO Rn. 40; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO Rn. 18; Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, Art. 27 EuGVVO Rn. 12; Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 Rn. 26; Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO Rn. 5; a.A. McGuire, Verfahrenskoordination, S. 140, welche die Notwendigkeit der Einzelfallbewertung im Rahmen des Art. 6 EMRK sieht, aber gerade dies als unlösbares Problem betrachtet (S. 135); Gottwald, in MüKo-ZPO, Art. 27 EuGVVO Rn. 23, „grundsätzlich“, aber ohne die
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anderslautenden Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in der Rechtssache Weber342 können hier außer Betracht bleiben, da sie von der unhaltbaren petitio principii getragen sind, wonach die Vorschrift des Art. 29 EuGVVO den Garantien aus Grundrechte-Charta und EMRK nicht unterläge. Schwierigkeiten bereitet demgegenüber die Behandlung einer zu erwartenden überlangen Verfahrensdauer.343 Denn auch wenn man hierbei konkrete Umstände zum Anlass für eine derartige Prognose nimmt, besteht so doch wiederum die Gefahr, dass gewisse Erfahrungswerte über die Geschwindigkeit von Gerichtsverfahren in einem bestimmten Mitgliedstaat zugrunde gelegt werden, die in den Augen des EuGH eine unzulässige Pauschalisierung darstellen könnten.344 b) Auswirkungen auf die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Beurteilt man die Möglichkeit der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in diesem Zusammenhang, so geriete die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch (nur) dann in Konflikt mit dieser Ausprägung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens, wenn sie im Sinne einer pauschalen konditionalen Verknüpfung die Verfahrenseinleitung in einem Mitgliedstaat als Anknüpfungspunkt für den Missbrauchsvorwurf nähme. Dies hat vor allem für eine Ableitung des subjektiven Elements des Missbrauchsverbots zu gelten, die sich naturgemäß auf objektive Indizien stützen muss.345 Hierbei darf nicht alleine der Umstand, dass ein Verfahren in einem bestimmten Mitgliedstaat eingeleitet wurde als Indiz dafür verwandt werden, dass der Handelnde eine möglicherweise dort vorhandene langsam arbeitende Justiz bewusst zu seinem Vorteil bzw. zum Nachteil des anderen Teils nutzen wollte. Eine einzelfallbezogene Verhinderung von Verfahrensmissbrauch wird durch den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens allerdings gerade nicht ausgeschlossen. Dies lässt sich unter anderem aus dem Vorbehalt für konkret überlange Verfahrensdauern im Anwendungsbereich des Art. 29 EuGVVO folgern. Darüber hinaus streiten auch die an späterer Stelle noch zu besprechenden Änderungen im Bereich der Rechtshängigkeitsregeln der EuGVVO für diese Sichtweise.346 Da das unionsrechtliche Missbrauchsverbot darüber hinaus gerade an das Verhalten einer Person anknüpft, erfolgt der Vorwurf der Missbräuchlichkeit im Ergebnis ad personam und geriete daher nicht in Konflikt Nennung von Ausnahmen; Kropholler/von Hein, Art. 27 EuGVVO Rn. 21. vgl. zum Streitstand im Übrigen McGuire, Verfahrenskoordination, S. 131 mit umfangreichen Nachweisen. 342 S.o., S. 231. 343 So Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 722; Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 417 f. 344 Vgl. Nieroba, Rechtshängigkeit, S. 128 f. 345 S.o., S. 155 ff. 346 S.u., S. 290.
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mit der Annahme gleichwertiger und gleich effektiver Rechtssysteme innerhalb der Union.347 2. Einmischungs- bzw. Bevormundungsverbot Zum anderen hält der EuGH Einmischungen in das mitgliedstaatliche Jurisdiktionssystem durch Gerichte anderer Mitgliedstaaten für unzulässig. Hiermit ist insbesondere die Befugnis eines jeden mitgliedstaatlichen Gerichts verbunden, eigenverantwortlich und ohne Eingriffe durch die Institutionen anderer Mitgliedstaaten über seine Zuständigkeit zu befinden.348 Dabei sind es weniger die Fälle einer nachträglichen Zuständigkeitsprüfung durch ein mit der Anerkennung und/oder Vollstreckbarerklärung einer ausländischen Entscheidung befassten Gerichts, welche in der Vergangenheit besonders Aufsehen erregt haben.349 Zwar stellt sich auch hierbei die Frage, ob eine einmal getroffene Zuständigkeitsentscheidung eines mitgliedstaatlichen Gerichts bedingungslos anerkannt werden muss.350 Deutlich häufiger wurde allerdings über die Möglichkeit einer Zuständigkeitsüberprüfung während eines noch in Gang befindlichen Gerichtsverfahrens gestritten. Diesbezüglich hat der EuGH die Formel geprägt, dass jedes mitgliedstaatliche Gericht die gleiche Sachkenntnis in Auslegung und Anwendung des Zuständigkeitsrechts besitze und daher keine Befugnis aber auch außerhalb etwaiger normierter Befugnisse gar kein Bedürfnis zu einer Zuständigkeitsprüfung durch ein vom angerufenen Gericht verschiedenes Gericht bestehe.351 Die vertrauensbildenden verfahrensrechtlichen Mindeststandards werden nach diesem 347
Diesen Gedanken ablehnend McGuire, Verfahrenskoordination, S. 137, allerdings ohne Argumente; zwar bezogen auf eine Missbrauchskontrolle von Gerichtsstandsvereinbarungen, aber auch unter dem Blickwinkel einer Verletzung des Verbots der Pauschalisierung im Sinne der vorliegenden Arbeit, Leible/Röder, RIW 2004, 481, 484 f. 348 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.2.2009, Rs. C-185/07 (Allianz SpA u.a. ./. West Tankers Inc.), Slg. 2009, I-663, 697 f., Nr. 29; Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565, 3588, Nr. 26; Urt. v. 27.6.1991, Rs. C351/89 (Overseas Union Insurance Ltd u.a. ./. New Hampshire Insurance Company), Slg. 1991, I-3317, 3350, Nr. 23 ff. Dazu allgemein Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO Rn. 16 m.w.N. 349 Hierzu aber EuGH, Urt. v. 15.12.2012, Rs. C-456/11 (Gothaer Allgemeine Versicherung AG u.a. ./. Samskip GmbH), EuZW 2013, 60. 350 In der EuGVVO beispielsweise sind vom Ursprungsgericht verschiedene Gerichte befugt, die Zuständigkeitsentscheidung des Ursprungsgericht ausschließlich in den Grenzen des Art. 35 Abs. 1 EuGVVO nachzuprüfen. Eine Grenze wird hier aber bei bewusst verordnungswidrigem Verhalten durch das Ursprungsgericht in der Zuständigkeitsprüfung gezogen, vgl. Wolf, Gerichtsstand bei Konzerninsolvenzen, S. 34; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 34 EuGVVO Rn. 42, unter Auseinandersetzung mit Art. 35 Abs. 3 EuGVVO und mit Hinweis auf eine abweichende „h.M.“. 351 EuGH, Urt. v. 27.6.1991, Rs. C-351/89 (Overseas Union Insurance Ltd u.a. ./. New Hampshire Insurance Company), Slg. 1991, I-3317, 3350, Nr. 23; Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-
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Konzept ausschließlich durch das jeweils mit der Sache befasste Gericht verwirklicht,352 was allerdings zu wenig stimmigen Ergebnissen führen kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn mittels einer Torpedoklage das berechtigte Rechtsschutzinteresse eines Gläubigers blockiert wird, was an anderer Stelle noch detailliert behandelt werden wird,353 oder das zuerst angerufene Gericht in gravierender Weise gegen Verfahrensgarantien verstößt, eine Überprüfung dieser Entscheidung nach dem Konzept der Verordnung vor sonstigen Gerichten anhand eines ordre public-Einwands aber nicht möglich ist.354 a) Verbot sog. anti-suit injunctions als spezielle Ausprägung Eine besondere Form der Einmischung in laufende Gerichtsverfahren stellen gerichtliche Unterlassungsverfügungen gegen die Verfahrensführung vor einem anderen Gericht dar. In der Vergangenheit haben vor allem sog. anti-suit injunctions besondere Aufmerksamkeit erhalten.355 Diese von englischen Gerichten zur Verhinderung missbräuchlichen Prozessverhaltens verfügten Prozessführungsverbote sind in der Sache Verbote eines Gerichts an einen Verfahrensbeteiligten, ein Gerichtsverfahren vor einem anderen (ausländischen) Gericht zu führen. Gewährt werden sie vor allem in den Fällen der Umgehung einer ausschließlichen Gerichtsstands- oder Schiedsvereinbarung zugunsten englischer Gerichte356, aber auch in sonstigen Fällen missbräuchlicher Verfahrensführung im Ausland.
116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14739, Nr. 48; Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565, 3588, Nr. 25; Urt. v. 10.2.2009, Rs. C-185/07 (Allianz SpA u.a. ./. West Tankers Inc.), Slg. 2009, I-663, 697 f., Nr. 29; Urt. v. 15.7.2010, Rs. C-256/09 (Bianca Purrucker ./. Guillermo Vallés Pérez), Slg. 2010, I-7353, 7438, Nr. 74; Urt. v. 22.10.2010, Rs. C491/10 PPU (Joseba Andoni Aguirre Zarraga ./. Sabine Pelz), Slg. 2010, I-14247, 14306, Nr. 70; in der Sache auch Urt. v. 15.12.2012, Rs. C-456/11 (Gothaer Allgemeine Versicherung AG u.a. ./. Samskip GmbH), EuZW 2013, 60, 61, Nr. 28 f.; in diese Richtung auch Urt. v. 26.9.2013, Rs. C-157/12 (Salzgitter Mannesmann Handel GmbH ./. SC Laminorul SA), NJW 2014, 203, 204, Nr. 36. Dies wird von der Literatur überwiegend mitgetragen, vgl. nur Kropholler/von Hein, Art. 27 EuGVVO Rn. 19. Mit Blick auf die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ebenso Briggs, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 261, 273. 352 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 3 Rn. 26. 353 S.u., S. 359 ff. 354 So der Sachverhalt in EuGH, Urt. v. 22.10.2010, Rs. C-491/10 PPU (Joseba Andoni Aguirre Zarraga ./. Sabine Pelz), Slg. 2010, I-14247, 14303, Nr. 58 ff.; zu Recht krit. Dickinson, in: Lein, The Brussels I Review Proposal Uncovered, S. 83, 144 f. 355 Ausführlich zu diesem verfahrensrechtlichen Instrument des Common Law, vgl. Raphael, The Anti-Suit Injunction, passim; vgl. auch Reuß, Forum shopping, S. 183 ff.; Dutta/Heinze, ZEuP 2005, 431 ff. 356 Ausführlich hierzu Briggs, Agreements ond Jurisdiction and Choice of Law, S. 201 ff.
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Der EuGH hat in gerichtlichen Prozessführungsverboten mit der Struktur von anti-suit injunctions jedoch eine Verletzung des Prinzips gegenseitigen Vertrauens gesehen, da (zumindest mittelbar 357 ) in die Justizhoheit des betroffenen Mitgliedstaates eingegriffen würde.358 Weil so mitgliedstaatliche Gerichte daran gehindert würden, über ihre eigene Zuständigkeit zu entscheiden, hat er hierauf aufbauend ein allgemeines Verbot von anti-suit injunctions im Europäischen Justizraum formuliert.359 Dieses wirkt auch für sonstige entsprechend strukturierte gerichtliche Prozessführungsverbote, etwa für die in der Vergangenheit vereinzelt durch französische Gerichte erlassene Unterlassungsverfügungen.360 Selbst wenn mit dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens argumentiert wird, ist das Verbot wiederum vor dem Hintergrund zu sehen, dass ansonsten nationales Recht die Anwendung von Unionsrecht beeinträchtigen bzw. ausschließen würde. Ein Umstand, der schon in Zusammenhang mit den Vorbehalten des EuGH gegenüber der im Common Law verankerten Doktrin des forum non conveniens herausgestellt wurde.361 Hierin ist folglich keine generelle Absage an die Möglichkeit zu sehen, Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht zu verhindern.
357 Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 29 m.w.N.: Anti-suit injunctions wirken nach Common Law mit Wirkung gegen den Kläger (in personam), was von englischer Seite für deren Vereinbarkeit mit dem Vertrauensgrundsatz vorgebracht wurde, vgl. die Schlussanträge des GA Ruiz-Jarabo v. 20.11.2003, Rs. C-159/02 (Gregory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565, 3575, Nr. 34. 358 Zur Vereinbarkeit von anti-suit injunctions und Unionsrecht vgl. etwa Ambrose, 52 ICLQ (2003) 401 ff.; Briggs, 120 L.Q.R. (2004) 529 ff.; Dutta/Heinze, ZEuP 2005, 431 ff.; Illmer/Naumann, IHR 2007, 64 ff.; Thiele, RIW 2002, 383 ff. 359 Z.B. EuGH, Urt. v. 10.2.2009, Rs. C-185/07 (Allianz SpA u.a. ./. West Tankers Inc.), Slg. 2009, I-663, 699, Nr. 34: „Der Erlass einer Anordnung durch ein Gericht eines Mitgliedstaats, mit der einer Person die Einleitung oder Fortführung eines Verfahrens vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats […] verboten wird, […] ist mit der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen unvereinbar.“ Das deutsche Schrifttum trägt diesen Ausschluss mittlerweile ganz überwiegend mit, so etwa Reuß, Forum Shopping, S. 190; Dutta/Heinze, ZEuP 2005, 431, 448 ff.; Illmer/Naumann, IHR 2007, 64, 66; Kronke, in: FS Kaissis, S. 549, 551; Rauscher, IPRax 2004, 405, 409; Thiele, RIW 2002, 383 ff. (allerdings auf Rechtssicherheit als Argument abstellend); Hausmann, in: unalexKomm, vor Artt. 2-4 Rn. 31; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO Rn. 17; Stadler, in: Musielak, Vorbem. Art. 27-30 EuGVVO; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Einleitung vor Art. 2 EuGVVO Rn. 38. Zur Frage, ob sich an dem Verbot von anti-suit injunctions unter der EuGVVO mit deren Reform in Teilbereichen etwas geändert hat, vgl. unten, S. 371 f. 360 Z.B. Cass. civ., 11 novembre 2002, Rev. crit. DIP 2003, 816. 361 S.o., S. 257 ff.
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b) Auswirkungen auf die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Beurteilt man die Möglichkeit der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots auf Grundlage obiger Ausführungen, die den traditionellen Ansatz in Rechtsprechung und Schrifttum wiedergeben, führt dies vor allem zu einer Schlussfolgerung: Nach herkömmlichem Verständnis ist nur das missbräuchlich angerufene Gericht selbst befugt, über die Frage der Missbräuchlichkeit zu entscheiden. 362 In Fällen missbräuchlichen forum shoppings und solchen der Zuständigkeitserschleichung schränkt das Einmischungsverbot das missbräuchlich angerufene Gericht jedoch schon gar nicht ein: Dieses entscheidet selbst über seine eigene Zuständigkeit und ob diese gegebenenfalls missbräuchlich in Anspruch genommen wurde. Ein Eingriff in das Justizsystem anderer Staaten liegt hier gerade nicht vor, doch genau das ist Inhalt dieser Komponente des Grundsatzes. Eine Ausdehnung des Grundsatzes, wonach die Anrufung eines mitgliedstaatlichen Gerichts nie rechtsmissbräuchlich sein könne,363 ist zu widersprechen. Diese Sichtweise kann weder auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt werden, noch aus Sinn und Zweck des Grundsatzes abgeleitet werden. Ein anderer Befund ergibt sich demgegenüber für die Fälle der Torpedoklage. Hier beschränkt man das später angerufene Gericht in seiner Prüfungskompetenz, was die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts angeht. Selbst wenn das zuerst angerufene Gericht offensichtlich unzuständig ist und eine andere Schlussfolgerung als diejenige, dass der Kläger Art. 29 EuGVVO oder eine andere Rechtshängigkeitsregel 364 missbräuchlich für sich in Anspruch nimmt, vernünftigerweise nicht getroffen werden kann, ist das zeitlich nachrangig angerufene Gericht nach dem bisher Gesagten gehindert, die missbräuchlich in Anspruch genommene Rechtshängigkeitsregel außer Acht zu lassen. Noch unbefriedigender wird die Situation, wenn das später angerufene Gericht eigentlich aufgrund einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung zur Sachentscheidung berufen ist. Gesteht man auch hier dem zuerst angerufenen Gericht – wie in Gasser – bedingungslos eine Kompetenz zur autonomen Zuständigkeitsprüfung zu365, entwertet man in jedem Fall das aus Sicht des un-
362
So stellvertretend McGuire, Verfahrenskoordination, S. 137 f. So aber Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 167; vgl. dazu auch oben, Fn. 307. 364 Das Problem der Torpedoklage stellt sich auch im Anwendungsbereich parallel strukturierter Vorschriften, wie etwa Art. 12 EuUnthVO, vgl. Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO Rn. 13. 365 EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14739 f., Nr. 47 ff. 363
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ternehmerischen Rechtsverkehrs absolut notwendige Mittel der Gerichtsstandsvereinbarung366 und ermöglicht es einem potentiellen Schuldner, böswillig Verfahren zu verzögern.367 Abhilfe auf Grundlage nationalen Verfahrensrechts ist kein gangbarer Weg, was exemplarisch durch das Verbot von antisuit injunctions bestätigt wird und auch schon – freilich aus einem anderen Blickwinkel – in den Ausführungen zu den Vorbehalten des EuGH gegenüber nationalem Verfahrensrecht im Anwendungsbereich des Europäischen Zivilverfahrensrechts deutlich geworden ist368. Der EuGVVO-Reformgesetzgeber hat in Anbetracht dieses unbefriedigenden Ergebnisses für die EuGVVO deshalb zu Recht eine sachlich begrenzte Abweichung von der Grundregel autonomer Zuständigkeitsprüfung vorgesehen. Gemäß dem schon mehrfach angesprochenen Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO kommt dem mutmaßlich prorogierten Gericht bei einem in Widerspruch zu einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung eingeleiteten Verfahren die vorrangige Kompetenz zur Entscheidung über die Zuständigkeitsfrage zu. Diese Änderung wurde durch den Unionsgesetzgeber damit begründet, dass sie zur Vermeidung missbräuchlicher Prozesstaktiken und zur Erhöhung der Wirksamkeit ausschließlicher Gerichtsstandsvereinbarungen notwendig sei.369 Unbefriedigend bleibt die Lage der Dinge hinsichtlich aller sonstigen Fälle von Torpedoklagen, in denen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung nicht vorhanden ist.370 Die praktische Relevanz dieser Konstellationen ist, trotz mancher anderslautender Behauptung371, unbestreitbar.372 Wird demnach eine negative Feststellungsklage offensichtlich ausschließlich zur Schädigung des anderen Teils erhoben373, ist nach den bisherigen Ausführungen grundsätzlich die wenig befriedigende vorrangige Prüfungskompetenz des (in missbräuchlicher Weise) zuerst angerufenen Gerichts gegeben.374 Ob in derart offensichtlichen Fällen missbräuchlichen Handelns Art. 29 EuGVVO deshalb nicht ange-
366
Vgl. dazu Magnus, in: Lein, The Brussels I Review Proposal Uncovered, S. 83, 83. Statt vieler Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO Rn. 16b, 18 ff. 368 S.o., S. 257 f. 369 Vgl. oben, S. 189 f. Ausführlich zur Regelung noch unten, S. 363 ff. 370 So auch Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO Rn. 5. 371 Vgl. McGuire, in: FS Kaissis, S. 671, 678. 372 Vgl. die gesammelten Gerichtsentscheidungen bei Véron, IIC 2004, 638, 640 und Leitzen, GRUR Int. 2004, 1010, 1012 f. Daneben sei auf die Entscheidungen des EuGH in Sachen Weber und die Vorlage in Sachen Weitkämper-Krug verwiesen, s.u., S. 297 ff. Vor allem Weitkämper-Krug lag eine offensichtliche Missbrauchskonstellation zugrunde, in der gerade nicht gegen eine Gerichtsstandsvereinbarung verstoßen wurde. Vgl. auch die in Fn. 515 aufgeführten Entscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte. 373 Dass dies mitnichten konstruierte Fälle sind, zeigen die Rechtssachen Weber und Weitkämper-Krug, s.u., S. 297 ff. 374 Zur Notwendigkeit der Neubewertung dieses Zwischenergebnisses, s.u, S. 289 ff. 367
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wandt werden muss, wurde dem EuGH in der Rechtssache Weber zwar vorgelegt, gelangte aber bedauerlicherweise nicht zur Entscheidung.375 Generalanwalt Jääskinen hatte in den dazugehörigen Schlussanträgen noch gegen eine Durchbrechung in derartigen Situationen votiert, ohne aber auch nur im Ansatz darzulegen, auf welcher Grundlage hierbei die Bewertung eines Handelns als missbräuchlich vorgenommen werden würde.376 Die vorrangige Prüfungskompetenz des zuerst angerufenen Gerichts wird meines Erachtens aber schon in der Sache nicht berührt, wenn die Missbräuchlichkeit der zuerst erhobenen Klage direkt aus den subjektiven Motiven des Torpedoklägers, insbesondere einer Schädigungsabsicht abgeleitet wird. Denn die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts muss nicht zwingend (zusätzlicher) Gegenstand der Missbrauchsprüfung sein. 377 Das Missbrauchsverbot würde in diesen Fällen auch nicht daran anknüpfen, dass eine Zuständigkeit vor dem ausländischen Gericht missbräuchlich in Anspruch genommen wird, sondern lediglich daran, dass die Wirkungen einer Rechtshängigkeitsregel im Inland ausgenutzt werden sollen. Eine Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts ist für die Wirkung des Art. 29 EuGVVO nach der Konzeption des Gesetzgebers gerade ohne Belang.378 Auch das Verbot der Einmischung und Bevormundung spricht also nicht von vorneherein gegen die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots.379
375
Vgl. EuGH, Urt. v. 3.4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469, 472, Nr. 64. 376 Vgl. GA Jääskinen, Schlussanträge v. 30.1.2014, Rs. C-438/12, (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), Nr. 78 ff. 377 A.A. wohl Meyer, Forum Shopping, S. 154. Wie hier OLG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2012, 13 W 33/12, BeckRS 2013, 411 unter 3.). Das OLG sieht es nicht als Verstoß gegen den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens an, wenn es in einem offenkundigen Missbrauchsfall Art. 27 EuGVVO zweckmäßig reduziert, da und wenn eine Prüfung der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts nicht erfolgt. Die in Turner gemachten Ausführungen des EuGH können mit diesen Ausführungen in Einklang gebracht werden, denn es muss für das Missbrauchsurteil nicht zwingend mittelbar die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts mitgeprüft werden, vgl. Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565, 3589, Nr. 28. Die Ausführungen des EuGH sind im Lichte der Vorlage zu betrachten, in welcher der Kläger und die Regierung des Vereinigten Königreichs dezidiert (!) die fehlende Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts als Ausgangspunkt für die Beruteilung der Treuwidrigkeit des Klägerverhaltens anführten. 378 Vgl. z.B. Leitzen, GRUR Int. 2004, 1010, 1011. 379 S.u., S. 359 ff.
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III. Gegenseitiges Vertrauen als Postulat Betrachtet man den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in einem breiteren Zusammenhang, so stellt er funktional eine Zielbestimmung dar, die mit dem Binnenmarktziel und demjenigen möglichst umfassender Integration eng verbunden ist.380 Denn über das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten wird beispielsweise die Reduzierung von Kontrollmechanismen gerechtfertigt, welche die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen innerhalb der Union betreffen.381 Dies dient dazu, eine möglichst umfassende Freizügigkeit gerichtlicher Entscheidungen und Personen im Europäischen Justizraum zu erreichen. Dabei teilt der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens die Eigenschaft des Binnenmarktziels in Form eines nie erreichbaren Idealzustands382. Dazu passt es, wenn Generalanwalt Colomer in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Turner betont, dass das gegenseitige Vertrauen kein statisches Faktum darstellt, sondern eine in der Entwicklung befindliche Größe.383 Nüchtern betrachtet verbirgt sich hinter dem Grundsatz damit lediglich ein Postulat, wonach die Mitgliedstaaten in die Rechtssysteme anderer Mitgliedstaaten vertrauen sollen.384 Dennoch ist nicht zu verkennen, dass neben diesen vorsichtigen Ansätzen einer realitätsnahen Betrachtung Rechtsprechung und Gesetzgebung in der Vergangenheit von einem bedingungslosen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten ausgingen, was sich auch darauf auswirkte, wie die Möglichkeiten einer Missbrauchsverhinderung im Verfahrensrecht eingeschätzt wurde. Der Argumentationstopos diente dazu, wie derjenige möglichst umfassender Integration und derjenige des Binnenmarkziels, den Regelungsanspruch des Unionsrechts auszuweiten385. Einschränkungen, etwa auf Grundlage eines Missbrauchsverbots, sind dabei kontraproduktiv. Das aber führt dazu, dass ein ohnehin in hohem Maße politisches Instrument zwangsläufig seine Anbindung an die tatsächlichen Gegebenheiten verliert. Es überrascht daher keinesfalls, dass die Realität, das Vertrauenkönnen, ganz anders aussieht. Die Effektivität und Zuverlässigkeit der Gerichtssysteme innerhalb der EU unterscheiden sich teilweise massiv voneinander, was durch
380
Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 535; Mitsilegas, 31 YEL (2012) 319, 320 f. S.o., S. 272. 382 Vgl. oben, S. 152. 383 Schlussanträge des GA Colomer v. 20.11.2003, Rs. C-159/02 (Gregory Paul Turner ./. Felix Fareed u.a.), Slg. 2003, I-3565, 3573, Nr. 30, der sich dort auf ein zwischen den Mitgliedstaaten entstandenes Vertrauen bezieht.; ebenso Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 534; Willer, ZZP 127 (2014), 99, 105 f. 384 Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 36; Kramer, 2 IJPL (2011) 202, 217. 385 S.o., S. 135 f. 381
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diverse Studien und statistische Erhebungen eindrucksvoll belegt wird.386 Dass sich der EuGH hieran traditionell nicht stört, wurde insbesondere in Erörterung der negativen Komponente des Grundsatzes dargestellt. Gleiches gilt für den Gesetzgeber. Beiden wurde in der Literatur daher zu Recht vorgeworfen, die Augen vor der Realität zu verschließen. 387 In Brüssel scheute man folglich nicht davor zurück, das Postulat gegenseitigen Vertrauens in eine scheinbare Realität umzumünzen und auf dieser Grundlage Rechtsakte mit weitreichenden Folgen für die Unionsbürger erlassen, was ebenfalls entsprechend kritische Äußerungen aus den Mitgliedstaaten zur Folge hatte.388
386 Die Zahlen sprechen für sich: Nach dem Report Doing Business 2013 der Weltbank liegt beispielsweise Italien in der Kategorie ‚Enforcing contracts‘ (zum Untersuchungsansatz, vgl. Doing Business 2013, S. 90: „Doing Business measures the time, cost and procedural complexity of resolving a commercial lawsuit between 2 domestic businesses. The dispute involves the breach of a sales contract worth twice the income per capita of the economy. The case study assumes that the court hears arguments on the merits and that an expert provides an opinion on the quality of the goods in dispute. This distinguishes the case from simple debt enforcement. The time, cost and procedures are measured from the perspective of an entrepreneur (the plaintiff) pursuing the standardized case through local courts” [Hervorhebung im Original]) auf Platz 160 von 185 untersuchten Staaten, Rumänien auf Platz 60, Griechenland auf Platz 87 und Malta auf Platz 121 (Doing Business 2013, S 172, 190, 166, 180). Im Gegensatz dazu steht Deutschland auf Platz 5 der Untersuchung, hinter Norwegen, Island, Südkorea und Luxemburg (Doing Business 2013, S. 165, 186, 169, 174, 177). In einem internen Papier der italienischen Justiz werden daneben als Durchschnittswert für die Dauer eines erstinstanzlichen Zivilverfahrens in Italien für das Jahr 2009 1.576 Tage veranschlagt [vgl. Ernesto Lupo zit. nach Depping/Platter, JbItalR 24 (2011), 85, 89, Fn. 12]. Im Rule of Law Index 2014 des World Justice Project rangiert Italien in der Kategorie „Civil justice is effectively enforced” mit einer Punktzahl von 0,58 – wobei 1 die höchste Punktzahl darstellt und 0,0 die niedrigste – auf dem 36. Platz bei 99 untersuchten Staaten, wohingegen Deutschland mit 0,82 auf vierten Platz hinter Norwegen, Niederlande und Dänemark steht (vgl. Rule of Law Index 2014, S. 26 f.) Daneben scheint es in manchen Mitgliedstaaten der EU auch nicht unüblich zu sein, dass über die Bestechung von Richtern Verfahren auf unabsehbare Zeit blockiert werden können oder so sonst ein für eine Seite günstiges Ergebnis erreicht werden kann, so der Erfahrungsbericht von Bogdan, 51 Scandinavian Studies in Law (2007) 89, 96. Die Behauptung, dass sich die Zivilverfahren in allen Mitgliedstaaten auf einem rechtsstaatlichen Niveau bewegten, scheint in dieser Allgemeinheit leider nicht richtig zu sein, so aber Sujecki, ZEuP 2008, 458, 476 f. Vgl. aber auch die Verfahrensdauer für Zivilverfahren vor deutschen Gerichten bei G.-P. Calliess, Der Richter im Zivilprozess, S. A 53 ff. 387 Etwa Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 36; Andrews, GPR 2005, 8, 14; Hartley, 54 ICLQ (2005) 813, 822; Rauscher, IPRax 2004, 406, 409; Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO, Rn. 249; Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO, Rn. 5; dies., IPRax 2004, 2; Sujecki, ZEuP 2008, 458, 469; R. Wagner/Beckmann, RIW 2011, 44, 46. 388 Vor allem in Zusammenhang mit dem Erlass der EuVTVO erntete der europäische Gesetzgeber herbe Kritik, vgl. Rauscher, Der Europäische Vollstreckungstitel, München u.a. 2004, Rn. 15; ders., IPRax 2004, 405, 409; Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 36;
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Doch selbst wenn man diesen (realitätsblinden) Ansatz mitträgt, kann dies im Ergebnis nicht dazu führen, dass hierdurch der Individualrechtsschutz im konkreten Fall leidet.389 Zwar mag die Idee begrenzter Kompetenzen mitgliedstaatlicher Gerichte als Folge der Anerkennung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens im Regelfall zu interessengerechten Ergebnissen führen. In Fällen des Missbrauchs von Verfahrensrecht zur Schädigung eines anderen oder in Fällen, in denen Verfahrensrecht allgemein zweckwidrig eingesetzt wird, muss aber eine Überprüfung dieser Regel möglich sein. Dies lässt sich zum einen damit begründen, dass gegenseitiges Vertrauen in erster Linie eine durch Völkerrecht bzw. Unionsrecht begründete Verpflichtung zwischen den Mitgliedstaaten darstellt oder ausdrückt. Daneben gilt auch hinsichtlich des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens, dass er der Abwägung zugänglich sein muss, was zwingende Folge einer Anerkennung als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist (unten, 1.). Darüber hinaus hält es vorliegende Arbeit gerade für vertrauensfördernd, begrenzte und klar strukturierte Kontrollmechanismen in Fällen des Verfahrensmissbrauchs zuzulassen (unten, 2.). 1. Wirkung des Grundsatzes zum Nachteil von Verfahrensbeteiligten? An erster Stelle kann man daher die Frage aufwerfen, ob es sinnvoll und überhaupt möglich ist, den Grundsatz, wonach die Mitgliedstaaten in die jeweilige Rechtspflege anderer Mitgliedstaaten vertrauen müssen, mit Wirkung zum Stadler, IPRax 2004, 2 ff.: „Die Formel von einer Austauschbarkeit der Rechtspflege innerhalb der Mitgliedstaaten geht […] an der Realität vorbei.“ Bezüglich einer Abschaffung des Exequaturverfahrens unter der reformierten EuGVVO, vgl. Kramer, 2 IJPL (2011) 202, 221 f.; Timmer, 9 J. Priv. Int. L. (2013) 129, 136 ff. Vgl. allerdings die durchaus kritischen Untertöne in Erwägungsgrund Nr. 5 S. 5 der ADR-Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG (Richtlinie über alternative Streitbeilegung), ABl. L 165 v. 18.6.2013, S. 63: „Sofern AS-Verfahren zur Verfügung stehen, haben sie in den verschiedenen Mitgliedstaaten ein sehr unterschiedliches Qualitätsniveau, und grenzübergreifende Streitigkeiten werden von den AS-Stellen oft nicht effektiv bearbeitet.“ Da die Richtlinie allerdings aufgrund des Kompetenztitels des Art. 114 AEUV ergangen ist und nicht aufgrund Art. 81 AEUV, mag man Zweifel anmelden, was die Übertragbarkeit der in den Erwägungsgründen geäußerten Kritik in das Europäische Zivilverfahrensrecht angeht. Mit anderen Worten: Die angesprochenen Qualitätsunterschiede in der alternativen Streitbeilegung in den Mitgliedstaaten mögen zwar das Vertrauen der Bürger in den Binnenmarkt erschüttern (vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 15 S. 1 der ADR-Richtlinie), nicht aber zwangsläufig das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander im Sinne des Grundsatzes. Darüber hinaus wird alternative Streitbeilegung nach dem Konzept der Verordnung gerade überwiegend nicht durch staatliche Stellen betrieben (vgl. Art. 2 Abs. 2 lit. f der ADR-Richtlinie, allerdings auch deren Erwägungsgrund Nr. 24 S. 3), die aber gerade durch die Regeln der EuGVVO und anderer Verordnungen gebunden sind. 389 So auch Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 542.
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Nachteil von Privatrechtssubjekten zu versehen. 390 Hierfür bieten sich zwei Ansatzpunkte. a) Völkerrechtliche Verpflichtung zu Lasten von Privatrechtssubjekten? Versteht man die Gründungsverträge und insbesondere die aus Art. 4 Abs. 3 EUV abgeleitete Pflicht der Mitgliedstaaten zur loyalen Zusammenarbeit als Quelle des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens 391 , ist die oben gestellte Frage dahingehend zu präzisieren, ob diese Verpflichtung der Mitgliedstaaten in der Union direkt zu Lasten von Verfahrensbeteiligten wirken kann. Eine Wirkung völkerrechtlicher Verpflichtungen zugunsten von Privatrechtssubjekten bzw. den Staatsangehörigen der jeweiligen Vertragsparteien, ist im Unionsrecht beispielsweise für die Grundfreiheiten seit van Gend & Loos392 anerkannt. Ob aber etwa aufgrund der Grundfreiheiten darüber hinaus Belastungen für Private möglich sind, ist höchst umstritten.393 Zieht man eine Parallele zum deutschen Staatsrecht, könnte man das Postulat gegenseitigen Vertrauens von seiner ursprünglichen Anlage her funktional noch am ehesten als Staatszielbestimmung begreifen; als „Richtlinie oder Direktive für das staatliche Handeln“394, als „bindende Zielbestimmung“395. Für diese Art von Verfassungsrecht ist nach deutschem Verständnis jedenfalls anerkannt, dass es nicht zu Lasten von Privaten wirkt.396 Ein anderer Ansatz ist es, auf die subjektive Bindungswirkung völkerrechtlicher Verpflichtungen abzustellen. Zwar ist anerkannt, dass völkerrechtliche Verträge Wirkungen zu Lasten der Staatsangehörigen der jeweiligen Vertragsstaaten entfalten können und dass hierin keine Ausnahme vom Grundsatz der relativen Bindungswirkung von Staatsverträgen zu sehen ist. Dies gilt dann, wenn die Belastung der Staatsangehörigen erst über den Erlass spezieller Rechtsvorschriften der Vertragsparteien oder einer durch sie bevollmächtigten Organisation erfolgt. 397
390
Angedeutet bei Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 529. So Dickinson, in: Lein, The Brussels I Review Proposal Uncovered, S. 83, 114; Janssens, Mutual Recognition in EU Law, S. 28 m.w.N. 392 EuGH, Urt. v. 5.2.1963, Rs. 26/62 (NV Algemene Transport-en Expeditie Onderneming van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1, 24. 393 Vgl. nur krit. Herdegen, Europarecht, § 14 Rn. 12 ff. m.w.N. Ausführlich, Löwisch, Die horizontale Direktwirkung der Europäischen Grundfreiheiten, passim. 394 Bericht der Sachverständigenkommission ‚Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge‘, S. 21. 395 Scheuner, in: FS Forsthoff, S. 325, 329. 396 Vgl. zu Art. 20a GG etwa Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 20a GG Rn. 45. 397 Dahm, Völkerrecht, Bd. 3, S. 119. Zu einer direkten Verpflichtung von Privaten durch Völkerrecht in den freilich seltenen Fällen der Verantwortlichkeit von Individuen vor internationalen Strafgerichten, vgl. Hailbronner/Kau, in: Vitzthum, Völkerrecht, S. 147, 226; Herdegen, Völkerrecht, § 112 Rn. 3; K. Ipsen, Völkerrecht, § 8 Rn. 14. 391
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Zwar könnte man in den jeweiligen Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts den durch die Mitgliedstaaten legitimierten Vollzug des Vertrauensgrundsatzes durch den europäischen Gesetzgeber mit Wirkung gegenüber Privaten sehen. Selbst wenn man aber etwa Art. 29 EuGVVO als Ausformung des Grundsatzes begreift und damit vermittelt durch diese Vorschrift eine Durchsetzung des Grundsatzes zulasten von Privatrechtssubjekten prinzipiell möglich wäre, fielen doch zumindest diejenigen Fälle aus dem Raster, in denen der EuGH eine bestimmte Sichtweise direkt mit dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens begründet hat, wie in Turner.398 Natürlich könnte man hier das ‚Gesamtsystem des Europäischen Zivilverfahrensrechts‘ als Transmissionsriemen des Grundsatzes sehen. Die Flucht in ein abstraktes Systemdenken zeigt aber schon, dass hier ohne die eigentlich notwendige Konkretisierung des Grundsatzes gegenüber Privaten operiert würde, womit eine diese direkt benachteiligende Wirkung des Grundsatzes zweifelhaft erscheint. b) Gegenseitiges Vertrauens kein Selbstzweck Unabhängig von diesen Erwägungen muss eine bedingungslose Durchsetzung des Grundsatzes zum Nachteil Privater deshalb ausscheiden, weil er lediglich Mittel zum Zweck und nicht Selbstzweck sein kann.399 Zur Erinnerung: Über die Regeln des Europäischen Zivilverfahrensrechts, die durch das Vertrauen unter den Mitgliedstaaten getragen sind, soll letztlich den Rechtsunterworfenen die Durchsetzung ihre Rechte erleichtert werden.400 Dies muss gerade auch für den jeweils zu beurteilenden Einzelfall gelten und nicht nur Lippenbekenntnis bleiben. Wirkt sich der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens danach im Sinne einer Rechtsschutzverweigerung aus oder wird über ihn Missbrauch zu Lasten
398 S.o., ab Fn. 329; vgl. zu diesem Aspekt Niboyet, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 77, 78. 399 Althammer/Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 27. 400 Vgl. z.B. Erwägungsgrund Nr. 1 EuGVVO: „Die Gemeinschaft hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem der freie Personenverkehr gewährleistet ist, zu erhalten und weiterzuentwickeln. Zum schrittweisen Aufbau dieses Raums hat die Gemeinschaft unter anderem im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen die für das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Maßnahmen zu erlassen.“ Vgl. Erwägungsgrund Nr. 3 EuGVVO: „ Die Union hat sich zum Ziel gesetzt, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu erhalten und weiterzuentwickeln, indem unter anderem der Zugang zum Recht, insbesondere durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen, erleichtert wird. Zum schrittweisen Aufbau eines solchen Raums hat die Union im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, die einen grenzüberschreitenden Bezug aufweisen, Maßnahmen zu erlassen […].“
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eines Rechtsunterworfenen gerade ermöglicht, muss er als Folge einer Abwägung zurücktreten. 401 Das ergibt sich, unabhängig von den in EMRK und Grundrechte-Charta verbürgten Garantien zugunsten der Verfahrensbeteiligten, unter methodischen Gesichtspunkten ohnehin als Folge der Anerkennung des Vertrauensgrundsatzes als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts.402 Die Betonung des eigentlichen Zwecks des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens liegt dabei auf Linie mit dem an anderer Stelle zum Rechtssicherheitsgrundsatz Gesagten. Letzterer ist zwar in seiner Stoßrichtung direkt und primär individualschützend,403 was es leicht macht, gegen einen bedingungslosen Vorrang der Rechtssicherheit trotz entgegenstehender Interessen der Verfahrensbeteiligten in Form eines überindividuellen Interesses an Rechtssicherheit zu argumentieren. Hinsichtlich des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens ist die Ausgangssituation zwar anders, das Ergebnis muss aber identisch sein. Der Grundsatz begründet von seiner eigentlichen Idee her lediglich eine Bindung zwischen den Mitgliedstaaten, weshalb eine Durchsetzung gegen die legitimen Interessen der Verfahrensbeteiligten schon deshalb verfehlt erscheint. Man könnte sogar mit einem argumentum a fortiori arbeiten: Eine Wirkung zu Lasten von Verfahrensbeteiligten muss in begründeten Einzelfällen deshalb erst recht ausscheiden, weil das gegenseitige Vertrauen im Grundsatz lediglich eine Pflichtenebene zwischen den Mitgliedstaaten normiert.404 Diese öffentlichen Interessen müssen, nimmt man die Lehren der Interessenjurisprudenz ernst, dann zurücktreten, wenn die billigerweise405 zu berücksichtigenden Interessen des Rechtsverkehrs höher zu gewichten sind.406 Alles andere käme einer Qualifikation als ius cogens gleich, für die im Verhältnis der Rechtsunterworfenen zueinander keinerlei Notwendigkeit existiert. 2. Vertrauen durch Kontrolle Die Diskrepanz zwischen dem realen Vertrauen in die mitgliedstaatliche Rechtspflege bzw. der Vertrauensgrundlage und dem Postulat des Vertrauensollens kann nach Ansicht vorliegender Arbeit nur über die Zulassung von Kontrollmöglichkeiten im Einzelfall aufgelöst werden. Dass diese Sichtweise
401
Kramer, 2 IJPL (2011) 202, 221 zur Garantie des fair trail; vgl. auch Blobel/Späth, E.L.Rev. 30 (2005) 528, 542. 402 Vgl. oben, S. 164 ff. 403 S.o., S. 223. 404 Vgl. Mitsilegas, 31 YEL (2012) 319, 322 f. 405 Natürlich könnte man ein Interesse etwa des Torpedoklägers anerkennen, einen Rechtsstreit zu blockieren, weil er von der Zuständigkeit des durch ihn angerufenen Gerichts überzeugt ist. Zwar mag die Abgrenzung von Fällen legitimen Interesses und solchen eines Missbrauchs Schwierigkeiten bereiten. Das liegt letztlich in der Natur der Sache, kann aber nicht zu einem abweichenden Ergebnis führen. 406 Vgl. oben, S. 219 f.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
durchaus nicht abwegig ist, zeigt sich unter anderem im Ergebnis des EuGVVO-Reformprozesses, worauf sogleich näher eingegangen wird.407 Für Fälle des Verfahrensmissbrauchs stellt das unionsrechtliche Missbrauchsverbot demnach zweierlei dar: Eine unionseinheitliche Abweichungskompetenz für Extremfälle und Teil eines verfahrensrechtlichen Methodengrundstocks, der vertrauensfördernd wirkt. Nimmt man die Abweichungskompetenz der mitgliedstaatlichen Institutionen in den Fokus, so zeigt sich hierin eine bemerkenswerte Parallele zu den Ursprüngen des Missbrauchsverbots selbst: In van Binsbergen und nachfolgenden Entscheidungen wurde den Mitgliedstaaten die Befugnis zur Abweichung von den primär- und sekundärrechtlichen Verpflichtungen zugestanden, weil andernfalls das Projekt des Binnenmarktes in seiner vollen Tragweite nur schwer zu vermitteln gewesen wäre.408 Es war gerade die Möglichkeit der Feinabstimmung, das Abweichen in begründeten Einzelfällen, was das Vertrauen der Mitgliedstaaten in den Binnenmarkt stärken sollte und tatsächlich auch gestärkt hat.409 Da aber das unionsrechtliche Missbrauchsverbot durch den EuGH vornehmlich an Fällen entwickelt wurde, in denen der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in Form der gegenseitigen Anerkennung auf dem Binnenmarkt eine Rolle spielte und das Missbrauchsverbot daher als eine zulässige Einschränkung des Grundsatzes verstanden wurde,410 muss es auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht als Kontrollmechanismus schon deshalb in Betracht gezogen werden können. Für das Prinzip gegenseitiger Anerkennung als Ausprägung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens ist die Sichtweise mittlerweile fester Bestandteil der unionsrechtlichen Doktrin. Einschränkungen des Grundsatzes in Einzelfällen schützen den Grundsatz an sich. Dies gilt auch außerhalb des Anwendungsbereichs des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots und zeigt sich beispielhaft in der Cassis-Formel. 411 In der betreffenden Entscheidung verfügte der EuGH nicht nur die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung von Kontrollen im Ursprungsland einer Ware (sog. Herkunftslandprinzip), sondern gestand den Mitgliedstaaten vor allem eine Restkompetenz zur Nichtanwendung in Ausnahme-
407
S.u., S. 289 ff. Zum Zusammenhang von Akzeptanz und Missbrauchsverbot, Sørensen, C.M.L.R. 43 (2006) 423, 459, der eine Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Korreturmechanismusses als Möglichkeit zur Erhöhung der Akzeptanz von Unionsrecht in den Mitgliedstaaten ansieht. 409 Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 540. 410 Vgl. etwa Janssens, Mutual Recognition in EU Law, S. 62 ff. und de la Feria, 45 C.M.L.R. (2008) 395 ff. 411 Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 533 m.w.N. 408
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fällen zu, wenn dies zum Schutz zwingender Gründe des Gemeinwohls erforderlich ist.412 Ein schrankenloser Automatismus, blindes Vertrauen413, war offensichtlich gerade nicht beabsichtigt.414 So gewährte der EuGH den Mitgliedstaaten unter anderem sogar die Befugnis, die Gleichwertigkeit von Kontrollen im Ursprungsstaat zu überprüfen, solange hierin keine systematische Überprüfung liegt.415 Gleiches kann allgemein für den Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts beobachtet werden: Hier wird ebenfalls zunehmend die Abwendung von einem rein konditional verstandenen Automatismus gegenseitiger Anerkennung hin zu der Notwendigkeit propagiert, die individuellen Bedürfnisse der jeweils konkret Betroffenen zu würdigen.416 Gerade dieser Punkt scheint von Bedeutung für die Behandlung von Torpedoklagen außerhalb des durch Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO geschaffenen Mechanismus zu sein: Soweit das später angerufene Gericht keine systematisch-konditionale Verknüpfung von Gerichtsstaat und Missbrauchsverdikt pflegt, kann es in begründeten Fällen durchaus das Ausnutzen eines überforderten Justizsystems als Ziel des missbräuchlich handelnden Torpedoklägers benennen und daraus entsprechende Schlüsse ziehen. Von einigen Vertretern des verfahrensrechtlichen Schrifttums wird mittlerweile demnach völlig zutreffend erkannt, dass Abweichungsmöglichkeiten im Einzelfall gerade vertrauensfördern wirken können. Teilweise werden dabei explizit Fälle des Verfahrensmissbrauchs zum Anlass für diese Einschätzung genommen.417 Parallel hierzu liegt die immer wieder in Zusammenhang mit der Fortentwicklung des Europäischen Zivilverfahrensrechts vorgetragene Forderung nach einem Kanon an prozeduralen Mindeststandards, um hierauf Vertrauen wachsen zu lassen.418 Ein Bestandteil dieser Mindeststandards kann das unionsrechtliche Missbrauchsverbot sein. Neben der objektivrechtlichen Dimension des Missbrauchsverbots als Schutz gegen die zweck- und sinnwidrige Anwendung von Unionsrecht wird hierüber natürlich ebenfalls und vor allem
412 EuGH, Urt. v. 20.2.1979, Rs. 120/78 (Rewe-Zentral AG ./. Bundesmonopolverwaltung für Brantwein), Slg. 1979, 649, 662, Nr. 8. 413 Vgl. aber Kruger, 53 ICLQ (2004) 1030, 1035 für das Europäische Zivilverfahrensrecht. 414 Janssens, Mutual Recognition in EU Law, S. 41. Vgl. hierzu auch aus dem Blickwinkel des Europäischen Zivilverfahrensrechts, Sujecki, ZEuP 2008, 458, 473 ff. 415 Vgl. EuGH, Urt. v. 22.3.1983, Rs. 42/82 (Kommission ./. Französische Republilk), Slg. 1983, 1013, 1048, Nr. 57. 416 Hierzu allgemein Mitsilegas, 31 YEL (2012) 319 ff. 417 Z.B. von Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 721; ders., in: FS Konuralp, S. 103, 127; ders./Löhnig, ZZPInt 9 (2004), 23, 36; Otte, ZZPInt 8 (2003), 521, 527; in diese Richtung auch Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 429; allgemein und mit Blick auf die Abschaffung des ordre public-Vorbehalts im EuGVVO-Reformprozess, M. Weller, GPR 2012, 34, 36 f. 418 Etwa Kramer, 2 IJPL (2011) 202, 218; Sujecki, ZEuP 2008, 458, 471 ff.
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das individuelle Interesse des Einzelnen an effektivem Rechtsschutz umgesetzt. Dass dies nicht unter direktem Rückgriff auf nationales Recht geschehen kann, wurde schon aus Gründen der Rechtssicherheit, der einheitlichen Anwendung und der praktischen Wirksamkeit von Unionsrecht näher dargelegt.419 Letztlich spricht damit auch die Forderung nach prozeduralen Mindeststandards für eine Anwendung des unionseinheitlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht. IV. Relativierung bzw. Modifikation des Vertrauensgrundsatzes In den vorstehenden Ausführungen wurde dargelegt, dass der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens nach dem Verständnis des Verfassers schon in seiner bisherigen Ausprägung der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch nicht entgegensteht. Trägt man dies nicht mit und sieht den Grundsatz insbesondere als Beschränkung der Befugnis eines mitgliedstaatlichen Gerichts, über die Zuständigkeit eines in derselben Streitsache zeitlich vorher angerufenen Gerichts entscheiden können, ist diese Sichtweise angesichts neuerer Entwicklungen im Europäischen Zivilverfahrensrecht vernünftigerweise nicht mehr haltbar. Ein relativierter Inhalt des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens lässt sich unter anderem an den Arbeiten des Gesetzgebers im EuGVVO-Reformprozess ablesen (unten, 1.). Auch in Entscheidungen des EuGH zeigt sich mehr und mehr, dass eine absolute Durchsetzung des Grundsatzes ohne Blick auf die wirtschaftlichen und individuellen Bedürfnisse der Rechtsschutzsuchenden als wenig zielführend angesehen wird (unten, 2.). 1. Legislatives Ein geänderter Ansatz zeigt sich vor allem im Ergebnis der Revision der EuGVVO, hier insbesondere in der Neuregelung des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO. Ein realitätsnäheres Maß an Vertrauen prägt auch die Regelungen rund um die Abschaffung des Exequaturverfahrens: War ursprünglich in diesem Zuge die Beschränkung der Anfechtungsmöglichkeiten eines Titelschuldners intendiert gewesen und sollten diese verbleibenden Rechtsbehelfsmöglichkeit nach dem Vorbild der EuVTVO im Ursprungsmitgliedstaat gebündelt werden420, nahm man im Ergebnis hiervon deutlich Abstand.
419 420
S.o., S. 200 ff. Vgl. Art. 43, 45 des Grünbuchs KOM(2010) 748 endgültig v. 14.12.2010, S. 44 ff.
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a) Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO Der neu eingeführte Art. 31 Abs. 2 und 3 stellt eine komplette Kehrtwende mit Blick auf das Einmischungsverbot dar.421 Die Neuregelung orientiert sich stark an Art. 5 und 6 des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen von 2005422 und ist als direkte Reaktion auf das oben schon angesprochene Problem der Torpedoklagen zu verstehen.423 Die entsprechende Ausgestaltung der EuGVVO hat dabei auch zum Ziel, eine Behandlung von Gerichtsstandsvereinbarungen zugunsten mitgliedstaatlicher Gerichte und zugunsten drittstaatlicher Gerichte, die nach den Regeln des Haager Übereinkommens zu beurteilen wären, aufeinander abzustimmen.424 Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO ermächtigen ein (mutmaßlich) als ausschließlich zuständig prorogiertes Gericht, eine anderweitige Rechtshängigkeit vor einem zeitlich vorher angerufenen mitgliedstaatlichen Gerichts trotz identischen Streitgegenstands außer Betracht zu lassen und über die Wirksamkeit der streitgegenständlichen Gerichtsstandsvereinbarung zu entscheiden. Das als erstes angerufene Gericht hat nach Anrufung des mutmaßlich prorogierten Gerichts sein Verfahren auszusetzen, Art. 31 Abs. 2 EuGVVO Wird die Gerichtsstandsvereinbarung im Ergebnis für wirksam erachtet, so trifft das später angerufene Gericht nicht nur eine positive Entscheidung über seine eigene Zuständigkeit, sondern – gleichsam als kontradiktorisches Gegenteil – zwangsläufig auch eine negative Entscheidung hinsichtlich der Zuständigkeit des als erstes angerufenen Gerichts. Gemäß Art. 31 Abs. 3 EuGVVO hat das aufgrund der Gerichtsstandsvereinbarung angerufene Gericht seine ausschließliche Zuständigkeit selbstständig festzustellen. Das zuerst angerufene Gericht ist hieran in Anwendung der Grundsätze der Entscheidung Gothaer Allgemeine gebunden.425 Darüber hinaus trifft die Verordnung in Art. 31 Abs. 3 EuGVVO selbst
421 Allgemein zur Neuregelung, vgl. von Hein, RIW 2013, 97, 104 f.; Pohl, IPRax 2013, 109, 111 f.; zur Neuregelung nach den teilweise abweichenden Vorgaben des Grünbuchs, Queirolo, in: Pocar/Viarengo/Villata, Recasting Brussels I, S. 183, 191 ff. 422 Abrufbar unter: http://www.hcch.net/ (zuletzt abgerufen am: 1.9.2015). 423 Vgl. KOM(2010) 748 endgültig, S. 5; von Hein, RIW 2013, 97, 104. Zu der Parallelregelung im HGÜ, vgl. Bläsi, Das Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen, S. 168 f. Das Übereinkommen wurde durch die EU am 11.6.2015 ratifiziert und trat am 1.10.2015 in Kraft, vgl. http://www.hcch.net/index_en.php?act=conventions.status2&cid =98 (zuletzt abgerufen am: 1.10.2015). 424 Vgl. den Vorschlag für einen Beschluss des Rates über die Genehmigung – im Namen der Europäischen Union – des Haager Übereinkommens über Gerichtsstandsvereinbarungen vom 30. Juni 2005, v. 30.1.2014, COM(2014) 46 final, S. 3. 425 Vgl. dazu unten, S. 294 ff. und Fn. 426; vgl. auch Ratković/Zgrabljićrotar, 9 J. Priv. Int. L. (2013) 245, 263.
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eine eigenständige Verpflichtung des zuerst angerufenen Gerichts, sein Verfahren zu beenden.426 Dem (mutmaßlich) prorogierten Gericht wird hierdurch die Befugnis zugestanden, in die Kompetenz des zuerst angerufenen Gerichts zur Zuständigkeitsprüfung einzugreifen, selbst wenn das Verfahren dort noch in Gang sein sollte. Die Aussetzungspflicht des zuerst angerufenen Gerichts gemäß Art. 31 Abs. 2 EuGVVO ändert hieran nichts. Denn zum einen kann ein ausgesetztes Verfahren theoretisch jederzeit wieder aufgenommen werden und zum anderen soll das mutmaßlich prorogierte Gericht nach der Vorstellung des Gesetzgebers selbst dann über die Zuständigkeitsfrage entscheiden dürfen, wenn das Verfahren vor dem zuerst angerufenen Gericht noch gar nicht ausgesetzt wurde.427 Diese in der Neuregelung getroffene gesetzgeberische Entscheidung fordert folglich eine Neubewertung des durch den EuGH gebetsmühlenartig wiederholten Ausspruchs, wonach die Gerichte eines jeden Mitgliedstaats die gleiche Sachkenntnis in Auslegung und Anwendung des Zuständigkeitsrechts besitzen.428 Denn kraft Gesetzes ist nun bei konkurrierenden Verfahren ausschließlich das mutmaßlich prorogierte Gericht zur Entscheidung über die Zuständigkeit des anderen ebenfalls angerufenen Gerichts befugt, oder, mit anderen Worten, das Einmischungsverbot wird in diesen Fällen komplett aufgehoben, dem zuerst angerufenen Gericht die alleinige Befugnis zur verbindlichen Zuständigkeitsentscheidung genommen.429 Man muss hierin nicht die Implementierung einer forum non conveniensDoktrin in die EuGVVO sehen, wonach das mutmaßlich prorogierte Gericht zur Zuständigkeitsprüfung „besser geeignet“ ist.430 Trotzdem zeigt die Regelung, dass es durchaus mit dem System des Europäischen Zivilverfahrensrechts
426 Versteht man die Feststellung der Zuständigkeit des prorogierten Gerichts als ‚Entscheidung‘ im Sinne des Art. 2 lit. a EuGVVO, so ist eine begrenzte Überprüfung der Feststellungsentscheidung anhand des ordre public-Einwands gemäß Art. 45 EuGVVO in Fällen völlig willkürlicher Bejahung der Zuständigkeit durch das in Einklang mit Art. 31 Abs. 2 EuGVVO angerufene Gericht möglich. Dabei ergeben sich freilich Reibungen zu Art. 45 Abs. 3 EuGVVO, der eine Überprüfung der Zuständigkeit anhand des ordre public-Einwands ausschließt. Bei Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO führt eine willkürliche Anwendung dieser Vorschrift letztlich zu einer Zuständigkeitsentscheidung, die Vorschrift selbst ist aber keine Zuständigkeitsvorschrift im Sinne des Art. 45 Abs. 3 EuGVVO, aber eben Art. 25 EuGVVO. Vgl. allgemein zur Frage nach der Nachprüfung willkürlicher Zuständigkeitsbejahung anhand des ordre public-Einwands, Oberhammer, in: Stein/Jonas, Art. 34 EuGVVO Rn. 41 ff. 427 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 22 S. 5 EuGVVO. 428 Vgl. die Nachweise in Fn. 351. 429 Vgl. etwa Schmehl, Parallelverfahren, S. 387, nach der die Prioritätsregel „die der EuGVVO zugrunde liegende Gleichwertigkeit der Gerichte“ wahrt. Eine Umkehrung der Priorität fordert demnach logischerweise eine Neubewertung des Gleichwertigkeitsdogmas. 430 Dagegen McGuire, in: FS Kaissis, S. 671, 676.
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vereinbar ist, wenn in besonderen Konstellationen einem anderen als dem zuerst angerufenen Gericht die Befugnis zur Überprüfung von dessen Zuständigkeit zugestanden wird. Genau dies war in der Diskussion rund um die Behandlung von Torpedoklagen immer als undenkbar bezeichnet und als maßgebliches Argument gegen Abhilfe durch ein anderes als das zuerst angerufene Gericht angeführt worden.431 Entweder sieht man in der Neuregelung eine generelle Ausnahme vom Grundsatz gegenseitigen Vertrauens432 oder man nimmt Erwägungsgrund Nr. 22 der Neufassung in den Blick und wertet die Regelung als Abwägung der beteiligten Interessen und damit als Neuausrichtung des Grundsatzes: Gegen den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens und die Gefahr von Parallelverfahren auf der einen Seite hat der Gesetzgeber das berechtigte Interesse des Einzelnen an effektivem Rechtsschutz und das Interesse an der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch abgewogen. Im Ergebnis zeigt sich das eigentlich Selbstverständliche, dass der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens durchaus einen relativen Inhalt haben kann und andere Interessen nicht zwangsläufig überspielen muss. Als Folge erteilt der Gesetzgeber damit dem in der Vergangenheit vom EuGH gepflegten Ansatz eine deutliche Absage, wonach eine absolute Durchsetzung des zwischen den Mitgliedstaaten bestehenden Vertrauens auch zum Nachteil von Rechtsschutzsuchenden möglich war. Genau dies unterstreicht die generelle Möglichkeit der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht noch einmal. Ob die Regelung Spiegel eines schwindenden Vertrauens im Europäischen Justizraum ist, muss hier nicht beantwortet werden.433 Fakt ist jedoch, dass die Neuregelung gerade als Reaktion auf die Unzulänglichkeiten bei der Durchsetzung von Gerichtsstandsvereinbarungen getroffen wurde, welche sich in der Vergangenheit offenbart haben. Würden sich die mitgliedstaatlichen Gerichte aber uneingeschränkt vertrauen, wären sie also bereit, die Effektivität und Funktionalität der Rechtspflege in anderen Mitgliedstaaten bedingungslos hinnehmen, hätte es der Regelung jedenfalls nicht bedurft. b) Beibehaltung bzw. Ausweitung der Rügemöglichkeiten bei der Vollstreckung ausländischer Titel unter der reformierten EuGVVO Einer der größten Streitpunkte im Zusammenhang mit der Revision der EuGVVO war die Abschaffung des Exequaturverfahrens, wobei insbesondere der
431
Statt vieler, vgl. Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO Rn. 18a a.E. Pohl, IPRax 2013, 109, 111. Diese Sichtweise kann nicht geteilt werden, denn sie würde zu dem Ergebnis führen, dass bei Bestehen einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung allen Gerichten bis auf das prorogierte die generelle (!) Tauglichkeit zur Anwendung der Verordnung abzusprechen wäre. 433 Gegen eine derartige Sichtweise: McGuire, in: FS Kaissis, S. 671, 681. 432
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Vorschlag der Kommission, den ordre public-Einwand zu streichen, die Gemüter erregt hatte.434 Im Ergebnis bleibt die Neustrukturierung des Anerkennungs- und Vollstreckbarerklärungsrechts – von der in Art. 39 EuGVVO verbrieften Abschaffung des Exequaturverfahrens abgesehen – weit hinter den ursprünglichen Plänen der Kommission zurück. In Widerspruch zu der eigentlichen Intention des Projekts, die Rechtsbehelfsmöglichkeiten des Titelschuldners zu reduzieren, wurden diese in Arbeitssachen erfreulicherweise sogar ausgeweitet435. Allgemein wurden auch alle unter der bisherigen Fassung der EuGVVO vorgesehenen Rügemöglichkeiten in die Neufassung übernommen, lediglich der funktionale Zusammenhang der Geltendmachung wurde geändert. Mangels Exequaturverfahrens sind die entsprechenden Rügen gemäß Art. 46 EuGVVO im Vollstreckungsverfahren selbst geltend zu machen.436 Bedenkt man, dass im Vorfeld der Neuregelung gegen die Beschränkung der Rügemöglichkeiten des Titelschuldners vor allem zu dessen Gunsten bestehende Verfahrensgarantien angeführt wurden437, zeigt der Kurswechsel des Gesetzgebers gerade, dass eine bedingungslose Durchsetzung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens gegen die berechtigten Belange von Verfahrensbeteiligten nicht vermittelbar war.438 Die in anderen Verordnungen, wie etwa der EuVTVO schon vollzogene Reduzierung von Rechtsschutzmöglichkeiten stellt eine Ausnahmeerscheinung dar und mag über den besonderen sachlichen Zuschnitt dieser Verordnungen gerechtfertigt sein.439 Das stark reduzierte Endprodukt des EuGVVO-Reformprozesses zeigt in jedem Fall, dass die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch, betrachtet man dies unter dem Gesichtspunkt der Rechtsschutzinteressen des Einzelnen, nicht pauschal mit dem Hinweis verworfen werden kann, dies widerspreche dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens.
434 Gegen eine Abschaffung etwa Kieninger, VuR 2011, 243, 247 ff.; Kramer, NIPR 2011, 633, 640; Pfeiffer, in: Pocar/Viarengo/Villata, Recasting Brussels I, S. 311, 317; Schlosser, IPRax 2010, 101, 104; Stadler, IPRax 2004, 2, 10; Sujecki, ZEuP 2008, 458, 478; R. Wagner/Beckmann, RIW 2011, 44, 51; M. Weller, GPR 2012, 34, 36. 435 In Arbeitssachen ist unter der Neuregelung gemäß Art. 45 Abs. 1 lit. e Unterabs. 1 EuGVVO die Verletzung des Arbeitnehmergerichtsstands aus dem 5. Abschnitt der EuGVVO im Vollstreckungsverfahren möglich, was gegenüber Art. 35 Abs. 1 EuGVVO eine Ausweitung der Rechtsbehelfsmöglichkeiten darstellt. 436 M. Stürner, GPR 2013, 228, 230. 437 Vgl. Kramer, 2 JIPL (2011) 202, 221. 438 Vgl. von Hein, RIW 2013, 97, 109. 439 Vgl. von Hein, RIW 2013, 97, 109; vgl. allerdings zu einer restriktiven Auslegungsansatz bezüglich der EuVTVO im Nachgang an die Neufassung der EuGVVO, Klöpfer/Ramić, GPR 2014, 107, 112.
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2. Judikatives Über diese gesetzgeberischen Äußerungen hinaus zentral für die Neubewertung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens sind vor allem drei vor dem EuGH verhandelte Rechtssachen. Zum einen die Entscheidung des EuGH in Sachen Gothaer Allgemeine, wo er sich mit der Frage zu befassen hatte, ob und wie weit klageabweisende Prozessurteile unter das Anerkennungsregime der EuGVVO fallen. Zum anderen zeigt sich in der Entscheidung des EuGH in Sachen Weber und der Vorlage in der Sache Weitkämper-Krug, dass die bisherige Linie der Rechtsprechung zum Einmischungsverbot in Randbereichen als anpassungsbedürftig erachtet wird, vor allem das Verbot einer Zuständigkeitsprüfung durch ein anderes als das zuerst angerufene Gericht. a) Die Entscheidung in Sachen Gothaer Allgemeine Das Urteil in Sachen Gothaer Allgemeine440 relativiert den durch den Gerichtshof in der Vergangenheit ausgeformten Grundsatz, wonach jedes Gericht zur Prüfung seiner Zuständigkeit dieselbe Kompetenz besitze, weshalb eine Zuständigkeitsprüfung durch ein anderes als das angerufene Gericht gerade nicht zulässig sei.441 Denn im Ergebnis ermöglichte der Gerichtshof hier eine Zuständigkeitsprüfung durch ein anderes als das letztlich angerufene Gericht. Zwar betrifft das Urteil nicht die Einmischung in ein laufendes Gerichtsverfahren, was Gegenstand der Urteile in Sachen Turner und Gasser war und vor dem Hintergrund der Gefahr unvereinbarer Entscheidungen den EuGH zu seinen Ausführungen motiviert hat.442 Die Entscheidung in Gothaer Allgemeine zeigt jedoch, dass es mit dem System des Europäischen Zivilverfahrensrechts nach Auslegung durch den Gerichtshof durchaus vereinbar ist, wenn ein mitgliedstaatliches Gericht verbindlich über Zuständigkeit oder Unzuständigkeit eines anderen entscheidet. Eine Verletzung der Justizhoheit der übrigen Mitgliedstaaten scheint nach dem EuGH hierin ebenfalls nicht zu liegen. Ob man die Entscheidung über ihre hier verwandte Funktion als Argumentationshilfe in Sachen Missbrauchsverhinderung hinaus gutheißen möchte, steht auf einem ganz anderen Blatt.443 Der Sachverhalt, welcher der Entscheidung zugrunde lag, ist überschaubar: Vor belgischen Gerichten waren in einer Versicherungsrechtssache Klagen erhoben worden. Durch die Berufungsinstanz wurde die Rechtsprechungsbefugnis belgischer Gerichte mit dem Hinweis verneint, dass zwischen den Parteien 440 EuGH, Urt. v. 15.12.2012, Rs. C-456/11 (Gothaer Allgemeine Versicherung AG u.a. ./. Samskip GmbH), EuZW 2013, 60. 441 S.o., Fn. 351. 442 Vgl. Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14738, Nr. 41. 443 Ablehnend H. Roth, IPRax 2014, 136, 137; kritisch Hau, LMK 2013, 341521; zustimmend Kremmel, ELR 2013, 196, 199 ff.
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eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten isländischer Gerichte bestehe, weshalb die Klagen abgewiesen wurden. Die Kläger erhoben dessen ungeachtet vor deutschen Gerichten erneut Klage. Das Landgericht Bremen legte daraufhin dem Gerichtshof die Frage vor, ob die Zuständigkeitsentscheidung des belgischen Gerichts eine ‚Entscheidung‘ im Sinne des Art. 32 EuGVVO a.F. (= Art. 2 lit. a EuGVVO) darstelle und es deshalb gemäß Art. 33 EuGVVO a.F. (= Art. 36 EuGVVO) daran gebunden sei. Der EuGH bejahte dies. In den Entscheidungsgründen verweist er selbst darauf, dass die Kompetenz des Zweitgerichts, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit entsprechend beschränkt sei und es an die durch das Erstgericht getroffene rechtliche Feststellung gebunden werde.444 Diese Bindung wird in der Literatur auch auf Zuständigkeitsentscheidungen außerhalb des Art. 25 EuGVVO ausgedehnt,445 also etwa, wenn ein angerufenes Gericht seine Zuständigkeit wegen einer sonstigen ausschließlichen Zuständigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts verneint. Vergleicht man Turner mit Gothaer Allgemeine, so zeigt sich eine bemerkenswerte Veränderung: Der EuGH stützte seine Argumentation in Gothaer Allgemeine in einem zentralen Punkt auf das gegenseitige Vertrauen in die Rechtspflege der anderen Mitgliedstaaten, auf dem das Anerkennungsregime der Verordnung beruhe. Hieraus zog er das Argument, warum das deutsche Gericht an die Zuständigkeitsfeststellung durch die belgischen Gerichte gebunden war.446 Verhinderte in Turner das gegenseitige Vertrauen eine Überprüfung der Zuständigkeit des anderweitig angerufenen Gerichts, ist es jetzt derselbe Argumentationstopos, der ein eben nicht zuständiges Gericht befugt, abschließend über die Zuständigkeit eines anderen Gerichts zu entscheiden. Es zeigt sich demnach eine Verschiebung innerhalb des Systems des Europäischen Zivilverfahrensrechts. Denn letztlich akzeptiert der EuGH mit Gothaer Allgemeine über den bisher als Einzelfall einzustufenden Art. 15 EuEheVO hinaus die Möglichkeit einer Art bindender Verweisung zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten, wenn der Kläger vor dem für zuständig erklärten Gericht erneut klagt.447 Etwas, das bislang als völlig unmöglich angesehen wurde.448 Betrachtet man Turner und Gothaer Allgemeine darüber hinaus unter dem Blickwinkel der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch, bestätigt sich eine 444
EuGH, a.a.O., 14737, Nr. 39. Hau, LMK 2013, 341521. 446 EuGH, Urt. v. 15.12.2012, Rs. C-456/11 (Gothaer Allgemeine Versicherung AG u.a. ./. Samskip GmbH), EuZW 2013, 60, 61, Nr. 28 ff. 447 Vgl. Hau, LMK 2013, 341521; H. Roth, IPRax 2014, 136, 139. 448 Ablehnend gegenüber einer bindenden grenzüberschreitenden Verweisung vor der Entscheidung in Sachen Gothaer Allgemeine etwa Mankowski, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 25 EuGVVO Rn. 6 m.w.N.: „Souveränitätsverletzung“; Wais, IPRax 2012, 91, 93; krit. gegenüber dieser Folge der Entscheidung Gothaer Allgemeine, H. Roth, IPRax 2014, 136, 139. 445
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schon an anderer Stelle aufgestellte These: Der EuGH sperrt sich nicht gänzlich gegenüber einer Verhinderung von Verfahrensmissbrauch im Anwendungsbereich des Europäischen Zivilverfahrensrechts, er will aber die dazu verwandten Mittel selbst bestimmen. Dies wurde schon als Quintessenz der Owusu-Entscheidung festgehalten. An der Entscheidung des EuGH in Gothaer Allgemeine zeigt sich auch, dass die Ablehnung von anti-suit injunctions in Turner lediglich darauf zurückzuführen war, dass der Gerichtshof einen Eingriff in das System des Europäischen Zivilverfahrensrechts auf Grundlage eines nationalen Instruments nicht zulassen wollte.449 Es ging ihm – in den Grenzen des Verbots der Pauschalisierung450 – nicht darum, dass die Zuständigkeit eines Gerichts durch ein anderes überhaupt geprüft wird. Gothaer Allgemeine zeigt, dass es mit den Grundregeln des Europäischen Zivilverfahrensrechts vereinbar ist, wenn ein Gericht mit bindender Wirkung gegenüber allen sonstigen mitgliedstaatlichen Gerichten eine Zuständigkeitsentscheidung trifft. Dass es dabei ohne Bedeutung ist, ob ein Verfahren vor einem anderen mitgliedstaatlichen Gerichten bereits in Gang befindlich ist oder, wie in Gothaer Allgemeine, die Zuständigkeitsprüfung vor der Einleitung eines weiteren Verfahrens stattfand, zeigen die nachfolgend besprochenen Rechtssachen. Dort lässt der EuGH die Einmischung in ein bereits in Gang befindliches Gerichtsverfahren gerade zu, was das Einmischungsverbot nach herkömmlichem Verständnis faktisch aufhebt. b) Entscheidung in der Rechtssache Weber und die Vorlage in der Rechtssache Weitkämper-Krug Gemeint sind die Rechtssachen Weber451 und Weitkämper-Krug452. Dem Gerichtshof wurde hier jeweils die Frage vorgelegt, ob für den Fall, dass sich ein später angerufenes Gericht auf eine ausschließliche Zuständigkeit gemäß Art. 22 EuGVVO a.F. (= Art. 24 EuGVVO) berufen könne, eine Ausnahme von Art. 27 EuGVVO a.F. (= Art. 29 EuGVVO) zu machen sei. In Weber war die Vorlage ausschließlich auf Art. 22 Nr. 1 EuGVVO a.F. (= Art. 24 Nr. 1 EuGVVO) beschränkt, in Weitkämper-Krug legte der BGH dem EuGH die gleiche Frage für alle sonstigen Nummern des Artikels vor. Vor allem in der Rechtssache Weitkämper-Krug handelte die Klägerin offensichtlich missbräuchlich: Durch die Erhebung einer negativen Feststellungsklage in Italien ohne jeglichen Bezug zur Streitsache sollte über die Wirkungen des Art. 27
449
Zu dieser Deutung von Owusu, vgl. oben, S. 257 ff. S.o., S. 273 ff. 451 EuGH, Urt. v. 3.4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469. 452 EuGH, Rs. C-571/13 (Annegret Weitkämper-Krug ./. NRW Bank, Anstalt des öffentlichen Rechts), im Ergebnis ohne Entscheidung, dazu sogleich. 450
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EuGVVO a.F. eine Streitentscheidung durch die ausschließlich zuständigen deutschen Gerichte verzögert werden.453 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Rechtssache Weber, die wesentlichen Erkenntnisse aus Weitkämper-Krug finden allerdings ebenfalls Beachtung. Letzteres Verfahren wurde nach dem Urteil des EuGH in Sachen Weber durch einen Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs gestrichen, nachdem der BGH sein Vorabentscheidungsersuchen nicht aufrechterhalten wollte,454 obwohl dies mit Blick auf die deutlich weitere Vorlagefrage freilich von Interesse gewesen wäre.455 In Weber stritten zwei betagte Schwestern, Miteigentümerinnen eines in Deutschland belegenen Grundstücks, um die Ausübung eines Vorkaufsrechts, das zugunsten einer der Schwestern an dem anderen Miteigentumsanteil bestellt worden war. Nach der Veräußerung ihres Miteigentumsanteils durch eine 453 Vgl. die Ausführungen des OLG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2012, 13 W 33/12, BeckRS 2013, 411 als Vorinstanz des BGH: „Nach dem Parteivortrag – insbesondere auch nach dem Vortrag der Beklagten – stand die [als Ankerbeklagte verklagte italienische Gesellschaft] in keinerlei irgendwie gearteter Beziehung zu den zwischen den (hiesigen) Parteien bestehenden Rechtsverhältnissen – sie war weder in irgendeiner Weise an den gewährten Darlehen noch an der Entwicklung der finanzierten Bauprojekte beteiligt, noch stand sie in Irgendeiner Beziehung zum Grundeigentum der Beklagten oder der insoweit bestellten Grundschuld. Vielmehr taucht [die Ankerbeklagte] erstmals in der in Mailand eingereichten Klagschrift auf, wobei jeder nähere Vortrag der hiesigen Beklagten zu Ihrer behaupteten Investitionsabsicht und auch zu der behaupteten, von der [Ankerbeklagten] angeblich gestellten Bedingung für ihre ‚Annahme als Investorin‘ fehlt. Auch im Laufe des Verfahrens in Mailand ist ausweislich des Urteils des Landgerichts Mailand vom 08.05.2012 (Anl. K 78/79) offenbar zu einem materiellen Interesse der (hiesigen) Beklagten an einem Vorgehen gegen die [Ankerbeklagte] nichts vorgetragen worden, vielmehr hat die ihr restloses Desinteresse an diesem verfahren durch ihre Säumnis offenbart und auch weiterer Vortrag der (hiesigen) Beklagten zu diesem Punkt ist nicht erfolgt, obwohl die (hiesige) Klägerin mit ihrer Entlassungsschrift vom 28.06.2011 (Anf. K 23a) ausführlich zum fehlenden Interesse der [Ankerbeklagten] bzw. dem fehlenden Interesse der (hiesigen) Beklagten an einer Beteiligung an diesem Unternehmen vorgetragen hat. Bei dieser Sachlage und unter Berücksichtigung der – unstreitigen – Vorgeschichte des [Geschäftsführers der als Ankerbeklagte verklagten Gesellschaft] […] sowie des Umstandes, dass die Prozessbevollmächtigten der (hiesigen) Beklagten im Termin vor dem Landgericht offenbaren mussten, dass sie sich Informationen zum Gang des Verfahrens in Italien nicht beschafft hatten und ihnen daher sogar die Säumnis der [Ankerbeklagten] unbekannt war, lässt nach Auffassung des Senats nur den Schluss zu, dass die Klage gegen die [Ankerbeklagte] einzig und allein der Eröffnung eines Forums in Italien diente und ihr keinerlei materielles Interesse jenseits der erstrebten Anwendung des Art. 27 EuGVVO zugrunde lag.“ (Hervorhebungen und Anmerkungen in eckigen Klammern durch den Verfasser; Schreibfehler im Original) 454 Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs v. 14.5.2014, BeckRS 2014, 80945. 455 Der BGH hatte dem EuGH in Weitkämper-Krug die Vorlagefrage aus Weber auf alle Nummern des Art. 22 EuGVVO ausgedehnt vorgelegt, vgl. EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160. Der Sachverhalt entspricht allerdings weitestgehend demjenigen der Weber-Entscheidung.
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der Schwestern an eine deutsche GbR, machte die andere Schwester ihr Vorkaufsrecht vor dem LG München geltend. Zeitlich vorher hatte die GbR allerdings vor Mailänder Gerichten schon eine Feststellungsklage mit identischem Streitgegenstand erhoben. Das LG München setzte sein Verfahren unter Verweis auf Art. 27, 28 EuGVVO a.F. (= Art. 29, 30 EuGVVO) aus. Das mit der Berufung befasste OLG München rief den EuGH unter anderem wegen der Auslegung des Art. 27 EuGVVO a.F. in Fällen einer ausschließlichen Zuständigkeit zugunsten eines zeitlich später angerufenen Gerichts an. Der Gerichtshof gewährte diesem Gericht in seiner Entscheidung nicht nur die Befugnis, Art. 27 EuGVVO a.F. (= Art. 29 EuGVVO) in den Fällen des Art. 22 Nr. 1 EuGVVO a.F. (= Art. 24 Nr. 1 EuGVVO) nicht anzuwenden, er verpflichtete es hierzu. Das später angerufene Gericht müsse prüfen, ob es sich auf eine ausschließliche Zuständigkeit berufen könne. 456 Darin liegt, wie in Fällen des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO, zwangsläufig eine Prüfung der Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts als kontradiktorisches Gegenteil, soweit kein Fall des Art. 29 EuGVVO vorliegt. Das später angerufene Gericht erhält demnach die Befugnis, die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts an dessen Stelle zu prüfen und bei positivem Befund verbindlich festzustellen. Trifft es die Entscheidung als Zwischenfeststellungsurteil im Sinne der §§ 256 Abs. 2, 303 ZPO, so ist das als erstes angerufene Gericht hieran gemäß den Ausführungen in Gothaer Allgemeine sofort gebunden. Neben dem wenig überzeugenden Rekurs auf Art. 35 Abs. 1 EuGVVO a.F.457 (= Art. 45 Abs. 1 lit. a EuGVVO) zog der Gerichtshof ein zentrales Argument für diese Kehrtwende in Sachen Einmischungsverbot unter Verweis auf die Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen aus dem Umstand der Verfahrensverzögerung. Es sei mit dem Gebot einer geordneten Rechtspflege nicht vereinbar, wenn das tatsächlich ausschließlich zuständige Gericht
456 EuGH, Urt. v. 3.4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469, LS. 2. Der EuGH hatte freilich schon in seinem Urt. v. 27.2.2014, Rs. C1/13 (Cartier parfums – lunettes SAS und Axa Corporate Solutions assurances SA ./. Ziegler France SA u.a.), EuZW 2014, 340, 342, Nr. 44 obiter dictum angedeutet, dass er in Fällen einer ausschließlichen Zuständigkeit Art. 27 EuGVVO a.F. nicht anzuwenden gedenkt. 457 Vgl. EuGH, Urt. v. 3.4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469, 471, Nr. 55 f.: Selbst wenn bei einem Verstoß gegen Art. 24 EuGVVO die hierauf ergehende Entscheidung wegen Art. 45 Abs. 1 lit. e Unterabs. ii EuGVVO in den Mitgliedstaaten der EU nicht anerkannt werden darf, ist die Entscheidung doch in der Welt und kann zumindest im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckt werden. Bei ausschließlichen Zuständigkeiten gemäß Art. 24 Nr. 1 EuGVVO existiert mit dem unbeweglichen Vermögen im Gerichtsstaat zudem in der Regel die Möglichkeit eines Vollstreckungserfolgs.
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sein Verfahren so lange aussetzen müsse, bis das zuerst angerufene und tatsächlich nicht zuständige Gericht seine Zuständigkeit verneint habe.458 Alles andere würde „‘torpedierende‘ Klagen begünstigen, die in einem Mitgliedstaat in missbräuchlicher Weise zuerst und zu dem einzigen Zweck erhoben werden könnten, die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte eines anderen Mitgliedstaats, in dem die von dem Rechtsstreit betroffene unbewegliche Sache belegen ist, zu umgehen.“459
Es ist erstaunlich, mit welcher Offenheit EuGH und Generalanwalt sich hier für eine praxistaugliche Lösung aussprechen und die Bereitschaft zeigen, den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens nicht zu Lasten von Verfahrensbeteiligten durchzusetzen. Vor allem der Verweis auf die ansonsten eintretende Verfahrensverzögerung kann als revolutionär bezeichnet werden, denn in der Vergangenheit wurde ein derartiger (völlig vernünftiger) Ansatz in der Literatur bislang als abwegig bzw. mit Blick auf die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen als gefährlich gebrandmarkt.460 Gleiches gilt für den BGH.461 Der EuGH selbst hatte den Gedanken der Verfahrensverzögerung bisher lediglich in Zusammenhang mit Zuständigkeitsvorschriften oder den Regeln des Anerkennungsrechts unter Anbindung an Art 6 EMRK gebraucht.462 Zur Rechtshängigkeitsregel des Art. 29 EuGVVO fehlten bisher entsprechende Aussagen. Darüber hinaus von erheblicher Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist die Erkenntnis des Generalanwalts, wonach eine andere Auslegung als die durch den EuGH schließlich getroffene, Torpedoklagen in Fällen offensichtlicher Unzuständigkeit des als erstes angerufenen Gerichts ermöglichen würde. 463 Damit zeigt er eine Sensibilität für die Verhinderung von Verfahrensmiss-
458 EuGH, Urt. v. 3.4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469, 471, Nr. 58. Der Verweis auf Nr. 41 der Schlussanträge des GA Jääskinen bezieht sich auf eine Passage, in welcher der GA betont, dass es einen bloßen Zeitverlust darstelle, die negative Entscheidung des zuerst angerufenen und unzuständigen Gerichts abzuwarten. 459 GA Jääskinen, Schlussanträge v. 30.1.2014, Rs. C-438/12, (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469, 470,Nr. 41. 460 So z.B. McGuire, Verfahrenskoordination, S. 128 m.w.N. Vgl. allerdings die oben auf S. 216 f. besprochene Entscheidung des EuGH in Sachen Hypoteční banka, in welcher er im Anwendungsbereich der Verbrauchergerichtsstands gerade dem Umstand der Verfahrensverzögerung Bedeutung für seine Auslegung beimaß. 461 BGH, EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2162 f., Nr. 21, der in der Rechtssache Weitkämper-Krug eine mögliche Verfahrensverzögerung für die Anwendung des Art. 27 EuGVVO a.F. als unbeachtlich einstufte. 462 Vgl. oben, S. 215 ff. 463 Dies bestätigt auch die oben auf S. 187 ff. aufgestellte These, wonach der EuGH in Gasser niemals die Möglichkeit der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch im Allgemeinen aus dem Europäischen Zivilverfahrensrecht ausschließen wollte.
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brauch, die man so nicht erwartet hatte. So hätte er sich auf die bekannte Formel des Gerichtshofs zurückziehen können, wonach dem zuerst angerufenen Gericht dieselbe Sachkunde zur Entscheidung der Zuständigkeitsfrage zukomme, wie dem potentiell ausschließlich zuständigen und später angerufenen Gericht.464 Genau so war von einer überwältigenden Mehrheit im zivilverfahrensrechtlichen Schrifttum465 und zumindest der deutschen obergerichtlichen Rechtsprechung 466 für den Fall einer ausschließlichen Zuständigkeit gemäß Art. 24 EuGVVO in Fortführung von Gasser immer argumentiert worden. Demnach werden auch diese Stimmen die Weber-Entscheidung als inhaltliche Relativierung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens einordnen müssen. Ob man sie aber gleichfalls als implizite Anerkennung der fehlenden Gleichwertigkeit der Gerichtssysteme in den Mitgliedstaaten sehen muss, bedarf hier wiederum keiner Antwort.467 Eines ist allerdings klar: Würde der EuGH von einer zügigen Erledigung von Zuständigkeitsfragen vor jedwedem mitgliedstaatlichen Gericht ausgehen, hätte es der Ausnahme von Art. 29 EuGVVO in Fällen einer ausschließlichen Zuständigkeit nicht bedurft. Denn unter diesen
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S.o., S. 276. Adolphsen, EuZVR, S. 152; Carl, Torpedoklagen, S. 193 ff.; wohl auch Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6 Rn. 161 ff.; Layton/Mercer, European Civil Practice, Rn. 22.024; McGuire, Verfahrenskoordination, S. 126 ff.; wohl auch Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, § 6 Rn. 207; Schmehl, Parallelverfahren, S. 386 ff.; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 27 EuGVVO Rn. 18 m.w.N. auch zur Gegenansicht; ders., in: Zöller, Art. 27 EuGVVO Rn. 12; Gottwald, in: MüKo-ZPO, Art. 27 EuGVVO Rn. 17; Kropholler/von Hein, Art. 27 EuGVVO Rn. 19; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO Rn. 16b; Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, Art. 27 EuGVVO Rn. 9; Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO Rn. 7; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 27 EuGVVO Rn. 51; Goltz/Janert, MDR 2014, 125, 129; M. Weller, in: Hess/Pfeiffer/Schlosser, Heidelberg-Report, Rn. 356; a.A. Binder, euvr 2012, 164, 170; Rauscher/Gutknecht, IPRax 1993, 21, 24; Grothe, IPRax 2004, 205, 206, der für sich freilich eine „überwiegende Meinung“ in Anspruch nimmt; ebenfalls unter Verweis auf eine „überwiegende Ansicht“ Nieroba, Rechtshängigkeit, S. 263 f., welche diese Lösung auch für Verbraucher-, Versicherungs- und Arbeitssachen fordert; Simons, in: unalexKomm, Art. 27 EuGVVO Rn. 9; zeitlich nach der Vorlage des BGH in Weitkämper-Krug auch Vogl, EwiR 2014, 131, 132. Weitere Nachweise zum Streitstand bei BGH, EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2162. 466 BGH, EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2162 f., Nr. 21; OLG München, EuGH-Vorlage v. 16.2.2012, 21 W 1098/11 (juris); LG Düsseldorf, Beschl. v. 17.3.2009, 4b O 218/08, GRUR-RR 2009, 402, 404; a.A. Cass. civ., 21 septembre 2005, N°03-20.102; ebenso der Court of Appeal in Speed Investments Ltd and another v Formula One Holdings and others [2004] All ER (D) 78 (Dec). 467 Zur parallelen Frage im Rahmen des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO, s.o., S. 293. 465
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Vorzeichen wäre es einem Rechtsunterworfenen billigerweise468 zumutbar, die Zuständigkeitsentscheidung durch das zuerst angerufene Gericht abzuwarten. Für die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots speziell in Torpedokonstellationen von besonderem Interesse ist auch, wie der EuGH in seiner Entscheidung die Möglichkeit der Nichtanwendung von Art. 29 EuGVVO vor dem Grundsatz rechtfertigt, wonach Parallelverfahren vermieden und die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen verringert werden soll.469 Der Gerichtshof scheint dabei nicht davon auszugehen, dass die von ihm vorgeschlagene Lösung die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen in einem unerträglichen Maße erhöht. In seiner Entscheidung bezieht er sich zwar nicht ausdrücklich aber stillschweigend auf die parallelen Ausführungen des Generalanwalts Jääskinen in dessen Schlussanträgen. Dieser geht dort davon aus, dass in Fällen, in denen eine ausschließliche Zuständigkeit gemäß Art. 24 Nr. 1 EuGVVO zugunsten eines später angerufenen Gerichts im Raum stehe, dessen ausschließliche Zuständigkeit offensichtlich sei.470 Man schließt dabei beim EuGH aus der zugegebenermaßen einfach festzustellenden Lage eines Grundstücks im Gerichtsstaat darauf, dass damit die ausschließliche Zuständigkeit der dortigen Gerichte ebenfalls unproblematisch zu bejahen sei und das als erstes angerufene Gericht vernünftigerweise gar nicht anders könne, als seine Zuständigkeit zu verneinen. Dabei entbehrt diese Einschätzung nicht einer gewissen Ironie: Die Vorlage hatte unter anderem gerade eine Frage zur sachlichen Reichweite des Art. 22 Nr. 1 EuGVVO a.F. (= Art. 24 Nr. 1 EuGVVO) zum Gegenstand. Konkret ging es darum, ob eine Feststellungsklage, mit der die Unwirksamkeit der Ausübung eines Vorkaufsrechts geltend gemacht wird, Art. 22 Nr. 1 EuGVVO a.F. unterfällt. 471 Die bloße Tatsache, dass das OLG München überhaupt vorlegte, zeigt, dass die sachliche Reichweite des Gerichtsstands nicht immer einfach zu beantworten ist.472 Bestätigt wird dies dadurch, dass die Vorlage durch den EuGH überhaupt angenommen wurde und somit in seinen Augen gerade kein acte clair im Sinne des Art. 267 AEUV vorlag. Dieses Restrisiko bezüglich unvereinbarer Entscheidungen nimmt der EuGH aber zugunsten von Zweckmäßigkeitserwägun-
468
Natürlich bestimmt der Inhalt des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens immer, was ‚billigerweise‘ zumutbar ist; die im Text gemachte Feststellung entbehrt somit zugegebenermaßen nicht einer gewissen Zirkularität. 469 Zahlreiche Verordnungen nennen als Regelungsziel die Verhinderung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen, vgl. z.B. Erwägungsgrund Nr. 15 EuGVVO a.F., Erwägungsgrund Nr. 21 EuGVVO, Erwägungsgrund Nr. 36 EuErbVO. 470 Vgl. GA Jääskinen, Schlussanträge v. 30.1.2014, Rs. C-438/12, Nr. 39 ff. 471 Vgl. EuGH, Urt. v. 4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469, 469 f., Nr. 32 ff. 472 Auf diese Problematik weist auch der BGH hin in seiner EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2163, Nr. 21 a.E.
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gen in Kauf. Der Generalanwalt hatte in seinen Schlussanträgen sogar eine „zuverlässige Vorhersage“ für die Klageabweisung durch das zuerst angerufene Gericht ausreichen lassen.473 Hierauf aufbauend könnte man fragen, ob damit die seinerzeit von Generalanwalt Léger in der Rechtssache Gasser vorgeschlagene aber durch den Gerichtshof abgelehnte Lösung zum Umgang mit Torpedoklagen indirekt Bestätigung erhält. Der Generalanwalt hatte es befürwortet, den Art. 27 EuGVVO a.F. entsprechenden Art. 21 EuGVÜ dann nicht anzuwenden, wenn das später angerufene Gericht an seiner ausschließlichen Zuständigkeit „nach sehr sorgfältiger Prüfung“474 „keinen Raum für etwaige Zweifel“475 habe. So könne die Gefahr sich widersprechender Urteile auf ein vertretbares Maß minimiert werden. 476 Natürlich beinhaltet diese Lösung eine gewisse Restunsicherheit. Allerdings existiert diese auch als Ergebnis der durch den EuGH verfügten Lösung. Zwar versucht sich der Generalanwalt in Weber an einer Art distinguishing 477 zu Gasser. Dies kann aber zwangsläufig nicht überzeugen. Sein Hauptargument für die Ungleichbehandlung ausschließlicher Zuständigkeiten gemäß Art. 24 Nr. 1 EuGVVO und solchen aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung ist, dass in letzterem Fall die Zuständigkeit nicht im gleichen Maße offensichtlich sei, wie in Fällen des Art. 24 Nr. 1 EuGVVO. Schließlich könnten die Parteien Abstand von einer Gerichtsstandsvereinbarung nehmen und etwa über deren Wirksamkeit streiten. 478 Die Entscheidung in Weber zeigt aber, dass eben auch über die Reichweite des Art. 24 Nr. 1 EuGVVO lebhaft gestritten werden kann und die beteiligten Gerichte durchaus zu voneinander abweichenden Ergebnissen gelangen können.479 Dass eine Zuständigkeit gemäß Art. 24 Nr. 1 EuGVVO in den kritischen Fällen klarer zutage tritt, ist nicht gesagt. Als Quintessenz der Entscheidung für die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht kann festge-
473
GA Jääskinen, Schlussanträge v. 30.1.2014, Rs. C-438/12, Nr. 42. GA Léger, Schlussanträge v. 9.9.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser GmbH ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14715 f., Nr. 77. 475 GA Léger, Schlussanträge v. 9.9.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser GmbH ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14717, Nr. 83. 476 GA Léger, Schlussanträge v. 9.9.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser GmbH ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14715 f., Nr. 77. Dieser Lösungsvorschlag wurde im deutschen Schrifttum vor allem von Grothe, IPRax 2004, 205, 210, aufgegriffen, überwiegend aber abgelehnt. 477 Zum distinguishing im Common Law allgemein Alexander/Sherwin, in: Edlin, Common Law theory, S. 27, 35. 478 GA Jääskinen, Schlussanträge v. 30.1.2014, Rs. C-438/12, Nr. 39. 479 Der BGH neigte in seiner EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2163, Nr. 21 a.E. genau deshalb einer Aussetzungspflicht zu. 474
300
2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
halten werden, dass der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens dessen Anwendung nicht im Geringsten im Wege steht. Zum einen hebt der EuGH die ausschließliche Prüfungskompetenz eines im Anwendungsbereich des Art. 29 EuGVVO zuerst angerufenen Gerichts faktisch auf, da er jedes später angerufene Gericht dazu verpflichtet, den Sachverhalt auf eine etwaige eigene ausschließliche Zuständigkeit hin zu prüfen. Den damit notwendigerweise zusammenhängenden Eingriff in das ausländische Verfahren nimmt der EuGH bewusst hin. Denn die Verpflichtung zur Zuständigkeitsprüfung trifft ein Gericht während eines noch in Gang befindlichen ausländischen Verfahrens, das, im Gegensatz zum Konzept des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO, sogar nicht einmal ausgesetzt sein muss. Hintergrund ist unter anderem die durch eine ansonsten notwendige Anwendung des Art. 29 EuGVVO bewirkte Verfahrensverzögerung, die, wie der Generalanwalt zutreffend erkennt, vor allem in Fällen einer ausschließlichen Zuständigkeit des zeitlich nachrangig angerufenen Gerichts, in aller Regel intendiert sein wird. Damit zeigt sich, dass der Gedanke der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch in der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 29 EuGVVO endlich einen Platz gefunden hat. Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens steht demnach einer Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in Fällen der Torpedoklage, die von der Neuregelung des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO nicht erfasst werden, im Grundsatz nicht entgegen. Eine an anderer Stelle480 noch vertieft besprochene Erkenntnis der WeberEntscheidung kann schon hier festgehalten werden: Das Risiko unvereinbarer Entscheidungen alleine hindert noch nicht an der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots. Ist die Wahrscheinlichkeit nur hoch, dass die mit der Sache befassten Gerichte zu einer identischen Entscheidung kommen werden, lässt der EuGH eine Durchbrechung von Art. 29 EuGVVO zu. Vergleicht man die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit der Auslegung des Art. 24 Nr. 1 EuGVVO, so wird man nicht leugnen können, dass in klaren Fällen des Missbrauchs, etwa bei Vorliegen einer offenkundigen Schädigungsabsicht, eine identische Anwendung des Missbrauchsverbots durch verschiedene Gerichte nicht weniger wahrscheinlich ist als eine identische Auslegung des Art. 24 Nr. 1 EuGVVO. In allen sonstigen Fällen wird über das subjektive Merkmal der Missbrauchsabsicht eine restriktive Anwendung ohnehin gewährleistet; das betroffene Gericht wird sich nur bei Vorliegen guter Gründe für ein Missbrauchsvotum entscheiden. V. Zwischenergebnis Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens steht einer Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht nicht 480
S.u., S. 306 ff.
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entgegen. Versucht ein Kläger, eine Zuständigkeit zu erschleichen oder übt er in missbräuchlicher Weise sein Wahlrecht zwischen verschiedenen existierenden Zuständigkeiten aus, besteht schon in der Sache kein Konflikt mit dem Grundsatz, wonach die Mitgliedstaaten in die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege in den Mitgliedstaaten vertrauen sollen. Auch die Fälle der Torpedoklage sind einer Anwendung des Missbrauchsverbots zugänglich, lediglich die Art und Weise der Anwendung bedarf näherer Präzision. In Anwendung des Grundsatzes ist eine Abwägung der widerstreitenden Interessen und Grundsätze vorzunehmen. Dabei zeigen obige Ausführungen deutlich, dass der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens weder in der neueren Rechtsprechung noch durch den Gesetzgeber gegen die Interessen der Rechtsschutzsuchenden absolut durchgesetzt werden soll. Der Grundsatz zieht den Gerichten lediglich dort Grenzen, wo sie die Grundlagen des Europäischen Justizraums durch eine diskriminierende Pauschalisierung angreifen oder nationale Verhaltensstandards über anti-suit injunctions zur Einschränkung der Verordnungen heranziehen. Ebenso hat sich gezeigt, dass das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten keine Rechtlosstellung des Einzelnen bewirken kann und soll. Neben der mittelbaren Wirkung der Menschenrechtsgarantien aus EMRK und Grundrechte-Charta kann das unionsrechtliche Missbrauchsverbot direkt gegen Verfahrenshandlungen oder Verfahren an sich angewandt werden, die eine sinnwidrige Inanspruchnahme von Unionsrecht darstellen. Das wird durch die Entscheidung in Sachen Weber unterstützt: Die Rechtshängigkeitsregel des Art. 29 EuGVVO dient der Koordinierung von Parallelverfahren zur Verhinderung widersprüchlicher Entscheidungen. Wenn aber durch das zuerst angerufene Gericht, wegen einer ausschließlichen Zuständigkeit des später angerufenen Gerichts, de lege keine Sachentscheidung ergehen darf und rein tatsächlich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Sachentscheidung ergehen wird, was eine Frage des tragbaren Restrisikos darstellt, darf Art. 29 EuGVVO nicht angewendet werden. Das später angerufene Gericht muss hier nach der Konzeption des EuGH-Urteils auch die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts überprüfen. Damit hat sich das Dogma von der Kompetenz zur alleinigen Zuständigkeitsprüfung durch das in der Sache zuerst angerufene Gericht in Randbereichen als anpassungsbedürftig erwiesen, was auch durch den Mechanismus in Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO bestätigt wird. Die Ausführungen in Weber lassen sich auf alle sonstigen Fälle der Torpedoklage übertragen, in denen nur die Wahrscheinlichkeit unvereinbarer Entscheidungen gegen Null tendiert, was lediglich eine Abwägungsfrage mit dem Interesse an der Vermeidung unvereinbarer Entscheidungen darstellt. Eine Sperrwirkung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens besteht hier nicht. Wenden die beteiligten Gerichte das unionsrechtliche Missbrauchsverbot nach den Vorgaben des EuGH an, besteht auch keine untragbar hohe Wahrscheinlichkeit unvereinbarer Entscheidungen, was vor allem durch die subjektive Komponente des Grundsatzes abgesichert ist.
302
2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Ein Konflikt mit dem Verbot der Pauschalisierung besteht ebenfalls nicht, da direkt an die Absichten und Motive des missbräuchlich Handelnden angeknüpft wird. Ein pauschaler Verweis auf langsam arbeitende Gerichte im Staate des zuerst angerufenen Gerichts trägt freilich nicht, um die Missbrauchsabsicht des Klägers zu begründen. Allerdings hat der EuGH mit der Weber-Entscheidung und der Gesetzgeber mit der Neuregelung des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO gezeigt, dass eine abstrakt mögliche Verfahrensverzögerung Grund für die Nichtanwendung der Rechtshängigkeitssperre sein kann. Beachtlich ist vor allem, dass weder Gerichtshof noch Gesetzgeber an eine konkret eingetretene Verfahrensverzögerung anknüpfen. Die Priorität des mutmaßlich als ausschließlich zuständig prorogierten Gerichts gewährt der Gesetzgeber unabhängig von einer konkreten Gefahr der Rechtlosstellung eines Beteiligten – selbst wenn also das zuerst angerufene Gericht schneller entscheiden würde/könnte, als das gemäß Art. 31 Abs. 2 EuGVVO berufene. Auch in Weber wird nur die abstrakte Verfahrensverzögerung als Legitimation für die Nichtanwendung des Art. 29 EuGVVO herangezogen, das Argument aus Art. 35 Abs. 1 EuGVVO a.F. (= Art. 45 Abs. 1 lit. e EuGVVO) fällt demgegenüber wenig ins Gewicht. Wenn also alleine aus der Tatsache, dass in einem bestimmten Mitgliedstaat ein Verfahren eingeleitet wurde, noch nicht auf die subjektiven Motive des Handelnden geschlossen werden kann, so muss dies in jedem Fall zulässig sein, wenn beispielsweise an die mangelnde Verbindung des Verfahrens zum Gerichtsstaat oder ein fehlendes wirtschaftliches Interesse angeknüpft wird. Vor allem über die Frage der Künstlichkeit eines Vorgangs operiert der Gerichtshof im Steuerrecht schon seit Langem. 481 Meines Erachtens lassen sich keine Gründe ins Feld führen, warum man sich hieran nicht auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht orientiere können sollte. So lange keine systematische Überprüfung der Rechtsschutzstandards in einem bestimmten Mitgliedstaat oder eine pauschale Entwertung vorgenommen wird, lässt der EuGH dies auch im sonstigen Unionsrecht zu. Dort sogar in der Form, dass konkrete Überlastungen des Justizapparats als Faktor bei der Beurteilung fungieren können, ob ein Mitgliedstaat zur gegenseitigen Anerkennung wegen nicht zureichender Standards im Herkunftsland verpflichtet ist oder nicht. Im Europäischen Zivilverfahrensrecht kann nichts anderes gelten.
481
S.o., S. 155 ff.
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D. Vermeidung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen Der Europäische Gesetzgeber482 und der Gerichtshof483 artikulieren häufig ein besonderes Interesse des Europäischen Zivilverfahrensrechts an der Vermeidung von Parallelverfahren. Grund ist, dass mit einer entsprechenden Ausgestaltung und Auslegung von Verfahrensvorschriften der bloßen Möglichkeit unvereinbarer Entscheidungen entgegengewirkt werden soll. Über den Regelungsbereich von Art. 45 Abs. 1 lit. c und d EuGVVO und sonstigen Parallelvorschriften hinaus, sollen sich widersprechende Urteile schon in der Entstehung verhindert werden.484 Das dahinterstehende Interesse an einer geordneten Rechtspflege485 stellt ein ureigenes Staatsinteresse dar,486 so dass eine Dispositionsbefugnis der Verfahrensbeteiligten hierüber nicht besteht.487 Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, mit welcher sachlichen Reichweite Parallelverfahren im Europäischen Zivilverfahrensrecht verhindert werden sollen. Schließlich besteht auch de lege lata kein uneingeschränkter Vorrang dieses Interesses dergestalt, dass Parallelverfahren im Europäischen Zivilverfahrensrecht in keinem Fall möglich wäre. Darüber hinaus muss innerhalb des Bereichs, in welchem Parallelverfahren grundsätzlich verhindert werden sollen, geprüft werden, ob dieses Interesse als Folge einer Abwägung mit gegenläufigen Interessen und Grundsätzen zurücktreten muss. Die These von der Anwendbarkeit des unionsrechtliche Missbrauchsverbots im Europäischen Zivilverfahrensrecht stützt sich damit auf diese beiden Ansatzpunkte: Dort, wo Parallelverfahren gewöhnlich – nach den Vorgaben von Gesetzgeber und Gerichtshof – schon nicht verhindert werden sollen, stellen sich keine Probleme bei der Missbrauchsverhinderung. Dort, wo Parallelverfahren grundsätzlich verhindert werden sollen, muss geprüft werden, ob diese aus Gründen der Missbrauchsverhinderung ausnahmsweise zugelassen werden müssen. 482
So z.B. in Erwägungsgrund Nr. 15 EuGVVO a.F., Erwägungsgrund Nr. 21 EuGVVO. Vgl. nur EuGH, Urt. v.19.12.2013, Rs. C-452/12 (Nipponkoa Insurance Co. (Europe) Ltd ./. Inter-Zuid Transport BV), EuZW 2014, 220, 221, Nr. 36; Urt. v. 27.2.2014, Rs. C1/13 Cartier parfums – lunettes SAS und Axa Corporate Solutions assurances SA ./. Ziegler France SA u.a.), EuZW 2014, 340, 342, Nr. 40. 484 Bzgl. der EuGVVO, Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO Rn. 1 ff.; vgl. auch Schmehl, Parallelverfahren und Justizgewährung, S. 126 f. m.w.N. 485 EuGH, Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I14693, 14738, Nr. 41. 486 Vgl. etwa Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 6 Rn. 152 m.w.N.; Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO Rn. 1. 487 Geimer, in: FS Sonnenberger, S. 357, 367; vgl. dazu auch Erwägungsgrund Nr. 36 EuErbVO, insbesondere dessen S. 3; zu den etwa durch die Regelung des Art. 29 EuGVVO mitverwirklichten Parteiinteressen, vgl. Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 27 EuGVVO Rn. 1. 483
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
Dazu wird zunächst die Konfliktlinie des Missbrauchsverbots mit dem Interesse an der Vermeidung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen aufgezeigt: Von den in vorliegender Arbeit besprochenen Missbrauchskonstellationen sind es lediglich die Fälle der Torpedoklage, in denen die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch auf Grundlage des Missbrauchsverbots Probleme bereiten könnte (unten, I.). Anschließend wird anhand von Beispielen aus Gesetzgebung und Rechtsprechung dargelegt, dass und wann parallele Verfahren im Europäischen Zivilverfahrensrecht schon bisher zulässig sind (unten, II.) und schließlich wird die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit dem Interesse an der Verhinderung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen zusammenfassend begründet (unten, III.). I. Streitpunkt: Torpedoklagen Es sind wie gesagt lediglich die Fälle der Torpedoklage, in welchen das unionsrechtliche Missbrauchsverbot bei seiner Anwendung mit dem Interesse an einer Vermeidung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen in Konflikt geraten würde, wenn also zwei oder mehr Gerichte gleichzeitig über denselben Streitgegenstand befinden (wollen). Alle anderen möglichen Fälle des Verfahrensmissbrauchs, insbesondere solche eines missbräuchlichen forum shoppings, bleiben daher außen vor. Gesteht man einem später angerufenen Gericht über das unionsrechtliche Missbrauchsverbot die Möglichkeit zu, unter besonderen Umständen trotz anderweitiger Rechtshängigkeit vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats sein Verfahren weiter zu betreiben488, steigt zunächst das Risiko unvereinbarer Entscheidungen an. Denn wird vor mehr als einem Gericht ein und derselbe Streitgegenstand verhandelt, können theoretisch in verschiedenen Verfahren voneinander abweichende Ergebnisse in der Sachprüfung erzielt werden. Ob bzw. wann das hierin liegende Risiko und die Parallelität von Verfahren überhaupt tragbar sind, stellt in dieser Hinsicht die entscheidende Frage für die Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots dar. II. Die Risikobereitschaft von Gerichtshof und Gesetzgeber Wie die Ausführungen zum gegenseitigen Vertrauen zeigen, wollen in neuerer Zeit weder der europäische Gesetzgeber noch der Gerichtshof das Risiko unvereinbarer Entscheidungen auf null reduzieren. Praktisch wäre dies nur dadurch zu erreichen, dass man am Prioritätsprinzip, wie es etwa in Art. 29
488
Vgl. oben, S. 304 ff.
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EuGVVO verankert ist, strikt und ohne Ausnahmen festhalten würde.489 In begründeten Ausnahmefällen nehmen es Gesetzgeber und EuGH mittlerweile aber bewusst in Kauf, dass es zu parallelen Verfahren in derselben Streitsache kommt. So ermächtigt beispielsweise die Regelung des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO ein mutmaßlich als ausschließlich zuständig prorogiertes Gericht zu einer Sachentscheidung, selbst wenn ein anderes Verfahren in derselben Sache vor einem zeitlich früher angerufenen Gericht noch betrieben wird.490 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Entscheidung in der Rechtssache Weber zu nennen, in welcher dieser parallele Verfahren zugunsten einer zeitnahen Entscheidung, trotz nicht unerheblicher Restzweifel hinsichtlich der Reichweite des ausschließlichen Gerichtsstands, in Kauf nahm.491 Der Gerichtshof pflegt auch in anderen Zusammenhängen, in denen nicht direkt die Koordinierung von Parallelverfahren Gegenstand des Verfahrens ist, einen eher liberalen Ansatz. Er zeigt dabei Bereitschaft, das Risiko sich widersprechender Entscheidungen teils erheblich zu erhöhen, wenn er hierfür eine besondere Rechtfertigung sieht. So hatte er beispielsweise in den verbundenen Rechtssachen eDate und Martinez die Erfolgsortzuständigkeit und damit zusammenhängend die tradierte Mosaiktheorie auf Fälle bloßer Abrufbarkeit ehrverletzender Internetinhalte in einem Mitgliedstaat erstreckt.492 Wegen der theoretisch welt- und damit auch europaweiten Abrufbarkeit von Internetinhalten kommt in der Folge jedem mitgliedstaatlichen Gericht eine Erfolgsortzuständigkeit gemäß Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu. Das ist aber vor allem bei Ansprüchen, mit denen entsprechende Inhalte beseitigt und/oder unterlassen werden sollen, besonders problematisch. Denn mit der Vervielfältigung von Gerichtsständen ohne jeglichen Bezug zum Streitgegenstand erhöht sich die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen erheblich.493 Zwar beschränkt die Mosaiktheorie die Kognitionsbefugnis der Gerichte am Erfolgsort auf den im jeweiligen Mitgliedstaat eingetretenen Schaden. Bei Internetinhalten ist es dem Beklagten aber oftmals gar nicht möglich, einen Beitrag mit Wirkung jeweils für nur einen Mitgliedstaat zu beseitigen oder in Zukunft zu unterlassen, weshalb bei Verfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen erheblich ist. Der EuGH sah es sogar selbst als problematisch an, dass der im jeweiligen Mitgliedstaat eingetretene Schaden nicht immer einfach
489
So noch die Bestandsaufnahme des status quo durch Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO Rn. 15. 490 S.o., S. 292. 491 S.o., S. 299. 492 EuGH, Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269, 10320, Nr. 42. 493 Im Folgenden nach Klöpfer, JA 2013, 165, 169 m.w.N.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
zu berechnen sei.494 Und auch wenn sich der Gerichtshof in eDate und Martinez nicht ausdrücklich mit der Gefahr unvereinbarer Entscheidungen auseinandersetzte, erkennt er doch die mit einer Vervielfältigung von Gerichtsständen einhergehenden Konsequenzen bewusst an.495 Schließlich hätte er nicht an jedem möglichen Ort der bloßen Abrufbarkeit einen Erfolgsort konstruieren müssen, sondern sich mit zahlreichen Vertretern in Schrifttum496 und Rechtsprechung497 auf eine tatbestandliche Beschränkung des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO in Fällen von Persönlichkeitsrechtsverletzungen einlassen können. Die Vervielfältigung dient in den Augen des EuGH damit offenbar dem Schutz des in seiner Ehre potentiell Verletzten498 und damit einem konkreten Belang, der die lediglich abstrakte Gefahr unvereinbarer Entscheidungen überwiegt. III. Zwischenergebnis: Die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit Interesse an der Verhinderung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen Für die Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in Fällen von Torpedoklagen bedeutet das vorangegangen Gesagte, dass die Fortsetzung eines Verfahrens durch ein später angerufenes Gericht alleine noch keinen Verstoß gegen den Grundsatz darstellt, wonach Parallelverfahren vermieden werden sollen. Betrachtet man diejenige Belange, aufgrund derer EuGH und Gesetzgeber Parallelverfahren in der Vergangenheit zugelassen haben – Verhinderung von Verfahrensverzögerungen, Erhöhung der Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen, Verhinderung von Verfahrensmissbrauch, bestmögliche Rehabilitierung von Betroffenen ehrverletzender Äußerungen etc. – zeigt sich, dass parallele Verfahren durchaus erwünscht sein können, um einen höher gewichteten und andernfalls gegebenenfalls nicht zu realisierenden Belang zu schützen. Die abstrakte Gefahr unvereinbarer Entscheidungen ist mit
494 Vgl. EuGH, Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269, 10321, Nr. 46. 495 Vgl. Klöpfer, JA 2013, 165, 169 m.w.N. 496 Z.B. Kubis, Internationale Zuständigkeit bei Persönlichkeits- und Immaterialgüterrechtsverletzungen, S. 177); Klöpfer, JA 2013, 165, 170; P.-A. Brand, NJW 2012, 127, 129. 497 Vgl. BGH, EuGH-Vorlage v. 10.11.2009, VI ZR 217/08, EuZW 2010, 313, 315: Erfolgsortzuständigkeit nur dort, wo Interessenkollision auch tatsächlich eintreten kann. 498 Ausdrücklich führt der EuGH diesen Belang zwar nur zur Rechtfertigung des Klägergerichtsstands am Mittelpunkt der Interessen des Geschädigten an (vgl. EuGH, Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269, 10321, Nr. 47 f.). Allerdings zeigen die oben gemachten Ausführungen, dass es für eine Ausweitung der Erfolgsortzuständigkeit auf die Orte bloßer Abrufbarkeit entgegen diverser Vorschläge keine andere taugliche Begründung gibt, als den Schutz des Geschädigten.
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Blick auf die konkrete Verletzung eines schützenswerten (Individual-)Interesses in diesen Fällen zu vernachlässigen. Außerhalb des durch die genannten Interessen und Grundsätze abgesteckten Bereichs fehlt es aber an einer durch Gerichtshof und Gesetzgeber formulierten Leitlinie. Hier muss angenommen werden, dass Parallelverfahren zunächst und prima facie verhindert werden sollen. So auch in den Fällen der Torpedoklage, die weder Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO unterfallen, noch eine Gestaltung entsprechend der Weber-Entscheidung aufweisen. Allerdings muss hier überprüft werden, ob es unter bestimmten Umständen Parallelverfahren gerade bedarf, um Verfahrensmissbrauch zu verhindern. Dabei ist zu beachten, dass in Torpedofällen zwei grundverschiedene Konstellationen existieren, die voneinander zu trennen sind. 1. Das zuerst angerufene Gericht ist unzuständig Existiert für das zuerst angerufene Gericht keinerlei Zuständigkeit, was häufig der Fall sein wird, so werden zwar zunächst parallele Verfahren betrieben. Unvereinbare Entscheidungen werden aber nicht ergehen, wenn das zuerst angerufene Gericht seine Zuständigkeit richtigerweise verneint und die Torpedoklage abweist. In diesen Fällen muss das Interesse an der Verhinderung von Verfahrensmissbrauch überwiegen, ein Verstoß gegen das Interesse an der Vermeidung von Parallelverfahren liegt nicht vor. 2. Das zuerst angerufene Gericht ist an sich zuständig Damit reduziert sich das Problem auf diejenigen Fälle, in denen ein Gericht, das im Wege der Torpedoklage angerufen wurde, tatsächlich zuständig ist. Bei einer an sich gegebenen Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts erscheint die Durchführung eines weiteren Verfahrens in derselben Streitsache zunächst problematisch. Denn das zuerst angerufene Gericht könnte grundsätzlich aufgrund der ihm zugewiesenen Kompetenz in der Sache entscheiden. Damit steigt vordergründig die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen. Allerdings ist schon hier anzumerken, dass in den klassischen Fällen der Torpedoklage, in welchen ein Schuldner eine von vorneherein aussichtslose, weil unbegründete negative Feststellungsklage zur Verzögerung einer Sachentscheidung erhebt, die Entscheidung des zuerst angerufenen Gerichts mit der des später angerufenen auch auf dieser Ebene nicht in Konflikt geraten würde: Das zuerst angerufene Gericht wird die Klage, mit der die Feststellung des Nichtbestehens einer Verpflichtung begehrt wird, als unbegründet abweisen, das später angerufene Gericht der Leistungsklage des Gläubigers dagegen stattgeben. Für die Verhinderung von Missbrauch auf Zuständigkeitsebene bedeutsamer ist aber folgender Umstand: Das zuerst angerufene Gericht wird in denjenigen Fällen, in welchen ein später angerufenes Gericht zu einer Durchbrechung der Rechtshängigkeitsregel aufgrund des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
legitimiert ist, seine Zuständigkeit auf eben dieser Grundlage wegen einer missbräuchlichen Inanspruchnahme verneinen müssen.499 Wie die klageabweisende Entscheidung des Tribunale di Milano in der Rechtssache WeitkämperKrug500 zeigt, verfahren in missbräuchlicher Art und Weise angegangene Gerichte auch heute schon entsprechend, wenn auch bedauerlicherweise nur auf Grundlage eines nationalen Missbrauchsverständnisses. Mit einem einheitlichen Standard der Missbrauchsverhinderung reduziert sich die Gefahr unvereinbarer Entscheidungen, denn beide Gerichte wenden denselben Prüfungsmaßstab an und kommen bei einer sorgfältigen Prüfung – die zu unterstellen ist – zu einem harmonischen Ergebnis. Hier besteht keinerlei Gefahr unvereinbarer Entscheidungen. Die parallelen Verfahren sind also durchaus sinnvoll. Vor allem über die subjektive Komponente des Missbrauchsverbots wird sichergestellt, dass das Restrisiko bezüglich unvereinbarer Entscheidungen hingenommen werden kann. Indem der Maßstab für die Annahme eines Missbrauchs von Unionsrechts relativ hoch liegt und damit nur in klaren Fällen vernünftigerweise ein Missbrauchsvotum gefällt werden kann, 501 erscheint es durchaus tragbar, einem später angerufenen Gericht die Möglichkeit für ein paralleles Verfahren zu eröffnen. Dies gilt für die Fälle der Torpedoklage insgesamt. Abstrakte Argumente gegen die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots aufgrund des Interesses an der Vermeidung von Parallelverfahren und sich widersprechender Entscheidungen bestehen nicht. Das Restrisiko fehlerhafter Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots durch das zuerst angerufene Gericht ist damit hinnehmbar. Korrekterweise müsste man sich fragen, ob dies bei einer möglichen Folgenabschätzung überhaupt berücksichtigt werden sollte. Denn es ist gänzlich unerheblich, ob das zuerst angerufene Gericht das unionsrechtliche Missbrauchsverbot abweichend vom später angerufenen Gericht falsch auslegt und anwendet oder das später angerufene Gericht eine Rechtshängigkeitsregel falsch auslegt. Berücksichtigung könnte lediglich finden, ob die dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot an sich innewohnende Unbestimmtheit ein dem System des Europäischen Zivilverfahrensrecht abträgliches Ausmaß hat, dies es nicht gerechtfertigt erscheinen lässt, es anzuwenden. Dass dies nicht der Fall ist, wurde im Rahmen des Abschnitts zur Rechtssicherheit schon ausführlich dargelegt, so dass hier darauf verwiesen werden kann.502
499
Zu diesem Fall missbräuchlichen forum shoppings, s.u., S. 376 f. Vgl. die Darstellung des Verfahrensgangs durch den BGH in seiner EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2161, Rn. 2. 501 S.o., S. 160 f. 502 S.o., S. 220 ff. 500
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E. Einheitliche Anwendung von Unionsrecht Mit dem Gebot einheitlicher Anwendung von Unionsrecht besteht kein spezifischer Konflikt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots. Das Missbrauchsverbot führt vielmehr zu einem höheren Maß an Einheitlichkeit in der Rechtsanwendung in Fällen von Verfahrensmissbrauch. Mangels eines Konkurrenzverhältnisses können sich nachfolgenden Ausführungen auf die wesentlichen Gedanken beschränken und entsprechend knapp gehalten werden. I. Allgemeingültigkeit des Gebots und Notwendigkeit einheitlicher Methodik Zwar wird im Europäischen Zivilverfahrensrecht häufig und mit besonderem Nachdruck das Gebot einheitlicher Anwendung betont.503 Es stellt aber keine Besonderheit des Europäischen Zivilverfahrensrechts dar, sondern eine allgemeine Forderung in der Anwendung internationalen Einheitsrechts, die im Unionsrecht zusätzlich durch dessen integrativen Charakter bedingt ist: Nur wenn Unionsrecht in allen Mitgliedstaaten idealerweise identisch ausgelegt und angewandt wird, kann, dessen höherer Bestimmung entsprechend, eine Rechtsgemeinschaft überhaupt entstehen.504 Technisch umgesetzt wird diese Forderung durch das Auslegungsmonopol des EuGH und die durch diesen gepflegte sog. autonome Auslegung.505 Dabei legt der EuGH Begriffe in den jeweiligen Rechtsakten anhand eines unionseigenen Normverständnisses aus und schafft so die Grundlage einer einheitlichen Anwendung in allen Mitgliedstaaten der Union.506 In der Realität besteht jedoch die Gefahr, dass der Anspruch des Unionsgesetzgebers hinsichtlich einer unionsweit einheitlich angewandten Rechtsmaterie und der Vollzug in den Mitgliedstaaten mangels einheitlicher Methodik auseinanderdriften. Selbst wenn Begriffe in Verordnungen autonom ausgelegt werden, ergeben sich doch in Randbereichen immer wieder Unklarheiten, die 503 Vgl. EuGH, Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-190/11 (Daniela Mühlleitner ./. Ahmad Yusufi und Wadat Yusufi), NJW 2012, 3225, 3226, Nr. 28; Urt. v. 7.12.2010, verb. Rs. C-585/08 und 144/09 (Peter Pammer ./. Reederei Karl Schlüter GmbH & Co. KG; Hotel Alpenhof GesmbH ./. Oliver Heller), Slg. 2010, I-12527, 12591, Nr. 55; Urt. v. 20.1.2005, Rs. C-27/02 (Petra Engler ./. Janus VersandGmbH), SLG 2002, I-481, 513, Nr. 33. 504 Vgl. Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 236 mit Verweis auf EuGH, Urt. v. 21.2.1991, verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG ./. Hauptzollamt Itzehoe; Zuckerfabrik Soest GmbH./. Hauptzollamt Paderborn), Slg. 1991, I-415, 542, Nr. 26: „Grunderfordernis der gemeinschaftlichen Rechtsordnung.“ 505 Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 237; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 267 AEUV Rn. 2; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV Rn. 1; zur autonomen Auslegung Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 45; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 224, 233. 506 Speziell zum Europäischen Zivilverfahrensrecht, vgl. etwa Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 45 ff.
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2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
beseitigt werden wollen. Pflegt man hierbei in den Mitgliedstaaten einen unkritischen nationalen Ansatz, der die Reichweite und Bedeutung des Unionsrechts nicht hinreichend würdigt, steht die Idee der Union an sich zur Debatte.507 Rösler nennt diesen Umstand treffend die „Achillesferse der Rechtsentwicklung in der EU.“508 Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot stellt jedoch keine zusätzliche Unsicherheit dar, sondern ein Mehr an einheitlicher Methodik. Es überwindet die nationalen Missbrauchsverhinderungskonzepte und gründet die Möglichkeit der Feinsteuerung im Einzelfall auf einen genuin unionsrechtlichen Ansatz, der in allen Mitgliedstaaten dieselbe Verbindlichkeit und Ausformung hat.509 Damit fördert das unionsrechtliche Missbrauchsverbot gerade die einheitliche Anwendung von Unionsrecht, beeinträchtigt sie nicht. Folgerichtig setzte sich der Gerichtshof mit der Frage, ob durch das Missbrauchsverbot die einheitliche Anwendung von Unionsrecht gefährdet würde, in Ausformung des Verbots auch gar nicht auseinander. Hier gilt das zum effet utile-Grundsatz Gesagte entsprechend, vor allem was ältere Entscheidungen des EuGH angeht, in welchen er das Gebot einheitlicher Anwendung als scheinbare Grenze der Missbrauchsverhinderung benennt: 510 Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot stellt eine durch den Gerichtshof selbst ausgeformte Abweichungskompetenz der nationalen Institutionen in der Anwendung von Unionsrecht dar, die bei zu unterstellender idealer Anwendung überall in der Union identisch ausgelegt und vollzogen wird und damit in den Augen des Gerichtshofs vor dem Gebot einheitlicher Anwendung gerade Bestand hat. II. Besonderes Bedürfnis nach einheitlicher Anwendung im Europäischen Zivilverfahrensrecht Nicht zu leugnen ist natürlich, dass sich im Europäischen Zivilverfahrensrecht eine uneinheitliche Anwendung von Unionsrecht besonders negativ auswirken kann. Dies gilt vor allem für den Bereich des Zuständigkeitsrechts.511 Denn werden Zuständigkeitsvorschriften in den Mitgliedstaaten uneinheitlich angewandt, besteht im schlimmsten Fall die Gefahr eines sog. negativen Kompetenzkonflikts, weil das Zuständigkeitskonzept des Gesetzgebers in seiner Reichweite verändert wird und so die Zuständigkeitsverteilung zwischen den
507
Vgl. Fleischer, RabelsZ 75 (2011), 700, 706 ff.; Pechstein/Drechsler, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 224, 228; Vogenauer, ZEuP 2005, 234, 235 f. 508 Rösler, Rechtstheorie 43 (2012), 495, 497. 509 Zum Verhältnis des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots zu nationalen Mechanismen der Missbrauchsverhinderung, s.o., S. 173 f. 510 S.o., S. 212 f. Für die Verweise von Vogenauer, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 521, 548 f. gilt das unter Fn. 12 Gesagte. 511 Vgl. Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, § 4 Rn. 45 ff.
§ 7 Missbrauchsverbot und Grundprinzipien des EuZVR
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Mitgliedstaaten durcheinander gerät. 512 Hierdurch ist das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen tangiert, aber auch das im öffentlichen Interesse stehende Strukturinteresse an einem einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im Sinne von Art. 67 AEUV. Gleiches gilt, wenn Zuständigkeiten über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinaus zu freimütig bejaht werden. Letzteres ist freilich keine Gefahr, die sich aus der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ergeben würde. Denn dieses wirkt einschränkend und könnte allenfalls negative Kompetenzkonflikte heraufbeschwören. 1. Status quo: Divergierende nationale Ansätze zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch Allerdings kann hier nur wiederholt werden, was an andere Stelle schon gesagt wurde: Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot wird selbst im für eine uneinheitliche Anwendung besonders anfälligen Zuständigkeitsrecht dazu führen, dass Unionsrecht einheitlich (nicht) angewandt wird. Gegenwärtig wird in den Mitgliedstaaten Verfahrensmissbrauch aufgrund völlig heterogener nationaler Ansätze behandelt.513 Dies gilt auch für das europäische Zuständigkeitsrecht, wo bedenkliche Verlegenheitslösungen gesucht werden. Aus der Vielzahl möglicher Beispiele sei hier nur eines herausgegriffen: Offensichtlich um dem Problem der Torpedoklagen Herr zu werden, verneinten manche Gerichte in der Vergangenheit den Gerichtsstand des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO für negative Feststellungsklagen. 514 Dabei verwehrte man dem Torpedokläger den Gerichtsstand jedoch nicht aufgrund möglicher Missbrauchsintention, sondern schloss negative Feststellungsklagen generell und undifferenziert aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift aus.515 Dieser Ansatz wurde in der deutschen Literatur richtigerweise überwiegend nicht mitgetragen, da keine spezifischen Gründe dafür existieren, warum nicht auch das Nichtbestehen einer deliktischen Haftung im Gerichtsstand des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO geltend gemacht
512 Zur jedoch geringen praktischen Bedeutung negativer Kompetenzkonflikte in der Vergangenheit, Junker, Internationales Zivilprozessrecht, § 5 Rn. 15 m.w.N. 513 Vgl. z.B. oben, S. 191 ff. und unter Fn. 116. 514 Wolde/Knot/Weller, in: unalexKom, Art. 5 Nr. 3 EuGVVO Rn. 18. 515 Z.B. Corte di Cassazione, Entscheidung vom 19.12.2003, Nr. 19550, GRUR Int. 2005, 264 (zu Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ); Tribunale di Bologna, Urt. v. 16.9.1998, I ZR 236/97, GRUR Int. 2000, 1021 (zu Art. 5 Nr. 3 EuGVÜ); LG Leipzig, Urt. v. 27.5.2008, 5 O 757/06, IPRspr 2008, Nr. 96, 314; vgl. im Übrigen die umfangreichen Nachweise bei Wolde/Knot/Weller, in: unalexKom, Art. 5 Nr. 3 EuGVVO Rn. 18 und bei Stauder, in: FS Schricker, S. 917, 928.
312
2. Kapitel: Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht
werden können soll.516 Der EuGH hat dies in Folien Fischer517 letztendlich zutreffend bestätigt. Denn negative Feststellungsklagen generell dem Anwendungsbereich von Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu entziehen bedeutete, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ebenso unzutreffend ist schließlich auch die Rezeption der Entscheidung im deutschen Schrifttum, wonach der EuGH mit Folien Fischer Torpedoklagen zu legitimen Instrumenten des Europäischen Zivilverfahrensrechts erklärt habe.518 Hierrüber hatte der Gerichtshof schlichtweg nicht zu entscheiden. 2. Vorzüge eines unionseinheitlichen Konzepts Hätte man in den beschriebenen Fällen das unionsrechtliche Missbrauchsverbot angewandt, wäre zweierlei erreicht gewesen: Das Zuständigkeitsregime der EuGVVO wäre in der Weise aufrecht erhalten geblieben, die ursprünglich intendiert war – Deliktsgerichtsstand auch bei negativen Feststellungsklagen – und missbräuchliche Verfahrensgestaltungen wären im Geltungsbereich der EuGVVO anhand eines einheitlichen Konzepts beurteilt worden. Die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots bedeutet dabei auch, was auf den ersten Blick paradox anmuten mag, eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des Europäischen Zivilverfahrensrechts: Nationale Konzepte werden durch die unionsrechtlichen Vorgaben überspielt bzw. ausgestaltet, womit einer unkontrollierten Einengung von Unionsrecht vorgebeugt wird. Hierdurch wird im Ergebnis dessen praktische Wirksamkeit gestärkt,519 was im Interesse des europäischen Integrationsprozesses ist. Dieser fordert also die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots. Denn es ist nicht zu leugnen, dass in den Mitgliedstaaten die praktische Notwendigkeit besteht, Verfahrensmissbrauch zu verhindern.520 Mit dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot wird die Möglichkeit, Anwendungsvoraussetzungen und Reichweite der Nichtanwendung von Unionsrecht in Missbrauchsfällen festzulegen auf europäischer Ebene gebündelt. Dabei sichert die Kompetenz des EuGH, das Missbrauchsverbot innerhalb von Vorabentscheidungsverfahren zu präzisieren, die Einheitlichkeit der Rechtsentwicklung.
516 Etwa Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 228 m.w.N.; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 5 EuGVVO 82; für eine Anwendung des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. bei negativen Feststellungsklagen sprach sich auch der BGH aus in seiner EuGH-Vorlage v. 1.2.2011, KZR 8/10, GRUR 2011, 544, 545, Nr. 14. 517 EuGH, Urt. v. 25.10.2012, Rs. C-133/11 (Folien Fischer AG u.a. ./. Ritrama SpA), EuZW 2012, 950. 518 Sujecki, EuZW 2012, 953, 953. 519 A.A. Meyer, Forum Shopping, S. 153. 520 Vgl. oben, S. 190 ff.
§ 7 Missbrauchsverbot und Grundprinzipien des EuZVR
313
III. Zwischenergebnis: Die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit dem Gebot einheitlicher Anwendung von Unionsrecht Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot gerät mit dem Gebot einheitlicher Anwendung nicht in Konflikt. Vielmehr führt es in Missbrauchsfällen zu einer Vereinheitlichung der Methode und dient damit dem europäischen Integrationsprozess, da einer unkontrollierten Nichtanwendung von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten auf nationaler Grundlage vorgebeugt wird. Die Union als Rechtsgemeinschaft fordert ein derartiges Instrument der Feinsteuerung. Für diejenigen Kritiker, die der Möglichkeit der Missbrauchsverhinderung im (Europäischen) Zivilverfahrensrecht generell ablehnend gegenüberstehen, ist die Entscheidung für das unionsrechtliche Missbrauchsverbot jedenfalls eine Entscheidung für das kleinere Übel: An die Stelle völlig uneinheitlicher Anwendung von Unionsrecht in Missbrauchsfällen nach nationalen Beliebigkeiten tritt ‚zumindest‘ ein unionseinheitliches Konzept.
F. Zusammenfassung: Die Vereinbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit Grundprinzipien des Europäischen Zivilverfahrensrecht Die vorstehenden Ausführungen haben deutlich gezeigt, dass sich abstrakte Gründe für eine Inkompatibilität von Europäischem Zivilverfahrensrecht und unionsrechtlichem Missbrauchsverbot nicht finden lassen. Die das Verfahrensrecht tragendenden Grundprinzipien der Rechtssicherheit, des gegenseitigen Vertrauens, der Vermeidung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen sowie der einheitlichen Anwendung von Unionsrecht lassen die Anwendung des Missbrauchsverbots zu oder fordern sie sogar. Dass die Anwendung im konkreten Einzelfall aber eine Würdigung der speziellen Umstände verlangt, ist offensichtlich. Diese Einzelfallbetrachtung wurde in den vorstehenden Abschnitten in Teilen schon durchgeführt, soll aber anhand möglicher zukünftiger und bekannter Fälle von Verfahrensmissbrauch in den folgenden Abschnitten detailliert nachvollzogen werden.
Kapitel 3
Einzelne Missbrauchsgestaltungen Im dritten Kapitel der Arbeit sollen einige ausgewählte Formen des Missbrauchs im Europäischen Zivilverfahrensrecht näher beleuchtet werden. Die aus den vorangegangenen Teilen der Arbeit gewonnenen Erkenntnisse werden dabei auf praktisch relevante Fälle des Verfahrensmissbrauchs übertragen. Hierbei soll insbesondere die Praxistauglichkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots untersucht werden. Dabei werden auch die in Literatur und Rechtsprechung gewöhnlich vorgeschlagenen Lösungsansätze kritisch diskutiert. An erster Stelle sollen verschiedene Varianten der Zuständigkeitserschleichung in den Blick genommen werden (unten, § 8). Danach widmet sich die Arbeit dem großen Bereich des Missbrauchs verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte (unten, § 9). Die Zuordnung zu einer bestimmten Fallgruppe dient dabei nur der Systematisierung und der leichteren Darstellung. Der anzuwendende Prüfungsmaßstab ist naturgemäß identisch.
§ 8 Zuständigkeitserschleichung Zuständigkeitserschleichung
Die Grundzüge der Zuständigkeitserschleichung wurden an anderer Stelle schon ausführlich dargestellt,1 weshalb hier auf Detailfragen eingegangen werden soll. Ausgangspunkt bildet dabei die einzige Vorschrift des Europäischen Zivilverfahrensrechts, in der sich außerhalb der Erwägungsgründe2 ein Verweis auf das Problem findet: Art. 8 Nr. 2 EuGVVO.3 Der dort niedergelegte Gerichtsstand für Gewährleistungs- und Interventionsklagen ermöglicht es einem Kläger, durch Erhebung einer Hauptsacheklage, einen Dritten als Rückgriffsschuldner im selben Gerichtsstand zu verklagen. Somit kann über die Hauptsacheklage ein Gerichtsstand für eine anschließende Klage gegen einen potentiellen Ersatzverpflichteten zu dessen Nachteil gezielt geschaffen werden. In Anbetracht dessen hatte sich der Europäische Gesetzgeber dazu entschlossen, der Vorschrift einen Missbrauchsvorbehalt anzufügen, nach dem ein Erschleichen dieses Gerichtsstands unter gewissen Voraussetzungen unzulässig ist. Auch über diesen durch den Gesetzgeber antizipierten Fall hinaus existieren jedoch diverse Möglichkeiten, einen Gerichtsstand im Europäischen Zivilverfahrensrecht zielgerichtet zu schaffen. In Literatur und Rechtsprechung bejaht man diesbezüglich ebenfalls relativ einmütig die Notwendigkeit und das Bedürfnis, unter Umständen regelnd einzugreifen.4 Nach dem Konzept vorliegender Arbeit muss das zielgerichtete Schaffen gerichtlicher Zuständigkeiten daraufhin überprüft werden, ob es mit dem System des Unionsrechts, insbesondere den Anforderungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots, in Einklang steht. Das Spannungsverhältnis zwischen der Wandelbarkeit von Gerichtsständen und der Inanspruchnahme von Freizügigkeiten auf der einen Seite und den berechtigten Belange des Beklagten oder Antragsgegners auf der
1 2
S.o., S. 245-254. Vgl. oben, S. 251 f., auch zu dem dort gepflegten missverständlichen Begriffsverständ-
nis. 3
Thole, ZZP 122 (2009), 423, 428; zu Erwägunsgrund Nr. 4 EuInsVO, vgl. oben, S. 251. Vgl. allgemein Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 23; Althammer, in: GS Konuralp, S. 103, 105 und EuGH, Urt. v. 20.2.1997, Rs. C-106/95 (Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL), Slg. 1997, I-911, 943 f., Nr. 31, für die sog. abstrakten Erfüllungsortvereinbarungen. 4
§ 8 Zuständigkeitserschleichung
317
anderen Seite wurde schon dargestellt.5 Bei der Untersuchung einzelner Beispiele potentiell missbräuchlicher Zuständigkeitsbegründung muss diesem Aspekt folglich besondere Beachtung geschenkt werden. Analysiert werden in den nachfolgenden Abschnitten verschiedene schon in Rechtsprechung und Schrifttum diskutierte, aber auch potentiell mögliche Formen der Zuständigkeitserschleichung. Nach einem einleitenden Blick auf die Regelung des Art. 8 Nr. 2 EuGVVO (unten, A.) wird anschließend das Erschleichen von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO (unten, B.), die Provokation eines Schadens, um die Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu erschleichen (unten, C.), sowie das Erschleichen eines Gerichtsstands durch tatsächliches Verlegen anknüpfungsrelevanter Tatsachen in den Gerichtsstaat (unten, D.) diskutiert. Nicht besprochen werden hingegen Situationen, in denen durch eine im Sinne des AGB-Rechts missbräuchliche Gerichtsstandsvereinbarung ein Gerichtsstand zulasten einer Partei geschaffen werden soll. Der Grund liegt darin, dass es hierbei um materiell-rechtliche Probleme geht, das Austarieren von Verhandlungsmacht im Stadium von Vertragsverhandlungen. Diese Fälle sind damit kein spezifisches Rechtsanwendungsproblem nach vorliegendem Verständnis, insbesondere kein verfahrensrechtliches. Denn zum einen wird lediglich die Frage der materiell-rechtlichen Wirksamkeit einer privatautonomen Zuständigkeitsvereinbarung zum Anknüpfungspunkt genommen, zum anderen ist eine Zuständigkeit in diesen Fällen nach dem Regelungskonzept des Gesetzgebers entweder eindeutig zu bejahen oder zu verneinen: Ist die Klausel schon über die Regelungen des AGB-Rechts oder sonstige materiell-rechtliche Schranken nichtig und entfaltet keine Wirkung, existiert der auf sie gestützte Gerichtsstand nicht. Eine Feinsteuerung auf Ebene des Verfahrensrechts ist nicht notwendig.6
A. Art. 8 Nr. 2 EuGVVO: Gerichtsstand der Gewährleistungsund Interventionsklage Die Ausführungen zu Art. 8 Nr. 2 EuGVVO können knapp gehalten werden. Schließlich enthält die Regelung gerade einen Missbrauchsvorbehalt, nach dem das Schaffen eines Gerichtsstands für eine Gewährleistungs- und Interventionsklage7 mittels einer Hauptsacheklage unzulässig ist, wenn diese mit der bloßen Absicht erhoben wurde, dem (Dritt-)Beklagten seinen allgemeinen
5
S.o., S. 246 f. Zustimmend Leible/Röder, RIW 2007, 481, 487. 7 Zum Begriff, vgl. G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 48 ff. 6
318
3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
Gerichtsstand zu entziehen.8 Dies soll nach dem EuGH dann zu verneinen sein, wenn zwischen den Klagen ein Zusammenhang besteht,9 was allerdings von der Literatur und der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung als wenig überzeugend abgelehnt wird: Schließlich besteht zwischen Hauptklage und Interventionsklage immer ein Zusammenhang, der Missbrauchsvorbehalt verlöre bei einer derartigen Interpretation jegliche Funktion.10 Zudem existieren gerade Varianten von Zuständigkeitsmissbrauch, die sich nicht über das anspruchsbezogene Korrektiv des Zusammenhangs lösen lassen.11 Als mögliche Anwendungsfälle des Missbrauchsvorbehalts werden insbesondere Klagen genannt, bei denen Kläger und Hauptbeklagter kollusiv zusammenwirken, um den Dritten um seinen allgemeinen Gerichtsstand zu bringen oder Klagen, die ohne (materiell-rechtlichen) Grund erhoben werden. Dies ist etwa dann beweisrechtlich unproblematisch, wenn der der Hauptbeklagte die gegen ihn eingeklagte Forderung schon anerkannt oder erfüllt hatte.12 Gerade die Fälle der Kollusion wurden durch den EuGH auch in Ausformung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots für beachtlich erklärt, beispielsweise beim kollusiven Zusammenwirken von Exporteuer und Re-Importeur zum Zwecke des Erschleichens von Subventionen in Emsland-Stärke.13 Der Vorbehalt des Art. 8 Nr. 2 EuGVVO ist dabei Ausdruck eines allgemeinen Gedankens, wonach das Erschleichen einer Zuständigkeit zum Nachteil
8 Der EuGH hat in seinem Urt. v. 26.5.2005, Rs. C-77/04 (Groupement d'intérêt économique [GIE] Réunion européenne u.a. ./. Zurich España u.a.), Slg. 2005, I-4509, 4531, Nr. 25 darauf abgestellt, ob die Gewährleistungs- oder Interventionsklage den Zweck habe, dem Drittbeklagten seinen allgemeinen Gerichtsstand zu entziehen. Dies ist jedoch deshalb sinnwidrig, da der besondere Gerichtsstand des Art. 8 Nr. 2 EuGVVO gerade dazu dient, eine Klage an einem anderen Ort, als dem Wohnsitz des Beklagten anhängig zu machen, vgl. Art. 6 EuGVVO. Es muss demnach auf den Zweck der Hauptklage abgestellt werden, so auch G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 57 f. 9 EuGH, Urt. v. 26.5.2005, Groupement d'intérêt économique [GIE] Reunion européenne u.a. ./. Zurich España u.a.), Slg. 2005, I-4509, 4532, Nr. 29. 10 Köckert, Die Beteiltigung Dritter im Internationalen Zivilverfahrensrecht, S. 81 f. m.w.N.; vgl. aber auch Corneloup/Althammer, in: unalexKomm, Art. 6 EuGVVO Rn. 52. 11 Dazu sogleich. 12 Vgl. Köckert, Die Beteiligung Dritter im Internationalen Zivilverfahrensrecht, S. 83; Winter, Gerichtsstand des Sachzusammenhangs, S. 74 ff.; Corneloup/Althammer, in: unalexkom, Art. 6 EuGVVO Rn. 52; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 57 f. Zum Erschleichen der Zuständigkeit aus Art. 8 Nr. 1 EuGVVO durch eine unbegründete sog. Ankerklage, s.u., S. 328 f. 13 Vgl. EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569, 11613 f., Nr. 53, 58.
§ 8 Zuständigkeitserschleichung
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des Beklagten im Europäischen Zivilverfahrensrecht unter bestimmten Umständen unzulässig ist.14 In der Diktion des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots handelt es sich hierbei um Fälle, die der fraude à la loi vergleichbar sind, also des Erschleichens eines unionsrechtlichen Vorteils unter Umgehung des actor sequitur forum rei-Grundsatzes. 15 Innerhalb des Anwendungsbereichs der Regelung besteht kein Bedürfnis, auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als selbständiges Kontrollinstrument zurückzugreifen. Allerdings kann es, soweit notwendig, zur Auslegung des Vorbehalts verwendet werden. Diesen Ansatz pflegt der Gerichtshof bei sonstigen geschriebenen Missbrauchsverboten im Unionsrecht.16 Da der Vorbehalt in Art. 8 Nr. 2 EuGVVO passgenau einen Aspekt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots, das Erschleichen eines unionsrechtlichen Vorteils erfasst, ist dies nur konsequent. Die Voraussetzungen des Missbrauchsverbots decken sich mit den Vorgaben des Vorbehalts in Art. 8 Nr. 2 EuGVVO: Letztlich ist die Hauptsacheklage nur Ausdruck einer künstlichen Gestaltung, mit welcher der Vorteil des zusätzlichen Gerichtsstands gegenüber dem Drittbeklagten ausgenutzt werden soll.17 Hieraus ergibt sich die Missbrauchsabsicht, die allerdings im Rahmen des Vorbehalts speziell darauf gerichtet ist, durch eine künstliche Gestaltung dem Drittbeklagten seinen durch Art. 4 Abs. 1 EuGVVO gewährten Wohnsitzgerichtsstand zu entziehen. Die Zweckwidrigkeit wird durch die Künstlichkeit indiziert18 und ergibt sich darüber hinaus positiv daraus, dass die Norm des Art. 8 Nr. 2 EuGVVO eine Bündelung von Hauptsache- und Gewährleistungsklage erreichen will; über die darin geltend gemachten Forderungen soll auch aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit einheitlich entschieden werden. 19 Diesem Zweck ist nicht gedient, wenn die Hauptsacheklage nur ‚vorgeschoben‘ wird, der Kläger in Wahrheit gar kein Interesse daran hat, Ansprüche gegen den ursprünglichen Beklagten gerichtlich durchzusetzen. Dieser Beklagte ist damit lediglich „défendeur fictif.“20
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Reuß, Forum Shopping, S. 280; de Vareilles-Sommières, Trav.comité fr. DIP 1998/2000, 49, 60 m.w.N.; Grothe, in: FS Kerameus, S. 469, 478 m.w.N.; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 23; ders., in: Zöller, Art. 6 EuGVVO Rn. 2; Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 29, 33 f.; Nachweise aus der französischen und italienischen Rechtsprechung bei Kropholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 15. 15 Vgl. Nuyts, 3 GJA (2003) 1, 12. 16 Vgl. das Urteil in der Rechtssache Kofoed, oben, S. 107. 17 Thole, ZZP 122 (2009), 423, 426. 18 Vgl. oben, S. 161. 19 Vgl. Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 34. 20 Nuyts, 3 GJA (2003) 1, 12.
320
3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
Subjektiv ist der Missbrauchsvorbehalt in Art. 8 Nr. 2 EuGVVO auf das Entziehen des allgemeinen Gerichtsstands ausgelegt. Wie jedoch schon in anderem Zusammenhang dargelegt wurde, kann für den Vorwurf der Zuständigkeitserschleichung aufgrund des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in subjektiver Hinsicht auch ein anderer Vorwurf stehen, etwa derjenige, den Beklagten schädigen zu wollen.21
B. Art. 8 Nr. 1 EuGVVO: Gerichtsstand der Streitgenossenschaft Die parallel zu Art. 8 Nr. 2 EuGVVO liegende Zuständigkeitsvorschrift des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ermöglicht es einem Kläger ebenfalls, durch Klageerhebung einen zusätzlichen Gerichtsstand gegenüber einem Dritten zu schaffen. Mit einer Klage am Wohnsitz eines sog. Ankerbeklagten kann ein ansonsten dort nicht gerichtspflichtiger Dritter im selben Gerichtsstand verklagt werden. Das zielgerichtete Schaffen einer Zuständigkeit gegen den Dritten läuft damit parallel zu Art. 8 Nr. 2 EuGVVO ab: Will der Kläger den Dritten und damit den eigentlich anvisierten Beklagten in dem klägerfreundlichen Forum des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO verklagen, muss er hierzu lediglich Klage gegen den Ankerbeklagten erheben. Nach dem Tatbestand der Vorschrift ist ein Gerichtsstand gegenüber dem Dritten allerdings nur unter der einschränkenden Voraussetzung eröffnet, dass „zwischen den Klagen eine so enge Beziehung gegeben ist, dass eine gemeinsame Verhandlung und Entscheidung geboten erscheint, um zu vermeiden, dass in getrennten Verfahren widersprechende Entscheidungen ergehen könnten.“
Der Gerichtsstand wird wegen des Erfordernisses dieser engen Beziehung auch Gerichtsstand der Streitgenossenschaft genannt.22 Das nationale Verständnis diesbezüglich kann natürlich nur ein Anhaltspunkt für die Auslegung der Vorschrift sein.23 Die grundlegende Streitfrage mit Blick auf das Erschleichen von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ist, ob über das in der Vorschrift verankerte Erfordernis einer ‚engen Beziehung‘ alleine mit hinreichender Wirksamkeit Missbrauch verhindert werden kann (unten, I.), oder ob weitergehende Eingriffsbefugnisse notwendig und möglich sind (unten, II.). Dabei hat man in der Vergangenheit insbesondere die Übertragung des Missbrauchsvorbehalts aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO diskutiert; die wichtigsten Eckpunkte dieser Diskussion sollen hier dargestellt werden. Nach dem Konzept vorliegender Arbeit kann aber unabhängig von der Frage
21
Vgl. oben im Text, Kap. 2 Fn. 214. Stadler, in: Musielak, Art. 6 EuGVVO Rn. 2. 23 Vgl. Stadler, in: Musielak, Art. 6 EuGVVO Rn. 2a. 22
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einer solchen Übertragung auf Grundlage des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots selbst verhindert werden, dass der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft zum Nachteil des Dritten durch eine künstliche Ankerklage geschaffen wird. Nach einer Darstellung der Wirkungsweise des Missbrauchsverbots im Rahmen des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO werden die Erkenntnisse zusammengefasst (unten, III.). I. Missbrauchsverhinderung durch Konnexität? Nach dem Wortlaut des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO wird der Gerichtsstand der Streitgenossenschaft gegenüber einem Dritten nur dann gewährt, wenn eine Klage gegen einen Beklagten an dessen Wohnsitz erhoben wurde und die Klage gegen den Dritten mit derjenigen gegen den Beklagten in einer qualifiziert engen Beziehung steht. Beachtlich ist, dass die Vorschrift dabei ein Systeminteresse des Europäischen Zivilverfahrensrechts besonders betont: Der Gerichtsstand dient der Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen, was eher erreicht wird, wenn besonders eng miteinander verflochtene Klagen vor einem zuständigen Gerichten verhandelt werden.24 Das Erfordernis einer engen Beziehung, die sog. Konnexität, hat im rechtswissenschaftlichen Schrifttum25 und den Entscheidungen des EuGH26 erhebliche Aufmerksamkeit erfahren. Im Laufe der Zeit hat sich dabei jedoch herausgestellt, dass nur relativ schwer abstrakt dargelegt werden kann, wann von Konnexität auszugehen ist.27 Klarheit herrscht mittlerweile, dass eine identische Sach- und Rechtslage bezüglich beider Klagen nicht erforderlich ist, sie jedoch einen wichtigen Anhaltspunkt für Konnexität darstellen kann.28 Gleiches gilt für ein aufeinander abgestimmtes Verhalten der beteiligten Beklagten.29 Konnexität soll etwa bei Klagen gegen Gesamtschuldner vorliegen.30 24
Dazu allgemein oben, S. 306 ff. Vgl. nur die umfangreichen Nachweise bei Corneloup/Althammer, in: unalexKomm, Art. 6 EuGVVO Rn. 23-34 und die Ausführungen von G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 23–40. 26 Vgl. insbesondere EuGH, Urt. v. 27.9.1988, Rs. 189/87 (Athanasios Kalfelis ./. Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565; Urt. v. 27.10.1998, Rs. C-51/97 (Réunion européenne SA u. a. ./. Spliethoff's Bevrachtingskantoor BV u.a.), Slg. 1998, I-6511; Urt. v. Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-103/05 (Reisch Montage AG ./. Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827; Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-539/03 (Roche Nederland BV u. a. ./. Frederick Primus und Milton Goldenberg), Slg. 2006, I-6535; Urt. v. 1.12.2011, Rs. C-145/10 (EvaMaria Painer ./. Standard VerlagsGmbH u.a.), Slg. 2011, I-12533. 27 Im Folgenden nach Stadler, in: Musielak, Art. 6 EuGVVO Rn. 2a. 28 EuGH, Urt. v. 1.12.2011, Rs. C-145/10 (Eva-Maria Painer ./. Standard VerlagsGmbH u.a.), Slg. 2011, I-12533, 12620, Nr. 80. 29 EuGH, Urt. v. 1.12.2011, Rs. C-145/10 (Eva-Maria Painer ./. Standard VerlagsGmbH u.a.), Slg. 2011, I-12533, 12620, Nr. 83. 30 Jenard-Bericht, S. 26. 25
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
Ruft man sich die Ausführungen zur Zuständigkeitserschleichung, insbesondere zu § 23 ZPO in Erinnerung, wird eines schnell deutlich: Das Konnexitätserfordernis stellt eine dem ‚hinreichenden Inlandsbezug‘ vergleichbare einschränkende Voraussetzung der Vorschrift dar, durch deren Ausgestaltung sich theoretisch verhindern lässt, dass willkürlich Zuständigkeiten zulasten Dritter geschaffen werden können.31 Je nachdem, welche Anforderungen an den Zusammenhang zwischen den Klagen gestellt werden, kann durch eine in diesem Sinne inkonnexe Ankerklage eine Zuständigkeit gemäß Art. 8 Nr. 1 EuGVVO nicht begründet werden.32 Das Merkmal der Konnexität verfügt dabei, wie dasjenige des hinreichenden Inlandsbezugs, über eine gewisse Wertungsoffenheit, was eine Abwägung der Zuständigkeitsinteressen von Kläger und Beklagtem ermöglicht. 33 Damit trägt man wiederum dem Primat der Auslegung Rechnung: Eingriffe in das Regelungskonzept des Gesetzgebers sind nur dann zulässig, wenn der mögliche Auslegungsspielraum vorher ausgeschöpft worden ist.34 II. Bedürfnis bzw. Möglichkeit für eine weitergehende Missbrauchsverhinderung? Selbst wenn aber die Ankerklage und die Klage gegen den Dritten konnex im Sinne des durch den EuGH ausgeformten Konzeptes sind, kann dennoch eine Zuständigkeitsbegründung gegeben sein, die äußerst unbillig erscheint und damit alleine mit dem Konnexitätsmerkmal nicht zu regulieren ist.35 Denn dieses ist im weitesten Sinne anspruchsbezogen und damit grundsätzlich indifferent gegenüber speziellen Umständen und Motiven aus der Sphäre des Klägers. Ein
31 Vgl. zu § 23 ZPO oben, S. 247 f. Dazu auch Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 557. 32 Zum Zusammenhang von Darlegungslast, Konnexität und der sog. Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen, s.u., S. 327. 33 Zu letzterem Gedanken Corneloup/Althammer, in: unalexKomm, Art. 6 EuGVVO Rn. 37; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 23. 34 Vgl. oben, S. 146 ff. 35 In diesem Sinne LG Dortmund, EuGH-Vorlage v. 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int. 2013, 842, 844, Nr. 20; de lege lata auch Thole ZZP 122 (2009), 423, 440; Corneloup/Althammer, in: unalexKomm, Art. 6 EuGVVO Rn. 36 ff.; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 39 f. und 41 ff.; Stadler, in: Musielak, Art. 6 EuGVVO Rn. 2a a.E.; a.A. Köckert, Die Beteiligung Dritter im Internationalen Zivilverfahrensrecht, S. 105, die das Konnexitätserfordernis für ausreichend und eine weitere Missbrauchskontrolle für überflüssig hält; ebenso Gottwald, in: MüKo-ZPO, Art. 6 EuGVVO Rn. 14; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 6 EuGVVO Rn. 9; krit. gegenüber einer Regulierung nur über das Konnexitätserfordernis, aber letztlich (notgedrungen) dem EuGH zustimmend, Kroholler/von Hein, Europäisches Zivilprozessrecht, Art. 6 EuGVVO Rn. 15.
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ähnlicher Befund hat sich auch für § 23 ZPO ergeben.36 Des Weiteren hat der EuGH mit seiner Rechtsprechung zur Ausgestaltung des Konnexitätserfordernisses Raum für Zuständigkeitserschleichungen gerade geschaffen, die folglich über einen anderen Korrekturmechanismus reguliert werden müssen. Als Beispiel sei die Konstellation genannt, mit welcher sich der Gerichtshof in der Rechtssache Reisch Montage37 zu befassen hatte: Dort hatte der Kläger eine Ankerklage erhoben, die allerdings von Anfang an unzulässig war, weil über das Vermögen des Beklagten vorher schon das Insolvenzverfahren eröffnet worden war. Der EuGH entschied jedoch, dass die offensichtliche Unzulässigkeit der Ankerklage die Auslegung von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO nicht in Frage stellen könne.38 Dies stützte er vor allem darauf, dass sich die Frage der Unzulässigkeit der Klage nach nationalem Recht richte und Art. 8 Nr. 1 EuGVVO im Unterschied zu anderen Vorschriften der Verordnung gerade keinen Rückgriff hierauf ermögliche.39 Vor dem Hintergrund des oben zur forum non conveniens-Doktrin und zum Verbot von anti-suit injunctions Gesagten, wird das Urteil des Gerichtshofs zu einem gewissen Maß verständlich:40 Selbst wenn die (offensichtliche) Unzulässigkeit der Ankerklage ein Zeichen für eine künstliche Gestaltung darstellt, würde bei einer vorbehaltlosen Delegierung an das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten alleine nationales Recht über die (Nicht-)Anwendung von Unionsrecht entscheiden und gegebenenfalls eine völlig uneinheitliche Anwendung der Verordnung drohen. Der EuGH sieht demnach auch bei einer (offensichtlich) unzulässigen Ankerlage keinen Anlass, nur deshalb die Konnexität der Klagen zu verneinen.41 Ähnliche Probleme ergeben sich bei offensichtlicher Unbegründetheit der Ankerklage.42 Gerade Reisch Montage zeigt, dass die Fälle des Erschleichens von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ebenfalls nicht derart gelöst werden können, dass die auch im Rahmen der EuGVVO von der überwiegenden Meinung favorisierte sog. Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen aufgegeben würde, wie Mäsch43 meint. Diese Lehre lässt einen schlüssigen Klägervortrag bezüglich
36
Vgl. oben, S. 247 ff. EuGH, Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-103/05 (Reisch Montage AG ./. Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827. 38 EuGH, a.a.O., S. 6850, Nr. 31. 39 EuGH, a.a.O., S. 6849 f., Nr. 27 ff. 40 Vgl. oben, S. 257 ff. 41 Krit. Würdinger, ZZPInt 11 (2006), 180, 188, der sich freilich dem Vorwurf der Inkonsistenz ausgesetzt sehen muss, da er die Unbgeründetheit der Ankerlage (S. 189) nicht als beachtlich einstuft. 42 Vgl. etwa Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 6 EuGVVO Rn. 10d m.w.N. 43 Mäsch, IPRax 2005, 509, 514. 37
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
derjenigen Tatbestandsvoraussetzungen einer Zuständigkeitsvorschrift ausreichen, die auf Zuständigkeits- und Begründetheitsebene zu prüfen sind.44 Zum einen liegt mit Blick auf die Konnexität der Klagen gerade keine doppelrelevante Tatsache vor, die Lehre ist diesbezüglich also schon in der Sache nicht anwendbar. Denn der zwischen den Klagen bestehende Zusammenhang ist – im Gegensatz zu Art. 8 Nr. 2 EuGVVO45 – auf Begründetheitsebene nicht Voraussetzung für den Erfolg der Klage gegen den Dritten.46 Zum anderen zeigt die Entscheidung in Sachen Reisch Montage, dass nach der Konzeption des EuGH selbst bei einer unzulässigen Ankerklage Konnexität vorliegen kann. Eine Anpassung des Beweismaßes für den Kläger führte demnach nicht zu einer Verringerung des Missbrauchspotential: Selbst wenn der Kläger den Vollbeweis für das Vorliegen von Konnexität liefern müsste, wären (offensichtlich) unzulässige Ankerklagen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs immer noch für eine Zuständigkeit gemäß Art. 8 Nr. 1 EuGVVO ausreichend. Daher favorisierte der EuGH in Reisch Montage auch eine nachgelagerte Missbrauchsprüfung.47 Lediglich in den Fällen einer offensichtlich unbegründeten Ankerklage könnte man überhaupt an eine Anhebung des Beweismaßes im vorstehenden Sinne denken. 48 Doch auch hier liegt keine doppelrelevante Tatsache vor49: Dazu müsste das Bestehen eines materiellen Anspruchs gegen den Ankerbeklagten auch auf Begründetheitsebene bei der Klage gegen den letztlich beklagten Dritten (!) zu prüfen sein. Dies ist aber nicht der Fall. Zu beachten ist, dass Art. 8 Nr. 1 EuGVVO nicht von einer engen Beziehung zwischen den eingeklagten ‚Ansprüchen‘ spricht, sondern nur von der Beziehung zwischen den Klagen. Ein Anspruch gegen den Ankerbeklagten ist somit schon nach der Vor-
44 Vgl. für die EuGVVO, G. Wagner, in: Stein/Jonas, Einl. vor Art. 2 EuGVVO Rn. 24 m.w.N.; Stalder, in: Musielak, Art. 2 EuGVVO Rn. 3a. Mit seiner Entscheidung in der Rechtssache Kolassa hat sich der EuGH für eine Vereinbarkeit der Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen mit den Vorgaben des effet utile-Grundsatzes ausgesprochen, vgl. EuGH, Urt. v. 28.1.2015, Rs. C-375/13 (Harald Kolassa ./. Barclays Bank plc), BeckRS 2015, 80163. 45 Bei einer Klage, die sich auf Art. 8 Nr. 2 EuGVVO stützt, ist der in diesem Gerichtsstand verklagte Dritte materiell-rechtlich zur Schadlosstellung des im vorangegangenen Verfahren Verklagten verpflichtet, was Voraussetzung für die Zuständigkeit nach dieser Vorschrift ist. Für die Zuständigkeitsbegründung muss nach der Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen daher der schlüssige Vortrag bezüglich einer Einstandspflicht des Dritten ausreichen. 46 A.A. Grothe, in: FS Karameus, S. 469, 479; Mäsch, IPRax 2005, 509, 514. 47 EuGH, Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-103/05 (Reisch Montage AG ./. Kiesel Baumaschinen Handels GmbH), Slg. 2006, I-6827, 6850 f., Nr. 32. 48 Vgl. Thole, ZZP 122 (2009), 423, 442; Corneloup/Althammer, in: unalexKomm, Art. 6 EuGVVO Rn. 38 Fn. 100 m.w.N. 49 So aber Thole, ZZP 122 (2009), 423, 442.
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schrift selbst nicht zu prüfen. Demnach ist auch eine negative Feststellungsklage gegen den Ankerbeklagten denkbar, mit der das Nichtbestehen einer Forderung geltend gemacht wird. Gerade hier würde die Forderung nach einem ‚real claim‘ oder Ähnlichem50 nicht weiterhelfen. Denn der Kläger, der in keinerlei Beziehung zum Ankerbeklagten steht, kann relativ leicht beweisen, dass diesem kein – wie auch immer gearteter – Anspruch gegen ihn zusteht. Anschauungsmaterial hierzu bietet die Entscheidung des Tribunale di Milano in Zusammenhang mit der EuGH-Vorlage in Sachen Weitkämper-Krug:51 Dort war gerade eine negative Feststellungsklage gegen einen Ankerbeklagten in Italien erhoben worden, um eine Torpedoklage gegen die später in Deutschland klagende Gläubigerin im Gerichtsstand des Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. (= Art. 8 Nr. 1 EuGVVO) erheben zu können.52 Das OLG Hamburg als Vorinstanz des letztlich zur Vorlage an den Gerichtshof verpflichteten BGH setzt sich in den Entscheidungsgründen mit der Zuständigkeit des Tribunale di Milano auseinander. Das OLG hatte zwar lediglich über die Wirkungen des Art. 27 EuGVVO a.F. (= Art. 29 EuGVVO) gegenüber deutschen Gerichten zu befinden und nicht über die Zuständigkeit italienischer Gerichte, zeigte aber eine gewisse Sensibilität dafür, die Zuständigkeit des Mailänder Gerichts aufgrund Rechtsmissbrauchserwägungen anzuzweifeln. Dieses selbst wies die Klage im Ergebnis ebenfalls als unzulässig ab. Dies geschah jedoch nicht wegen fehlender Konnexität zwischen den Klagen gegen den Ankerbeklagten und die Gläubigerin. Das Tribunale di Milano verneinte seine Zuständigkeit aufgrund von Rechtsmissbrauchserwägungen: Die Klage in Mailand habe nur der Zuständigkeitserschleichung für die Klage gegen die vermeintliche Gläubigerin gedient.53 Für die Möglichkeit einer über die Konnexitätsprüfung hinausgehende Missbrauchsabwehr im Rahmen des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO lässt sich vor allem aus dem Urteil des EuGH in Reisch Montage damit zweierlei ableiten: Zum einen wird gerade in den Fällen offensichtlich unzulässiger Ankerklagen durch 50
Vgl. Corneloup/Althammer, in: unalexKomm, Art. 6 EuGVVO Rn. 38. Vgl. die Ausführungen zum Sachverhalt in der Vorinstanz zum vorlegenden BGH, bei OLG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2012, 13 W 33/12, BeckRS 2013, 411 und oben, S. 297 ff. 52 Zwar ist es für die Wirkungen des Art. 29 EuGVVO nach der Konzeption des Gesetzgebers nicht entscheidend, dass das im Wege einer Torpedoklage angerufene Gericht zuständig ist, vgl. oben S. 310. Die Schuldnerin in Weitkämper-Krug wollte sich wohl über eine (an sich) gemäß Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. gegebene Zuständigkeit eine Klageabweisung mangels Zuständigkeit in Italien verhindern. Natürlich nimmt auch die Prüfung der Zuständigkeit einer Torpedoklage in manchen Mitgliedstaaten einen erheblichen Zeitraum in Anspruch – das ist gerade der ursprüngliche Anreiz für derartige Verzögerungstaktiken gewesen –, bei einer vorgeblich bestehenden Zuständigkeit kann freilich über den damit zusammenhängenden Mehraufwand im Prüfungsumfang des Gerichts der Zeitpunkt der Klageabweisung erheblich verzögert werden. 53 Vgl. BGH, EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160, 2161, Rn. 2 51
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
die Rechtsprechung des EuGH eine Lücke gelassen, die durch eine Auslegung des Konnexitätserfordernisses nicht geschlossen werden kann und für die der Gerichtshof schon in besagter Entscheidung eine nachgelagerte Missbrauchsprüfung favorisierte.54 Zum anderen zeigt der Vergleich mit den an anderer Stelle herausgearbeiteten Erkenntnissen, dass der Gerichtshof mit seiner Linie in Reisch Montage nicht das Erschleichen von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO bedingungslos ermöglichen wollte, was die dort befürwortete Möglichkeit einer nachfolgenden Korrektur über Missbrauchserwägungen gerade deutlich macht. Selbst wenn der Gerichtshof in der Entscheidung Freeport55 diesen Anschein erweckt haben mag, betont er in neueren den Entscheidungen wie Solvay und Painer – ohne Freeport überhaupt zu zitieren –, Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. (= Art. 8 Nr. 1 EuGVVO) dürfe nicht „in einer Weise ausgelegt werden, die es dem Kläger erlauben würde, eine Klage gegen mehrere Beklagte allein zu dem Zweck zu erheben, einen dieser Beklagten der Zuständigkeit der Gerichte seines Wohnsitzstaats zu entziehen.“56
Eine weitergehende Verhinderung von Zuständigkeitsmissbrauch ist demnach im Rahmen des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO notwendig und möglich. Uneins ist man sich leidglich über die methodische Umsetzung. 1. Übertragung des Missbrauchsvorbehalts aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO? Der gerade eben wiedergegebene Passus aus den EuGH-Entscheidungen in Sachen Solvay und Painer entspricht nahezu wortgleich dem aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO bekannten Missbrauchsvorbehalt, wonach der Gerichtsstand dann zu verneinen ist, wenn „die Klage nur erhoben worden ist, um diese Person dem für sie zuständigen Gericht zu entziehen.“ Es ist daher zu fragen, wie diese Ausführungen des EuGH zu verstehen sind. Dass er sich dabei nur auf die Auslegung des Konnexitätserfordernisses bezieht, wurde gerade eben als nicht vollständig zielführend erkannt. Die Äußerungen könnten daher für eine (analoge) Anwendung des Missbrauchsvorbehalts aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO sprechen. Die diesbezüglich geführte Diskussion ist umfangreich, weshalb hier nur die wesentlichen Eckpunkte dargestellt werden sollen.57
54
Thole, ZZP 122 (2009), 423, 440. EuGH, Urt. v. 11.10.2007, Rs. C-98/06 (Freeport plc ./. Ole Arnoldsson), Slg. 2007, I8319, 8357, Nr. 54. 56 EuGH, Urt. v. 1.12.2011, Rs. C-145/10 (Eva-Maria Painer ./. Standard VerlagsGmbH u.a.), Slg. 2011, I-12533, 12619, Nr. 78; Urt. v. 12.7.2012, Rs. C-616/10 (Solvay SA ./. Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), GRUR 2012, 1169, 1170, Nr. 22; dazu Stadler, in: Musielak, Art. 6 EuGVVO Rn. 2a. 57 Umfangreiche Nachweise dazu bei G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 41 ff. 55
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Für eine analoge Anwendung des Missbrauchsvorbehalts aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO a.E. sind in jüngerer Zeit verschiedene Gerichte in den Mitgliedstaaten eingetreten.58 Diese werden in der Rechtswirklichkeit mit der Notwendigkeit konfrontiert, offensichtlich unbillige Ergebnisse zu verhindern. Deren Votum für eine analoge Anwendung des Missbrauchsvorbehalts zeigt, dass in der Praxis die bloße einschränkende Auslegung von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO, insbesondere also des Konnexitätserfordernisses, nicht als ausreichend angesehen wird, um Zuständigkeitsmissbrauch zu verhindern. Da die Gerichte eine analoge Anwendung des Missbrauchsvorbehalts befürworten, hätten sie sich zunächst mit der Zulässigkeit einer Analogie im konkreten Fall auseinandersetzen müssen, was nicht erfolgte. Gerade auf die Unzulässigkeit einer Analogiebildung stützte man sich jedoch in der Literatur, wo von einigen Vertretern das Erfordernis einer planwidrigen Regelungslücke59 angezweifelt wurde.60 Rückhalt findet diese Ansicht in der Entscheidung des EuGH in Sachen Freeport aus dem Jahre 2007. Dort hatte es der Gerichtshof in offenkundigem Widerspruch zu seinen Äußerungen in Reisch Montage abgelehnt, neben dem in Art. 6 Nr. 1 EuGVVO a.F. (= Art. 8 Nr. 1 EuGVVO) niedergelegten Konnexitätserfordernis eine weitergehende Missbrauchsprüfung durchzuführen, die sich am Missbrauchsvorbehalt des Art. 6 Nr. 2 EuGVVO a.F. (= Art. 8 Nr. 2 EuGVVO) orientiert, da sich die Mitgliedstaaten bei der Schaffung der EuGVVO nicht für einen entsprechenden Vorbehalt ausgesprochen hätten.61 Auch mit der Revision der EuGVVO ist trotz einer gewissen Sensibilität des Gesetzgebers für Verfahrensmissbrauch im Rahmen der Verordnung62 kein entsprechender Vorbehalt in Art. 8 Nr. 1 EuGVVO eingefügt worden. In der Literatur nahm man diesen Befund teilweise zum Anlass für eine generelle Ablehnung gegenüber Missbrauchserwägungen im Anwendungsbereich des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO63 und teils im gesamten Zuständigkeitsrecht
58 Vgl. OGH, Beschl. v. 15.1.2013, 4 Ob 221/12x, GRUR Int. 2013, 569, 572, Nr. 2.1.; in der Sache auch LG Dortmund, EuGH-Vorlage v. 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int. 2013, 842, 844, Nr. 20; vgl. auch OLG Stuttgart, Urt. v. 31.7.2012, 5 U 150/11, NJW 2013, 83, 85. 59 Zum Erfordernis einer planwidrigen Regelungslücke für Analogiebildungen im Unionsrecht, vgl. Neuner, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, S. 373, 385 f. auch mit Nachweisen zur Gegenansicht. 60 Etwa Reuß, Forum Shopping, S. 272 f.; Althammer, IPRax 2008, 228, 231; ders., in: GS Konuralp, S. 103, 122; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 439. Die Autoren beziehen sich jedoch allesamt auf die Freeport-Entscheidung des EuGH und konnten die (mögliche) Abkehr davon in Painer und Solvay nicht berücksichtigen. 61 EuGH, Urt. v. 11.10.2007, Rs. C-98/06 (Freeport plc ./. Ole Arnoldsson), Slg. 2007, I8319, 8357 f., Nr. 51 ff. 62 Vgl. oben, S. 189 f. 63 Z.B. Gottwald, in: MüKo-ZPO, Art. 6 EuGVVO Rn. 14.
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der EuGVVO 64 . In ihrer Allgemeinheit sind diese Aussagen freilich wenig überzeugend. So wurde im vorangegangenen Abschnitt schon deutlich gemacht, dass sich der Gerichtshof in neuerer Zeit von seiner Freeport-Entscheidung entfernt: Er betont gerade das, was er in Freeport noch abgelehnt hatte, nämlich, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte zu prüfen hätten, ob die Ankerklage nur erhoben wurde, um einen Zuständigkeit gegenüber dem Drittbeklagten zu erschleichen. Ist hierin eine Abkehr von Freeport und eine Aufforderung zur analogen Anwendung des Missbrauchsvorbehalts aus Art. 8 Nr. 2 EuGVVO zu sehen? Nimmt man den EuGH in Freeport ernst, steht der erklärte Wille des Gesetzgebers einer Analogiebildung entgegen. Da die Forderung des EuGH nach der Verhinderung von Zuständigkeitsmissbrauch durch die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht im Sinne einer bloßen Auslegung des Konnexitätsmerkmals umgesetzt werden kann, erscheint die Anwendung des Missbrauchsverbots unumgänglich. 2. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Der Rückgriff auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot wird also nicht durch das Konnexitätserfordernis ausgeschlossen.65 Man kann bei Vorliegen von konnexen Klagen allenfalls von einer rechtspraktischen Vermutung sprechen, dass kein Missbrauch des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO anzunehmen ist.66 Pflegt man diese Vermutung in die Tatbestandsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots ein, könnte man bei Vorliegen von Konnexität den ersten Anschein einer künstlichen Gestaltung erschüttern. Allerdings haben die vorstehenden Ausführungen gezeigt, dass gerade die Fälle bewusst unzulässig erhobener Ankerklagen nach der Rechtsprechung des EuGH nicht gegen Konnexität sprechen. Eine Regelvermutung aufzustellen, ginge damit zu weit. Das Vorliegen von Konnexität ist nur ein Faktor, den das Gericht bei der Beweiswürdigung hinsichtlich der Frage einer missbräuchlichen Gestaltung zu beachten hat. Als Eingangsvoraussetzung des Verbots ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu prüfen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der betroffenen Zuständigkeitsnorm formal vorliegen. Damit ist gemeint, dass die Norm nach Auslegung im Grundsatz anzuwenden ist.67 Wie die vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, kann nur in eingeschränktem Maße über die Auslegung des Konnexitätserfordernisses das unbillige Ausnutzen von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO zulasten des Beklagten verhindert werden. Die erste Voraussetzung des Missbrauchsverbots ist somit zu bejahen.
64
So Whittaker, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 253, 256. So auch in der Sache G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 41 ff. 66 Corneloup/Althammer, in: unalexKomm, Art. 6 EuGVVO Rn. 37. 67 Vgl. oben, S. 139 f. 65
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a) Zweckwidrigkeit Prüft man die weiteren Voraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Einzelnen, kann man bei den klassischen Erschleichungsfällen im Rahmen des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO, in welchen unzulässige oder unbegründete Ankerklagen verwendet werden, das Erfordernis der Zweckwidrigkeit bejahen: Die Privilegierung des Klägers durch die Vorschrift gründet sich auf die Verhinderung unvereinbarer Entscheidungen. 68 Ist die Ankerklage unzulässig und/oder unbegründet, drohen keine sich widersprechenden Entscheidungen, da die Ankerklage nicht in das Stadium der Begründetheitsprüfung gelangen wird.69 Dies ist kein Widerspruch zu den obigen Ausführungen, nach welchen im Sinne der Entscheidung des EuGH in Reisch Montage das Vorliegen einer Abweichungsbefugnis der nationalen Gerichte von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO in Fällen unzulässiger Klagen verneint wurde.70 Natürlich wird in diesen Fällen das Regelungsziel der Vorschrift nicht erreicht. Allerdings ist dies – wie gesagt – vor dem Hintergrund eines nicht regulierten Rückgriffs auf nationales Zuständigkeitsrecht zu sehen, der mit der Gefahr des Verlusts praktischer Wirksamkeit von Unionsrecht verbunden ist und in dieser Ausprägung schon öfter Gegenstand der Arbeit war. Unzulässige oder unbegründete Klagen können aber dessen ungeachtet durchaus missbräuchlich im Sinne des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots sein. Der entscheidende Unterschied ist die subjektive Komponente des Verbots, die als Schutz vor ausschweifender Anwendung und als unionseinheitlicher Kontrollmaßstab bezüglich der Nichtanwendung von Art. 8 Nr. 1 EuGVVO dient.71 Damit muss die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in Fällen unzulässiger oder unbegründeter Ankerklagen gerade die Zustimmung derjenigen Vertreter in der Literatur finden, welche sich in derartigen Fällen für eine Nichtanwendung der Vorschrift aus anderen Gründen aussprechen.72 b) Missbrauchsabsicht Das subjektive Erfordernis des Missbrauchsverbots wurde schon in Zusammenhang zum Konnexitätserfordernis gebracht: Liegt Konnexität vor, kann dies gegen eine künstliche Gestaltung und damit gegen die Absicht des Klägers sprechen, sich einen unionsrechtlichen Vorteil missbräuchlich zu verschaffen. Zu bejahen ist die Missbrauchsabsicht aber insbesondere in Fällen der Kenntnis 68
S.o., S. 325. Vgl. Leible, in: Rauscher, EuZPREuIPR, Art. 6 EuGVVO Rn. 10d ff. 70 S.o., S. 327 f. 71 Vgl. oben, S. 160 ff. 72 Z.B. Althammer, IPRax 2006, 558, 562; Mäsch, IPRax 2005, 509, 513; Thole, ZZP 122 (2009), 423, 442; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 6 EuGVVO Rn. 10d; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 6 EuGVVO Rn. 44 f. 69
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
des Klägers von der Unzulässigkeit und/oder Unbegründetheit seiner Ankerklage. Zwar wird vor allem das Wissen des Klägers von der Unbegründetheit der Klage nicht einfach zu beweisen sein. Die hier schon wiederholt zitierte Entscheidung des LG Dortmund liefert allerdings den praktischen Nachweis für einen klaren Fall, in welchem bewusst eine unbegründete Klage erhoben wurde, um in den Genuss des Gerichtsstands zu gelangen: Kläger und Beklagter der Ankerklage hatten sich vor Klageerhebung schon außerprozessual über den mit der Ankerklage geltend gemachten Anspruch geeinigt, was auch gerichtskundig war.73 Dieser Fall liegt parallel zu denjenigen Fällen, für die auch im Rahmen des Art. 8 Nr. 2 EuGVVO ein unzulässiges Erschleichen des Gerichtsstands bejaht wird.74 Darüber hinaus kann ein Hinweis auf die Absicht des Klägers auch darin gesehen werden, dass er eine negative Feststellungsklage in einem Forum ohne Verbindung zum Streitgegenstand erhebt und der Ankerbeklagte bloßer ‚défendeuer fictif‘ ist. Die Entscheidung des Tribunale di Milano in Zusammenhang mit der Rechtssache Weitkämper-Krug zeigt, dass derartige Fälle keinesfalls konstruiert sind.75 Häufiger werden hingegen die Fälle nachweisbarer Kenntnis von der Unzulässigkeit der Ankerklage sein. Der in Reisch Montage verhandelte Fall ist quasi prädestiniert: Dort war über das Vermögen des Ankerbeklagten vor Klageerhebung das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Zwar verneinte der EuGH – der unzulässigerweise die Tatsachen des Falls selbst würdigte – inzident die Kenntnis des Klägers hiervon. Allerdings wird man in diesen Fällen vor allem bei geschäftlichem Kontakt zwischen Kläger und Ankerbeklagtem, gegebenenfalls auch unter Zuhilfenahme des mit der Ankerklage verklagten mutmaßlichen Schuldners, die Kenntnis des Klägers nachweisen können. III. Zusammenfassung Das unionsrechtliche Missbrauchsverbot kann bei einer missbräuchlich geschaffenen Zuständigkeit gemäß Art. 8 Nr. 1 EuGVVO angewandt werden. Nachdem die Filterfunktion des Konnexitätserfordernisses nur begrenzte Wirkung gegen unbillige Ergebnisse hat, kommt dem Missbrauchsverbot eine tragende Rolle in der Verhinderung von Zuständigkeitserschleichungen im Rahmen des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO zu. Die Rechtsprechung aus den Mitgliedstaaten zeigt, dass Gerichte schon heute in Fällen klaren Ausnutzens der Ankerklage zum Nachteil des letztlich anvisierten Beklagten die Zuständigkeit nach Art. 8 Nr. 1 EuGVVO verneinen, allerdings auf undifferenzierter Grundlage und unter Zuhilfenahme eines nationalen Verständnisses von Zuständigkeitsmissbrauch. Beides ist bedenklich, zeigt aber das rechtspraktische Bedürfnis 73 LG Dortmund, EuGH-Vorlage v. 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int. 2013, 842, 844, Nr. 25. 74 S.o., S. 322. 75 Vgl. oben, Kap. 2 Fn. 453.
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nach Möglichkeiten der Feinsteuerung, welche über die Auslegung des Konnexitätserfordernisses hinausgehen. Die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots bringt daher nicht nur einen klaren Prüfungsrahmen für die zur Rechtsanwendung verpflichteten Gerichte, er vereinheitlicht die Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten auch. Ein Konflikt mit Grundprinzipien des Europäischen Zivilverfahrensrechts besteht nicht. Die Anwendungsvoraussetzungen des Missbrauchsverbots werden vor allem in den Fällen offensichtlich unzulässiger oder unbegründeter Ankerklagen regelmäßig zu bejahen sein können, da sich hier ein Handeln in Missbrauchsabsicht durch den Kläger gerade aufdrängt.
C. Art. 7 Nr. 2 EuGVVO: Provokation eines Schadens Ein in neuerer Zeit im Anwendungsbereich der EuGVVO diskutierter Fall der Zuständigkeitserschleichung stellt die Provokation eines Schadens im anvisierten Gerichtsstaat dar:76 Dabei versucht der spätere Kläger, eine Schädigung durch den späteren Beklagten in einem bestimmten Mitgliedstaat zu erreichen, in der Regel seinem Wohnsitzstaat, um so über Art. 7 Nr. 2 EuGVVO in den Genuss eines Klägergerichtsstands zu gelangen. Die Problematik ergibt sich bei jeder durch den späteren Kläger provozierten deliktischen Schädigung.77 Einige Rechtsbereiche besitzen jedoch eine gewisse Attraktivität für derartiges Verhalten, insbesondere das Recht des gewerblichen Rechtsschutzes und sonstiger Leistungsrechte, der Bereich des Persönlichkeitsrechtsschutzes sowie das Lauterkeitsrecht. So waren im deutschen Zivilverfahrensrecht des Öfteren sog. Testbestellungen oder Testkäufe Gegenstand der Diskussion, die auch vorliegend Beachtung finden sollen: Durch die provozierte Bestellung eines Produkts oder einer Leistung, welche Rechte des Bestellers im Inland verletzt, versucht dieser, den potentiellen Rechtsverletzer vor die ihm günstigen Gerichte seines Wohnsitz- oder Niederlassungsstaats zu ziehen. Neben der materiell-rechtlichen Frage nach möglichen Unterlassungs- oder Schadenersatzansprüchen trotz der gerade durch den Kläger provozierten Verletzung,78 hatten sich die Gerichte auch mit der Frage der internationalen Zuständigkeit zu befassen. 76 Vgl. Reinmüller/Bücken, IPRax 2013, 185 ff. und die unter Fn. 90 genannten Gerichtsentscheidungen. In den Standardwerken zum Europäischen Zivilverfahrensrecht sowie den entsprechenden Kommentaren wird das Problem mit Ausnahme von Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 266 f. nicht gesehen. Geimer zustimmend, Auer, in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 5 EuGVVO Rn. 114. 77 Vgl. Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 266 f. 78 Vgl. z.B. Köhler, in: Köhler/Bornkamm, § 11 UWG Rn. 2.41.
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
I. Die Linie der deutschen Rechtsprechung Die deutsche Rechtsprechung hatte das Problemfeld der Testbestellungen schon vor Inkrafttreten des EuGVÜ in Zusammenhang mit § 32 ZPO diskutiert. Die dabei geschaffene Linie ist auch für Entscheidungen prägend geworden, die später zu Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F./EuGVÜ ergangen sind. 79 Inhaltlich übertrugen die Gerichte für die Frage, ob ein unzulässiges Erschleichen des § 32 ZPO vorliegt, die im materiellen Recht entwickelten Maßstäbe auf die Ebene der gerichtlichen Zuständigkeit. Dies erscheint allerdings schon angesichts der unterschiedlichen Systeminteressen bedenklich und hätte einen gewissen Rechtfertigungsaufwand erfordert, dem nicht nachgekommen wurde.80 1. Testbestellungen im materiellen Recht Bei der Verortung von Testbestellungen im materiellen Recht hatte der BGH schon früh erklärt, dass er diese im Grundsatz für ein zulässiges Mittel zum Schutze berechtigter Interessen eines potentiell Verletzten ansieht. So gebe es diverse nachvollziehbare Gründe, warum der spätere Kläger eine Testbestellung aufgebe. Neben der Qualitätsprüfung etc. könne auch ein berechtigtes Interesse des Klägers bestehen, die Bestellung einzusetzen, um hierdurch eine Rechtsverletzung des Beklagten zu prüfen oder zu dokumentieren. 81 Eine Grenze sei allerdings dann erreicht, wenn die Bestellung dazu verwandt werde, den Verletzer ‚hereinzulegen‘, wenn etwa keinerlei Anhaltspunkte für eine bevorstehende oder begangene Verletzung gegeben seien82, der spätere Kläger den Beklagten zu einer Lieferung außerhalb seines gewöhnlichen Liefergebietes überredet habe83 oder der Kläger ganz allgemein die Verletzungshandlung alleine zur Begründung des ansonsten nicht existierenden Gerichtsstands veranlasse84. 2. Übertragung des materiell-rechtlichen Maßstabs auf § 32 ZPO Bei der Anwendung von § 32 ZPO in diesen Fällen operierten die Gerichte mit dem Arglisteinwand aus § 242 BGB: Handle es sich um eine missbräuchliche Provokationsbestellung, dürfe der Gerichtsstand aus § 32 ZPO nicht gewährt
79
Vgl. Reinmüller/Bücken, IPRax 2013, 185, 186 f. Vgl. dazu oben allgemein S. 217 ff.; differenzierend lediglich Köhler, in: Köhler/Bornkamm, § 14 UWG Rn. 1. 81 BGH, Urt. v. 14.4.1965, Ib ZR 72/63, GRUR 1965, 612, 614. 82 BGH, Urt. v. 29.3.1960, I ZR 21/59 (unveröffentlicht). 83 BGH, Urt. v. 3.5.1977, VI ZR 24/75, GRUR 1978, 194, 196. 84 Vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 7.10.2008, 4a O 94/07, BeckRS 2012, 4047. 80
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werden. 85 Als methodisches Werkzeug nutzten die Gerichte dabei zwar das Redlichkeitsgebot, dessen Beachtung sie auch im Verfahrensrecht anmahnten.86 In der Sache banden sie aber die zuständigkeitsrechtliche Frage des Erschleichens unmittelbar an die materiell-rechtliche Zulässigkeit von Testbestellungen an: Liegt eine materiell-rechtlich unzulässige Testbestellung vor, wird die gerichtliche Zuständigkeit gemäß § 32 ZPO verneint.87 Stützt sich der Kläger bei einer derart unzulässigen Schadensprovokation auf einen anderen Gerichtsstand als § 32 ZPO, beispielsweise §§ 12, 13 ZPO, wird die Klage dagegen als unbegründet abgewiesen. Für den Kläger bedeutet dies zunächst, dass die schlüssige Darlegung eines Schadens im Gegensatz zur üblichen Handhabe des § 32 ZPO nicht ausreicht88: Wendet der Beklagte eine unzulässige Provokationsbestellung und damit das Erschleichen eines Gerichtsstands ein, muss der Kläger das Vorliegen eines Schadens beweisen. Zwar liegt durch die Verletzungshandlung des Beklagten ein Schaden im Gerichtsstaat tatsächlich vor, so dass der Gerichtsstand an sich zu gewähren wäre. Der Kläger kann sich aber wegen eines venire contra factum proprium (auch) auf Ebene der Zuständigkeit hierauf nicht berufen: Setzt er den Grund für seine Schädigung selbst, ohne dass der Beklagte ihn sonst gleichfalls geschädigt hätte, überredet er ihn quasi dazu, erscheint die spätere gerichtliche Geltendmachung widersprüchlich.89 Die Klage wird als unzulässig abgewiesen. 3. Unzulässig: Übertragung eines nationalen Maßstabs auf Art. 7 Nr. 2 EuGVVO Einen Maßstab aus dem materiellen Recht in das Zuständigkeitsrecht zu übertragen, ist folglich unter methodischen Gesichtspunkten nicht überzeugend. Unzulässig ist es aber, einen zu § 32 ZPO entwickelten Maßstab ohne Einschränkungen auf Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu übertragen. Genau dies erfolgt aber
85 Z.B. BGH, Urt. v. 7.12.1979, I ZR 157/77, GRUR 1980, 227, 229 f.; OLG München, Urt. v. 15.2.1990, 29 U 5500/89, GRUR 1990, 677; im Ergebnis verneinend: OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.01.2010, I-2 U 127/08, BeckRS 2010, 16640; ebenso LG Düsseldorf, Urt. v. 7.10.2008, 4a O 94/07, BeckRS 2012, 4047. 86 Vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 7.10.2008, 4a O 94/07, BeckRS 2012, 4047. 87 So auch Mes, GRUR 2013, 766, 770; differenziert Köhler, in: Köhler/Bornkamm, § 14 UWG Rn. 1, allerdings mit Fokus auf § 14 UWG und fehlender Präzisierung von missbräuchlich geschaffenen und missbräuchlich gewählten Zuständigkeiten, vgl. dazu oben, S. 251 ff. 88 Zu der sog. Lehre von den doppelrelevanten Tatsachen, vgl. oben, S. 327 ff. 89 Zu diesem Gedanken im Anwendungsbereich des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO, vgl. Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 266.
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
durch deutsche Gerichte90 und Teile des Schrifttums91. So schreibt beispielsweise Mes, dass für „den Gerichtsstand der unerlaubten Handlung gem. Art. 5 Nr. 3 EuGVVO (a.F., Anm. des Verfassers) […] im Übrigen die Rechtsgrundsätze anwendbar [sind], die gem. § 32 ZPO für den (nationalen) besonderen Gerichtsstand der unerlaubten Handlung gelten.“92
In dieselbe Richtung weisen zwei Entscheidungen des OLG Düsseldorf zu Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. (= Art. 7 Nr. 2 EuGVVO), in welchen das Gericht nahezu wortgleich die Ausführungen aus einem Urteil des OLG München zu § 32 ZPO93 wiederholt.94 Die fehlende Sensibilität der Gerichte gegenüber der Reichweite des Regelungsanspruchs von Unionsrecht zeigt sich auch in einer Entscheidung des LG Düsseldorf, die ebenfalls in Zusammenhang mit einer Testbestellung erging: Das LG leitete die internationale Zuständigkeit für die Klage des mutmaßlichen Rechteinhabers aus Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. ab, die örtliche Zuständigkeit jedoch aus § 32 ZPO.95 Da Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. aber neben der internationalen gleichfalls die örtliche Zuständigkeit zu regeln beabsichtigt (‚Gericht des Ortes‘), liegt hierin eine unzulässige Verknappung
90
Z.B. LG Düsseldorf, Urt. v. 7.10.2008, 4a O 94/07, BeckRS 2012, 4047; OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.01.2010, I-2 U 127/08, BeckRS 2010, 16640; OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.1.2010, I-2 U 131/08, NJOZ 2010, 1781, 1782. 91 Z.B. Mes, GRUR 2013, 767, 769. 92 Mes, GRUR 2013, 767, 769. 93 OLG München, Urt. v. 15.2.1990, 29 U 5500/89, GRUR 1990, 677: „Die Bekl. kann gegen die Annahme des internationalen Gerichtsstands nicht mit Erfolg den Arglisteinwand mit der Begründung erheben, der Kl. habe den Kompetenztatbestand arglistig herbeigeführt, indem er selbst oder sein Anwalt den Besteller S. veranlaßt habe, sich das Poster nach M. schicken zu lassen. Dieser unstreitige Sachverhalt rechtfertigt es nicht, von einer unbeachtlichen Provokationsbestellung zu sprechen, durch die der internationale Gerichtsstand nicht begründet werden könne. Die Ausführung einer solchen Bestellung zeigt im allgemeinen die grundsätzliche Lieferbereitschaft; als unbeachtlich für die Annahme einer Verbreitung des Werks im Sinne des § 17 Abs. 1 UrhG kann eine solche Einzellieferung nur dann angesehen werden, wenn sie außerhalb des regelmäßigen Absatzgebietes nur ausnahmsweise aufgrund einer ausdrücklichen Bestellung vorgenommen worden ist.“ 94 OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.01.2010, I-2 U 127/08, BeckRS 2010, 16640; OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.1.2010, I-2 U 131/08, NJOZ 2010, 1781, 1782: „Die Bekl. kann gegen die Annahme des internationalen Gerichtsstands nicht mit Erfolg den Arglisteinwand mit der Begründung erheben, die Kl. habe den Kompetenztatbestand arglistig herbeigeführt, indem sie die Bestellerin veranlasst habe, sich die streitgegenständlichen DVDs nach Deutschland liefern zu lassen. Dieser unstreitige Sachverhalt rechtfertigt es nicht, von einer unbeachtlichen Provokationsbestellung zu sprechen, durch die der internationale Gerichtsstand nicht begründet werden könne. Wie das LG zutreffend ausgeführt hat, zeigt die – problemlose – Ausführung einer solchen Bestellung im Allgemeinen die grundsätzliche Lieferbereitschaft der Bekl.“ (Hervorhebung im Original) 95 Vgl. LG Düsseldorf, Urt. v. 7.10.2008, 4a O 94/07, BeckRS 2012, 4047.
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des unionsrechtlichen Regelungsanspruchs. Selbst wenn das Ergebnis im konkreten Fall identisch gewesen sein mag, unterscheidet sich die Auslegung beider Vorschriften im Detail doch erheblich voneinander.96 Klar ist, dass die Anwendbarkeit des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO für Fälle möglicher Zuständigkeitserschleichung durch Provokation eines Schadens nicht aufgrund einer zu § 32 ZPO entwickelten Rechtsprechungslinie bestimmt werden kann. Wie schon wiederholt dargelegt wurde, sind die europäischen Zuständigkeitsnormen derartigen Einschränkungen durch nationales Recht nicht zugänglich. Wird eine Vorschrift des vereinheitlichten Zuständigkeitsrechts, welches der Gesetzgeber im Grundsatz abschließend zu regeln beabsichtigte, nicht angewandt, kann dies nicht auf Grundlage eines rein nationalen Bewertungsmaßstabs erfolgen. Die Nichtanwendung hebt die praktische Wirksamkeit jener Vorschrift völlig auf.97 Darüber hinaus werden so uneinheitliche Ergebnisse in den verschiedenen Mitgliedstaaten provoziert.98 Um Art. 7 Nr. 2 EuGVVO in Fällen der Schadensprovokation sinnvoll handhaben zu können, ist demnach zweierlei erforderlich: Ein unionseinheitlicher Maßstab, der seine Legitimation darüber hinaus im Unionsrecht selbst findet. Als einer der wenigen, die sich im Europäischen Zivilverfahrensrecht überhaupt mit dem Erschleichen des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO befassen, will Geimer beispielsweise die Fälle der Schadensprovokation durch den Kläger anhand des Verbots widersprüchlichen Verhaltens lösen, das er als „gemeineuropäisches Rechtsprinzip“ bezeichnet.99 Auch wenn damit an sich die Pflicht des Nachweises eines entsprechenden Prinzips einhergeht, weist der Ansatz doch in die richtige Richtung und bestätigt die von vorliegender Arbeit favorisierte These von der Anwendbarkeit des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in derartigen Fällen. II. Die Entscheidung der Cour de cassation vom 25. März 2009 Dass die Fälle der Schadensprovokation ein internationales Phänomen sind, zeigt eine Entscheidung der Cour de cassation100 aus dem Jahre 2009. Das Gericht hatte dabei über die Anwendbarkeit des Art. 5 Nr. 3 EuGVVO a.F. (= Art. 7 Nr. 2 EuGVVO) im Falle einer Testbestellung zu befinden: Eine französische Gesellschaft erfuhr von einer möglichen Urheberrechtsverletzung durch eine dänische Gesellschaft, die in Deutschland in einer Boutique Mode-
96
Vgl. dazu etwa Klöpfer, GPR 2013, 112, 115 f. Vgl. dazu oben, S. 200 f. 98 Vgl. oben, S. 314 f. 99 Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 266. 100 Cass. civ., 25 mars 2009, N°08-14119, Bull. civ. 2009, N°64M; dazu krit. Delpech, D. 2009, 1014 f.; vgl. auch Reinmüller/Bücken, IPRax 2013, 185, 185 f. 97
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
artikel verkaufte, welche denjenigen der späteren Klägerin ähnelten. Die daraufhin von der Klägerin nach Frankreich bestellten Artikel wurden von der Beklagten ohne Beanstandung geliefert. Gegen die anschließend in Frankreich erhobene Klage verteidigte sich die Beklagte mit dem Hinweis, französische Gerichte seien wegen der künstlichen Schaffung eines Schadensorts in Frankreich nicht zuständig. Die Cour de cassation stellte heraus, dass der Kläger zwar im Grundsatz nicht künstlich einen Schaden im favorisierten Gerichtsstaat im Wege der fraude oder manipulation herbeiführen könne. Im Ergebnis verneinte das Gericht aber ein unzulässiges Erschleichen des Gerichtsstands. Die Bestellung sei nicht außergewöhnlich gewesen und stelle sich nicht als künstlich dar, da die Beklagte ohne weiteres die Ware nach Frankreich geliefert habe. Damit verwendet die Cour de cassation einen ähnlichen Ansatz wie die deutsche Rechtsprechung und bezieht sich dabei wohl ebenfalls auf ein nationales Begriffsverständnis. Der fehlende Bezug zu einem gemeineuropäischen Maßstab provoziert auch hier wiederum die uneinheitliche Anwendung von Unionsrecht in den Mitgliedstaaten. III. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Die Ansätze in der deutschen und französischen Rechtsprechung sind folglich mit den Vorgaben des Unionsrechts nicht vereinbar. Die Anwendung des Missbrauchsverbots ist somit notwendig. Als Eingangsvoraussetzung des Verbots ist zunächst zu prüfen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO formal vorliegen.101 Dies ist der Fall, schließlich liegt durch die provozierte Verletzung des Klägers ein Erfolgsort im Gerichtsstaat. Ob der Kläger darüber hinaus auch materiell-rechtlich anspruchsberechtigt ist, ist für die Anwendung des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO in jedem Fall unerheblich. Da die Anwendung des Missbrauchsverbots aber unter dem Vorbehalt der Auslegung steht, ist in einem weiteren Schritt zu fragen, ob schon über eine (einschränkende) Auslegung der Norm das Erschleichen des Gerichtsstands verhindert werden kann. Dies ist zu verneinen. Zum einen pflegt der EuGH ein sehr weites Begriffsverständnis der unerlaubten Handlung als nicht-vertragliche Schadenshaftung.102 Zum anderen bietet seine Rechtsprechung keine Ansatzpunkte für eine im vorliegenden Fall notwendige normative Einschränkung des Erfolgsortes. Zwar bestünde mit der Forderung nach einem ‚bestimmungsgemäßen Auswirken‘ der schädigenden Handlung im Gerichtsstaat ein gewisser Spielraum zur Feinsteuerung der Erfolgsortzuständigkeit. Dieses einschränkende Erfordernis wurde von der deutschen Rechtsprechung für Art. 7 Nr. 2 EuGVVO in 101 102
Vgl. oben, S. 131 ff. Vgl. nur G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 5 EuGVVO Rn. 130.
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Zusammenhang mit Rechtsverletzungen über das Internet gefordert, bei denen theoretisch unendlich viele Erfolgsorte existieren, sog. Streudelikte103.104 Allerdings ergibt sich Derartiges weder aus der grundlegenden Entscheidung des EuGH zu Streudelikten in Sachen Shevill105 noch aus seinen neueren Entscheidungen. In den verbundenen Rechtssachen eDate und Martinez hatte er es gerade abgelehnt, entsprechend einschränkende Erfordernisse für die Bestimmung des Erfolgsortes bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen über das Internet zu verlangen, obwohl der BGH in seiner Vorlage diverse mögliche Kriterien aufgeführt hatte.106 Vor dem Hintergrund, dass es ohnehin problematisch ist, Unionsrecht im Einzelfall und ganz allgemein durch einen Rückgriff auf national unterschiedliche Standards einzuschränken, lassen sich die Fälle der Schadensprovokation mit den Mitteln der Normauslegung nicht lösen.107 1. Zweckwidrigkeit Das Kriterium der Zweckwidrigkeit bereitet bei den Fällen der Schadensprovokation gewisse Probleme. Nicht entscheidend kann es auf die Frage der Sach- und Beweisnähe ankommen, die als Legitimation für den besonderen Gerichtsstand der unerlaubten Handlung angeführt wird: 108 Mit der Schädigung durch den späteren Beklagten im Gerichtsstaat ergibt sich gerade dort die Notwendigkeit, das Vorliegen eines Schadens und dessen Ausmaß etc. zu beurteilen. Angesichts dessen sei schon einmal der Hinweis vorangeschickt, dass der Gerichtshof bei der Auslegung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ein Weniger auf Ebene der Zweckwidrigkeit durch ein Mehr auf Ebene der Missbrauchsabsicht hinnimmt.109 Hiermit sind insbesondere die Fälle absichtlicher Schädigung gemeint: Intendiert der spätere Kläger durch die Schadensprovokation lediglich, den späteren Beklagten mittels des Prozesses zu schädigen, kann er sich nicht auf Art. 7 Nr. 2 EuGVVO berufen, gleichwohl mit einem Verfahren im Gerichtsstaat der Forderung nach Sach- und Beweisnähe an sich gedient wäre.
103
Stadler, in: Musielak, Art. 5 EuGVVO Rn. 24 f. Vgl. die Nachweis zu diversen Rechtsgebieten bei BGH, EuGH-Vorlage v. 10.11.2009, VI ZR 217/08, EuZW 2010, 313, 315, Nr. 15. 105 EuGH, Urt. v. 7.3.1995, Rs. C-68/93 (Fiona Shevill u.a. ./. Press Alliance SA), Slg. 1995, I-415. 106 Vgl. BGH, EuGH-Vorlage v. 10.11.2009, VI ZR 217/08, EuZW 2010, 313, 315, Nr. 15 ff. 107 Vgl. auch Auer, in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 5 EuGVVO Rn. 114. 108 Vgl. nur EuGH, Urt. v. 30.11.1976, Rs. 21/76 (Handelskwekerij G. J. Bier BV ./. Mines de potasse d'Alsace SA), Slg. 1976, 1735, 1746, Nr. 8-12. 109 S.o., S. 162 f. 104
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
a) Künstliche Gestaltungen Außerhalb dieser klaren aber wohl eher selten zu beweisenden Fälle, kann man bei der Bestimmung der Zweckwidrigkeit zunächst mit der Frage nach der Künstlichkeit der Gestaltung operieren, was im Schrifttum in Zusammenhang mit dem Zweckwidrigkeitserfordernis vorgeschlagen wird110. Schließlich verletzt der Beklagte den späteren Kläger nur deshalb in einem bestimmten Staat, weil letzterer dies so wollte; ohne die Initiative des späteren Klägers wäre es nicht zur Schädigung gekommen. Die Schädigung wurde durch den Kläger damit im weitesten Sinne künstlich hervorgerufen. Schon die Belastung staatlicher Gerichtsbarkeit mit der Abwicklung eines derartigen Vorgangs erscheint unbillig. Allerdings wurde gezeigt, dass das Kriterium der Künstlichkeit, prüft man es auf Ebene der Zweckwidrigkeit, nur im Sinne einer Regelvermutung für eine Verfehlung des Regelungszwecks der konkreten Rechtsnorm gesehen werden kann, weshalb ein direktes Arbeiten an deren Zweck notwendig ist.111 Darüber hinaus entbindet der Verweis auf eine künstliche Gestaltung nicht davon, die maßgeblichen Kriterien zu erarbeiten, anhand derer im konkreten Fall die Künstlichkeit zu bestimmen ist. b) Die Funktion des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO im Gesamtsystem der EuGVVO Verortet man Art. 7 Nr. 2 EuGVVO im Gesamtsystem der EuGVVO, so ist insbesondere Art. 5 Abs. 1 EuGVVO zu beachten: Die besonderen Zuständigkeiten der Verordnung sind hiernach als Ausnahmen zur allgemeinen Regel des actor sequitur forum rei zu sehen, wie sie in Art. 4 Abs. 1 EuGVVO niedergelegt ist. Der durch den Gesetzgeber verfügte Zuständigkeitsgrundsatz ist die Klage am Wohnsitz des Beklagten, da dieser ohne sein Zutun in ein gerichtliches Verfahren hineingezogen wird und sich in der Folge verteidigen muss.112 Der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung ist in Teilen von einem ähnlichen Gedanken getragen, die Rollenverteilung ist lediglich umgekehrt: Der unfreiwillig verletzte Kläger soll den Schädiger nicht auch noch an dessen Wohnsitz verklagen müssen, wenn er in seinem Wohnsitzstaat verletzt wird.113 Diese Zuständigkeitsinteressen von Kläger und Beklagtem sind bei der Beurteilung der Zweckwidrigkeit daher maßgeblich zu beachten. Des Weiteren muss berücksichtigt werden, dass ein provozierter Deliktsgerichtsstand in der Regel am Wohnsitz oder der Niederlassung des Klägers liegen wird. Die EuGVVO hat sich jedoch bewusst gegen einen Klägergerichtsstand gewandt und nur in Fällen besonderer Schutzwürdigkeit und struktureller 110
S.o., im Text bei Kap. 1 Fn. 383. Vgl. oben, S. 161 f. 112 Vgl. hierzu nur Mankowski, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 2 EuGVVO Rn. 1. 113 Vgl. Auer, in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 5 EuGVVO Rn. 114; zum parallel liegenden § 32 ZPO, vgl. Schlüter, GRUR-Prax 2014, 272, 272. 111
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Unterlegenheit des Klägers diesem das Recht eingeräumt, an seinem Wohnsitz zu klagen.114 Die Schutzwürdigkeit eines manipulierenden Klägers ist indes gerade zu verneinen. Er verhält sich widersprüchlich, wenn er einen Gerichtsstand in Anspruch nimmt, den er gerade nicht in Anspruch hätte nehmen müssen, hätte er seine Schädigung nicht selbst in die Wege geleitet.115 Dies darf aber nicht dahingehend verstanden werden, dass der Gerichtsstand bei jeglicher kausalen (Mit-)Verursachung des Schadens durch den späteren Kläger ausscheiden würde, etwa bei einem klassischen Autounfall, der durch Unachtsamkeit von Kläger und Beklagtem zustande gekommen ist. Insbesondere dürfen diejenigen Fälle von Testbestellungen nicht unbesehen als unzulässige Zuständigkeitserschleichung deklariert werden, in welchen der spätere Kläger ein besonderes Interesse an einer Bestellung hat, um die Möglichkeit einer Rechtsverletzung zu dokumentieren oder zu prüfen.116 c) Fehlende Schutzwürdigkeit des Klägers Bei der Beurteilung der Zuständigkeitsinteressen der Beteiligten ist in diesem Zusammenhang nach der Schutzwürdigkeit des Klägers und des beim Beklagten gebildeten Vertrauens zu differenzieren: War sich der Beklagte beispielsweise seines rechtswidrigen Verhaltens nicht bewusst und durfte er das Verhalten des Klägers dahingehend verstehen, dass er ihn nicht gerade wegen dieses eigenen Verhaltens vor ausländischen Gerichten verklagen würde, ist er in diesem Vertrauen zu schützen. Umgekehrt ist ein Kläger nicht schutzwürdig, der eine Schädigung in einem Mitgliedstaat herbeiführt, die ansonsten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre, beispielsweise, weil er den Beklagten zu einer Lieferung von Ware in einen Mitgliedstaat mit Nachdruck überredet hat. Der EuGH selbst hatte in der Vergangenheit den Gedanken des Vertrauensschutzes im Europäischen Zivilverfahrensrecht für beachtlich erklärt. So entschied er in der Rechtssache Gruber, es sei einem Verbraucher verwehrt, sich auf die Vorschriften des Verbrauchergerichtsstands zu berufen, wenn er bei seinem Gegenüber in den Vertragsverhandlungen den Eindruck gewerbsmäßigen Handelns erweckt habe.117 Zwar wollte der Gerichtshof diese Fälle über
114
Vgl. Art. 10 ff., 17 ff., 20 ff. EuGVVO. Auf den Gedanken des venire contra factum proprium heben auch ab Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 5 EuGVVO Rn. 266 und Reinmüller/Bücken, IPRax 2013, 185, 187, Fn. 34. 116 Vgl. oben, S. 336. 117 Vgl. EuGH, Urt. v. 20.1.2005, Rs. C-464/01 (Johann Gruber ./. Bay Wa AG), Slg. 2005, I-439, 477, Rn. 53. 115
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
einen Verzicht des Verbrauchers auf den ihm zugedachten Schutz lösen,118 was in der Literatur wegen der gänzlichen Unmöglichkeit einer vor Verfahrenseinleitung durchgeführten und für den Verbraucher nachteiligen Prorogation119 zu Recht kritisiert wurde; für überzeugender wurde die Anwendung eines im Unionsrecht verankerten Verbots widersprüchlichen Verhaltens gehalten.120 Ein weiteres Beispiel ist die an anderer Stelle erwähnte Entscheidung des EuGH in der Sache Hypoteční banka: Dort hatte der EuGH ebenfalls einem Verbraucher den Schutz des Verbrauchergerichtsstands versagt, da dieser sich in Widerspruch zu einer vertraglichen Vereinbarung mit einem Unternehmer gesetzt hatte, jeden Wohnsitzwechsel anzuzeigen.121 Hervorgehoben sei noch einmal, dass der EuGH hier die Rechtsstellung eines von ihm und durch den Gesetzgeber als besonders schutzwürdig angesehenen Personenkreis als Folge einer Interessenabwägung erheblich einschränkte. Damit muss erst recht ein an sich nicht besonders schutzbedürftiges Deliktsopfer Erschwerungen in der Rechtsverfolgung hinnehmen, wenn es wegen überwiegender Interessen des anderen Teils nicht schutzwürdig erscheint. d) Zwischenergebnis Die Entscheidungen und deren Rezeption durch die Literatur zeigen, dass ein Kläger oder Beklagter unter Umständen aufgrund widersprüchlichen Verhaltens Einschnitte in den Möglichkeiten der Rechtsverfolgung hinnehmen muss und dies sogar dann, wenn er nach dem Willen des Gesetzgebers im Grundsatz äußerst schutzbedürftig ist. Der direkte Rekurs auf Rechtsmissbrauchserwägungen in Gruber durch Teile der Literatur bestätigt darüber hinaus den hier gewählten Ansatz. Was die Zweckwidrigkeit der Normanwendung in Fällen der Schadensprovokation angeht, kann demnach ein eindeutiges Ergebnis formuliert werden: Der nicht schutzwürdige Kläger, der den Beklagten zur Schädigung beispielsweise überredet hat oder schon vollkommen über Inhalt und Ausmaß der Rechtsverletzungen durch den Beklagten im Ausland informiert ist, also kein Dokumentations- oder Prüfinteresse hat, handelt in Widerspruch zu der Funktion des Deliktsgerichtsstands als Ausnahmevorschrift zum allgemeinen Gerichtsstand des Beklagten.
118 Dieser Vorschlag des EuGH ist offensichtlich dadurch motiviert, in einem Fall mit Bezug zu Österreich eine Lösung entsprechend des dort gebräuchlichen Lösungsansatzes für Fälle widersprüchlichen Verhaltens zu wählen, vgl. oben, S. 42 und Kap. 1 Fn. 143. 119 Art. 19 Nr. 1 EuGVVO. 120 Rösler/Siepmann, EWS 2006, 497, 499; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 15 EuGVVO Rn. 3, allerdings ohne substantielle Auseinandersetzung mit dem Missbrauchsverbot. 121 EuGH, Urt v. 17.11.2011, Rs. C-327/10 (Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner), Slg. 2011, I-11543.
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2. Missbrauchsabsicht Verleitet der spätere Kläger den später beklagten Schädiger bewusst dazu, ihn zu schädigen, um in den Genuss des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu gelangen, liegt die erforderliche Missbrauchsabsicht vor. Die klassischen Fälle der Absichtsprovokation sind unproblematisch. Unterhalb der Schwelle absichtlicher Provokation, die um der Provokation Willen erfolgt, kann wiederum das Künstlichkeitskriterium bemüht werden, das vor allem in den Fällen von Testbestellungen zu überzeugenden Ergebnissen führt. Insbesondere in Zusammenhang mit Urheberrechten und sonstigen wirtschaftlich verwerteten Schutzrechten kann die betriebswirtschaftliche Sinnhaftigkeit einer Testbestellung hinterfragt werden:122 War der Kläger etwa vollkommen im Bilde über Art und Ausmaß einer Schutzrechtsverletzung durch den Beklagten im Ausland, sind die erfolgenden Bestellungen nicht notwendig, um im Sinne einer effektiven Unternehmensführung gegen das Verhalten des späteren Beklagten vorzugehen. Indizien für eine derartige tatsächliche Informationslage beim Kläger wird man beispielsweise darin sehen können, dass die Klage im Deliktsgerichtsstand trotz komplizierter Rechts- und Tatsachenfragen in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang zu den Bestellungen anhängig gemacht wird. Der zeitliche Abstand zwischen einer Bestellung und der Klageerhebung, zusammen mit der Komplexität der berührten Rechtsfragen, können ein hinreichender Beleg für eine rein künstliche Gestaltung darstellen und gegen das Vorliegen eines ‚normalen Handelsgeschäfts‘ sprechen.123 Bedenkt man, dass bei den klassischen Streuschäden, wie sie besonders bei der Verletzung von Immaterialgüterrechten gegeben sind,124 die Klage am Erfolgsort lediglich auf den in diesem Staat eingetretenen Schaden beschränkt ist und sich nicht auf den Gesamtschaden erstreckt,125 würde das Schaffen eines Klägergerichtsstands im Inland eben gerade nicht die Kosten der Rechtsverfolgung senken. Hierdurch würden nur diejenigen Kosten gering gehalten, die ohnehin nicht notwendig gewesen wären: Die Kosten für die Klage gegen den Beklagten wegen der im Inland provozierten und überflüssigen Schädigung. Damit ist das Schaffen eines Gerichtsstands in diesen Fällen nicht durch ‚good business
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Vgl. die Urteil des EuGH im steuerrechtlichen oder subventionsrechtlichen Kontext, S. 156. 123 Vgl. dazu oben, S. 157. 124 Vgl. Stadler, in: Musielak, Art. 5 EuGVVO Rn. 24 m.w.N. 125 Vgl. grundlegend EuGH, Urt. v. 7.3.1995, Rs. C-68/93 (Fiona Shevill u.a. ./. Press Alliance SA), Slg. 1995, I-415. Einzige Ausnahme ist die Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts über das Internet. Dort hatte der EuGH mit Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269, 10321, Nr. 48 den Gerichten an einem der Erfolgsorte, dem Mittelpunkt der Interessen des Geschädigten, die Kognitionsbefugnis für den Gesamtschaden zugestanden, vgl. Klöpfer, JA 2013, 165, 168.
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
reasons‘126 getragen und letztlich künstlich. Der Gegenbeweis steht dem Kläger freilich offen. IV. Zusammenfassung In Fälle provozierter Schädigung ist die Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ein gangbarer Weg, um das Erschleichen des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO zu verhindern. Konflikte mit Grundprinzipien des Europäischen Zivilverfahrensrecht bestehen nicht, im Gegenteil: Im Vergleich zu einer an nationalen Kategorien orientierten Einschränkung des Gerichtsstands, wird über den hier vorgeschlagenen Ansatz die einheitliche Anwendung von Unionsrecht sichergestellt. Da die Schutzwürdigkeit des Klägers in derartigen Fällen erheblich reduziert oder gar aufgehoben ist, erscheint die Versagung des Gerichtsstands auch nicht als Verstoß gegen das Gebot, vorhersehbare Zuständigkeiten zu gewährleisten. Bei der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots kann über die Frage nach der Künstlichkeit einer Gestaltung sinnvoll zwischen den berechtigten Belangen von Kläger und Beklagtem abgewogen werden. Denn neben den klaren Fällen absichtlicher Provokation muss besonders auf mögliche berechtigte Interessen des Klägers geachtet werden, wie sie in Zusammenhang mit der Dokumentation oder Prüfung von Rechtsverletzungen durch den späteren Beklagten bestehen können.
D. Zuständigkeitserschleichung durch Verlegung anknüpfungsrelevanter Tatsachen in den Gerichtsstaat Da eine Vielzahl an Gerichtsständen im Europäischen Zivilverfahrensrecht an das Vorhandensein bestimmter tatsächlicher Anknüpfungsmomente im Gerichtsstaat angebunden ist, sollen diese hier unter dem Blickwinkel der Zuständigkeitserschleichung gemeinsam diskutiert werden. Das Schaffen eines Gerichtsstandes läuft dabei immer gleich ab: Der Kläger verlegt ein Anknüpfungsmoment in den Gerichtsstaat, um daran anschließend Klage vor den dortigen Gerichten zu erheben. An anderer Stelle wurde schon das historische Beispiel der Prinzessin de Bauffremont erwähnt.127 In neuerer Zeit haben im Europäischen Zivilverfahrensrecht vor allem die Fälle des sog. Insolvenz- oder Restschuldbefreiungstourismus für Gesprächsstoff gesorgt (unten, I.). Doch auch durch Verlegen von Nachlassvermögen kann ein Gerichtsstand im Sinne der EuErbVO geschaffen werden (unten, II.). Zwar mögen diese Fälle auf den ersten Blick völlig unterschiedlich erscheinen. Sie teilen jedoch vor allem eine Gemeinsamkeit, die bei der Anwendung 126 127
Vgl. oben, S. 75. S.o., S. 196.
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des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots zu berücksichtigen ist: In allen Fällen bewegt sich ein Unionsbürger, ein Unternehmen oder das Vermögen eines Unionsbürgers in einen anderen Mitgliedstaat, was dann als Anknüpfungspunkt für eine gerichtliche Zuständigkeit genommen wird. Damit ist der Schutzbereich der unionsrechtlichen Freizügigkeiten tangiert, was die Argumentationslast für die Annahme einer missbräuchlichen Zuständigkeitsbegründung erhöht. Zwar können die Grundfreiheiten auch in anderen Fällen der Zuständigkeitserschleichung eine Rolle spielen. In den hier besprochenen ist der Schutz der entsprechenden Garantien aber unmittelbar berührt und damit besonders zu berücksichtigen. Dies gilt vor allem wegen der Linie des Gerichtshof, der in einer Vielzahl an Entscheidungen immer wieder betont hat, dass die Suche nach den günstigsten rechtlichen Rahmenbedingungen auf dem Binnenmarkt nicht aus sich heraus als missbräuchlich angesehen werden könne. 128 Gepaart mit der grundsätzlichen Wandelbarkeit der Gerichtsstände im Europäischen Zivilverfahrensrecht129 will ein Zuständigkeitsmissbrauch wohl begründet sein. I. Insolvenz- bzw. Restschuldbefreiungstourismus Die Fälle zielgerichteter Verlegung des sog. comi im Anwendungsbereich der EuInsVO sollen hier nur gestreift werden.130 Der Grund liegt darin, dass mit der Arbeit von Reuß aus dem Jahre 2009 eine umfassende Abhandlung zu den Möglichkeiten der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots im Europäischen Insolvenzrecht vorliegt.131 In der Arbeit werden auch diejenigen Fälle anhand des Missbrauchsverbots auf eine unzulässige Gestaltung hin überprüft, in denen Privatpersonen oder Unternehmen ihr comi in einen anderen Mitgliedstaat verlegen, um daraus selbst Vorteile zu ziehen oder andere zu schädigen. Bei der Beurteilung der Zweckwidrigkeit einer Gestaltung stellt Reuß auf die Zwecke des (Europäischen) Insolvenzrechts an sich ab und damit insbesondere auf den Gedanken der Gläubigergleichbehandlung. 132 Bei Privatpersonen hält Reuß eine comi-Verlegung für missbräuchlich, wenn es diesen nicht auf eine Marktaktivität im Zielstaat ankommt. Dafür könne unter anderem sprechen, dass sich eine Person zwar in einen anderen Mitgliedstaat begebe und dort eine Tätigkeit aufnehme, diese aber nach kurzer Zeit wieder einstelle und einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stelle.133 Im Zusammenhang mit der comi-Verlegung von Unternehmen disku-
128
S.o., S. 246. Vgl. oben, S. 246. 130 Dazu schon oben, S. 238. 131 Reuß, Forum Shopping, passim. 132 Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 329 ff. 133 Reuß, Forum Shopping, S. 330 f. 129
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
tiert er insbesondere die Fälle sog. Firmenbestattung. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass das comi eines Unternehmens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wird, um in den Genuss eines besonders günstigen Abwicklungsregimes zu gelangen, wobei es im erstrebten Forum aber keinerlei wirtschaftliche Aktivität entfaltet.134 Zwar könnte man daran denken, diese Gestaltungen mit Verweis auf die Centros-Entscheidung des EuGH als nicht missbräuchlich zu bezeichnen. Schließlich hatte der Gerichtshof es dem englischen Ehepaar dort gerade gestattet, eine bloße Briefkastenfirma in England zu gründen um damit in Dänemark zu wirtschaften.135 Der Unterschied ist aber genau Letzteres: In Centros strebte das Ehepaar eine wirtschaftliche Entfaltung an, die sie an die Inanspruchnahme der Grundfreiheiten koppelten. Bei den Fällen intendierter Firmenbestattung wird die Freizügigkeit nicht zum Zwecke einer wirtschaftlichen Entfaltung in Anspruch genommen, sondern dazu verwandt, das Unternehmen dem Wirtschaftskreislauf und seinen Gläubigern gezielt zu entziehen. Deshalb ist eine derartige Konstruktion im Gegensatz zu Centros künstlich und im Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots letztlich unzulässig.136 Die Ausführungen zeigen, dass es der These der Arbeit entsprechend möglich ist, das unionsrechtliche Missbrauchsverbot im Europäischen Insolvenzrecht dann anzuwenden, wenn über eine Verlegung des comi die Zuständigkeit und das anwendbare Recht eines bestimmten Staates erschlichen werden sollen. Es soll hierbei nicht verschwiegen werden, dass die Gerichte in tatsächlicher Hinsicht hohe Anforderungen an die Annahme einer comi-Verlegung stellen und damit über die Ausgestaltung dieses Tatbestandsmerkmals schon zu einem erheblichen Maße Missbrauchsverhinderung betrieben werden kann, die über das hinausgeht, was in Zusammenhang mit anderen Varianten der Zuständigkeitserschleichung möglich ist.137 Dennoch sind es gerade die atypischen Fälle, in denen ein Rückgriff auf das Missbrauchsverbot unentbehrlich ist,138 was auch für die Fälle intendierter Schädigung gilt139.
134
Vgl. Reuß, Forum Shopping, S. 329. Vgl. oben, S. 103. 136 I.E. Reuß, Forum Shopping, S. 330, der die Inanspruchnahme von Grundfreiheiten zum Zwecke der Restrukturierung anführt, allerdings ohne Verweis auf Centros. 137 Manche Autoren halten daher das Verhindern von Zuständigkeitserschleichungen auf diesem Wege für ausreichend, so z.B. Szydło, 11 EBOR (2011) 253, 258. 138 Vgl. dazu allgemein oben, S. 146 ff. 139 Vgl. oben, S. 326. 135
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II. Verschieben von Nachlassvermögen, Art. 10 EuErbVO Im Rahmen der EuErbVO besteht für den Erblasser bis zu seinem Tode die Möglichkeit, durch das Verlegen seines gewöhnlichen Aufenthalts die Zuständigkeit des Art. 4 EuErbVO zu verändern und in der Folge gemäß Art. 21 Abs. 1 EuErbVO auch das Erbstatut mitzubestimmen. So lassen sich gezielt Pflichtteilsansprüche der gesetzlichen, aber übergangenen Erben vermeiden.140 Da aber das Erschleichen einer Zuständigkeit durch Verändern des gewöhnlichen Aufenthalts bzw. Wohnsitzes des Erblassers in den wenigsten Fällen missbräuchlich sein wird,141 konzentriert sich vorliegende Arbeit auf eine andere Strategie, die insbesondere vom Willen des Erblassers unabhängig ist: Das Verschieben von Nachlassvermögen, um damit die Zuständigkeit des Art. 10 EuErbVO zu erschleichen. Soweit ersichtlich waren diese Fragen im Zusammenhang mit der EuErbVO noch nicht Gegenstand rechtswissenschaftlicher Diskussion.142 1. Art. 10 EuErbVO im Gesamtsystem der Verordnung Die Vorschrift des Art. 10 EuErbVO enthält eine subsidiäre Zuständigkeitsregel. Grundsätzlich sind die Gerichte desjenigen Mitgliedstaats zur Entscheidung in einer Erbsache berufen, in dem der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, was in Art. 4 EuErbVO als Grundregel niedergelegt ist. Ist ein gewöhnlicher Aufenthalt allerdings nicht ermittelbar oder – was deutlich häufiger vorkommen wird – außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung belegen und sind die Art. 5-9 EuErbVO nicht einschlägig, kann auf Art. 10 EuErbVO zurückgegriffen werden.143 Nach dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 EuErbVO sind die Gerichte eines Mitgliedstaats, in dem sich Nachlassvermögen befindet, für die Entscheidung in Erbsachen über den ganzen Nachlass zuständig, wenn „a) der Erblasser die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats im Zeitpunkt seines Todes besaß, oder, wenn dies nicht der Fall ist, b) der Erblasser seinen vorhergehenden gewöhnlichen Aufenthalt in dem betreffenden Mitgliedstaat hatte, sofern die Änderung dieses gewöhnlichen Aufenthalts zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts nicht länger als fünf Jahre zurückliegt.“
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Vgl. Everts, ZEV 2013, 124, 126. Vgl. oben, S. 347; zu möglichen Fällen aber Meyer, Forum Shopping, S. 162 ff. 142 Auch bei Meyer, Forum Shopping, S. 171 findet keine Auseinandersetzung mit dem Problem der Nachlassverschiebung statt, wenngleich sie sich im Ergebnis für eine Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ausspricht. Auf das Problem der Nachlassverschiebung zur Zuständigkeitsbegründung verweist auch M. Stürner, JbItalR 26 (2013), 59, 72, allerdings unter der Bezeichnung „forum shopping“. 143 Geimer, in: Zöller, Art. 4 Rn. 2 EuErbVO. 141
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
Der Regelung unterfallen damit etwa Fälle, in denen sich Erblasser aus einem bestimmten Mitgliedstaat in einen Drittstaat zum Zwecke eines Altersruhesitzes oder Ähnliches begeben (sog. Florida-Fälle144), dort versterben, aber in ihrem Heimatstaat noch ein gewisses Restvermögen besitzen, beispielsweise eine Immobilie. Zwingend notwendig ist der vorherige gewöhnliche Aufenthalt im Inland aber nicht. Gemäß lit. a der Vorschrift existiert eine umfassende Zuständigkeit der Gerichte der Staatsangehörigkeit des Erblassers. So sind deutsche Gerichte gemäß lit. a auch dann zuständig, wenn ein Deutscher und späterer Erblasser von seinem gewöhnlichen Aufenthalt in Mailand nach Florida verzieht, in Deutschland aber noch über Nachlass verfügt. Die Entscheidungszuständigkeit ist zeitlich unbeschränkt, den Gerichten des Heimatstaats wird somit eine gewisse Restkompetenz kraft Personalhoheit zugestanden. Bei Erblassern ohne die Staatsangehörigkeit des Forumstaats wird diesem gemäß lit. b der Vorschrift nur dann die Zuständigkeit zugesprochen, wenn diese dort ihren letzten gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich der Verordnung hatten und dort noch Nachlassvermögen belegen ist. Die Entscheidungszuständigkeit ist zudem auf fünf Jahre ab Wegzug beschränkt. Verzieht demnach ein französischer Staatsbürger aus seiner in Deutschland belegenen Eigentumswohnung nach Florida und verstirbt er dort, sind deutsche Gerichte fünf Jahre ab Wegzug zur Entscheidung berufen. Die französischen Gerichte sind demgegenüber gemäß lit. a der Vorschrift zeitlich unbeschränkt zuständig, sofern dort Nachlassvermögen vorhanden ist.145
144
Begriff bei Everts, ZEV 2013, 124, 126. A.A. Burandt, in: Burandt/Rojahn, Art. 10 EurErbVO Rn. 1, der bei Vorliegen einer Zuständigkeit nach lit. a in einem anderen Mitgliedstaat die Entscheidungszuständigkeit inländischer Gerichte auf Grundlage der lit. b verneint; ebenso auch Wilke, RIW 2012, 601, 604. Im Beispiel wären nach dieser Ansicht deutsche Gerichte wegen der französischen Staatsangehörigkeit des Erblassers und dem Vorhandensein von Nachlassvermögen in Frankreich unzuständig. Der von Bourandt und Wilke als Argument angeführte Verweis auf die sich aus Erwägungsgrund Nr. 30 EuErbVO ergebende „zwingende Reihenfolge“ in der Zuständigkeitsprüfung ist jedoch kein Argument, sondern petitio principii: Die Pflicht zu Klageabweisung bei bloßer Zuständigkeit ausländischer Gerichte gemäß lit. a ist gerade zu begründen. Auch der Hinweis, dass lit. b gegenüber lit. a subsidiär sei („wenn dies nicht der Fall ist“), geht fehl. Die Subsidiarität kann sich nicht auf die bloße Zuständigkeit eines anderen Gerichts gemäß lit. a beziehen, da diese dem auf Grundlage von lit. b zur Entscheidung berufenen Gericht in der Regel nicht bekannt sein wird, sofern sie nicht von einem Betroffenen eingewandt wird. Eine amtswegige Prüfpflicht diesbezüglich – de facto die Suche nach Nachlassvermögen im Heimatstaat des Erblassers – trifft das Gericht nach der Systematik der Verordnung offenkundig aber nicht. Wendet der Betroffene eine Zuständigkeit gemäß lit. a ein, hat dies demnach keinerlei Folgen, sofern nicht ein anderes Gericht aufgrund dieser Zuständigkeitsregel schon vorher angerufen war, vgl. Art. 17 Abs. 1 EuErbVO. Der Verordnung fehlt gerade eine Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO entsprechende Vorschrift; die Exis145
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2. Unbeschränktheit des Vermögensbegriffs Der Gesetzgeber hatte in Ausarbeitung der Vorschrift wohl gerade diejenigen Fälle im Auge, welche im vorangegangenen Abschnitt beispielhaft dargestellt wurden. Da die Vorschrift aber weder eine Beschränkung der Vermögensbelegenheit in zeitlicher noch in nomineller Hinsicht vorsieht, sind theoretisch auch klassische Erschleichungsfälle im Anwendungsbereich der Vorschrift durch Vermögensverschiebung denkbar. So etwa, wenn ein (möglicher) Erbe des oben erwähnten deutschen Erblassers die in Mailand befindliche Kunstsammlung des Erblassers nach dessen Tod von Mailand nach Deutschland verbringt, um damit ein subjektiv günstiges Forum und über Art. 21 Abs. 2 EuErbVO gegebenenfalls ein ebenso günstiges Sachrecht zu erschleichen. Eine besondere Motivation kann insbesondere die schon angesprochene Vermeidung von Pflichtteilsansprüchen durch den gewillkürten Alleinerben sein oder die Benachteiligung drittstaatlicher Erben durch ein Verfahren weit entfernt von ihrem gewöhnlichen Aufenthalt. Fraglich ist, ob in diesen Fällen ein sinnvolles Ergebnis schon durch Auslegung erreicht werden kann oder ob ein Rückgriff auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot nötig ist. a) Unbeschränktheit in zeitlicher Hinsicht Dass das Verschieben von Vermögen zur Zuständigkeitsbegründung grundsätzlich im Belieben des Erblassers, der Erben oder Dritter steht, zeigt zunächst der im Präsens gehaltene Abschnitt am Anfang des Art. 10 Abs. 1 EuErbVO, wonach die Zuständigkeit derjenigen Gerichte eines Mitgliedstaats gegeben ist, in dem sich Nachlassvermögen ‚befindet‘. Es wird für die Vermögensbelegenheit im Gegensatz zum nicht vorhandenen gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers in einem Mitgliedstaat (‚hatte‘) sprachlich gerade nicht an die buchstäbliche Lage der Dinge zum Zeitpunkt des Erbfalls angeknüpft (dann: ‚befand‘). Der Plan des Gesetzgebers wird es gewesen sein, hiermit Fälle auszuschließen, in denen Nachlassvermögen in einem Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Erbfalls vorhanden war, dann aber vor Klageerhebung weggeschafft oder sonst wie aus dem Mitgliedstaat entfernt wurde. Denn die Legitimation der Vorschrift gründet sich auch darauf, dass am Ort der Vermögensbelegenheit (wenigstens) die Verteilung eines gewissen Teils des Nachlassvermögens direkt
tenz des forum non conveniens-Einwands in Art. 6 EuErbVO zeigt aber, dass der Gesetzgeber durchaus sensibilisiert war, was die Entscheidung durch ein ‚geeigneteres Gericht‘ als das angerufene angeht. Im Rahmen der EuGVVO-Reform war man darüber hinaus von einem bloßen Einwand anderweitiger Zuständigkeit aufgrund einer Gerichtsstandsvereinbarung, ohne dass ein entsprechendes Verfahren vor diesem Gericht auch eingeleitet worden wäre, letztlich abgekommen, weil damit die Möglichkeit der Verfahrensverzögerung eröffnet gewesen wäre. Dass der Gesetzgeber diese Möglichkeit für die nur ein paar Monate vorher verabschiedete EuErbVO eröffnen wollte, ist nicht wahrscheinlich.
348
3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
stattfinden kann und darüber hinaus ein gewisser Bezug um Mitgliedstaat vorhanden ist.146 Ist Vermögen im Zeitpunkt der Klageerhebung nicht mehr vorhanden, läuft dieser Zweck leer. Ob man die Vorschrift damit aber für Konstellationen öffnen wollte, die im Rahmen der zu § 23 ZPO geführten Diskussion als Zuständigkeitserschleichung eingestuft werden, ist fraglich.147 Das wäre aber gerade dann im Grundsatz möglich, wenn man auch Vermögen als zuständigkeitsbegründend erachten würde, das zeitlich nach dem Tod des Erblassers in den Gerichtsstaat gelangt ist. Auf die zeitliche Komponente zu verzichten, würde zumindest von der im Einzelfall schwierigen Abgrenzung entbinden, ob gewisses Vermögen zum Zeitpunkt des Todes schon im Gerichtsstaat vorhanden war oder nicht. Auf den Tod des Erblassers als entscheidenden Zeitpunkt für die Vermögensbelegenheit abzustellen, ist jedenfalls deshalb nicht überzeugend, weil es sich bei der Zuständigkeit aus Art. 10 EuErbVO um eine subsidiäre Zuständigkeit handelt, die gerade in denjenigen Fällen zur Anwendung gelangen soll, in denen eine sonstige Zuständigkeit zur Abwicklung des Erbfalls nicht existiert. So gibt es gute Gründe, auch bei einer nach Erbfall eintretenden Vermögensverschiebung eine Zuständigkeit am neuen Belegenheitsort anzunehmen. Das gilt beispielhaft für den Fall, dass der Erblasser vor seinem Tod die Verschiffung seiner gesamten Habe aus einem Drittstaat in seinen Heimatstaat angewiesen hatte und die Ankunft erst nach dessen Tod erfolgte. Darüber hinaus können Erben oder Dritte auch ohne das Wissen des Erblassers Vermögen vor dem Tode des Erblassers verschieben, um daran anknüpfend nach dem Tod des Erblassers die Zuständigkeit für die Abwicklung des Erbes in diesem Staat zu schaffen.148 Das zeigt, dass über eine zeitliche Beschränkung der Vorschrift Zuständigkeitserschleichungen ohnehin nicht vollständig reguliert werden könnten. b) Unbeschränktheit in nomineller Hinsicht Der Vorschrift ist darüber hinaus auch keine Beschränkung auf einen bestimmten Wert des zuständigkeitsbegründenden Nachlassvermögens zu entnehmen.149 Damit ist es theoretisch möglich, sich den Gerichtsstand aus Art. 10 EuErbVO durch Verbringen eines einzelnen, wenig werthaltigen Gegenstands in den Gerichtsstaat zu schaffen. Die Zuständigkeit würde damit zu einer Art Regenschirmgerichtsstand, wie sie unter § 23 ZPO in der Vergangenheit kritisch diskutiert wurde.150 Im Unterschied zu dieser Vorschrift enthält Art. 10 EuErbVO aber mit der Forderung, dass der Erblasser die Staatsangehörigkeit 146
Vgl.auch Art. 10 Abs. 2 EuErbVO. Vgl. hierzu oben, S. 247 ff. 148 Vgl. dazu unten, S. 356. 149 So wohl auch Meyer, Forum Shopping, S. 171. 150 Vgl. oben, S. 247. 147
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des Gerichtsstaats besaß oder dort seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte ein weiteres Anknüpfungsmoment, was § 23 ZPO gerade fehlt. Ein Vergleich beider Vorschriften ist damit nur bedingt möglich.151 Man könnte zwar daran denken, Art. 10 EuErbVO nur auf Nachlassvermögen von einigem Wert zu beschränken, wie es auch zu § 23 ZPO vorgeschlagen wurde.152 Denn in Erwägungsgrund Nr. 24 S. 5 EuErbVO wird für die Legitimation des Belegenheitsorts als Gerichtsstand scheinbar das Vorhandensein von „wesentliche(n) Vermögensgegenständen“ nahegelegt. Über die aus der deutschen Diskussion her bekannten Kritikpunkte eines solchen Ansatzes hinaus, findet sich diese Einschränkung auch nicht in Art. 10 EuErbVO wieder. Im Gesetzgebungsverfahren wurden derartige Einschränkungen ebenfalls nicht diskutiert und im Grünbuch sogar für diese Art der Zuständigkeit nur an die „Belegenheit eines Nachlassgegenstands“ im Forumstaat angeknüpft, wenn hierüber „enge Bindungen zu (diesem) Mitgliedstaat“ vorhanden seien.153 Bedenkt man, dass im Grünbuch für die Neufassung der EuGVVO der dort in Art. 25 vorgeschlagene und letztlich nicht Gesetz gewordene Vermögensgerichtsstands auf Vermögen beschränkt sein sollte, das in angemessenem Verhältnis zur geltend gemachten Forderung steht,154 spricht vieles dafür, dass eine Beschränkung in diesem Sinne für den in dieser Zeit entstandenen Art. 10 EuErbVO nicht gefordert ist. Darüber hinaus böte aber eine Beschränkung auf Nachlassvermögen von gewissem Wert für diejenigen Fälle keine hinreichende Handhabe, in denen durch einen Erben oder einen Dritten wesentliche Teile des Nachlasses oder sogar der gesamte bekannte Nachlass des Erblassers in den Forumstaat gebracht würde, wie etwa die oben im Beispiel angesprochene Kunstsammlung. Es ließe sich hier schwerlich argumentieren, dass damit Nachlassvermögen im Gerichtsstaat nicht vorhanden sei. Für derartige Konstellationen lässt sich eine sinnvolle Lösung durch Auslegung des Vermögensbegriffs also schon gar nicht erzielen. 3. Hinreichender Inlandsbezug als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal? Da eine einschränkende Auslegung des Vermögensbegriffs nicht möglich ist, könnte man in Parallelität zur Diskussion um § 23 ZPO die Forderung nach einem hinreichenden Inlandsbezugs als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal 151
Im Ansatz a.A. Meyer, Forum Shopping, S. 171 Fn. 1110. Vgl. im Text bei Kap. 2 Fn. 203. 153 Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Paralaments und des Rates über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und die Vollstreckung von Entscheidungen und öffentlichen Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses, KOM(2009) 154 endgültig, v. 14.10.2009, S. 6 (Hervorhebung durch den Verfasser). 154 Grünbuch KOM(2010) 748 endgültig vom 14.12.2010, S. 36. 152
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
der Vorschrift aufgreifen. Für den deutschen Vermögensgerichtsstand wird dies mittlerweile von der herrschenden Meinung befürwortet.155 Für einen entsprechenden Ansatz in der EuErbVO scheint Art. 11 Unterabs. 2 EuErbVO zu sprechen, der einen ‚ausreichenden Bezug‘ zu den Mitgliedstaaten in Fällen der Notzuständigkeit verlangt. Gleiches gilt für Erwägungsgrund Nr. 23 EuErbVO. Jedoch kann Art. 10 EuErbVO nur bedingt mit § 23 ZPO verglichen werden: Im Unterschied zum Vermögensgerichtsstand der ZPO verlangt Art. 10 Abs. 1 EuErbVO die schon angesprochenen zusätzlichen Voraussetzungen der entsprechenden Staatsangehörigkeit oder des früheren gewöhnlichen Aufenthalts im Forumstaat. Selbst wenn man der Vorschrift den Vorwurf einer exorbitanten Zuständigkeit machen will156, ist sie doch gerade kein reiner Vermögensgerichtsstand. Dies trifft allenfalls für Art. 10 Abs. 2 EuErbVO zu, der aber wegen seiner eingeschränkten sachlichen Reichweite nur eine geringe Attraktivität für Zuständigkeitserschleichungen besitzt und deshalb nicht weiter Gegenstand der Arbeit sein wird. Für Art. 10 Abs. 1 EuErbVO gilt jedenfalls, dass über die Staatsangehörigkeit oder den gewöhnlichen Aufenthalt im Forumstaat ein hinreichender Inlandsbezug gegeben ist. Das wird durch die Auslegung des § 23 ZPO in der deutschen Rechtswissenschaft und Praxis bestätigt: Ein hinreichender Inlandsbezug wird insbesondere dann angenommen, wenn der Beklagte die Staatsangehörigkeit des Gerichtsstaats besitzt oder dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.157 4. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Damit ist der Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots eröffnet.158 Mit dem Vorhandensein von Vermögen im Gerichtsstaat liegen die Voraussetzungen des Art. 10 Abs. 1 EuErbVO formal betrachtet vor. Für die Annahme von Zweckwidrigkeit und das Vorliegen intendierten Handelns bieten sich in den Fällen der Vermögensverschiebung diverse Ansatzpunkte. a) Zweckwidrigkeit Das objektive Element des Missbrauchstests kann insbesondere dann bejaht werden, wenn Nachlassvermögen zweckgerichtet in den Gerichtsstaat gebracht wird und dieses darüber hinaus von äußerst geringem Umfang ist. In diesen
155
Vgl. oben, Kap. 2 Fn. 204. Wilke, RIW 2012, 601, 604. 157 Vgl. BGH, Urt. v. 29.4.1992, XII ZR 40/91 (KG), NJW 1993, 5 (Staatsangehörigkeit); vgl. auch die Nachweise bei Patzina, in: MüKo-ZPO, § 23 ZPO Rn. 15. 158 Dies befürwortet auch Meyer, Forum Shopping, S. 171. 156
§ 8 Zuständigkeitserschleichung
351
Fällen kann eine künstliche Gestaltung angenommen werden.159 Dass in vorangegangenem Abschnitt die Möglichkeit der Auslegung bei geringem Wert des Nachlassvermögens abgelehnt wurde, spricht nicht hiergegen, schließlich ist der methodische Zusammenhang ein völlig anderer. Der Wert des Vermögens ist darüber hinaus nur ein Ansatzpunkt, auf den sich die Annahme von Künstlichkeit und damit Zweckwidrigkeit gründen kann. Betrachtet man den Zweck des Art. 10 Abs. 1 EuErbVO als subsidiäre Zuständigkeitsvorschrift, so zieht sie ihre Legitimation zum einen daraus, dass am Belegenheitsort von Vermögen auch eine sinnvolle Verteilung dieses Teils des Nachlasses erfolgen kann. Dieser Zweck ist dann nicht erreicht, wenn nur ein äußerst geringer Teil des Vermögens in den Gerichtsstaat gebracht wird. Da die Vorschrift aber im Gegensatz zu Art. 10 Abs. 2 EuErbVO eine Zuständigkeit für den gesamten Nachlass verfügt, kann aus dem geringen Umfang des Nachlasses alleine dann nicht auf eine Verfehlung des gesetzgeberischen Zwecks geschlossen werden, wenn dennoch eine sinnvolle Verteilung des gesamten Nachlasses durch ein Verfahren im Gerichtsstaat angenommen werden könnte. Dies ist in den beschriebenen Fällen aber zu verneinen. Es kann zum einen nicht in Abrede gestellt werden, dass mit der Zuständigkeit am Belegenheitsort auch das gesetzgeberische Ziel verbunden ist, dass so die Kosten der Erbstreitigkeit durch Verwertung des entsprechenden Nachlasses zumindest hinreichend wahrscheinlich gedeckt sind. 160 Zum anderen scheint der Vorschrift richtigerweise die Vorstellung zugrunde zu liegen, dass ein Erblasser, der Vermögen in dem Staat seiner Staatsangehörigkeit oder seines letzten gewöhnlichen Aufenthalts innerhalb der EU besitzt, eine gewisse Verbundenheit zu diesem Staat aufweist und damit die potentiell Bedachten oder zumindest ein großer Teil von ihnen mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls dort ansässig sind.161 Die Vorschrift will schließlich auch die oben angesprochenen sog. Florida-Fällen erfassen, in denen Rentner ihren langjährigen Wohnsitz im Gerichtsstaat aufgeben und in einen Drittstaat verziehen. Hiermit ist die Idee einer einfacheren Durchführung des gerichtlichen Verfahrens verbunden, was dann nicht erreicht wird, wenn Vermögen in den Gerichtsstaat gebracht wird, ohne dass hiermit irgendein Bezug des Erblassers zu diesem Staat verbunden gewesen wäre, was die Verordnung aber voraussetzt.162 b) Missbrauchsabsicht Ist nachweisbar, dass ein Erbe oder ein Dritter Nachlassvermögen in einen anderen Mitgliedstaat gebracht hatte und kurz danach die dortigen Gerichte auf 159
Vgl. oben, S. 161. Vgl. Erwägungsgrund Nr. 23 S. 1 EuErbVO. 161 Vgl. oben, S. 352. 162 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 23 S. 1 EuErbVO: „(wirkliche) Verbindung zwischen dem Nachlass und dem Mitgliedstaat, in dem Erbsache abgewickelt wird.“ 160
352
3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
der Grundlage von Art. 10 Abs. 1 EuErbVO anrief, spricht dies für eine künstliche Gestaltung, welche die Missbrauchsabsicht indiziert.163 Schon angedeutet wurde, dass diese Schlussfolgerung dann Schwierigkeiten bereitet, wenn Nachlassvermögen vor dem Tod des Erblassers in einen anderen Mitgliedstaat verschoben wurde, in dem unmittelbar nach dem Erbfall ein Verfahren unter Verweis auf Art. 10 Abs. 1 EuErbVO durchgeführt wird. In diesen Fällen ist vor allem unklar, ob die Verschiebung vom Willen des Erblassers getragen war. Zwar ist es auch möglich, dass der Erblasser selbst vor seinem Tode Vermögen in den Gerichtsstaat bringt, um so gezielt die Erbfolge und die gerichtliche Zuständigkeit für etwaige Erbstreitigkeiten zu planen. Die Annahme eines Zuständigkeitsmissbrauchs ist in diesen Fällen jedoch ungleich schwieriger. 5. Zusammenfassung Es hat sich gezeigt, dass das Verschieben von Nachlassvermögen im Rahmen des Art. 10 EuErbVO durchaus dazu verwandt werden kann, eine günstige Zuständigkeit zu erschleichen. Da eine Lösung durch Auslegung der Vorschrift nicht möglich ist, bietet das unionsrechtliche Missbrauchsverbot einen gangbaren Weg. Diesem Ansatz stehen keine grundlegenden Strukturprinzipien des Europäischen Zivilverfahrensrechts entgegen. Insbesondere besteht wiederum kein Konflikt mit dem Gebot, vorhersehbare Zuständigkeit zu gewährleisten. Schließlich disponiert der manipulierende spätere Kläger oder Antragssteller über den ihm zugedachten Schutz.164 Da eine gerichtliche Zuständigkeit als Folge des Zuständigkeitsmissbrauchs nicht gewährt wird, muss die Erbstreitigkeit vor einem anderen, in Fällen des Art. 10 EuErbVO vor einem drittstaatlichen Gericht geführt werden. Das widerspricht nicht dem Anliegen der Verordnung, die Rechtsdurchsetzung in Erbstreitigkeiten für die Betroffenen zu erleichtern.165 Aus der Verpflichtung zur universellen Anwendung der Verordnung für Fragen des anwendbaren Rechts gemäß Art. 20 EuErbVO ergibt sich insbesondere, dass eine bedingungslose ‚Europäisierung‘ von Erbstreitigkeiten nicht intendiert war. Für die Belange der internationalen Zuständigkeit wird dies durch einen Blick auf Art. 11 EuErbVO bestätigt: Die dort geregelte Notzuständigkeit mitgliedstaatlicher Gerichte bei an sich gegebener drittstaatlicher Zuständigkeit soll nur dann gewährt werden, wenn es unzumutbar oder unmöglich ist, ein Verfahren in einem Drittstaat zu führen. Unmöglichkeit der Rechtsdurchsetzung wird in
163 Zu dieser Verknüpfung des Zeitmoments mit dem Künstlichkeitskriterium, vgl. oben, S. 158, 345. Auch im Europäischen Insolvenzrecht wird aus dem zeitlichen Zusammenhang von comi-Verlegung und Insolvenzantragsstellung auf die (Schädigungs-)Absichten des handelnden Schuldners geschlossen, vgl. Rotstegge, ZIP 2008, 955, 961. 164 Vgl. oben, S. 340 ff. 165 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 7 EuErbVO.
§ 8 Zuständigkeitserschleichung
353
den seltensten Fällen zu bejahen sein und allenfalls bei einem letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers in einer Krisenregion ohne, oder einer Region ohne funktionierende Rechtspflege angenommen werden können. 166 Bei der Prüfung der Unzumutbarkeit kann wiederum das Verhalten des Klägers oder Antragsstellers einbezogen werden. Insbesondere in denjenigen Fällen, in welchen ein potentieller Erbe Nachlassvermögen verschiebt, um andere Betroffene – die gegebenenfalls im drittstaatlichen Aufenthaltsstaat des Erblassers wohnen – gezielt zu benachteiligen, ist eine Verfahrensführung vor ausländischen Gerichten zumutbar, solange sie nicht unmöglich ist. Durch die hier vorgeschlagene Lösung wird darüber hinaus auch in der Regel ein Gleichlauf von anwendbarem Recht und internationaler Zuständigkeit erreicht. Wenn der letzte gewöhnliche Aufenthalt in einem Drittstaat belegen ist, verweist Art. 21 Abs. 1 EuErbVO auf das drittstaatliche Recht. Eine engere Verbindung zum Belegenheitsstaat gemäß Art. 21 Abs. 2 EuErbVO ist zwar denkbar, aber entweder im Wege der Auslegung oder als Folge der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots nicht zu berücksichtigen. 167 Eine Rück- oder Weiterverweisung gemäß Art. 34 EuErbVO wird in den relevanten Fällen nicht erfolgen, da die Gerichte des Drittstaats die Vermögensverlagerung als künstlich ansehen werden. Die Verordnung ermöglicht auf kollisionsrechtlicher Ebene insbesondere den Rückgriff auf Korrekturmechanismen des nationalen Rechts, wie die fraude à la loi,168 was unter dem Gesichtspunkt einheitlicher Anwendung von Unionsrecht freilich zu kritisieren ist.169 Als Ergebnis besteht damit der wünschenswerte Gleichlauf von forum und ius am letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers im EU-Ausland als interessengerechte Folge der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots.
166
Vgl. Erwägungsgrund Nr. 31 S. 2 EuErbVO. Dazu sogleich. 168 Vgl. dazu oben, S. 188 f. 169 Es sei denn, man schaltet der Anwendung nationalen Rechts das unionsrechtliche Missbrauchsverbot als Kontrollebene vor, vgl. dazu oben, S. 173 f. 167
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
Wegen der tatbestandlichen Reichweite des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots können der Kategorie des Missbrauchs verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte eine große Zahl verschiedener Missbrauchskonstellationen zugeordnet werden. Die Arbeit konzentriert sich auf zwei Beispielsfälle: die Torpedoklagenproblematik (unten, A.) und das missbräuchliche forum shopping (unten, B.).1 Bei vorliegender Fallgruppe des Missbrauchs liegt der Fokus in der Bewertung des Verhaltens auf der Art und Weise der Ausübung oder der Inanspruchnahme des Rechts oder der Befugnis, weniger auf der Frage des Erwerbs. Dieser ist in aller Regel nicht in Zweifel zu ziehen. In der Sprache des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots handelt es sich um Fälle einer missbräuchlichen
1 Ein möglicher weiterer Fall, in welchem das unionsrechtliche Missbrauchsverbot eingesetzt werden könnte, stellt die missbräuchliche Rüge nicht gegebener Zuständigkeit dar, wie sie Gegenstand eines Verfahrens vor dem niederländischen Hoge Raad war, vgl. Hoge Raad, 7 mei 2010, nr. 09/01115, JBPR 2010, 509 ff. m. Anm. Freudenthal, S. 517; vgl. dazu auch Wais, IPRax 2012, 91 ff. und Kramer, Conflict of Laws. In der Sache ging es, verkürzt, um einen Unterhaltsstreit, bei welchem der niederländische Exmann durch seine niederländsiche Exfrau vor belgischen Gerichten verklagt wurde. Beide hatten zum Zeitpunkt der Klage ihren Wohnsitz in Belgien. Der Beklagte rügte die Zuständigkeit belgischer Gerichte, da niederländische Gerichte zuständig seien. Ein belgisches Berufungsgericht erklärte Belgien schließlich für international unzuständig und verwies auf staatsvertraglicher Grundlage an ein niederländisches Gericht. Im Rahmen des dortigen Verfahrens rügte der Beklagte wiederum die Zuständigkeit, diesmal unter Verweis darauf, dass niederländische Gerichte zuständig seien und setzte sich damit zu seinem vorhergehenden Verhalten in Widerspruch, ließ sich aber gleichwohl zur Sache ein. Der Hoge Raad erklärte die Zuständigkeitsrüge für unbeachtlich, versuchte dies aber mit den Mitteln der Auslegung zu begründen. Mit Wais, a.a.O., S. 94 und Kramer, a.a.O. ist jedoch ein Rückgriff auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot zu befürworten. Notwendig ist hierzu aber eine hilfsweise Einlassung zur Hauptsache, welche dann gemäß Art. 26 S. 1 EuGVVO zuständigkeitsbegründend wirkt. In Fällen fehlender hilfsweiser Einlassung zur Hauptsache vor dem als zweites angerufenen Gericht könnte seit Gothaer Allgemeine jedenfalls dann eine Bindungswirkung des klageabweisenden Urteils durch das zuerst angerufenen Gericht angenommen werden, wenn dieses die Zuständigkeit des (dann) als zweites angerufenen Gerichts in seinen Urteilsgründen ausdrücklich feststellt, vgl. oben, S. 294 ff.
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
355
Rechtsausübung.2 Gewisse Schwierigkeiten bei der Einordnung in diese Fallgruppe ergeben sich bei den als erstes zu besprechenden Torpedoklagen, da hier gemeinhin schon der ‚Erwerb‘ der Befugnis, die Klageerhebung im Ausland, mit missbilligten Motiven und unter Verletzung des gesetzgeberischen Zwecks der jeweiligen Rechtshängigkeitsregel erfolgt. Allerdings erlangt die Torpedoklage gerade dadurch Wirkung, dass der Torpedokläger sich in einem gegen ihn betriebenen Verfahren vor einem anderen Gericht auf die frühere anderweitige Rechtshängigkeit im Ausland beruft. Der Fokus ist damit doch wieder auf die Art und Weise der Ausübung der Rügebefugnis gerichtet. Da unabhängig von der Einordnung in eine der verschiedenen Ausprägungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots stets der identische Missbrauchsmaßstab anzuwenden ist, darf die Zuordnung zu einer Fallgruppe nicht überbewertet werden. Selbst wenn man also die Torpedofälle eher als ein Erschleichen der Wirkungen der Rechtshängigkeitsregel durch missbräuchliches forum shopping einordnen möchte,3 ist die Missbrauchsprüfung in der Sache identisch.
A. Torpedoklagen Das Phänomen der Torpedoklagen war schon wiederholt Gegenstand vorliegender Arbeit.4 Dabei ist die Arbeit in den vorangegangenen Abschnitten zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Behandlung derartiger Fälle intendierter Verfahrensverzögerung aufgrund des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots notwendig und möglich ist. Da schon ausführlich dargestellt wurde, wie das Missbrauchsverbot in Zusammenhang mit Torpedoklagen angewandt werden kann, soll hier eine skizzenhafte Sammlung der wesentlichen Erkenntnisse aus den vorangegangenen Teilen der Arbeit genügen (unten, II.). Davor sollen nichtsdestotrotz mögliche Alternativlösungen diskutiert werden (unten, I.). Zwar hat sich die Arbeit auch diesen schon in Teilen gewidmet, wobei keiner der Ansätze für sich genommen praktisch überzeugend konnte, beispielsweise die Durchbrechung von Rechtshängigkeitsregeln alleine in Fällen konkret überlanger Verfahrensdauer gemäß Art. 6 EMRK5. Andere Lösungsvorschläge sind dabei aber noch nicht zur Sprache gekommen. Die Arbeit wird auch diesbezüglich in den nachfolgenden Ausführungen zeigen, dass die durch Rechts-
2
Vgl. oben, S. 128 ff. So z.B. durch Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55, 56; wie hier etwa Domej, RabelsZ 78 (2014), 508, 532; Thole, ZIP 2012, 605, 609; ders., AG 2013, 73, 76. 4 S.o., S. 2, 183, 189, 206, 278 ff., 307 ff. 5 S.o., S. 206 ff. 3
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
wissenschaft und Gesetzgeber angebotenen Ansätze zur Vermeidung von Torpedoklagen nicht ausreichend bzw. nicht überzeugend sind. Daran anknüpfend wird in einem Exkurs der Frage nachgegangen, ob als Folge des durch den EuGVVO-Reformgesetzgeber geschaffenen Abhilfeverfahrens gemäß Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO Prozessführungsverbote mit der Struktur von anti-suit injunctions im Europäischen Zivilverfahrensrecht nunmehr in gewissen Fällen zugelassen werden müssen (unten, III.). Abschließend werden die Ergebnisse zusammgengefasst (unten, IV.). I. Alternative Lösungsvorschläge Durch das Schrifttum und den Gesetzgeber werden für den Umgang mit Torpedoklagen diverse Lösungsansätze de lege lata und de lege ferenda vorgeschlagen. In der Sache können sie jedoch nicht vollständig überzeugen. 1. Verteidigung vor dem zuerst angerufenen Gericht Als Konsequenz aus der Geltung des Prinzips gegenseitigen Vertrauens wird vertreten, dass die einzige Möglichkeit, sich gegen eine Torpedoklage zur Wehr zu setzen, eine Klage vor dem missbräuchlich angerufenen, ersten Gericht sei.6 Diese Sichtweise ist schon in der Sache nicht zutreffend, wie die Ausführungen im dritten Teil der Arbeit gezeigt haben. Das Dogma von der alleinigen Befugnis des angerufenen Gerichts zur Zuständigkeitsprüfung wird in neuerer Zeit weder durch den Gesetzgeber noch durch den Gerichtshof aufrechterhalten, wenn hierdurch sinnwidrige Ergebnisse provoziert würden. Zudem muss das später angerufene Gericht bei der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots nicht zwingend die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts überprüfen. Die Missbräuchlichkeit im Handeln des Torpedoklägers kann schließlich auch durch andere Umstände begründet werden.7 Zwar soll hier die Möglichkeit nicht heruntergespielt werden, sich vor dem zuerst angerufenen Gericht zu verteidigen. Natürlich kann der betroffene Gläubiger vor diesem Gericht einwenden, es sei unzuständig bzw. das betriebene Verfahren sei – in Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots – missbräuchlich und daher zu beenden. Diese Verteidigungslinie ist aber dort sinnlos, wo das angerufene Gericht in absehbarer Zeit keine Entscheidung über seine Zuständigkeit treffen wird.8 Des Weiteren erscheint es nicht angemessen, 6
McGuire, Verfahrenskoordination, S. 140; Reuß, Forum Shopping, S. 300, der die Geltendmachung des Missbrauchsverbots nur vor dem zuerst angerufenen Gericht für möglich hält; Briggs, in: de la Feria/Vogenauer, Prohibition of Abuse of Law, S. 261, 272 ff.; für eine Leistungswiderklage in Ehesachen auch Pabst, Ehesachen mit Europabezug, S. 293 f. 7 S.o., S. 299 ff. 8 Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 173 m.w.N. Es überrascht daher nicht, wenn etwa McGuire, Verfahrenskoordination, S. 140, nach der die Verteidigung vor dem zuerst angerufenen Gericht eine Lösungsmöglichkeit darstellt, auf den Umstand gerade nicht eingeht,
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
357
den Gläubiger zu zwingen, sich vor einem gegebenenfalls und höchst wahrscheinlich unzuständigen Gericht einzulassen und damit dessen Zuständigkeit gemäß Art. 26 EuGVVO zu begründen.9 Selbst wenn er sich nur hilfsweise zur Sache einließe und damit eine Zuständigkeit kraft rügeloser Einlassung vermiede,10 kämen bei einer Klage vor einem Gericht ohne jegliche Beziehung zum Streitgegenstand erhebliche Prozess- und Kostenrisiken auf den Gläubiger zu, die ihm billigerweise nicht auferlegt werden dürfen.11 Das Problem der Torpedoklagen wird durch die bloße Möglichkeit der Verteidigung vor dem zuerst angerufenen Gericht also nicht gelöst. 2. Einstweiliger Rechtsschutz Auf den ersten Blick erscheint jedoch gerade die Inanspruchnahme einstweiligen Rechtsschutzes verlockend: Gegen die Torpedoklage des Schuldners im Ausland setzt sich der Gläubiger im Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes vor heimischen Gerichten zur Wehr.12 Diese Möglichkeit besteht deshalb an sich, da der Einwand anderweitiger Rechtshängigkeit gegenüber derartigen Maßnahmen im Grundsatz nicht greift.13 Zwar kann der Gläubiger mit einer einstweiligen Verfügung nicht ohne Weiteres verlangen, dass der Schuldner die Verfahrensführung im Ausland unterlässt, was in der Sache einer anti-suit injunction gleichkommen würde.14 Von besonderem Interesse sind aber vor allem Leistungsverfügungen, die auf (teilweise) Befriedigung gerichtet sind. Selbst wenn die Gewähr einstweiligen Rechtsschutzes in Torpedofällen unter dem Blickwinkel anderweitiger Rechtshängigkeit unproblematisch ist, ergeben sich Schwierigkeiten in der praktischen Durchsetzung. Erstrebt der Gläubiger nicht nur eine Unterlassung durch den Torpedokläger, sondern eine Leistung, wird in aller Regel das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache
der doch das eigentliche Problem in derartigen Torpedofällen darstellt: das nicht arbeitende zuerst angerufene Gericht. 9 Hartley, in: Essays in Honor of Arthur T. von Mehren, S. 73, 75; Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 173. 10 Vgl. Stadler, in: Musielak, Art. 24 EuGVVO Rn. 3. 11 Hartley, in: Essays in Honor of Arthur T. von Mehren, S. 73, 80; Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 173. 12 Für diesen Lösungsansatz Luginbuehl, European Patent Law, S. 60; Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 418 ff., der allerdings selbst die damit zusammenhängenden praktischen Unzulänglichkeiten sieht; Hartley, 129 L.Q.R. (2013) 309, 314 f. 13 Vgl. Kropholler/von Hein, Art. 27 EuGVVO Rn. 14; Leible, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 27EuGVVO Rn. 13; Simons, in: unalexKomm, Art. 27 EuGVVO Rn. 67; Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO Rn. 1. 14 Zu deren Inkompatibilität mit dem Europäischen Zivilverfahrensrecht, vgl. oben, S. 277 f. Zu möglichen Ausnahmen im Anwendungsbereich des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO, s.u., S. 371 ff.
358
3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
dem Begehren des Gläubigers nach einer schnellen Lösung im Wege stehen.15 Zudem wird für die Gewähr einer einstweiligen Verfügung der Nachweis oder die Glaubhaftmachung von Eilbedürftigkeit gefordert.16 Damit sind an sich nur diejenigen Fälle missbräuchlicher Torpedoklage eilbedürftig, in denen ansonsten Rechtsschutz durch die inländischen Gerichte im Sinne des Art. 6 EMRK verweigert würde. In der Folge teilt dieser Ansatz diejenigen Probleme, welche auch bei einer Durchbrechung von Art. 29 EuGVVO und anderer Rechtshängigkeitsregeln über die Garantien der EMRK bestehen: Die Notwendigkeit einer konkreten, schon eingetretenen überlangen Verfahrensdauer.17 Da auch der EuGH die Freizügigkeit einstweiliger Maßnahmen auf dem Binnenmarkt durch eine Reihe von Restriktionen praktisch aufgehoben hat18 und sich dies auch unter der reformierten EuGVVO nicht ändern wird,19 erscheint die bloße Möglichkeit einstweiligen Rechtsschutzes nicht geeignet, um vorsätzliche Verfahrensverzögerung durch Torpedoklagen zu verhindern. 3. Modifikation des Streitgegenstandsbegriffs im Europäischen Zivilverfahrensrecht Das Problem der Torpedoklagen basiert neben der unkritischen Auslegung des Art. 29 EuGVVO durch den EuGH auf dem im Europäischen Zivilverfahrensrecht geltenden Streitgegenstandsbegriff.20 Zwar pflegten einige mitgliedstaatliche Gerichte in der Vergangenheit einen ergebnisorientierten Umgang mit der durch den EuGH geschaffenen sog. Kernpunkttheorie in Fällen des Verfahrensmissbrauchs.21 Allerdings ist dies nicht mit dem derzeitigen Streitgegenstandskonzepts des EuGH vereinbar. Demnach wäre es notwendig, die Kernpunkttheorie des EuGH zu modifizieren. Hätten negative Feststellungsklagen auf Feststellung des Nichtbestehens eines Anspruchs und eine nachfolgende Leistungsklage nicht denselben Streitgegenstand, wäre Torpedoklagen auf den ersten Blick die rechtliche Grundlage entzogen.22 Allerdings ist es äußerst unwahrscheinlich, dass der EuGH die Kernpunkttheorie modifizieren wird,
15
Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 172. Vgl. z.B. §§ 935, 940 ZPO. 17 Vgl. Althammer, Streitgegenstand und Interesse, S. 730, Freitag, Jahrbuch Junger Zivilrechtswissenschaftler 2004, 399, 420; Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 172. 18 Vgl. Simons, in: unalexKomm, vor Art. 27-30 EuGVVO Rn. 28 m.w.N. 19 Vgl. Art. 2 lit. a Unterabs. 1 EuGVVO. 20 Vgl. oben, S. 3. 21 Z.B. Tribunal de grande instance de Paris, 28 avril 2000, GRUR Int. 2001, 173; weitere Nachweise bei Luginbuehl, European Patent Law, S. 58. 22 Vgl Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 175, allerdings auch mit dem Hinweis auf alternative Gestaltungsmöglichkeiten des Schuldners. 16
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
359
schließlich rechtfertigt er diesen Ansatz mit der Urteilsfreizügigkeit in den Mitgliedstaaten,23 die unter reformierten EuGVVO noch einmal erheblich erhöht wurde.24 Damit scheidet auch dieser Ansatz als Lösung des Problems aus. 4. Lösungsvorschläge bei Verstoß gegen ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen Wird eine Torpedoklage in Widerspruch zu einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung anhängig gemacht, werden spezielle Lösungsansätze vorgeschlagen, die über die oben dargestellten hinausgehen. 5. Verfahren nach Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO Der Regelung des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO wurde an anderer Stelle schon attestiert, dass sie die Situation derjenigen teilweise verbessert, die von einer Torpedoklage betroffen sind. Sie bezieht sich allerdings nur auf Fälle, in welchen eine Torpedoklage in Widerspruch zu einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung erhoben wird. Alle sonstigen Fälle böswilliger Verfahrensverzögerung durch Ausnutzen einer Rechtshängigkeitsregel werden also schon gar nicht erfasst und bleiben damit auch unter der reformierten EuGVVO ungelöst.25 Darüber hinaus schafft die Regelung neue Probleme. Unklar ist etwa schon, ob Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO nur ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarungen hinsichtlich eines bestimmten Gerichts unterfallen oder auch solche Vereinbarungen, mit denen die ausschließliche Zuständigkeit der Gerichte eines bestimmten Mitgliedstaats vereinbart wird, was Art. 25 EuGVVO unproblematisch zulässt26. In letzterem Fall liegen die Interessen der Beteiligten parallel zu denen bei Vereinbarung eines bestimmten ausschließlich zuständigen Gerichts: Es ist äußerst wahrscheinlich, dass ein in Widerspruch zu der Gerichtsstandsvereinbarung angerufenes Gericht unzuständig ist, zudem wollten die Parteien der Vereinbarung ihren Streit ausschließlich vor die Gerichte eines bestimmten Mitgliedstaats bringen. Der Wortlaut von Art. 31 Abs. 2 und 3
23 Vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.1987, Rs. 144/86 (Gubisch Maschinenfabrik KG ./. Giulio Palumbo), Slg. 1987, 4861, 4874, Nr. 8. 24 Vgl. Art. 39 EuGVVO. 25 Vgl. oben, S. 10. 26 Vgl. Art. 25 Abs. 1 S. 1 EuGVVO: „ein Gericht oder die Gerichte eines Mitgliedstaats […].“ (Hervorhebung durch den Verfasser).
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
EuGVVO27, Erwägungsgrund Nr. 22 S. 2 EuGVVO28 sowie die entsprechenden Ausführungen im Grünbuch29 scheinen allerdings dafür zu sprechen, dass die Regelung sich nur auf die Vereinbarung eines bestimmten international und örtlich ausschließlichen Gerichts oder Gerichtsorts30 bezieht.31 Das Ergebnis wäre freilich ein schwer zu rechtfertigender Prüfungsvorrang des zuerst angerufenen aber – bei Wirksamkeit der Prorogation – unzuständigen Gerichts und eine Entwertung des gesetzgeberischen Ziels, die Wirksamkeit von Gerichtsstandsvereinbarungen nach der EuGVVO zu verbessern. 32 Hierin zeigt sich einmal mehr, wie lückenhaft die Verhinderung von Verfahrensmissbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht betrieben wird. Als Kritikpunkt der Regelung ist auch die in dieser Weise nicht notwendige Erhöhung der Gefahr unvereinbarer Entscheidung zu nennen. Zwar sind parallele Verfahren und damit die abstrakte Gefahr sich widersprechender Entscheidungen, wie schon ausgeführt wurde, in Teilen durchaus hinzunehmen, wenn 27
Vgl. Art. 31 Abs. 2 EuGVVO: „Wird ein Gericht eines Mitgliedstaats angerufen“; Art. 31 Abs. 3 EuGVVO: „Sobald das in der Vereinbarung bezeichnete Gericht“. (Hervorhebung jeweils durch den Verfasser). 28 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 22 S. 2 EuGVVO: „[…] und später das vereinbarte Gericht wegen desselben Anspruchs zwischen denselben Parteien angerufen wird.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 29 Vgl. KOM(2010) 748 endgültig, S. 4: „das von Parteien in einer Gerichtsstandsvereinbarung bezeichnete Gericht“ bzw. auch S. 5 und S. 9 „das vereinbarte Gericht“ (Hervorhebung jeweils durch den Verfasser). 30 Da die instanzielle Zuständigkeit dem Zugriff des europäischen Gesetzgebers nicht unterliegt, unterfallen natürlich auch die häufig anzutreffenden Gerichtsstandsklauseln der Regelung, in denen ein spezieller Gerichtsort festgelegt wird („Gerichtsstand ist Konstanz“), aber nicht das – auch vom Streitwert abhängige – konkret anzurufende Gericht. 31 Auch Pohl, IPRax 2013, 109, 111 f. spricht nur von einem „prorogierten Gericht.“ Die Formulierung des „vereinbarten Gerichts“ in Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO durch Auslegung auch auf die Fälle zu erstrecken, in denen nur eine ausschließliche internationale Zuständigkeit vereinbart wurde, erscheint schwierig. Denn die örtliche Zuständigkeit folgt in diesen Fällen nicht aus der Prorogation und somit ist ein letztlich örtlich zuständiges Gericht im prorogierten Staat zumindest nicht komplett ‚vereinbart‘. Die EuGVVO und die Rechtsprechung des EuGH haben es aber gerade auch zum Ziel, in beschränktem Maße die örtliche Zuständigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten festzulegen. Sie beschränken sich nicht nur auf eine Zuständigkeitsverteilung auf internationaler Ebene, was sich etwa in Entscheidungen wie Rheder und Color Drack zeigt, vgl. dazu und allgemein zu dieser Erkenntnis, Klöpfer, GPR 2013, 112, 116. Damit liegt eine Regelungslücke vor. Eine Erstreckung der Neuregelung auf Fälle bloß international ausschließlicher Prorogation müsste im Sinne einer Analogiebildung erfolgen, die meines Erachtens wegen der im Text geschilderten identischen Interessenlage möglich und sinnvoll ist. 32 Gleichfalls entstünde damit eine Verwerfung zur Vorbildregelung nach dem Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen, die sich auch auf solche Gerichtsstandsvereinbarungen erstreckt, mit denen die ausschließliche Zuständigkeit eines bestimmten Gerichtsstaats festgelegt werden soll, vgl. zur Regelung und zur erstrebten Parallelität mit der Neuregelung in der EuGVVO, oben S. 290.
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
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hierdurch Belangen gedient wird, die eine abstrakte Gefahr sich widersprechender Entscheidungen überwiegen.33 Das ist in der Neuregelung zwar der Fall, jedoch hätte der Gesetzgeber die Gelegenheit nutzen können, um eine sinnvolle Rückversicherung zu schaffen, für den Fall, dass das zuerst angerufene Gericht entgegen Art. 31 Abs. 2 EuGVVO seiner Aussetzungspflicht nicht nachkommt. Hier hätte man die wiederholt vorgeschlagene 6-MonatsFrist in die Verordnung übernehmen können34 oder einen Anerkennungsversagungsgrund, wenn das zuerst angerufene Gericht trotz des vorrangigen Verfahrens vor dem mutmaßlich ausschließlich zuständigen Gericht entscheidet. 35 Denn in Anwendung der Grundsätze aus Gothaer Allgemeine wäre schon eine Zuständigkeitsfeststellung durch das zuerst angerufene Gericht für das mutmaßlich prorogierte bindend.36 Weitaus problematischer sind allerdings die Missbrauchsmöglichkeiten, welche durch Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO selbst geschaffen werden. Die Vorschrift ermöglicht einen sog. ‚umgekehrten Torpedo‘: Wird ein Verfahren vor einem zuständigen Gericht geführt, so kann über die Behauptung einer ausschließlichen Prorogation zugunsten eines – möglichst langsam arbeitenden – anderen Gerichts eine Sachentscheidung durch das zuständige und zuerst angerufene Gericht verzögert werden.37 Zwar reicht für eine Aussetzungspflicht des zuerst angerufenen Gerichts nach der Neuregelung, entgegen der ursprünglichen Konzeption des Gesetzgebers im Grünbuch, die bloße Behauptung einer
33
Vgl. oben, S. 310. Vgl. Art. 29 Abs. 2 des Grünbuchs KOM(2010) 748 endgültig vom 14.12.2010, S. 38. Da eine Verletzung dieser Frist allerdings erkenntlich keinerlei direkte Konsequenzen nach sich gezogen hätte, mag man über den praktischen Nutzen eines derartigen Appells trefflich streiten. Natürlich kann angeführt werden, dass die Mitgliedstaaten sich auch in anderem Zusammenhang an Fristenregelungen in europäischen Verordnungen gehalten haben und dass bei einer Nichtbeachtung ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden könnte und zusätzlich eine Haftung des Mitgliedstaats entsprechend der Francovich-Grundsätze in Betracht käme, so z.B. Ratković/Zgrabljićrotar, 9 J. Priv. Int. L. (2013) 245, 264. 35 Kindler, in: Pocar/Viarengo/Villata, Recasting Brussels I, S. 57, 67; vgl. auch Magnus, in: Lein, The Brussels I Review Proposal Uncovered, S. 83, 101. 36 Vgl. oben, Kap. 2 Fn. 425. 37 Diese Gefahr hat Nuyts, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 55, 58 schon im Vorfeld etwaiger konkreter Reformpläne genannt; ebenso GA Léger, Schlussanträge v. 9.9.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser GmbH ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693, 14715, Nr. 74, als Reaktion auf die durch das Vereinigte Königreich vorgeschlagene Lösung, welche im Wesentlichen Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO entspricht; die Gefahr umgekehrter Torpedos durch die Neuregelung kritisierend von Hein, RIW 2013, 97, 104 f.; Heinze, RabelsZ 75 (2011), 581, 288; McGuire, in: FS Kaissis, S. 671, 675; Ratković/Zgrabljićrotar, 9 J. Priv. Int. L. (2013) 245, 264; Saraf/Kazi, 29 C.L.S.Rev. (2013) 127, 142; Queirolo, in: Pocar/Viarengo/Villata, Recasting Brussels I, S. 183, 195; Simons, in: unalexKomm, vor Artt. 27-30 EuGVVO, Rn. 49; Stadler, in: Musielak, Art. 27 EuGVVO Rn. 5 Fn. 27. 34
362
3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
abweichenden Gerichtsstandsvereinbarung nicht mehr aus; 38 erforderlich ist zusätzlich die Verfahrenseinleitung vor dem betreffenden Gericht. Dennoch ist die Möglichkeit der Verfahrensverzögerung durch einen Missbrauch der Vorrangregelung real. Es handelt sich hierbei eben nur um die Umkehrung der ursprünglichen Torpedoproblematik. Die Reaktionen des deutschen Schrifttums diesbezüglich sind zum Teil erstaunlich. So halten Magnus/Mankowski die Gefahren einer Verzögerung durch die Einwendung einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung seltsamerweise für tragbar, weil das nationale Verfahrensrecht gut gerüstet sei, um derartigen Taktiken zu begegnen und auch die Aussicht auf ein klageabweisendes Urteil schon abschreckend genug sei.39 Seltsam ist diese Sicht der Dinge, da im Falle eines gewöhnlichen Torpedos der Kläger doch offensichtlich von der Gefahr eines klageabweisenden Urteils ebenfalls nicht davon abgehalten wird, vor einem unzuständigen Gericht zu klagen.40 Warum dies bei umgekehrter Ausgangslage unter der reformierten EuGVVO anders sein soll, wird nicht dargelegt. Darüber hinaus kann der pauschale Verweis auf die Eingriffsbefugnisse der Mitgliedstaaten nach nationalem Recht vor dem Hintergrund des Gebots einheitlicher Anwendung und praktischer Wirksamkeit von Unionsrecht nicht überzeugen.41 Ebenfalls hilft der Hinweis nicht weiter, dass in Fällen fingierter Gerichtsstandsvereinbarungen das zuerst angerufene Gericht eigentlich gar nicht verpflichtet sei, sein Verfahren auszusetzen.42 Das liegt in der Natur der Sache. Entscheidend ist, welches Beweismaß hinsichtlich des Bestehens einer Gerichtsstandsvereinbarung für notwendig erachtet wird, um in das Verfahren nach Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO einzutreten. Je geringer diese sind, umso eher wird ein zuerst angerufenes Gericht zur Aussetzung verpflichtet. Zwar muss im Ergebnis die Zuständigkeit des aufgrund der Regelung angerufenen Gerichts durch dieses positiv festgestellt werden, jedoch kann man trefflich darüber streiten, ab wann das später angerufene Gericht „aufgrund einer Vereinbarung nach Art. 25 ausschließlich zuständig ist“. Reicht es für die Aussetzungspflicht des zuerst angerufenen Gerichts aus, wenn bei Verfahrenseinleitung vor dem mutmaßlich prorogierten Gericht eine Gerichtsstandsvereinbarung lediglich schlüssig behauptet wird? Eines ist klar: Würde man hierbei zu hohen Anforderungen an das notwendige Beweismaß stellen, verlöre das Verfahren seine Wirkung. Setzte man hingegen die Voraussetzungen zu niedrig an, hätte ein potentieller Schuldner 38 Vgl. Art. 32 Nr. 2 des Verordnungsentwurfs im Grünbuch KOM(2010) 748 endgültig vom 14.12.2010, S. 39; dazu noch Magnus, in: Lein, The Brussels I Review Proposal Uncovered, S. 83, 95 f. 39 Magnus/Mankowski, ZVglRWiss 109 (2010), 1, 12 f. 40 So auch Domej, RabelsZ 78 (2014), 508, 535. 41 Vgl. oben, S. 199 ff. 42 So aber Queirolo, in: Pocar/Viarengo/Villata, Recasting Brussels I, S. 183, 195.
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
363
leichtes Spiel, um die Rechtsverfolgung durch den Gläubiger durch eine Klage vor einem vermeintlich ausschließlich zuständigen Gericht zu torpedieren.43 Der Nachweis einer im Sinne des Art. 25 Abs. 1 S. 3 lit. a EuGVVO schriftlich abgefassten Gerichtsstandsvereinbarung wird in aller Regel einfach möglich sein. Auch das damit zusammenhängende Missbrauchspotential durch die Vorlage gefälschter Vereinbarungen ist gering. Probleme bereiten aber die in Art. 25 Abs. 1 S. 3 lit. c EuGVVO verbrieften Formerleichterungen für den Handelsverkehr; es erscheint nicht fernliegend, dass zur Verzögerung eines Verfahrens eine erfundene Gerichtsstandsvereinbarung eingewandt wird, die im Wege eines kaufmännischen Bestätigungsschreibens zustande gekommen sein soll, da hierzu keine Erklärung des anderen Teils notwendig ist. Jedoch muss die Frage nach dem notwendigen Beweismaß hier im Ergebnis nicht beantwortet werden,44 denn es hat sich mit hinreichender Deutlichkeit gezeigt: Die Regelung des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO vermag nicht einmal innerhalb ihres schon in der Sache verknappten Regelungsbereichs das Problem der Torpedoklagen überzeugend zu lösen. 6. Schadenersatzanspruch bei Verletzung einer ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung Ein hin und wieder geäußerter Lösungsvorschlag stellt die Gewähr eines materiell-rechtlichen Schadensersatzanspruchs bei Verstoß gegen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung dar. Dabei wird an die Verletzung der Vereinbarung angeknüpft, vor einem bestimmten Gericht bzw. Gerichten zu klagen. 45 Damit beschränkt sich dieser Lösungsansatz von vorneherein auf Torpedoklagen, die in Widerspruch zu einer Gerichtsstandsvereinbarung anhängig gemacht werden. Diesem Vorschlag kann jedoch auch in der Sache nicht gefolgt werden, was weniger mit den dogmatischen Hürden zusammenhängt, die zur Begründung eines Schadenersatzanspruchs genommen werden müssten. Entscheidend ist, dass so gegen gewichtige Systeminteressen des Europäischen Zivilverfahrensrechts verstoßen würde. Zunächst aber ist es nicht überzeugend, die Lösungen für ein verfahrensrechtliches Problem alleine im materiellen Recht zu suchen. Der Ansatz ist keine ‚Lösung‘ sondern bloße Verlegenheit, die mit der Idee eines einheitlichen Justizraums ebenso wenig in Einklang stünde, wie die bedingungslose Gewähr von anti-suit injunctions. Auf Ebene des Verfahrensrechts wäre ein untragbarer Zustand zu akzeptieren, um ihn auf einer sekundären Ebene ex post
43
Ratković/Zgrabljićrotar, 9 J. Priv. Int. L. (2013) 245, 264. Versuch bei Domej, RabelsZ 78 (2014), 508, 535. 45 Ausführlich Briggs, Agreements on Jurisdiction and Choice of Law, S. 330 ff.; ders., 120 L.R.Q. (2004) 529, 532; Gebauer, in: FS Kaissis, S. 267 ff.; Peel, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 1, 15. 44
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
zu bereinigen.46 Der Ansatz provoziert, neben den rein praktischen Schwierigkeiten, wie der Bezifferung des entstandenen Schadens,47 einen Systembruch innerhalb des Europäischen Zivilverfahrensrechts. Schließlich würde im Ergebnis das nationale Recht darüber entscheiden, ob und gegebenenfalls wie ein aus der Anwendung von unionsrechtlichen Verfahrensvorschriften herrührender Missstand ausgeglichen werden könnte. Die damit einhergehende Wettbewerbsverzerrung ist offensichtlich. Die Verlagerung auf eine sekundäre Ebene hätte eine völlige Ungleichbehandlung gleichgelagerter Sachverhalte in den Mitgliedstaaten zur Folge: In der deutschen Literatur48 und allgemein nach den Rechtsordnungen Kontinentaleuropas 49 wird eine Haftung wegen Verstoßes gegen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung ganz überwiegend ablehnt, in der höchstrichterlichen englischen Rechtsprechung und der ihr folgenden Literatur hingegen häufig bejaht50.51 Natürlich mag man einwenden, die genannten Fälle englischer Gerichte behandelten allesamt Drittstaatensachverhalte außerhalb des Anwendungsbereichs der EuGVVO. Von manchen wird hierauf aufbauend die Zulässigkeit eines Schadenersatzbegehrens im Europäischen Zivilverfahrensrecht angezweifelt. Hierbei stützt man sich insbesondere auf den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens.52 Dieser Verweis ist jedoch problematisch. Auch in anderem Zusammenhang wurde gezeigt, dass dem Grundsatz oftmals undifferenziert ein Wirkbereich zugeschrieben wird, der sich weder aus Sinn und Zweck des Grundsatzes noch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ableiten lässt.53 So ist es auch hier. Dem Grundsatz kann nicht entnommen werden, dass die über die Frage des Schadenersatzes entscheidenden Gerichte nach Beendigung (!) 46
Tichý, in: Lein, The Brussels I Review Proposal, S. 179, 189 f. Leitzen, GRUR Int. 2004, 1010, 1015. 48 Jeweils mit weiteren Nachweisen Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozessrecht, § 3 Rn. 230; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rn. 861 f.; G. Wagner, in: Stein/Jonas, Art. 23 EuGVVO Rn. 147, 151; a.A. Mankowski, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 23 EuGVVO, Rn. 74 f. 49 Vgl. Gebauer, in: FS Kaissis, S. 267, 267. 50 Vgl. etwa Donohue v Armco Inc [2002] 1 All ER 749; Union Discount Co Ltd v Zoller [2002] 1 WLR 1517. Einen Schadenersatzanspruch bei Verstoßes gegen eine ausschließliche Gerichtsstandsvereinbarung hält etwa für möglich Peel, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 1, 15; a.A. Fentiman, in: de Vareilles-Sommières, Forum Shopping, S. 27, 43. Zum Streitstand im Übrigen Bříza, 5 J. Priv. Int. L. (2009) 537, 549 ff. und Steinle/Vasiliades, 6 J. Priv. Int. L. (2010) 565, 576. 51 Die internationale Komponente dieses Lösungsansatzes wird in der Regel ignoriert, so z.B. von Sander/Breßler, ZZP 122 (2009), 157, 174, die lediglich auf die Ablehnung eines entsprechenden Anspruchs nach deutschem Recht verweisen. 52 Reuß, Forum Shopping, S. 190 Fn. 295; Blobel/Späth, E.L.Rev. 30 (2005) 528, 546; Dutta/Heinze, ZEuP 2005, 431, 461; Gebauer, in: FS Kaissis, S. 267, 279 (einschränkend für Schadenersatzklagen nach Klageabweisung durch das unzuständige Gericht). 53 Vgl. oben, S. 279. 47
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
365
des ausländischen Verfahrens – etwa durch Abweisung mangels Zuständigkeit oder durch streitbeendende Entscheidung bei Missachtung der Gerichtsstandsvereinbarung – nicht befugt seien, die Unzuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts in die Prüfung eines Schadenersatzanspruchs nach materiellem Recht einzubeziehen. Der in Art. 45 Abs. 3 S. 2 EuGVVO zum Ausdruck kommende Gedanke gilt schließlich nur innerhalb des Zuständigkeits- und Anerkennungssystems der Verordnung, um so die Freizügigkeit von Urteilen zu erhöhen.54 Hieraus eine Sperrwirkung für alle zeitlich nachgelagerten Rechtsschutzbegehren abzuleiten, die nur in irgendeiner Weise die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts zum Gegenstand haben, ist Ausdruck eines, in der gesamten Diskussion rund um Missbrauchsgestaltungen im Europäischen Zivilverfahrensrecht häufig anzutreffenden, unglücklichen vorauseilenden Gehorsams durch das Schrifttum und die Gerichte der Mitgliedstaaten.55 Es ist offensichtlich, dass im Unterschied zur Wirkungsweise von anti-suit injunctions durch die Gewähr eines Schadenersatzanspruchs ex post gerade nicht in die Zuständigkeitsprüfung durch das angerufene Gericht eingegriffen würde. Zu guter Letzt spricht auch die in der jüngeren Vergangenheit vollzogene Präzisierung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens56 gegen eine Sperrwirkung für ein auf Schadensersatz gerichtetes Klagebegehren. Damit ist es möglich, dass derartige Ansprüche durch verschiedene mitgliedstaatliche Gerichte unterschiedlich behandelt würden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Problem der Torpedoklagen nicht befriedigend über die Gewähr eines materiell-rechtlichen Schadenersatzanspruchs auf nachgelagerter Ebene gelöst werden kann. Ein derartiger Ansatz führte vielmehr zu Wettbewerbsverzerrungen auf dem Binnenmarkt und einer einseitigen Bevorzugung bestimmter Gerichtsorte bzw. Rechtsordnungen. Überzeugende alternative Lösungsansätze zur Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots bestehen somit nicht. II. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Für die Anwendung des Missbrauchsverbots sind die Erkenntnisse aller vorstehenden Ausführungen zusammenzufassen. Zunächst ist es durchaus systemkonform, die Anwendung des Missbrauchsverbots (auch) in die Hände eines zeitlich später angerufenen Gerichts zu legen. Dies ist mit dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens vereinbar57 und führt auch nicht zu einer untragbaren Erhöhung der Gefahr unvereinbarer Entscheidungen58. Das später angerufene 54
Vgl. Erwägungsgründe Nr. 16 und 17. Im Ergebnis auch Briggs, 120 L.R.Q. (2004) 529, 532; Leitzen, GRUR Int. 2004, 1010, 1015; Mankowski, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, Art. 23 EuGVVO, Rn. 74h. 56 Vgl. oben, S. 289 ff. 57 Vgl. oben, S. 304 ff. 58 Vgl. oben, S. 310 ff. 55
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
Gericht ist befugt, das Verfahren fortzusetzen, wenn die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots gegeben sind.59 Aus rechtspolitischer Sicht kann diesem Lösungsansatz vernünftigerweise nicht vorgeworfen werden, er behandle nur die Symptome, nicht aber die Ursachen eines Problems.60 Zum einen kann trefflich darüber gestritten werden, ob es überhaupt möglich ist, in allen Mitgliedstaaten einen identischen (hohen!) Standard von Effektivität in der Rechtsprechung zu schaffen. So besteht beispielsweise als Folge der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten immer eine Periode des Übergangs, in welcher deren Justizsysteme nicht dieselbe Qualität und Effektivität bieten, wie diejenigen anderer Mitgliedstaaten. Zum anderen ergeben sich auch in einem erklärtermaßen gesunden Justizsystem immer wieder Ausreißer; die eindrucksvolle Zahl an Fällen, in denen das Rechtsmissbrauchsverbot im deutschen Recht in der Vergangenheit im materiellen Recht und im Verfahrensrecht angewandt wurde, mag hierfür als Beweis dienen.61 1. Zweckwidrigkeit Öffnet man Rechtshängigkeitsregeln, wie etwa Art. 29 EuGVVO bedingungslos für Torpedoklagen, widerspricht dies dem Zweck dieses Mechanismus, da und wenn mittels der durch den Schuldner erhobenen negativen Feststellungsklage eine Streitentscheidung vor dem angerufenen Gericht überhaupt nicht erzielt werden soll. Die bloße Blockade eines Rechtsschutzbegehrens um der Blockade Willen ist nicht Sinn und Zweck der Aussetzungspflicht. Deren Daseinsberechtigung liegt schließlich in der Verhinderung unvereinbarer Entscheidungen. Es wurde gezeigt, dass dieses Risiko in Fällen der Torpedoklage äußerst gering bzw. in Anbetracht der Risikobereitschaft des Gerichtshofs tragbar erscheint und daher zum Schutze der berechtigten Belange des Gläubigers einzugehen ist.62
59
In der Sache zustimmend, teils unter Bezug auf das/ein (unionsrechtliches) Missbrauchsverbot: OLG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2012, 13 W 33/12, BeckRS 2013, 411; Mayr/Czernich, Europäisches Zivilprozessrecht, Rn. 265; Althammer, in: GS Konuralp, S. 103, 126 f.; Blobel/Späth, 30 E.L.Rev. (2005) 528, 545; Cornut, 134 Clunet (2007), 27, 49; Grothe, IPRax 2004, 205, 210; Kitić, Pravni Zapisi 2013, 62, 68; Nuyts, 3 GJA (2003) 1, 31; Rauscher, IPRax 2004, 405, 408; Stauder, in: FS Schricker, S. 917, 928; M. Stürner, JbItalR 26 (2013), 59, 72 f.; Försterling, in: Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr, Art. 27 EuGVVO Rn. 40. 60 So aber McGuire, in: FS Kaissis, S. 671, 678. 61 Vgl. oben, S. 30 ff. und S. 193 ff. 62 Vgl. S. 310.
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
367
2. Missbrauchsabsicht Die Absicht des Klägers, die Rechtshängigkeitsregel missbräuchlich in Anspruch zu nehmen, kann nicht pauschal daraus abgeleitet werden, dass ein Verfahren in einem bestimmten Mitgliedstaat angestrengt wird, da eine derartige Annahme mit dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in Konflikt geraten würde.63 Zulässig ist es aber, aus der fehlenden Verbindung von Streitgegenstand und Gerichtsort, dem fehlenden Interesse des Torpedoklägers an der Verfahrensführung im Ausland und sonstiger Umstände auf dessen Absichten zu schließen. In der Existenz von Rechtssachen wie Weitkämper-Krug zeigt sich, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte durchaus mit derart künstlichen Gestaltungen zu tun haben, in denen zur bloßen Verfahrensverzögerung die Strukturfehler des Europäischen Zivilverfahrensrechts ausgenutzt werden.64 Die obigen Ausführungen haben auch gezeigt, dass selbst die Verfahrensführung in einem besonders überlasteten Gericht oder Mitgliedstaat ein Umstand sein kann, der bei der Beurteilung der Missbrauchsabsicht einbezogen werden kann. Der Gerichtshof lässt eine Einschränkung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens in anderen Zusammenhängen gerade in diesen Fällen zu; stichhaltige Gründe, warum dies im Europäischen Zivilverfahrensrecht anders sein sollte, existieren meines Erachtens nicht.65 Um aber das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander nicht zu belasten, ist es in der Praxis stets anzuraten, den Fokus auf das Verhalten des Torpedoklägers zu richten. Von einer konditionalen Verknüpfung von Gerichtsstaat und Missbrauchsabsicht ist ohnehin abzusehen, da dies, wie gesagt, nicht zulässig ist. III. Exkurs: Zulässigkeit von anti-suit injunctions in der reformierten EuGVVO? Abschließend soll noch einer Frage nachgegangen werden, die mit der Reform der EuGVVO wieder an Aktualität gewinnen könnte: Sind Gerichte, die aufgrund einer wirksamen ausschließlichen Gerichtsstandsvereinbarung angerufen wurden zum Erlass von anti-suit injunctions und ähnlich strukturierten Unterlassungsverfügungen berechtigt, um missbräuchliche Verfahren vor ausländischen und früher angerufenen Gerichten zu verhindern?66 Hintergrund ist die neu eingeführte Regelung des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO, nach der ein als ausschließlich zuständig vereinbartes Gericht ohne Rücksicht auf die entgegenstehende Rechtshängigkeit aufgrund des ausländi-
63
Vgl. oben, S. 273. Vgl. oben, S. 297. 65 Vgl. oben im Text bei Kap. 2 Fn. 414. 66 Angedacht bei Ivanova, 27 Merkourios-Utrecht J.Int'l & Eur. L (2010) 12, 15. 64
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
schen Verfahrens, über die Wirksamkeit der Prorogation und damit zwangsläufig über die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts befinden darf.67 Dem zuerst angerufenen Gericht wird im Anwendungsbereich der Neuregelung die Befugnis zur Zuständigkeitsprüfung vollkommen entzogen. Genau das war eines der Hauptargumente gegen die Zulässigkeit von anti-suit injunctions im Europäischen Zivilverfahrensrecht.68 Zudem ist das zuerst angerufene Gericht gemäß Art. 31 Abs. 2 EuGVVO verpflichtet, sein Verfahren auszusetzen. Es kann folglich nicht mehr pauschal mit einem Eingriff in das Justizsystem anderer Mitgliedstaaten für den Fall des Erlasses von anti-suit injunctions argumentiert werden. Dieser war im Falle von anti-suit injunctions in der Vergangenheit ohnehin nur ein mittelbarer, wegen der personenbezogenen Wirkung der Verfügung69. Das zuerst angerufene Gericht konnte nur deshalb als in seiner Prüfungskompetenz eingeschränkt angesehen werden, da und wenn sich der Kläger dem Drohpotential eines empfindlichen gerichtlichen Ordnungsgeldes beugte und die Klage zurücknahm. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Erlass einer Unterlassungsverfügung bei Nichtaussetzung durch das zuerst angerufene Gericht auf den ersten Blick ein probates Mittel darstellt, dem Regelungsplan des Gesetzgebers zur Durchsetzung zu verhelfen. Selbst wenn man aber den Erlass von Unterlassungsverfügungen zum Schutze eines in der EuGVVO so angelegten Mechanismus an sich für sinnvoll erachtet, muss doch nach den Rechtsfolgen differenziert werden: Nach Art. 31 Abs. 2 EuGVVO ist das zuerst angerufene Gericht nur verpflichtet, sein Verfahren bis zur Zuständigkeitsentscheidung durch das prorogierte Gericht auszusetzen. Eine an den Torpedokläger gerichtete Unterlassungsverfügung wird in der Regel auf Beendigung des Rechtsstreits vor dem ausländischen Gericht abzielen. Zudem ist es dem Torpedokläger gerade nicht möglich, das Verfahren selbst auszusetzen; dies fällt in die alleinige Kompetenz des Gerichts. Auch wenn man in einer Verpflichtung zur Unterlassung der Verfahrensführung eine Verpflichtung des Klägers sehen könnte, die Aussetzung des Verfahrens zu beantragen, würde dies bei Nichtaussetzung durch das Gericht in absehbarer Zeit – was bei einem langsam arbeitenden Justizsystem nicht unüblich sein wird – zu einer Haftungsfalle für den Kläger werden. Für das Stadium bis zur Zuständigkeitsentscheidung durch das prorogierte Gericht kann demnach auch aufgrund der Neuregelung des Rechtshängigkeitsrechts in der EuGVVO eine Unterlassungsverfügung nicht gewährt werden. Anders kann man dies somit allenfalls ab dem Zeitpunkt der Zuständigkeitsfeststellung durch das prorogierte Gericht sehen. Ab diesem Moment ist die Unzuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts bindend festgestellt, womit keinerlei Bedürfnis und Möglichkeit mehr für dieses besteht, das Verfahren 67
Vgl. oben, S. 10. Vgl. oben, S. 277 f. und noch einmal dezidiert Dutta/Heinze, ZEuP 2005, 431, 457. 69 Vgl. oben, Kap. 2 Fn. 357. 68
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
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fortzusetzen bzw. nicht auszusetzen. Würde man den Torpedokläger hier verpflichten, zur Vermeidung unvereinbarer Entscheidungen die Klage zurückzunehmen, entspräche dies zunächst einmal der Rechtsfolge des Art. 31 Abs. 3 EuGVVO Diesbezüglich bestünde also im Unterschied zum Stadium vor Zuständigkeitsfeststellung ein Gleichlauf mit dem Regelungsplan des Gesetzgebers. Die entscheidende Frage ist damit eher eine politische: Will man die Möglichkeit eröffnen, dass mitgliedstaatliche Gerichte Unterlassungsverfügungen an missbräuchlich agierende Kläger erlassen, um so in Konformität mit dem Regelungsplan des Gesetzgebers die Wirksamkeit von Unionsrecht zu garantieren? Die Frage so zu stellen, heißt eigentlich, sie bejahen zu müssen. Allerdings ist Folgendes zu beachten: Die Verfügbarkeit spezifischer Unterlassungsverfügungen und das Vorhandensein einer Gerichtspraxis diesbezüglich unterscheiden sich von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat. Englische Gerichte gewähren sie traditionell recht häufig, auf dem Kontinent sind sie zwar vereinzelt aufgetaucht, nicht allerdings im selben Ausmaß.70 Zwar kann diesbezüglich nicht damit argumentiert werden, dass hiermit die Gefahr der Einschränkung von Unionsrecht auf Grundlage nationalen Rechts und damit eine Verletzung des effet utile-Grundsatzes einherginge.71 Schließlich wäre das Ergebnis bei Gewähr einer Unterlassungsverfügung mit dem Regelungsplan des Gesetzgebers identisch. Es geht vielmehr darum, dass so eine Verschiebung von Gerichtsorten durch Prorogation in diejenigen Mitgliedstaaten drohte, in welchen die Gerichte eher dazu neigen, Unterlassungsverfügungen gegen missbräuchliche Verfahrensführung im Ausland zu gewähren. Dies sind naturgemäß die Gerichte auf den Britischen Inseln, womit eine Wettbewerbsverzerrung einherginge. Ob diese gewollt ist, müsste der EuGH in einem Vorlageverfahren entscheiden. Es ist zu bezweifeln, dass er für seine Entscheidung eine entsprechend differenzierte und nachvollziehbare Argumentation liefern würde. Im schlimmsten Fall wird er lediglich den Gedanken gegenseitigen Vertrauens anführen, wonach eben darauf zu vertrauen sei, dass das letztlich als unzuständig festgestellte Gericht sein Verfahren nicht weiterführen wird. Würde der Gesetzgeber entsprechende Befugnisse nationaler Gerichte selbst einführen, wäre dies im Anwendungsbereich des Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO allerdings systemkonform. IV. Zusammenfassung Wird eine Rechtshängigkeitsregel des Europäischen Zivilverfahrensrechts missbräuchlich in Anspruch genommen, ist ein später angerufenes Gericht unter den Voraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots befugt, in 70 71
Vgl. oben, S. 277 f. und Kap. 2 Fn. 360. Vgl. oben, S. 278.
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
der Sache zu entscheiden. Da auch das zuerst angerufene Gericht mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Verfahren schon gar nicht über die Zuständigkeitsprüfung hinaus betreiben wird, besteht keine reale Gefahr sich widersprechender Entscheidungen. Entweder ist das Gericht schon nach den Vorschriften des Europäischen Zivilverfahrensrechts unzuständig oder es wendet richtigerweise das unionsrechtliche Missbrauchsverbot an und verneint eine an sich gegebene Zuständigkeit, als Folge eines missbräuchlichen forum shoppings. Fällt das zuerst angerufene Gericht dennoch eine Sachentscheidung, würde sich auch diese harmonisch in den Gesamtkontext einfügen: Da als Torpedoklage in der Regel eine negative Feststellungsklage auf Nichtbestehen des später durch den Gläubiger eingeklagten Anspruchs geltend gemacht wird, muss das zuerst angerufene Gericht die Klage (wenigstens) als unbegründet abweisen, während das später angerufene Gericht der Klage des Gläubigers statt gibt.
B. Missbräuchliches forum shopping Das missbräuchliche forum shopping ist deshalb der Fallgruppe des Missbrauchs verfahrensrechtlicher Rechte und Befugnisse zuzuordnen, da der Rechtsschutzsuchende dabei eine Auswahlentscheidung trifft, die im Sinne des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots nicht anzuerkennen ist. Im Gegensatz zur Zuständigkeitserschleichung war das missbräuchliche forum shopping im Europäischen Zivilverfahrensrecht bisher, soweit ersichtlich, noch nicht Gegenstand obergerichtlicher Entscheidungen.72 Auch eine rechtswissenschaftliche Diskussion dazu, wann das Wahlrecht zwischen mehreren nebeneinander verfügbaren Zuständigkeiten missbräuchlich ausgeübt wird, fehlt. Den Ausgangspunkt nachfolgender Untersuchung bildet die im Grundsatz freie Zuständigkeitswahl des Klägers (unten, I.), die jedoch vor allem in Fällen beziehungsarmer Gerichtsstände (unten, II.) den Vorwurf der Missbräuchlichkeit auf sich ziehen kann (unten, III.). I. Der Grundsatz freier Zuständigkeitswahl Von der Zuständigkeitserschleichung unterscheidet sich das missbräuchliche forum shopping durch einen wichtigen Umstand, der auch die Anwendung des Missbrauchsverbots in diesen Fällen beeinflusst und der hier noch einmal betont werden soll: Wird bei der Zuständigkeitserschleichung eine gerichtliche Zuständigkeit zum Zwecke der Rechtsverfolgung zielgerichtet erst geschaffen, übt der Rechtsschutzsuchende in Fällen des missbräuchlichen forum shoppings 72
In der Rechtssache Purrucker hatte der EuGH ebenfalls nicht direkt mit einem missbräuchlichen forum shopping zu tun, sondern bezog sich hierauf nur in seiner Argumentation, vgl. oben, S. 244.
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
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ein ihm grundsätzlich unbeschränkt zustehendes Wahlrecht lediglich missbräuchlich aus.73 Ist das zielgerichtete Schaffen einer Zuständigkeit zum Zwecke einer subjektiv günstigen Rechtsverfolgung im Regelfall unzulässig, weil die Voraussetzungen einer Gerichtsstandsregelung künstlich herbeigeführt werden und deren Zweck damit nicht erreicht wird, liegt es bei der Bewertung einer Auswahlentscheidung zwischen mehreren alternativen Zuständigkeiten gerade umgekehrt: Der Gesetzgeber hat dem Rechtsschutzsuchenden diese Wahlmöglichkeiten bewusst eröffnet. Wird demnach der andere Teil einer Rechtsstreitigkeit durch die Wahl eines subjektiv günstigen Gerichtsstands benachteiligt, ist dies das Ergebnis einer durch den Gesetzgeber getroffenen Abwägung und damit hinzunehmen.74 So kann beispielsweise ein Unternehmer nicht einwenden, er werde durch Klagen von Verbrauchern an deren Wohnsitz gemäß Art. 18 Abs. 1 EuGVVO mit hohen Kosten belastet. Schließlich muss sich der Unternehmer nur deshalb vor dem Wohnsitzgerichtsstand eines Verbrauchers verteidigen, weil und wenn er sich auf dessen Wohnsitzstaat ausgerichtet hat oder dort sonst im Sinne des Art. 17 Abs. 1 EuGVVO wirtschaftlich tätig geworden ist. Bei der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in Fällen möglichen Auswahlmissbrauchs ist dieses Regel-AusnahmeVerhältnis zu beachten. II. Anwendungsfeld: beziehungsarme Gerichtsstände Die Ausführungen im dritten Teil der Arbeit haben gezeigt, dass der Vorwurf missbräuchlicher Gerichtsstandswahl vor allem, wenn nicht ausschließlich, in Zusammenhang mit beziehungsarmen Gerichtsständen der Missbräuchlichkeit auftritt und vor Gericht zugelassen wird. Im deutschen Recht existieren diverse Gerichtsentscheidungen zu sog. fliegenden Gerichtsständen, wobei neben speziellen Zuständigkeitsvorschriften häufig auch der allgemeine deliktische Gerichtsstand aus § 32 ZPO Gegenstand der Diskussion war, dies insbesondere in Fällen von Streuschäden.75 Die Arbeit konzentriert sich im Folgenden daher vor allem auf den allgemeinen Deliktsgerichtsstand des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO, der durch den EuGH insbesondere bei Schädigungshandlungen über das Internet eine erhebliche Ausdehnung erfahren hat. Die so entstandenen Gerichtsstände sind äußerst beziehungsarm und bieten deshalb Raum für eine missbräuchliche Auswahlentscheidung.76
73
Vgl. oben, S. 240 f. Althammer, in: GS Konuralp, S. 103, 110 f. 75 Vgl. oben, S. 240 f. 76 Vgl. oben, S. 243 und Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 23, 49 ff. 74
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
III. Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots Vor einem Rückgriff auf das unionsrechtliche Missbrauchsverbot ist stets zu prüfen, ob der mögliche Missbrauch mit den Mitteln der Auslegung verhindert werden kann. Dies ist in den Fällen missbräuchlicher Zuständigkeitswahl aber deshalb kein gangbarer Weg, weil zum einen die Art und Weise der Ausübung des Wahlrechts und damit auch die subjektiven Motive des Handelnden von zentraler Bedeutung sind, die durch Auslegung nach dem Konzept des Gerichtshofs nicht zu erfassen sind. Zum anderen ist dessen Rechtsprechung durch die schon dargestellte Inflation besonderer Zuständigkeit im Europäischen Zivilverfahrensrecht geprägt.77 Eine einengende Auslegung würde diesem Plan zuwiderlaufen. 1. Zweckwidrigkeit Bei der Beurteilung der Zweckwidrigkeit einer Auswahlentscheidung ergeben sich gewisse Schwierigkeiten, da das Wahlrecht bezüglich alternativer Zuständigkeit dem Kläger im Grundsatz unbeschränkt zugesprochen wird. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass das Wahlrechts nur dazu dient, die Rechtsverfolgung gezielt zu steuern. Kommt es dem Rechtsschutzsuchenden hierauf gar nicht an und erstrebt er verfahrensfremde Zwecke, muss regelnd eingegriffen werden. Dies kann etwa der Fall sein, wenn es einem Kläger durch die Wahl eines abgelegenen Gerichts nur darauf ankommt, den Beklagten mit hohen Reise- und/oder Anwaltskosten zu belasten.78 Ein weiteres Beispiel bieten die Torpedo-Fälle, wenn ein Kläger ein (ausnahmsweise) zuständiges Gericht nur deshalb anruft, weil es chronisch überlastet ist und so in einem anderen Verfahren eine Sachentscheidung verzögert werden kann.79 Im Rahmen des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO und sonstiger Gerichtsstände, die der EuGH weit auslegt, müssen dabei gewisse Friktionen in Kauf genommen werden. Denn vordergründig läuft dies dem Konzept des Gerichtshofs zuwider, Rechtsschutzsuchenden eine möglichst große Wahlmöglichkeit zwischen alternativen Zuständigkeiten zuzubilligen. Dies gilt insbesondere für den allgemeinen Deliktsgerichtsstand der EuGVVO bei Rechtsverletzungen über das Internet. Überall dort, wo ein potentiell ehrverletzender Internetinhalt zugänglich ist, soll ein gerichtliches Verfahren angestrengt werden können.80 Das heißt aber nicht, dass damit die Wahl eines abgelegenen Gerichts ohne Verbindung zu Parteien und Streitgegenstand immer zulässig sein muss. Zwar ist dies die 77
Vgl. oben, S. 242. Vgl. den Fall des LG Aurich, oben, S. 241 und Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 23, 45. 79 Vgl. oben, S. 374. 80 Vgl. insbesondere EuGH, Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269. 78
§ 9 Missbrauch verfahrensrechtlicher Befugnisse und Rechte
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Regel, da die Ausnahme in Anbetracht des Gesagten einer hohen Rechtfertigung bedarf. Ausnahmen sind allerdings möglich. Dass die Praxis ein methodisches Mittel zum Umgang mit derartigen Fällen benötigt, ist offensichtlich. Im deutschen Zivilverfahrensrecht haben die von ihrer Reichweite her ähnlich weiten sog. fliegenden Gerichtsstände diverse Entscheidungen provoziert, in welchen die Gerichte ein Auswahlverhalten bezüglich mehrerer alternativer, nur in Deutschland belegener Gerichtsstände nicht billigten.81 Im internationalen Kontext ist es ungleich wahrscheinlicher, dass ein weit abgelegenes Gericht nur zur Behinderung oder Benachteiligung des anderen Teils in Anspruch genommen werden soll. Damit sind die Hürden im Europäischen Zivilverfahrensrecht zwar hoch, aber nicht unüberwindbar. Das ist aber letztlich folgerichtig: Das Missbrauchsverbot soll den Grundsatz der Wahlfreiheit nicht ohne Not aushebeln. Wenn das Wahlrecht aber in einer Weise eingesetzt wird, die zwar auf der einen Seite die Freiheiten des Binnenmarktes für sich einfordert, auf der anderen Seite aber keinen realen Binnenmarktbezug besitzt, erscheint es durchaus angebracht, die Wahl eines Gerichtsstands nicht zu billigen. Die Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Zuständigkeiten innerhalb der Union besteht schließlich nicht um der Wahlfreiheit Willen, sondern, weil damit die Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt sichergestellt bzw. erhöht werden soll. Fehlt es der Auswahlentscheidung des Klägers an einem realen Binnenmarktbezug, kann er das ihm nur zu diesem Zweck zugesprochene Wahlrecht nicht für sich beanspruchen.82 2. Missbrauchsabsicht Hat man einmal die Zweckwidrigkeit einer Auswahlentscheidung dargelegt, bereitet die Annahme der Missbrauchsabsicht keine größeren Schwierigkeiten. Oben wurde ausgeführt, dass der fehlende Binnenmarktbezug einer Auswahlentscheidung Gegenstand der Zweckwidrigkeitsprüfung ist. Dahinter verbirgt sich letztlich eine künstliche Gestaltung.83 Genau diese indiziert die notwendige Absicht des Handelnden, lediglich einen unionsrechtlichen Vorteil durch sein Verhalten zu erstreben. Widerlegen können wird der dies in den relevanten Fällen nur sehr selten. So wird er schwerlich ‚good business reasons‘ darlegen können, warum er gerade Klage vor einem völlig abgelegenen Gericht ohne Bezug zum Streitgegenstand erheben muss, was dann noch klarer wird, wenn es in der Sache um einen äußerst geringen Streitwert geht.84
81
Vgl. oben, Kap. 2 Fn. 166. Vgl. zu einer ähnlichen Argumentationsstruktur bei der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbot zur Behandlung von Zuständigkeitserschleichungen, oben, S. 348. 83 Vgl. oben, S. 243, 348. 84 Vgl. Lüttringhaus, ZZP 127 (2014), 23, 46 m.w.N. zum deutschen Recht. 82
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3. Kapitel: Einzelne Missbrauchsgestaltungen
IV. Zusammenfassung Missbräuchliches forum shopping als Spielart des Missbrauchs verfahrensrechtlicher Rechte und Befugnisse ist unter den Voraussetzungen des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots unzulässig. Bei der Behandlung dieser Fälle ist darauf zu achten, dass die Ausübung der grundsätzlich unbeschränkten Wahlfreiheit eines Rechtsschutzsuchenden nicht vorschnell mit dem Verdikt der Missbräuchlichkeit versehen wird. In Ausnahmefällen kann allerdings regelnd eingegriffen werden. Die damit einhergehenden Friktionen mit dem Rechtsprechungskonzept des EuGH sind hinzunehmen. Damit wird auch der Schutz des actor sequitur forum rei-Grundsatzes erreicht und verhindert, dass die Freizügigkeit auf dem Binnenmarkt zum Selbstzweck oder als bloßes Mittel zur Benachteiligung eines Verfahrensgegners eingesetzt wird.
Ergebnisse Bezüglich der Verhinderung von Missbrauch im Europäischen Zivilverfahrensrecht existiert ein Sensibilitäts- und Methodendefizit in Rechtswissenschaft und Praxis. Wird die Notwendigkeit eines genuin europäischen Ansatzes zur Verhinderung von Zuständigkeitserschleichungen, missbräuchlichen forum shoppings, Torpedoklagen oder anderer Ausprägungen missbräuchlichen Verfahrenshandelns überhaupt einmal erkannt, erschöpfen sich die gemachten Lösungsvorschläge in aller Regel in einem nicht näher präzisierten Verweis auf ein auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht zu beachtendes Verbot des (Rechts-)Missbrauchs. 1 Insgesamt wird die Diskussion reichlich undifferenziert und unpräzise geführt, wie etwa die Einordnung des forum shopping in den Gesamtzusammenhang missbräuchlichen Verhaltens beispielhaft gezeigt hat.2 Das geschilderte Methodendefizit hat die Arbeit dadurch zu beheben versucht, dass sie Möglichkeiten und Grenzen einer Übertragung des im Unionsrecht mittlerweile fest verankerten sog. unionsrechtlichen Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrecht untersucht hat. Die Arbeit kam dabei zu dem Ergebnis, dass dieser allgemeine Grundsatz des Unionsrechts auch im Bereich der Koordinierung von Verfahren, Zuständigkeiten und neuer eigenständig unionsrechtlicher Mechanismen der Rechtsdurchsetzung Geltung beanspruchen kann.3 Nach einer rechtsvergleichenden Präzisierung des Grundsatzes anhand der Erkenntnisse zu Rechtsmissbrauch und Gesetzesumgehung im nationalen Recht4 und einer detaillierten Analyse möglicher Konfliktlinien mit Systeminteressen und Rechtsgrundsätzen des Europäischen Zivilverfahrensrechts hat sich bestätigt, dass diese einer Anwendung des Missbrauchsverbots im Grundsatz nicht entgegenstehen, sondern nur die Art und Weise eines Rückgriffs hierauf beeinflussen.5 Der unionseinheitliche Ansatz zur Verhinderung von Verfahrensmissbrauch hat dabei den Vorteil, dass im ohnehin nur schwer fassbaren Bereich der
1
Vgl. oben, S. 5 f. Vgl. unten, S. 251 ff. 3 Vgl. oben, S. 179 f. 4 Vgl. oben, S. 24 ff. 5 Vgl. oben, S. 267 ff., 304 ff., 310 f., 316 und zusammenfassend, S. 317. 2
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Ergebnisse
Rechtsfortbildung aufgrund eines empfundenen Billigkeitsdefizits alle Gerichte im Europäischen Justizraum denselben Prüfungsmaßstabs anwenden. Ein Rückgriff auf nationale Rechtsfiguren, wie etwa das deutsche Rechtsmissbrauchsverbot oder die französische fraude à la loi, ist dort allgemein unzulässig, wo der Gesetzgeber erschöpfend regelnd tätig geworden ist, was Folge des Vorrangs von Unionsrechts ist. Dort, wo der Gesetzgeber einen Rückgriff auf nationales Recht ausdrücklich erlaubte, ist die Grenze des effet utile bei der Anwendung nationalen Verfahrensrechts zu berücksichtigen. Wird Unionsrecht aber nicht angewandt, ist dessen praktische Wirksamkeit aufgehoben, demnach auch in diesen Bereichen ein Rückgriff auf nationales Recht kein gangbarer Weg. Schließlich ist es wegen des integrativen Charakters von Unionsrechts und mit Blick auf die fortschreitende Verselbstständigung des Europäischen Zivilverfahrensrechts überzeugend, anstelle nationalen Rechts das unionsrechtliche Missbrauchsverbot anzuwenden. 6 Die proaktive Mitgestaltung europäischer Methodik ist ohnehin eine drängende Aufgabe der Rechtswissenschaft im Europäischen Zivilverfahrensrecht. Mit den schwindenden nationalen Regelungskompetenzen in diesem Bereich sind Fragen, wie diejenige des Verfahrensmissbrauchs, notwendigerweise auf europäischer Ebene zu lösen. Bei der Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots ist das Regelungskonzept des europäischen Gesetzgebers soweit wie möglich zu realisieren, was durch den im Missbrauchsverbot selbst angelegten Vorrang der Auslegung sichergestellt wird. 7 Die Ausführungen haben aber gezeigt, dass eine Lösung von Einzelfallproblemen – der Anpassung des geschriebenen Rechts an Ausnahmesituationen – nur begrenzt auf der Ebene der Auslegung erfolgen kann. Dies hängt zum einen mit der Linie des Gerichtshofs zusammen, den Wirkbereich des Unionsrechts systematisch auszudehnen, zum anderen mit den Besonderheiten missbräuchlicher Inanspruchnahme von Verfahrensrecht, die nur unzureichend durch eine allgemeinverbindliche Auslegung von Rechtsnormen erreicht werden kann.8 Gerade hier gestattet es das unionsrechtliche Missbrauchsverbot, Unionsrecht entgegen der Verpflichtung zur vorbehaltlosen Anwendung in Fällen des Missbrauchs nicht anzuwenden. Die hierbei zu prüfenden Tatbestandsvoraussetzungen hat der EuGH in der Vergangenheit schrittweise präzisiert.9 Operabel wird das Missbrauchsverbot jedoch erst durch das Einbeziehen rechtsvergleichender Erkenntnisse. Die Anwendung des Missbrauchsverbots fällt dabei naturgemäß in die Kompetenz der nationalen Institutionen. Der Gerichtshof sichert sich eine gewisse Einfluss-
6
Vgl. oben, S. 199 ff. Vgl. oben, S. 139. 8 Vgl. oben, S. 143 ff. 9 Vgl. oben, S. 130 ff. 7
Ergebnisse
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nahmemöglichkeit auf die Rechtsanwendung durch die Auslegung des Zweckwidrigkeitskriteriums und durch einen Hinweis auf mögliche Indizien, die zur Ermittlung des subjektiven Elements des Missbrauchstests, der Missbrauchsabsicht, herangezogen werden können. 10 Der Vorgang der Präzisierung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots orientiert sich dabei an den Leitlinien, die im Zusammenhang mit der Präzisierung von Generalklauseln im Unionsrecht festgestellt werden konnten.11 Die Ausgestaltung des Missbrauchsverbots durch den EuGH sichert dabei die praktische Wirksamkeit von Unionsrecht, da nur der Gerichtshof selbst den Maßstab für dessen Nichtanwendung aufstellt und unter Umständen weiterreichende nationale Rechtsfiguren nur unter den Voraussetzungen des hierdurch gesteckten Rahmens angewandt werden dürfen.12 Da dem unionsrechtlichen Missbrauchsverbot die Qualität eines allgemeinen Grundsatzes des Unionsrechts zukommt, ist es in Abwägung zu anderen allgemeinen Grundsätzen zu bringen,13 etwa dem Grundsatz der Rechtssicherheit und dem Gebot, vorhersehbare Zuständigkeiten zu gewähren, dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in die mitgliedstaatliche Rechtspflege, dem Interesse an der Verhinderung von Parallelverfahren und unvereinbarer Entscheidungen und dem Gebot einheitlicher Anwendung von Unionsrecht. Eine Einbeziehung des Missbrauchsverbots in das Europäische Zivilverfahrensrechts war vor allem vor dem Rechtssicherheitsgrundsatz und dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens besonders zu begründen. Beiden wurde in der Vergangenheit eine zentrale Rolle in der Diskussion um die Durchbrechung von Verfahrensrecht aufgrund von Missbrauchserwägungen zugesprochen.14 Der EuGH, dessen Generalanwälte und das rechtswissenschaftliche Schrifttum nehmen diesbezüglich leider oftmals eine äußerst unkritische Haltung ein und erheben insbesondere Rechtssicherheit (faktisch) zu einem Selbstzweck,15 womit sie in fragwürdiger Tradition eines in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten mittlerweile längs überwundenen Verständnisses vom ‚strengen‘ Verfahrensrecht stehen. 16 Argumente für diese Dichotomie existieren jedoch schlichtweg nicht. Insbesondere im Zuständigkeitsrecht wurde ein Unterfall des Rechtssicherheitsgrundsatzes, das Gebot, vorhersehbare Zuständigkeiten zu gewährleisten, gewöhnlich ohne Bezug zu der Schutzrichtung dieses Grundsatzes angewandt. Die fehlende individuelle Schutzwürdigkeit der Akteure in
10
Vgl. zur Zweckwidrigkeitsprüfung, S. 153 und zur Indizienbildung, S. 155 ff. Vgl. oben, S. 148 ff. 12 Vgl. oben, S. 173 ff. 13 Vgl. oben, S. 179 f. 14 Vgl. zum Rechtssicherheitsgrundsatz, S. 220 ff.und zum Grundsatz gegenseitigen Vertrauens in die mitgliedstaatliche Rechtspflege, S. 269 f. mit Fn. 307. 15 Vgl. oben, S. 231 f. 16 Vgl. oben, S. 226 ff. 11
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Ergebnisse
Fällen missbräuchlichen Handelns lässt aber auch hier im Ergebnis eine Anwendung des Missbrauchsverbots zu. 17 Gemeinhin vorgetragene Vorbehalte gegen eine derartige kontextbezogene Beurteilung konnten als nicht überzeugend eingeordnet werden, etwa solche unter Rekurs auf die Ablehnung der forum non conveniens-Doktrin durch den EuGH in Owusu.18 Noch frappierender ist allerdings die Abkopplung des Europäischen Zivilverfahrensrechts von der Rechtsentwicklung in sonstigen Bereichen des Unionsrechts. Die Arbeit konnte zeigen, dass der EuGH in der strukturell dem Zivilverfahrensrecht verwandten Materie des Steuerrechts einen fortschrittlichen Ansatz pflegt und die Rechtssicherheit gegen andere Systeminteressen, insbesondere auch das Interesse an der Verhinderung von (Steuer-)Missbrauch, abwägt.19 Unter dem Blickwinkel einer an den Interessen der Beteiligten ausgerichteten Rechtsanwendung ist diese durch den EuGH tatsächlich vollzogene Abwägung notwendig und nur Ausdruck der mittlerweile auch im Europäischen Zivilverfahrensrecht akzeptierten Interessenjurisprudenz.20 Ein Konflikt des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots mit dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens kann nur dann überhaupt bestehen, wenn ein vom angerufenen Gericht verschiedenes Gericht über die Zuständigkeit des zuerst angerufenen befinden soll oder in irgendeiner Art und Weise in dessen Verfahren versucht einzugreifen. Damit ist ein Konflikt beider Grundsätze nur in den Fällen der Torpedoklage möglich. 21 Diesbezüglich konnte gezeigt werden, dass das in der Vergangenheit aufgestellte Dogma von der Einschätzungsprärogative des zuerst angerufenen Gerichts in dieser Allgemeinheit heute nicht mehr gilt. Der europäische Gesetzgeber22 und der EuGH23 sehen, dass in Randbereichen Zugeständnisse an ein zeitlich nachrangiges Gericht gemacht werden müssen, um (missbräuchliche) Verfahrensverzögerungen zu vermeiden. Dass ein später angerufenes Gericht verbindlich über die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts entscheidet, wird heute dann nicht als Verletzung des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens gewertet, wenn hierdurch einem schützenswerten Belang gedient wird. Das ebenfalls hiermit zusammenhängende Problem paralleler Verfahren löst sich entsprechend auf: Gerichtshof und Gesetzgeber lassen diese dann zu, wenn das Risiko unvereinbarer Entscheidungen nur entsprechend gering ist.24 Die Arbeit hat dargelegt, dass genau
17
Vgl. oben, S. 254 f. Vgl. oben, S. 255 ff. 19 Vgl. oben, S. 232 ff. 20 Vgl. oben, S. 217 ff. 21 Vgl. oben, S. 278 ff. 22 Vgl. oben, S. 290 ff. 23 Vgl. oben, S. 294 ff. 24 Vgl. oben, S. 307 ff. 18
Ergebnisse
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dies bei Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots durch ein zeitlich später angerufenes Gericht der Fall ist und somit ein mit den Vorstellungen von Gesetzgeber und Gerichtshof vereinbares Lösungsmodell existiert. Bei der Behandlung unterschiedlicher Konstellationen missbräuchlichen Verhaltens konnte gezeigt werden, dass das unionsrechtliche Missbrauchsverbot insbesondere in den bisher als problematisch erachteten Fällen unzulässiger bzw. unbegründeter Ankerklagen im Sinne des Art. 8 Nr. 1 EuGVVO zu sinnvollen Ergebnissen führen kann. Die Vorbehalte des EuGH aus Reisch Montage, die Unzulässigkeit einer Ankerklage habe für die Beurteilung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts keine Bedeutung, konnte unter Rekurs auf die Rechtsprechung des EuGH zu sonstigen Missbrauchssachverhalten im Unionsrecht dahingehend ausgelegt werden, dass hiermit nur ein nicht regulierter Rückgriff auf nationales Verfahrensrecht vermieden werden sollte.25 Die Möglichkeit zur Anwendung des unionsrechtlichen Missbrauchsverbots als unionseinheitlicher Ansatz wird hierdurch gerade bestätigt. Bei der Prüfung der Missbrauchsabsicht kann insbesondere die fehlende Verbindung von Gericht und Streitgegenstand ein Indiz für die Absichten des Klägers darstellen. Entscheidungen wie diejenige des Tribunale di Milano im Dunstkreis der Rechtssache Weitkämper-Krug bestätigen, dass es sich hierbei zum einen um einen durch die mitgliedstaatlichen Gerichte zum tatsächlich beschrittenen Weg handelt und zum anderen dass derartige Fälle tatsächlich praktische Relevanz besitzen und somit reguliert werden müssen.26 Weitere Fälle der Zuständigkeitserschleichung sind diejenigen der Schadensprovokation im Rahmen des Art. 7 Nr. 2 EuGVVO. Die Ausführungen zur deutschen und französischen Gerichtspraxis haben gezeigt, dass nationale Gerichte in der Lösung dieser Fälle oftmals einen an nationalen und materiellrechtlichen Kategorien orientierten Ansatz pflegen, der nicht in das europäische Zuständigkeitsrecht übertragen werden kann.27 Auch hier liefert das unionsrechtliche Missbrauchsverbot wieder sinnvolle Lösungen: Die Künstlichkeit der Gestaltung als Indiz für die Missbrauchsabsicht des Klägers kann in den relevanten Fällen der Testbestellungen insbesondere aus der betriebswirtschaftlichen Sinnhaftigkeit einer Bestellung und deren zeitlichen Abstand zur Klageerhebung abgeleitet werden.28 Bei dem Verschieben von Nachlassvermögen, um den Gerichtsstand des Art. 10 Abs. 1 EuErbVO zu erschleichen, konnte noch einmal die Unzulänglichkeit bloßer Auslegung dargelegt werden. Im Ergebnis kann auch hier das unionsrechtliche Missbrauchsverbot in denjenigen Fällen angewandt werden, in welchen ein Erbe Nachlassvermögen in einen Mitgliedstaat verbringt, um 25
Vgl. oben, S. 327. Vgl. oben, S. 333. 27 Vgl. oben, S. 336 ff. und S. 339 f. 28 Vgl. oben, S. 345 f. 26
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Ergebnisse
dort eine günstige Klagemöglichkeit zu erhalten. Auch wenn es praktische Schwierigkeiten bereiten kann, die Absichten des Klägers festzustellen, wird aus dem zeitlichen Zusammenhang von Klageerhebung und Vermögensverschiebung, sowie dem nominalen Umfang dieser Gegenstände auf eine künstliche Gestaltung geschlossen werden können.29 Einen geringen Anwendungsbereich hat das unionsrechtliche Missbrauchsverbot demgegenüber in Fällen des missbräuchlichen forum shoppings. Die Wahlfreiheit des Klägers bezüglicher verschiedener alternativer Zuständigkeiten darf nicht unbesehen eingeschränkt werden, weil eine Gerichtsstandswahl gewisse negative Folgen für den Beklagten hat.30 Allerdings kann das hinter einer Auswahlentscheidung stehende Einfordern von Freizügigkeit dann nicht mehr akzeptiert werden, wenn der Kläger hiermit keine eigenen Interessen verfolgt, die Freiheit auf dem Binnenmarkt nicht (wirtschaftlich) nutzen möchte, was der EuGH in anderem Zusammenhang so mittlerweile recht deutlich formuliert hat. Dies gilt etwa, wenn ein abgelegenes Gericht nur deshalb angerufen wird, um den Beklagten mit hohen Kosten zu schädigen.31 Das Erfordernis des Nachweises entsprechender Motive bleibt freilich. Dies stellt jedoch den Ansatz an sich nicht infrage: Die Beweiswürdigung ist schließlich ureigener Bestandteil richterlicher Rechtsfindung.
29
Vgl. oben, S. 356. Vgl. oben, S. 375. 31 Vgl. oben, S. 377. 30
Conclusion With regard to avoidance and abuse of procedure in European civil procedural law, legal science and practice lack of sensitivity and methodology. Even if it is recognized that abusive appropriation of jurisdiction, fraudulent forum shopping, torpedo action and other forms of abusive procedural conduct need to be dealt with on the basis of a genuine European approach, the proposed solutions in general suffice in imprecisely addressing a principle of prohibition of abuse of law that is said to being valid in European civil procedural law, too.1 The whole discussion is lead rather imprecisely and unsophisticatedly, as is shown by the way the question of forum shopping is put in the context of abuse of procedural rights.2 The abovementioned methodological deficit was sought to being solved in this thesis by taking under scrutiny the possibilities and limits of transferring the so called European prohibition of abuse of law principle into the field of European civil procedural law; a principle that meanwhile is firmly established in EU law. As a result, this thesis found that this general principle of EU law also has to be recognized in the field of coordinating parallel proceedings, jurisdiction and new genuine European mechanisms of legal enforcement.3 After having defined the principle on the basis of a comparative law approach more precisely, what also took into account detailed findings on circumvention of law and abuse of law on a national level4 and possible conflicts with foundational interests and general principles of European civil procedural law, this thesis was able to confirm that the latter do not hinder applying the principle but simply influence the way of applying it.5 Since applying and developing law due to a lack of fairness and equity is rather elusive, one big advantage of using a union-wide uniform approach in dealing with abuse of procedure is that every court would apply the same standard test. Using national legal concepts like the German Rechtsmissbrauchsverbot or the French fraude à la loi is prohibited in areas that have been legally covered exhaustively by the European law maker, what is a consequence of the 1
See pp. 5 et seq. See pp. 251 et seq. 3 See pp. 179 et seq. 4 See pp. 24 et seq. 5 See pp. 267 et seq., 304 et seq., 310 et seq., 316 and p. 317. 2
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Conclusion
priority that EU law takes over national law. But even if the law maker expressively allows national courts to use national law, the effet utile-principle limits the use of national concepts. Since applying these national concepts ultimately removes the practical effect of EU law, also in this area the recourse on national law is not possible. Finally, due to the integrative nature of EU law and its continuous development towards an independent legal order, using the European abuse of law principle instead of national concepts is more convincing.6 Moreover, the proactive construction of a genuine European legal method anyway is a pressing issue of legal science in European civil procedural law. Since national competences in this area fade more and more, issues like abuse of procedure have inevitably to be solved on a European level. Because of the priority of interpretation over non-application, which is an integral part of the abuse principle, the regulatory concept of European law is guaranteed to be put into effect as far as possible.7 However, this thesis found interpretation to be only of limited use in solving individual legal problems, meaning adjusting scripted law to exceptional situations. This follows from the approach of the ECJ, which is focused on a systematic enlargement of the scope of application of EU law and from specific features of abuse of procedural rights which cannot be solved satisfyingly by interpretation of law with regard to its erga omnes-effects.8 Specifically, in these cases the prohibition of abuse of law principle permits to not apply EU law, leaving aside the general obligation of applying it unconditionally. The prerequisites of the abuse test have been defined more and more precisely by the ECJ in the past.9 Practical usage though only is possible if findings of comparative law are observed. Applying the principle thereby naturally falls within the competence of national institutions. The ECJ, however, secures itself a certain degree of influence on the application of the principle by drafting the objective criterion of the abuse test and by pointing out possible indications that can be used in assessing the subjective criterion.10 The process of legally moulding the prohibition of abuse of law principle resembles the process of specifying general clauses in EU law.11 By drafting the prohibition of abuse of law principle itself, the ECJ secures the practical effect of EU law, because it is the Court that sets the standard for not applying EU law, limiting more far-reaching national concepts to the prerequisites of the frame set.12
6
See pp. 199 et seq. See pp.139 et seq. 8 See pp. 143 et seq. 9 See pp. 130 et seq. 10 See for the objective criterion p. 153 und for indications pp. 155 et seq. 11 See pp. 148 et seq. 12 See pp. 173 et seq. 7
Conclusion
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As the prohibition of abuse of law principle is a general principle of EU law, it has to be balanced with other general principles,13 such as the principle of legal certainty, the principle of foreseeability of jurisdiction, the principle of mutual trust in the administration of justice in the Member States, the need for avoiding parallel proceedings and irreconcilable judgments and the requirement of uniform application of EU law. Especially with regard to the principles of legal certainty and mutual trust, the possibility of applying the prohibition of abuse of law principle in the area of European civil procedural law needed special justification. This is because both principles were in the past found to play a central role in discussing the possibilities of not applying procedural law due to considerations of abusive conduct.14 In that context, the ECJ, Advocates General and legal scholars unfortunately often have a very uncritical attitude and especially understand legal certainty as an aim in itself,15 thereby dubiously keeping up the tradition of ‘strict’ procedural law which in the Member states was overcome long time ago.16 However, there simply is no reason for such a dichotomy. In particular, the principle of foreseeability of jurisdiction as a sub-category of the principle of legal certainty used to be applied without regard to its scope of protection. In cases of abusive conduct the prohibition of abuse of law principle may also be applied in this context due to the reduced need for protection of the actors.17 Commonly made reservations towards such a contextualised assessment of interests were found to be not convincing, especially the recourse on the Owusucase and its rejection of the doctrine of forum non conveniens by the ECJ.18 But even more striking is the manner in which the development of law in European civil procedural law was detached from the development in other parts of EU law. This thesis found that the ECJ in tax law, which is by its structure to a high degree comparable to civil procedural law, indeed weighs legal certainty against other foundational interests, especially the interest of protection of abuse of (tax) law and thereby applies a progressive concept.19 Taking the interests of parties into account and applying law from this point of view demands, what is done by the ECJ in tax law, a valuing of interests as being the core of the Jurisprudence of Interests, which meanwhile is accepted in European civil procedural law, too.20
13
See pp. 179 et seq. See for principle of legal certainty pp. 220 et seq and for principle of mutual trust pp. 269 et seq with fn 307. 15 See pp. 231 et seq. 16 See pp. 226 et seq. 17 See pp. 254 et seq. 18 See pp. 255 et seq. 19 See pp. 232 et seq. 20 See pp. 217 et seq. 14
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Conclusion
Conflicts of the European prohibition of abuse of law principle with the principle of mutual trust can only occur, if one court decides upon the jurisdiction of a court which was seized first or if it tries to interfere with the procedure of the latter. Thus, the two principles may only conflict in cases of torpedo actions.21 In this respect, this thesis found that the formerly created dogma of prerogative of the court seized first is not valid anymore in its former generality. The European legislator22 and the ECJ23 both acknowledge that to a certain degree concessions have to be made to a court seized later, in order to avoid (abusive) delays of procedure. As a consequence, binding decisions upon the jurisdiction of a court seized first by another court are not seen as a violation of mutual trust, if thereby interests worth protecting are served. The related issue of parallel proceedings thus resolves respectively: The ECJ and the legislator admit these if the risk of irreconcilable judgements only is sufficiently low.24 This thesis found that exactly this is case, if the European prohibition of abuse of law principle is applied by a court seized later, meaning that this is a solution being consistent with the ideas of the legislator and the ECJ. Dealing with different types of abusive conduct, it was shown that the European prohibition of abuse of law principle especially can serve as a basis for reasonable results in cases of inadmissible resp. unfounded action against the anchor defendant under Art. 8(1) Brussels I. The reservations made by the ECJ in Reisch Montage, according to which the inadmissibility of an action against the anchor defendant according to national law does not influence the jurisdiction under this article, were interpreted with recourse to the case law of the ECJ on other cases of abuse in EU law that hereby only uncontrolled recourse on national procedural law should be avoided.25 This confirms the possibility of applying the European prohibition of abuse of law principle as a Union-wide uniform approach. In assessing the prerequisite of abusive reliance in these cases, especially the missing connection of court and subject-matter can be an indication for the intentions of the claimant. Decisions like the one of the Tribunale di Milano in connection with the Weitkämper-Krug-case on the one hand show that national courts actually embark on this path and on the other hand such cases, as a matter of fact, are of practical relevance and thus need to be regulated.26 Provoking damages under Art. 8(1) Brussels I represents another form of fraudulent appropriation of jurisdiction. With recourse to the remarks made to German and French court practice, it was shown that national courts often tend 21
See pp. 278 et seq. See pp. 290 et seq. 23 See pp. 294 et seq. 24 See pp. 307 et seq. 25 See p. 327. 26 See p. 333. 22
Conclusion
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to deal with these cases using an approach that is founded both on national and substantive law, making it thereby impossible to applying it in the field of the European rules of jurisdiction.27 Again, in these cases the European prohibition of abuse of law principle offers reasonable solution: The artificiality of conduct as an indication for abusive reliance of the claimant in cases of test orders can be deduced especially from the missing economical reasonableness of such an order and the time elapsed until the claimant takes legal action.28 With regard to Art. 10(1) Succession Regulation it was shown once again that mere interpretation is insufficient to deal with cases, where assets are shifted in order to fraudulently obtain the aforementioned forum. In the end, the European prohibition of abuse of law principle can be applied in cases where a successor moves assets of the deceased to a Member state, in order to obtain a beneficial forum there. Although it can be rather difficult to assess the intentions of the claimant, the time elapsed since the transfer of assets and the initiation of legal action as well as the value of these assets can imply the artificiality of the conduct.29 In cases of abusive forum shopping, the European prohibition of abuse of law principle is only of limited application. The freedom of choice of the claimant with regard to different alternatively competent courts may not be curtailed simply because choosing a court having jurisdiction has certain negative effects on the defendant.30 However, the call for the fundamental freedoms, which are the pillars of the right of choice, may not be accepted if the claimant thereby does not pursue individual interests by using the freedom of the internal market (economically), what is put by the ECJ this way in different context rather distinctively. Artificial conduct for example may be assumed if a remote court is seized only to harm the defendant with high costs.31 The necessity of proving the relevant motives remains. However, this does not question the approach as such: Considering evidence is a very own part of judicial decision.
27
See pp. 336 et seq and pp. 339 et seq. See pp. 345 et seq. 29 See p. 356. 30 See p. 375. 31 See p. 377. 28
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Entscheidungsverzeichnis A. Gerichtshof der Europäischen Union I. Europäischer Gerichtshof Urt. v. 12.7.1957, verb. Rs. 7/56 und 3-7/57 (Frl. Dineke Algera u.a. ./. gemeinsame Versammlung der EGKS), Slg. 1957, 85 Urt. v. 5.2.1963, Rs. 26/62 (NV Algemene Transport-en Expeditie Onderneming van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1 Urt. v. 15.7.1964, Rs. 6/64 (Flaminio Costa ./. E.N.E.L.), Slg. 1964, 1251 Urt. v. 8.7.1965, Rs. 110/63 (Alfred Willame ./. Kommission), Slg. 1965, 865 Urt. v. 12.11.1969, Rs. 29/69 (Erich Stauder ./. Stadt Ulm – Sozialamt), Slg. 1969, 419 Urt. v. 3.12.1974, Rs. 33/74 (Johannes Henricus Maria van Binsbergen ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Metaalnijverheid), Slg. 1974, 1299 Urt. v. 6.10.1976, Rs. 12/76 (Industrie Tessili ./. Dunlop AG), Slg. 1976, 1473 Urt. v. 30.11.1976, Rs. 21/76 (Handelskwekerij G. J. Bier BV ./. Mines de potasse d'Alsace SA), Slg. 1976, 1735 Urt. v. 11.10.1977, Rs. 125/76 (Firma Peter Cremer ./. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1977, 1593 Urt. v. 13.2.1979, Rs. 85/76 (Hoffmann-La Roche & Co. AG ./. Kommission), Slg. 1979, 461 Urt. v. 20.2.1979, Rs. 120/78 (Rewe-Zentral AG ./. Bundesmonopolverwaltung für Brantwein), Slg. 1979, 649 Urt. v. 24.6.1981, Rs. 150/80 (Elefanten Schuh GmbH ./. Pierre Jacqmain), Slg. 1981, 1671 Urt. v. 7.10.1981, Rs. 250/80 (Anklagemyndigheden ./. Hans Ulrich Schumacher u.a.), Slg. 1981, 2465 Urt. v. 12.11.1981, Rs. 543/79 (Anton Birke ./. Kommission u.a.), Slg. 1981, 2669 Urt. v. 6.10.1982, Rs. 283/81 (Srl CILFIT u.a. ./. Ministero della Sanità) Slg. 1982, 3415 Urt. v. 1.3.1983, Rs. 250/78 (Deka Getreideprodukte, i.L. ./. Europäische Wirtschaftsgemeinschaft), Slg. 1983, 412 Urt. v. 22.3.1983, Rs. 42/82 (Kommission ./. Französische Republilk), Slg. 1983, 1013 Urt. v. 10.1.1985, Rs. 229/83 (Association des Centres distributeurs Edouard Leclerc u.a. ./. „Au blé vert“ u.a.), Slg. 1985, 1 Urt. v. 4.7.1985, Rs. 220/84 (AS-Autoteile Service GmbH ./. Pierre Malhé), Slg. 1985, 2267 Urt. v. 14.11.1985, Rs. 299/84 (Firma Karl-Heinz Neumann ./. Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung), Slg. 1985, 3663 Urt. v. 8.12.1987, Rs. 144/86 (Gubisch Maschinenfabrik KG ./. Giulio Palumbo), Slg. 1987, 4861 Urt. v. 21.6.1988, Rs. 39/86 (Sylvie Lair ./. Universität Hannover), Slg. 1988, 3161
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Entscheidungsverzeichnis
Urt. v. 27.9.1988, Rs. 81/87 (The Queen ./. H. M. Treasury and Commissioners of Inland Revenue, ex parte Daily Mail u.a.), Slg. 1988, 5483 Urt. v. 27.9.1988, Rs. 189/87 (Athanasios Kalfelis ./. Bankhaus Schröder u.a.), Slg. 1988, 5565 Urt. v. 15.3.1989, Rs. 51/88 (Knut Hamann ./. Finanzamt Hamburg-Eimsbüttel), Slg. 1989, 767 Urt. v. 11.5.1989, Rs. 25/88 (Strafverfahren gegen Esther Renée Wurmser, verwitwete Bouchara, und Firma Norlaine), Slg. 1989, 1105 Urt. v. 15.5.1990, Rs. C-365/88 (Kongress Agentur Hagen GmbH ./. Zeehaghe BV), Slg. 1990, I-1845 Urt. v. 21.2.1991, verb. Rs. C-143/88 und C-92/89 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG ./. Hauptzollamt Itzehoe; Zuckerfabrik Soest GmbH./. Hauptzollamt Paderborn), Slg. 1991, I-415 Urt. v. 27.6.1991, Rs. C-351/89 (Overseas Union Insurance Ltd u.a. ./. New Hampshire Insurance Company), Slg. 1991, I-3317 Urt. v. 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90 (Andrea Francovich u. a. ./. Italienische Republik), Slg. 1991, I-5357 Urt. v. 17.6.1992, Rs. C-26/91 (Jakob Handte & Co. GmbH ./. Traitements mécano-chimiques des surfaces SA), Slg. 1992, I- 3967 Urt. v. 16.12.1992, Rs. C-211/91 (Kommission ./. Königreich Belgien), Slg. 1992, I-6773 Urt. v. 3.2.1993, Rs. C-148/91 (Vereniging Veronica Omroep Organisatie ./. Commissariaat voor de Media), Slg. 1993, I-487 Urt. v. 3.3.1993, Rs. C-8/92 (General Milk Products GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 1993, I-779 Urt. v. 29.6.1994, Rs. C-288/92 (Custom Made Commercial Ltd ./. Stawa Metallbau GmbH), Slg. 1994, I-2913 Urt. v. 5.10.1994, Rs. C-23/93 (TV10 ./. Commissariaat voor de Media),Slg. 1994, I-4824 Urt. v. 7.3.1995, Rs. C-68/93 (Fiona Shevill u.a. ./. Press Alliance SA), Slg. 1995, I-415 Urt. v. 13.6.1995, Rs. C-156/93 (Europäisches Parlament ./. Kommission), Slg. 1995, I-2019 Urt. v. 15.12.1995, Rs. C-415/93 (Union royale belge des sociétés de football association ASBL ./. Jean-Marc Bosman, u.a.), Slg. 1995, I-4921 Urt. v. 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93 (Brasserie du Pêcheur ./. Deutschland; Regina ./. Secretary for Transport, ex parte Factortame Ltd) Slg. 1996, I-1029 Urt. v. 12.3.1996, Rs. C-441/93 (Panagis Pafitis u.a. ./. Trapeza Kentrikis Ellados A.E. u.a.), Slg. 1996, I-1347 Urt. v. 2.5.1996, Rs. C-206/94 (Brennet AG ./. Vittorio Paletta), Slg. 1996, I-2357 Urt. v. 20.2.1997, Rs. C-106/95 (Mainschiffahrts-Genossenschaft eG (MSG) ./. Les Gravières Rhénanes SARL), Slg. 1997, I-911 Urt. v. 12.5.1998, Rs. C-367/96 (Alexandros Kefalas u.a. ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 1998, I-2843 Urt. v. 27.10.1998, Rs. C-51/97 (Réunion européenne u.a. ./. Spliethoff's Bevrachtingskantoor u.a.), Slg. 1998, I-6534 Urt. v. 9.3.1999, Rs. C-212/97 (Centros Ltd ./. Erhvervs- og Selskabsstyrelsen), Slg. 1999, I-1459 Urt. v. 14.10.1999, Rs. C-223/98 (Adidas AG), Slg. 1999, I-7081 Urt. v. 23.3.2000, Rs. C-373/97 (Dionysios Diamantis ./. Elliniko Dimosio u.a.), Slg. 2000, I-1705 Urt. v. 28.3.2000, Rs C-7/98 (Dieter Krombach ./. André Bamberski), Slg. 2000, I-1935
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Urt. v. 6.6.2000, Rs. C-281/98 (Roman Angonese ./. Cassa di Risparmio di Bolzano SpA), Slg. 2000, I-4139 Urt. v. 27.6.2000, verb. Rs. C-240-244/98 (Océano Grupo Editorial SA ./. Roció Murciano Quintero; Salvat Editores SA ./. José M. Sánchez Alcón Prades; u.a.), Slg. 2000, I-4941 Urt. v. 14.12.2000, Rs. C-110/99 (Emsland-Stärke GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2000, I-11569 Urt. v. 5.1.2002, Rs. C-208/00 (Überseering BV ./. Nordic Construction Company Baumanagement GmbH (NCC), Slg. 2002, I-9919 Urt. v. 30 9.2003, Rs. C-167/01 (Kamer van Koophandel en Fabrieken voor Amsterdam ./. Inspire Art Ltd), Slg. 2003, I-10155 Urt. v. 23.10.2003, Rs. C-245/01 (RTL Television GmbH ./. Niedersächsische Landesmedienanstalt für privaten Rundfunk), Slg. 2003 I-12489 Urt. v. 9.12.2003, Rs. C-116/02 (Erich Gasser ./. MISAT Srl.), Slg. 2003, I-14693 Urt. v. 1.4.2004, Rs. C-237/02 (Freiburger Kommunalbauten GmbH Baugesellschaft & Co. KG ./. Ludger Hofstetter und Ulrike Hofstetter), Slg. 2004, I-3403 Urt. v. 27.4.2004, Rs. C-159/02 (Gegory Paul Turner ./. Felix Fareed Ismail Grovit u.a.), Slg. 2004, I-3565 Urt. v. 29 4.2004, verb. Rs. C-487/01 und C-7/02 (Gemeente Leusden [C-487/01] und Holin Groep BV cs [C-7/02] ./. Staatssecretaris van Financiën), Slg. 2004, I-5337 Urt. v. 12.9.2006, Rs. C-196/04 (Cadbury Schweppes plc u.a. ./. Commissioners of Inland Revenue), Slg. 2006, I-7995 Urt. v. 1.3.2005, Rs. C-281/02 (Andrew Owusu ./. N. B. Jackson, Inhaber der Firma „Villa Holidays Bal-Inn Villas“ u.a.), Slg. 2005, I-1383 Urt. v. 26.5.2005, Rs. C-77/04 (Groupement d'intérêt économique [GIE] Réunion européenne u.a. ./. Zurich España u.a.), Slg. 2005, I-4509 Urt. v. 21.7.2005, Rs. C-515/03 (Eichsfelder Schlachtbetrieb GmbH ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas), Slg. 2005, I-7355 Urt. v. 11.11.2005, Rs. C-144/04 (Werner Mangold ./. Rüdiger Helm), Slg. 2005, I-9981 Urt. v. 21.2.2006, Rs. C-255/02 (Halifax plc u.a. ./. Commissioners of Customs & Excise), Slg. 2006, I-1609 Urt. v. 6.4.2006, Rs. C-456/04 (Agip Petroli SpA ./. Capitaneria di porto di Siracusa u.a), Slg. 2006, I-3395 Urt. v. 2.5.2006, Rs. C-341/04 (Eurofood IFSC Ltd), Slg. 2006, I-3813 Urt. v. 13.7.2006, Rs. C-539/03 (Roche Nederland BV u. a. ./. Frederick Primus und Milton Goldenberg), Slg. 2006, I-6535 Urt. v. 11.1.2007, Rs. C-279/05 (Vonk Dairy Products BV ./. Productschap Zuivel), Slg. 2007, I-239 Urt. v. 5.6.2007, Rs. C-321/05 (Hans Markus Kofoed ./. Skatteministeriet), Slg. 2007, I-5795 Urt. v. 7.6.2007, Rs. C-178/05 (Kommission ./. Hellenische Republik), Slg. 2007, I-4185 Urt. v. 11.10.2007, Rs. C-98/06 (Freeport plc ./. Ole Arnoldsson), Slg. 2007, I-8319 Urt. v. 21.2.2008, Rs. C-425/06 (Ministero dell’Economia e delle Finanze ./. Part Service Srl.), Slg. 2008, I-897 Urt. v. 22.5.2008, Rs. C-162/07 (Ampliscientifica Srl und Amplifin SpA ./. Ministero dell’Economia e delle Finanze und Agenzia delle Entrate), Slg. 2008, I-4019 Urt. v. 22.5.2008, Rs. C-462/06 (Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline ./. Jean-Pierre Rouard), Slg. 2008, I-3965 Urt. v.11.7.2008, Rs. C-195/08 PPU (Inga Rinau), Slg. 2008, I-5271 Urt. v. 2.4.2009, Rs. C-394/07 (Mario Gambazzi ./. Daimler Chrysler Canada Inc. u.a.), Slg. 2009, I-2563
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Entscheidungsverzeichnis
Urt. v. 4.6.2009, Rs. C-158/08 (Agenzia Dogane Ufficio delle Dogane di Trieste ./. Pometon SpA), Slg. 2009, I-4695 Urt. v. 9.7.2009, Rs. C-204/08 (Peter Rehder ./. Air Baltic Corporation), Slg. 2009, I-6073 Urt. v. 1.3.2010, Rs. C-19/09 (Wood Floor Solutions Andreas Domberger GmbH ./. Silva Trade SA), Slg. 2010, I-2121 Urt. v. 15.7.2010, Rs. C-256/09 (Bianca Purrucker ./. Guillermo Vallés Pérez), Slg. 2010, I7353 Urt. v. 22.10.2010, Rs. C-491/10 PPU (Joseba Andoni Aguirre Zarraga ./: Sabine Pelz), Slg. 2010, I-14247 Urt. v. 7.12.2010, Rs. C-285/09 (Strafverfahren gegen R.), Slg. 2010, I-12605 Urt. v. 22.12.2010, Rs. C-303/08 (Metin Bozkurt ./. Land Baden-Württemberg), Slg. 2010, I-13445 Urt. v. 22.12.2010, Rs. C-277/09 (The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs ./. RBS Deutschland Holdings GmbH), Slg. 2010, I-13805 Urt. v. 22.12.2010, Rs. C-491/09 PPU (Joseba Andoni Aguirre Zarraga ./. Simone Pelz), Slg. 2010, I-14247 Urt. v. 15.3.2011, Rs. C-29/10 (Heiko Koelzsch ./. État du Großherzogtum Luxemburg), Slg. 2011, I-1595 Urt. v. 5.5.2011, verb. Rs. C-230/09 und C-231/09 (Hauptzollamt Koblenz ./. Kurt und Thomas Etling in GbR; Hauptzollamt Oldenburg ./. Theodor Aissen u.a.), Slg. 2011, I3097 Urt. v. 21.7.2011, Rs. CFr-186/10 (Tural Oguz ./. Secretary of State for the Home Department), Slg. 2011, I-6957 Urt. v. 8.9.2011, verb. Rs. C-78/08 bis 80/08 (Ministero dell’Economia e delle Finanze und Agenzia delle Entrate ./. Paint Graphos Soc. coop. Arl; u.a.), Slg. 2011, I-7611 EuGH, Urt. v. 13.10.2011, Rs. C-139/10 (Prism Investments BV ./. Jaap Anne van der Meer), Slg. 2011, I-9511 Urt. v. 18.10.2011, Rs. C-406/09 (Realchemie Nederland BV ./. Bayer CropScience AG), Slg. 2011, I-9773 Urt. v. 25.10.2011, verb. Rs. C-509/09 und C-161/10 (eDate Advertising GmbH ./. X; Olivier Martinez und Robert Martinez ./. MGN Limited), Slg. 2011, I-10269 Urt. v. 27.10.2011, Rs. C-504/10 (Tanoarch s.r.o. ./. Daňové riaditeľstvo Slovenskej republiky), Slg. 2011, I-10853 Urt v. 17.11.2011, Rs. C-327/10 (Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner), Slg. 2011, I11543 Urt. v. 10.11.2011, Rs. C-126/10 (Foggia – Sociedade Gestora de Participações Sociais SA ./. Secretário de Estado dos Assuntos Fiscais), Slg. 2011, I-10923 Urt v. 17.11.2011, Rs. C-327/10 (Hypoteční banka a.s. ./. Udo Mike Lindner), Slg. 2011, I11543 Urt. v. 1.12.2011, Rs. C-145/10 (Eva-Maria Painer ./. Standard VerlagsGmbH u.a.), Slg. 2011, I-12533 Urt. v. 21.12.2011, Rs. C-72/11 (Strafverfahren gegen Mohsen Afrasiabi u.a.), Slg. 2011, I14285 Urt. v. 26.1.2012, Rs. C-586/10 (Bianca Kücük ./. Land Nordrhein-Westfalen), EuZW 2012, 143 Urt. v. 15.3.2012, Rs. C-292/10 (G ./. Cornelius de Visser), EuZW 2012, 381 Urt. v. 12.7.2012, Rs. C-616/10 (Solvay SA ./. Honeywell Fluorine Products Europe u.a.), GRUR 2012, 1169 Urt. v. 19.7.2012, Rs. C-33/11 (A Oy), UR 2012, 873
Entscheidungsverzeichnis
425
Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-190/11 (Daniela Mühlleitner ./. Ahmad Yusufi und Wadat Yusufi), NJW 2012, 3225 Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-619/10 (Trade Agency Ltd ./. Seramico Investments Ltd), EuZW 2012, 912 Urt. v. 6.9.2012, Rs. C-324/11 (Gábor Tóth ./. Nemzeti Adó- és Vámhivatal Észak-magyarországi Regionális Adó Főigazgatósága), RIW 2013, 492 Urt. v. 16.10.2012, Rs. C-364/10 (Ungarn ./. Slowakische Republik), BeckRS 2012, 82022 Urt. v. 25.10.2012, Rs. C-133/11 (Folien Fischer AG u.a. ./. Ritrama SpA), EuZW 2012, 950 Urt. v. 6.12.2012, Rs. C-285/11 (BONIK (EOOD) ./. Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ – Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite) DStRE 2013, 803 Urt. v. 13.12.2012, Rs. C-215/11 (Iwona Szyroka ./. SiGer Technologie GmbH), EuZW 2013, 147 Urt. v. 15.12.2012, Rs. C-456/11 (Gothaer Allgemeine Versicherung AG u.a. ./. Samskip GmbH), EuZW 2013, 60 Urt. v. 31.1.2013, Rs. C-643/11 (LVK – 56 EOOD ./. Direktor na Direktsia «Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto» – Varna pri Tsentralno upravlenie na Natsionalnata agentsia za prihodite), DStRE 2013, 745 Urt. v. 11.4.2013, Rs. C-645/11 (Land Berlin ./. Ellen Mirjam Sapir u.a.), NJW 2013, 1661 Urt. v. 16.5.2013, Rs. C-228/11 (Melzer ./. MF Global UK Ltd.), EuZW 2013, 544 Urt. v. 20.6.2013, Rs. C-653/11 (Her Majesty’s Commissioners of Revenue and Customs ./. Paul Newey), DStRE 2014, 32 Urt. v. 26.9.2013, Rs. C-157/12 (Salzgitter Mannesmann Handel GmbH ./. SC Laminorul SA), NJW 2014, 203 Urt. v. 17.10.2013, Rs. C-184/12 (United Antwerp Maritime Agencies (Unamar) NV ./. Navigation Maritime Bulgare), EuZW 2013, 956 Urt. v. 5.12.2013, Rs. C-508/12 (Walter Vapenik ./. Josef Thurner), NJW 2014, 841 Urt. v. 12.12.2013, Rs. C-116/12 (Ioannis Christodoulou u.a. ./. Elliniko Dimosio), ZfZ 2014, 66 Urt. v.19.12.2013, Rs. C-452/12 (Nipponkoa Insurance Co. (Europe) Ltd ./. Inter-Zuid Transport BV), EuZW 2014, 220 Urt. v. 19.12.2013, Rs. C-84/12 (Rahmanian Koushkaki ./. Bundesrepublik Deutschland), NVwZ 2014, 289 Urt. v. 27.2.2014, Rs. C-1/13 (Cartier parfums – lunettes SAS und Axa Corporate Solutions assurances SA ./. Ziegler France SA u.a.), EuZW 2014, 340 Urt. v. 13.3.2014, Rs. C-107/13 (FIRIN OOD ./. Direktor na Direktsia «Obzhalvane i danachno-osiguritelna praktika»), DStR 2014, 650 Urt. v. 3.4.2014, Rs. C-438/12 (Irmengard Weber ./. Mechthilde Weber), EuZW 2014, 469 Urt. v. 28.1.2015, Rs. C-375/13 (Harald Kolassa ./. Barclays Bank plc), BeckRS 2015, 80163
II. Europäisches Gericht Urt. v. 7.2.2001, Rs. T-186/98 (Compañía Internacional de Pesca y Derivados (Inpesca) SA ./. Kommission), Slg. 2001, II-557 Urt. v. 21.6.2006, Rs. T-47/02 (Manfred Danzer u.a. ./. Rat), Slg. 2006, II-1779 Urt. v. 8.5.2007, Rs. T-271/04 (Citymo SA ./. Kommission), Slg. 2007, II-1375 Urt. v. 9.9.2009, Rs. T-301/04 (Clearstream Banking AG u.a. ./. Kommission), Slg. 2009, II-3155
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B. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Urt. v. 16.12.2010, 39778/07, 11171/08, 43336/08, 52719/08, 15895/09, 16123/09, 16127/09, 16129/09, 27529/09, 27533/09, 27596/09 – Dudek ./. Deutschland
C. Gerichte der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Rechtsvorgänger I. Bundesverfassungsgericht Entscheidung v. 22.7.1970, 1 BvR 285/66, 1 BvR 445/67, 1 BvR 192/69, BVerfGE 29, 104 Entscheidung v. 26.1.1972, 2 BvR 255/67, BVerfGE 32, 305 Beschl. v. 5.5.1987, 1 BvR 903/85, BVerfGE 75, 302
II. Gemeinsamer Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes Beschl. v. 30.4.1979, GmS-OGB 1/78, BGHZ 75, 340
III. Bundesgerichtshof Urt. v. 28.11.1953, II ZR 203/52, BGHZ 11, 124 Urt. v. 29.11.1956, II ZR 156/55, BGHZ 22, 226 Urt. v. 3.5.1957, V BLw 2/57, WM 1957, 786 Urt. v. 29.3.1960, I ZR 21/59 (unveröffentlicht) Urt. v. 4.12.1964, I b ZR 151/63, NJW 1965, 585 Urt. v. 14.4.1965, Ib ZR 72/63, GRUR 1965, 612 Beschl. v. 14.6.1965, GSZ 1/65, BGHZ 44, 46 Urt. v. 20.3.1967, VII ZR 296/64, BGHZ 47, 289 Urt. v. 3.5.1977, VI ZR 24/75, GRUR 1978, 194 Urt. v. 10.6.1977, V ZR 99/75, NJW 1977, 2072 Urt. v. 16.6.1978, V ZR 73/77, NJW 1978, 2157 Urt. v. 7.12.1979, I ZR 157/77, GRUR 1980, 227 Urt. v. 23.9.1982, VII ZR 183/80, BGHZ 85, 39 Urt. v. 6.5.1985, VIII ZR 119/84, NJW 1985, 2579 Urt. v. 22.5.1989, II ZR 206/88, BGHZ 107, 296 Urt. v. 15.1.1990, II ZR 164/88, BGHZ 110, 47 Urt. v. 2.7.1991, XI ZR 206/90, BGHZ 115, 90 Urt. v. 29.4.1992, XII ZR 40/91 (KG), NJW 1993, 5 Urt. v. 31.3.1993, XII ZR 198/91, BGHZ 122, 163 Beschl. v. 20.3.1996, X ARZ 90/96, BGHZ 132, 195 Urt. v. 11.12.1996, VIII ZR 154/95, BGHZ 134, 201 Urt. v. 5.6.1997, X ZR 73/95, NJW 1997, 3377 Urt. v. 14.12.2000, III ZR 151/99, BGHZ 146, 153 Urt. v. 6.2.2002, VIII ZR 106/01, NJW 2002, 2795 Urt. v. 16.2.2005, IV ZR 18/04, NJW-RR 2005, 619 Beschl. v. 14.4.2005, V ZB 7/05, NJW-RR 2005, 1226
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Urt. v. 23.11.2005, VII ZR 43/05, NJW 2006, 434 Beschl. v. 10.5.2007, V ZB 83/06, BGHZ 172, 218 Urt. v. 16.7.2007, II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 Beschl. v. 14.7.2008, II ZR 204/07, BGH NJW 2008, 3438 Urt. v. 5.11.2008, VIII ZR 166/07, NJW 2009, 508 Beschl. v. 20.11.2008, 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45 Beschl. v. 9.7.2009, IX ZR 29/09, NJW-RR, 2009, 1148 EuGH-Vorlage v. 10.11.2009, VI ZR 217/08, EuZW 2010, 313 EuGH-Vorlage v. 1.2.2011, KZR 8/10, GRUR 2011, 544 Urt. v. 20.9.2011, XI ZR17/11, NJW-RR 2012, 178 Urt. v. 18.4.2013, III ZR 156/12, BGHZ 197, 147 Urt. v. 1.8.2013, VII ZR 6/13, NJW 2013, 3167 EuGH-Vorlage v. 18.9.2013, V ZB 163/12, WM 2013, 2160
IV. Bundesarbeitsgericht Urt. v.12.5.1955, 2 AZR 23/54, BAGE 2, 6 Urt. v. 18.7.2012, 7 AZR 443/09, NJW 2013, 1254
V. Bundesfinanzhof Urt. v. 2.7.1971, I ZR 43/70, NJW 1971, 1749 Urt. v. 19.3.1980, II R 23/77, BFHE 130, 422 Urt. v. 9.3.1994, II R 82/91 Urt. v. 18.1.2001, IV R 58/99, BFHE 194, 377 Urt. v. 24.4.2001, VII R 5/98, ZfZ 2001, 383 Beschl. v. 22.5.2005, X B 164/04 Urt. v. 9.11.2006, VR 43/04, BFHE 215, 379 Beschl. v. 29.7.2009, XI B 24/09, BFHE 226, 449
VI. Bundesverwaltungsgericht Beschl. v. 18.3.1988, 4 B 50/88, NVwZ 1988, 730 Beschl. v. 12.1.2004, 3 B 101/03, NVwZ-RR 2004, 314
VII. Oberlandesgerichte und Landgerichte bzw. Landesarbeitsgerichte OLG Hamm, Urt. v. 15.5.1986, 4 U 326/85, NJW 1987, 138 OLG Hamm, Beschl. v. 13.6.1989, 1 UF 117/89, FamRZ 1989, 1109 OLG München, Urt. v. 15.2.1990, 29 U 5500/89, GRUR 1990, 677 OLG Stuttgart, Beschl. v. 27.7.1998, 20 W 22/97, BeckRS 1998, 16633 LG Konstanz, Urt. v. 14.10.2005, 2 O 593/04 B, 2 O 593/04, IPRspr 2005, Nr. 122, 307 LG Leipzig, Urt. v. 27.2.2006, 12 T 1207/05, ZInsO 2006, 378 OLG Frankfurt, Beschl. v. 29.6.2006, 12 U 195/05, IPRspr 2006, Nr.163, 352 KG Berlin, Beschl. v. 25.1.2008, 5 W 371/07, GRUR-RR 2008, 212 LG Leipzig, Urt. v. 27.5.2008, 5 O 757/06, IPRspr 2008, Nr. 96, 314 LG Düsseldorf, Urt. v. 7.10.2008, 4a O 94/07, BeckRS 2012, 4047 OLG Hamburg, Urt. v. 6.12.2008, 5 U 67/06, NJW-RR 2007, 763 LG Düsseldorf, Beschl. v. 17.3.2009, 4b O 218/08, GRUR-RR 2009, 402
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LG Berlin, Urt. v. 29.10.2009, 33 O 433/07, IPRax 2011, 83 OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.01.2010, I-2 U 127/08, BeckRS 2010, 16640 OLG Düsseldorf, Urt. v. 28.1.2010, I-2 U 131/08, NJOZ 2010, 1781 OLG Hamm, Urt. v. 18.3.2010, 4 U 223/09, BeckRS 2010, 10797 OLG Oldenburg, Beschl. v. 23.8.2010, 13 UF 46/10, FamRZ 2010, 2015 OLG München, Beschl. v. 27.12.2010, 6 U 4816/10, WRP 2011, 364 LG Düsseldorf, EuGH-Vorlage v. 29.4.2011, 15 O 601/09, RIW 2011, 810 KG Berlin, Beschl. v. 25.7.2011, 25 W 33/11, ZIP 2011, 1566 OLG München, EuGH-Vorlage v. 16.2.2012, 21 W 1098/11 OLG Stuttgart, Urt. v. 31.7.2012, 5 U 150/11, NJW 2013, 83 OLG Hamburg, Beschl. v. 8.8.2012, 13 W 33/12, BeckRS 2013, 411 LG Aurich, Beschl. v. 22.1.2013, 6 O 38/13 (5), MMR 2013, 249 LAG Hamm, Urt. v. 14.2.2013, 11 Sa 1168/12 LG Dortmund, EuGH-Vorlage v. 29.4.2013, 13 O (Kart) 23/09, GRUR Int 2013, 842 LG Düsseldorf, Urt. v. 17.12.2013, 37 O 200/09, JZ 2014, 635
VIII. Oberverwaltungsgerichte OVG Berlin, Urt. v. 18.1.2001, 6 B 120.96, NVwZ-RR 2002, 118 OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 27.11.2006, OVG 1 S 136.05 OVG Lüneburg, Urt. v. 17.5.2011, 10 LC 287/08, AUR 2011, 354 OVG Lüneburg, Urt. v. 17.1.2012, 10 LC 193/07
IX. Reichsgericht Urt. v. 26.5.1886, I 121/86, RGZ 16, 391 Urt. v. 7.4.1902, VI 20/02, RGZ 51, 163 Urt. v. 3.12.1909, II 190/09, RGZ 72, 251 Urt. v. 8.12.1922, III 114/22, RGZ 105, 421 Urt. v. 28.11.1923, V 802/22, RGZ 107, 357 RG, Urt. v. 14.3.1932, III 52/32, RGSt 66, 163 Urt. v. 17.3.1932, IV 372/31, RGZ 135, 376 Urt. v. 3.3.1983, IV 224/37, RGZ 157, 136
D. Gerichte anderer Staaten I. Großbritannien Aerospatiale v Lee Kui Jak [1987] AC 871 Allen v Flood [1898] AC 1 Canada Trust Co v Stolzenberg (No.2) [2000] UKHL 51, [2000] 4 All ER 481, [2000] 3 WLR 1376 Cargill International SA v Bangladesh Sugar and Food Industries Corp [1998] 1 WLR 461 Continental Bank NA v Aeakos SA [1994] 1 WLR 588 Crofter Hand Woven Harris Tweed v Weitch [1942] AC 435 Donohue v Armco Inc [2002] 1 All ER 749 Fender v St John Mildmay [1938] AC 1
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HP Bulmer Ltd v J Bollinger SA [1974] Ch 401 MacNiven v Westmoreland Investments Ltd [2001] 1 AC 311 Mittal v Mittal [2013] EWCA Civ 1255 Pepper (Inspector of Taxes) v Hart [1992] UKHL 3, [1993] AC 593 R v Inland Revenue Commissioners, ex p Woolwich Equitable Building Society [1990] 1 WLR 1400 Spiliada Maritime Corp v Cansulex Ltd [1987] AC 460 The Mayor of Bardford v Pickles [1895] AC 587 Turner v Grovit and others [2001] UKHL 65, [2002] 1 WLR 107 Union Discount Co Ltd v Zoller [2002] 1 WLR 1517 W. T. Ramsay Ltd. v Inland Revenue Commissioners, Eilbeck (Inspector of Taxes) v Rawling [1982] AC 300 Walford v Miles [1992] 2 AC 128 Speed Investments Ltd and another v Formula One Holdings and others [2004] All ER (D) 78 (Dec) West Tankers Inc v RAS Riunione Adriatica di Sicurta SpA and others [2007] UKHL 4, [2007] 1 All ER (Comm) 794
II. Frankreich Cour de Colmar, 2 mai 1855, D. 1856. 2. 9 Cass. civ., 18 mars 1878, S. 1878. 1. 193 Cass. civ., 7 avril 1909, S. 1912. 1. 281 Cass. req., 3 août 1915, D. 1917. 11. 79 Tribunal d’Instance de Avesnes-sur-Helpe, 25 octobre 1963, J.C.P. 1964. II. 13901 Cass. civ., 24 novembre 1987, Rev. crit. DIP 1988, 364 Tribunal de grande instance de Paris, 28 avril 2000, GRUR Int. 2001, 173 Cass civ., 11 novembre 2002, Rev. crit. DIP 2003, 816 Cass. civ., 21 septembre 2005, N° 03-20.102 Cass. civ., 25 mars 2009, N°08-14119, Bull. civ. 2009, N°64 Cass. civ., 8 juillet 2010, N°08-14.119
III. Italien Corte di Cassazione, Entscheidung vom 19.12.2003, Nr. 19550, GRUR Int 2005, 264 Tribunale di Bologna, Urt. v. 16.9.1998, I ZR 236/97, GRUR Int 2000, 1021
IV. USA Grace v. MacArthur, 170 F.Supp. 442, 447 (E.D. Ark. 1959) Smith v. Gibson, 83 Ala. 284, 284, 3 So. 321 (1887)
V. Österreich OGH, Beschl. v. 15.1.2013, 4 Ob 221/12x, GRUR Int 2013, 569
VI. Niederlande Hoge Raad, 7 mei 2010, nr. 09/01115, JBPR 2010, 509
Stichwortverzeichnis
abus de droit, S. 43 ff., 55 ff., 69 mit Fn. 322, 82 mit Fn. 412, 86, 116, 138, 150, 155, 159, 192 – Ausschluss von droits absolus, S. 45 ff., 225 – intention de nuire, S. 159 – im Zivilverfahren, S. 192 ff. abuse of law, S. 51 ff., allgemeine Rechtsgrundsätze, S. 9, 78 – induktive Ableitung, S. 95 ff. – im Unionsrecht, S. 128, 132, 176 – Abwägung, S. 162 ff., 176, 211 ff., 220, 283 Analogiebildung, S. 96 ff. – zur Auflösung von Umgehungsversuchen, S. 64 ff., 88 – im Unionsrecht, S. 138, 246, 326 ff., 360 mit Fn. 31 anti-suit injunctions, S. 182, 195, 198, 267, 273 ff., 293 – mögliche Zulässigkeit unter der reformierten EuGVVO, S. 367 ff. Ausfuhrerstattungen, S. 103, 112, 151, 159, 161 Auslegung – acte clair-Doktrin im französischen Recht, S. 84 – eindeutiger Wortlaut, S. 84, 84, 88 f, 90, 135 ff. – einheitliche Anwendung von Unionsrecht, S. 6, 107, 185, 199, 252 ff., 309 ff., 323 – im Common Law, S. 54, 87 ff. – im französischen Recht, S. 83 – literal/plain meaning rule, S. 88, 135 – teleologischer Ansatz des EuGH, S. 131 ff., 149 ff.
– Verhältnis von Auslegung und Missbrauchsverbot, s. unionsrechtliches Missbrauchsverbot, Subsidiarität – von Unionsrecht S. 130 ff. betrügerisches Vorverhalten, S. 17 f. Billigkeit, S. 18 ff. bona fides, S. 26 ff. comi, S. 4,5 mit Fn. 20, 16, 232, 235, 242 f., 343 f. doppelrelevante Tatsachen, S. 323 ff. effet utile, S. 140 ff., 162, 171 f., 196 ff., 199, 209 f., 253 ff., 369 EMRK, S. 202 ff., 211 ff., 229, 355, 357 f., 296 équité, S. 49 equity, S. 53 Erschleichen von Rechtsnormen – im nationalen Recht, S. 59 ff., 79, 82, 89 – im Unionsrecht, s. unionsrechtliches Missbrauchsverbot – Erschleichen gerichtlicher Zuständigkeiten, s. Zuständigkeitserschleichung EuEheVO, S. 257 f., 292 EuErbVO, S. 12, 185, 257, 345 ff. EuGFVO, S. 4 mit Fn. 11, 5 mit Fn. 20 exceptio doli (generalis), S. 26 ff. forum non coveniens – grundsätzliche Unzulässigkeit im Europäischen Zivilverfahrensrecht, S. 252 ff.
Stichwortverzeichnis – Ansätze im geltenden Recht, S. 256 ff., 288, forum shopping, S. 237, 239 – missbräuchliches forum shopping, S. 237 ff., 250, 370 ff. – fehlende Präzision des Begriffs, S. 247 ff. fraude à la loi, S. 9, 14, 80 ff., 101, 116, 121 ff., 170, – Abgrenzung zu anderen Lösungsansätzen, S. 50, 86 f. – Umgehungsabsicht, S. 81 f. – im Zivilverfahren, S. 193 f., 336 fraus legis, s. Gesetzesumgehung fraus omnia corrumpit, s. betrügerisches Vorverhalten gegenseitiges Vertrauen, S. 182, 216, 265 ff., 356, 364, 365 ff. – positive Komponente, S. 268 f. – negative Komponente, S. 269 ff. Gesetzesumgehung, S. 57 ff. – als Frage von Auslegung und Analogie, S. 64 f. – sog. Gesamtplanrechtsprechung, S. 74, 152, 161 – im Steuerrecht, S. 63 ff., 72 – Missbräuchlichkeit, S. 68 – Umgehungsabsicht, S. 71 ff. – Umgehungsverbot, S. 67 ff. good faith, S. 51 ff. HGÜ, S. 186 f, 287, 360 mit Fn. 32 Induktion, S. 94 ff., 162 Insolvenztourismus, S. 16 f., 343 f. Interessenjurisprudenz, S. 214 ff., 283 Normauslegung, s. Auslegung praktische Wirksamkeit, s. effet utile public/private divide, S. 167 f. Rechtsmissbrauchsverbot, S. 25 ff. – § 242 BGB, S. 30 ff. – aequitas, S. 26 – Außentheorie vs. Innentheorie, S. 30, 36, 70
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– institutioneller und individueller, S. 36 ff., 69 f. Rechtsschutzbedürfnis, S. 124, 200 ff., 234, Rechtssicherheit, S. 133, 164, 188, 191, 203, 211, 217 ff. – sog. strenge Rechtsnormen, S. 223 ff. Simulation, S. 15 ff., 154, 235 Steuerrecht, S. 50 mit Fn. 210, 63 ff., 74 ff., 80, 83, 152 ff., 229 ff. Torpedoklage, S. 2 f, 10, 180 f., 186, 203, 215 f., 275, 287 ff., 296, 304 ff., 355 ff. – Art. 31 Abs. 2 und 3 EuGVVO, S. 186 f., 276, 287 ff., 305, 359 ff. – umgekehrte, S. 5 mit Fn. 20, 6 mit Fn. 21, 361 ff. überlange Verfahrensdauer, S. 270 ff., 279 mit Fn. 386 Umgehung, s. Gesetzesumgehung unionsrechtliches Missbrauchsverbot – allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, S. 94 ff., 105 f., 117 ff., 176 ff. – Erschleichen von Unionsrecht, S. 101 ff., 112, 116, 117 mit Fn. 141, 123, 126 f., 138, 149, 151, 170, 186 – Missbrauchsabsicht, S.152 ff. – missbräuchliche Rechtsausübung, S. 106 ff., 112, 126 ff., 146, 149 ff., 160, 234, 355 – Rechtsfolgen des Missbrauchsverbots, S. 165 ff. – Subsidiarität, S. 137 ff. – Verhältnis zur Auslegung, S. 129 ff., 138 ff. – Vermeiden nationalen Rechts unter Berufen auf Unionsrecht, S. 122 f. – Vermeiden von Unionsrecht, S. 100 ff., 122 ff., 138 f., 142, 170 – Voraussetzungen, S. 128 ff. – Zweckwidrigkeit, S. 149 ff. venire contra factum proprium, S. 9, 32, 41 f., 188, 226 f., 333,
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Verhinderung von Parallelverfahren, S. 267, 269 f., 298, 303 ff., 360 f. Vorhersehbarkeit gerichtlicher Zuständigkeiten, S. 78, 213, 231 ff. Vorrang von Unionsrecht, S. 7, 196 ff., 254 f. Zuständigkeitserschleichung – im nationalen Recht, S. 189, 193, 194, 242 ff., 249, 332 ff. – durch Provokation eines Schadens, S. 331 ff.
– Art. 8 Nr. 1 EuGVVO, S. 3, 246 f., 320 ff. – Art. 8 Nr. 2 EuGVVO, S. 186, 241 ff., 317 ff. – EuErbVO, S. 345 ff. – EuInsVO, s. comi Zuständigkeitsrüge – Missbrauch, S. 354 Fn. 1 Zweck des Zivilverfahrensrechts, S. 221 ff.