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German Pages 514 Year 2014
Kirsten Scheffler Mikropoetik
Kirsten Scheffler (Dr. phil.) studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an der Universität Hamburg und arbeitete im Bereich von Presse, Werbung, Theater und Kulturmanagement. Sie war beteiligt am Forschungsprojekt »Wahn – Wissen – Institution« und zuletzt Lehrbeauftragte der Universität Witten/Herdecke in der Fakultät des Studium fundamentale. Sie lebt in Berlin.
Kirsten Scheffler Mikropoetik. Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein »Bleistiftgebiet« avant la lettre
Der Abdruck der Manuskripte und Texte Robert Walsers erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Robert Walser-Zentrums Bern und des Suhrkamp Verlags Zürich. Die Verfasserin möchte darüber hinaus dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Museum Neuhaus Biel, dem Nimbus Verlag, Wädenswil sowie der Staatsbibliothek zu Berlin danken, in deren Lesesaal des Architekten Hans Scharoun die Arbeit entstanden ist. Nicht in jedem Fall ließen sich Ansprüche an den Abbildungen zweifelsfrei klären. Wir bitten gegebenenfalls um Mitteilung an den Verlag.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Karl Walser: Exlibris für Franz Blei, um 1905, Lithographie, 9.1 x 7.6 cm, Privatbesitz Lektorat: Dagmar Deuring, Berlin Satz: Tanja Jentsch, Bottrop Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1548-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhaltsverzeichnis
Vorwort: Die Schwelle der Zeichenbildung | 11 I. Traumgespinste, Schriftgespinste | 23 I.1 Schriftbilder: Miniaturzeitungen, Mikrographien | 35 I.2 Das entzweite Wort: »Ich-Buch« | 47 I.3 Große und kleine Welt | 55 II. Schrift, Miniatur und Präfiguration | 63 II.1 Unlesbarkeiten | 71 II.2 Buchstabenverbot | 78 II.3 Flucht und Proszenium | 88 II.4 »Urbanität« versus ›Federkrieg‹ | 93 II.5 Die Frage nach der Arabeske | 102
III. Hieroglyphen | 111 III.1 Undarstellbarkeit: Max Brods Kommentar zu Robert Walser | 121 III.2 Palimpsest | 128 III.3 Das Datum der Unlesbarkeit: Hans (1916/1920) | 135 III.4 Die Sprache der Grapheme | 147 III.5 »Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten« | 151
Relais: Sigmund Freuds Das Unheimliche | 159 IV. Texte als »gebundene Hieroglyphen« | 165 IV.1 Poetische Reanimation: Die deutsche Sprache (1919) | 165 IV.2 Freundschaftsbrief (1919) | 168 IV.3 Ein »Miniaturbuch«: Liebe kleine Schwalbe (1919) | 179 IV.4 Der Klang der Inversionslinie: Schneeglöckchen (1919) | 189
V. Macht der Substitution – Poetik der Transposition | 199 V.1 Vom Tode gefristetes Erzählen: Prinzip der Insertion | 205 V.2 Der verlorene Roman: Tobold | 210 V.3 Leere, Synkretismus, Überdetermination | 218 V.4 Von den »winzig kleinen Wanderungen« zum Spaziergang | 225 V.5 Ein doppeltes memento mori: Das Pferd und die Frau | 227 V.6 Zeit-Echo: Phantasieren | 234 V.7 Poetische Latenz: »spurwenig« | 240
VI. Zwischenreiche der Artikulation | 247 VI.1 »Düster, Geflüster und Dunkel« der Toten | 248 VI.2 »Stimme und Linie« des Traums | 251 VI.3 Dissoziation von Bild und Ton: Frauenbilder und -töne | 254 VI.4 Die doppelte Zeichnung der Blätter | 264
VII. Konsignationen: »Das Schreiben scheint vom Zeichnen abzustammen« | 269 VII.1 Schnee in Frakturschrift | 273 VII.2 Die Auktorialität des Blattes | 281 VII.3 Malen und Illustrieren: Briefwechsel zum Band Seeland | 286 VII.4 Bild | 295 VII.5 Vexierbild: Schneien | 298 VII.6 Arabeske | 302
VIII. »Abstraction« (Paul Klee) | 309 VIII.1 Robert Walser als Paul Klee der Prosa | 312 VIII.2 Der Mord an den Söhnen: Saul und David | 325 VIII.3 Else Lasker-Schülers »Harfenschrift« | 329 IX. Imprimatur der Bilder | 337 IX.1 Generativität und Genealogie | 344 IX.2 Familiäre Emblematiken | 348 IX.3 Das Bild des Vaters | 355 IX.4 Der »Nimbus« der Schrift und das »lebendige Bild« der Mutter | 361 IX.5 Ordnungen des Gespenstischen | 367
X. Die Signatur des Pazifismus | 371 X.1 Undeutlichkeit des Anfangs: »Nebelmeer« | 381
Relais: Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief | 385 XI. »Brouillon« | 397 XI.1 Max Rychner als Adressat | 406 XI.2 Das Allgemeine Brouillon des Novalis | 410 XI.3 Doktor Franz Blei | 415 XI.4 »im Land der Poesie selber« | 419 XI.5 »ganz in grau« | 421 XI.6 »fast allein schon ein Gedicht« | 421 XI.7 Blei und der Bleistift | 434 XI.8 »Bleistiftgebiet« | 437
Relais: Trauma und Fetisch | 445 XII. West-östliche Elemente | 449 XII.1 »Versisches« | 460
XIII. Das letzte Prosastück | 469 Nachwort: Die Stimmen des Imaginären | 477 Literaturverzeichnis | 489
Dieter Scholz gewidmet
»Ist es wahr, daß Sie Gedichte schreiben?« fragte man ihn. »Ja, ich glaube es fast«, gab er sanft, gutmütig und demutvoll zur Antwort. Klar ist, daß solch zarte behutsame Antwort allgemein belächelt werden mußte, was denn auch tatsächlich stattfand. I Robert Walser Wenn in der Literatur etwas nicht auf die Stimme, das Epos oder die Poesie Zurückführbares existiert, so läßt es sich nur unter der Bedingung wieder fassen, daß man jenes Band zwischen dem Spiel der Form und dem graphischen Ausdruck streng isoliert. (Gleichzeitig wird man erkennen, daß auch die ›reine‹, in ihrer Irreduzibilität verstandene ›Literatur‹ Gefahr läuft, das Spiel einzuengen, das heißt es zu binden.) II Jacques Derrida
Vorwort: Die Schwelle der Zeichenbildung
Die Mikrogramme Robert Walsers scheinen Kassiber zu sein, Botschaften in eine unvordenkliche Zukunft, Amulettblätter im Gedenken an etwas unwiederbringlich Vergangenes. In gewissem Sinne sind sie beides zugleich. Die Texte auf diesen über fünfhundert erhalten gebliebenen Blättern, die mit einer derart kleinen Schrift versehen sind, dass diese zunächst für eine unentzifferbare Geheimschrift gehalten worden war, sind mittlerweile in großen Teilen durch Bernhard Echte und Werner Morlang entziffert. Die Schrift jedoch interessiert weiterhin als etwas Enigmatisches. Nach und nach nur immer noch kleiner geworden, bleibt sie bei den zuletzt entstandenen Manuskripten für diejenigen, die sie nicht empathisch zu lesen gelernt haben, unlesbar, gibt den Textsinn auch jetzt noch nicht preis. Und daran kann auf denkwürdige Art keine prothetische Vergrößerungstechnik etwas ändern. Diese Schrift ist nicht zu ›beherrschen‹, insofern ihr literaler Sinn, ihr Buchstabensinn nahezu verschlossen bleibt.1 Die besondere Schreibpraxis, die das Blatt mit Schrift versiegelt, ist im Blick auf die Manuskriptbefunde erst ab 1924 nachzuweisen.2 Doch in den I | Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, 20 Bde., hg. v. Jochen Greven, Frankfurt a.M. 1986, Bd. 6, S. 125f. Im Folgenden wird diese Edition mit der Sigle »SW«, nachfolgend Band und Seitenzahl, die Ausgabe der Briefe, hg. v. Jörg Schäfer unter Mitarbeit von Robert Mächler, Zürich 1979, mit »Br« und die der Mikrogramme Aus dem Bleistiftgebiet, Bde. 1-6, hg. v. Bernhard Echte und Werner Morlang, Frankfurt a.M. 1985-2000, mit »Mikro« zitiert. In Bd. 20 der Sämtlichen Werke in Einzelausgaben findet sich ein alphabetisches Gesamtverzeichnis der Prosa Robert Walsers: S. 486-503. II | Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1983, S. 104. 1 | Vgl. Gerd Mattenklott: »Schriftbilder«, in: ders.: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 132-162 [Anm. S. 246f.], S. 135. 2 | Vgl. hierzu Werner Morlang: »Das eigentümliche Glück der Bleistiftmethode. Anmerkungen zu Walsers Mikrographie«, in: Robert Walser. Pro Helvetia Dossier, hg. v. Elsbeth Pulver und Arthur Zimmermann, Zürich, Bern 1984, S. 95-105, S. 96,
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kurzen Prosatexten, die vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg entstanden und im deutschsprachigen Feuilleton oder in den vom Autor zu dieser Zeit noch eigenhändig besorgten Textanthologien erschienen sind, zeigen sich, näher besehen, Verweise auf jenen Umgang mit der eigenen Schrift, der sich in den Mikrogrammen manifestieren wird. In der sogenannten Bieler Prosa, zu der einige der prominentesten Texte des Autors gehören, so etwa die Erzählung Der Spaziergang, in dieser Werkphase, die sich stets dem Vorwurf der »politischen Amnesie und hinterwäldnerischen Innerlichkeit«3 ausgesetzt sah, lassen sich semantische Spuren finden, die sich mit Blick auf die Zukunft von Robert Walsers Schreiben als deren Antizipation lesen lassen. Diese Spuren4 werden jedoch lesbar erst in jenem Kontinuum, als das sich das gesamte Werk darstellt.5 wo dieser schreibt, dass zwar »aus der Zeit zwischen 1912 und 1917 keine BleistiftEntwürfe bekannt« seien, und »solche Belege auch für die späteren Jahre bis 1924« fehlten, dass deren vormalige Existenz aber deswegen nicht auszuschließen sei. 3 | Vgl. Tamara S. Evans: Robert Walsers Moderne, Bern, Stuttgart 1989, S. 18f., die diesen Vorwurf kolportiert. 4 | Emil Angehrn beschreibt in Bezug auf Sigmund Freud und Jacques Derrida den Charakter von Spuren wie folgt: »Spuren werden zum einen gelesen. Spuren sind Anlaß des Nachfragens, Anknüpfungspunkte des Deutens. Spuren sind weder wie Dokumente Ausdruck eines Sagenwollens noch wie Monumente sinnhafte Bekundungen, sondern nicht-intendierte Effekte und Überbleibsel, die aber gleichwohl von etwas Zeugnis ablegen, auf etwas hin verstanden werden können. […] Was in uns Spuren hinterlässt, sind in herausgehobenem Sinn schmerzliche Erfahrungen, Enttäuschungen, Verwundungen: Es gibt, meint Derrida mit Blick auf Freud, keine Bahnung ohne einen Beginn von Schmerz; das Schmerzliche hinterlässt besonders tiefe, dauerhafte Spuren. Auch im Blick darauf ist das lesende Aneignen der Spur ein Ausgesetztsein und Konfrontiertwerden mit dem Anderen […]. Spuren lesen, mit Spuren leben ist Anerkennen der Andersheit. […] Andersheit ist das Sich-Entzogenhaben, die Uneinholbarkeit. Auch wenn man schematisch sowohl das Gewesene wie das Künftige als das Andere der Gegenwart definieren (und in einem emphatischen Sinn gerade das Kommende als das radikal Andere bezeichnen kann), ist die primäre Erfahrung der Alterität das Entgleiten und Vergehen: Wir können uns nie vom Anfang her begreifen oder vom Anfang her sein, hinter alle Vorgaben, Vormeinungen, Voraussetzungen zurückgehen, um absolut anzufangen; unsere Existenz ist im unhintergehbaren Immer-schon.« Emil Angehrn: »Schrift und Spuren bei Derrida«, in: »Wunderliche Figuren«. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften, hg. v. Hans-Georg von Arburg, Michael Gamper und Ulrich Stadler, München 2001, S. 347-363, S. 356ff. 5 | Die in der Robert-Walser-Forschung gängige Unterteilung orientiert sich biographistisch an den Ortswechseln des Autors. John Christopher Middleton schreibt hierzu: »Es könnte so erscheinen, als zerfalle Walsers Werk in vier Abschnitte: die sieben Jahre in Zürich, die sieben in Berlin, die sieben in Biel und die letzten Jahre in Bern. Aber es wäre falsch, vier solche Perioden zu isolieren, es sei denn, man faßte sie weniger als bestimmte Phasen in einer fortschreitenden Entwicklung auf,
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Und dabei lässt sich eine Entwicklung feststellen. Die Verkleinerung der Schrift vollzieht sich in Skalensprüngen, wie Wolfram Groddeck dargelegt hat, der die Mikrogramme als »geheimnisvoll-subversive Graphik einer kulturellen Ungleichzeitigkeit« liest.6 Und in der Tat sind diese Schriftkunstwerke nicht nur, mit Kerstin Gräfin von Schwerin, eine »Gegenwelt zur aufkommenden Mechanisierung der Schrift«7, sondern tiefgreifender noch von Ungleichzeitigkeit bestimmt – und zugleich von Simultaneität. Sie sind bestimmt von einer Unzeit – wie nur das Trauma sie hervorbringt.8 Der ästhetische Wert der Schrift scheint dabei nicht isolierbar zu sein von einem Textsinn, der verborgen bleibt; und wenngleich sich auch die kleinste Schrift der Mikrogramme als eben noch entzifferbar erwiesen hat, bildet diese Schrift, daran ist noch einmal ausdrücklich zu erinnern, ein doppeltes Trugbild aus; sie erscheint als Kryptographie, als eine Geheimschrift, die sie nicht ist. Im Folgenden wird es auch darum gehen, die Anfänge in diesem Prozess näherungsweise zu datieren, und zwar auf einen Zeitpunkt, der nicht zufällig in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs liegt. Diese Jahre bilden, mit den ersten Nachkriegsjahren, einen »kurzen, schwindelerregenden, zerbrechlichen Augenblick« der Geschichte aus, in dem die Ernüchterung über die Kriegsereignisse, die Schockstarre angesichts derart »nächtliche[r] Erfahrungen«, sich mit einem umso notwendiger gewordenen, utopischen Moment verbindet – mit dem Versuch, »die Welt vor sich selber zu retten«.9 Die genauere Datierung des Eintritts von Robert Walser in sein »Bleistiftgebiet«10, wie er die Mikrogramme in seinem inzwischen vielfach kommentierten Brief an den Redakteur Max Rychner nennen wird, ist allerdings nicht Selbstzweck, wo sich um 1917 auch bei anderen Autoren und Autorinnen Resonanzen auf das Weltkriegsgeschehen zeigen, die sich wenig sondern als vier Segmente eines Kreises. Aussagen über sein Werk müssen das berücksichtigen. Ihre Leitvorstellung sollte nicht das Bild eines ungebrochenen linearen Fortschreitens von einem Werk zum nächsten sein (denn Walsers Werk entwickelt sich nicht in dieser Weise), sondern das einer Konfiguration von stilistischen und thematischen Ringen, die sich überschneiden.« John Christopher Middleton: »Der Herr Niemand. Anmerkungen zu Robert Walser – mit einer Notiz über Walser und Kafka«, in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1979, S. 9-40, S. 15. 6 | Wolfram Groddeck: »Schreib-Zeit. Reflexionen über Robert Walsers ›Mikrogramme‹«, in: Zeit für Zeit. Natürliche Rhythmen und kulturelle Zeitordnung, Basel 1998, S. 89-100, S. 99f.; zit.n. Kerstin Gräfin von Schwerin: Minima Aesthetica. Die Kunst des Verschwindens. Robert Walsers mikrographische Entwürfe Aus dem Bleistiftgebiet, Frankfurt a.M. u.a. 2001, S. 33. 7 | Kerstin Gräfin von Schwerin: Minima Aesthetica, S. 33. 8 | Vgl. Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters. Genozid und Gedächtnis, München 2005, S. 23. 9 | Peter Gay: Die Republik der Außenseiter. Geist und Kultur in der Weimarer Zeit. 1918-1933, Frankfurt a.M. 1970, S. 14f., 138, 147. 10 | Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 300.
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explizit, nicht eben leicht zu erschließen und gerade jenseits der Semantik von Texten – in der ›Materialität‹11 der Schrift – bemerkbar machen. Es 11 | Eine kurze Diskussion des Begriffs der Materialität von Schrift: Sprache ist für Ferdinand de Saussure in seinen Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], hg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger, 2. Aufl., Berlin 1967, S. 18, »das Depot der Lautbilder und die Schrift die greifbare Form dieser Bilder«: »Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen. […] Aber das geschriebene Wort ist so eng mit dem gesprochenen, dessen Bild es ist, verbunden, daß es mehr und mehr die Hauptrolle für sich in Anspruch nimmt. Man gelangt schließlich dazu, der Darstellung des gesprochenen Zeichens ebensoviel oder mehr Wichtigkeit beizumessen als diesem Zeichen selbst. Es ist so, als ob man glaubte, um jemanden zu kennen, sei es besser, seine Photographie als sein Gesicht zu kennen.« (Ebd., S. 28.) Schon das Lautbild ist für Saussure dabei nicht materiell zu nennen, es ist sensorisch, »und wenn wir es etwa gelegentlich ›materiell‹ nennen, so ist damit eben das Sensorische gemeint im Gegensatz zu dem andern Glied der assoziativen Verbindung, der Vorstellung, die im allgemeinen mehr abstrakt ist«. (Ebd., S. 77.) Werner Kogge schlägt jüngst eine an Ernst Cassirer und Nelson Goodman angelehnte Auffassung von einer Materialität der Schrift vor, wonach »dem elementaren Atomismus der Schriftzeichen eine Erscheinungsweise in der Fläche korrespondiert, die sich auf eine nicht-piktorale Weise darbietet«. Dem liegt der Gedanke zugrunde, »dass wir uns zu Schrift weniger wie zu Bildern, sondern eher wie zu Gesichtern verhalten, dass die Materialität der Schriftfläche nicht bildhaft, sondern physiognomisch aufzufassen ist«. Goodman, der die Symbolformen Cassirers radikal vom Begriff der Bezugnahme her denke, »also vom Verhältnis zwischen Bild und Abgebildetem, zwischen Lautschrift und Aussprache, Bauplan und Realisierung etc.«, unterlaufe ontische Differenzen, das heißt es wäre beispielsweise verfehlt, »von der Anordnung der Zeichen in der Fläche auf die Bildhaftigkeit von Schrift zu schließen und ihr piktorale Eigenschaften zuzuschreiben«; und so sei die von Lessings Laokoon aufgemachte Alternative »von einer als Sukzessivität gedachten Sprachlichkeit und einer als Synchronizität gedachten Bildlichkeit« zu kurz gedacht: »Demgemäß genügt es auch nicht, der Schrift neben ihrer Artikuliertheit außerdem noch ein bildliches Potential zuzuschreiben.« Werner Kogge: »Elementare Gesichter: Über die Materialität der Schrift und wie Materialität überhaupt zu denken ist«, in: Die Sichtbarkeit der Schrift, hg. v. Susanne Strätling und Georg Witte, München 2006, S. 85101, S. 86 und S. 92f. Um die Unterschiede von Symbolsystemen deutlich zu machen, vergleicht Goodman selbst die Kurvenlinie eines Elektrokardiogramms mit einer Zeichnung des Fuji von Hokusai, um festzustellen, dass die beiden Linien oder besser Lineamente, Liniengefüge, in ihrer äußeren Erscheinung exakt die gleichen sein können – und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied, da in der Zeichnung sehr viel mehr Aspekte von Bedeutung zu finden sind: »Jede Verdickung oder Verdünnung der Linie, ihre Farbe, ihr Kontrast mit dem Hintergrund, ihre Größe, sogar die Eigenschaften des Papiers – nichts von all dem wird ausgeschlossen, nichts kann ignoriert werden.« Nelson Goodman: Sprachen der Kunst.
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mag eine Sprachkrise um 1900 gegeben haben, wie sie im Zusammenhang mit dem Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal konstatiert worden ist, um 1917 aber gibt es eine Schriftkrise. Auf der anderen Seite und dem entgegenstehend hat Jochen Greven, der die Schrift der Mikrogramme einst nicht für eine Kryptographie, sondern im Gegenteil für entzifferbar gehalten und damit die Bemühungen zu ihrer Transkription eingeleitet hatte, die eigene Gewissheit darüber bekundet, dass »Autoren zu allen Zeiten anders gearbeitet haben«,12 als Robert Walser es hierbei tat. Und so gilt es, in der weitgehenden Konzentration dieser Studie auf Robert Walser, insbesondere auch jenen Zug der Schrift zu beleuchten, den schon die Schwester Lisa Walser im Jahre 1937, auf Nachfrage des juristischen Vormunds und späteren Nachlassverwalters des zu dieser Zeit bereits seit acht Jahren psychiatrisch internierten und erst 1956 verstorbenen Schriftstellerbruders, kommentiert hatte. An Carl Seelig schreibt sie: »Wegen der kleinen Schrift kann ich Ihnen ganz Bestimmtes nicht sagen. Nur soviel, dass Robert mir schon früher mit kleinen Buchstaben geschrieben hat. Die Schrift ist nach u. nach immer winziger geworden, aber natürlich immer noch lesbar; ich glaube, dass die Manuscripte gar keine rechten Buchstaben aufweisen.«13 Die Unsicherheit ist sprechend. Diese kleine Schrift unterscheidet sich noch einmal von den vertraut kleinen und immer kleiner werdenden BuchEntwurf einer Symboltheorie, Frankfurt a.M. 1997, S. 212f.; zit.n. Werner Kogge: »Elementare Gesichter«, S. 93. Dabei aber muss zugleich nichts in einer bestimmten Art und Weise realisiert sein, damit Schrift gelesen und verstanden werden kann. Vielmehr scheint die Identifizierbarkeit des Zeichens, die durch die Differenz konstituiert wird und die in der Realisierung eines bestimmten Elements gegenüber einem anderen liegt, das einzige materiale Merkmal von Schrift. Vgl. Sybille Krämer: »›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift«, in: Bild, Schrift, Zahl, hg. v. Sybille Krämer und Horst Bredekamp, München 2003, S. 157-176, S. 162-164. Kogge denkt Materialität als jene Ermöglichungs- und Restriktionsbedingungen, die sich in der Praxis zeigen. Materialität äußere sich nicht darin, wie etwas faktisch verwendet wird, sondern wie etwas verwendet werden kann: »In diesem Sinne ist es z.B. bedeutsam, dass Schriftgebilde nebeneinander und untereinander stehen können, aber nicht hintereinander. Würden die Schriftzeichen einander verbergen, so dass jeweils nur eines nach dem anderen wahrgenommen werden könnte bzw. an die Stelle des anderen gesetzt werden würde, dann hätten wir es mit einer Erscheinungsweise zu tun, die unsere Praktiken des Lesens und Schreibens verunmöglichte.« Schrift erlaubt – im Unterschied zum Bild – den Rückgang auf ein definiertes Einzelzeichen. Schrift hat jedoch zugleich eine Materialität, die sich nicht im Buchstäblichen erschöpft, sondern mit der Gruppierung von Zeichen verknüpft ist. Ebd., S. 96. 12 | Jochen Greven: Robert Walser. Figur am Rande, in wechselndem Licht, Frankfurt a.M. 1992, S. 29. 13 | Briefkarte von Lisa Walser an Carl Seelig vom 28. April 1937 (Hervorh. v. LW) [Autograph im Robert Walser-Archiv]; zit.n. Kerstin Gräfin von Schwerin: Minima Aesthetica, S. 22.
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staben in den früheren Briefen, die an die Schwester gerichtet waren, weil diese Manuskripte »gar keine rechten Buchstaben« mehr aufzuweisen scheinen. Und wirklich ist der Umstand, dass die Schrift der späten Mikrogramme sich weder dem bloßen Auge noch dem Vergrößerungsglas erschließt, einem scheinbaren Verlust der »Zeichenhaftigkeit der Schriftgebilde« geschuldet, wie Bernhard Echte formuliert hat. Das Schriftbild verliert mit dem Abstumpfen des Bleistifts zunehmend an Signifikanz, es tendiert zur Abstraktheit.14 Robert Walsers Abbreviaturisierung der Schrift weist dabei auf etwas Unausgesprochenes, Unausgeschriebenes im doppelten Sinn des Wortes, denn die nicht voll ausgebildete Figuralität der Buchstaben bewirkt eben auch, dass der Kontext, in dem die Manuskripte entstanden sind, gewissermaßen nicht überschritten werden kann, dass das Strukturmerkmal der Schrift, unabhängig von den zeitlichen und räumlichen Koordinaten ihrer Entstehung noch lesbar zu sein und zu bleiben, gestört ist. Die Schrift der Mikrogramme ist so den Daten, den Gegebenheiten ihrer Entstehung buchstäblich weiter verhaftet. Und über die Verschliffenheit des Zeichencharakters, über die ungeheure Miniaturisierung der Schrift hinaus, geht es um ein ganzes Ensemble von Verfahren, von dem Robert Walser in jenem Brief an Max Rychner vom Juni 1927 als von einem Territorium, von seinem »Bleistiftgebiet«15 sprechen wird. Bereits in diesem Neologismus, in der Prägung des neuen Wortes, gibt sich die Privilegierung eines anderen Materials zu erkennen. Es steht im Gegensatz zu den zuvor verwendeten klassischen Schreibutensilien in Form von Feder und Tinte. Der Bleistift ist nun der Werkprozessor. Zudem ist das »Bleistiftgebiet«, das zuweilen unterschiedliche Textgattungen auf einem Blatt versammelt, durch die Verwendung von vorbenutztem, teils vorbedrucktem und für die eigenen Zwecke erst noch zurechtgeschnittenem Papier bestimmt und so in seinen Umrissen durch diese buchstäblichen Vorschriften in Gestalt der Vordrucke bestimmt. Oft sind es offiziöse Formulare, die als Substrat ubiquitärer Machteinschreibung16 säuberlich, nur eben nahezu unlesbar, mit einer Art Kolumne versehen sind. Die Kolumnen, die den Text in Blöcke einrücken lassen, bilden jedoch teils nicht immer ›ganze‹ Texte aus, sondern finden sich mit Textsäulen auf anderen Blättern erst in der Rein- als Abschrift zu solchen zusammen. Im Übertrag von Textteilen aus dem »Bleistiftgebiet« in die Reinschriften, die dann an die Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften des europäischen Feuilletons versandt wurden, springen die Kolumnen erst zum Integral des einen Textes zusammen.
14 | Vgl. Bericht zur Edition von Bernhard Echte, in: Mikro, Bd. 6, S. 701-711, S. 703. 15 | Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 300. 16 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a.M. 1976, S. 78ff.
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Motive lassen sich dabei, über Jahre und Jahrzehnte hinweg, in immer neuer Anordnung wiederfinden. Die Texte Robert Walsers stehen immer in einem reichen Beziehungsgeflecht, haben eine »enge Fühlung« zu den anderen Texten des Autors, wie Werner Morlang in Bezug auf die in den Mikrogrammen konstellierten Arbeiten konstatiert hat.17 Doch das Phänomen gilt umfassend. Es lässt Lektüren der Texte potentiell zu einer uferlosen Synopsis, zu einem endlosen Lesen zwischen den Texten werden, einem ›Zusammenlesen‹. Nichts kann in Robert Walsers Werk isoliert betrachtet werden. Nicht ein einziger Satz. Und dies ist eine Form der Unlesbarkeit, von der die Semantiken betroffen sind, bei denen sich ebenfalls das Gefühl einer »latenten Unentzifferbarkeit«18 einstellt, wie Paolo Chiarini bald nach Erscheinen der ersten beiden Mikrogrammbände in der Edition Aus dem Bleistiftgebiet in einer widerspruchsvollen (entweder sind die Texte unentzifferbar oder sie sind es eben nicht), doch darum nicht weniger treffenden Formulierung bemerkt hat. Vom Modus einer scheinbaren Geheimschrift sind die Texte, ist die Semantik nicht ausgenommen. Und so erstaunt es auch nicht, dass Selbstaussagen zur Miniaturisierung der Schrift rar oder besser gar nicht vorhanden sind. Lediglich in einem Brief Robert Walsers vom 7. August 1918 an Frieda Mermet, in dem es im Briefkopf heißt: »Biel, [Hotel] Blaukreuz, das Datum fällt mir leider nicht in den Kopf«,19 kommt zur Sprache, was sonst, abgesehen vom Brief an Rychner, weder in den Texten noch in der Korrespondenz des Autors je thematisiert worden ist: »Ich strenge Ihre Augen ein wenig sehr an mit diesem engen Gekribsel, nicht wahr, liebe Mama.«20 Bereits die Anrede im Brief lautet: »Liebe Mama; mit andern Worten/Liebe Frau Mermet«. Der Name »Mermet« scheint jedoch nicht nur wegen seiner artikulatorisch leichtgängigen Alliteration im Konnex mit der ähnlich geformten »Mama« zu stehen. Die Verschiebung scheint vielmehr dasjenige zu sein, was etwas ansonsten Undarstellbares bezeugt: eben »mit andern Worten«.21 Mit der Mutter ist auf eine Vergangenheit verwiesen, die in die Gegenwart hineinreicht und diese auf ihre ganz eigene Weise datiert; im »Gekribsel« kommen nicht nur verschiedene räumliche Verfahren und körperliche 17 | »Editorischer Bericht« von Werner Morlang, in: Mikro, Bd. 3, S. 242-254, S. 242. 18 | Paolo Chiarini: »Unvorgreifliche Gedanken eines Walser-Lesers«, in: »Immer dicht vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walsers, hg. v. Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1987, S. 13-16, S. 13. 19 | Brief vom 7. August 1918 an Frieda Mermet, in: Br, S. 138f. 20 | Ebd., S. 139. 21 | Vgl. Karl-Josef Pazzini: »Das Undarstellbare des psychoanalytischen Prozesses macht erfinderisch – möglicherweise«, in: Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen. Zur »Rücksicht auf Darstellbarkeit« in der Psychoanalyse, hg. v. Tanja Jankowiak, Karl-Josef Pazzini und Claus-Dieter Rath, Bielefeld 2006, S. 227-244, S. 227.
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Sensationen zusammen; es finden sich auch unterschiedliche Zeiten hierin aufgehoben. Die Gegenwart der Briefschrift und die mit der Mutter assoziierte Vergangenheit bilden zwei Zeitspannen, von denen eine sich dabei grundsätzlich entzieht. Die Ähnlichkeit der Laute markiert also gerade eine grundstürzende Unverfügbarkeit; sie verbindet sich mit einer Schwelle der Zeichenbildung – und der Lesbarkeit. Die Lektüre eines Textes, die Lektüre von Schriftzeichen bemächtigt sich des Sinns, ist jedoch immer auch Suspendierung von Lesbarkeit, insofern sie sich als Realisierung einer bestimmten, jeweils erstarrten Lesbarkeit manifestiert.22 Gerade diese Realisierung als Verlust verhindert die Schrift der Mikrogramme. Aber schon die Schwelle der Zeichen-, der Wortbildung hat Roman Jakobson als Ineinandergreifen beschrieben, das mit einem Verlust einhergeht, denn: »An die Stelle der phonetischen Fülle des Lallens tritt die phonematische Kargheit der ersten Sprachstufen«, wobei 22 | Vgl. Bettine Menke: »›Magie‹ des Lesens – Raum der Schrift. Über Lektüre und Konstellation in Benjamins Lehre(n) vom Ähnlichen«, in: Namen, Texte, Stimmen – Walter Benjamins Sprachphilosophie, hg. v. Thomas Regehly (unter Mitarbeit von Iris Gniosdorsch), Stuttgart 1993, S. 109-137, S. 122. Für Roland Barthes ergeben sich, in Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1996, S. 19, »zwei Arten der Lektüre: die eine steuert direkt auf die Wendungen der Anekdote zu, sie betrachtet die Ausdehnung des Textes, sie ignoriert die Sprachspiele […]; die andere Lektüre läßt nichts aus; sie ist schwerfällig, sie klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Akribie und Besessenheit, erfaßt an jedem Punkt des Textes das Asyndeton [d.i. griech. ›Unverbundenes‹, die Reihung gleichgeordneter Wörter, Wortgruppen, Satzglieder oder Sätze, die ohne Konjunktionen miteinander verbunden sind, Anm. d. Verf., KS], das die Sprachen zerschneidet – und nicht die Anekdote: nicht die (logische) Ausdehnung fesselt sie, die Entblätterung der Wahrheiten, sondern das Blattwerk der Signifikanz […].« Mit dem »Blattwerk der Signifikanz« spielt Roland Barthes auf eine figurative Qualität von Texten an, die jenseits von Figurengedichten liegt, wie sie etwa noch im Barock verbreitet waren: »Technopaignia oder Carmina Figurata, Versus Cancellati, Rebus: diese Formen visueller Textgestaltung oder Text-Bilder tauchen seit der hellenistischen Zeit in der Literaturgeschichte zu fast allen Zeiten immer wieder auf. Die frühesten Ahnen der Textbilder beschränken sich noch auf einfache Umrißformen wie Beil, Flügel, Ei, Syrinx oder Altar.« Im 4. Jahrhundert folgen die ersten »Gittergedichte«. Durch farbige Hervorhebung werden dabei einzelne Lettern und Textbahnen figural aus dem Textgrund hervorgehoben. Im 16. und 17. Jahrhundert werden dann die antiken Formen des Figurengedichts variiert: »Jacques Cellier zeichnet zwischen 1583 und 1587 mit Schriftzeilen minuziöse Kalligramme.« Doch im 18. Jahrhundert wird die »Entwicklungslinie der Figurengedichte« unterbrochen, und erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzt, ausgehend von Stéphane Mallarmés »Seh-Dichtung«, dann eine große allgemeine Revision des Kunstbegriffs und der künstlerischen Gattungen ein, deren Ausformungen die Studie von Christina Weiss aufzeigt: Seh-Texte. Zur Erweiterung des Textbegriffes in konkreten und nach-konkreten visuellen Texten, Zirndorf 1984, S. 17ff.
V ORWORT
»der Erwerb des Sprachschatzes und das Absterben des vorsprachlichen Bestandes sich parallel abspielen«.23 Das Kind erbringt eine beträchtliche Konzentrationsleistung, bis es zu einer Lauteinheit wie dem Wort ›Mama‹ fähig ist. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Anstrengung, die Robert Walsers Brieftext in Bezug auf das Lesen des »Gekribsel[s]« antizipiert, eben auch auf Seiten des Schreibers liegt, der sich im Brief als infans und das heißt in einem wörtlichen Sinne als ›das Sprachlose‹24 in die Szene gesetzt hat. Die Anstrengungen des Kindes, die »gewöhnlich in gut abgeschirmten Räumen« stattfinden und »von einem wohlwollenden Wesen« gelenkt werden, das »unzählige Male ›Mama‹ vorsagt«25 , führen schließlich zur Artikulation des Wortes ›Mama‹, als einem Schutzzeichen. Und ein ebensolches Schutzzeichen scheint der Name Mermet zu sein. Er umgibt das »Gekribsel«, er schafft eine Sphäre, die unter dem Schutz tragender Anleitung steht; und doch bleibt diese Sphäre von der Übertragung des ›Namens der Mutter‹ auf den der Freundin gekennzeichnet. Der Rückgang auf den Ursprung erfolgt über das Sekundäre, Abgeleitete, das aber eben, wie nichts sonst, auf den Ursprung verweisen kann. Das »Gekribsel« kontaminiert in Robert Walsers Brieftext das Gekritzel und das mit dem Verfahren im »Bleistiftgebiet« ebenfalls verbundene Geschnipsel, das heißt das Auseinanderschneiden der Blätter, mit einem ›Kribbeln‹, wie es sich einstellt, wenn taub gewordene Glieder sich wieder beleben, vitale Funktionen sich wieder regen. Das Datum allerdings ist im buchstäblichen Sinne des Wortes dabei entfallen; es »fällt leider nicht in den Kopf«, es ist vielmehr aus dem Kopf gefallen. Und das »Gekribsel« scheint von dieser Art der Vergessenheit affiziert. Die Miniaturisierung der Schrift, in der ein Maß der Verräumlichung und damit der Lesbarkeit weit unterschritten ist, scheint das graphische analogon einer buchstäblich ›im Grunde‹ undarstellbaren Schwelle der Zeichenbildung. Auch die Mikrogramme tragen kein Datum. Sie unterscheiden sich darin grundlegend von einem Tagebuch. Nachträgliche Datierungen müssen sich auf den Augenschein verlassen, auf die Unterscheidung von Papiersorten – wie sie Jochen Greven bereits für die in den Sämtlichen Werken gesammelten Texte unternommen hatte.26 Für die Mikrogramme gilt grundsätzlich: Je kleiner die Schrift, desto später der Text. Doch finden sich darüber hinaus noch andere materiale Indizien.
23 | Roman Jakobson: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, Frankfurt a.M. 1969, S. 26 und S. 31; zit.n. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, München 2008, S. 179. 24 | Vgl. Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Frankfurt a.M. 1995, S. 15. 25 | Roman Jakobson: Kindersprache; zit.n. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 179f. 26 | Vgl. Jochen Greven: »Editorische Berichte. Zur Datierung des handschriftlichen Nachlasses«, in: SW 20/457-476, S. 460.
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Abbildung 1: Manuskript zum Text Freundschaftsbrief mit einem Anschreiben an den Redakteur, Eingangsstempel »16.9.1918«, Standort unbekannt.
In einem Anschreiben auf dem Blatt der Erstfassung zum Prosatext Freundschaftsbrief lässt sich der Zug der Schrift ins Kleine bereits erkennen (vgl. Abb. 1). Auch die explizite Erwähnung des Bleistiftentwurfs in einem Brief an den Hermann Meister Verlag aus dem Jahre 1919 weist auf diesen Zeitpunkt.27 Dass Robert Walser jedoch bereits 1917 zeitweise sehr klein geschrieben hat, zeigt sich auf der Rückseite einer Postkarte vom September des Jahres an den Verlag Huber & Co.28 Jochen Greven hat vermutet, dass die »Übung des Bleistiftentwurfs […] erst ab 1918/19 (Entstehung des verlo-
27 | Vgl. Brief vom 8. Mai 1919 an den Hermann Meister Verlag, in: Br, S. 167. 28 | Vgl. Anm. zur Postkarte vom 13. September 1917 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 396.
V ORWORT
renen Romans Tobold) anzunehmen« ist.29 Im Brief Robert Walsers an Max Rychner vom 20. Juni 1927, der das Wort vom »Bleistiftgebiet« einführt und das veränderte Erscheinungsbild der Schrift mit einem Kunstwort, einem ›Papierwort‹, manifestiert, ist der Beginn des Verfahrens hingegen implizit auf das Jahr 1917 datiert. Über den vorangegangenen »Krampf«, aus dem sich die Hand im Wortlaut des Briefes auf dem »Bleistiftwege« befreit haben will, heißt es dort jedoch zugleich: »es begann dies schon in Berlin«.30 Die Syntax lässt offen, ob die Datierung auf die Ätiologie zu beziehen sein wird, auf die Entstehungsgeschichte einer Konversion, einer Verschiebung in das körperliche Symptom – oder aber im Gegenteil auf den »Bleistiftweg«, der aus dieser Somatisierung heraus- und in das Schreiben zurückoder besser in eine neue Art des Schreibens wieder hineinführt. Werner Morlang geht, wie Greven, davon aus, »dass der Beginn der Mikrographie vor 1920 angenommen werden darf, und dass folglich diese frühe mikrographische Produktion nicht erhalten geblieben oder besser in die Reinschriften und veröffentlichten Texte jener Zeit eingegangen ist«.31 Und wie zu zeigen sein wird, geht diese Produktion in der Tat auch in die Semantik der Texte jener Zeit ein. Weil sich auf der Rückseite eines Briefes aus dem Jahr 192432 der mikrographierte Entwurf eines Briefes an den Verlag Bruno Cassirer befindet, sei zu folgern, so Morlang, dass diese »Konzeptschrift« hin und wieder im Zusammenhang mit der brieflichen Korrespondenz von Robert Walser verwendet wurde. Doch fehlten weitere Hinweise hierzu, »es sei denn, man lasse die Beobachtung dafür gelten, dass viele Texte Walsers aus den Berner Jahren, insbesondere auch in den [damals noch; Anm. d. Verf., KS] unveröffentlichten ›Mikrogrammen‹, die Briefform fingieren«. Um 1927 wird der Brief in mehreren Texttiteln Robert Walsers explizit, so im Brief an ein Mitglied der Gesellschaft. Ähnlich aber, 29 | SW 19/462 [Anm. zum Text Bleistiftskizze]. Eine Spur im Prosatext Freiburg, auf den weiter unten zu kommen sein wird, deutet Greven dahingehend, dass Robert Walser bereits vor Abschluss des Tobold-Romans im März 1919 mit der Bleistifttechnik begann, also im Verlauf der Arbeit an diesem Roman, dessen Manuskript verschollen, mutmaßlich vom Autor selbst vernichtet ist. Vgl. das Nachwort des Herausgebers in: SW 16/418-424, S. 422f. Es kann aber, wie in der Folge nachzuweisen versucht wird, der Text Hans mit dem Datum seiner Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Die Schweiz im Sommer 1916 als terminus post quem, mit seinem Erscheinen im Band Seeland im Herbst 1920, dessen Vorgeschichte in das Frühjahr 1917 zurückreicht (vgl. Jochen Grevens Nachwort, in: SW 5/209ff.), als terminus ante quem für die Praxis der Mikrogramme gelesen werden. Und das gilt ebenso für den Text Der Doktor, zuerst erschienen im März 1914 in den Deutschen Monatsheften (Die Rheinlande), im Vergleich zu seiner späteren Fassung mit dem Titel Doktor Franz Blei im Januar 1917 in der Zeitschrift Die Schaubühne. 30 | Brief vom 20. Juni 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 301. 31 | Vgl. das Nachwort in Mikro, Bd. 2, S. 507 sowie Werner Morlang: »Das eigentümliche Glück der Bleistiftmethode«, S. 96f. 32 | Vgl. Brief (mutmaßlich vom August 1924) an Frieda Mermet, in: Br, S. 218.
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wie sich »die in den ›Mikrogrammen‹ gehäuft auftretenden, intermittierenden Anreden«33 der Leserschaft bereits in früheren Prosastücken finden, ist auch der Brief bereits in der Bieler Prosa Titelwort – so im Freundschaftsbrief. Und das Manuskript dieses Prosastückes enthält eben die mikrographierte briefliche Mitteilung an den Redakteur, »deren minimalisierte Schriftzüge den Entwürfen um 1924/25 in keiner Weise nachstehen«, deren Schriftzüge sich nicht von den frühesten, erhalten gebliebenen Mikrogrammen unterscheiden, wie Morlang feststellt.34 Anders als in den späten Texten aus der Zeit um 1927 fällt jedoch auf, dass es in der Bieler Prosa daneben direkte Apostrophen, Briefanreden gibt, wie etwa in den Titeln Liebe kleine Schwalbe und An den Bruder! Und der letztere Titel lässt dabei, emphatisch mit einem Ausrufungs- als Anrufungszeichen versehen, Joseph von Eichendorffs Gedicht An meinen Bruder (1815) anklingen. Gerade auch die Texte der Bieler Prosa weisen, so die These, kryptiert auf den Beginn der Mikrographie. Und wenngleich grundsätzlich unwägbar bleibt, wie nahe der Erstabdruck eines Textes an das meist unbekannte Entstehungsdatum heranführt,35 lassen die Erscheinungsdaten dieser Texte so doch auch auf einen Zeitpunkt für den Beginn des Verfahrens schließen.36
33 | Werner Morlang: »Das eigentümliche Glück der Bleistiftmethode«, S. 97. 34 | Werner Morlang: »Nachwort« in Mikro, Bd. 2, S. 506-522, S. 507. 35 | Vgl. Nachwort des Herausgebers Jochen Greven, in: SW 16/424. 36 | Vgl. SW 19/462, Anm. zu S. 119.
I. Traumgespinste, Schriftgespinste
Die Signifikanz, die den Mikrogrammen in ihrer ›Materialität‹ zukommt, scheint über das Anekdotische weit hinauszugehen. Jenseits des entzifferten Textsinns haftet der Mitteilung hier noch etwas anderes an. Um dieses aufzuspüren, sollen sich im Folgenden Lektüren zu Robert Walsers gesamtem Werk, insbesondere aber zur Bieler Prosa entfalten, und zwar im Rekurs auf die historischen Interpretamente der Hieroglyphe, des Emblems, der Arabeske, auf die Denkfiguren des Palimpsestes und des Vexierbildes – und im Blick auf das Kalligramm. Es sind Lektüren, durch die das Rätsel der Mikrogramme nicht etwa geklärt werden soll. Denn Rätsel sind die Mikrogramme nur, wo ihrer ›Materialität‹ eine besondere Signifikanz zugesprochen wird. Und eben das soll – durch »das sorgfältige Entwirren einander bekämpfender Bedeutungskräfte im Text« – geschehen.1 Jochen Greven hat bereits darauf hingewiesen, dass das Textkorpus der Bieler Prosa auf besondere Weise homogen erscheint; und in der Tat ist es durchzogen von bereits aus der literarischen Romantik her bekannten Motiven, die in immer neuer, wiederholter Umschrift variieren.2 Die Kontinuität von ›Schlüsselwörtern‹, die erst durch den wiederholten Gebrauch zu solchen werden, lässt das Korpus dabei als ein »Ganzes, Ein1 | Barbara Johnson: The Critical Difference. Essays in the Contemporary Rhetoric of Reading, Baltimore 1980, S. 5; zit.n. Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 237. 2 | Die Motive selbst scheinen dabei in gewissem Sinne nur Mittel und Anzeige, Indikatoren und Symbole einer anderen, grundlegenderen Bewegung zu sein, in der die Dichtung sich »als ein Medium sich perpetuierender Reflexion erweist«. Darauf weist bereits Martin Jürgens im Zusammenhang mit Robert Walser hin und schreibt, mit Bezug auf die ästhetische Programmatik der Romantik im berühmten 116. Athenäum-Fragment von Friedrich Schlegel, dass gerade in einer Perspektive, die den Charakter der literarischen Moderne mit der romantischen Dichtungstheorie als vermittelt bestimmt sieht, »auch das Werk Robert Walsers seinen Stellenwert« hat. Vgl. Martin Jürgens: Die Krise der Darstellbarkeit. Untersuchungen zur Prosa Robert Walsers, Kronberg/Taunus 1973, S. 39, Anm. 43.
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ziges, Zusammengehöriges« erscheinen, als jenes paradoxe Integral, das bereits die erste Buchpublikation Robert Walsers nach den Vorstellungen des Autors im Jahre 1904 hatte werden sollen: »Das Buch ist Sammelband, und muss nach meinem Gefühl alles, oder von allem etwas enthalten, was ich bis dahin geschrieben habe./Abteilungen wünsche ich keine, sondern ich denke es mir am besten und schönsten, alles hintereinander zu drucken, als ein Ganzes, Einziges, Zusammengehöriges, denn so ist es in der Tat.«3 Auch 1907 erwähnt Robert Walser gegenüber Alfred Walter Heymel seinen Wunsch nach einer konstellativen Form der Publikation, dem Vorbild »ältere[r]« Almanache folgend, Kompendien, in denen Textproben unterschiedlicher Autoren versammelt sind – und möglicherweise geht es ihm dabei auch um die Musenalmanache aus der Zeit von 1815 bis 1830.4 Das Bleistiftgebiet stellt viel später mithin nicht nur einen Raum für die Restitution all jener Wünsche für die Publikation der eigenen Texte bereit, die mit der Praxis des Buch- und Verlagswesens nicht zu vereinbaren gewesen waren, sondern es weist auf diese Almanache – und auf den arabischen UrAlmanach, ein Kalendarium, in dem astronomische Daten mit Text supplementiert wurden. Und wo beispielsweise im sogenannten TagebuchFragment Robert Walsers Daten als distinktes Merkmal der angespielten Gattung und von ›außen‹ an den Text herangetragenes Ordnungszeichen fehlen, so gibt es für diesen Text doch eine Verbindung zur Vorschrift des Datums in einem Verhältnis wechselseitigen Kommentars zwischen dem vorbedruckten Blatt des Kalenders und dem darauf notierten Text – auch wenn es keine Korrelation zwischen dem Kalendarium und dem Zeitpunkt der Textentstehung gibt. Vergleicht man nämlich die Erscheinungsdaten von aus den Kalenderblättern veröffentlichten Texten mit den Daten der Kalenderblätter, auf denen diese notiert sind, »ergibt sich, daß verschiedene Prosastücke bereits vor dem Datum der entsprechenden Kalenderwoche publiziert waren«.5 Anachronizität scheint in einem sehr grundsätzlichen Sinn Merkmal von Robert Walsers Prosa zu sein – ebenso wie Textverlust. Sein Werk war zwar da, schreibt Greven, der Robert Walser bezogen auf die 1920er Jahre als einen »zu guten Teilen apokryphen« Autor bezeichnet hat, »aber es war zugleich verborgen, in alle Winde zerstreut, mit dem Erscheinen auch schon verloren und wieder vergessen. Auch er selber hatte offenbar hunderte seiner Prosastücke und Gedichte, die er irgendwohin eingeschickt hat3 | Brief an den Insel Verlag vom 22. Mai 1904, in: Br, S. 28. 4 | »Ich habe gestern bei S. Fischer’s solche reizende kleine ältere Almanache gesehen. Könnte man nicht meine Gedichte und vielleicht die lyrische Prosa zusammen in dieser Art herausgeben? Ich meine natürlich das nur so. Vielleicht ist eine derartige Ausgabe vom geschäftlichen Standpunkt aus zu verwerfen.« Brief an Alfred Walter Heymel vom März 1907, in: Br, S. 52. 5 | Bernhard Echte: »Editorischer Bericht« in Mikro, Bd. 4, S. 462-469, S. 465 (Hervorh. v. BE).
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te, verloren und vergessen – er schrieb ja jedes Manuskript von Hand nur in einer Ausfertigung, die Druckbelege aber, wenn es zu einer Veröffentlichung kam, erreichten ihn offenbar manchmal gar nicht erst, oder er verlegte und verschenkte sie.«6 Textverlust dieser Art wird das »Bleistiftgebiet« durch den Selbstbehalt der Erstfassungen verhindern. Die Mikrogramme bilden insofern auch ein Archiv. Und die Genese der Schrift in den Mikrogrammen ist nicht nur in den Raum, in die Kolumnen, die Blätter, sondern auch in die Zeit, die Sukzession der Entwurfsstadien auseinandergelegt. Auf die Entwürfe, die im privatim geführten Archiv formalisiert wurden und zugleich lose, das heißt in jedem Sinne ungebundene Blätter blieben, folgten – nur eben nicht in allen Fällen – Abschriften, welche in die Redaktionen und Verlage versandt wurden, wo sie kursierten und offenkundig nicht selten verlorengingen oder zumindest nicht zum Abdruck gelangten. Als Robert Walser, soviel wir wissen, im Juni 1933 definitiv zu schreiben aufgehört hat, lag weniger als die Hälfte der Textmenge, die er publiziert oder zur Veröffentlichung vorgesehen hatte, in Büchern vor. Seine fünfzehn Bücher enthielten vielmehr kaum ein Drittel dessen, was er tatsächlich geschrieben hatte. Und schon in der Bieler Prosa ist eine Reihe wichtiger Texte »in der ephemeren Form der Einzelabdrucke in Zeitschriften oder Zeitungen«7 verblieben und nicht in die in diesen Jahren noch oftmals konzipierten, in der Folge jedoch immer seltener realisierten Sammlungsbände gelangt. Und doch wird eben die Prosa dieser Zeit zu einem ganz eigenen Diskurs der Wiederholung und der Differenz, zu einer Mythographie, die in unzähligen Variationen einem tradierten Verfahren folgt: der ›Komposition eines Ortes‹.8 Die thematische Konzentration stellt sich der publizistischen Zerstreuung in alle Winde entgegen. In jedem Text neu komponiert, ist dieser Ort allerdings, insbesondere im Topos des Spaziergangs, atopisch, transitorisch, durch Übergänge gekennzeichnet – und darin dem Traum ähnlich. Und der Traum ist, was die Bieler Prosa betrifft, nicht nur vielfach Motiv, sondern auch Metapher der Strukturen,9 Metapher, die, wie zu zeigen sein 6 | Jochen Greven: »›Wenn Robert Walser hunderttausend Leser hätte …‹. Robert Walsers literarische Wirkung«, in: »Immer dicht vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walsers, hg. v. Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1987, S. 271-294, S. 285. 7 | Vgl. Nachwort des Herausgebers Jochen Greven in: SW 16/418-424, S. 419. 8 | Vgl. Geoffrey Hartman: Das beredte Schweigen der Literatur. Über das Unbehagen an der Kultur, Frankfurt a.M. 2000, S. 40. 9 | Peter Utz konstatiert dieses Phänomen für den Tanz: »In der frühen und mittleren Prosa ist Tanz vor allem ein inhaltliches Motiv. Die späten Texte Walsers nehmen zum Motiv zwar Distanz, bewahren seine utopische Qualität aber auf als Metapher ihrer Struktur. ›Mit Worten tanzen‹ ist ein Wort aus dieser späten Prosa.« Peter Utz: »Der Schwerkraft spotten. Spuren von Motiv und Metapher des Tanzes im Werk Robert Walsers«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Jg. 28
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wird, auch auf ihre Konkretionen hin zu lesen ist. Denn das Träumen stellt für Freud »eine Umkehrbewegung«10 dar. Und um eine Umkehrbewegung scheint es in der Tat zu gehen: »Im Traum haben wir die ideale dramatische Verkürzung«, heißt es in der Erstfassung von Robert Walsers Text Das Theater, ein Traum (I), die bereits 1907 in der Zeitschrift Kunst und Künstler erscheint: »Es ist alles verkleinert, aber auch verschrecklicht im Traum«.11 Für die Mikrographie ließe sich dieser Satz umkehren: Hier ist alles verschrecklicht und gerade darum verkleinert. Im »Schleier des Traums«, so hat Gaetano Benedetti es dargelegt, kann der Träumende Konflikte, die im Wachzustand zu schmerzlich sind, dank der Metaphern und Allegorien des Traums meditieren. Der Traum potenziert dabei ein Geschehen, das in der Symbolbildung ohnehin statthat; im »Auftauchen des Symbols« wird »die Erschaffung einer inneren Welt ermöglicht, in der die einen Bilder wie die Rückseiten von anderen erscheinen«.12 Der Traum ist vor allem Ausdruck des Wunsches nach (indirekter) Darstellung. Er ist eine diskontinuierliche Erzählung. Existentieller Schmerz kann verwandelt werden, indem er in den Trugbildern des Traums reflektiert wird, und doch ist die Traumerzählung, so verworren sie erscheinen mag, etwas im wörtlichen Sinn Bedeutendes, Vorausbedeutendes. Und in diesem Sinn findet sich der Traum bereits in den Romanprojekten oder besser den Romanfragmenten der Romantik: als eine »Selbstentzifferung«.13 So im Heinrich von Ofterdingen des Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg). Die Klischees der literarromantischen, metaphorischen Bildsprache sind in Robert Walsers Text Ein Poet, der im Dezember 1920 in der Zeitschrift Das Tage-Buch erscheint und damit gegen Ende des die Bieler Jahre hindurch währenden Prozesses der wiederholten Umschrift dieser romantischen Motive, dabei bereits als solche Klischees reflektiert: »Die Nacht glich einer schlafenden Frau, der Mond einem Traum. Solche und ähnliche Worte sind sicher schon oft gesagt worden, und ich bedaure, sie nicht umgangen zu haben.«14 Obgleich diesen »Worte[n]« ihre metaphorische Vernutzung anhaftet, können sie, ebensowenig wie der somnambul beleuchtete Körper der Frau, der in seinem hellen Fleisch paradoxerweise der Nacht gleicht (wie der helle Mond dem dunklen Traum) »umgangen« werden. Die Worte sind sicher »schon oft gesagt worden«, wendet das poetische Ich ein – und beleuchtet so auch den Umstand der reinen Projektionsfläche, welche die Frau darstellt. Der Schlaf, das Schweigen, das sich darüber ge(1984), S. 405; zit.n. Marion Gees: Schauspiel auf Papier. Gebärde und Maskierung in der Prosa Robert Walsers, Berlin 2001, S. 13. 10 | Vgl. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 50. 11 | SW 15/7. 12 | Gaetano Benedetti (unter Mitarbeit von Alice Bernhard-Hegglin): Symbol, Traum, Psychose, Göttingen 2006, S. 14f. 13 | Ebd., S. 72. 14 | SW 16/220.
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breitet hat, ist eben auch jenes Schweigen, das der Frau obliegt, damit sie diese Projektionsfläche bilden, damit sie das stumme, nicht lebendige, petrifizierte Bild sein, damit sie, nicht in irgendeiner Differenz zu sich selbst befindlich, fixiert werden kann.15 Das Gegenbild zur Vereindeutigung durch die Worte, die »sicher schon oft gesagt worden« sind, wären Worte, die zum ersten Mal gesagt würden. In der »Distanz zum großen Wort« wäre die Alternative »nicht nur das beredte Schweigen, sondern auch das prägnante Sprechen, eines, das Worte findet, wo sonst die Stereotypen prasseln«.16 Im Text mit dem Titel Kleine Komödie, einem unveröffentlichten Manuskript aus den Jahren 1927/28, ist die Mühe geschildert: »Worte zu finden, die mich wie neu anmuten, die nicht zu treffend sind, die sich anhören, als sei der, der sie schrieb, etwas wie ein Zeichner.«17 Robert Walsers Text Ein Poet beleuchtet die psychologische Herkunft der existentiell bestimmenden Verkürzung und Vereindeutigung, und doch sind es nicht nur die Worte, die in einem trivialen Sinn natürlich ohnehin schon oft gesagt worden sind, die an etwas erinnern, und es ist nicht nur die Wortwahl, die Rhetorik, die an etwas erinnert, woran im Übrigen die Motive der Frau, des Mondscheins usf. auch erinnern. Es ist die »Beziehung widerspiegelnder Analogie«18, das Verhältnis wechselseitiger Annäherung, mit der hier Antinomien als Analogien, mit der Gegensätzlichkeiten als Ähnlichkeiten gedacht sind, welches an die literarische Romantik denken lässt. Und dabei geht es auch um das Evokative, das der Text von Robert Walser selbst benennt, denn in der Tat mussten bereits die romantischen Bilder mehr erwecken als bezeichnen, weil, wie Norbert Altenhofer ausgeführt hat, die Struktur einer neuen, romantischen Symbolsprache »von der Erfahrung des Hiatus zwischen Zeichen und Bezeichnetem und einer daraus entspringenden grundsätzlichen Ambiguität der Bilder« bestimmt war.19 In Robert Walsers Text Ein Poet hat sich zudem, ähnlich unweigerlich wie die wechselseitige Affizierung, noch etwas anderes ins Bild geschoben, etwas, das bereits Novalis als Ideal des romantischen Bu-
15 | Vgl. Birgit Hoppe: »Das Schweigen der Frauen – Leugnen der Differenz«, in: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit, hg. v. Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Berlin 1992, S. 107-116, wo es heißt: »Die Stimme der Frauen liegt in den differierenden Stimmen der einzelnen Frau.« Ebd., S. 115. 16 | Barbara Sichtermann: »Die schweigende Mehrheit war weiblich«, in: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit, S. 128-137, S. 136. 17 | SW 19/292. 18 | Vgl. Gerard Genette: Mimologiken. Reise nach Kratylien, München 1996, S. 10. 19 | Norbert Altenhofer: »Chiffre, Hieroglyphe, Palimpsest: Vorformen tiefenhermeneutischer und intertextueller Interpretation im Werk Heines«, in: Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik, hg. v. Ulrich Nassen, Paderborn u.a. 1979, S. 149-193, S. 166.
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ches erschienen war20 und das sich, als Buch der Bücher, nun noch einmal anders ambiguisiert zeigt: »Mir erschien die Religion wie eine Art Roman, und die biblische Geschichte floß in mich als etwas ebenso Schönes wie Selbstverständliches./Die folgenden Jahre verbrachte ich mit Aufwachsen. Alles, was in dieser schlichten Ausdrucksweise liegt, will ich übergehen, denn ich fühle mich verpflichtet, mich vor Weitschweifigkeit in acht zu nehmen.«21 Vor den Implikationen des Heranwachsens als einem Bildungsprozess ist, wie vor den Hyperbeln, den Ausschweifungen der Erzählung gewarnt. Die literarische Phantasie kann jedoch, so Walter Keutel, für Robert Walser niemals ›ausschweifend‹ sein, da Erfahrung und Imagination in seinem Blick eine unzertrennbare epistemologische Einheit bilden.22 Eher wohl bildet die Warnung vor der Hyperbel also einen Verweis auf die Fiktionalität des Textes aus, der eben keine Autobiographie ist.23 Und darüber 20 | Vgl. Marianne Schuller: Romanschlüsse in der Romantik. Zum frühromantischen Problem von Universalität und Fragment, München 1974, S. 75, und Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. v. Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart u.a. 1960ff., Bd. 3, S. 321: »Jedes Menschen Geschichte soll eine Bibel seyn – wird eine Bibel seyn. […] Eine Bibel ist die höchste Aufgabe der Schriftstellerey.« Und so soll auch der eigene Roman, und d.i. Heinrich von Ofterdingen, »eine scientifische Bibel werden ein reales, und ideales Muster – und Keim aller Bücher« (Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 363). Der Vorgang, der hier im Allgemeinen Brouillon des Novalis, in den Materialien zu einer Enzyklopädistik beschrieben ist, setzt, so Marianne Schuller: Romanschlüsse in der Romantik, S. 76, Anm. 21, einen Begriff von Individualität voraus, der diese als Mikrostruktur von Universalität zu fassen sucht. Novalis selbst schreibt: »Unser Körper ist ein Theil der Welt – Glied ist besser gesagt: Es drückt schon die Selbständigkeit, die Analogie mit dem Ganzen – kurz, den Begriff des Microkosmos aus. Diesem Gliede muß das Ganze entsprechen. So viel Sinne, so viel Modi des Universums – das Universum völlig ein Analogon des menschlichen Wesens in Leib – Seele und Geist. Dieses Abbreviatur, jenes Elongatur derselben Substanz.« Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 650f. (Hervorh. v. N.). 21 | SW 16/219. 22 | Vgl. Walter Keutel: Röbu, Robertchen, das Walser. Zweiter Tod und literarische Wiedergeburt von Robert Walser, Tübingen 1989, S. 45. Historisch lässt sich diese Einheit auf den sogenannten ›Zürcher Literaturstreit‹ zurückführen, in dem die Philologen Johann Jakob Bodmer (Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, 1740) und Johann Jakob Breitinger (Critische Dichtkunst, 1740) gegen das Paradigma der Nachahmung, und damit gegen Johann Christoph Gottsched, die freie Erdichtung möglicher Welten, die Legitimität des Wunderbaren verteidigt hatten. Vgl. den Artikel »Poiesis« im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, hg. v. Jan-Dirk Müller et al., Berlin, New York 2003, S. 11-115, S. 114. 23 | Für Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. 1994, S. 49, ist die Autobiographie eine »vertragliche Gattung«; die Problematik der Autobiographie gründet dabei »auf einer Analyse, die die gesamte Ebene der
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hinaus weist die Warnung auch auf eine weiblich konnotierte Geschwätzigkeit, die, in einer Tradition erzwungener Schweigsamkeit von Frauen, das Komplement zu dieser bildet. Im buchstäblichen Sinne überschlagen ist dabei das literarische Großgenre des klassischen Bildungsromans. Die implizite Abgrenzung erfolgt jedoch zugunsten von etwas anderem, denn ähnlich wie das evozierte Maternale, wie die Muttermilch – und die dem Gestilltwerden »folgenden Jahre« sind ja die des Aufwachsens – scheinen die Worte, die Motive der literarischen Romantik eben unumgänglich – und dabei äußerst ›nahrhaft‹. In der Bieler Prosa bilden sie eine metonymisch grundierte Varianz aus, die sich mittels einer assoziativen Brücke in der ›Materialität‹ der Mikrogramme wiederzufinden scheint, deren Schrift im Übrigen mit einem in der Textilindustrie gebräuchlichen Fadenzähler entziffert werden konnte. Das tertium comparationis bildet das Lexem ›Gespinst‹, das sich im Wörterbuch der Brüder Grimm in der wörtlichen Bedeutung von ›Muttermilch‹ verzettelt findet. Das ›Gespinst‹, hervorgegangen aus dem älteren ›gespünst‹ und mhd. ›gespunst‹, bezeichnet nicht nur das einfache Garn, den Faden, sondern den ungesponnenen Spinnstoff (»ein wickel flachs oder wolle«) wie auch das Gewebe in Hinsicht auf die darin versponnenen Fäden.24 Weiß wird es zum Leichentuch. Aber nicht nur das Florgespinst ist gemeint, sondern auch das von Insekten gesponnene Gewebe, etwa das Spinnennetz oder das Gespinst der sich entpuppenden Raupe und des Seidenwurms, der Kokon. Und das weist auf die übertragenen Bedeutungen, wo das Gespinst »etwas gewebe- oder netzähnliches« ist, wo bildlich die Rede ist vom ›faden der erzählung‹, vom »schleier der nacht, des schattenreiches«, vom »traumesweben« und vom »spinnen der gedanken«, insbesondere in »phantastischen anschauungen«, wie beim Hirngespinst, oder im »gewebe der lüge, des betruges«, im Lügengespinst; »als übersetzung des lat. pensum« ist das Gespinst schließlich nicht nur das vollendete Werk, sondern metonymisch auch die Arbeit des Spinnens – und die Freundschaft, die sich in der Arbeit in Gesellschaft anderer wortwörtlich ›entspinnt‹. In einer weitePublikation einbezieht, also den impliziten oder expliziten Vertrag, den der Autor dem Leser anbietet, einen Vertrag, der die spezifische Lesart des Textes bestimmt und Effekte erzeugt, die dem Text zugeschrieben werden und ihn als Autobiographie zu definieren scheinen. Die Ebene, auf der die Analyse erfolgt, ist also die Beziehung Publikation/Publiziertes, die in einem gedruckten Text der Beziehung Äußerung/Aussage in der mündlichen Kommunikation entspricht.« Ebd., S. 50; Hervorh. v. PL. 24 | »Ein eigenwilliger Status ist den Fäden und Schnüren eigen«, schreibt Gunnar Schmidt, »ein Status der Undeutlichkeit und Zwischenhaftigkeit: […] Der Faden ist ohne System, Gebrauchsoffenheit seine Qualität. Im ungenutzten Zustand beinhaltet er ein Potential, dessen Realisierung ihn erst zum Objekt macht. Jemand muss ihn ergreifen, ihn gestalten, ihm eine Funktion geben.« Gunnar Schmidt: Ästhetik des Fadens. Zur Medialisierung eines Materials in der Avantgardekunst, Bielefeld 2007, S. 7f.
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ren im Wörterbuch der Brüder Grimm verzettelten, bildlichen Bedeutung geht es um die »gedankenarbeit des dichters und schriftstellers«; sprichwörtlich heißt es dort: »kunst geht für gspunst [sic!]«; und ›gspunst‹ ist dabei der Ausdruck für Freundschaft, Kameradschaft. In den Sprachformen Gespinst und Gespunst/Gespünst ist darüber hinaus, wie erwähnt, die Muttermilch bezeichnet, im Gespünn die Mutterbrust – und bildlich eben auch der Katechismus als »eine himlische und geistliche milch, die stim und gespin gottes«.25 Das Gespinst bezeichnet über den einfach oder doppelt gedrehten Faden des Zwirns, bis zum Gewebe mit komplexen Mustern alles, was mit einem oder mehreren Fäden zu tun hat, und doch weist es eben nicht etwa nur auf den einfachen Faden, sondern auf den Wickel, das unbearbeitete Knäuel geschorener Wolle, das Amorphe, aus dem der Faden erst gewonnen werden muss und das in seinem scheinbar gesetzlosen, ›unordentlichen‹ Aufbau gerade auch Gespinst ist. Wie nun aber ist in Robert Walsers Ein Poet die Muttermilch und Mutterbrust in den Zusammenhang des Textes gekommen, wie ist die biblische Geschichte, im Sinne biblischer Historie, als »etwas ebenso Schönes wie Selbstverständliches« eingeflossen? Der Strahl der Milch, mit dem das neugeborene Kind durch die Mutterbrust hindurch ernährt wird, gleicht einem weißen Faden; mit ihm jedoch, und das scheint das entscheidende tertium zu sein, fließt vieles andere mit ein. Es ist die Ur-, die Grundsituation einer Überdetermination, durch die sich auch der Traum bezeichnet zeigt. Mit dem Traum teilt das Gespinst die Vielzahl und Verworrenheit der – Fäden. Der Traum ist gleich mehrfach verschlüsselt: »Die Entscheidbarkeit über den signifikativen Status der Zeichen (wie jeweils und ob antithetisch, literal, metonymisch, symbolisch oder als Wortspiel zu lesen sei), die allein eine Bedeutung garantieren würde, ist in der Spannung von verschiedenen, einander widersprechenden und gleichzeitigen Dimensionen des Traumtextes hintertrieben.«26 Und die Traumdeutung, welche die Traumbilder durch sprachliche Assoziationen ersetzt, schreitet zwar den Weg zurück ab, den die Traumarbeit genommen hat; es ist jedoch, wie Freud selbst betont hat, niemals derselbe Weg, der dabei genommen wird.27 Robert Walsers Mikrogramme nun teilen mit dem Modus der Traumarbeit nicht nur die besondere Logik der Assozia25 | Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 5 (Gefoppe – getreibs), Fotomechan. Nachdr. d. Erstausg., München 1984, S. 4155f. und S. 4171f. 26 | Bettine Menke: »Verstellt – der Ort der ›Frau‹. Ein Nachwort«, in: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, hg. v. Barbara Vinken, Frankfurt a.M. 1992, S. 436-476, S. 456 (Hervorh. v. BM). 27 | Vgl. Roger Hofmann/Burkhardt Lindner: »Traumbild und Trauma – Der Ort des Unheimlichen bei Freud«, in: Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, hg. v. Martin Sturm, Georg Christoph Tholen und Rainer Zendron, Linz 1995, S. 35-48, S. 44.
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tion, der, wie zu zeigen sein wird, auch seine Texte folgen, sondern darüber hinaus eine Rücksicht auf Undarstellbarkeit, um ein Wort Sigmund Freuds in seiner Verkehrung zu zitieren. Zusammen mit den Prinzipien der Verschiebung und Verdichtung bildet die »Rücksicht auf Darstellbarkeit«28 in Freuds Traumdeutung eine der drei Konstitutionsbedingungen des Traums aus. Weniger euphemistisch ließe sich diese ›Rücksicht‹ dabei auch als Zensur des Bewusstseins beschreiben, ist sie doch »lediglich eine Chiffre für etwas, was als traumbildende Kraft keinen klaren Status bekommt«.29 In Jacques Lacans Freud-Lektüre bildet diese Rücksicht: eine Beschränkung, die sich im Innern des Systems der Schrift auswirkt, […]. Vielleicht wären in diesem Zusammenhang die Probleme verschiedener Arten von Bilderschrift aufzuklären, die man allein aus dem Umstand, daß man sie in der Schrift als unvollkommen aufgegeben hat, nicht als bloße Entwicklungsstadien betrachten darf. Der Traum scheint uns vielmehr jenem Gesellschaftsspiel zu gleichen, bei dem man auf einem Schemel stehend den Zuschauern einen bekannten Ausspruch oder die Abwandlung eines solchen zu erraten gibt allein mit Hilfe einer stummen Darstellung. Daß der Traum über das Sprechen verfügt, ändert daran nichts, denn für das Unbewußte ist dieses nur ein Inszenierungselement wie die anderen. Genau dann, wenn sowohl das Spiel als auch der Traum sich daran stoßen, daß das taxematische Material zur Darstellung der logischen Figuren der Kausalität, des Widerspruchs, der Hypothese usw. fehlt, zeigt sich, daß sowohl das eine wie der andere ein Geschäft der Schrift und nicht der Pantomime sind. 30
Robert Walsers Mikrogramme teilen in ihrer ›Materialität‹ etwas mit, das sich der Darstellung andernfalls entzogen hätte, und die wiederholt von der Forschung aufgeworfene Frage, ob sich die Schriftproduktion dabei langsam oder zügig vollzogen haben wird,31 scheint weniger wichtig als der Um28 | Vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Werke, hg. v. Anna Freud et al. (unter Mitwirkung von Marie Bonaparte), Bd. II/III, London 1942, S. 344ff. 29 | Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 53. 30 | Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud« [1957], in: ders.: Schriften II, ausgewählt, übers. und hg. v. Norbert Haas, 3. korrigierte Aufl., Weinheim, Berlin 1991, S. 15-55, S. 37 (Hervorh. d. Verf., KS). Das »Drängen« im Titel Lacans ist dabei auch zu übersetzen als der Sinn, die Richtung des Buchstabens – oder als Gespür für den Buchstaben. Vgl. ebd., S. 19, Anm. 7. 31 | Jochen Greven vertritt bereits in: Robert Walser. Figur am Rande, S. 30, die Auffassung, dass Robert Walser weiterhin sehr rasch schrieb, in einer Art »privater Stenographie«, wobei die »Winzigkeit der Zeilen« beim Wiedererkennen und Abschreiben Verzögerungen verursachen mochte. Bernhard Echte und Werner Morlang hingegen gehen von einer Verlangsamung des Schreibens aus, wie Robert Walser sie auch selbst be- oder besser umschreibt – denn mit der »kolossalen Langsamkeit«, von der im Brief an Rychner vom 20. Juni 1927 die Rede ist, kann das ganze System, in Bezug auf die Notwendigkeit der Abschrift der Texte
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stand, dass diese Produktion vor allem dem Postulat der Unabgesetztheit folgte, dem sich auch die surrealistische écriture automatique verpflichtet sah, die, ähnlich wie die stumme Darstellung der surrealistischen Charade, die Lacan schildert, ›automatisch‹ das Unbewusste zu seiner verstellten, entstellten Erscheinung bringen sollte. Und dabei handelt es sich allerdings um einen simulierten Automatismus, wie Jean Starobinski, diese Art Mystifikation einschränkend, bemerkt hat.32 Freuds Traumdeutung spricht dabei nicht nur von der Rücksicht auf, sondern synonym auch von den »Grenzen der Darstellbarkeit«. Es gibt Darstellbarkeit – wenn auch in gewissen, engen Grenzen, in denen etwas immer aufs Neue überschrieben wird. Und so geht auch Freuds Wort von den Grenzen der Darstellbarkeit auf Novalis und dessen Romanfragment Heinrich von Ofterdingen zurück, wo es in Bezug auf die Dichtung heißt: Kann ein Gegenstand zu überschwänglich für die Poesie sein? Allerdings. Nur kann man im Grunde nicht sagen, für die Poesie, sondern nur für unsere irdischen Mittel und Werkzeuge. Wenn es schon für einen einzelnen Dichter nur ein eigenthümliches Gebiet giebt, innerhalb dessen er bleiben muß, um nicht alle Haltung und den Athem zu verlieren: so giebt es auch für die ganze Summe menschlicher Kräfte eine bestimmte Grenze der Darstellbarkeit, über welche hinaus die Darstellung die nöthige Dichtigkeit und Gestaltung nicht behalten kann, und in ein leeres täuschendes Unding sich verliert. 33 aus dem »Bleistiftgebiet«, gemeint sein (vgl. Br, S. 300). In jedem Fall ist Robert Walsers, mit Freud zu sprechen, gleichschwebende Aufmerksamkeit beim Schreiben das genaue Gegenteil eines stenographischen Prinzips, das Gegenteil einer buchstabengetreuen Abschrift, in die gerade nichts ›Fremdes‹ im buchstäblichen Sinn des Wortes ›einfallen‹ darf. 32 | Vgl. Tamara S. Evans: Robert Walsers Moderne, S. 128. 33 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 285. Darstellbarkeit ist, so schreibt es Herbert Uerlings, bei Novalis Synonym für Transzendentalphilosophie. Novalis selbst schreibt: »Darstellbarkeit, oder Denkbarkeit ist das Kriterium der Möglichkeit aller Filosofie. Nur das besonders Bestimmte können wir denken und ordnen.« (Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 217.) Für die Philosophie, der es um etwas Unendliches und Undenkbares zu tun ist, so Uerlings, ist damit »eine Grenze erreicht, mit deren Überschreitung die romantische Darstellung allererst beginnt«. Und die »unvermeidliche Täuschung bei jeder Darstellung soll mit dargestellt werden, um die Illusion der Transparenz der Zeichen und der vollen Präsenz des Dargestellten zu zerstören. […] Es geht also darum, Zeichen und Bezeichnetes nicht zu verwechseln und die unhintergehbare Gegenständlichkeit des Zeichens nicht zu leugnen.« Herbert Uerlings: »Darstellen. Zu einem Problemzusammenhang bei Novalis«, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hg. v. Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann, Würzburg 2004, S. 373-391, S. 378f. (Hervorh. v. HU). Bei Novalis selbst heißt es: »Wenn der Caracter des gegebenen Problems Unauflöslichkeit ist, so lösen wir dasselbe, wenn wir seine Unauflöslichkeit darstellen.« (Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 376.) Diese Darstellung des Undar-
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Als »leeres täuschendes Unding« ließe sich auch der Traum beschreiben, als Trugbild. Und doch sind die Traumgedanken »uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte«,34 schreibt Freud: »Die Verschiebung erfolgt in der Regel nach der Richtung, daß ein farbloser und abstrakter Ausdruck des Traumgedankens gegen einen bildlichen und konkreten eingetauscht wird. Der Vorteil, und somit die Absicht dieses Ersatzes, liegt auf der Hand. Das Bildliche ist für den Traum darstellungsfähig, läßt sich in eine Situation einfügen, wo der abstrakte Ausdruck der Traumdarstellung ähnliche Schwierigkeiten bereiten würde wie etwa ein politischer Leitartikel einer Zeitung der Illustration.«35 Die Transformation der Traumgedanken zu Traumbildern folgt demselben Anliegen wie im Wachleben das bereits aus dem Barock her bekannte Emblem, das als »Miniaturbühne«36 eine Wissensform ist, bei der Abstrakta in Bilder umgesetzt werden: »Die Doppelfunktion des Abbildens und Auslegens, Darstellens und Deutens, welche die dreiteilige Bauform des Emblems übernimmt, beruht darauf, daß das Abgebildete mehr bedeutet, als es darstellt.«37 Das Emblem zeichstellbaren ist dann selbst eine »nothwendige Fiction«. Novalis: Schriften: Bd. 2, S. 179 (Hervorh. v. N.). 34 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 283f. (Hervorh. d. Verf., KS). 35 | Ebd., S. 345 (Hervorh. v. SF). 36 | Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, 3. Aufl. mit Anmerkungen, München 1993, S. 225. 37 | Ebd., S. 22. Die Emblematik entwickelte sich aus der Beschäftigung insbesondere der Florentiner Humanisten mit den ägyptischen Hieroglyphen. Ihre Versuche, die geheimnisvollen Schriftzeichen zu entziffern, von denen sie bei Platon und anderen antiken Schriftstellern gelesen hatten »und die man auf den ägyptischen Obelisken, Sphinxen oder Löwen erblickte, sind vor allem durch die Hieroglyphica des Horapollo angeregt worden. Vermutlich in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts n. Chr. entstanden, ist dieses merkwürdige Erzeugnis alexandrinischer Gelehrsamkeit 1419 in einer griechischen Fassung nach Italien gebracht und dort zu Anfang des 16. Jahrhunderts im Druck verbreitet worden, seit 1517 auch in lateinischer Übersetzung. Hier schien der Schlüssel zur Entzifferung der Hieroglyphen gefunden, der Zugang eröffnet zur Urweisheit des frühen Menschengeschlechts, zu den Geheimnissen der göttlichen Weltordnung, die man in den Rätselbildern Ägyptens überliefert glaubte. Freilich, was der Horapollo in seinem lexikalisch-exegetischen Bilderverzeichnis darbot, war eine aus hellenistischer Zeit stammende Geheimschrift, in der jede dieser änigmatischen Hieroglyphen für einen bestimmten Begriff oder Sachverhalt eingesetzt war: eine reine Bilderschrift, die keineswegs zum Verständnis der eigentlichen ägyptischen Hieroglyphenschriften führen konnte. Die Ägyptologie ist 1799 durch den dreisprachigen Stein von Rosette eines Besseren
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net sich dabei durch eine »Priorität des Bildes«38 aus. Das Bild lässt sich, so schreibt auch Freud, besser »in eine Situation einfügen«. Und es sind solche Situationen, die dem menschlichen Wesen »einen Platz auf den Achsen der Generationen und der Geschlechter erst zuweisen«.39 Im Emblem »verräumlicht sich nicht die Spur des Realen«, wie Michael Wetzel darlegt: »Zwar beansprucht die pictura (Icon, Imago) für sich durchaus einen bildhaften Eigenwert, der als das Wirken der Einbildungskraft, der zwischen Denken und Anschauen vermittelnden Imaginatio oder Phantasie, zum Ausdruck kommt. Diese wird aber sogleich von den sie umrandenden Textelementen der inscriptio (Motto) und der subscriptio (Epigramm) wieder in Sprache eingebunden. Der Blick wird gleichsam mit einer Vorschrift im Ohr ins Bild entlassen, um auf dessen anderer Seite, vom Sichtbaren belehrt worden. Aber so unzureichend das wissenschaftliche Ergebnis der humanistischen Entzifferungsspekulationen seitdem genannt werden muß, so fruchtbar wurde dieses Mißverständnis doch im Bereich der Kunstgeschichte.« Seit Alciatis Emblematum liber von 1531 bestimmte die Verbindung von Bild und Text in einem dreiteiligen Aufbau die äußere Form des Emblems: »Die pictura (Icon, Imago, auch Symbolon) zeigt beispielsweise eine Pflanze oder ein Tier, Geräte, Tätigkeiten oder Vorgänge des menschlichen Lebens, eine mythologische, biblische, historische Figur oder Szene. […] Über dieser pictura, bisweilen noch in ihr Blickfeld einbezogen, erscheint in der Regel eine kurzgefaßte Überschrift, die lateinische, mitunter auch griechische oder volkssprachliche inscriptio (Motto, Lemma), die nicht selten antike Autoren, Bibelverse oder Sprichwörter zitiert. Sie gibt in manchen Fällen nur eine Beschreibung des Abgebildeten, häufiger eine aus dem Bilde abgeleitete Devise oder knappe Sentenz, eine sprichworthafte Feststellung oder ein lakonisches Postulat. Unter der pictura schließlich erscheint die subscriptio, die das im Bilde Dargestellte erklärt und auslegt und aus dieser Bildbedeutung häufig eine allgemeine Lebensweisheit oder Verhaltensregel zieht: zumeist ein Epigramm von unterschiedlicher Länge, an dessen Stelle in manchen Emblembüchern aber auch ein Prosatext von größerem Umfang tritt. Mit der in Prosa gefaßten subscriptio freilich ist schon die Auflösung der emblematischen Grundform vorgebildet, die am Ende dazu führt, daß die inscriptio zur Kapitelüberschrift, die pictura zum Initialbild, die subscriptio zum Predigttext ausartet.« (Ebd., S. 18ff.) Nicht in der ersten Ausgabe des Emblematum liber, wohl aber in späteren Emblembüchern wurde dadurch, dass meist ein Emblem je Buchseite erschien, die Einheit dieses dreiteiligen Gebildes sichtbar. In der Literatur manifestiert sich die Wirkung des von Albrecht Schöne beschriebenen produktiven Missverständnisses im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, das Walter Benjamin zu seiner in Ursprung des deutschen Trauerspiels entwickelten Auffassung der Allegorie führen wird. Vgl. Schöne, a.a.O., S. 35f. 38 | Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, S. 26 (Hervorh. v. AS). 39 | Friedrich A. Kittler: »›Das Phantom unseres Ichs‹ und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann – Freud – Lacan«, in: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, hg. v. Friedrich Kittler und Horst Turk, Frankfurt a.M. 1977, S. 139-166, S. 149.
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zum Unsichtbaren aufsteigend, wieder auf die Signatur des Buchstäblichen zu treffen.«40 Und um eine solche »Signatur des Buchstäblichen« geht es Robert Walser.
I.1 S CHRIF TBILDER : M INIATURZEITUNGEN , M IKROGR APHIEN Die Romankunst, literarische Gattung des 19. Jahrhunderts par excellence, bewahrt in ihrer äußeren Gestalt »kaum noch irgendein Bildzeichen an etwas Lebendiges«, und wenn wir vom Schriftbild sprechen, schreibt Gerd Mattenklott, »so ist das ein Euphemismus für jeden Bilderfreund, denn was bildet denn das Schriftbild ab? Nichts als sich selbst. In welchem Sinne man immer vom Bildcharakter der poetischen Realität des Romangeschehens sprechen mag: die Poesie des Romans ist eine Fata Morgana unserer Einbildungskraft in einer Bleiwüste.«41 Das geschriebene Wort ist, so Mattenklott, das letzte – und abstrakteste – Resultat eines destruktiven Vermögens, in dem der Romanautor das Leben dekomponiert, zerteilt und präpariert: »Das Leben ist in eine Wüste versetzt worden, der die Schriftzeichen und -zeilen keine andere Ordnung geben als diejenige des Ornaments. Verschriftlichung bedeutet Ornamentierung.«42 Auch das Ornament objektiviert dabei. Der Schreibende kommt darin nicht vor; die Schriftsprache ersetzt den Sprechenden. Im Geschriebenen ist die Autorität, die vormals der Erzähler für sich beanspruchen konnte, auf die Objektivität des Schriftornaments übergegangen. Was gespielt, gesungen, getanzt, erzählt wurde, vergeht, wie der Körper; es haftet dem Körper an, ohne sich zur Dauerhaftigkeit ablösen zu können. Der geschriebene Text hingegen ist das, was überliefert werden kann: »Das Zeugnis des Körpers ist damit historisch überholt.«43 Gerade das aber scheint für die Mikrogramme Robert Walsers nicht in jedem Sinn zu gelten. Sie erinnern an die Graphik jenes politischen Leitartikels, der Freud zur – bildlichen – Illustration einer Grenze bildlicher Darstellbarkeit diente. Mit ihren streng und wie an Blindlinien ausgerichteten Kolumnen und in ihren Anordnungen auf dem Blatt gleichen die Mikrogramme »Miniaturzeitungen«.44 Die Tex40 | Michael Wetzel: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Von den literarischen zu den technischen Medien, Weinheim 1991, S. 65. »Bezeichnenderweise«, schreibt Wetzel, »kehrt denn auch in der barocken Literatur die Metaphorik von Leib und Seele wieder«. 41 | Gerd Mattenklott: »Schriftbilder«, S. 145. 42 | Ebd., S. 146. 43 | Ebd., S. 147. 44 | Bernhard Echte: »Nie eine Zeile verbessert? Beobachtungen an Robert Walsers Manuskripten«, in: Wärmende Fremde. Robert Walser und seine Übersetzer im Gespräch. Akten des Kolloquiums an der Universität Lausanne. Februar 1994, hg. v. Peter Utz, Bern u.a. 1994, S. 61-70, S. 64.
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te existieren im Modus einer Relation, die das Schriftbild mit einschließt, und zwar im Sinne eines Kalligramms, in dem die unsichtbaren Umrisslinien der Kolumnen in ihrem Verhältnis zueinander eine vertraute Figur ergeben, die der Tageszeitung. Und es ist noch an ein anderes Schriftbild zu denken, bei dem es ebenfalls, in einem weit hieratischeren Sinne, um den Prozess der Exegese geht: Die Mikrographie45 ist ursprünglich eine genuin jüdische Kunst- oder besser Diskursform. In den Handschriften seit dem frühen Mittelalter praktiziert, ist sie, mit einer Blütezeit vom 11. bis zum 15. Jahrhundert und wäh45 | Nicht zufällig ist der Zeitpunkt, der im Brief von Robert Walser an Max Rychner implizit als Beginn der Mikrographie Erwähnung findet und der um 1917 liegt, ein Zeitpunkt, zu dem auch Walter Benjamin vergleichbare, wenngleich entzifferbare Mikrogramme zu schreiben begonnen hat. Das klandestine Verfahren beginnt mit der Trauer über den Kriegstod des Freundes Friedrich (gen. Fritz) Heinle, an dessen unersetzbare Stelle Gershom Scholem und damit auch Benjamins in der Folge durch diesen vermittelte Auseinandersetzung mit dem Hebräischen und der Kabbala treten wird. Scholem wird später Benjamins beginnendes Interesse für Konfigurationen in der Fläche so auch in das Jahr 1916 datieren. – Kabbala bedeutet übersetzt Empfang. Gemeint ist der Empfang oder die Überlieferung, die Inempfangnahme einer verborgenen Tradition – einer Tradition des Verborgenen. Bei Benjamin geht es dabei bereits um eine metaphorische Auffassung; die Opazität der Chiffre Kabbala lässt diese zum Gegenstand einer Reflexion der sprachlichen Bedingungen und rhetorischen Transformationen im Vorgang der Überlieferung werden. Die Kabbala als Metaphorik weist »über sich hinaus auf die semiotische Struktur der Sprache überhaupt. Jedes Zeichen erscheint als Interpretation, Verschriftlichung, Übersetzung und Tradierung eines anderen Zeichens.« Andreas Kilcher: »Der Sprachmythos der Kabbala und die ästhetische Moderne«, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. 25 (1993), S. 237-261, S. 240f., Zitat S. 244. Kilcher versteht Überlieferung hier »als ein unterschiedlich stark eingreifendes Arbeiten an einem mythischen Traditionsbestand – und das heißt: rezitieren, zitieren, wiederholen, überliefern, übertragen, kommentieren, glossieren, verdoppeln, verschieben, verdichten, parodieren, ironisieren, maskieren, verdrängen, verschweigen, verneinen etc.« Es geht um »die schwer greifbaren rhetorischen Relationsformen der Allegorie, der Metonymie, der Ironie, der Paradoxie, der Parodie, der Katachrese«, das heißt des Bildbruchs. Ebd., S. 39f. Mit der Bestimmung der Kabbala als dem Paradigma einer alternativen Sprachtheorie tritt aber überdies »ein fremder Diskurs in das Feld westlichen Denkens, welcher (auch) seit der (jüdischen) Aufklärung als Irrationalismus diffamiert und in diesem Jahrhundert [dem 20. Jahrhundert, Anm. d. Verf., KS] in Deutschland auch mit Gewalt ausgeschlossen wurde. Romantik und Poststrukturalismus rekurrieren als ästhetische Gegenkonstellation – gegen die okzidentale, eurozentrische, griechisch-christliche ›Logostradition‹ – auf die orientalisch-hebräische Tradition der Sprache und der Schrift, in deren Strom die Kabbala sich bewegt, paradigmatisch hervorragend durch ihre charakteristische Mystifizierung der Sprache, der Schrift, des Namens und der Buchstaben.« Ebd., S. 249.
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rend des 11. und 12. Jahrhunderts in Verbindung mit der Kabbala und dem jüdischen Mystizismus stehend, wie er sich im Rheinland ausprägte, mit dem Verlust der Manuskriptkultur durch den Buchdruck zunächst im Verschwinden begriffen. Danach findet sie sich weniger in Buchform, in einzelnen Blättern jedoch verstärkt in einer Renaissance im 19. Jahrhundert. Und im späten 19. Jahrhundert dann gibt es Beispiele für Mikrographie überall in Europa, von Polen und Russland bis nach Frankreich und Italien, das bereits im Barock eine Blütezeit der Mikrographie erlebt hatte, und bis in den Nahen Osten. Mikrographien dienen als Wandschmuck, werden als Sonderdrucke in Spendenaufrufen ausgegeben und als Postkarten versandt. Zumeist sind es Porträts von Rabbinern – Amulette gegen den sogenannt ›bösen Blick‹.46 In all ihren Ausprägungen verändern sich bei der jüdischen Mikrographie dabei nie die Buchstaben, sondern die Textlinien bilden verschiedene Formen aus: Geometrische und florale Verzierungen ordnen sich um einen kanonischen Text herum an, ähneln Pflanzen, Tieren oder – einem Bilderverbot zum Trotz – menschlichen Figuren; ganze Teppichseiten gestalten sich aus, die durch wiederkehrende Motive bestimmt sind.47 Diese Mikrographie besteht in Marginalien, sie existiert zwischen den Textkolumnen, und was die mikrographische Form annimmt, ist eine Textgrammatik, die den biblischen Text mit Anweisungen versieht, wie dieser zu schreiben und zu lesen ist. Der Apparat hatte die Überlieferung des heiligen Textes, die korrekte Lektüre der Thora für eine Gemeinde zu sichern, deren Muttersprache nicht mehr unbedingt Hebräisch war. 46 | Vgl. Leila Avrin: »Micrography as Art«, in: Études de paléographie hebraʀque. La lettre hébraʀque et sa signification, hg. v. Colette Sirat und Leila Avrin, Paris, Jerusalem 1981, S. 43-80, S. 56ff. 47 | Das Wort für diesen Textapparat, Masora, leitet sich von der hebräischen Wurzel masar ab, die so viel wie übergeben, übermitteln, mitteilen und weitergeben bedeutet. Stanley Ferber: »Micrography: A Jewish Art Form«, in: Journal of Jewish Art, Bd. 3/4 (1977), S. 12-24, S. 20f., warnt dabei vor einem Missverständnis in Bezug auf die Relation von Text und Bild in der Mikrographie, die sich eben nicht als Einheit gestaltet: »In short, we read the text in order to be able to ›read‹ the images. However, this approach doesn’t serve to clarify our understanding of the use of micrography as an ornamental form in Hebrew Bibles. […] I would suggest, therefore, that one must understand the significance of the letter qua letter to begin to arrive at a meaning for the use of micrography as a specifically Jewish mode of textual ornamentation. […] Without entering into the intricately convoluted world of allegory and metaphor of the early Jewish mystics, suffice it to say that individual letters were endowed with properties and powers far beyond the scope of ordinary human comprehension. Within the twenty-two letters of the Hebrew alphabet was contained all of their possibilities of creation. […] It is within this context that the import of the masoretic lists takes on additional meaning. Not only were the lists of words, numbers of times they appeared in a certain relationship, and exegetic comments necessary to preserve the ›purity‹ of the scriptural tradition, but to lose a letter or to alter a word was also to endanger all of creation.«
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Die Grammatik »musste dem Text beigegeben, aber zugleich optisch von ihm abgesetzt werden, weshalb es sich anbot, sie in kleineren Buchstaben an den Rand und unter den eigentlichen Text zu schreiben«.48 In diesem Textapparat, der die Form eines Kolophons annehmen konnte (d.i. jene Vorform des Impressums, in der am Ende eines Textes explizit Angaben zum Autor, zum Schreiber oder zum Drucker, zu Ort und Jahr der Entstehung des Textes gemacht sind), wurde darüber hinaus auch angegeben, »wo ein Wort zwar in den Text geschrieben ist, aber nicht gelesen werden darf oder wo umgekehrt ein nicht in den geschriebenen Bibeltext aufgenommenes Wort beim Lesen eingefügt werden muss und wo – das sind die häufigsten Fälle – ein Wort anders zu lesen ist als die geschriebene Buchstabenfolge«.49 Der Blick von Robert Walsers Texten auf diese jüdische Mikrographie liegt nahe, weniger weil die Entzifferung der Schrift in den Mikrogrammen ebenfalls diese Art komplexer Rückschlüsse erforderte, als vielmehr, weil die Texte, auch was ihre Semantiken betrifft, erst noch zu entziffern sind, denn nicht nur in der Bieler Prosa, sondern vermehrt in der Berner Prosa der 1920er Jahre, finden sich jene »Berührungen und Verkettungen«, von denen Freud im Zusammenhang mit der Traumarbeit und dem Witz gesprochen hat – und die der Traum stiftet, wo er sie nicht vorfindet: »Der Witz ist schöpferisch – er macht Ähnlichkeiten«, heißt es bereits im Allgemeinen Brouillon des Novalis.50 Das Verfahren Robert Walsers zeigt sich in seiner ganzen Komplexität dabei nie nur anhand eines Textes; es braucht oft den Vergleich mehrerer Texte. Ein Beispiel: Im Text Asche, Nadel, Bleistift und Zündhölzchen51 ist ein »Blaustift«, ein Stift mit blauer Mine, in brüderlicher Liebe mit einem Bleistift vereint. Die beiden Schreibwerkzeuge weisen auf zwei sprichwörtliche ›Stifte‹, zwei halbwüchsige Lehrlinge. Sie erscheinen darin zunächst in jedem Sinne des Wortes verwandt. Und wirklich teilen sich der Bleistift und der Blaustift zwar den Wortteil -stift und vereinen sich in der Alliteration, ansonsten aber sind sie sich in sprichwörtlichem Sinne nicht ›grün‹. Trennt man nämlich die Komposita auf, wie es geschieht, wo Robert Walser aus dem Bleistift in einem späten Brief den »Literaturnamen« (Franz) Blei gewinnt, worauf zu kommen sein wird, und setzt die einzelnen Wörter neu zusammen, ergibt sich, gestützt durch des Autors Vorliebe für Märchenmotive, die Verbindung zu einem französischen Märchen aus dem 17. Jahrhundert, das bereits Ludwig Tieck als Vorlage gedient hatte: Der Blaubart. Doch damit ist der Blaustift auch: ein Frauenmörder. Und wirklich finden sich an anderer Stelle in Texten Robert Walsers, so in Die Verlassene, in Maler, Poet und Dame und in der Ein-
48 | Petra Werner: Jüdische Kultur im Spiegel der Berliner Sammlung. Ausstellung und Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin 2002, S. 24. 49 | Ebd., S. 136. 50 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 410 (Hervorh. v. N.). 51 | SW 16/328-330.
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lage Die Frau am Fenster aus dem Text Zwei Bilder meines Bruders Hinweise, die diese Entzifferung gerechtfertigt erscheinen lassen.52 Sprache dient in Robert Walsers Texten grundsätzlich nicht nur dazu, etwas kenntlich zu machen, sondern macht zuweilen etwas, wie hier den feindseligen ›Traumgedanken‹, den impliziten ›Bruderkrieg‹ unkenntlicher. Der Bleistift und der Blaustift sind Wörter, die etwas verbergen, die sich vom Aufschub stabiler Bedeutung in der ›einfachen‹ Metonymie unterscheiden, indem sie, wie der Traum es tut, das Lesen verstellen. In Anlehnung an die Kryptonomie, die Geheimsprache jenes ›Wolfsmann‹ genannten Patienten Sigmund Freuds, die von Nicolas Abraham und Maria Torok entziffert worden ist,53 lässt sich dies auch für Robert Walser als ein Durchgang durch Wort- und Sachvorstellungen verstehen, bei dem im Falle einer Polysemie, einer Mehrdeutigkeit des Wortes, eine im doppelten Sinne bestimmte Bedeutung des Wortes im Dunkeln bleibt. Und dass in der Tat der Buchstabe in einem bereits von Friedrich Schlegel formulierten Sinn für Robert Walser ein »ächtes Vehikel der Mitteilung« gewesen ist54 – und zwar jeder einzelne Buchstabe – zeigt sich, wo dieser in einem Brief von 1926 beklagt, dass der Rowohlt Verlag ihn infolge seines Misserfolgs »als ächter Germane«55 behandelt habe. Robert Walser lässt darin, vermeintlich deviant, die Schlegelsche Schreibung mit dem alten, anachronistischen Umlaut wieder aufleben, doch damit ist auch gesagt: Rowohlt ächtet ihn. Das dergestalt kryptierte Unbehagen ist nicht immer leicht zu ermitteln, weil es Robert Walser um pazifierenden Gleichklang auch in einem metaphorischen Sinne geht, weil in seinen Texten im Einklang der Reime (Signifikanten) Bedeutungen (Signifikate) verschmelzen,56 weshalb falsche Fährten ausgelegt sein können, doch einzelne Buchstaben trennen zuweilen Welten – mag der Rest des Buchstabenmaterials auch noch so sehr Eintracht suggerieren. In keinem Fall aber ist von einer »Sinnleere des bloß Klang52 | Die Rahmenerzählung der orientalischen Märchensammlung Tausendundeine Nacht, auf die noch einzugehen sein wird, zeigt Parallelen zur Handlung des Blaubart im Motiv des schlussendlich mild gestimmten Despoten und Frauenmörders. 53 | Vgl. Nicolas Abraham/Maria Torok: Kryptonomie. Das Verbarium des Wolfsmanns, Berlin 1979, passim. Vgl. Sigmund Freud: »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose«, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 27-157. 54 | In Friedrich Schlegels Fragmenten der Philosophischen Lehrjahre ist die Rede von einer: »Apologie d[es] Buchstabens, d.[er] als einziges ächtes Vehikel d[er] Mitteilung sehr ehrwürdig ist«. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe seiner Werke, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1958ff., Bd. 18 (1963), S. 5. 55 | Brief vom Januar 1926 an Otto Pick, in: Br, S. 255. 56 | Vgl. Werner Morlang: »›Eine Art Tagebuch‹. Zur Kontextualität von Robert Walsers Mikrogramm-Gedichten«, in: »Immer dicht vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walsers, hg. v. Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1987, S. 55-67, S. 61.
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lichen« zu sprechen, wie Klaus-Michael Hinz dies tut, denn immer spielt die Semantik eben durchaus eine Rolle.57 Es geht Hinz um einen Brief Robert Walsers, in dem es heißt: »Beispielsweise besitzt eine gehaltabwerfende Stelle mit stehle eine klangliche Verwandtschaft, und Klanglichkeiten spielen heute irgendwelche Rolle, sind mitbestimmend, womöglich beeinflussend. Wer irgendwo- und wie an der Spitze steht, wird zu etwas Spitzigem gemacht und könnte beinahe ein Spitzbube sein oder einer, der die Spitzen, die bei den Damen in’s Gewicht fallen, gern hat.«58 Hinz führt hierzu aus: »Die Sinnleere des bloß Klanglichen antwortet der begrifflichen Domestizierung der öffentlichen Meinung durch die politische Ökonomie.« Robert Walser verweise damit auf einen fundamentalen Wandel der ökonomischen Ordnung selbst: »die politische Ökonomie hört auf sie zu bestimmen. Gerade deshalb wird aber politische Ökonomie zum ausdrücklichen Diskurs einer ganzen Gesellschaft.«59 Zwar ist bemerkenswert, wie präzise Klaus-Michael Hinz hier einen gesellschaftlichen Wandel antizipiert, der sich gerade erst vollends sichtbar vollzieht, davon abgesehen aber ist, was Robert Walsers briefliche Äußerung betrifft, gerade nicht von einer »Sinnleere des bloß Klanglichen« zu sprechen. Denn dass »die gehaltabwerfende Stelle mit stehle eine klangliche Verwandtschaft« zeigt, und also mit einer Form des Verbs ›stehlen‹ in Verbindung steht, weist vielmehr auf das berühmte Diktum des Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon von 1840, wonach Eigentum grundsätzlich Diebstahl ist: »Qu’est-ce que la propriété? […] C’est le vol«.60 Darüber hinaus ist hier auch wichtig, dass beides, die ›Stelle‹ und das ›Stehlen‹, in der Folge zu »etwas Spitzigem« wird. Und das Spitzige, das Spitze, die Spitze ist ein Attribut, das der Feder zugesprochen wird – und das mit dem von Robert Walser für die erste Abfassung seiner Texte später präferierten Bleistift gemieden werden soll. Besonders dringlich wird das widerspruchsvolle Bemühen um Pazifierung dabei in den 1910er Jahren, im genauen Bewusstsein dessen, dass die vorhandene publizistische und mehr noch die epistemologische Ordnung in den Krieg geführt hat. Max Rychner, dieser in Hinsicht auf das »Bleistiftgebiet« äußerst bedeutsame Adressat Robert Walsers, hat vom Ersten Weltkrieg als von einem »Bruderkrieg«61 gesprochen. Und ein Bruderkrieg tritt auch in den beschriebenen Verkettungen in Robert Walsers Text Asche, Nadel, Bleistift 57 | Klaus-Michael Hinz: »Robert Walsers Souveränität«, in: »Immer dicht vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walsers, hg. v. Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1987, S. 153-171, S. 162. 58 | Brief an Frieda Mermet vom 26. Dezember 1927, in: Br, S. 320f. 59 | Klaus-Michael Hinz: »Robert Walsers Souveränität«, S. 162f. 60 | Pierre-Joseph Proudhon: Was ist das Eigentum? Erste Denkschrift, Berlin 1896, S. 1; zit.n. Dieter Scholz: Pinsel und Dolch. Anarchistische Ideen in Kunst und Kunsttheorie 1840-1920, Berlin 1999, S. 47. 61 | Max Rychner: Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen, Zürich 1951, S. 12 [Einl. mit dem Titel »Blick auf die zwanziger Jahre«, S. 11-26]. Rychner schreibt hier, Europa betreffend, »daß jeder seiner Kriege ein Bruderkrieg ist«.
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und Zündhölzchen aus dem Jahre 1915 zu Tage, wenngleich unter dem Siegel einer Verschwiegenheit, das gerade die Reime ausbilden. In der ›Materialität‹ der teilweise bereits beträchtlich kleiner werdenden Schrift zeigt sich nun, in den mittleren 1910er Jahren, eine andere, fragilere Ordnung, in welcher der Buchstabe von einer ebensolchen Zerbrechlichkeit ist, wie sie auch Walter Benjamin in seinem Essay zum Erzähler62 – viel später und im Herannahen eines neuerlichen Krieges – dem Menschenkörper selbst zuschreiben wird. Der manifeste europäische Bruderkrieg, der Erste Weltkrieg, spielt sich »im Spektrum des technisch erreichbaren Optischen ab, dort, wo die Körper gesehen oder sichtbar gemacht und wo sie getroffen werden«.63 Genau diesem Spektrum aber entziehen sich die Mikrogramme Robert Walsers. Von einer Schrift lässt sich nur sprechen, so fasst es Sybille Krämer, wo sich ein Wechselverhältnis zeigt, »zwischen dem Sichtbarmachen von etwas, das nicht selbst Schrift ist, und dem Unsichtbarwerden von dem, was die Schrift selbst ist«.64 In dem Maße, in dem die Schrift als Medium reibungslos funktioniert, macht sie sich selbst unsichtbar. Die Mikrogramme hingegen beantworten die Situation des Bruderkriegs in einer Doppelform aus Instituierung und Annullierung des Buchstabens, in der sich Schrift gespinnsthaft vor den Text gestellt findet – wie zu dessen Schutz. Der Buchstabe, als die »Materialität des Mals in seiner Abstraktion«65, wie Serge Leclaire formuliert hat, befindet sich dabei, was seine Lesbarkeit betrifft, zunehmend in einem Moratorium. Und was die Gattung betrifft, beantwortet die Bieler Prosa diese Situation des Bruderkriegs mit einer Doppelform aus Vers und Prosa, mit der Idylle, die etymologisch auf das kleine Bild, das kleine Gedicht weist66 und die Renate Böschenstein-Schäfer als Formfindung angesichts von Ambivalenzen be62 | Erste Aufzeichnungen zu diesem Aufsatz Walter Benjamins (Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, Bd. II.2, S. 438-465) reichen dabei in die zweite Hälfte des Ersten Weltkriegs zurück, in der auch Benjamins Text Über die Malerei oder Zeichen und Mal entstanden ist (ebd., S. 603-607). Zeichen ist für Benjamin darin dasjenige, was auf ein Blatt aufgetragen ist, Mal dasjenige, was sich von unten her hindurchdrückt. Wichtig ist in Benjamins Formulierung hier die Kopula ›und‹. Ein Palimpsest wäre dann das, worin sich beide Bewegungen überkreuzt zeigen. 63 | Wolfgang Pircher: »Die Seele auf dem Territorium der Schlacht. Das TraumatischWerden eines Kräfteraumes«, in: Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, hg. v. Inka Mülder-Bach, Wien 2000, S. 37-45, S. 37. 64 | Sybille Krämer: »Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen«, in: Die Sichtbarkeit der Schrift, hg. v. Susanne Strätling und Georg Witte, München 2006, S. 75-83, S. 76. 65 | Serge Leclaire: Der psychoanalytische Prozeß. Ein Versuch über das Unbewußte und den Aufbau einer buchstäblichen Ordnung, Olten, Freiburg i.Br. 1971, S. 87. 66 | Vgl. Florian Schneider: Im Brennpunkt der Schrift. Die Topographie der deutschen Idylle in Texten des 18. Jahrhunderts, Würzburg 2004, S. 11.
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schrieben hat. Die ›Entwirklichung‹ der Gegenwart in der Gattung der Idylle ist dabei nicht etwa Aufhebung, sondern konsequente Verwandlung der Ambivalenz. Oder anders und im Blick auf Robert Walser gesprochen: Anverwandlung an die Ambivalenz. Das Entscheidende jedoch ist: »Die Idyllenwelt stellt sich dar als ein Raum der ausgesparten Aggression.«67 Immer wieder findet sich in den Texten der Bieler Prosa Robert Walsers so auch ein Zwischenreich aus Amalgamierung und Differenzierung: im Bild der Dämmerung68 als einem Zustand zwischen Licht und Dunkel, einer Tagundnachtgleiche, im Geflüster, als einer Artikulationsform zwischen voller Artikulation und Verstummen, im Traum, als einem empfindlichen Schirm zwischen der Sphäre des Schlafes, in welcher der Mensch an den Tod rührt,69 und einem Wachleben, dessen Spuren sich im Traum wiederfinden lassen. Träumen heißt auch: verleugnen können, dass man sterblich ist.70 Und gerade das scheint eminent wichtig, denn Tod und Sterblichkeit ragen in diesen 1910er Jahren weit ins Leben – das erweist sich auch in Robert Walsers Felix-Szenen, die neben dem Räuber-Roman der längste erhaltene geschlossene Text sind, den der Autor in seiner mikrographischen Schrift verfasst hat. Dort ist angesichts des Kriegsausbruchs von einem »Erschauern« junger Männer die Rede: »vor jenem sie sehr ernstanschauenden Ungesichthaften. Es ist das verhüllte Antlitz der Furie.«71 Das »Ungesichthafte[ ]« ist hier nicht die stereotype ›Fratze des Krieges‹. Eine Fratze ist nicht zu erkennen, und doch schaut ein ›Gesicht‹ die Schüler an. Das Antlitz, zu dem das Indefinite im Blick und durch den Blick dann doch geworden ist, erscheint jedoch verhüllt. Im Deuteronomium der Bibel, dem fünften Buch Mose, ist es Gott selbst, der in der Prophetie 67 | Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle, 2. durchgesehene und ergänzte Aufl., Stuttgart 1977, S. 158. Jüngst rehabilitiert Florian Schneider die Relevanz der Idylle: »Als ursprüngliche Topo-Graphie verdeckt und bewahrt die Idylle wo nicht den Krieg, so doch zumindest die Krise großer gesellschaftlich-kultureller Umwälzungen, die als Epochenschwellen stets auch auf Veränderungen im metaphysischen Fundament der jeweiligen Konstruktion der Weltordnung hinweisen. Daher wird die diskursive Gattung der Idylle immer auch ein politischer Diskurs über die Gattung, das Geschlecht und den Raum sein, wobei sie als Thematisierung der Grenze, der Teilung und der Verschiebung nie den endgültigen Grund erreicht, auf den sie gleichwohl zielt.« Florian Schneider: Im Brennpunkt der Schrift, S. 41. 68 | Daniela Mohr schreibt in: Das nomadische Subjekt. Ich-Entgrenzung in der Prosa Robert Walsers, Frankfurt a.M. 1994, S. 73: »Die einbrechende Dunkelheit bezeichnet, da sie die identifizierende Wirkung des Blicks verhindert, zugleich die Grenzen der optischen Wahrnehmung und der Bedeutungsproduktion.« 69 | Vgl. Heraklit: Fragment 26; zit.n. Georges Didi-Huberman: »Geschenk des Papiers, Geschenk des Gesichts«, in: ders.: Phasmes, Köln 2001, S. 174-190, S. 187 und Anm 16. 70 | Vgl. Didier Anzieu: Das Haut-Ich, Frankfurt a.M. 1996, S. 274. 71 | Mikro, Bd. 3, S. 163.
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einer Katastrophe, dem Abfall Israels von Gott, ankündigt: »Ich aber werde mein Antlitz verbergen« (Dtn 31,18). Es heißt dort: »Ich will mein Antlitz vor ihnen verbergen, will sehen, was ihnen zuletzt widerfahren wird; denn es ist eine verkehrte Art, es sind untreue Kinder« (Dtn 32,20). Die erste Stufe der Strafe wird die Abwendung Gottes von seinem Volk sein; dann entzündet Gott das Feuer seines Zorns: »Ich will alles Unglück über sie häufen« (Dtn 32,23). Eine der Hauptplagen wird der Krieg sein, und wer nicht in den Krieg zieht, wie etwa die (zu) jungen Männer, wird durch einen lähmenden Schrecken heimgesucht werden: »Auswendig wird sie das Schwert berauben und inwendig der Schrecken« (32,25). Das Schlachtfeld wird sich in die Innenräume fortgesetzt zeigen. Aus diesem verborgenen Antlitz Gottes zu Kriegszeiten, aus dem fehlenden wohlgefälligen Blick Gottes auf die Menschen, wird in Robert Walsers Felix-Szenen das »verhüllte Antlitz der Furie«. Nicht das Antlitz Gottes, sondern das der Furie ist verhüllt, ihr Blick nur zu erahnen. Die Verhüllung weist auf das Verborgene, jedoch, ohne das in schrecklichem Sinn Ungestalte zum konturierten Bild werden zu lassen, zum Bild, welches das Grauen – und den Wiederholungszwang – im Effekt nur perpetuieren würde. Auch die Mikrogramme bergen den Text nicht nur, sie verbergen ihn, sie vertrauen ihn einem schützenden Ort an, der nahezu unlesbaren Schrift. Sie sind, im Hinblick auf den Buchstaben und das mit seiner Gestalt errichtete differentielle Moment, eine damnatio memoriae (lat. ›Verdammung des Andenkens‹), Selbstzensur, die dem Umstand zu begegnen sucht, dass es kein Zeichen gibt, das nicht thetisch, nicht Behauptung, nicht Selbstbehauptung wäre.72 Die Katastrophe, die sich entzieht, Erfahrung entmachtet, bildet darin zwar auch eine Grenze, doch das bedeutet nicht, dass sie von der Schrift ausgeschlossen bleibt, dass sie außerschriftlich ist, dass sie etwas außerhalb des Textverlaufs oder der ›Materialität‹ eines Textes darstellt.73 Und so macht der Zeichenbestand der Mikrogramme, der sich in fortschreitendem Maße dem Lesen entzieht, diese zu Textzeugen einer Ohnmacht. Die Unlesbarkeit der Schrift weist auf eine Undarstellbarkeit nicht nur des Vergangenen, sondern auch des Zukünftigen, Utopischen. Während der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs, in der die anfängliche Euphorie der vielen Kriegsbefürworter einer Ernüchterung gewichen war, hatte Max Rychner am 31. März 1917 in Bern Hugo von Hofmannsthals Rede über Die Idee Europa gehört; am Ende hatte Hofmannsthal darin »eine neue Epoche der Seele« annonciert: »Unzähligen Seelen ist Neues zugestoßen, es ist unausbleiblich, daß dem Kriege eine neue Epoche der Seele folgt, […].«74 Und eben diese neue Epoche der Seele ist, so wird es Giorgio Agamben rund siebzig Jahre später 72 | Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a.M. 1978, S. 54. 73 | Vgl. Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 16, 68. 74 | Max Rychner zitiert aus Hofmannsthals Band Die Berührung der Sphären von 1931, der jene Notizblätter aus dem Nachlass enthält, aus denen, wie Rychner
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konstatieren, eine kurze, wichtige Epoche, die teils bereits vor 1933, spätestens jedoch nach Auschwitz überall zu Ende gegangen sein wird. Nach dem Holocaust wird, so fasst es auch Maurice Blanchot, noch »das bewahrende Denken«75 selbst verlorengegangen sein. Und so sei bedenkenswert, schreibt Agamben in seiner Idee der Prosa, »dass einige wenige philosophische und literarische Werke, die in den Jahren zwischen 1915 und 1930 entstanden sind, noch immer den Schlüssel zur Sensibilität unseres Zeitalters fest in Händen halten, und dass die letzte überzeugende Beschreibung unserer Stimmungen und Gefühle mehr als fünfzig Jahre zurückliegt«.76 Noch das Wort ›Stimmung‹, in dem die Musik als semantische Ressource deutlich präsent ist, ein Wort, das, wie David Wellbery dargelegt hat, alle Distinktionen, nicht nur diejenige von innen und außen, unterläuft, scheint selbst obsolet geworden, denn: »Die Kommunikation der Stimmung verläuft suggestiv, ansteckend, unterhalb der Schwelle zur expliziten (und damit negierbaren, ablehnbaren) Ausformulierung.«77 Wellbery vermutet, dass der gegenwärtige »Wegfall des Stimmungsbegriffs aus dem ästhetischen Vokabular damit zusammenhängt, daß die musikalische Metapher als Figuration seelischer Zustände ihre Evidenz eingebüßt hat«, womit eine bis auf die Antike zurückgehende semantische Tradition abgestorben wäre, weil die »musikalische Sinndimension unverzichtbare Instrumente der Konzeptualisierung« bereitgestellt habe, die nun fehlten.78 Woher aber rührt der Verlust dieses subtileren Differenzierungsvermögens? Walter Muschg hat in seinem Essay mit dem unmissverständlichen Titel Die Zerstörung der deutschen Literatur bereits Mitte der 1950er Jahre das Schicksal der deutschsprachigen Literatur unter und nach der Herrschaft des Nationalsozialismus als Ende einer Epoche bezeichnet, »die man vielleicht einst neben die deutsche Romantik stellen wird«.79 Dass »die im Ersten Weltkrieg erwachte Dichtergeneration mit Gewalt zum Schweigen gebracht worden war«, diese »Verschüttung einer ganzen geistigen Generation« sei, so Muschg, »das größte Unglück, das die deutsche Literatur unserer Zeit getroffen hat. Sie ist eine Literatur der Toten, das heißt der zu früh Gestorbenen, Verleugneten und Vergessenen«.80 Vom Exodus, der nach 1933 einsetzte – und »die schreibt, Hugo von Hofmannsthal seine Rede schuf. Vgl. Max Rychner: Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen, Zürich 1951, S. 12f. 75 | Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 64. 76 | Giorgio Agamben: Idee der Prosa, Frankfurt a.M. 1987, S. 67ff. 77 | David Wellbery: Artikel »Stimmung«, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. v. Karlheinz Barck et al., Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2003, S. 703-733, S. 705. 78 | Ebd., S. 733. 79 | Walter Muschg: Die Zerstörung der deutschen Literatur, 3. erweiterte Aufl., Bern 1958, S. 13 [Vorwort]. 80 | Ebd., S. 12. Das Ganze stellt sich für Muschg als »gänzlicher Abbruch der Tradition« dar: »Viele, die jenen Zustand nach dem ersten Weltkrieg miterlebt haben, können ihn nicht vergessen und trauern ihm nach wie einem verlorenen Paradies.«
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von Hitler geschaffenen Emigranten stellten die größte Ansammlung von umgesiedelter Intelligenz, Begabung und Gelehrsamkeit dar, welche die Welt jemals gesehen hat«,81 schreibt Peter Gay, nicht zu reden von der ermordeten jüdischen Intelligenz – zeigt sich dabei auch der Autor Robert Walser in seinen Publikationsmöglichkeiten betroffen. »Meine Welt wurde von den Nazis zertrümmert«, wird er später im Gespräch mit Carl Seelig bekunden: »Die Zeitungen, für die ich schrieb, sind eingegangen; ihre Redaktoren wurden verjagt oder sind gestorben.«82 Der Abbruch bestimmt, bis in unsere Tage hinein, auch eine unreflektierte Präferenz von Epistemen. So stehen, Giorgio Agamben zufolge, einer Vielzahl von begrifflichen Untersuchungen deshalb so wenige »phänomenologische Beschreibungen« gegenüber, weil die »Aufzeichnung der Stimmung« in Europa um 1930 ein für alle Mal ein Ende gefunden habe. Das heißt zwar nicht, so Agamben weiter, »daß seitdem keine literarischen oder philosophischen Werke von Rang mehr geschaffen wurden, es besagt nur, daß diese keine neuen epochalen Gefühle registrieren«. Zuletzt habe der Surrealismus, als Kunstrichtung der Zwischenkriegszeit, den »wesentlich utopischen Charakter der Sensibilität der Moderne« herausgestellt. Seither aber überleben, so Agamben, »Gefühle nur mehr neben uns«.83 In Robert Walsers Texten zeichnet sich diese zuletzt beschriebene Tendenz bereits ab: Wie Affekte einerseits in diesen Texten und zugleich nur mehr neben ihnen überleben, ist im Folgenden, in mikrologischen Lektüren einzelner Texte der Bieler Prosa und im Aufzeigen von Verbindungen zwischen diesen Texten, Gegenstand der Studie. Der beachtliche, innerhalb weniger Jahrzehnte vollzogene Wandel in der Rezeption des Autors Robert Walser, den Greven unlängst als denjenigen vom marginalisierten Außenseiter zum Klassiker der modernen Literatur beschrieben hat,84 kann dabei auch mit einer Phänomenalität in Zusammenhang gebracht werden, die sich mit dem von Agamben eingebrachten Begriff der »Stimmung« fassen lässt. So scheint der ›Ton‹ der Texte Robert Walsers in besonderer Weise identifizierbar zu sein, wenngleich, wie zu zeigen sein wird, ›Stimmen‹ in ihrer Differenz darin ›hörbar‹ werden, »in unmerklichen Gradationen eine Aussage praktisch in ihr Gegenteil« überführt werden kann.85
(Ebd., S. 19f.) Und so ist auch der Dichter in der Psychiatrie für Muschg »Symptom unserer Zeit«, ein Symptom eben dieses Abbruchs. Ebd., S. 38. 81 | Peter Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 14. 82 | Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser [1957], neu hg. im Auftrag der Carl-Seelig-Stiftung und mit einem Nachwort versehen von Elio Fröhlich, Zürich 1981, S. 78. 83 | Giorgio Agamben: Idee der Prosa, S. 67ff. 84 | Vgl. Jochen Greven: Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker. Abenteuer einer Wiederentdeckung, Konstanz 2003. 85 | Dominik Müller: »Künstlerbrüder – Schwesterkünste. Robert und Karl Walser«, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, hg. v. Ul-
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Was Robert Walser schreibt, »erscheint fremd und vertraut zugleich, als käme nicht es selber zur Darstellung, sondern sein ›Traumbild‹«, so Reto Sorg. 86 Wie aber und was genau wird »selber« dargestellt oder dargestellt werden können – wo beispielsweise im Text Der Traum (I), auf den zu kommen sein wird, der Traum immer wieder nur »gelegt in einen anderen« 87 Traum erscheint? Der Text thematisiert hier selbst seine Strukturen der Verhüllung. Wer nicht erkennt, gibt Roberto Calasso in einem Text von 1970 mit dem an Francisco de Goyas Bildtitel Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer angelehnten Titel Der Schlaf des Kalligraphen zu bedenken, »daß jedes Wort von Walser eine vorhergehende Katastrophe voraussetzt, wird es schwer haben, ihn nicht gänzlich mißzuverstehen«.88 Und das gilt auch für die Kryptierung des Textes in der Schrift der Mikrogramme, es gilt auch für diese sehr zerbrechliche Antwort, die traumatisch grundiert ist89 und die auf ein Geschehen hindeutet, von dem das Gewebe der Signifikation hier buchstäblich und im Doppelsinn des Wortes gezeichnet ist. rich Stadler in Zusammenarbeit mit John E. Jackson, Gerhard Kurz und Peter Horst Neumann, Stuttgart, Weimar 1996, S. 382-395, S. 386. 86 | Reto Sorg: »Vom romantischen Traumbild zur virtuellen Realität. Zum Topos der ›fernen Nähe‹ bei Robert Walser«, in: Bildersprache. Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser, hg. v. Anna Fattori und Margit Gigerl, München 2008, S. 177-191, S. 178. 87 | SW 4/38. 88 | Roberto Calasso: »Der Schlaf des Kalligraphen«, in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 3., Frankfurt a.M. 1979, S. 133-153, S. 135. Bereits Nagi Naguib hat in seiner Studie Robert Walser. Entwurf einer Bewußtseinsstruktur, München 1970, S. 160, darauf hingewiesen, dass die Bieler Prosa in dieser Weise komplex ist: »Kennzeichen der großen Spaziergang-Dichtungen Robert Walsers ist eine gefühlsbetonte, weitläufige, nie endenwollende Bewegung. Hinter der Oberflächlichkeit der sich vielfach in einem Wortschwall verlierenden Phantasien verbirgt sich jedoch tiefer Ernst, ja eine existentielle Not und Gefährdung, die sich verhüllen will und sich dennoch mitteilt, die sich offensichtlich nur in dieser einzigartigen Verhüllung mitteilen kann.« Hervorh. d. Verf., KS. 89 | Cathy Caruth spricht im Zusammenhang mit dem Trauma, das in diesem Fall das Trauma der Shoah ist, von der »Wirklichkeit einer Geschichte […], die in ihren Krisen nur durch Formen wahrnehmbar ist, die sich nicht aneignen lassen«. Cathy Caruth: »Trauma als historische Erfahrung: Die Vergangenheit einholen«, in: »Niemand zeugt für den Zeugen«. Erinnerungskultur nach der Shoah, hg. v. Ulrich Baer, Frankfurt a.M. 2000, S. 84-98, S. 97. Und bereits Max Horkheimer und Theodor W. Adorno formulieren in ihrem Text »Begriff der Aufklärung«, in: dies.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-49 S. 29, in Bezug auf das Traumatische für den theoretischen Diskurs: »In der Unparteilichkeit der wissenschaftlichen Sprache hat das Ohnmächtige vollends die Kraft verloren, sich Ausdruck zu verschaffen, und bloß das Bestehende findet ihr neutrales Zeichen. Solche Neutralität ist metaphysischer als die Metaphysik.«
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I.2 D AS ENT Z WEITE W ORT : »I CH -B UCH « Eine Art Erzählung ist ein später Prosatext Robert Walsers überschrieben, in dem sich der wohl meist zitierte Passus zu dessen kleiner Prosa findet, insofern sich hierin der große, alles übergreifende Zusammenhang zu rekonstituieren scheint – das Buch, das die ungeheure Vielzahl von Singularitäten einzufassen und zu überwölben verspricht, als Tagebuch, das, wie der Brief, seit der Romantik und insbesondere mit der Rezeption von Franz Kafkas Werk, zum Paradigma einer Literatur der Moderne geworden ist.90 Meine Prosastücke bilden meiner Meinung nach nichts anderes als Teile einer langen, handlungslosen, realistischen Geschichte. Für mich sind die Skizzen, die ich dann und wann hervorbringe, kleinere oder umfangreichere Romankapitel. Der Roman, woran ich weiter und weiter schreibe, bleibt immer derselbe und dürfte als ein mannigfach zerschnittenes oder zertrenntes Ich-Buch bezeichnet werden können. 91
Von einem Roman ist, was über dem spektakulär zerschnittenen »IchBuch« gern vergessen wird, in diesem Text, der aus dem Jahre 1928 oder 1929 stammt und zu dieser Zeit unveröffentlicht geblieben ist, durchaus die Rede, wenngleich in einem mehr als paradoxen Sinne. Es ist ein Roman, der – trotzdem er ›zerschnitten‹ und ›zertrennt‹ ist – »immer derselbe« bleibt. Die Aufeinanderfolge von Zuschnitt und Beschriftung bleibt unklar; zugleich erscheint das Konvolut zweifach zerschnitten, zertrennt bereits durch den Wortsinn des Lexems ›zer‹, mit dem die Bedeutung von ›auseinander‹ in einer Verdoppelung eingetragen ist. Im Text folgt die Paraphrase einer klassischen theatralen Fabel, doch: »Wie die Personen heißen, will nicht ausgeplaudert sein.«92 Mehr oder weniger kenntliche Variationen zu Friedrich Schillers Doppeltragödie Die Räuber allerdings, die, worauf Schiller selbst mehrfach mit Nachdruck hingewiesen hat,93 nicht als ›theatralisches Drama‹, sondern als ›dramatischer Roman‹ angesehen werden sollte, bilden in der Tat »kleinere oder umfangreichere Romankapitel« im Werk Robert Walsers aus. Und: »Man wird gemerkt haben«, heißt es am Ende der Erzählung, am Ende dieser Art Erzählung, das Rätsel lüftend: »dass mich Schillers ›Räuber‹ ernsthaft werden ließen und lachen machten, die ich mir kürzlich wieder einmal zu Gemüte führte, die eine Dichtung quasi aus einem Gusse sind«.94 Der Guss, aus 90 | Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt a.M. 1989, S. 18. 91 | SW 20/322. 92 | SW 20/323. 93 | Vgl. Einführung des Herausgebers zu Friedrich Schillers »Die Räuber«, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 3, hg. v. Herbert Stubenrauch, Weimar 1953, S. VII-XXXI, S. XVI. 94 | SW 20/325.
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dem die Dichtung gemacht ist, aus der ihre Homogenität stammt, ist dabei, wie sich im letzten Satz – »In manchen Zimmern finden sich sehenswerte Öfen.« – und erneut beim Zurückblättern im Text zeigt, der eines gusseisernen Ofens.95 Er hat die Bilder, etwa in Reliefs oder irgend plastischen Linien, durch graphische Darstellung jedenfalls, evoziert: »Ich vermöchte mir einzubilden, ich befände mich in einem alten, nichtsdestoweniger hellen, sonnigen, frohmütigen Zimmer, das mit einem Ofen aus ehemaligen Zeiten ausstaffiert sei, auf dessen Platten, aus denen er sich zusammensetzte, ich eine Geschichte abgebildet sähe, indem mich Bild für Bild in einen interessanten Vorgang blicken ließ.«96 Am Ende geht es um Linien – und um deren Kraft zur Evokation. Die Ofenplatten geben als erdenschwerer Unter- wie Hintergrund Anlass zu einer Art Bildergeschichte. Und wo ein Roman sich in Kapiteln entwickelt, in denen sich die Logik des Ganzen abbildet, irritieren die »Teile« in Robert Walsers Text deshalb, weil auch sie noch immer das Bild einer »Skizze[ ]«97 95 | In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 157f., entschlüsselt Freud Traumsymbole, die auch Robert Walsers Texte, wie sich im Fortgang dieser Studie zeigen wird, figurieren. Sie entfalten sich jedoch in der Literatur selbstredend komplexer, als es in Form der einfachen Entsprechung und Zuordnung, die Freud an dieser Stelle unternimmt, geschieht: »Manche Symbole haben mehr Beziehung auf den Mutterleib als auf das Genitale des Weibes; so: […] Öfen und vor allem das Zimmer. Die Zimmersymbolik stößt hier an die Haussymbolik, […]. Aber auch Stoffe sind Symbole des Weibes, das Holz, das Papier, und Gegenstände, die aus diesen Stoffen bestehen, wie […] das Buch.« Hervorh. v. SF. 96 | SW 20/322f. 97 | Das Wort von der Skizze weist zugleich auf eine nationalistisch gefärbte Debatte um Impressionismus und internationale Moderne versus exklusiv deutsche »Phantasiekunst«, die 1900/01 einen ersten Höhepunkt in der Streitschrift mit dem Titel »Momentmalerei« gefunden hatte. Deren Autor Momme Nissen war Schüler Julius Langbehns gewesen, dessen Erfolgsbuch Rembrandt als Erzieher bereits 1890 eine nordische Kunst im Rahmen einer mystischen Rassekonzeption propagiert hatte. In Nissens Streitschrift wird die Entwicklung der französischen Malerei als Prozess einer zunehmenden »Dekomposition« kritisiert, als gradweise voranschreitende Zerstörung der Totalität, in der schließlich nur noch »willkürliche Tangenten an den Kreis der sichtbaren Dinge« übrigblieben. Als Notierung im Arbeitsprozess seien Skizzen sinnvoll; eine Art skizzenhafter Kunst aber, wie Nissen sie im Impressionismus verwirklicht sieht, bleibe für den Betrachter stumm: »Hieroglyphe ohne Schlüssel«. Max Liebermann hingegen, der Berliner Sezession zugehörig, für die Robert Walser in den Berliner Jahren zeitweilig als Sekretär tätig war, hat in diesem ›Kunststreit‹ um die Moderne, wie Hilmar Frank darlegt, die Hieroglyphe zu seinem Programmwort erhoben. Für ihn besteht eben hierin der Vorteil: Im Dialog mit dem Gegenstand bilden sich immer neue Hieroglyphen als Ausprägungen einer physiognomischen Valenz des Zeichens heraus. Hilmar Frank: »Hieroglyphe. Literarische und malerische Phantasie«, in: Max Liebermann. Jahr-
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abgeben. Auf einem Skizzenblatt wird kontinuierlich neu angesetzt; am Ende sind Figuren, Gesten, Physiognomien, Anfänge zu einer Bildformulierung unter Umständen wiederholt, das heißt in mehrfacher Ausführung vorhanden; es bleibt bei einem immer währenden Anfang, bei einem immer neuen Ansatz.98 Die Komposition eines solchen Blattes kann dem Prinzip des »kontinuierenden Stils« folgen, wie er für die Genesis-Handschriften beschrieben worden ist, wie er sich aber auch in den Illustrationen des Struwwelpeter findet, jenem Kinderbuch aus dem 19. Jahrhundert, das die Episoden einer Geschichte ohne Szenentrennung simultan auf einem Blatt zeigt.99 Abgesehen davon ist die Skizze aber vor allem Hieroglyphe, zunächst im Sinne des alten Atelierwortes, mit dem die Kurzschrift des Stiftes oder Pinsels, der Doppelcharakter einer ›Materialität‹ des Zeichens und der suggestiven Verkürzung in der Darstellung des Gegenstands, die Skizzenhaftigkeit von Strich und Fleck in der vom Gestischen ins Werk gesetzten Transposition des Gegenstands ins Bild bezeichnet ist. Die Hieroglyphe ist nicht nur zeichenhafte Abbreviatur des Gegenstands, sondern auch Spur der Geste. Und das Zeichen jedenfalls geht darin nicht »in einem durchsichtigen Entsprechungsverhältnis« auf.100 Die Hieroglyphe ist, als dieses Atelierwort, Metapher für diese Art Kurzschrift, für die elliptische Formprägung des bildenden Künstlers, bei der die Skizze nicht nur Bild ist, sondern überdies auch eine Schrift, die erst gelesen werden muss, weil keine »ikonische Nähe«101 mehr besteht, weil in der hieroglyphischen Skizze nur mehr gezeichnet, nicht aber bezeichnet wird. Das Kürzelhafte, die Andeutung eröffnet einen Raum von Andeutungen und Ausdeutungen, ein »Verhältnißspiel« (Novalis), für das es keinen Maßstab gibt, denn hieroglyphisch sind Zeichen erst auf eine je lesbare und zu
hundertwende. Katalog zur Ausstellung der Nationalgalerie, Berlin 1997, S. 161166, S. 161ff. 98 | Ebd., S. 166. Joachim Strelis verwendet in seiner Arbeit Die verschwiegene Dichtung. Reden, Schweigen, Verstummen im Werk Robert Walsers, Frankfurt a.M. 1991, S. 53, das Bild der Skizze im Zusammenhang mit dem Räuber-Roman: »Der ›Räuber‹-Roman ist die Praefiguration seiner Erfüllung – vergleichbar der Skizze, welche die Gesamtheit ihrer möglichen Ausführungen latent enthält.« 99 | Anders als erwartet, gibt aber gerade der Zusammenhang mit den Kinderbüchern zur Vermutung Anlass, dass manche der frühchristlichen Handschriften selbst ›Kinderbücher‹ für junge Prinzen und Prinzessinen gewesen sind. Vgl. Karl Clausberg: Die Wiener Genesis. Eine kunstwissenschaftliche Bilderbuchgeschichte, Frankfurt a.M. 1984, S. 55f. 100 | Hilmar Frank: »Hieroglyphe. Literarische und malerische Phantasie«, S. 166. 101 | Barbara Hunfeld: »Zur Hieroglyphe der Kunst um 1800. Überlegungen zu einer Metapher bei Diderot, Goethe, Schubert und Schlegel«, in: Hieroglyphen. Stationen einer abendländischen Grammatologie, hg. v. Aleida und Jan Assmann, München 2003, S. 281-296, S. 288.
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lesende Bedeutung hin.102 Der Roman in Robert Walsers Text Eine Art Erzählung nun bleibt »immer derselbe« und erscheint ›mannigfach zerschnitten oder zertrennt‹ nur, solange das kontinuierende Moment, das im Übrigen auch der Skizze eignet, darin nicht erkannt ist. Das Präfix ›zer‹ schreibt, wie erwähnt, in die Verben der Separation (›schneiden‹, ›trennen‹) eine Verdoppelung der ›Abspaltung‹ ein, von der sich das »Ich-Buch«, und zwar im Modus der Prädikation, betroffen sieht. Und dabei zeigt sich der Name des Buches, diese Dyade, deren Konfiguration noch im Prosatext Zückerchen als »Ichbuch [in dem] womöglich das Ich bescheiden figürlich, nicht autorlich«103 bestimmt ist, entzweit. Robert Walsers Text Zückerchen lässt sich dabei als Performanz einer sprichwörtlichen Redewendung lesen, die da lautet: ›dem Affen Zucker geben‹. Kaum ein Text verdeutlicht besser die Schwierigkeiten, die sich mit der Berner Prosa ergeben. Annähernd jeder Satz eröffnet hier einen neuen Sinnzusammenhang. Auch im Text Eine Art Erzählung zeigt sich ein Buch mit verschiedenen Provenienzen und mit der Usurpation aller Rollenbücher ausgestattet. Und so bleibt im Lesen des ganzen Textes Eine Art Erzählung – »weiter und weiter« – auch nicht verborgen, dass im »Ich-Buch«, als einem intransparenten, literarischen Palimpsest, neben Friedrich Schiller mindestens noch ein weiterer Autor, kryptiert, zu lesen ist. Das »Ich-Buch« scheint auch auf den Roman Heinrich von Ofterdingen des Novalis zurückzugehen, der von Friedrich Schiller verehrt wurde.104 Er war, wie die Fragmente des Novalis, 1907 in einer von Jakob Minor besorgten Ausgabe wieder erschienen. Das »Ich-Buch« Robert Walsers geht auf jenes Buch zurück, das dem Protagonisten Heinrich in einer Höhle, dem Zufluchtsort der Natur, in die Hände fällt, und »das in einer fremden Sprache geschrieben war«. Es gefällt Heinrich, »ohne daß er eine Sylbe davon verstand. Es hatte keinen Titel, doch fand er beym Suchen einige Bilder. Sie dünkten ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren.«105 Heinrich wird in diesem unlesbaren Buch, qua Bild, qua Doppelgänger im Bild, sich selbst zur ›lesbaren‹ Figur: »Er erschrack und glaubte zu träumen, aber beym wiederholten Ansehn konnte er nicht mehr an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln. Er traute kaum seinen Sinnen, als er bald auf einem Bilde die Höhle […] entdeckte. Allmählich fand er auf den andern Bildern die Morgenländerinn, 102 | Vgl. ebd., S. 292. 103 | SW 8/81. 104 | Vgl. Walter Hinderer: »Traumdiskurse und Traumtexte im Umfeld der Romantik«, in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800, hg. v. Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann, Würzburg 2004, S. 213-241, S. 230. 105 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 264. Vgl. auch: Hans-Georg Pott: »›Der zarte Maaßstab‹ und die ›sanfte Sage‹. Aspekte einer Metaphysik der Sprache bei Novalis und Heidegger«, in: Die Aktualität der Frühromantik, hg. v. Ernst Behler und Jochen Hörisch, Paderborn u.a. 1987, S. 63-74, insbes. S. 64f.
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seine Eltern […] und manche Andere seiner Bekannten; doch waren ihre Kleidungen verändert und schienen aus einer andern Zeit zu seyn.«106 In den Zeichen im Buch wiederholt sich der Lebensroman des Heinrich; diese Zeichen würden jedoch seinen Tod bedeuten, endete das Buch nicht im Ungewissen: »Die letzten Bilder waren dunkel und unverständlich; doch überraschten ihn einige Gestalten seines Traumes mit dem innigsten Entzücken; der Schluß des Buches schien zu fehlen.«107 Es ist ein Buch im Buch, in dem der Held der auktorialen Erzählung sich auf einem miniaturisierten Schauplatz wiederfindet. Diese Struktur kompliziert sich bei Robert Walser noch mit der Bindung an ein »Ich-Buch«, in das sich eine Heteronomie eingetragen findet, denn das Ich ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass es »die Summe der Identifikationen des Subjekts ist, mit alldem, was das an radikal Kontingentem mit sich bringen mag«. Bildlich gesprochen gleicht das Ich »verschiedenen übereinander gezogenen Mänteln«; es ist »gemacht aus der Reihe von Identifikationen, die für das Subjekt einen wesentlichen Anhalt dargestellt haben, in jedem historischen Moment seines Lebens und je nach den Umständen«.108 Und diese Struktur kennzeichnet nun auch das Buch, das in Robert Walsers Wort vom »Ich-Buch« wenn nicht unauflöslich, so doch typographisch an das »Ich« gebunden ist. Mit dem Einbruch des Bindestrichs nämlich, der von Robert Walser, abgesehen von häufigen alternierenden Wendungen und Neologismen, bei denen zuweilen ganze Sätze in einem Wort Platz finden, sonst fast nie gesetzt wird, wie die Editoren der Mikrogramme bemerken,109 mit dem Einbruch dieses Bindestrichs in die Fügung des »Ichbuch[s]«, das im Prosatext Zückerchen, und das heißt auch im letzten noch eigenhändig herausgegebenen Sammelband des Autors mit dem Titel Die Rose (1925) noch nicht durch dieses Zeichen getrennt war, ist das Kompositum per se instabil geworden; durch Substitution kann nun jederzeit ein Teil ersetzt werden, kann aus dem »Ich-Buch« prinzipiell jede Art von Buch werden.110 106 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 264f. 107 | Ebd., S. 265. 108 | Jacques Lacan: Das Seminar von Jacques Lacan. Buch II (1954-1955). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, hg. v. Norbert Haas, Olten, Freiburg i.Br. 1980, S. 200 und S. 212. 109 | Vgl. »Editorischer Bericht« in Mikro, Bd. 2, S. 588. 110 | Eine textkritische Bemerkung Jochen Grevens zu der von ihm eigenhändig besorgten Ausgabe der Sämtlichen Werke Robert Walsers zeigt, dass dies eine Aleatorik impliziert, die das »Ich-Buch« auch zum Buch der Lesenden werden lässt: »Vielleicht wäre es am richtigsten, dachte ich manchmal, sie [die Texte oder ›Kunstgebilde‹, Anm. d. Verf., KS] dem Leser in der Form einer Loseblattsammlung an die Hand zu geben, Bausteine, aus denen er sich […] in einem fortgesetzten Spiel selbst ›Bücher‹ erstellen kann.« Jochen Greven: Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker, S. 118. Diese Art Edition würde dabei nur forcieren, was die Texte selbst antizipieren: Es sind die Lesenden selbst, die ›zerschneiden‹
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Das Wort wird zu einem Indifferenzpunkt von Herauslesen und Hineinlesen.111 Und dabei ist das »Ich-Buch« schon als Performanz der Fabel Schillers der literarischen Genealogie buchstäblich abhandengekommen, als Sohn/Buch, der/das, zum Buch-Ich geworden, im Ich-Buch nur noch zu lesen ist. Im »Ich-Buch« treten zwei ›Einheiten‹ zusammen, um zu bezeichnen, was eins und doch nicht eins ist. Das Buch existiert nicht ohne Lektüre, das ›Ich‹ nicht ohne ›Selbstgespräch‹, in das sich das jeweils Andere, im wörtlichen Sinne dialogisch, im Bindungs- und Doppelwort »IchBuch«, mit eingetragen findet. Der Bindestrich hat das Wort zerschnitten, er ist zum Trennstrich geworden; zugleich ist er es aber auch, der den fragil-fraternalen Bund einer Kontiguität überhaupt erst und weiter begründet. Das Schriftbild im Wort »Ich-Buch« unterbricht die lineare Sukzession dabei zugunsten einer nahezu gleichschwebenden Simultaneität der beiden Worte – die aber wiederum nicht vollständig sein kann, insofern das Lesen ja immer eines von Wort zu Wort ist. Symmetrie und Bruch finden sich gleichermaßen eingetragen. Und das Projekt der literarischen Romantik, das Karl-Heinz Bohrer darin gesehen hat, Diskontinuität und Dichtung aufeinander abzubilden,112 findet sich in Robert Walsers Wort vom »Ich-Buch« mit dem Bindestrich zwischen den Paradigmen der Subjektivität und des Buchs wieder. Der Bezug zur deutschen Klassik bzw. zum Sturm und Drang und zur Romantik mag Robert Walser dabei aus Gründen nahegelegen haben, die Max Rychner in einem Text zu Friedrich Schlegel und Friedrich von Hardenberg (Novalis) formuliert hat: »Eine Brüderschaft, das war die frühe Romantik für eine Zeit, und sie brannte darauf, alle Gedanken um alle Dinge zusammenzubringen zu einer Verbrüderung ohnegleichen, selbst die ihrer Natur nach widerstrebenden.«113 Und in der Tat sind die Protagonisten der Romantik ja zumeist leibliche Brüder- oder aber geistige Dioskurenpaare. So figurieren auch der Maler, Zeichner, Bühnenbildner und Illustrator Karl Walser und sein Bruder, der Schriftsteller Robert Walser, im Rückblick auf ihre Anfänge in der Stuttgarter Zeit in Robert Walsers Text Die Brüder, der in seiner ersten Fassung im Oktober 1916 erscheint, halbironisch als die »Herren Gebrüder«.114 und ›zertrennen‹, indem sie etwas ›herauslesen‹ und in das »Ich-Buch« etwas hineinlesen, das eigene Ich darin implementieren. 111 | Vgl. Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift, München 2005, S. 178f. 112 | Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief, S. 104. 113 | Max Rychner: »Die Freundschaft Friedrich Schlegel – Novalis«, in: ders.: Antworten. Aufsätze zur Literatur, Zürich 1962, S. 169-178, S. 177. 114 | SW 5/104. »Die Brüder wirkten wie zwei Seiten der selben Münze«, schreibt Karl Scheffler, Herausgeber der im Verlag Bruno Cassirer erscheinenden Zeitschrift Kunst und Künstler. Zu Karl Walsers Arbeiten als Bühnenbildner bei Theaterproduktionen (u.a. von Max Reinhardt) heißt es: »Seine farbig rauschenden, architektonisch nuancierenden Dekorationen sind stets nur Andeutungen; sie fußen darauf,
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Und im Text Eine Art Erzählung findet sich ein Bild in die Schrift eingetragen, dessen Allusionen ebenso autobiographisch wie fiktional sind. Im Zentrum von Schillers Die Räuber steht bekanntlich ein Brüderpaar, das die biblische Geschichte vom verlorenen Sohn und überdies die von Kain und Abel zitiert. Für Schiller allerdings, der in der Vorrede zur ersten Auflage seines Stücks 1781 bekundet hatte, mit seinen Charakteren »nur die Natur gleichsam wörtlich abgeschrieben« zu haben, ist »Jedem, auch dem Lasterhaftesten, […] gewissermassen der Stempel des göttlichen Ebenbildes aufgedrükt, […]«. Und eben nicht das Kainsmal. Zwar spricht Schiller von einer »Apologie des Lasters«, die das Stück stürzen soll, denn das »Laster« nimmt auch hier »den Ausgang, der seiner würdig ist«.115 Karl Moor übergibt sich selbst der Justiz, Franz Moor kommt in beiden Fassungen des Stücks ums Leben. Und doch schreibt Schiller in einer Rezension zu seiner eigenen Arbeit, in welcher der Verfasser »gesteht«, dass er bei der Gestaltung der Figur des Franz Moor »nie an die Bühne dachte«, auch: Mögen noch so viel Eiferer und ungedungene Prediger der Wahrheit von ihren Wolken herunterrufen: Der Mensch neigt sich ursprünglich zum Verderblichen: ich glaub es nicht, ich denke vielmehr überzeugt zu sein, daß der Zustand des moralischen Übels im Gemüt eines Menschen ein schlechterdings gewaltsamer Zustand sei, welchen zu erreichen zuvörderst das Gleichgewicht der ganzen geistigen Organisation (wenn ich so sagen darf) aufgehoben sein muß, so wie das ganze System der tierischen Haushaltung, Kochung und Scheidung, Puls und Nervenkraft durcheinander geworfen sein müssen, eh die Natur einem Fieber oder Konvulsionen Raum gibt.116
Die Figur des Räuberhauptmanns Karl Moor hat – neben den Figuren Shakespeares – dabei selbst ein weiteres literarisches Vorbild: »Falsche Begriffe von Thätigkeit und Einfluß, Fülle von Kraft, die alle Geseze übersprudelt, mußten sich natürlicher Weise an bürgerlichen Verhältnissen zerschlagen, und zu diesen enthousiastischen Träumen von Grösse und Wirksamdaß alle Theaterwirkungen auf einer vom Zuschauer willig anerkannten Konvention beruhen. Seine Bühnenbilder sind wie Skizzen und sind insofern unwirklich; sie sind wie ein Spiel mit dem Spiel. Aber in der Andeutung ist soviel Phantasie, daß der Zuschauer darüber hinaus allgemeine Stimmungen empfindet. […] Sie [die Theaterdekorationen, Anm. d. Verf., KS] singen mit, sie sprechen mit, sie lachen mit und sind gegenständlich nur wie nebenher.« Karl Scheffler: Talente, Berlin 1921, S. 204 (Hervorh. d. Verf., KS). 115 | Friedrich Schiller: »Die Räuber. Vorrede zur ersten Auflage«, in: ders: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 3, hg. v. Herbert Stubenrauch, Weimar 1953, S. 5-8, S. 7f. 116 | Friedrich Schiller: »Die Räuber. Ein Schauspiel von Friedrich Schiller. 1782« [Rezension Friedrich Schillers zum eigenen Werk], in: ders.: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 22, hg. v. Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 115-131, S. 121 (Hervorh. v. FS).
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keit durfte sich nur eine Bitterkeit gegen die unidealische Welt gesellen, so war der seltsame Donquixote fertig, den wir im Räuber Moor verabscheuen und lieben, bewundern und bedauern.«117 In Robert Walsers Wort vom »Ich-Buch« nun ist mit der Schillerschen Fabel der Räuber, der poetischen Reflexivität des romantischen Romans und seinem von den Romantikern verehrten Inbegriff im Don Quijote des Miguel de Cervantes (mit der Figur des Räubers Roque) zudem noch eine unscheinbare, bildkünstlerische Inkunabel eingetragen: ein kleines Aquarell aus dem Jahre 1894, das Karl Walser, später einer der bedeutendsten Theatermaler Deutschlands, als Porträt von seinem Bruder Robert angefertigt hat und das betitelt ist: Robert Walser als Karl Moor in Schillers Räubern. Das Bild ist »Ausgangs- und Fluchtpunkt« von Robert Walsers RäuberRoman, der, so Reto Sorg, als »ausgedehnte ›Umschreibung‹ jenes Aquarells« zu lesen ist,118 das früh im Roman erwähnt ist. Im letzten Abschnitt dann wird aufgedeckt, dass Anlass der Zeilen, der »Glosse«, ein »Aquarellbildchen« gewesen sei: »Und nun zum Schluß des Buches noch dies Resümee. Das ganze kommt mir übrigens vor wie eine große, große Glosse, lächerlich und abgründig. Ein Aquarellbildchen, das ein jugendlicher, kaum dem Knabenalter entwachsener Maler ausführte, gab uns zu all diesen kulturellen Zeilen den Anlaß. Freuen wir uns dieses Sieges der Kunst.«119 Mittelhochdeutsch aus dem lateinischen Wort für eine erläuternde Bemerkung stammend, sind Glossen in alten Handschriften zwischen die Zeilen eines Textes oder an den Rand gesetzt, seltener in den fortlaufenden Text eingefügt. Aus Handschriften wurden Glossen entweder zusammen mit dem Text abgeschrieben oder aber unabhängig vom Bezugstext in Glossaren gesammelt und tradiert. Volkssprachige Glossen gehören, als Zusätze zu lateinischen Rechtstexten oder Interlinearglossen zur Bibel, zu den ältesten Schriftzeugnissen des Deutschen. Sie dokumentieren Art und Umfang der Bewältigung des Lateinischen durch die an ihm wachsende und sich zugleich von der Referenzsprache des Lateinischen emanzipierende Volkssprachigkeit. Die Etymologie der Glosse aus dem griechischen Wort für Zunge, glossa, macht aus der Glosse eine Gattungsbezeichnung, mit der auf die Sprache auch als Aussprache verwiesen ist. Und im Sinne einer Zweisprachigkeit zwischen Hoch- und Umgangssprache ist Robert Walsers Räuber-Roman im Text selbstreflexiv als Glosse bezeichnet, weil er die Adaption einer klassischen Fabel darstellt, eine Randbemerkung hierzu ist. Referenzsprache ist die Sprache Schillers. Und mehr noch: Am Ende ist es schließlich die Kunst, die den Sieg davonträgt, die bildende Kunst. Das reale Aquarell gibt Anlass zur komplex gestaffelten Ordnung: Der junge Robert Walser posiert in diesem Aquarell, das fiktional zum Anlass der Fiktion des mikrographisch verfassten Räuber-Romans werden wird, als Schillers Räuber117 | Friedrich Schiller: »Die Räuber. Vorrede zur ersten Auflage«, S. 6. 118 | Reto Sorg: »Vom romantischen Traumbild zur virtuellen Realität«, S. 189ff. 119 | Mikro, Bd. 3, S. 148.
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hauptmann Karl Moor, dessen Rollentext der Autor in jungen Jahren in der Tat auswendig kannte.120 Und wie als antizipative Ironisierung des ganzen, viel später erst entwickelten Zusammenhangs zeigt bereits das frühe Aquarell des Bruders, gleich unterhalb der Signatur »C. Walser«, den Vermerk »Nach der Natur«.121
I.3 G ROSSE UND KLEINE W ELT Der Roman, an dem im Text Eine Art Erzählung »weiter und weiter« geschrieben wird, erscheint uns als »ein vielfach zerschnittenes und zertrenntes Ich-Buch« vor allem im Hinblick auf das Konvolut der Mikrogramme. Diese Blätter, die erst seit dem Jahre 1924 erhalten sind, und die als ein »zerschnittenes und zertrenntes Ich-Buch« in der Tat erscheinen könnten, sind jedoch vom Autor auseinander- und zurechtgeschnitten worden, bevor sie beschriftet wurden. Als Zwischengebilde der doppelten Bewegung von Instituierung und Annullierung122 des Buchstabens sind die überaus verdichteten Miniaturen Mythogramme, die an eine Vorvergangenheit des eigenen Schreibens anknüpfen und sich zugleich als Antizipationen zukünftigen Schreibens darstellen. Greven hat vermutet, dass den Doppelfassungen der mittleren Bieler Jahre (der erwähnte Text Die Brüder ist eine solche erhaltene Doppelfassung im Band Prosastücke (1917), die zweite Doppelfassung, die existiert, besteht im Text Saul und David) zurückgehaltene, verworfene, durch Umarbeitungen ersetzte Erstfassungen zugrunde liegen könnten;123 diese wären dann Texte aus einem »Bleistiftgebiet« avant la lettre, es wären nicht erhaltene, verlorene Mikrogramme. Auch das »IchBuch« nun, das in den Texten Eine Art Erzählung und Zückerchen begegnet, findet sich in der Semantik der im Nachlass aufgefundenen Roman-Fragmente wieder, denen Carl Seelig die provisorische Überschrift »Tagebuch (über Frauen)« gab. Das Manuskript umfasst 53 Seiten; die in den Mikrogrammen erhaltenen Entwürfe finden sich auf Teilen der Kalenderblätter vom April 1926, und dort erscheint die Frage, ob wohl »die Grundlage, das Fundament, das Gerüst für den ruhigen, sorglosen Aufbau schon vorhanden sein mögen?«,124 im Hinblick auf den Text »mit unerhörtem Mut den Eventualitäten anheim« gestellt. Robert Walsers Wort vom »Gerüst« spielt dabei nicht nur auf das theatrale Schaugerüst an, sondern auch auf Clemens Brentanos Roman Godwi, den verworrensten aller romantischen Ro120 | Vgl. Bernhard Echte: »Karl und Robert Walser. Eine biographische Reportage«, in: Die Brüder Karl und Robert Walser, hg. v. Bernhard Echte und Andreas Meier, Stäfa 1990, S. 150-203, S. 156. 121 | Vgl. Abb. in: Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten, hg. und gestaltet von Bernhard Echte, Frankfurt a.M. 2008, S. 39. 122 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 28. 123 | Vgl. »Nachwort des Herausgebers«, in: SW 5/270 sowie SW 7/213. 124 | SW 18/65.
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mane, in dem es in der Vorrede zum zweiten Teil heißt: »Die Begebenheit steht zuletzt wie ein schwankendes Gerüste da, das die Behandlung nicht mehr ertragen kann, und jagt den Lesern Todesangst für sich und sein Intresse [sic!] ein. Das traurigste aber bleibt es doch immer, wenn dem Buche der Kopf zu schwer wird, durch Gold, oder mehr noch durch Blei.«125 In Robert Walsers Tagebuch-Fragment heißt es nun: Ich finde z.B., daß das Schreiben Hand in Hand mit dem Leben geht; es ist mit ihm verflochten, meiner Ansicht nach darf und soll das so sein. Soviel in Bezug auf die Bedeutung oder die Macht der Ablenkung von der sogenannten geraden Straße des Arbeitens, für die gar nicht von Belang ist, ob sie schnurgerade auf und davonlaufe, oder ob sie Abbiegungen, Abzweigungen in sich einbeziehe und mit sich nimmt. […] Bricht die Geschichte zusammen, so würde ich mir halt sogleich irgend etwas anderes, etwas Neues vornehmen, da ich mich nie auf eine einzige Schaffensidee stütze, sondern regelmäßig innerlich darauf beruhe, daß es etwas Vorzügliches, Ausgezeichnetes in der moralischen Welt gibt: die Parallele, womit ich das sich nebeneinander hinziehende Zusammengehen verschiedener Absichten, Wünsche, Bestrebungen meine, die sich nicht täuschend wie Zwillinge oder Drillinge, aber doch einigermaßen ähnlich sind wie artig und glücklich miteinander auskommende Geschwister.126
Der selbsterteilte Auftrag lautet, »eine sich in angemessene Länge ziehende Kurzgeschichte« zu schreiben, »die auf absolutem Eigenerleben fußen muß«.127 Dabei kehrt »eine Art übrigens sicher sehr wertvoller verlorener Sohn« (wieder ist neben der biblischen Geschichte auf Schillers Stück Die Räuber angespielt) »zum übernommenen Auftrag zurück, ein Ichbuch zu schreiben. Ich bin gleichsam während dieser verflossenen Tage durch die braunen Wälder des Meiner-nicht-sicher-Seins, des Unentschlossenseins gelaufen.«128 Zeit ist hier räumlich, wie als die Baumstämme in einem Gehölz, wahrgenommen. Die »braunen Wälder« des »Unentschlossenseins« sind dabei auch die ins Bräunliche gehenden Papiere, die zu dieser Zeit 125 | Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria, hg. v. Heinz Amelung, München, Leipzig 1909, S. 225. 126 | SW 18/65. 127 | SW 18/76. 128 | SW 18/106. Die erneute Konzentration auf den »Auftrag« ist dabei Dispens von Wünschen, die mit der Usurpation aller Rollen einhergehen: »Übrigens kann ich betonen, daß dies immerhin nur eine jetzt bereits vorübergegangene Stimmung gewesen ist, meinetwegen eine Art Wunsch, der sich inzwischen schon wieder aufgelöst, gleichsam aufgegessen, verspeist hat. Gewisse Wünsche, Neigungen sind gleichzeitig hohe Herrschaften und niedrige Dienerschaften, die befehlen und gehorchen, oder sie sind in ein und derselben Sekunde Mund und vorzüglich mundende Speise, und sie gleichen, so würde man vielleicht meinen können, dem Begriff Vater und zugleich wieder dem Begriff Kind oder Knabe und seien Mutter und Tochter usw.« Ebd., S. 105f.
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von Robert Walser verwendet wurden. Blätter eines Kalenders mit dem lateinischen Namen für einen Landsitz: ›Tusculum‹. Das annoncierte Unternehmen des Tagebuch-Fragments, »eine sich in angemessene Länge hinziehende Kurzgeschichte« zu schreiben, endet im Text in Dispersion; die »fallengelassene, preisgegebene Absicht« rührt darin wie eine Actrice, wie eine Schauspielerin; der Verrat an der eigenen Intention aber rührt auf, als Frage: »Was hatte ich nötig, wie kam ich dazu, meine Interessiertheit einem Zeitungsblatt zu widmen, worin einer Theaterkrisis, verbunden mit einer Schauspieler- und Schauspielerinnenfrage, die Rede war? […] Sei mir willkommen, fallengelassene, preisgegebene Absicht. Du rührst mich, Bemühung, die ich im Stich ließ. Wird vielleicht nun ein Gespräch stattfinden?«129 Die Frage nach einem Gespräch, die interpunktiert ist durch das Fragezeichen, das, wie Peter Utz bemerkt hat, selbst wie jene Ohrmuschel des Lesenden aussieht, »ohne die der Text bei keinem Ende ankommen könnte«,130 ist vielleicht nicht nur eine Frage an die Lebenden. Es sei ihm »natürlicher«, so bekundet der Briefschreiber in Friedrich Schlegels Brief über den Roman, einer Einlage im Gespräch über die Poesie, »schriftliche Belehrungen zu geben als mündliche, die nach meinem Gefühl die Heiligkeit des Gesprächs entweihen«.131 Am Ende des Brieftextes wird Schlegels Theorie des Romans, die selbst wiederum ein Roman würde sein müssen, zur Utopie einer Wiederauferstehung von Autoren und Figuren: »Da würden die alten Wesen in neuen Gestalten leben; da würde der heilige Schatten des Dante sich aus seiner Unterwelt erheben, Laura himmlisch vor uns wandeln, und Shakespeare mit Cervantes trauliche Gespräche wechseln; – und da würde Sancho von neuem mit Don Quixote scherzen./Das wären wahre Arabesken […].«132 Als Gespräch war im Freundesverhältnis von Novalis und Schlegel im Übrigen die schriftliche Korrespondenz, die sie miteinander geführt hatten, als Gespräch war das Briefeschreiben bezeichnet worden. Und: »Briefe, Unterhaltungen – oder Gespräche – […] – das sind practisch schriftstellerische Arbeiten«, heißt es im Allgemeinen Brouillon des Novalis.133 Auch der von beiden bewunderte Laurence Sterne versteht das Erzählen in seinem in Fortsetzungen erschienenen Roman Leben und Ansichten des Herrn Tristram Shandy als Gespräch: »Das Schreiben, wenn es richtig getrieben wird (und Sie können versichert sein, daß ich denke, dies sei bei mir der Fall), ist nur eine andere Art von Gespräch. Wie jemand, der weiß, wie er sich in einer guten Gesellschaft zu benehmen hat, dort nicht wagen wird, alles herauszuschwatzen – so darf auch ein Schriftsteller, der die Grenzen des Anstandes und der Bildung kennt, nicht alles denken; er erweist daher dem Geiste 129 | SW 18/110. 130 | Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«. Frankfurt a.M. 1998, S. 293. 131 | Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 329. 132 | Ebd., S. 337. 133 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 465.
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des Lesers keine größere Achtung, als wenn er die Sache freundschaftlich halbiert und der Einbildungskraft jenes ebenfalls etwas überläßt.«134 Die Notwendigkeit der Mitarbeit der Lesenden an einem Text, der sich erst in der Rezeption konstituieren soll, findet sich im Tristram Shandy dabei auch mit den von Sterne in den Text eingefügten bildlichen Elementen thematisiert. Arabeske Linien, marmorierte Blätter, zwei monochrome, fast seitengroße schwarze Rechtecke, die nach dem Tod des Protagonisten Yorick im Roman erscheinen, gelten dabei als die frühesten abstrakten Bilder. Und in der Tat wird der Text durch diese Bildbeigaben nicht etwa illustriert.135 Nicht jedenfalls im herkömmlichen Sinne. Im Roman sind die marmorierten Blätter semantisch annonciert; in der Übersetzung von Adolf Seubert aus dem Jahre 1880 heißt es in wiederholter Anrufung der Lesenden: Lesen Sie, lesen Sie, lesen Sie, mein ungelehrter Leser! – lesen Sie! – oder […] ich sage Ihnen zum voraus, Sie täten besser daran, Sie legten das Buch gleich beiseite; denn ohne viel lesen, worunter ich, wie Sie wissen, viel Gelehrsamkeit verstehe, werden Sie die Moral eines marmorierten Blattes (das scheckige Sinnbild meines Werkes!) ebensowenig verstehen, als die Welt mit all ihrem Scharfsinn imstande war, die vielen Ansichten, Abhandlungen und Wahrheiten zu enthüllen, welche noch unter dem dunkeln Schleier eines schwarzen Blattes mystisch verborgen liegen.136
Das marmorierte Blatt ist das »scheckige Sinnbild«, die piktorale Allegorie des Werkes, und unter »dem dunkeln Schleier« des schwarzen Blattes liegen Wahrheiten »mystisch verborgen«, deren »Moral« sich erst im Lesen erschließt. Erst im genauen Lesen des vermeintlich nur Schriftbildlichen erschließt sich auch, dass das »Ich-Buch«, das in Robert Walsers Text Zückerchen noch als Kompositum ohne Binde- und Trennstrich zu lesen war, in Eine Art Erzählung durchbrochen ist. Nicht der Zusammenhang, wohl aber das Wort, welches das Ich und das Buch bildeten, ist aufgehoben. Wofür aber steht das Ich, wofür das Buch? »Das Ich ist das mit der Stimme verbundene Wort. Es ist gleichsam der Sinn der Stimme selbst – diese als ein
134 | Laurence Sterne: Leben und Ansichten des Herrn Tristram Shandy, Köln 2000, S. 102. Im Text Der Spaziergang von Robert Walser wird es in der Erstfassung heißen: »Indem ich Eingeständnisse mache, erweise ich mich als friedfertig, und indem ich Eckiges abrunde und Hartes weich mache, bin ich ein feiner, zarter Abschwächer, zeige ich Sinn für gute Tonart und bin ich diplomatisch. […] Wenn jetzt jemand noch sagt, daß ich ein rücksichtsloser Mensch, Machtmensch und Machthaber sei, der blind drauflosgeht, so behaupte ich, das heißt wage ich zu hoffen, daß ich das Recht habe, zu behaupten, daß sich die Person, die das sagt, bös irrt. So zart und sanft wie ich hat vielleicht noch nie ein Autor beständig an den Leser gedacht.« SW 5/62. 135 | Vgl. Christina Weiss: Seh-Texte, S. 20. 136 | Lawrence Sterne: Tristram Shandy, S. 207.
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Zeichen betrachtet«,137 zitiert Giorgio Agamben Paul Valéry. Das Buch hingegen, der Buchstabe, das Gramma ist, wie Agamben auch ausführt, die Erfahrung der Sprache in der Aufhebung der Stimme: »Weil das gramma zugleich Zeichen und konstitutives Element der Stimme ist, kommt ihm der paradoxale Status zu, Anzeichen seiner selbst (index sui) zu sein. […] Als Zeichen setzt das gramma zwar die Stimme und ihre Aufhebung voraus, aber als Element hat es die Struktur […] einer Spur seiner selbst.«138 Das »Ich-Buch« Robert Walsers inszeniert mithin die Spannung, den Widerstreit zwischen der Stimme und dem Buchstaben als eine Aufhebung, nicht im Sinne von Negation, sondern im Sinne einer Bergung des Hauchs der Stimme – als einem nicht wiederholbaren, vorsprachlichen, außerschriftlichen Ausdruckszeichen, das zudem immer von einer Adressierung bestimmt ist. Die Schrift ist dagegen ein »Organon der Wiederholbarkeit«.139 Sie hat keinen zwingenden Kontext. Sie setzt, damit sie funktioniert, gerade voraus, dass sie jeden Empfänger ignorieren kann. Und es ist gerade die graphematische Struktur des Zeichens, welche diese Möglichkeit zur Dekontextualisierung bewirkt.140 Das gilt selbst dort oder gerade dort noch, wo die Schrift ein Geistergespräch, ein Gespräch mit den Toten ist – wie dasjenige, das von jeher in der Literatur geführt wird. Und doch ist gerade die Schrift auf eine »Konstruktion von Adressen«141 angewiesen. Und das »Brouillon«142 , als das Robert Walser die Schrift der Mikrogramme in seinem Brief an Max Rychner auch bezeichnen wird, die nahezu unlesbaren Manuskripte, die er als »Bleistiftgebiet« konstituieren wird, sind ein Kontext, für den es keine Transposition, keine Übersetzung gibt, schon weil die Schrift, auch jetzt noch, nach ihrer aufwändigen Transkription – was jedenfalls die spätesten Manuskripte betrifft – unlesbar bleibt. Die Unlesbarkeit der Schrift erzeugt eine eigene Interiorität, eine Sphäre der Unantastbarkeit. In seinem Roman Heinrich von Ofterdingen hatte Novalis in zwei Sätzen eine Analogie von Sprache und Welt entworfen, die den Sinn des Wortes »Welt« mittels der Epitheta ›klein‹ und ›groß‹ zu einer ›mise en abyme‹ der großen in der kleinen Welt werden lässt.143 Er folgt 137 | Zit.n. Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität, Frankfurt a.M. 2007, S. 60. 138 | Vgl. ebd., S. 58, Zitat S. 71. 139 | Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, Wien 1999, S. 298. 140 | Vgl. Peter Fuchs: Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien: »japanische Kommunikation« und »Autismus«, Frankfurt a.M. 1995, S. 34ff. 141 | Peter Fuchs: Die Umschrift, S. 92. 142 | Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 300. 143 | Vgl. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der frühen Neuzeit, Stuttgart, Weimar 1998, S. 297. Große kleine Welt wird der von Novalis inspirierte Titel der ersten posthumen Ausgabe von Texten Robert Walsers sein, die von Carl Seelig besorgt wird.
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darin einem kabbalistischen Grundgedanken, nach dem sich der Makrokosmos im Mikrokosmos spiegelt – und verkehrt diesen in einen Gestus der Beherrschung: »Die Sprache […] ist wirklich eine kleine Welt in Zeichen und Tönen. Wie der Mensch sie beherrscht, so möchte er gern die große Welt beherrschen, […].«144 Und zwar scheint Robert Walsers kleine Welt der Mikrogramme hierin präfiguriert: Schriftzeichen fragmentieren den weißen Schriftgrund,145 ebenso wie sie ihn als Hinter- oder Untergrund allererst konstituieren – und dieses Bewusstsein zeigen die Mikrogramme in ihrer ›Materialität‹, die Texte der Bieler Prosa in ihren Semantiken –, doch das Moment von Macht und Beherrschbarkeit, das die Analogie noch bei Novalis bestimmt, weicht bei Robert Walser einem von der Einsicht in die menschliche Fragilität und Sterblichkeit getragenen Gestus des Machtverzichts. Und so findet sich der Zusammenhang zweier Sätze, die sich aufund ineinander abbilden, bei Robert Walser auch ganz anders: Unausgesprochen, unmarkiert an das durch die Darstellung von sinnloser Martialität geprägte Shakespeare-Stück Titus Andronicus angelehnt, das seine deutsche Erstaufführung 1925 erlebt hatte, wird Robert Walsers Text Titus aus dem erwähnten letzten vom Autor noch selbst herausgegebenen Sammelband Die Rose den Status, den die schriftstellerische Produktion zu eben diesem Zeitpunkt hat, benennen. Ein Hinweis auf den Zusammenhang, in dem der Titel Titus bei Robert Walser steht, findet sich dabei in der Korrosion eines Namens: Eduard Korrodi, Schweizer Großkritiker, ist in einem Brief des Autors von 1926 als »Tit. Korrodibus« bezeichnet.146 In William Shakespeares Titus Andronicus werden der vergewaltigten Lavinia die Zunge herausgerissen und die (Schreib-)Hände abgehackt. Es gelingt ihr jedoch, das Buch der Metamorphosen des Ovid an jener Stelle aufzuschlagen, wo es um das verwandte Schicksal der Philomela geht, und die Namen ihrer Schänder mit einem Stab im Mund in den Sand zu schreiben. Der Zunge beraubt ist im griechischen Mythos, auf den sich die Metamorphosen des Ovid beziehen, eben auch Philomela, und zwar von Tereus, der sie vergewaltigt hatte und der sie nun um ihre – besonders schöne – Stimme bringt. Philomela webt daraufhin eine Botschaft in ein Kleid, das sie 144 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 287. 145 | Vgl. Edmond Jabès: Die Schrift der Wüste. Gedanken, Gespräche, Gedichte, hg. von Felix Philipp Ingold, Berlin 1989, S. 31. 146 | Brief ohne Datumsangabe (Poststempel vom 19. April 1926) an die Freundin Frieda Mermet (Br, S. 273). Zwar ließen sich mit dem Namen Titus auch andere Bezüge eröffnen, wie etwa zum historischen Römer Titus, der in einem von der Historiographie nicht geklärten Zusammenhang mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels steht, den er mutmaßlich zu verantworten hat. Diese Zerstörung zog den Exodus der Juden nach sich, die nach Babylon aufbrachen, wo auch der Babylonische Talmud entstand (zwischen 1929 und 1936 erschien die erste vollständige deutsche Übersetzung von Lazarus Goldschmidt) – und die durch die Zerstörung des Tempels notwendig gewordene Privilegierung der Schrift für die Ausübung der eigenen Religion. Der Bezug zu Shakespeare aber scheint wahrscheinlicher.
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ihrer Schwester Prokne zukommen lässt, so dass diese sie aus der Gefangenschaft befreien kann.147 In einer der Überlieferungen wird Philomela in eine Schwalbe verwandelt. Und das weist auf Robert Walsers Text Liebe kleine Schwalbe, auf den weiter unten zu kommen sein wird. Im Text Titus ist zunächst von einem bramabassierenden Zimmernachbarn die Rede, doch dann wird der Text grundsätzlicher: »Frieden ist ein schwieriges Problem. Ich ging zur Schriftstellerei über, um sie nach und nach aufzugeben.«148 Gerade die Fortsetzung ist dasjenige, was alles als einen Übergang erscheinen lässt. Frieden als ein tautologisch »schwieriges Problem« zieht auch in der Schriftstellerei, die im wörtlichen Sinn mit Satzfolgen beschäftigt ist, etwas nach sich, und zwar etwas, das die Kohärenz oder die vermeintliche Inkohärenz dieser beiden Sätze betrifft. Doch auch sie hängen zusammen. Zwischen ihnen findet sich nicht etwa ein gedanklicher Bruch dokumentiert. Das scheinbar entrückte Weltgeschehen und die eigene Bestimmung stehen vielmehr, trotz des Anscheins von Disparatheit, in einem engen Zusammenhang, der sich jedoch nicht leicht erschließt. Und doch gibt es in Robert Walsers Texten immer ein (in der Berner Prosa immer schwerer auffindbares) tertium comparationis. Im Text Titus liegt es im Prekären. Unbezweifelt oder ungefährdet ist, Mitte der 1920er Jahre, weder der allgemeine Weltfrieden noch die eigene Schriftstellerei. Und dieses Prekäre ist es zugleich auch, was die »Schriftstellerei« per se transitorisch macht. Man geht zu ihr über, um sie im nächsten Moment »nach und nach aufzugeben«. Eine ›reine‹ Gegenwart gibt es nicht. Im Text macht sich nicht etwa eine »Reduktion des Erzählten, des Erzählbaren auf jeweils einen Augenblick«149 bemerkbar, sondern alles hängt, wenn auch nicht immer vordergründig erkennbar, miteinander zusammen.
147 | Vgl. dazu Helga Geyer-Ryan: »Kassandra in Sizilien«, in: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit, hg. v. Dietmar Kamper und Christoph Wulf, Berlin 1992, S. 117-127, S. 119ff. 148 | SW 15/50. 149 | Cordelia Schmidt-Hellerau: Der Grenzgänger. Zur Psycho-Logik im Werk Robert Walsers, Zürich 1986, S. 515.
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II. Schrift, Miniatur und Präfiguration
In einem Brief, der bereits vom Oktober 1906 datiert, hatte Robert Walser an Christian Morgenstern, der zu dieser Zeit Lektor des Verlags Bruno Cassirer war, geschrieben: »Was will ein Dichter zu sagen haben, wenn er nicht einmal in seinem Leben die Hand des Todes ›gespürt‹ hat?«1 Das ›Spüren‹ setzt der Autor in Anführungsstriche, die das Empfinden in seiner Geltung weniger ironisch zu befragen, als vielmehr zu umhüllen, zu schützen scheinen. Die Anführungsstriche erscheinen darin wie die kugelrunde Umhüllung des homo bulla, jener Darstellung des Menschen in einer Blase, die sich in der barocken Emblematik findet. Und eine ähnliche Hülle scheint die Mikrographie zu sein. Es sind fragile Schriftstücke, jene Manuskriptblätter Robert Walsers, die eine »winzige, einzige und extrem zerbrechliche Ordnung«2 ausbilden, und es insistiert, ungeachtet der geglückten Entzifferung von inzwischen großen Teilen dieses Konvoluts,3 von dem einst vermutet worden war, dass es in einer Geheimschrift verfasst sei, das Enigmatische dieser ›Ordnung‹: »Die Rettung: die stumme Kette der Signifikanten. In sich verschlossen ist sie – Schrift: feierliches Symbol der Rede, kühne Metapher eines Zusammenhangs, einer Ordnung – welcher auch immer«, schreibt Walter van Rossum.4 Etwa fünfzig Jahre lang hatten diese Schriften außerhalb jedes literarischen Diskurses, jeder Rezeption gestanden.5 Und ein adäquates Verständ1 | Brief (Anfang Oktober 1906) an Christian Morgenstern, in: Br, S. 46. 2 | Walter van Rossum: »Schreiben als Schrift. Überlegungen zu Robert Walsers Mikrogrammen 1924/25«, in: Merkur, Jg. 40, Heft Nr. 3 (1986), S. 235-240, S. 237. 3 | Nicht entziffert sind bislang Erstfassungen zu einigen der in den Sämtlichen Werken in Einzelausgaben bereits enthaltenen Texte. Aussagen über das Verhältnis, in dem diese noch nicht entzifferten Texte, als Schrift im »Bleistiftgebiet«, zu ihrer jeweiligen Umschrift stehen, können also vorerst nicht oder nur in einzelnen Fällen getroffen werden. 4 | Walter van Rossum: »Schreiben als Schrift«, S. 236. 5 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, Göttingen 1997, S. 137.
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nis, bemerkt Morlang im Nachwort zum 1990 erschienenen vierten Band der Edition der Texte Aus dem Bleistiftgebiet, steht noch aus. Allfällig sind die psychopathographischen Deutungen, die sich mit der klinischen Konnotation des Begriffs ›Mikrogramm‹ nahezulegen und mit dem »Schreibtod«6 6 | Ebd., S. 64. Die Diagnose lautete bekanntlich Schizophrenie: »gibt schliesslich zu, in der letzten Zeit Stimmen zu hören«, vermerkt die Krankenakte der psychiatrischen Anstalt Waldau im Bericht über die Aufnahme am 24.1.1929; am folgenden Tag heißt es noch einmal: »Gibt zu, dass er Stimmen hört. Hat auch Visionen; wenn er die Augen schliesst, sieht er allerlei Bilder, ohne dass er schlafe, also nicht im Traum […] Wie lange er sich jetzt krank fühle? Seit ca. 10 Tagen, es habe mit Stimmen & Verfolgungswahn plötzlich angefangen. Er glaubte sich ausgelacht & hatte Angst, er werde unbeliebt.« (Aufnahme-Nr.10.428; zit.n. Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten, hg. und gestaltet von Bernhard Echte, S. 412f.) Die Diktion des Vermerks verrät dabei bereits die Vermischung des ärztlichen Blicks mit einem Tribunal, unter das sich der Patient gestellt sieht. Das ›Geständnis‹ beleuchtet darin nichts anderes als die Organisation der ›Krankhaftigkeit‹ durch den Rahmen der Internierung. Robert Walsers tatsächlicher Wortlaut ist nicht überliefert, doch tritt bereits aus dem Eintrag des Klinikers hervor, dass eine Frage rein rhetorisch gestellt, die Anamnese mit einer Diagnose zusammengefallen und diese von der mit der Frage induzierten Antwort bereits verifiziert worden ist. Das System der Auslegung antizipiert – ganz wie im Wahnglauben der Paranoia – selbst die Beweise für seine Richtigkeit. Vgl. hierzu Michel Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt a.M. 1968, S. 18 sowie ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M. 1996, passim. »Die Fallgeschichten der meisten Geisteskranken dokumentieren« nach Erving Goffman: Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt a.M. 1973, S. 133f., jedoch lediglich »Verstöße gegen gewisse Gegebenheiten des unmittelbaren Zusammenlebens«; mit anderen Worten, sie dokumentieren den Ausschluss, der in Folge einer Verletzung dieser Normen unter Umständen vom jeweiligen sozialen Umfeld eingeleitet wird. Dieser Ausschluss ist nicht zwingend, und vor allem ist er nicht zwingend an bestimmte Symptome gebunden, denn: »wenn man die aktuellen Einlieferungen studiert, dann scheint es häufig so, als wären auch andere Resultate möglich gewesen. Darüber hinaus erscheint es richtig, daß auf jede Übertretung, die zu einer wirklichen Beschwerde führt, viele psychiatrisch ähnliche Fälle entfallen, die folgenlos bleiben.« Und: »Trennt man jene Übertretungen, die als Gründe zur Hospitalisierung des Delinquenten hätten dienen können, von jenen, die als solche verwendet wurden, so findet man eine große Zahl von – wie die Berufssoziologen es nennen – KarriereZufällen.« Der sozio-ökonomische Status, die Sichtbarkeit der Übertretung, die Toleranz der Familienangehörigen spielen für die Einweisung eine große Rolle, und, so Goffman, »sollte der Betreffende in die Klinik kommen, so bewirkt wieder ein anderer Satz von Zufällen die Entscheidung, wann er entlassen werden soll – wie etwa der Wunsch seiner Familie nach Rückkehr, das Vorhandensein einer leicht ausführbaren Arbeit usw. Die offizielle Auffassung der Gesellschaft ist, daß Insassen von psychiatrischen Kliniken in erster Linie dort sind, weil sie an einer Geis-
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Robert Walsers in der Psychiatrie zu bestätigen scheinen. Doch diese Deutungen übersehen, so Morlang, »das greifbare Wunder des (wie befremdlich teskrankheit leiden. In dem Maße jedoch, wie die ›seelisch Kranken‹ außerhalb der Kliniken zahlenmäßig diejenigen in den Kliniken erreichen oder übertreffen, könnte man behaupten, daß die Geisteskranken nicht an seelischen Krankheiten, sondern an Zufällen leiden.« (Ebd., S. 134f.) Carl Seelig wird als juristischer Vormund und Nachlassverwalter Robert Walsers und überdies als enger Freund von Max Brod die in der Konstellation Kafka/Brod scheinbar präfigurierte Frage nach dem Umgang mit dem dichterischen Nachlass Robert Walsers beantworten, indem er – wie Kafka dies für seine bis dato unveröffentlichten Schriften tat – die Vernichtung der Mikrogramme letztwillig verfügte. Und zwar nicht, weil für diese Manuskripte, die noch zu Lebzeiten des Autors durch dessen Schwester übergeben worden waren, nach Rober t Walsers Tod jede Rückführung zur Textkonvention aussichtslos schien, sondern weil ihm, wie Echte vermutet, »für die Entdeckung und Durchsetzung Walsers nichts so gefährlich schien als das Stigma geistiger Pathologie«, so dass »er an das Geheimnis der Bleistiftminiaturen lieber nicht gerührt sehen« wollte. (Vgl. Bernhard Echte: »Ich verdanke dem Bleistiftsystem wahre Qualen«, in: Text. Kritische Beiträge, Heft Nr. 3, 1997, S. 3ff.) Seelig delegiert dabei, wie Kafka dies gegenüber Brod tat, das Urteil über das Vermächtnis mehr oder weniger unbewusst an die Nachwelt, so dass es Elio Fröhlich, dem Nachlassverwalter von Carl Seelig, zukommen sollte, die Manuskripte zu bewahren. Anders als bei Kafka/Brod hatte jedoch Robert Walser die Manuskripte, soviel wir wissen, nie selbst zur Vernichtung bestimmt, auch wenn in den Texten von einer solchen Vernichtung eigener Manuskripte zuweilen die Rede ist, so etwa im Prosastück Heimkehr im Schnee (SW 16/304) oder im Brief vom 5. Oktober 1927 an Otto Pick von der Prager Presse (Br, S. 311f.). Das fatale Komplement zum systematisierten Fehlen des Zweifels in der psychiatrischen Anamnese Robert Walsers wird in der Folge die Unhintergehbarkeit eines Stigmas sein, das den Autor – sprichwörtlich ›ein für alle Male‹ – betreffen wird. Und es steht zu vermuten, dass das Sensorium für den Einschluss, den es bedeutet, der pathologischen Erwartung gewissermaßen ganz literal ›entsprochen‹ zu haben, bei Robert Walser selbst in hohem Maße vorhanden gewesen ist. Der pathologische ›Anfangsverdacht‹ setzt sich dabei bis zum heutigen Tage in der Forschung fort, und zwar noch dort, wo diese ihn zu zerstreuen versucht. So sind die Mikrogramme als Präfiguration eines vielmehr erst von der klinischen Diagnostik bzw. von einem zeitgeschichtlichen Wandel, in Gestalt der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, besiegelten Verstummens, als Vorform dieses Verstummens gedeutet worden. Exemplarisch hierfür schreibt Hans-Ulrich Treichel: »Über die Schrift hinaus. Franz Kafka, Robert Walser und die Grenzen der Literatur«, in: Robert Walser, hg. v. Klaus-Michael Hinz und Thomas Horst, Frankfurt a.M. 1991, S. 292-309, S. 296: »Die winzig kleine Schrift, einer Geheimschrift gleich, in der Walser seine späte Prosa notierte und die erst nach vielen Mühen entziffert werden konnte, treibt den Textkörper virtuell an den Rand seiner graphischen, um nicht zu sagen physischen Existenz. Damit vollzieht der Autor auf der Ebene der Schrift in gewisser Weise noch einmal das nach, wovon er immer schon erzählte: vom Kleinerwerden des Ich und der Persön-
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auch immer) Realisierten«, für das »Kriterien« erst noch »gefunden und behutsam entwickelt werden« müssten.7 Obgleich die Schriftzeichen der Mikrogramme als Anzeichen, »das in einer existentiellen Beziehung mit dem von ihm repräsentierten Gegenstand steht«,8 ebenso lesbar oder ebensowenig lesbar zu sein scheinen wie als Konfiguration von Zeichen im Sinne eines Schriftbilds, sind Lesarten auf die des Symptoms, des Pathologems eingeschränkt worden, statt die seit dem Mittelalter bekannte Tradition der Mikrographie als Kunstform religiöser Prägung in den Blick zu nehmen. Dass Kriterien fehlen, Kategorien verwirrt sind, scheint dieser Schrift dabei inhärent;9 es ist intrinsisch, aus dem Charakter der Schrift selbst motiviert, wie diffizil es ist, sie in jedem Sinn des Wortes zu entziffern; und das lichkeit, von dem Verschwinden einer sich authentisch behauptenden Individualität.« Bvor Robert Walser in die Psychiatrie gegangen sei, habe er »sich sein Ende als Schriftsteller auf geradezu obsessive Weise erarbeitet« (ebd., S. 297). Der Autorhabe »auf seine Weise die Auslöschung der Schrift so weit vorangetrieben, daß er sie schließlich aus seinem Leben verbannen konnte« (ebd., S. 304). Und an anderer Stelle schreibt Treichel: »So kann Robert Walsers Spätwerk, die erst in den letzten Jahren entzifferten ›Mikrogramme‹, als signifikantes Beispiel einer ›Literatur des Verschwindens‹ gelten, die sich selbst unkenntlich zu machen versucht im tendenziellen Vollzug der graphischen Selbstauslöschung. […] Robert Walser, der sich der Wucherung der Dingwelt, dem Komplexitätszuwachs der objektiven Kultur schreibend aussetzte, indem er ›alles‹ beschrieb – auf alles und über alles – schwindet zugleich als Schreibender, ebenso wie seine Schrift sich tendenziell der graphischen Fläche, der Schraffur, dem graphischen ›Rauschen‹ annähert. Graphische Desartikulation und manischer Schreib- und Beschreibungszwang lösten sich in seinem Fall erst im gänzlichen Abbruch des Schreibens, im Schreiben der leeren Fläche gewissermaßen, das einherging mit der sozialen und klinischen Diagnose der Schizophrenie.« Hans-Ulrich Treichel: Auslöschungsverfahren. Exemplarische Untersuchungen zur Literatur und Poetik der Moderne, München 1995, S. 9 [Einl.]. Im Kapitel mit dem Titel »Die verschwindende Schrift: Robert Walsers Mikrogramme« bezeichnet Treichel das Konvolut dann auch als ein »enormes literarisches Fragment, welches gewissermaßen in seiner eigenen Bewegung, der unendlichen quantitativen Ausdehnung und Fortschreibung, befangen blieb, ohne wirklich vollendet oder auch nur abgeschlossen zu sein«. Robert Walsers nachgelassenes Werk, die Mikrogramme, ließen sich, so Treichel, »als ›ganzes‹ nicht retten, so sehr dies auch von Wohlmeinenden und an dem ›Klassiker‹ Walser Interessierten« versucht werde. Ebd., S. 28f. 7 | Vgl. Werner Morlang: »Nachwort«, in: Mikro, Bd. 4, S. 412-430, S. 426. 8 | Vgl. hierzu Giorgio Agambens Referenz auf Roman Jakobson und den Rückgriff auf »Peirce’ Unterscheidung zwischen dem Symbol (das mit dem repräsentierten Gegenstand aufgrund einer konventionellen Regel assoziiert wird) und dem Anzeichen« in: Die Sprache und der Tod, S. 48. 9 | Vgl. Jacques Derrida: Scribble*. Macht/Schreiben [Vorwort zu William Warburton: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter], hg. v. Peter Krumme, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980, S. VII-LV, S. IX.
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zeigt sich – ganz tautologisch – in ihrer, was die späten Mikrogramme betrifft, auch jetzt nicht aufgelösten Unlesbarkeit. Ein sprichwörtlich ›flüssiges‹ Lesen ist weiterhin nicht möglich. Der Autor hat sich die Lektüre, gleichsam noch posthum, als das auktoriale Privileg vorbehalten, etwa so, wie im Französischen von »se relire« gesprochen wird – als hätte der Schreiber die erste Lektüre, die immer das Vorrecht des Schreibers ist, im Ausführen des Schreibaktes bereits realisiert.10 Und als sollte es bei dieser ersten Lektüre, beim Schreiben bleiben und nichts zur Schrift im Sinne von Inschrift gerinnen, erstarren, versteinern können, als sollte die Schrift nicht testamentarisch werden.11 Zur Lektüre gehört »das Entziffern und Auslegen ebenso wie das zeitliche Nacheinander, das sich nicht in einem Augenblick der Erfüllung zusammenzufassen vermag«.12 Eine Inschrift hingegen ist räumlich – und mag sie auch noch so klein sein, sie widerfährt nicht einem bereits konstituierten Raum, sondern bringt Räumlichkeit überhaupt erst hervor.13 Auch mit der Schrift der Mikrogramme geht nicht etwa nur ein Moment des Verschwindens, sondern auch das einer Rekonstruktion einher. Für Morlang ist die Mikrographie denn auch »weniger eine auf Kontraktion der Buchstaben bedachte Kürzelschrift« als vielmehr eine detailgerechte, ja sogar detailversessene »Wiederherstellung der deutschen Schrift en miniature«,14 eine »Phantasmagorie des beseeligt Kleinen«, wie sie Theodor W. Adorno für das von Johann Wolfgang von Goethe im Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre eingelegte Märchen Die neue Melusine beschrieben habe. In diesem Märchen ist, wie Marianne Schuller15 gezeigt hat, die aristotelische Kategorie des Wunderbaren als Berührung zweier Sphären, die der Götter und die der Menschen, die der Unsterblichen und der Sterblichen, von Goethe in einer bereits auf die Moderne vorausweisenden Variante um- und in der Figur des Kleinen zugleich fortgeschrieben. 10 | Vgl. Almuth Grésillon: »Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben«, in: Kulturelle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse. Elf Aufsätze zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit, hg. v. Wolfgang Raible, Tübingen 1995, S. 1-36, S. 8, Anm. 9. 11 | Vgl. Dieter Roser: Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift. Zur Sprachproblematik in Robert Walsers späten Texten, Würzburg 1994, S. 37 und S. 43. Roser konstatiert in Robert Walsers Texten dabei grundsätzlich die Restitution nicht einer ›ursprünglichen‹ Mündlichkeit, sondern die einer neuen, zweiten Mündlichkeit, »welche das Bewußtsein, das alles Geschriebene Schrift ist, zur Voraussetzung hat«. Ebd., S. 169. 12 | Emil Angehrn: »Schrift und Spuren bei Derrida«, S. 351. 13 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 497f. 14 | Werner Morlang: »Das eigentümliche Glück der Bleistiftmethode«, S. 99 und S. 98. 15 | Vgl. Marianne Schuller/Gunnar Schmidt: Mikrologien. Literarische und philosophische Figuren des Kleinen, Bielefeld 2003, S. 11-14.
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Jenem Moment der »Wiederherstellung« einer Schrift, »en miniature«, das Morlang in den Mikrogrammen Robert Walsers sieht, scheint jedoch ein anderes gerade entgegenzustehen: »Bei einem Vergleich der Manuskripte aus den Jahren 1924-25 und den Jahren 1926-27«, schreibt Kerstin Gräfin von Schwerin, »fällt zunächst auf, daß Walser seine Schrift in den späteren Jahren weiter verkleinert und verdichtet hat. Dadurch, daß er einen weicheren, infolgedessen schneller stumpfenden Bleistift verwendet hat, wird die Kenntlichkeit des Wortbildes erheblich beeinträchtigt. Verstärkt werden Verwechslungsmöglichkeiten im Verlauf eines Textes dadurch, daß durch den stumpfer werdenden Bleistift das Schriftbild immer abstrakter wird.«16 Die Entzifferung ist, so berichtet auch Morlang selbst, weniger durch die Miniaturisierung der Schrift als vielmehr noch durch die Entstellung einzelner Buchstaben erschwert; so lassen sich die Schriftbilder der Wörter ›einst‹ und ›nicht‹, »deren Buchstabenbild meist zu einem unspezifischen Partikel verschliffen ist«,17 nur im Kontext unterscheiden, und »so unverträgliche Wortbedeutungen wie ›Walzer‹ und ›Verleger‹ können mikrographisch vertrackt nahe beieinander liegen«.18 Die Lesbarkeit stellt sich, als Resultat einer allmählich entwickelten und zugleich unbewusst gebliebenen Vertrautheit mit dieser Schrift, dabei zuweilen erst in einer »Gunst des Augenblicks« ein, dann allerdings mit »untrüglicher Evidenz«, wie Echte und Morlang übereinstimmend berichten.19 16 | Kerstin Gräfin von Schwerin: Minima Aesthetica, S. 28. Vgl. auch Bernhard Echte: »Editorischer Bericht« in Mikro, Bd. 2, S. 582ff., zu den »Schwierigkeiten der Entzifferung«. 17 | Bernhard Echte: »Editorischer Bericht« in Mikro, Bd. 4, S. 463. 18 | Werner Morlang: »Das eigentümliche Glück der Bleistiftmethode«, S. 102. 19 | Ebd., S. 102f. Dass die Entzifferung möglich ist, liegt für Bernhard Echte »einmal an der erstaunlich schulbaren menschlichen Fähigkeit des Gestalt-Erkennens, jenem Vermögen, aus einer Vielzahl theoretisch möglicher Varianten intuitiv die sinntragenden Zeichenkombinationen auszuwählen und auch dort noch Ganzheiten, d.h. in diesem Fall Silben und Wörter zu identifizieren, wo ein analytisches Vorgehen sich hoffnungslos in der unübersehbaren Vielfalt der Alternativen verirren würde. So haben wir häufig längere Zeit über bestimmten Wörtern gerätselt und die Verbindungsmöglichkeiten der Buchstaben durchgespielt, ohne zum Erfolg zu kommen oder die gefundenen Hypothesen verifizieren zu können. Und plötzlich stellte sich dann eine Lösung ein, die sofort als evident einleuchtete, obwohl die einzelnen Buchstaben des Wortes von ihrer objektiven Mehrdeutigkeit nichts verloren hatten. Natürlich ist ein Mindestmaß an differenzierenden und kennzeichnenden Merkmalen die Voraussetzung, daß der Blick für ganzheitliche Gestalten Eindeutiges erkennen kann. Daß sich Walsers Mikrographie über weite Strecken an jener Minimalgrenze notwendiger Information bewegt, sie jedoch eher selten unterschreitet, lernt man staunend nachzuvollziehen, je vertrauter man mit der Schrift wird.« Bernhard Echte: »Editorischer Bericht« in Mikro, Bd. 2,
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Der Text ist dabei in gewissem Sinne noch nicht geschrieben, bis das Lesen oder besser das Transkribieren bewirkt, dass der Text intransitiv geschrieben worden sein wird, und zwar ohne Zutun desjenigen, der transitivisch schreibt oder geschrieben hat.20 Die Lektüre erst tilgt die Gegenwärtigkeit des Schreibens aus der Schrift; erst wenn die Abfolge von Schriftzeichen schließlich doch Sinn annimmt aus der Entzifferung, hört diese Schrift auf, nicht geschrieben worden zu sein. In gewissem Sinne ›schreibt‹ also erst die Entzifferung diese Schrift.21 Abgesehen aber von den wenigen Lesenden, die sich die Entzifferung der Schriftzeichen empathisch haben erarbeiten können, blicken alle anderen hier weiterhin nur auf Spuren, Kürzel, Abbreviaturen, die sich zu Schriftgespinsten verdichten, deren einzige erkennbare Regelhaftigkeit die Anordnung der Schrift zu Zeilen und Kolumnen ist. Auf den zu kleinsten Formaten zerteilten Blättern, auf denen die Schrift buchstäblich alles bedeckt – Anzeigenblätter aus Zeitschriften und Büchern, Bierdeckel, BriefpaS. 584. Und Werner Morlang schreibt: »Je kleiner Walsers Bleistiftschrift wird, desto stärker die eigentümliche Sogwirkung, die sie auf den Entzifferer ausübt. Wer diese späten ›Mikrogramme‹ von infinitesimaler Winzigkeit durch ein Vergrößerungsglas hindurch vor Augen hat, starrt zunächst verständnislos auf ein scheinbar willkürlich gedrechseltes Schriftbild, bis ihn nach einiger Zeit ein Ruck erfaßt und unwiderstehlich in diesen graphischen Mikrokosmos hinunterzieht. Die zunehmende Minimalisierung, mithin Entstellung der Bleistiftschrift führt zu Sichtverhältnissen, die dem Betrachter einen besonderen Effort an optischer Anpassung abverlangen. Ohne einen Ruck, einen Effort an Einfühlung werden sich die einst mikrographisch-verwunschenen Texte auch dem Leser unserer Edition Aus dem Bleistiftgebiet verweigern.« Werner Morlang: »Trascrittore – Traditore?«, in: Wärmende Fremde. Robert Walser und seine Übersetzer im Gespräch. Akten des Kolloquiums an der Universität Lausanne. Februar 1994, hg. v. Peter Utz, Bern u.a. 1994, S. 71-80, S. 80. 20 | Vgl. Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, München, Wien 1991, S. 11. 21 | Warum sind dies nun dennoch Zeichen? »Wie könnte man übersehen, daß das Zufällige oder das, was aufhört, nicht geschrieben zu werden, das ist, wodurch die Unmöglichkeit sich zeigt oder das, was unaufhörlich nicht niedergeschrieben wird.« Und: »Das Zeichen des Zeichens, das besagt die Antwort, die der Frage zum Vorwand (pré-texte) dient, ist darin zu sehen, daß ein beliebiges Zeichen ebensogut die Funktion eines jeden anderen übernehmen kann«, und zwar genaugenommen deshalb, weil es substituiert werden kann. »Tragweite hat das Zeichen nur, weil es entziffert werden muß. Ohne Zweifel soll die Abfolge der Zeichen Sinn annehmen aus der Entzifferung.« Jacques Lacan: »Vorwort« und »Das Drängen des Buchstabens«, in: Schriften II, übers. und hg. v. Norbert Haas, Weinheim, Berlin 1991, S. 7 und S. 14 (Hervorh. v. JL). Der pré-texte, der auch mit ›Vorwurf‹ zu übersetzen wäre (und so in die Nähe zur dichterischen Fabel kommt), ist die im Unbewussten statthabende Verzifferung, die diesem den Charakter des Unbewussten erst gegeben haben wird.
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pier aus privater und beruflicher Korrespondenz, Briefkuverts, Honoraravis, Korrekturfahnen, Postkarten, Steuerbescheide, Visitenkarten, Makulaturpapier jedweder Herkunft, Servietten, Kalenderblätter22 – führt die ungeheure »Verdichtung von Worten und Zeilen«, mit der auch nachträgliche Korrekturen des Autors graphisch äquivalent werden, zumal dort, wo Wörter teils in andere hineingeschrieben sind, zu einem überdeterminierten Gewirr von Graphemen. Und dem daraus entstandenen Strichgeknäuel eine verbindliche Lesart abzugewinnen schien oft nahezu unmöglich.23 Die Identität eines Schriftelementes ist durch die Negation aller übrigen Elemente bestimmt.24 Was die Syntax oder Semantik in Robert Walsers Korrekturgängen aber vereinfachen und präzisieren oder auch komplexieren sollte, ist hier in der Dichte der Zeichen nivelliert25 und erscheint so auch nicht als ›Verletzung‹ des Schriftbilds. Überdies gibt es Korrekturen am Text (diesen Vorgängen ist bislang nicht gut nachzugehen, weil die in den Mikrogrammen existierenden Prätexte als Vorfassungen zu den bereits länger in den Sämtlichen Werken publizierten Texten nur in Einzelfällen transkribiert sind), die sich in den – schriftlosen – Übergängen, das heißt im Übertrag vom »Bleistiftgebiet« in die Reinschrift eines Textes vollzogen haben, und das bedeutet: innerhalb der Koexistenz von Varianten. Gültige und durch die Abschrift bereits zum Abdruck gelangte Texte hatten innerhalb des »Bleistiftgebiets« denselben Stellenwert wie solche, die noch immer und weiterhin nur in der Entwurfsform existierten. Nichts war spurlos verschwunden, nichts wurde gänzlich substituiert. 22 | Vgl. Werner Morlang: »Nachwort« in Mikro, Bd. 2, S. 506-522, S. 511. 23 | Vgl. Bernhard Echte und Werner Morlang: »Editorische Vorbemerkung« in Mikro, Bd. 1, S. 5-8, S. 7. In der editorischen Vorbemerkung in Mikro, Bd. 5, S. 8, schreibt Bernhard Echte dann aber: »Walsers Bleistiftschrift verliert keineswegs ihre Zeichenhaftigkeit und Signifikanz, wie dies von manchen Interpreten gemutmaßt wurde, die ein solches Phänomen auf der inhaltlichen Ebene von Walsers Texten festgestellt zu haben meinen.« 24 | Vgl. Sybille Krämer: »Zur Sichtbarkeit der Schrift oder Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift«, S. 77f.: »›a‹ ist ›nicht-b‹, ›nicht-c‹, ›nicht-d‹ usw. Saussure, der dieses Prinzip einführte, um zu dokumentieren, dass sprachliche Zeichensysteme ihre Ordnung nicht einer außersprachlichen Vorgabe entlehnen, sondern aus sich selber schaffen, hat also ein in Schriften idealtypisch verkörpertes Merkmal zum Konstituens von Sprachen gemacht. Dieser ›verschwiegene‹ Skriptizismus der Linguistik ist nicht zufällig: Denn kraft der Differenzialitäts-Ikonik der Schrift nimmt das, was im Medium der Schrift dargestellt wird, selbst den Charakter eines Systems an. Die Visualisierung von Sprache im phonetischen Alphabet, welche die Sprache in ein ›Wissensding‹, in ein ›epistemisches Objekt‹ verwandelt, bringt überhaupt erst ›die‹ Sprache, betrachtet als ein solitäres Zeichensystem, hervor.« Ebd., S. 78. 25 | Vgl. Bernhard Echte: »Nie eine Zeile verbessert? Beobachtungen an Robert Walsers Manuskripten«, S. 64ff. (Hervorh. v. BE).
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II.1 U NLESBARKEITEN Die Mikrogramme verharren in einer Vorform. Als Vortexte sind sie dabei nicht der Mit- oder Nachwelt, sondern nur dem Autor selbst zur Veröffentlichung ›hinterlassen‹. Die »krausen Zeichen«26, die offenbar auch dazu dienen sollten, eine kulturpolitische Autarkie zu symbolisieren, münden nicht in die Paradigmatik einer eigenen Schrifttype, wie sie etwa von Stefan George entwickelt wurde.27 Schrift zeichnet sich, wie erwähnt, im Allgemeinen dadurch aus, dass sie mittels der Iterierbarkeit, der Wiederholbarkeit der Schriftzeichen unabhängig vom Kontext ihrer Entstehung lesbar bleibt, dass sie den Kontext zu überschreiten vermag, in dem die Schriftzeichen einst entstanden sind.28 Genau dies tun die Schriftzeichen in den Mikrogrammen jedoch nicht; sie überschreiten in gewissem Sinne den Kontext nicht. Medium der Ablösung vom Kontext ist die Verräumlichung, in der das Zeichen sich konstituiert. Selbst noch die mathematische Schrift, als leerer Symbolismus schriftlicher Aufzeichnung oder die Interpunktion sind nicht als ein bloßes Zubehör der Schrift anzusehen; und dass »ein lebendig genanntes gesprochenes Wort sich in der ihm eigenen Schrift der Verräumlichung preisgeben kann, genau das setzt es ursprünglich zu seinem eigenen Tod in Beziehung«.29
26 | Vgl. Franz Dornseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie, Leipzig, Berlin 1922, S. 5, der in dieser 1914 fertiggestellten, später noch einmal überarbeiteten und 1922 erstmals vollständig publizierten Abhandlung schreibt: »Nur wer bedenkt, wie heute noch um Schriftzeichen gekämpft wird, wie etwa in Albanien unversöhnlicher Haß die Anhänger des arabischen und des lateinischen Alphabetes trennt, kann die Hartnäckigkeit verstehen, mit der im Orient jedes Volk an den krausen Zeichen hängt, die ihm seine kulturelle Selbständigkeit bedeuten oder doch vortäuschen.« 27 | Der Stefan-George-Schrift, einer eigenen Drucktype, welche die Handschrift Georges nachahmte, geht dabei »die Stilisierung der Handschrift in eine angenäherte Druckschrift voraus, indem George seinen Schriftduktus hin zur Wiedergabe isolierter Einzelbuchstaben wandelt, die an eine zeitgenössische AkzidenzGrotesk angelehnt sind. Von hier aus ließ sich nun eine Druckschrift entwickeln, die in direkter Verbindung zu Georges Lyrikkonzeption steht. Die typographische Einheit der Zeile wird in ihr zum Hauptelement. […] So entstehen Zeilenbilder in der Form von geblockten Linien, die die orthographische Kleinschreibung Georges‹ so monumental erscheinen […] lassen wie die durchgehenden Großbuchstaben in römischen Inschriften«. Rüdiger Nutt-Kofoth: »Text lesen – Text sehen. Edition und Typographie«, in: DVjs für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 78, Heft Nr. 1 (2004), S. 3-19, S. 14. Zugleich bestand George allerdings immer auf dem mündlichen Vortrag als der einzig angemessenen Darbietungsform seiner Gedichte. Vgl. Gerd Mattenklott: »Schriftbilder«, S. 142. 28 | Vgl. Peter Fuchs: Die Umschrift, S. 35. 29 | Jacques Derrida: Grammatologie, S. 70.
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Ein Schriftzeichen ist diese Verräumlichung, es ist identisch mit dem Raum, den es ausfüllt.30 Zugleich stellt es sich als Verdrängung von Raum dar. Expansion von Schrift bedeutet Kolonisierung von Papier, vernichtet Virtualität, negiert, woraus die Schrift sich speist. Ohne die Konstellativität der Kolumnen und die damit einhergehende Assoziation, die Blätter seien so etwas wie Miniaturzeitungen, wäre diese Schrift möglicherweise gar nicht als solche angesehen worden. Die Zeichen scheinen einer Schrift nur zu ähneln. Als »kunstvoll arrangierte Miniaturzeitungen«31 aber antizipieren die Mikrogramme die Bestimmung der Texte. Erst die Kolumnen sind das, was die Unwandelbarkeit und ›natürliche‹, das heißt naturalisierte Autorität des gedruckten Textes im Vorhinein dokumentiert. Auch die Auffüllung der Blätter bis an die Ränder mimt die Abgeschlossenheit des Druckbildes, nimmt die Vollendetheit der wie in sich ruhenden Texte vorweg.32 Bernhard Echte schreibt: »Auf den ersten Blick präsentiert sich alles, was Text ist, wie eine regelmäßig schraffierte Fläche.« – »Kein einziger ›Mikrogramm‹-Entwurf ist – dies sehr im Gegensatz zu den Reinschriften – in Absätze untergliedert.«33 Die Blätter sind kalkuliert, wie an Blindlinien ausgerichtet, komponiert. Die Zeichen aber limitieren etwas, durch das die Schrift sich buchstäblich, im literalen Sinn des Wortes, gezeichnet zeigt. Diese Schrift scheint tabuisiert, im doppelten Wortsinn des besonders Ausgezeichneten wie des Schonungsbedürftigen.34 Sie gibt im Sinne eines Kalligramms gleichermaßen etwas zu sehen und zu lesen. Sie zeigt eine Transposition an.35 30 | Auch in der Malerei bezeichnet die Linie den Raum der Imitation und die Imitation des Raumes. Die Linie zeichnet und bezeichnet zugleich. Und der Strich ist dabei die Verräumlichung. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 358. 31 | Bernhard Echte: »Nie eine Zeile verbessert?«, S. 64. 32 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 132ff. 33 | Bernhard Echte: »Nie eine Zeile verbessert?«, S. 64. 34 | »Im polynesischen Wort tabu, wörtlich: das ›Ausgezeichnete‹, hat sich diese Doppeldeutigkeit erhalten. Tabu ist alles, was sich in ›ausgezeichnetem‹ Zustand befindet, sei es, daß es einem heiligen Ritus angehört, sei es, dass es besonders schonungsbedürftig ist, […].« Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 50. 35 | Julia Kristeva fügt den in der strukturalen Linguistik im Rekurs auf die Begriffe der Verdichtung und Verschiebung in Sigmund Freuds Traumdeutung eingeführten und von Lacan aufgegriffenen und weiter ausgeführten Begriffen Metapher und Metonymie noch einen dritten ›Vorgang‹ hinzu: die Transposition als den »Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen. Um ihn zu vollziehen, verbünden sich zwar Verschiebung und Verdichtung, doch ist damit nicht die gesamte Operation erklärt. […] Das neue Zeichensystem kann durchaus im selben Zeichenmaterial erzeugt werden: zum Beispiel kann sich in der Sprache ein Übergang von der Erzählung zum Text vollziehen; es kann aber auch einem anderen Zeichenmaterial entlehnt werden: so zum Beispiel ein Übergang von der Kar-
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Das Schriftbild ist enigmatisch, nicht nur, weil ›hinter‹ der winzigen Schrift, von der sich die losen Blätter übersät zeigen, ›mehr‹ und anderes als ›nur‹ der in einer äußerst langwierigen Entzifferungsarbeit gewonnene Text vermutet ist, der sich überdies nicht, wie insgeheim vielleicht erwartet, radikal von anderen Texten unterscheidet. Bildhafte und phonetischlexikalische Assoziation werden in den Mikrogrammtexten zwar radikalisiert, schreibt Paolo Chiarini, doch zur »subtilen Eigenartigkeit« von Robert Walsers Oeuvre heißt es hier vor allem: »bei jeder neuen Lektüre [der Texte; Anm. d. Verf., KS] stellte sich das Gefühl ihrer latenten Unentzifferbarkeit erneut ein – jetzt aber auf eine differenziertere Weise«.36 Das Gefühl der »latenten Unentzifferbarkeit« weist dabei auch auf die Hoffnung, dass diese Texte die Arbitrarität der Zeichen, die mit der Schrift als einer Vereinbarung von Zeichen zu denken ist,37 zu suspendieren vermögen – und nevalszene zum geschriebenen Text. […] Der Terminus Intertextualität bezeichnet eine solche Transposition eines Zeichensystems (oder mehrerer) in ein anderes; […] Wenn man einmal davon ausgeht, daß jede signifikante Praxis das Transpositionsfeld verschiedener Zeichensysteme (Intertextualität) ist, dann versteht man auch, daß ihr Aussage›ort‹ und ihr denotierter Gegenstand nie einzig, erfüllt und identisch mit sich selbst sind, sondern pluralisch, aufgesplittert […]. Die Polysemie erscheint so auch als Folge semiotischer Polyvalenz, d.h. der Zugehörigkeit zu verschiedenen semiotischen Systemen. Freud hat außer Verdichtung und Verschiebung noch grundsätzlich die Rücksicht auf Darstellbarkeit im Zusammenhang mit der Traumarbeit erwähnt. Diese Darstellbarkeit kommt zustande durch einen Vorgang, der dem der Verschiebung ähnelt, sich aber gleichwohl von ihm unterscheidet; Freud nennt diesen Vorgang ›eine Vertauschung des sprachlichen Ausdrucks‹: wir werden in der Folge die Möglichkeit des signifkanten Prozesses, von einem Zeichensystem in ein anderes überzugehen, sie auszutauschen und umzustellen, eine Transposition nennen und Darstellbarkeit die spezifische Weise, in der sich Semiotisches und Thetisches innerhalb eines Zeichensystems artikulieren. Die Transposition spielt dabei eine wesentliche Rolle, weil sie zur Voraussetzung die Aufgabe eines früheren Zeichensystems hat: Übergang zu einer Triebstelle, die beide Systeme vermittelt, und Artikulation des neuen Systems mit einer neuen Darstellbarkeit.« Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 69f. (Hervorh. v. JK). Transposition ist im Übrigen die französische Übersetzung für das deutsche Wort ›Entstellung‹, das im Zusammenhang mit Freuds Traumdeutung als Resultat statthabender Zensur steht. 36 | Paolo Chiarini: »Unvorgreifliche Gedanken eines Walser-Lesers«, S. 13ff. 37 | Ferdinand de Saussure schreibt dazu: »Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig; und da wir unter Zeichen das durch die assoziative Verbindung einer Bezeichnung mit einem Bezeichneten erzeugte Ganze verstehen, so können wir dafür auch einfacher sagen: das sprachliche Zeichen ist beliebig. So ist die Vorstellung ›Schwester‹ durch keinerlei innere Beziehung mit der Lautfolge Schwester verbunden, die ihr als Bezeichnung dient; sie könnte ebensowohl dargestellt sein durch irgendeine andere Lautfolge: das beweisen die Verschiedenheiten unter den Sprachen und schon das Vorhandensein
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wie zu zeigen sein wird, tun dies die Texte in gewissem Sinne auch wirklich. Und das gilt nicht nur für die Mikrogramme. Die Miniaturformate des »Bleistiftgebiets« machten das Archiv im Sinne einer Ordnung relativer Simultaneität für den Autor selbst handhabbar. Nicht wenig blieb dabei jedoch in jenem Status, der sich als ›Unerwecktheit‹ der Schrift und damit als Performanz der Fabeln Grimmscher Märchen, wie etwa dem des Schneewittchen oder des Dornröschen, beides Sujets von Dramoletten Robert Walsers, beschreiben ließe. So heißt es in Robert Walsers Prosatext mit dem Titel Dornröschen, erschienen im März 1916: Ein alter hingesunkener Traum wurde wieder lebendig, eine düstere, verdrießliche, müde Schauermär verwandelte sich […]. Bildung und Wissenschaft, Geselligkeit, Geschmack und die übermütigen Künste [und zwar übermütig wie Die Brüder im gleichnamigen Text von Robert Walser dies sind; Anm. d. Verf., KS] fingen wieder an sich frei zu entfalten, und das ganze umliegende Land erwachte wie aus langer, langer Trauer. Eine Welt war befreit! Im Park sangen und trällerten wieder die Vögel. Der Druck war gehoben, und die Fessel lag am Boden. Dichtung, Musik und Malerei und das Handwerk reichten sich Sinn, Geist und Hand, […]. Der graue Vorhang hatte sich aufgelöst; […]. 38
Die Schrift der Mikrogramme verharrt in der ›Unerlöstheit‹ aus einem ›Schlaf‹, ist arretiert.39 Und so schreibt Morlang auch: »Ihre Verwunschenverschiedener Sprachen: […].« Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 79 (Hervorh. dort). Auch Derridas Begriff der Schrift folgt dieser Vereinbarung: »Noch bevor er mit der Einkerbung der Gravur, der Zeichnung oder dem Buchstaben, einem Signifikanten also, in Verbindung gebracht wird, der im allgemeinen auf einen von ihm bezeichneten Signifikanten verweist, impliziert der Begriff der Schrift – als die allen Bezeichnungssystemen gemeinsame Möglichkeit – die Instanz der vereinbarten Spur.« Jacques Derrida: Grammatologie, S. 81 (Hervorh. v. JD). 38 | SW 6/20. 39 | Über die »arretierte Märchen-Melodie« in Robert Walsers Dramoletten schreibt Peter Utz in einem eindrücklichen Bild: »Musikdosen, jedenfalls die einfacheren Modelle, bleiben mitten in der Melodie stehen, wenn ihre Federkraft erschöpft ist. Nach einem langsamen, allmählichen Erlöschen halten sie plötzlich inne, vergeblich wartet man auf den nächsten Ton, auf das Ende der Melodie. Erst wenn man sie erneut aufzieht, kommt die arretierte Bewegung wieder in Gang, um dann jedoch die Melodie über ihr Ende hinauszutreiben. Die künstliche, mechanische Antriebskraft und die Melodie sind nicht im Einklang. Walsers Märchendramolette spielen die Melodien von Grimms Märchen, auf die sie sich beziehen, in der Art solcher Spieldosen. Die Partitur von Dornröschen, Schneewittchen oder Aschenbrödel wird an einer bestimmten Stelle suspendiert: Walsers Dornröschen legt die Märchenhandlung ausgerechnet in dem Moment still, wo die Ankunft des erlösenden Prinzen sie gerade erst aus dem hundertjährigen Tiefschlaf aufgetaut hat. Für die Hofgesell-
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heit ist nicht damit behoben, dass sie aus ihrem Dornröschenschlaf in die Lesbarkeit erweckt wurden. Unsere Augen müssen sich erst noch an das Dämmerlicht dieser Gebilde gewöhnen« – was uns als Lesenden dabei anstünde, sei »die geduldige Akkomodation an eine Rätselwelt«.40 »Ein Mährchen ist eigentlich wie ein Traumbild – ohne Zusammenhang – Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten«, schreibt Novalis im Allgemeinen Brouillon.41 Die Märchen Schneewittchen und Dornröschen aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm nun figurieren bekanntlich Vorstellungen der Wiederbelebung von Toten oder Scheintoten, die außerhalb der Fiktion, so Freud in seinem Text über Das Unheimliche, der 1919 erscheint, »sehr unheimliche Vorstellungen« sind, die hingegen im Märchen, das sich »offen auf den animistischen Standpunkt der Allmacht von Gedanken und Wünschen stellt«, deshalb nicht unheimlich wirken, weil die Welt des Märchens »den Boden der Realität von vornherein verlassen« hat: »Wunscherfüllungen, geheime Kräfte, Allmacht der Gedanken, Belebung des Leblosen, die im Märchen ganz gewöhnlich sind, können hier keine unheimliche Wirkung äußern, denn für die Entstehung des unheimlichen Gefühls ist, wie wir gehört haben, der Urteilsstreit erforderlich, ob das überwundene Unglaubwürdige nicht doch real möglich ist, eine Frage, die durch die Voraussetzungen der Märchenwelt überhaupt aus dem Wege geräumt ist.«42 Der »Urteilsstreit«, das heißt schaft ist dies jedoch keine Erlösung; gerne hätte sie noch weitergeschlafen und weitergeträumt.« Peter Utz: Tanz auf den Rändern, S. 25. 40 | Werner Morlang: »Melusines Hinterlassenschaft. Zur Demystifikation und Remystifikation von Robert Walsers Mikrographie«, in: Runa. Revista portuguesa de estudos germanísticos, Heft Nr. 21 (1/1994), S. 81-100, S. 98f. Morlang spricht hier – wenngleich in Anführungszeichen – von einem »›Geheimnis‹, das es zu sehen und wohl oder übel in seiner ungreifbaren, unbegreiflichen Eigenschaft« zu belassen gelte; es betrifft »die Verlegenheit des Lesers, wie er Texte beurteilen soll, die ihm in der vorliegenden Form nie zugedacht waren, zu deren Wesen ganz entscheidend gehört, dass sie mit äusseren Bewertungsinstanzen erst einmal nichts zu schaffen haben wollen. Man kann das Problem nicht scharf genug erkennen.« Und was die ›Materialiät‹ der Mikrogramme betrifft, warnt Morlang hier: »Die mikrographischen Schriftzeichen können photomechanisch nicht angemessen wiedergegeben werden. Die vergröbernde Kontrastwirkung der Photographie« verfälsche die Linien »zu verbindungslosen, klecksigen, exotisch anmutenden Ideogrammen. Eine mehrfache Vergrößerung suggeriert den Eindruck irgendwelcher fernöstlichen, mit Tusche hingepinselten Zeichen, oder, wenn man will, ein horizontal aufgereihtes Gestöber schwarzer Flocken.« (Ebd., S. 94.) Der doppelten Bewegung einer »Demystifikation« und einer »Remystifikation« der Mikrographie Robert Walsers, die der Untertitel von Werner Morlangs Aufsatz figuriert, entgeht dieser dabei zuletzt selbst nicht. Genau das aber scheint in der ›Natur der Sache‹ zu liegen – oder in der Natur ihrer einzig möglichen Anschauung. 41 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 454. 42 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 264.
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die Realitätsprüfung, entfällt im Märchen. Und zwar sieht Freud sich gerade von der märchenhaften Literatur der Romantik, insbesondere geht es bei ihm bekanntlich um die Erzählung aus E.T.A. Hoffmanns Nachtstücken mit dem Titel Der Sandmann, aus der die Figur der Puppe Olimpia43 in den ersten Akt der Offenbachschen Oper Hoffmanns Erzählungen Eingang gefunden hat, in das Phänomen des Unheimlichen, in einen Bereich jenseits der Literatur eingeführt. Zugleich aber scheint ihm fast alles, was den zunächst geäußerten Erwartungen an eine Herkunft des Unheimlichen aus dem Heimischen widerspricht, wie etwa auch die Auffassung Schellings, wonach das Unheimliche alles das sei, »was [als] ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und [nun] hervorgetreten ist«,44 der Dichtung entnommen zu sein. Und doch: Geistererscheinungen in der Literatur, wie beispielsweise bei Shakespeare, mögen gespenstisch sein – unheimlich sind sie nicht. Das Unheimliche ist für Freud vor allem das Phänomen einer Latenz, die das Antonym des Heimlichen, im Sinne von Heimeligen, Wohlvertrauten betrifft, das unversehens mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt oder mindestens beständig zusammenfallen kann: »[…] heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.«45 Und aus dem »heimatlichen, häuslichen« entwickelt sich in dem von Freud zitierten Wörterbuch der Brüder Grimm etymologisch so immer auch »der begriff des fremden augen entzogenen, verborgenen, geheimen«.46 Auch das den fremden Augen entzogene, verborgene und geheim gehaltene Schreibverfahren der Mikro43 | Über diese Automatenpuppe Olimpia schreibt Gerd Mattenklott: »Die Phantasie kommt mit Hilfe der Technik zur Macht. Aber diese Macht ist tödlich. Das Unheil scheint mit dem phallischen Wesen ihrer Herrschaft zusammenzuhängen. Zwischen Männern wird Olimpia gezeugt, und so gerät sie auch nur nach deren Bild: ein starrer, harter, rhythmisierbarer Körper mit leblos fixiertem Blick; […].« Olimpia ist »eine Allegorie auf die begehrte Wahrheit, die eigentlich das Leben wäre, und die als die lebendige Geliebte den entsprechenden Namen Klara führt«. In der Mythologie kommt der Name Olimpia nicht vor. »Im Grunde ist der Name also nur das Wort für ein Unwesen, für die Göttin Namenlos, Bild des Begehrten und zugleich eine Allegorie auf das Begehren par excellence. Sie stellt ineins ein Wunschbild dar und den Mangel, aus dem das Bild entstand, und der doch auch durch Bilder nicht zu stillen ist. […] Die Realität des Lebens – und der Frau – verfehlt der Held, indem er die Allegorie seines Begehrens, also dessen, was ihm mangelt, für den begehrten Gegenstand und also für Erfüllung hält, und er wird wahnsinnig, weil er die Enttäuschung über den Irrtum nicht erträgt.« Der Wahnsinn des Nathanael bricht »durch die Selbstverkennung der Einbildungskraft auf«. Gerd Mattenklott: »Kalte Augen«, in: ders.: Der übersinnliche Leib, S. 47-77 [Anm. S. 242ff.], S. 75f. 44 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 254. 45 | Ebd., S. 237. 46 | Ebd., S. 236.
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gramme hat vielfache Implikationen, es ist integrativ, wo es die Texte unterschiedlicher Gattungen auf einem Blatt zusammenführt, es ist dissoziativ, wo es die Schrift in zwei Stadien aufspaltet – und es ist beides, wo es die zunächst auf mehreren Blättern verteilten Textblöcke in der Abschrift zusammenführt. Wodurch sich die Mikrogramme aber vor allem auszeichnen, ist ihre annähernde Unlesbarkeit, die sich mit Wolfram Groddeck auch als Kollaps einer Differenzierung zwischen Schrift und Text47 beschreiben lässt, insofern die Unlesbarkeit beides in eins fallen lässt. Bereits bei den deskriptiven Präpositionen, mit denen über diese Schrift gesprochen werden kann und muss, stellt sich dabei immer wieder die Frage: Ist es präzise, zu sagen, dass der Text auf dem Blatt, dass er im Manuskript zu lesen ist; ist er aus der Schrift in eine andere Schrift transkribiert? Und so fragt auch Sigmund Freud in einem frühen Text von 1899 mit dem Titel Über Deckerinnerungen, ob es wirklich Erinnerungen gibt, von denen sich sagen lässt, dass sie aus der Vergangenheit, aus unserer Kindheit aufsteigen – oder ob alles das nicht vielmehr nur Erinnerungen sind, die sich auf unsere Kindheit beziehen, Erinnerungen, die wir an die Kindheit haben, denn »die für alle Zukunft wirksamsten Eindrücke« haben kein »Erinnerungsbild« hinterlassen.48 Das Material aus Erinnerungsspuren, aus dem diese Erinnerungen bestehen, bleibt uns in seiner ›ursprünglichen‹ Form unbekannt. Und gerade diese Unwägbarkeit hat sich, so die These, in die Mikrogramme eingetragen und ist in der Beschaffenheit der Schrift in Gestalt einer nicht von der Semantik zu trennenden ›Materialität‹ zu sehen. Und zwar im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die hauchfeinen Striche repräsentieren eine nur verschwindend geringe, schwindende Differenz: zwischen der Vergangenheit und einer hierdurch überlagerten Gegenwart dieses Schreibens.
47 | Vgl. Wolfram Groddeck: »Zum Projekt der neuen, kritischen Robert Walser-Ausgabe«, in: Text. Kritische Beiträge, Heft Nr. 10 (2005), S. 105-114. Editionsphilologisch zwischen Schrift und Text zu differenzieren, leitet die Überlegungen zu dieser kritischen Edition an, die das »poetisch-graphische Werk«, als das Wolfram Groddeck das Konvolut der Mikrogramme auch bezeichnet hat, adäquat wiedergeben, das heißt in allen Dimensionen zur Darstellung bringen soll. Vgl. hierzu auch Wolfram Groddeck: »Schrift und Textkritik. Vorläufige Überlegungen zu einem Editionsproblem in Robert Walsers Mikrogrammen am Modell der ›Bleistiftskizze‹«, in: Modern Language Notes, Vol. 117, No. 3 (April 2002), S. 544-559, S. 546. 48 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 529-554, S. 552; vgl. J. Laplanche/ J.B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1986, S. 114.
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II.2 B UCHSTABENVERBOT Die Buchstaben sind als distinkte Einheiten in den Mikrogrammen nicht zu erkennen; sie sind buchstäblich »lautlose Darsteller von Lauten«49 geworden. Die Schrift ist, als sei sie von einem Bilder- oder besser von einem Buchstabenverbot zensiert, ornamentales Filigran geworden, die Konfiguration der Buchstaben ist zerbrochen, zerstreut. Striche und Punkte sind nicht zu synthetisieren, so dass die Schrift nicht ohne Weiteres zu phonetisieren oder besser zu rephonetisieren ist. Auf ihre Elemente, auf Graphen reduziert, bilden die Grapheme vielmehr eine Ähnlichkeit zu den Strukturen zeichnerischer Repräsentation aus, zu den kleinsten Elementen der Zeichnung, den Schraffen. Die Punkt- und Strichgebilde ähneln der Piktur etwa von Regentropfen, Schneeflocken, Tränen, Grashalmen oder Vogelspuren, sie lassen sich nicht differenzieren von allem, was »in der Welt der Sichtbarkeit«50 Struktur ist – oder besser von dem, was in der Zeichnung 49 | Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 92. 50 | Peter Fuchs: Die Umschrift, S. 104. Vgl. dazu auch Die Sichtbarkeit der Schrift, hg. v. Susanne Strätling und Georg Witte, München 2006, S. 7ff.: »Die Sichtbarkeit der Schrift wird manifest durch den Körper der Graphie. […] Noch vor signifikatorischen Leistungen sind wir damit konfrontiert, dass Schrift zuallererst ›sich zeigt‹, statt auf etwas zu verweisen. Sichtbarkeit der Schrift würde in diesem Zusammenhang kein sinnstabiles Lesen, sondern ein Aufmerksamwerden für die widerständigen, selbstevidenten Fakturen der Graphie provozieren. Aber auch andersherum gilt: Sichtbarkeit der Schrift gibt es nicht ohne eine Auseinandersetzung mit dem, was sie absorbiert. Sichtbarkeit der Schrift muss erst hergestellt werden. […] Denn so wie in jedes Lesen der Schrift ihr Sehen hineinspielt, so gilt auch umgekehrt, dass man das Sehen der Schrift nicht vom Lesen der Schrift abkoppeln kann. […] Schrift tut dann immer beides: Sie lässt sich sehen und lässt etwas nicht sehen. […] Die Sichtbarkeit der Schrift wird damit in Konkurrenz zu anderen Sichtbarkeiten getrieben. Sie soll zugleich weniger und mehr sein als die Sichtbarkeit der Dinge, der Körper, der Bilder […]. Eben aus dieser Konkurrenz erwächst ihre privilegierte Beziehung zur Unsichtbarkeit. Vielleicht vermag die Formel der sichtbaren Unsichtbarkeit diese Paradoxien zu fassen – und damit zugleich aber auch zu begründen, warum man trotz allem den Akzent in der Reflexion dieser Zusammenhänge auf die Seite des Sichtbaren zu legen hat: denn noch die Unsichtbarkeit ist eine sichtbare, noch die Unsichtbarkeit wird gezeigt. Die Konkurrenz der Sichtbarkeiten wird historisch ausgetragen zwischen Bild und Schrift. […] Die Schrift ist ›Reißzahn‹ des Bildes am Ursprung der Schriftkultur, der Schriftkultus organisiert das Bildverdikt. […] Neben und unter der Dichotomie von Ding und Zeichen eröffnet sich ein Spannungsfeld, das Sichtbarkeit in die Nähe zur Bildlichkeit und aller ihrer Kippformen vom Ornament über die Figur bis zur Arabeske rückt. […] Es geht prinzipieller um eine in der Schrift angelegte Ikonizität. Eine solche schriftinhärente Ikonizität ist zudem alles andere als eine ›neutrale‹ Qualität. Der Begriff des Schriftbildes gewinnt seine ganze Schärfe erst dann, wenn man die verschiedenen darunter fassbaren Phänomene – von der graphematischen Textur bis zur
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oder der Malerei durch Linien sichtbar gemachte Struktur ist. In einem Beitrag für den von Kasimir Edschmid herausgegebenen Band Schöpferische Konfession wird der Maler und Zeichner Paul Klee 1920 eine »Relativität der sichtbaren Dinge« schildern; er schreibt, »daß das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel ist, und daß andere Wahrheiten latent in der Überzahl sind«.51 Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Das Wesen der Graphik verführt leicht und mit Recht zur Abstraktion. Schemen- und Märchenhaftigkeit des Charakters ist gegeben und äußert sich zugleich mit großer Präzision. Je reiner die graphische Arbeit, das heißt, je mehr Gewicht auf die der graphischen Darstellung zu grunde liegenden Formelemente gelegt ist, desto mangelhafter die Rüstung zur realistischen Darstellung sichtbarer Dinge. 52
Diese geheimnisvolle Transparenzierung unsichtbarer Strukturen findet sich bereits in den Lehrlingen zu Sais des Dichters Novalis, die wiederum selbst zurückzuführen sind auf das verschleierte Bild zu Sais in Plutarchs Schrift Über Isis und Osiris und auf die Schriftphilosophie von Paracelsus, der in De Arte Praesaga (Die Kunst der Prophetie) eine allgemeine Schriftenlehre der Schöpfung entworfen hatte, mit welcher Bilder und Figuren, die in die menschliche Haut oder in das Gestein der Gebirge, in den Wuchs eines Holzes oder in die Gestirne eingeschrieben seien, enträtselt werden könnten.53 Bei Novalis heißt es in den Lehrlingen zu Sais: Mannichfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Krystallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Thiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Conjuncturen des Zufalls, erblickt. graphischen Figur – für ein Medium reklamiert, das gerade gegen eine ontologisch oder epistemisch deklassierte Bildlichkeit ins Feld geführt wird. […] Sichtbarkeit der Schrift ist nicht einfach – sie geschieht. Sie wird negiert oder sie wird exponiert, sie verschwindet oder sie behauptet sich. Sie hat ihre eigene Dramatik. […] Schrift zeigt sich, Schrift ist nicht nur zu sehen, sondern zu schauen. […] Solche Aufmerksamkeit für das Imaginäre der Schrift schlägt aber nicht den simplen Bogen zur transzendierenden Lektüre zurück. Das Konzept einer ›Schau‹ der Schrift ist nichts weniger als eine Entprivilegierung des Blicks zugunsten eines inneren Auges. […] Der sichtbare Körper der Graphie erweitert sich hier um den des Ausführenden, den der Geste und der Szene.« 51 | Paul Klee: Schriften. Rezensionen und Aufsätze, hg. v. Christian Geelhaar, Köln 1976, S. 118-122, S. 120. 52 | Ebd., S. 118. 53 | Vgl. Gerd Mattenklott: »Schriftbilder«, S. 137ff.
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M IKROPOETIK In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben; allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. 54
Die »Ahndung will sich selbst in keine festen Formen fügen«. Das Entsprechungsverhältnis zwischen den buchstäblich vorgezeichneten, präfigurierten Lebenswegen und den andererseits in der Natur vorgefundenen Strukturen, die diese entweder abzubilden oder vorzuformen scheinen, bleibt undeutlich. Auch die Graphik der Mikrogramme Robert Walsers scheint sich in diesem Sinne in keine festen Formen fügen zu wollen; zwar weist sie auf eine dem Schreiben wie dem zeichnerischen Abbilden gemeinsame etymologische Wurzel im griechischen Wort graphein,55 das auf den Akt des 54 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 79. 55 | Vgl. J. Hillis Miller: Illustration. Die Spur der Zeichen in Kunst, Kritik und Kultur, Konstanz 1993, S. 59-69 [»Images et texte (Bilder und Text)«]. Leroi-Gourhan stellt dabei in Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M. 1995, S. 240, fest, dass »der Graphismus nicht von einem Ausdruck ausgeht, der in einem gewissermaßen dienenden oder photographischen Verhältnis zur Wirklichkeit steht«, sondern dass »die bildende Kunst an ihrem Ursprung vielmehr unmittelbar mit der Sprache verbunden ist und der Schrift im weitesten Sinne sehr viel näher steht als dem Kunstwerk. Sie ist eine symbolische Umsetzung und nicht Abbild der Realität, d.h. zwischen dem graphischen Zeichen, in dem man einen Bison sieht, und dem Bison selbst besteht die gleiche Distanz wie zwischen dem Wort und dem Werkzeug.« (Das Werkzeug wiederum existiert »real nur in der Geste, in der es technisch wirksam wird«; ebd., S. 296.) »Die ältesten bekannten bildlichen Darstellungen stellen daher keine Jagdszenen, Tiere oder ergreifende Familienszenen dar, es sind vielmehr graphische Pflöcke ohne deskriptiven Bezug, Stützpunkte eines mündlichen Kontexts, der unwiederbringlich verloren ist.« (Ebd., S. 240.) Über einen Punkt bestehe, so Leroi-Gourhan weiter, völlige Gewissheit: »der Graphismus hat seinen Ursprung nicht in der naiven Darstellung der Wirklichkeit, sondern im Abstrakten« (ebd.). Bei den angesprochenen archaischen Darstellungen handelt es sich um Mythogramme, die der Ideographie näher stehen als der Piktographie (vgl. ebd., S. 242). »Das Mythogramm ist in der Tat bereits ein Ideogramm; dies kann man sich deutlich machen, wenn man betrachtet, was davon in unserem heutigen Denken noch anzutreffen ist: so genügt etwa die gemeinsame Darstellung eines Kreuzes, einer Lanze und eines Schilfrohrs, das an seiner Spitze einen Schwamm trägt, um in uns den Gedanken an die Passion Christi hervorzurufen.« (Ebd., S. 253.) Mythologie und vieldimensionaler Graphismus treten in den archaischen Gesellschaften in der Regel gemeinsam auf, so dass man, wenn man vom strikten Wortsinn ausgeht, eine Parallele herstellen kann zwischen der Mythologie, »die eine auf dem gesprochenen Wort basierende mehrdimensionale Konstruktion darstellt«, und einer Mythographie, »die deren genaues manuelles Gegenstück bildet« (ebd., S. 246f.). »Es handelt sich also um etwas anderes als um eine in ihrer Anordnung zufällige Darstellung von Jagdtieren, auch nicht um eine Schrift und ebensowenig um ein Gemälde. Hinter der symbolischen Figuren-
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Anritzens, auf die Tätowierung einer Oberfläche zurückführt, wodurch im biblischen Kainsmal jenes Namenszeichen entsteht, mit dem Kain von Gott gestraft und – paradoxerweise – beschützt wird, denn Kain wird durch das Zeichen davor bewahrt, selbst einer Blutrache zum Opfer zu fallen und dem Tode geweiht zu sein.56 Das Wort graphein weist jedoch auch auf eine Art des Sich-Eingrabens ins Subkutane, ins Untergründige. Im »Bruderkrieg«57 ist es die ›Schwesterkunst‹, die – gewissermaßen getreu dem Prinzip der ut pictura poiesis (Wie ein Bild (sei) das Gedicht) des Horaz58 – in einer familiasammlung hat mit großer Sicherheit ein mündlicher Kontext gestanden, der in einem engen Zusammenhang mit der symbolischen Anordnung stand und dessen Werte räumlich reproduzierte. Die gleiche Tatsache wird deutlich, wenn die australischen Ureinwohner jene spiralförmigen Figuren in den Sand zeichnen, die den Ablauf des Mythos der Eidechse oder der Honigameise symbolisch zum Ausdruck bringen, […]. Eine solche Darstellung ist fast von Natur aus mit dem kosmischen Symbolismus verbunden.« (Ebd., S. 247; Hervorh. v. ALG.) »Wenn die Kunst daher so eng mit der Religion verbunden ist, so weil der graphische Ausdruck der Sprache die Dimension des Unaussprechlichen wiedergibt, die Möglichkeit, der Mehrdimensionalität der Tatsachen durch visuelle Symbole, die zur gleichen Zeit zugänglich sind, gerecht zu werden. Die fundamentale Verbindung von Kunst und Religion ist emotionaler Art, aber sie ist dies nicht auf verschwommene Weise, sie hängt vielmehr eng mit der Schaffung eines Ausdrucksmodus zusammen, der die wirkliche Situation des Menschen in einem Kosmos restituiert, in dessen Zentrum er sich selbst stellt und den er noch nicht durch eine Vernunft zu durchdringen versucht, in der die Buchstaben aus dem Denken eine buchstäblich eindringende Linie machen, eine Linie, die zwar von großer Reichweite, aber dünn wie ein Faden ist.« Ebd., S. 249. 56 | In der biblischen Geschichte schreit das durch Kain an Abel vergossene Blut, schreit die ›Stimme des Blutes‹ zu Gott vom Ackerboden her auf. Es ist eine tumultuarische Szene, in der Gott über Kain den Fluch verhängt, nunmehr unstet und flüchtig auf Erden wandeln zu sollen. Dadurch wird Kain hilflos dem ausgesetzt sein, was er selbst an seinem Bruder vollzogen hatte: Ihm wird nach dem Leben getrachtet werden. Das Kainszeichen ist dabei das, was die Kette der Sühne markiert, mit der Gott Kain in dieser Situation zugleich zu beschützen versucht: Wer Kain erschlägt, wird wiederum selbst eine Vergeltung, er wird die Rache Gottes erfahren. 57 | Max Rychner: Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen, S. 12. 58 | Innerhalb der ungeheuren Wirkungsgeschichte dieses Diktums markiert vor allem der Laokoon von Gotthold Ephraim Lessing eine Wende, die Gottfried Willems wie folgt beschreibt: »So steht noch in der Barockpoetik das ut pictura poesis im Sinne von Mimesis ganz im Schatten eines ut pictura poesis, das die allegorische Bildlichkeit meint. Das aber hat zur Voraussetzung, daß die Mimesis in der Spätantike nicht nur dem Begriff, sondern auch der Sache nach untergegangen ist. Ihre Wiedergewinnung als Begriff bleibt solange ein blindes Motiv der Poetik, als sie der Sache nach noch nicht wieder zu neuer Bedeutung gelangt ist. Das manifestiert sich am deutlichsten darin, daß der Begriff des simulacrum (Abbild), wo er Eingang in die Poetik findet, an den der similitudo (Gleichnis) angeglichen,
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len, biographisch organisierten Metonymie zum Refugium der Schrift Robert Walsers wird. Das schützende Zeichen, unter dem die Mikrographie steht, ist das Gezeichnete, die Skriptur. In ihrer Ausdehnung maximal minimiert, spiegelt die gezeichnete Schrift dabei in widersprechender Weise den zeitgenössischen, vernichtenden Drang zur Expansion, konterkariert diesen aber ebenso wie in der Anonymisierung (so war Robert Walser unter anderem am Zeitschriftenprojekt von Franz Blei mit dem Titel Der lose Vogel beteiligt) eine juridisch konstituierte Autorschaft, und, in der Beschränkung auf die sprichwörtlich ›kleinen Dinge‹, die in den Kriegsdienst der Verlautbarung gestellte, literarischpolitische Apologie, den ›Federkrieg‹.59 Der Erste Weltkrieg ist publizistisch vorbereitet und, uneinsehbar entstellt durch die politische Zensur, publizistisch begleitet worden. In der Neuen Rundschau etwa schrieben im Herbst 1914 Moritz Heimann, Richard Dehmel, Gerhart Hauptmann, Alfred Döblin, Robert Musil und andere der Hausautoren des S. Fischer Verlages für den Krieg, sie zeigten sich, wie Klaus R. Scherpe analysiert hat, »ergriffen von der aufbrechenden ›Zeit der Unmittelbarkeit‹ und aufgewühlt vom grenzenlos Fremden und ›Ungeheuren‹ […]. Die Konsequenz daraus ist der fulminante Haß auf die vermittelnden Instanzen von Kultur, das Museum im besonderen, und überhaupt alles Gedruckte, das eben nur Schrift ist und nicht das Leben. ›Das Buch ist der Tod der wirklichen Sprache‹ heißt es in Döblins Romanpoetik. Man läuft Sturm gegen die ›papierene Passion‹«. Das »Phantasma des Authentischen«, so Scherpe, nährt dabei das Aufbegehren gegen »Vermittlungszwänge« und die »medialen Distanzierungen«: »Die Welt sollte noch einmal ›rein‹ erfahren werden, ›dort unten‹ oder ›dort draußen‹, wo sie noch nicht in Sprache gekleidet ist, noch nicht Bilderbuch und Lesestoff.« So sei, wie Oskar Bie im September 1914 in der Neuen Rundschau bezeichnenderweise schreibt, »die ›Phantasie des Krieges‹ vom ›Standpunkt der Lektüre‹ zu befreien«.60 Genau auf diesen ›Standpunkt der Lektüre‹ aber stellt sich Robert Walser. Die Lektüre ist ein Akt, der nicht vorgeschrieben oder
ja mit ihm identifiziert wird. […] Erst die Aufklärung reaktiviert mit Hilfe der Formel ut pictura poesis die Dimension des simulacrum.« Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 216. 59 | Im Gespräch hat Robert Walser viel später die Ansicht bekundet, dass die zeitgenössische Literatur sich, im Vergleich zu früheren Zeiten, imperialistisch gebärde: »Heute terrorisieren die Schriftsteller die Leser mit ihren dicken Langweiligkeiten. Es ist kein schmackhaftes Zeichen der Zeit, daß sich die Literatur so imperialistisch gebärdet. Früher war sie bescheiden, gutartig. Heute besitzt sie Herrscherallüren. Das Volk soll ihr Untertan sein.« Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser, S. 114. 60 | Klaus R. Scherpe: »Die Mobilmachung des Fremden im Ersten Weltkrieg«, in: ders.: Stadt. Krieg. Fremde. Literatur und Kultur nach den Katastrophen, Tübingen, Basel 2002, S. 177-196, S. 177ff.
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verifiziert werden kann.61 »Lesen heißt Verstehen, In-Frage-Stellen, Wissen, Vergessen, Löschen, Durchstreichen, Wiederholen.«62 In diesem Akt wird jede Aussage potentiell zum Gegenstand der Neulektüre. Im exotistisch vermittelten Fremden der Jahrhundertwende war der Akt des Lesens anderer Kulturen noch enthalten; von dort jedoch führte der Weg nun »ins absolut Fremde«. »Das Fremde«, so Scherpe weiter, »erscheint in der im Herbst 1914 spontan und unmittelbar verfaßten Kriegsliteratur nicht mehr nur als Verhandlungssache des Kolonialismus oder als ästhetisches Reservoir des Exotismus. Neben anderen Beschwörungsformeln des Elementaren und Vitalen gerinnt es zum Zeichen des Ekstatischen und Exzessiven schlechthin und verweist auf nichts anderes als den eigentlichen ›Imperialismus der Seele‹.«63 In dem von der Kriegspublizistik eröffneten Kampf sollte die reichsdeutsche Kultur ihre Herrschaft über die westliche Zivilisation erweisen. Die Schrift wurde darin zum flankierenden Medium der Tötung, ähnlich wie die Schriftzeichen im atavistischen Ritual der Erbeutung und Ermordung des in ihnen repräsentierten Wesens gedient hatten;64 bis in die Kriegsgegenwart hinein wirkt so, allen Vorbehalten gegen das Mediale zum Trotz, das Mythologem des tötenden Buchstabens.65 Die Mikrogramme Robert Walsers hingegen lassen sich durchaus als Reflex auf Carl Spittelers Rede Unser Schweizer Standpunkt verstehen, die in der Neuen Helvetischen Gesellschaft Zürich am 14. Dezember 1914, ebenfalls kurz nach Ausbruch des Krieges, gehalten wurde und die in der Neuen Zürcher Zeitung am 16. und 17. Dezember 1914, als Broschüre im Januar 1915 beim 61 | Vgl. Jonathan Culler: Dekonstruktion, S. 250, der Paul de Mans Auffassung referiert, wonach »das politische Schicksal des Menschen wie ein linguistisches Modell strukturiert und von diesem abgeleitet ist«. Ebd., S. 315. 62 | Ebd., S. 314. 63 | Klaus R. Scherpe: »Die Mobilmachung des Fremden im Ersten Weltkrieg«, S. 178. 64 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 33. »Die Schrift ist wie das zoographem, wie die Malerei, welche selbst durch die Problematik der mimesis bestimmt ist (Kratylos 430-432); […]. Hier verrät die Malerei, die Zoographie, das Sein und die lebendige Rede, die Worte und die Dinge selbst, weil sie sie erstarren läßt. Ihre Nachkömmlinge sind Bilder von Lebewesen, doch fragt man sie, dann geben sie keine Antwort. Die Zoographie hat den Tod überbracht. Gleiches gilt für die Schrift. Niemand und vor allem nicht der Vater [d.i. der metaphorische ›Vater‹ der Schrift, der Schreiber, der Autor; Anm. d. Verf., KS] ist da, um eine Antwort zu geben, wenn man ihn fragt. […] Die Schrift ist todesträchtig. Folgende Überlegung könnte man ins Spiel bringen: die Schrift als Malerei des Lebendigen, welche die Animalität fixiert, die Zoographie […] wäre damit die bildhafte Repräsentation des gejagten Tieres: magische Erbeutung und Ermordung.« Ebd., S. 501 (Hervorh. v. JD). 65 | Vgl. Jan Assmann: »Schrift, Tod und Identität. Das Grab als Vorschule der Literatur im alten Ägypten«, in: Schrift und Gedächtnis, hg. v. Aleida und Jan Assmann und Christof Hardmeier, München 1983, S. 64-93, S. 70.
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Verlag Rascher erschien. Spitteler mahnt darin, »inne [zu] werden, daß die Landesgrenzen auch für die politischen Gefühle Marklinien bedeuten«. Gegenüber allen, die sich nicht zu dieser Neutralität bekennen könnten, gelte es, »auf die richtige Distanz abzurücken; konzentrisch zu fühlen statt exzentrisch«. Und bezogen auf die Publizistik und Literatur bedeute dies: »Wer schweigen darf, preise sich glücklich, daß er’s darf, und schweige.« Denn: »Ist es überhaupt unumgänglich nötig, die blutigen Wunden, die ein Krieg schlägt, noch mit Tinte zu vergiften?«66 In dem als Die Glosse überschriebenen Text Robert Walsers, der im April 1928 in der Prager Presse erscheinen wird, bezeichnet sich das poetische Ich als »Feldherr der Buchstaben, die ich befehlige, und die meine treuen Truppen sind«, und glaubt einen, »wenn auch nicht großen, so doch echten Glossensieg zu erringen, indem mich nämlich jetzt die Engel der Prosapoesie umsingen«. Wo Engel jemanden »umsingen«, hat wohl eher der Tod obsiegt. Oder jemand ist niedergeschlagen worden und hört nun sprichwörtlich ›die Englein singen‹. Die Glosse, die, von einer Warte 66 | Carl Spitteler: »Unser Schweizer Standpunkt«, in: ders.: Gesammelte Werke, hg. im Auftrag der Schweizerischen Eidgenossenschaft von Gottfried Bohnenblust, Wilhelm Altwegg und Robert Faesi, Bd. 8, hg. v. Werner Lauber, Zürich 1947, S. 579-594. Vgl. auch Walter Müri: Carl Spittelers Rede vom 14. Dezember 1914 – Unser Schweizer Standpunkt – rhetorisch betrachtet, Bern 1972, S. 12ff. Spitteler schreibt, S. 593f.: »Meine Damen und Herren, Die richtige Haltung zu bewahren, ist nicht so mühsam, wie sich’s anhört, wenn man’s logisch auseinanderlegt. Ja! wenn man’s im Kopf behalten müsste! Aber man braucht es gar nicht im Kopf zu behalten, man kann es aus dem Herzen schöpfen. Wenn ein Leichenzug vorübergeht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da? Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten Sie sich dabei? Still, in ergriffenem, demütigem, ernstem Schweigen. Nicht wahr, das brauchen Sie nicht erst zu lernen? Nun wohl: eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet, bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen. Auf der Szene herrscht die Trauer, hinter der Szene der Mord. Wohin Sie mit dem Herzen horchen, sei es nach links, sei es nach rechts [des Rheins, Anm. d. Verf., KS], hören Sie den Jammer schluchzen, und die jammernden Schluchzer tönen in allen Sprachen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache.« Überindividuelles Ritual der Macht ist das »fürchterliche Trauerspiel«, das der Krieg der Nationen ist, der jedoch, vom Schweizer Standpunkt aus besehen, »hinter der Szene« liegt. So erinnert Spitteler an die kathartische »Erschütterung und Andacht« angesichts der theatralischen Illusionierung des Todes. Erst der Guckkasten der Bühne verbürgt eine Verkleinerung des Massengeschehens auf das ›menschliche‹ Maß eines Szenarios in Lebensgröße. – Auch Hermann Hesse veröffentlicht im November 1914 in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel unter dem Titel »O Freunde, nicht diese Töne«, in dem er die »einrückend gemachten« Schriftsteller mahnt, dass »Liebe höher sei als Haß, Verständnis höher als Zorn, Friede edler als Krieg«. Zit.n. Ulrich Weinzierl: Carl Seelig, Schriftsteller, Wien, München 1982, S. 17.
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der Hochliteratur aus besehen, eine »Verkommenheit bedeutet«, die also, obgleich das Wort an keiner Stelle im Text auftaucht, an die – lediglich in einem fehlenden Buchstaben differierende – Gosse denken lässt, in die der Glossenschreiber möglicherweise einst entlassen werden wird (diese Angst steht hinter dem Wort), ist zwar »klein von Gestalt«, wirkt jedoch »nach überallhin«; sie ist ein David, nicht ein Goliath der Schrift.67 Auch die späten Mikrogramme sind vor allem deshalb nahezu unlesbar, weil die Buchstaben hierin nicht ihre volle, distinkte Figuralität ausbilden, sondern wie arretiert sind in einer Schrift vor dem Buchstaben. Die Buchstaben bleiben in ihrer Potentialität befangen; was dabei aber gemieden ist, beschreibt Serge Leclaire im Hinblick auf den Aufbau einer buchstäblichen Ordnung: »In der Tat ist der Buchstabe, um es mit einem Paradox auszudrücken, die Materialität des Mals in seiner Abstraktion, ist Grenze, Spur, Messerritz so gut wie Bindestrich. Das Wesen dieses Mals, seine Einmaligkeit, ist seine Wiederholbarkeit, seine identische Wiederkehr; es ist Indikator des »Gleich-Ungleich« [pareil-paspareil; Anm. d. Verf., KS], in dem sich das Spiel […] ermöglicht.«68 Der Buchstabe ist Symptom und Symbol des Wiederholungszwangs, und der in den Mikrogrammen angefochtene Buchstabe Symptom und Symbol einer passiven Gegenwehr hierzu. In seinem Text Jenseits des Lustprinzips, der erst 1920 erscheint, aber bereits während der Kriegsjahre konzipiert wird, gibt Freud diesem Wiederholungszwang noch einen anderen Namen. Es geht um den Todestrieb.69 Der Todestrieb, nach außen abgeleitet, heißt, so wird es Freud in deutli67 | SW 19/287ff. 68 | Serge Leclaire: Der psychoanalytische Prozeß, S. 87. 69 | Der Begriff des Todestriebs bleibt in der Nachfolge Freuds von weiterer Bearbeitung (Freud selbst bestätigt den Begriff bis zuletzt) ausgeschlossen. Zwar hatte Freud selbst ihn bereits relativiert, indem er den Todestrieb nur in »Legierungen« mit dem Komplement der Libido am Werk sehen wollte. In Hemmung, Symptom und Angst von 1926 wird er schreiben: »[…] wir [haben] es kaum jemals mit reinen Triebregungen zu tun, sondern durchweg mit Legierungen beider Triebe«. Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 155. Und in Das Unbehagen in der Kultur (1930) wird er ausführen, dass die Hypothese »wesentlich auf theoretischen Gründen« ruhe, in derselben Schrift aber zugleich bekennen: »Ich hatte die hier entwickelten Auffassungen anfangs nur versuchsweise vertreten, aber im Laufe der Zeit haben sie eine solche Macht über mich gewonnen, daß ich nicht mehr anders denken kann.« Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 480-481 und S. 478-479. Einen Hiatus mit der eigenen Theorie Freuds bildet die Hypothese des Todestriebs im Hinblick auf die hierzu widerstreitende Topik der Ich-Instanzen. Vgl. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 494ff., S. 498. Und die Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, den Begriff des Todestriebs in der Nachfolge Freuds zu integrieren, sind, wie Laplanche und Pontalis signifikant zu bedenken gegeben haben, klinisch weniger gut zu beobachten »als in einem Kampf, der über das menschliche Individuum hinausgeht« (ebd., S. 500). Aus einem solchen Kampf war der Begriff schließlich eben auch hervorgegangen. Freuds Begriff Todestrieb wird im Nach-
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chem Anklang an Friedrich Nietzsche in seinem späteren Text Das ökonomische Problem des Masochismus (1924) schreiben: »Destruktionstrieb, Bemächtigungstrieb, Wille zur Macht«.70 Bereits das erste Wort im Titel von Freuds früherem Text – ›Jenseits‹ – schreibt dabei, neben der religiösen Konnotation des Numinosen, das sich mit einem Leben nach dem Tode, mit einer möglichen Auferstehung (wie in der biblischen Geschichte des Lazarus) verbindet, und neben der weiteren Verbindung zu Nietzsches Schrift Jenseits von Gut und Böse, auch eine Modalität, die nicht begreifen, nicht erfassen, die das Andere, Jenseitige nicht identifizierend einholen oder aufheben kann.71 Der Titel von Freuds Arbeit enthält, so jedenfalls versteht es Christoph Türcke, eine geheime Aufforderung: »Der traumatische Wiederholungszwang möge jenseits des eigentlichen Arbeitsfeldes der Psychoanalyse bleiben«.72 Und so geht es im Text Jenseits des Lustprinzips, in dem Freud mit der spekulativen Hypothese des Todestriebs den wohl umstrittensten seiner begrifflichen Beiträge entwickelt, zunächst auch um den Weg nach innen, um das Durchbrechen des Reizschutzes; dieses Thema aber wird im nachfolgend zitierten Passus in radikaler Parenthese durchbrochen: Ich gestatte mir an dieser Stelle ein Thema flüchtig zu berühren, welches die gründlichste Behandlung verdienen würde. Der Kantsche Satz, dass Zeit und Raum notwendige Formen unseres Denkens sind, kann heute infolge gewisser psychoanalytischer Erkenntnisse einer Diskussion unterzogen werden. Wir haben erfahren, daß die unbewußten Seelenvorgänge an sich »zeitlos« sind. Das heißt zunächst, daß sie nicht zeitlich geordnet werden, daß die Zeit nichts an ihnen verändert, daß man die Zeitvorstellung nicht an sie heranbringen kann. Es sind dies negative Charaktere, die man sich nur durch Vergleichung mit den bewussten seelischen Prozessen deutlich machen kann.73
Freud spricht implizit über die Wirkung eines Kriegstraumas. Besonders bemerkenswert ist dabei die Platzierung des zitierten Abschnitts in der Konsekution des Textes. Exakt im Übergang zwischen der Bezugnahme auf die Sinnesorgane, welche zuvor »Stichproben der Außenwelt« vornehmen, gleich Fühlern, »die sich an die Außenwelt herantasten und dann immer wieder von ihr zurückziehen«, und den nachfolgenden »Erregungen von innen her«, die »in unverkleinertem Maßstab« wirken, unterzieht Freud mit Hilfe »gewisser« Erkenntnisse, und das heißt mit Hilfe der durch den Ersten Weltkrieg beförderten psychoanalytischen Erkenntnisse die Kategogang zum Ersten Weltkrieg ein theoretischer Solitär bleiben: isoliert, unbearbeitet – von ihm selbst wie von der Theorie der Psychoanalyse überhaupt. 70 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 376. 71 | Vgl. Gert Hofmann: Schweigende Tropen. Studien zu einer Ästhetik der Ohnmacht, Tübingen, Basel 2003, S. 5. 72 | Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 28, Anm. 14. 73 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XIII, S. 27f.
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rien Kants74 einer Diskussion. »Es sind dies negative Charaktere«, formuliert Freud dabei in Bezug auf die »unbewusste[n] Seelenvorgänge«, die ›zeitlos‹ sind, denen die Zeit nichts anhaben kann, und das erinnert wohl nicht ganz zufällig an die Drucktypen, die im Buchwesen auch als Charaktere bezeichnet worden sind. Negative Charaktere repräsentieren hier das Undenkbare, insofern es gegenüber der Positivität der Schrift kein Komplement gibt, das nicht bereits, als deren Negation, immer schon von der Schrift her bezeichnet wäre. »Der Todestrieb, an den Freud in späten Jahren zu glauben begann, existiert nicht«, schreibt Christoph Türcke. Das Leben dränge nicht von sich aus zum Tode. Wohl aber führe Lebensnot zu Phänomenen, die bei ihrem Entstehen bereits vom Drang beseelt seien zu verschwinden. Und hierzu gehöre auch das Wort: »Das Wort will seinen Anlaß, den Schrecken, aus der Welt schaffen – und damit sich selbst.«75 So weit aber gehen die Mikrogramme Robert Walsers gerade nicht. Gegen die Erfahrung des Weltkriegs, gegen das Weltkriegs-Ressentiment bildet die Exterritorialität des erst 1927 in der Semantik des Briefs an Rychner manifest gewordenen »Bleistiftgebiets« vielmehr eine eigene Äquilibristik aus. Aus vermeintlicher Exteriorität, Äußerlichkeit der Schrift wird – in einer durchaus philosophischen Geste – eine Exterritorialität des Schreibens im »Bleistiftgebiet«, bei der zehn Jahre später eine Zeit, eine Auflösung der Schrift vor und während des Krieges, zum Ausgangspunkt einer Semantik und Graphik der Stille76 wird – und zwar mit ausdrücklicher Betonung auf der Kopula ›und‹.
74 | Dabei wird es sich um den folgenden Passus aus Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft handeln: »Die Zeit ist nichts anders, als die Form des innern Sinnes, d.i. des Anschauens unserer selbst und unsers innern Zustandes. […] Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Anschauung, ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt.« Zit.n. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, München, Wien 2006, S. 19. 75 | Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 188, 185. 76 | Vgl. Susan Sontag: »Die Ästhetik der Stille«, in: Fast nichts. Minimalistische Werke aus der Friedrich Christian Flick Collection im Hamburger Bahnhof. Katalog zur Ausstellung im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart, hg. v. Eugen Blume, Gabriele Knapstein und Catherine Nichols, Berlin 2005/06, S. 20-38.
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II.3 F LUCHT UND P ROSZENIUM Die Schrift der Mikrogramme wird seit der zweiten Kriegshälfte zur Marginalie, welche Ränder füllt, das Blatt ganz auffüllt, sich – wie im Anschreiben zum Freundschaftsbrief – in Zwischenräume setzt. Und der Rand ist das, was außerhalb des ›eigentlichen‹ Diskurses, und das heißt in Kriegszeiten auch außerhalb der publizistischen Schusslinien liegt – jenseits von Kontroversen, die sich als Kriegsgeschehen, das auf einem anderen Schauplatz wiederholt ist, erweisen könnten. Und so sind die Kolumnen durch die Kopräsenz anderer Texte auf demselben Blatt auch eher Schriftrahmen als Schriftblöcke. Die Blätter prozessieren intern, zwischen den konstellierten Texten, eine Differenz von ›innen‹ und ›außen‹. In der Kontiguität einer – nicht nur im metaphorischen Sinne – ›geschwisterlichen‹ Anordnung der Texte findet sich ein traumatischer Bruch beantwortet: in den Fugen oder besser den verfugten Brüchen zwischen den Texten, mit einer Intertextualität im eigenen Werk. Bis in die späte Berner Prosa hinein zeigen sich Motive variiert, die sich bereits zuvor finden. Texte sind immer zugleich Varianten: Präfiguration von Text, der erst noch entstehen wird, und ›Nachbild‹ jener Texte, die bereits entstanden waren, als Teil desselben großen Konvoluts, als das sich das gesamte Werk, darin eingeschlossen die Briefe, darstellt. Obgleich die Mikrogrammtexte, wie sich gezeigt hat, nicht unvollendet, sondern im Gegenteil in erstaunlichem Maße integral sind, stehen sie, wie die anderen Texte, mit einer Modalität des Fragments in Beziehung, was das potentiell Unbegrenzte betrifft.77 Robert Walsers Text Der Spaziergang von 1917 gibt so auch zu verstehen: »Ich möchte aber bekennen, dass ich Natur und Menschenleben als eine ebenso schöne wie reizende Flucht von Wiederholungen anschaue, […].«78 Die »Flucht« erinnert an eine Illusionierung, die mit Fluchtlinien einhergeht und in der sich ein weiter entfernter Gegenstand in der Darstellung verkleinert. Die Polysemie des Wortes ›Flucht‹ öffnet den Zusammenhang mit einer auf der Theaterbühne perspektivisch angelegten Flucht, wie etwa in der Prospektmalerei des Theaters, in der Kulissenbühne des Barock79 – und in der Tat 77 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, S. 101. 78 | SW 5/73f. 79 | Albrecht Schöne hat die sinnbildhafte, emblematische Qualität des barocken Theaters herausgestellt; es ist ein Schauplatz, der die Emblembücher der Renaissance von den Bühnenarchitekten des 16. und 17. Jahrhunderts ins Dreidimensionale übersetzt zeigt: »Das Emblembild erscheint als Miniaturbühne; das dramatische Schaugerüst erweist sich als ein ins Riesenhafte vergrößertes, emblematisches Bild.« Die Grundform der Renaissance- und Barockbühne hat sich dabei über Europa verbreitet als »eine gerahmte Bühne, die durch perspektivische Malerei auf hintereinander gestaffelten flachen Kulissen, Soffiten und Prospekten den Raum in die Tiefe dehnt. Wo auf dieser Bühne der wirkliche, nämlich dreidimensionale Spielraum endet, wo er übergeht in perspektivisch bemalte
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heißt es dann auch: wie »eine Schaubühne voll dramatischer Szenen öffnete sich mir das vorübergegangene Leben«.80 In der Überlagerung von Bühnenraum und -zeit in der »Flucht von Wiederholungen« scheint jedoch noch ein anderes Moment auf, und zwar in der leicht überlesenen zusätzlichen Doppeldeutigkeit der »Flucht« – im Wortsinn des Fliehens. Es geht auch darum, die Wiederholung selbst zu fliehen. Und die Wiederholung, die sich gewissermaßen selbst loswerden will, hat in der Tat zu tun mit einem traumatischen Schrecken. Es gilt: »gegen etwas, wovor man sich nicht rechtzeitig hat schützen, wovor man nicht hat fliehen können, nachträglich einen Schutz aufzubauen, eine Flucht zu veranstalten. […] und zwar Flucht in die Gegenrichtung, nicht vom Schrecken weg, sondern zu ihm hin […]. Traumatischer Wiederholungszwang ist eine Elementarform des Insichgehens: sich selbst noch einmal antun, was einen von außen traumatisch überkam.«81 Kunstmittel dafür ist die Bühne, und so ist eine der Metaphoriken, die sich angesichts der Mikrogramme nahezulegen scheint, auch die des Theaters, und bereits Dieter Borchmeyer fragt: »Warum aber ist Walsers Dichten ein ständiges Kreisen um das Theater als Theater – ohne doch Spielvorlage für dasselbe sein zu wollen? Warum baut er in seine Stücke ständige Blockaden ein, die ihre Aufführbarkeit verhindern? Kein Zweifel, er versteht seine gesamte Dichtung als Bruchstücke eines imaginären Theaters, dessen unendlicher Spielraum nicht mit der Endlichkeit der Bühne zu vermitteln ist, sich von ihr, wie ein Traum von der Wirklichkeit, unterscheidet.«82 In Robert Walsers Text Das Theater, ein Traum (I) heißt es: »Sind nicht Fläche, das entzieht sich der Einsicht des Zuschauers. Die Grenze zwischen der wirklichen Architektur und der Malerei, die sie fortsetzt, zwischen Stein und Leinwand verschwimmt. Die Sinne trügen. Wo man schon Täuschung vermutet, Kulisse, Kostüm, Schminke, Maske, Verstellung, kann Wirklichkeit sein; wo man noch Wirklichkeit glaubt, ist Täuschung möglich. Wird das Nichtwirkliche derart als Realität maskiert, dann ist zugleich die Wirklichkeit als trügerischer Schein verdächtigt. So richten die perspektivischen Kulissen und Prospekte dieses Illusionstheaters den Blick des Zuschauers auf eine bodenlose Unsicherheit. […] Indem aber die barocke Illusionsbühne den trügerischen Schein der Dinge, ihre Unsicherheit und Unwirklichkeit sichtbar macht, – indem die barocke Verwandlungsbühne die jähe Hinfälligkeit, die Unbeständigkeit und Vergänglichkeit alles Existierenden vor Augen führt, – indem das barocke Vertikaltheater den jenseitigen Raum, den Himmel und die Hölle einbezieht in das dramatische Spiel, wird das Theater zum emblematischen Schaugerüst […].« Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, S. 225ff. 80 | SW 5/75. 81 | Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 59ff., S. 61. 82 | Dieter Borchmeyer: »Robert Walsers Metatheater. Über die Dramolette und szenischen Prosastücke«, in: »Immer dicht vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walsers, hg. v. Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1987, S. 129-143, S. 141.
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auch die Dichtungen Träume, und ist denn die offene Bühne etwas anderes als ihr großgeöffneter, wie im Schlaf sprechender Mund?«83 Das Theater als Metaphorik für die Mikrogramme anzunehmen, wirkt zunächst allerdings paradox, wo Buchstaben derart wortwörtlich auf den Punkt gebracht, zur ausdehnungs- und konturlosen Gestalt zusammengezogen und ihres ›Körpers‹ beraubt sind. Im Theater leiht ein Schauspieler der Schrift seine Stimme, ist Träger einer Rede,84 der er mit seinem Timbre zugleich ein unverwechselbares Beizeichen gibt. Doch bilden die Schriftkolumnen in den Mikrogrammen das Proszenium anderer Schriftkolumnen aus, sind Teil eines Rahmens, in dem anderes auf demselben Blatt erscheint. Auch im Theater sind Figuren nicht ohne ihren Hintergrund zu denken, mit dem zusammen sie die Szene ausbilden. Zugleich unterhalten die Texte, nicht nur in den Mikrogrammen, Beziehungen zu anderen Texten, so dass das Konvolut für die kritische Textedition und den Textkommentar zu einem in der Synopsis schier endlos darstellbaren Konvolut wird, man an die Grenzen der Darstellbarkeit stößt – und auch hierin gründet das, was als latent unentzifferbar85 bezeichnet worden ist. Alles hängt buchstäblich mit allem zusammen, und zwar auch in Bezug auf die ›Materialität‹ der Schrift, denn es gibt in den Mikrogrammen kaum Raum zwischen den Zeilen, nahezu kein spatium, keinen ›Durchschuss‹. Anders gesagt: Alles ist Schrift ›zwischen den Zeilen‹, auch der Vordrucke, geworden. Interlinearversion. Die Buchstaben, die ihre Referenzfunktion nahezu zu verweigern scheinen, sind an den Rand ihrer graphischen Existenz86 gebracht, Textkörper zu einer »stumme[n] Kette der Signifikanten«87 geworden; etwas ist verstummt. Was aber ist verstummt? Es ist das Wort von der ›Zeitungslandschaft‹, das jene Form der Kontiguität schreibt, bei der es um eine konstellative Anordnung nicht nur im graphischen Sinne geht. So hatte die von Siegfried Jacobsohn herausgegebene Zeitschrift, zu deren Beiträgern Robert Walser gehörte, als Die Schaubühne, und seit dem Frühjahr 1918 – in Reaktion auf den Ersten Weltkrieg – als Die Weltbühne, bereits im Titel das Proszenium, das Ensemble der Stimmen, eine vom Theater inspirierte Diskursivität. Franz Kafkas berühmter Tagebucheintrag vermerkt in einem sogenannten »Schema« die Charakteristika »kleiner Literaturen« als sprachliche Abstrakta, doch gleich daneben erscheinen die Institutionen, in denen sich diese Prinzipien als vital erweisen sollten. So heißt es unter 1.: »Lebhaftigkeit: a) Streit b) Schulen c) Zeitschriften«; unter 3c): »Glaube an die Literatur, ihre Gesetzgebung wird ihr überlassen.«88 Die ›Dinge‹ tre83 | SW 15/8. 84 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 523. 85 | Vgl. Paolo Chiarini: »Unvorgreifliche Gedanken eines Walser-Lesers«, S. 13. 86 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 80f. 87 | Walter van Rossum: »Schreiben als Schrift«, S. 236. 88 | Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923, in: ders.: Gesammelte Werke, 7 Bde., hg. v. Max Brod, Frankfurt a.M. 1983, S. 154.
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ten dabei in der Ortlosigkeit der Sprache, auf der Seite des Tagebuchs, und das heißt buchstäblich (nur noch) auf dem Papier, zusammen.89 Denn bereits im Jahre 1911 fügt Kafka hinzu: »Es ist schwer sich umzustimmen, wenn man dieses nützliche, fröhliche Leben in allen Gliedern gefühlt hat.«90 Die seltsame Taxonomie, die hierarchische Anordnung und Klassifikation von Juxtapositionen, die sich in ihrem Nebeneinander unmittelbar berühren, deutet bereits die Gefährdung dieser Praxis nach eigenem Recht an. Und das Feuilleton, jenes »nützliche, fröhliche Leben«, wird in dem Sinne, den Kafka beschreibt, in der Tat bald keine Fortsetzung mehr finden; seit Mitte der 1920er Jahre, spätestens mit dem Jahr 1933, ist ihm weitere Entfaltung verwehrt; die kleinen Literaturen, von denen Gilles Deleuze und Félix Guattari im Anschluss an das »Schema« Kafkas gesprochen haben, werden, mit Ausnahme der Schweiz, an den im Zweiten Weltkrieg umkämpften Rändern der deutschen Sprachkarte situiert sein. Für Kafka ist literarische Arbeit das kollektive »Tagebuchführen einer Nation«.91 Große Literaturen großer Sprachräume folgten dabei einer Linie, so Gilles Deleuze und Félix Guattari im Anschluss an Kafka, die sie ausgehend vom Sujet zum sprachlichen Ausdruck, vom Inhalt zur Form führt. Kleine Literaturen hingegen würden »mit dem Sagen« beginnen – und das Ganze erst später gedanklich begreifen.92 Der Einzelne gibt ein Bild auch der Spannungen zwischen den Nationen ab. Und es steht wohl fest, dass Robert Walser, wie sein Biograph Robert Mächler eher unbewusst pointiert hat, »in den Herisauer Anstaltsjahren nichts mehr für den Druck geschrieben hat«.93 Die Mikrogramme sind verschiedentlich zu einer Vorform dieses Verstummens stilisiert worden, das sich somit lange zuvor angekündigt haben soll. Doch die Daten, die ungeachtet bedeutsamer Manuskriptverluste als terminus post quem (1917-19) und terminus ante quem (1933) der Mikrographie gelten können, sprechen eine andere Sprache. Robert Walsers Schreibtod fällt mit dem Ende der kleinen Literaturen zusammen, mit dem Ende jenes lebendigen Diskurses, den Kafka beschrieben hatte und der im Jahre 1933 ebenfalls unwiederbringlich verstummt ist.94 89 | Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1989, S. 19. 90 | Franz Kafka: Tagebücher 1910-1923, S. 154. 91 | Ebd., S. 151. 92 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, S. 40. 93 | Robert Mächler: Robert Walser der Unenträtselte. Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Zürich, München 1999, S. 219 (Hervorh. d. Verf., KS). 94 | Das Verstummen des Autors Robert Walser fällt mit dem Jahr 1933 zusammen, das für den publizistisch-literarischen Diskurs des deutschen Sprachraums selbstredend eine Zäsur darstellt. Die sprichwörtliche schweizerische Enge ist nach 1933 »von einer fast gespenstischen Intensität«, schreibt Dieter Fringeli in: Von Spitteler zu Muschg. Literatur der deutschen Schweiz seit 1900, Basel 1975, S. 134. Robert Walser selbst hat die Umstände seines Verstummens, wie bereits zitiert, im Gespräch mit Carl Seelig später klar benannt: »Meine Welt wurde von den Nazis
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Robert Walsers Eintritt ins »Bleistiftgebiet« jedoch vollzieht sich bereits während des Ersten Weltkriegs, noch ehe dieses Gebiet, das sich avant la lettre formiert, seinen Namen erhalten haben wird.
zertrümmert. Die Zeitungen, für die ich schrieb, sind eingegangen; ihre Redaktoren wurden verjagt oder sind gestorben. Da bin ich ja beinahe zu einem Petrefakt [einem versteinerten Fossil, Anm. d. Verf., KS] geworden.« (Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser, S. 78.) Im Logos der Schrift gibt es nur den Schreiber oder die Schrift. Ist man, wie Robert Walser zu diesem Zeitpunkt, nicht mehr Schreiber, ist man eine von den Koordinaten, den Variablen des Schreibens nicht mehr belebte Schrift, sondern Petrefakt, ist man der lebendige Beweis einer traditionsreichen Schriftskepsis. Bildlich gesprochen ist das Petrefakt das, was kein Lesen mehr auslöst, eine Hieroglyphe, die nicht mehr aus Stein und aus Schrift besteht. Aus der Konsequenz, mit der in den Mikrogrammen eine Umschrift der buchstäblichsymbolischen Ordnung versucht ist, wird bei Hans-Ulrich Treichel »ein signifikantes Moment der inneren Dialektik der literarischen Tätigkeit«, das in dem Umstand liegen soll, »unaufhörlich Literatur hervorzubringen und zugleich ihre selbstnegatorischen Impulse unaufhörlich zu bestärken. Wo literarische Produktivität aber derart mit ihrem eigenen Verschwinden verbündet ist«, so Treichel, »wird der schöpferische Prozeß zu einem äußerst fragilen Geschehen, treibt er doch beständig dem Schweigen, dem Verstummen zu«. (Hans-Ulrich Treichel: »Über die Schrift hinaus. Franz Kafka, Robert Walser und die Grenzen der Literatur«, in: ders.: Über die Schrift hinaus. Essays zur Literatur, Frankfurt a.M. 2000, S. 28-49, S. 33.) Weder dem Schweigen noch dem Verstummen treibt Robert Walsers Literatur jedoch nur aus Momenten einer »inneren Dialektik« des Schreibens zu, wie Treichel schreibt, sondern, weil diese Momente eine Verstärkung aus Umständen erfahren, die sich als die der Zeitgenossenschaft beschreiben lassen. Anders gesagt: Robert Walsers Einsatz gegenüber der Kunst und Literatur der Avantgarden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, seine buchstäbliche Unterschreitung, ist nicht von ihrem Ende her zu erzählen. Gerade weil dieses Ende sich als Wiederholung eines ›ersten‹, ähnlich traumatischen Prozesses darstellt, in einem Prozess sequenzierter Traumatisierung, ist nach der Genese und Verantwortung eines Verfahrens zu fragen, das eine Mikropolitik oder besser Mikrodiplomatie des Schreibens im ganz literalen Sinne sein wollte.
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II.4 »U RBANITÄT« VERSUS ›F EDERKRIEG ‹ Die Schrift der Mikrogramme, die in einem ganz konkreten Sinn nicht mehr als solche wiederzuerkennen ist, setzt neue Lektüren in Gang, in denen sich das Verhältnis von Figur und Grund von dieser ideosynkratischen, buchstäblich-symbolischen ›Ordnung‹ befragt sieht. Und die Transkription der Mikrogrammtexte ist eher schon Transliteration, das heißt Repräsentation eines Alphabets durch ein anderes, Übersetzung aus einem Alphabet, das fremd jedenfalls erschienen war. Und so beleuchtet diese Pseudokryptographie auch das Phantasma eines ›Klartextes‹, dessen Kehrseite die Sekundarität oder Exteriorität, das vermeintlich ›Äußerliche‹ der Schrift ist. Was Handschriften betrifft, hat es zwischen Schrift und Bild dabei von jeher Übergänge gegeben. In den illuminierten Handschriften des Mittelalters etwa sind die Initialen der Schrift von Tieren und Pflanzen, von den ›stummen Dingen‹, umgeben. Zeichen und Ornament verschränken sich. Dagegen ist die Typographie des Buchdrucks auf Distinktivität angelegt; vermeintliches Beiwerk ist abgestreift. Aus der Kontiguität von Schrift und Bild wird der Antagonismus von Text und Bild.95 Jedoch: »Es sei daran erinnert«, schreibt Walter Ong, »daß in Manuskripten aus Zeiten vor der Erfindung des Buchdrucks gewöhnlich die Wörter zusammengeschrieben oder die Abstände minimal gehalten wurden.«96 Handschriftlich existieren Buchstaben nicht eher als das Wort, nicht eher als der Text, nicht vor dem Text. Im Druck mit beweglichen Lettern, wo Wörter aus Typen zusammengesetzt sind, die als Einheiten bereits vor den Wörtern bestehen, ist dies anders. Und so ist es nicht die Handschrift, sondern vielmehr erst der Druck, der das Wort vergegenständlicht.97 Es ist erst der Druck, der den Text, mittels der Abstände zwischen den Wörtern, mittels des spatiums, zur stabilen Konfiguration macht. Das Schreiben choreographiert Wörter und Spatien noch; der Druck hingegen fixiert diese im Raum. Und der Druck liegt bekanntlich nicht in den Händen des Autors.98 So antizipiert die »Nachbildung der eigenen kalligraphischen Feder-Schrift«99, die Morlang in den Mikrogrammen erkennen will, mit den Kolumnen zwar diese neuzeitlich paradigmatische Erscheinungsform von Text im Druck: jedoch als Nachbild einer gedruckten Frakturschrift, die zu Robert Walsers Zeiten bereits bibliophilen Wert hatte, die antiquiert, anachronistisch, au95 | Vgl. Aleida Assmann: »Alte und neue Voraussetzungen der Hieroglyphen-Faszination«, in: Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie, hg. v. Aleida und Jan Assmann, München 2003, S. 261-280, S. 263. 96 | Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 121. 97 | Vgl. ebd., S. 119. 98 | Von Robert Walser im Januar 1922 versandte Belege von Zeitungsartikeln sind vom Autor im Anschreiben an die Freundin so auch als dasjenige bezeichnet, was er »im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung schrieb, d.h. habe drucken lassen«. Vgl. Robert Walsers Brief vom 14. Januar 1922 an Frieda Mermet, in: Br, S. 198. 99 | Vgl. Nachwort von Werner Morlang, in: Mikro, Bd. 2, S. 511.
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ratisch wirkte. Im Jahre 1917 schreibt der Autor in einem Brief an den Verlag Huber & Co. in Bezug auf die Buchausgabe von Poetenleben: »Das Buch soll womöglich aussehen, als wenn es im Jahre 1850 gedruckt worden sei. Mit andern Worten: Mein sehr lebhafter, inniger Wunsch in dieser Hinsicht ist: Unmodernität! […] Besitzen Sie Erstausgaben von Klassikern, wie Schiller, Lessing, Göthe usw.?«100 Erstausgaben von Gotthold Ephraim Lessing, der zu Freuds literarischen Vorbildern gehörte, liegen im Jahre 1850 bekanntlich bald hundert Jahre zurück. Schiller, Goethe und die deutschen Romantiker, die einst in der von Robert Walser favorisierten Frakturschrift erschienen waren, sind wiederaufgelegt. Was also indiziert der ›sehr lebhafte, innige Wunsch‹, der sich mit der Jahreszahl 1850 markiert zeigt? Der Band Poetenleben soll dezidiert den Anschein erwecken, einer zeitgenössisch konturierten Nachund nicht etwa einer Neo-Romantik anzugehören. Die »Unmodernität«, die Robert Walser mit einem Unwort belegt und sicher auch in Opposition zu den Schrifttypen des Expressionismus anmahnt, grenzt sich dabei namentlich von Peter Behrens ab, der einst Mittler zu Robert Walsers Förderer Franz Blei gewesen war. »Nichts Eckiges, nichts Hartes, sondern etwas Artiges und Weiches« soll der Schrift eignen, so schreibt es der Autor im Brief aus dem Juni 1917 an den Verlag Huber: »Das Satzbild soll weich, rund, bescheiden, warm und ehrlich aussehen.«101 Die Schrift soll an SchulLesebücher erinnern. Auch das Unwort der »Unmodernität« postuliert dabei eine Anachronizität, die nicht nur die eigene Lebenszeit betrifft, sondern sich in den komplex verwickelten Syntagmen der Bieler Prosa auch als Nachbild, etwa des romantischen Briefstils, als ein Nachbild der Lektüren des Autors wiederfindet. Überhaupt stellen sich die Texte Robert Walsers als verschriftete Selbstlektüren dar. Joachim Strelis beschreibt etwa den Text Einmal erzählte einer metaphorisch als »ein vielfältig überschriebenes Manuskript«, so »daß der ursprüngliche Text, den der Erzähler im Sinn gehabt haben mag, unleserlich und wie von arabesken Zeichen überwuchert erscheint«.102 Nicht ganz abwegig sei so auch der Gedanke, »daß Walser seine Arbeiten am liebsten als Faksimiles der Erstentwürfe publiziert hätte. Da das kaum möglich war, hat er sich einen Kunstgriff erlaubt. Er hat alles, auch die ganz äußerlichen Spuren und Umstände der schriftstellerischen Arbeit: Fehler, Irrtümer, Korrekturen, Kritzeleien am Rande, Einschübe, Nachträge usw. in Sprache verwandelt und in seine Texte einfließen lassen, die dann sogar im fertigen Druck noch wie Korrekturbögen erscheinen. Textstreichungen werden zum Text«,103 der auf diese Weise, so ließe sich hinzufügen, bereits von seiner eigenen Vergänglichkeit affiziert wäre – und der zugleich 100 | Brief vom 19. Juni 1917 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 105f. 101 | Ebd., S. 105 (Hervorh. v. RW). 102 | Joachim Strelis: Die verschwiegene Dichtung, S. 73. 103 | Ebd., S. 118ff.
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das Lesen, als vervielfachten Vorgang, dar- und ausstellt. Im Lesen vielfach Überschriebenes wäre dann das ›Unmoderne‹. Auch die Schrift der Mikrogramme erscheint, wie Walter van Rossum formuliert hat, als ihr eigenes »ständig durchscheinendes Palimpsest«,104 und nicht nur in Bezug auf Vergangenes, sondern auch auf ein futurum. Die graphische Präfiguration des gedruckten Textes antizipiert, mit ihrem die Signifikanz der Striche verschleifenden bleistiftgrauen Graphitabrieb, eine verblichene Schrift, die nicht mehr ganz wiederzuerkennen, nicht mehr ganz zu entziffern ist. Die Schrift der Mikrogramme antizipiert ihre Bestimmung zum Druck, aber auch ihr zukünftiges Verblasstsein; sie nimmt sich selbst als vergangen-vergängliche Schrift bereits vorweg. Die Viskosität der Bleistiftstriche bildet, scheinbar ohne jede Einwirkung von Druck, dabei eine zarte, silbrig schimmernde Schriftschicht aus, die mit dem Papier förmlich zu amalgamieren scheint. Und so ist das poetische Ich buchstäblich »gut aufgelegt«, wo es im Prosastück Freiburg, 1919 erschienen, mitteilt, nunmehr mit Bleistift zu schreiben, und nicht etwa mit »scharfer Stahlfeder«.105 Der Werkprozessor steckt nun nicht mehr ›in der Tinte‹. Was das aber für eine ›Tinte‹ gewesen war, zeigt sich im Brief an den Hermann Meister Verlag aus dem Mai 1919: »Ich freue mich, Ihnen hier ein Bruchstück aus einem Roman für ›Saturn‹ anbieten zu können. Das Stück ist aus dem Bleistiftentwurf und konnte nicht in die Reinschrift aufgenommen werden aus technischen Gründen.«106 Technische Gründe werden bekanntlich immer dann angeführt, wenn es ein Malheur gegeben hat, das nicht gut offiziell verlautbart werden kann. Im Text Der neue Roman, bereits im März 1916 in der Neuen Zürcher Zeitung, im Band Poetenleben dann im November 1917 erschienen, hatte es im Rückblick auf die Berliner Zeit des Autors, die 1913 geendet hatte, geheißen: »Ich war so unklug und unvorsichtig gewesen, durchblicken zu lassen, dass mir unter der
104 | Walter van Rossum: »Schreiben als Schrift«, S. 239. Das Palimpsest ist ein Dokument, in dem ältere Schriften entfernt und/oder von neueren überschrieben sind. Gérard Genette verwendet den Begriff des Palimpsests für die Intertextualität von Texten: »Wir gehen vom allgemeinen Begriff eines Textes zweiten Grades […], d.h. eines Textes aus, der von einem anderen, früheren Text abgeleitet ist. Diese Ableitung kann deskriptiver und intellektueller Art sein, […]. Sie kann aber auch ganz anders geartet sein, wenn B zwar nicht von A spricht, aber in dieser Form ohne A gar nicht existieren könnte, aus dem er mit Hilfe einer Operation entstanden ist, die ich, wiederum provisorisch, als Transformation bezeichnen möchte, und auf den er sich auf eine mehr oder weniger offensichtliche Weise bezieht, ohne ihn unbedingt zu erwähnen oder zu zitieren.« Anders gesagt geht es »um jede Beziehung zwischen einem Text B […] und einem Text A […], wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.« Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M. 1993, S. 14f. 105 | SW 16/310. 106 | Brief vom 8. Mai 1919 an den Hermann Meister Verlag, in: Br, S. 167.
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Feder oder unter dem Federhalter ein neuer großer Roman hervorfließe./ Jetzt saß ich in der Tinte.«107 Das Beschämende einer Inkontinenz, die in der Wortwörtlichkeit des Feder-Halters gut versteckt, aber eben dennoch angedeutet ist, wird bereits im nächsten Satz vom Witz aufgefangen, der mit einer Redewendung entsteht, die den allzu deutlichen physischen Sinn in den übertragenen des ›Missgeschicks‹ übersetzt – womit man aber zugleich bereits wieder ›beim Thema‹ wäre. Denn obwohl oder gerade weil gar keine Tinte geflossen oder ›hervorgeflossen‹ ist, der Autor nur eben seine Zunge nicht hat hüten können, sitzt er sprichwörtlich ›in der Tinte‹ – und der gar nicht vorhandene Fleck ist auch weiterhin nicht auszuwetzen. Dass Robert Walser im selben Brief an den Hermann Meister Verlag nun die Zusammenstellung von zwölf Stücken für ein »Doppelbändchen« mit dem Titel Kleine Malerei erwähnt, scheint in diesem Zusammenhang nicht zufällig. In der Malerei sind Flecken sanktioniert; hier darf es, hier muss es Flecken geben. Der Schreibauftrag, der Materialauftrag wird mit der Kleine[n] Malerei zum Farbauftrag. Und das weist – in der Polysemie des Wortes ›Auftrag‹ – auf jenen »Bleistiftauftrag« voraus, von dem Robert Walser im Brief an Rychner vom 20. Juni 1927 sprechen wird. Das Schreiben aus dem »Bleistiftauftrag« wird darin, in beiderlei Sinn des Wortes, literal und übertragen, Stoff und Direktive sein. Der Bleistift lässt beides interferieren. Im »Bleistiftgebiet« gebietet eben nur noch der Bleistift über die Modalität der Inskription, die nicht Inschrift ist, nicht Ritzung und nicht Kerbung, kein Kainsmal. Oder doch? Der Text Freiburg spricht auch aus, was, entgegen allem Anschein, für die gesamte Bieler Prosa gilt: dass nämlich diese Idyllen »gestörte Idyllen« sind.108 Es ist in diesem Text Freiburg – durchaus doppeldeutig – die Rede davon, »ohnmachtmäßig zu schwärmen«.109 Und weiter heißt es signifikant: »Man tappte bei jedem Schritt im Sagenhaften. Kleists Novellen schienen hier zu leben.«110 Der Dramatiker und Kritiker Hermann Bahr wird in der Antwort auf eine Umfrage im Oktober 1927 zu Heinrich von Kleists Wirkung und Wiederentdeckung zu Zeiten des Ersten Weltkriegs konstatieren: »Erst im Weltkrieg, gar aber nach dem Kriege, begann die Nation, sich auf ihn zu besinnen, […] Diese Jugend fühlte sich durch ein unfaßliches Erlebnis verstört, und, nach Entwirrung einer ungerechten Not verlangend, fand sie Trost an Kleist, der ja stets auf Entwirrung seines verwirrenden Schicksals drängt. […] Er lebt nicht bloß als Dichter fort, sondern seine Dichtung geht heute leibhaftig mitten unter uns.«111 107 | SW 6/93. 108 | Vgl. Jens Tismar: Gestörte Idyllen. Über Jean Paul, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, München 1973. 109 | SW 16/311. 110 | SW 16/313. 111 | Hermann Bahrs Antwort auf die Umfrage »Wie stehst du zu Kleist?« in der Oderzeitung vom 18. Oktober 1927; zit.n. Peter Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 88f. »Ob Goethe oder Hofmannsthal, Hölderlin oder Rilke – sie alle waren
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Die literarischen Assoziationen angesichts der »sogenannten ›Kleinstadt‹« Freiburg in Robert Walsers gleichnamigem Text reichen jedoch noch weiter: vom Dornröschen, über Ninon de Lenclos (von Karl Walser im Beginn des Jahrhunderts illustriert und von Franz Blei mehrfach rezensiert), bis hin zu Cervantes’ Roman Don Quijote, der, wie erwähnt, Schiller für sein Drama Die Räuber als Vorlage gedient hatte. Cervantes findet auch in Robert Walsers Text Tobold (II) und in einem Brief vom 30. Juni 1918, während der mutmaßlichen Entstehungszeit von Freiburg, Erwähnung.112 Die Assoziationen im Text Freiburg schließen überdies Friedrich gleichermaßen Zeitgenossen im deutschen Pantheon« dieser Zeit, schreibt Peter Gay, S. 96, über die Weimarer Republik. Die genannten Dichter waren Zeitgenossen im Pantheon eines Landes, das ein gutes Jahrhundert zuvor von der Französin Germaine de Staël als ›Land der Dichter und Denker‹ bezeichnet worden war. Vgl. ebd., S. 98. Welche Bedeutung der literarischen Vorliebe für Kleist schon zu Beginn der 1920er Jahre allerdings auch gegeben wurde, zeigt sich in einem Aufruf der 1920 gegründeten Kleist-Gesellschaft, der unter anderem Max Liebermann angehörte. In diesem Aufruf, der aus dem Februar 1922 datiert, wird es heißen: »Zu Kleist stehen heißt deutsch sein!« Zit. ebd., S. 89. Auch Walter Muschg wird am 13. September 1925 in der Neuen Zürcher Zeitung schreiben: »Neben Hölderlin scheint Kleist der Abgott jener Deutschen zu werden, welche heute mit tiefer Leidenschaft in das Innerste ihres Volkes Eingang suchen.« (Zit. ebd., S. 90.) »Das sollte beruhigend wirken«, schreibt Peter Gay, »war aber tatsächlich unheilverkündend; denn die sogenannten besseren Interpreten Kleists verliehen nur der Verliebtheit in den Tod, die im deutschen Denken eine so bedrückende Rolle spielte, neues Ansehen« (ebd., S. 90). Im selben Jahr 1925 bewertet Stefan Zweig den Dichter folgendermaßen: »Kleistens Leben ist nicht Leben, sondern einzig ein Zujagen auf das Ende, eine ungeheure Jagd mit ihrem tierhaften Rausch von Blut und Sinnlichkeit, von Grausamkeit und Grauen, […].« Kleists früher Freitod sei, so schreibt Stefan Zweig hier in unüberbietbarem Zynismus, ebensosehr ein Meisterwerk wie der Prinz von Homburg. (Zit.n. Peter Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 91.) »Wenn solche Düsternis schon die vom Geist Weimars erfüllten Kritiker beherrschte«, schreibt Peter Gay hierzu, »dann kann man sich die Gefühle vorstellen, die Kleistleser auf dem rechten Flügel beseelten.« (Ebd., S. 91.) Und bekanntlich haben in der Tat eben auch die Nationalsozialisten Kleist für sich in Anspruch genommen. Doch fragt Peter Gay: »Waren die Dichter nicht eher Spiegel als Ursache? Die Frage ist schwer zu beantworten, aber soviel steht fest: sowohl vor als auch während der Weimarer Republik besaß die Poesie eine merkwürdige Macht über die Phantasie der Deutschen.« (Ebd., S. 95.) Stefan Zweig wird dies in Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers in Bezug auf die Jahre des Ersten Weltkriegs später folgendermaßen pointieren: »Das Wort hatte damals noch Gewalt.« (Zit.n. Peter Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 94.) Genau dieser ›Wortgewalt‹ aber gilt Robert Walsers Skepsis. 112 | Vgl. Robert Walsers Text Tobold (II), SW 5/224-258, und den Brief vom 30. Juni 1918 an Frieda Mermet, in: Br, S. 134, sowie darüber hinaus die Erwähnung der Geburtsstadt des Dichters Cervantes im Text Über eine Art von Duell (SW 17/167).
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Schlegels Roman Lucinde113 ein, der 1799 als erster Teil eines Fragment gebliebenen Werks erschienen war, das 1907 ebenfalls Thema einer Rezension von Franz Blei gewesen war. Die literarische Reminiszenz ist bei Robert Walser jedoch nicht nur Abkehr vom autoritären, unbelebten Dichterwort – so scheinen Kleists Novellen eben zu »leben« –, sondern von einer quasi-sakralen Stilisierung der Autorschaft. So ist der Autorname Schlegel nicht genannt. Die vielen literarischen Reminiszenzen im Text Freiburg bilden jedoch selbst bereits 113 | Friedrich Schlegels Brief über den Roman in seinem Gespräch über die Poesie postuliert eine Theorie des Romans, die selbst ein Roman würde sein müssen. Insbesondere der heterogene Mittelteil des Schlegelschen Romans Lucinde, »Lehrjahre der Männlichkeit«, der aus Erzählung, Brief usw. besteht, korrespondiert hierzu – und weist zugleich auf das berühmte Athenäum-Fragment Nr. 116, das nahezu vollständig zitiert sein soll: »Die romantische Poesie«, heißt es dort, »ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte [sic!] Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, […] bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltende Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; […] Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.« Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 182f.
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einen impliziten Verweis auf Friedrich Schlegel aus, und zwar gerade in ihrer Heterogenität. An seinen Bruder hatte Schlegel am 6. März 1796 geschrieben: »Die Reinheit ist mir schon durch die Gegenstände unerreichbar. Wenn man vielerley Gedanken, auch wohl Schriftstellen von ganz heterogenem Ton anführen muß, so wird das Ganze dadurch bunt. Die einzige Möglichkeit, dann noch eine schöne Einheit hineinzubringen, ist daß man über das Ganze Urbanität – einen liberalen Ton, Festivität zu verbreiten weiß.«114 Als »Muster« des von ihm angestrebten »Styls« erscheinen Schlegel in seinem Brief dabei die Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache des adressierten Bruders August Wilhelm Schlegel. Diese Art festlicher Versammlung, in der alles Schriftstellern, in der alle ›Stimmen‹, alle Werke, ihre Autoren und Figuren, in republikanischer Manier mitsprechen dürfen, scheint dabei das genaue Gegenteil von einem »Programm« zu sein, das Robert Walsers Text Freiburg in einer zwar dezent sprachkritisch argumentierenden, doch darum nicht weniger dezidierten Ablehnung verwirft: »[…]. Menschengeschichte ist hier greifbar./Wir kehrten heim. In Bern gab es einen Tee- und Plauderabend, das stand fest auf dem Programm. Letzteres ist kein urwüchsiges Wort. Ich weiß nicht, woher es stammt. Wörter gibt’s, die dich augenblicklich um klanglicher Bedeutung willen anheimeln. Andere haben etwas Ärmliches in üblem Sinne an sich.«115 »Ärmliches« ist in Robert Walsers Thesaurus, in seinem Wortschatz nicht per se abwertend. Immer kommt es auf die Valenz an, die dem Wort – hier mit dem ›üblen Sinne‹ – gegeben oder beigegeben ist. Und jedenfalls scheint dem elitaristischen »Programm«116 üblicherweise ein zu großes gewisses Gewicht beigemessen zu werden. In der Tat ist es ja vom griechischen ›gramma‹ beschwert, das auf das eingeritzte Schriftzeichen weist; 114 | Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 23, S. 288 (Hervorh. v. FS). Marianne Schuller zitiert in ähnlichem Sinne in ihrer Studie über Romanschlüsse in der Romantik, S. 56f., Anm. 106, Novalis: »Die Poesie ist eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck ist. Wo alle Theile freye Bürger sind, und mitstimmen dürfen.« 115 | SW 16/313. 116 | Auf welches konkrete »Programm« Robert Walsers Text anspielen könnte, bleibt verborgen. Was jedenfalls die zeitgenössischen Expressionisten betrifft, so waren diese, so Peter Gay in Die Republik der Außenseiter, S. 141, im Kapitel über die Jahre des Expressionismus als Revolte der Söhne, »zwar nach bestem Wissen bemüht, der Revolution zu dienen, doch waren sie durchweg revolutionär, ohne politisch zu sein oder doch jedenfalls ohne ein Programm zu besitzen«. Das allerdings gilt wohl nicht für die expressionistischen Dramatiker, deren Stücke, wie Peter Gay, S. 148, formuliert, »viel Leben, wenig Eleganz und überhaupt keinen Humor« besessen hätten. So sei in Berlin, ebenso wie in der Provinz, »die deutsche Bühne zeitweilig zur Kanzel« geworden. Als die bemerkenswertesten, expressionistischen Dramen nennt Peter Gay dabei zwei Stücke, die im Jahre 1917 entstanden: Walter Hasenclevers Antigone und Fritz von Unruhs Ein Geschlecht, die beide mit dem Krieg ringen und – skeptisch – nach einer neuen Zeit Ausschau halten. Ebd., S. 151.
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doch mit dem Programm ist auch die Programmschrift, das Manifest aufgerufen, das im Beginn des 20. Jahrhunderts, bevor es 1912 durch die Futuristen in die avantgardistische Kunstpraxis übernommen wurde, durchaus noch eine ursprüngliche Wortbedeutung bewahrt hatte. Das Manifest ist darin die vom Staatsoberhaupt herausgegebene Amtsdruckschrift, die einen gerade begonnenen Krieg gegenüber den Untertanen rechtfertigen soll. Das Programm, das Manifest – die Wortreihe führt auf den Krieg. Auch die bereits im Incipit von Freiburg angesprochene Gleichnamigkeit von zwei Städten – hier die eine, im Badischen gelegen, dort die andere, Ziel des Ausflugs und in der Schweiz – lässt sich als Reflex und Reflexion auf den Ersten Weltkrieg verstehen, der sich, wie erwähnt, auch in der im Übrigen allerersten expliziten Erwähnung der Bleistiftschrift wiederfinden lässt: »Die Sache ist, daß ich gut aufgelegt bin, erstens, weil ich statt mit scharfer Stahlfeder bloß mit Bleistift schreibe, […].«117 Die Feder ist nicht etwa spitz oder ›spitzig‹ (in diesem anachronistischen Wort, das bei Robert Walser negative Konnotationen hat); gespitzt ist vielmehr – und zwar so, wie Ohren gespitzt sein können – der Bleistift: »Ich spitze hier den Stift neu, da die Spitze im allzu harten Schreib- und Denkeifer brüsk abbrach, wovor ich erschrak.« Mit der Bleistiftspitze ist nun doch die Rede von einer metaphorischen Spitze, bei der mittels der Sprache brüskiert, und das heißt ein Abbruch der Beziehung riskiert wird. Das Abbrechen der Bleistiftmine verstört, wie das Ende einer Beziehung, die beim Schreiben, so der Bleistift in genügendem Maße stumpf war, entstanden ist. Die Feder dagegen ist aus Stahl, und zwar aus demselben Stahl, aus dem Waffen gemacht sind; und sie ist scharf – wie Munition. Die Materialbeschreibung bildet durchaus einen Verweis auf die ›Materialschlacht‹ des Ersten Weltkriegs. So ist etwa an Ernst Jüngers Frontbericht In Stahlgewittern zu denken. Bei Robert Walser hingegen heißt es: »– Ursprünglich war Freiburg eine deutsche, heute jedoch ist’s eine französische Stadt./ Macht das etwas? Geniert uns das? Mich absolut nicht! Ich kann welsch und deutsch reden hören und finde beides ganz appetitlich. Ich will aber ernstlich aufpassen, daß ich nicht in ein Schwabulieren gerate./Die Sache ist die, daß ich gut aufgelegt bin, erstens, weil ich statt mit scharfer Stahlfeder bloß mit Bleistift schreibe, […].«118 Das Prosastück Freiburg ist im Jahre 1919 in dem von Hermann Hesse herausgegebenen Alemannenbuch erschienen, in dem auch der Herausgeber der Weissen Blätter René Schickele vertreten sein wird, und es lässt deutlich einen Bezug hierzu erkennen. Was mit den (in diesem Kulturraum gesprochenen) unterschiedlichen Sprachen zu Ohren kommt, scheint gleichermaßen »appetitlich«, es bringt dabei die nur ironisch beschworene Gefahr mit sich, ins »Schwabulieren«, das heißt in eine Kontamination zu geraten. Und diese Kontamination ist auch Kontamination der Arbitrarität des Zei-
117 | SW 16/310. 118 | Ebd.
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chens durch eine Motivation, die im Kontext entsteht.119 Das ›Schwadronieren‹, das abgeleitet ist aus einem Fechterausdruck, der ein wildes planloses Fechten bezeichnet, ein Umsichschlagen mit der Waffe,120 und natürlich auch die militärische Schwadron figuriert, amalgamiert dabei mit einem Schnabulieren oder auch Fabulieren. Und mit Robert Walsers »Schwabulieren« und dem Synonym des ›Schwafelns‹ ist man zugleich fast schon in Schwaben, wo gleich nebenan Baden liegt und das nach dem Ersten Weltkrieg an Frankreich gefallene Elsass. Man ist im Alemannischen. Auch das Schwabulieren führt zum anderen Freiburg hin, zur namensgleichen, vom Krieg jedoch ungleich anders getroffenen Stadt im Breisgau, auf die aus feindlichen Flugzeugen und Luftschiffen im Ersten Weltkrieg Bomben gefallen waren. Mit dem Buchstaben ›w‹, der sich ins angeregte Schnabulieren und Fabulieren hineingeschoben hat, werden Nachkriegsgrenzen frei passiert, um desto genauer, wenn auch indirekt, Kriegsfolgen zu markieren, die mit der Annektion von zuvor anders besiedelten Territorien zu tun haben, mit der Zerschneidung eines polyglotten, phantasiebelebten Kulturraums durch neu eingezogene, abstrakte Staatsgrenzen. Treibt also die Schwärmerei, die im Text Freiburg »ohnmachtmäßig« ist, erst in die Ohnmacht hinein oder entstammt sie ihr nicht vielmehr selbst? Es gilt genau ›hinzuhören‹, um den überleisen, traumatisierten Ton vernehmen zu können: »Auf der hellen, feinen Anhöhe, die dicht über der Stadt liegt, war es an sonnigen Vormittagen so schön, wie ich Mühe hätte zu sagen. Stahlfedern sowohl wie Worte sind in dieser Hinsicht höchst unzulänglich.«121 Unvermittelt folgt im Text Naturstudie nun das Aufziehen eines Gewitters; und in die Wohnung, in die man sich geflüchtet hat und deren Atmosphäre »mit einem Hauch von geschichtlicher Melancholie, der mir nur zu zart war«,122 beschrieben ist, setzt sich die Gedrücktheit und feuchte Dumpfheit des schwelenden Gewitters fort, dem man, während aus der Natur »ein Wühlen, leises Toben, dumpfes Krachen hervorzubrechen«123 schien, gerade noch entkommen war. »Flucht, Staub, dichter Rauch, schwüler Wind«124 119 | Grundsätzlich hierzu Jonathan Culler: Dekonstruktion, S. 211f. Jacques Derrida fragt, so Culler, »ob diese Kontamination des arbiträren Zeichens durch Andeutungen von Motivation, durch die Möglichkeit der Remotivation vielleicht doch nicht zufällig und damit ausschließbar, sondern von der Arbeit der Sprache gar nicht zu trennen ist. […] Arbiträre Zeichen des linguistischen Systems könnten Elemente eines umfassenden literarischen oder diskursiven Systems sein, in dem Effekte der Motivation, Demotivation oder Remotivation immer wieder vorkommen und in dem Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Signifikanten oder Signifikanten und Signifikaten immer zu bewußten oder unbewußten Effekten führen können.« 120 | Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 15 (Schiefeln-Seele), S. 2176. 121 | SW 7/71. 122 | Ebd. 123 | Ebd. 124 | SW 7/173.
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– diese Art eines tumultuarisch aufziehenden Verhängnisses, das der Vertreibung aus dem Paradies nachgebildet scheint – ist auch im Text mit dem Titel Hans, wie es dort heißt, »ein beängstigendes und zugleich reizendes Gemälde«.125 Und in der Naturstudie – wie der Text Hans im Band Seeland enthalten – wird zwar gegenüber dieser Latenz von Detonationen das sonnige Bild beschworen, nicht der Donner und das ›donnernde Wort‹. Es insistiert, trotz der doppelten Unzulänglichkeit, sowohl der Worte als auch der »Stahlfedern«, zu denen die singuläre »Feder« hier nun pluralisiert ist, die Idylle. Doch ist diese Idylle beinahe unmerklich überlagert von etwas anderem, von einem anderen Beben, von einer anderen Erschütterung, die allerdings keine Naturerscheinung und schon bald für niemanden mehr als Manifestation eines Gotteswortes zu lesen war. Auch in stereotypen Formen der Kriegsnovelle kündigt sich der Erste Weltkrieg oft durch ein Gewitter an.126
II.5 D IE F R AGE NACH DER A R ABESKE Für den Autor Robert Walser ist seit der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs weniger denn je irrelevant, mit welchem Werkzeug die Schrift entsteht, und welche Form die Schrift damit annimmt. Nicht nur das ›donnernde‹ Wort, auch die prunkende Schrift ist nun gemieden. So ruft das poetische Ich im Blick auf eine »Bäckerei mit Goldinschrift« in der zweiten Fassung des Textes Der Spaziergang im Band Seeland »spontan«, wie es im Text heißt, aus: Stehen goldene, weithin glitzernde, abscheulich leuchtende Buchstaben in irgendeinem annehmbaren, ehrlich gerechtfertigten Verhältnis und in irgendeiner gesunden verwandtschaftlichen Beziehung zu – Brot? Mitnichten! […] Zum Teufel mit der miserablen Sucht, mehr zu scheinen, als was man ist. Eine wahre Katastrophe ist das, die Kriegsgefahr, Tod, Elend, Haß und Verwundungen auf der Erde verbreitet und allem, was existiert, eine verwünschenswerte Maske von Bosheit und Häßlichkeit aufsetzt.127
Die Geltungssucht ist es, die allem eine »Maske« von Bosheit und Hässlichkeit aufsetzt, es sind nicht die unangemessen aufdringlichen Schriftzeichen selbst, die dies tun. Und doch scheinen die Buchstaben exakter Ausdruck dessen zu sein. Anders ist dies bei Ferdinand de Saussure zu eben dieser Zeit formuliert, er fasst im kanonisch gewordenen Werk Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, das aus seinen in den Jahren 1906 bis 1911 gehaltenen Vorlesungen als eine Art »Nachschaffung«, in einer »Aneig125 | SW 7/176. 126 | Vgl. Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986, S. 18. 127 | SW 7/15.
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nungs- und Wiederherstellungsarbeit«128 seiner Adepten hervorgegangen und 1916 in französischer Sprache erschienen war, zwar das Lautbild und die Vorstellung, den Signifikanten und das Signifikat, als untrennbar voneinander auf: »das sprachliche Phänomen zeigt stets zwei Seiten, die sich entsprechen und von denen die eine nur gilt vermöge der andern«, und »in Wirklichkeit ist die Verbindung, welche diese beiden Dinge eint, so eng, daß man Mühe hat, sie zu trennen«.129 Zwar ist Sprache dieses doppelt artikulierte System und unterscheidet sich darin genau genommen von den Codes.130 Und die Sprache, die »kein Wesen ist und nur in den sprechenden Subjekten existiert«,131 ist für Saussure »vergleichbar mit einem Blatt Papier: das Denken ist die Vorderseite und der Laut die Rückseite; man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden«.132 Doch gilt auch: »die Sprache ist ein System, das nur seine eigene Ordnung zuläßt«;133 »die Sprache ist eine Übereinkunft, und die Natur des Zeichens, bezüglich dessen man übereingekommen ist, ist indifferent.«134 Man kann die Sprache, so Saussure, einer »Symphonie vergleichen, deren Realität unabhängig ist von der Art und Weise, wie sie aufgeführt wird«,135 und das gilt auch und insbesondere für die ›materielle‹ Beschaffenheit der Schrift, die als der Sprache äußerlich gedacht ist, weil sie das System Sprache nicht verändert; Schrift ist »dem inneren System fremd«:136 Da das graphische Zeichen arbiträr ist, so liegt nicht viel an seiner Form, oder vielmehr ist diese nur innerhalb der von dem System gezogenen Grenzen von Bedeutung. Das Material, mit dem die Zeichen hervorgebracht werden, ist gänzlich gleichgültig, denn es berührt das System nicht […]; ob ich die Buchstaben weiß oder schwarz schreibe, vertieft oder erhöht, mit einer Feder oder einem Meißel, das ist für ihre Bedeutung gleichgültig.137
Diese Indifferenz angesichts des Materials, mit dem Zeichen hervorgebracht werden, scheint für Robert Walser, in seiner Präferenz für den Bleistift,
128 | Vgl. Vorwort der Herausgeber Charles Bally und Albert Sechehaye in Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], 2. Aufl., Berlin 1967, S. IXf. 129 | Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 9f. 130 | Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 75. 131 | Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 6, Anm. 1. 132 | Ebd., S. 134. 133 | Ebd., S. 27. 134 | Ebd., S. 12. 135 | Ebd., S. 21. 136 | Ebd., S. 28. 137 | Ebd., S. 143.
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nicht mehr zu gelten. Bleistiftspuren sind leicht zu löschende Spuren,138 sie »sind stets Spuren von etwas Verschwundenem und ihrerseits vom Verschwinden berührt«.139 Auch die präferierte Form der Idylle ist, als Flucht aus der Gegenwart, Flucht aus der Zeit140, um mit Hugo Balls Titelwort aus diesen Kriegsjahren zu sprechen, in der Bieler Prosa Robert Walsers Firnis einer Resistenz, die eskapistisch ist, sich aber zugleich dem dunkelsten, schwierigsten Kapitel nicht nur der eigenen, sondern aller Geschichten stellt: der Initiation ins Symbolische als einer »Zuspitzung des Kampfes zwischen Setzung-Trennung-Identifizierung«141, die mit der am Vorabend 138 | Vgl. Harald Henzler: Literatur an der Grenze zum Spiel. Eine Untersuchung zu Robert Walser, Hugo Ball und Kurt Schwitters, Würzburg 1992, S. 42. 139 | Micha Brumlik: Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot, Hamburg 2006, S. 116. 140 | Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, hg. und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Echte, Zürich 1992. 141 | Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 56. Kristeva sucht die Sphäre aufzuzeigen, »die für den Prozeß des Subjekts grundlegend ist und die mit der Heraufkunft der Bedeutung, das heißt des Symbolischen, verdunkelt wird« (ebd., S. 51). Die »Texterfahrung«, das Schreiben ist nach Kristeva »eine der kühnsten Erkundungen, die sich das Subjekt leisten kann: Erkundung des Prozesses, der es konstituiert«. Die ›Kunst‹ besteht dabei »gerade darin, mit der Negativität das Thetische zu überschreiten und aufzureiben und es dennoch nicht aufzugeben« (ebd., S. 77ff.). Und dabei ist es »die poetische Sprache, die heraufbeschwört, was immer schon ihre Funktion war: in und durch das Symbolische einzuführen, was eben dieses Symbolische bearbeitet, durchkreuzt und bedroht« (ebd., S. 90). Diesem Durchbruch droht dabei immer wieder auch die Verschüttung bzw. Refetischisierung (ebd., S. 94), denn: »Jede Verbalisierung registriert das Verwerfen als eine Folge von Differenzen, sie fixiert es und verliert es damit« (ebd., S. 129). Das Rütteln an einer überkommenen Sprachordnung, die Negativität, das »Verwerfen«, wie Kristeva es mit Bezug auf Freuds Aufsatz zum ›Wolfsmann‹ auch nennt und das Freud selbst als Todestrieb identifiziert hat, »richtet sich gegen die Fixierung der Sinnbildung in Einheiten, die auch Bedingung ist für die Koppelung der Einheiten zu Oppositionspaaren« (ebd., S. 131; Hervorh. v. JK). Dieses Verwerfen »geht dem Symbolischen voraus, ist seine Bedingung und sein Verdrängtes zugleich« (ebd., S. 153). »In dem Maße, wie das Verwerfen destruktiv, ›Todestrieb‹ ist, ist es auch der Mechanismus von Wiederbelebung, Spannung und Leben; indem es einen Zustand des Gleichgewichts zwischen Spannung, Trägheit und Tod anstrebt, perpetuiert es Spannung und Leben.« (Ebd., S. 155; Hervorh. v. JK.) Und: »Vermutlich ist dann das, was sich als ›Tod‹ darstellt – viele ›literarische‹ Texte sprechen dafür –, nichts anderes als die Verbalisierung des Verwerfens, jenes vielfachen Bruches, der jede Einheit, auch die des Körpers, erfaßt […]. Insofern diese Spaltung, die Freud ins Es oder ins Unbewußte verlegt, in der Differenzierung des symbolischen Spiels zum Ausbruch kommt, läßt sich behaupten, daß der Sinngebungsprozeß kein Unbewußtes hat: der Text hat kein Unbewußtes.« Ebd., S. 165f.; Hervorh. v. JK.
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des Ersten Weltkriegs vollzogenen Rückkehr ins Vaterland neu beschworen scheint. Diese Rückkehr ist im Text Heimkehr im Schnee geschildert. Sie ist die Rückkehr aus einer »Gegend«, die mit einer »Bestürzung« einhergegangen war, doch: »Zu keiner Stunde verhehlte ich mir, daß Sorgen bildend wirken und daß die Bestürzung, weil sie für uns hinderlich und unangenehm sei, den Charakter kräftige.« Die Gegend, die Anlass zur Bestürzung gab, ist selbst so auch nicht etwa schuldig gesprochen: »so klage ich damit die Gegend, von der ich rede, nicht im geringsten an, wozu ich keinen Grund hätte«. Doch nicht nur das Konjunktivische zuletzt im Satz (es heißt nicht: ›wozu ich keinen Grund habe‹) stellt das Fehlen des Grunds zur Klage in Abrede. Die deutsche Reichshauptstadt, aus der man geflüchtet war, ist im Text Heimkehr im Schnee jedoch nur metonymisch angespielt; beim Namen ist die Stadt – wie einiges andere auch – nicht genannt. Berlin, als Stadt, aus welcher der Exodus erfolgt war, ist – wie später das »Bleistiftgebiet« – eine »Gegend«, ein Territorium. Der Text aber zeigt ansonsten durchgängig eine Art abgründiger Ironie: »Vor allen Dingen möchte ich aber zeigen, wie sehr ich bemüht sei, erkennen zu können, daß es kein wünschenswerteres Vergnügen im Leben gebe als Anerkennung zu zollen und zu den mannigfaltigen wohlwollenden Erscheinungen, die man sehen und erleben durfte, ja zu sagen. Über Hauptstädte und Plätze, wo die verschiedenartigsten Bedeutungen und die besten Leistungen einer Nation wie zu feierlicher Nationalversammlung aus allen umliegenden Richtungen zusammenströmen, sich anders als höchst sorgfältig und ehrerbietig zu äußern, muß jedem behutsam Denkenden zweifellos unmöglich erscheinen.«142 Hier wird die Erwartung, es gäbe »kein wünschenswerteres Vergnügen im Leben« als Anerkennung zu erhalten (und nicht etwa zu »zollen«, wie es im Text heißt), enttäuscht. Und schließlich war »ein regelrechtes harmloses Einkommen noch lange nicht gewonnen«, eines, das vor der Folie eines ›wenn auch bescheidenen, so doch regelgerechten Einkommens‹ zu verstehen wäre. Und so ist eben nicht ›ins Reine‹ zu kommen: »und da es mich drängte, in eine gewisse Reinlichkeit mit mir zu kommen, einig in erster Linie wieder mit mir selber zu werden, so beschloß ich, mich von einer Existenz, auf die ich mich nicht verlassen konnte, sorgsam loszulösen und zurückzugehen. Mir erschien ratsam, in die Einsicht zu beißen, die bekanntermaßen bitter schmeckt.«143 Selbst der sprichwörtlich ›saure Apfel‹, als Metapher bitterer Einsicht, ist entzogen. Es wird in die »Einsicht« selbst gebissen, die als Abstraktum wahrlich »bitter« schmecken muss. »Langsam ging ich heim«, heißt es über einen Ablösungsprozess, der zum Prozess einer Annäherung wird: »Auf dem Heimweg, der mir herrlich vorkam, schneite es in dichten, warmen, großen Flocken. Es war mir, als höre ich es von irgendwoher heimat-
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artig tönen.«144 Im ›Lied der Erde‹145, das nun – in der Gegenwartsform – zu hören ist, in Form einer neuen Poetisierung der Welt, überlagern sich dabei zwei Zeiten als Jahreszeiten: »Fast schien mir, als singe die Erde ein liebliches Weihnachts-, doch zugleich auch schon ein Frühlingslied. In der Dunkelheit stand plötzlich eine graue, große Gestalt vor mir am Weg. Es war ein Mann. Riesenhaft kam er mir vor. ›Was stehst du hier?‹ fragte ich ihn. ›Ich steh hier fest! Kümmert’s dich?‹ gab er mir zur Antwort.«146 Der Mann, die graue Gestalt, gibt Antwort, doch das Rätsel, das seine Gestalt bildet, bleibt. Die eigene Ankunft aber gestaltet sich als Rückkehr auch des Lachens: »Ich hielt mich jedoch keineswegs für niedergeworfen, hatte vielmehr den Einfall, mich Überwinder zu nennen, worüber mich ein Lachen ankam. Mantel hatte ich keinen an. Ich nahm schon den Schnee für einen prächtig wärmenden Mantel.« Der Anklang an Friedrich Nietzsche im Wort »Überwinder« mündet in ein Lachen. Und nicht nur dieses Lachen wärmt. Auch der Schnee ist ein »Mantel« oder aber kann als solcher genommen werden. Er ist Substitut einer Hülle und Umhüllung, wie sie – lediglich vom Absatz unterbrochen – gleich darauf im Text als Einhüllung durch die heimatliche Sprache, den Dialekt deutlich wird: »Bald würde ich 144 | SW 16/304. 145 | Das ›Lied der Erde‹ erinnert nicht nur an Gustav Mahlers Zyklus Das Lied von der Erde, sondern auch und vor allem an Joseph von Eichendorffs Gedicht mit dem Titel Wünschelrute, das David Wellbury kommentiert hat. Der Vierzeiler von Eichendorff lautet: »Schläft ein Lied in allen Dingen,/Die da träumen fort und fort,/Und die Welt hebt an zu singen,/Triffst du nur das Zauberwort.« David Wellbery schreibt: »Die Welt alltäglicher Erfahrung wird als defizitärer Zustand postuliert, in dem das ›Lied‹, das den Dingen zugrundeliegt und als ihr wahres Wesen zu gelten hat, in seiner Verstummung und schlafend-träumender Unbewußtheit verharrt. So gibt sich diese Welt als eine der ›Dinge‹ in ihrer verstreuten Mehrzahl und scheinbar objektiven Härte, als eine Welt der Nicht-Iche, so könnte man im Anklang an romantische Philosopheme ausführen, deren Gesetztsein durch das Ich zugedeckt und vergessen wurde. Erst mit dem Übergang in die zweite Welt gewinnen diese Dinge den Aspekt von Totalität, indem sich ihr singender Wesenskern aus der Verstummung und Unbewußtheit befreit. Auch zeitlich werden die beiden Welten von einander abgegrenzt: das ›fort und fort‹ des Träumens deutet eine ›lineare‹ Zeit an, die sich gleichsam in eine schlechte Unendlichkeit erstreckt, während das Singen der Welt, das sich mit dem punktuellen Treffen des Zauberworts verwirklicht, sich bar jeder temporalen Bestimmung als Infinitum aktualisiert.« Das Treffen des Zauberwortes als magische Handlung lässt den vorausgehenden Zustand als den eines Gebanntseins erkennen, aus dem das Zauberwort erlöst: »Eine Deutung dieses Zauberwortes als ›poetisches‹ Wort liegt dann auch nahe, wobei die ›erlöste‹ Welt, wiederum in Konformität mit romantischen Theorievorgaben, als ›poetisierte‹ Welt zu begreifen wäre.« David Wellbery: »Verzauberung. Das Simulakrum in der romantischen Lyrik«, in: Mimesis und Simulation, hg. v. Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg i.Br. 1998, S. 451-477, S. 456f. 146 | SW 16/304f.
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wieder die Eltern- und Geschwistersprache reden hören und den lieben Vaterlandsboden wieder betreten.«147 Der Boden ist paternal bestimmt und klar umgrenzt; die Muttersprache, als »Eltern- und Geschwistersprache«, ist dagegen weniger gut zu demarkieren. In Bezug auf das Geschlecht des Elternteils, der spricht, ist sie zweipolig; als Sprache von Mutter und Kind ist sie (zunächst asymmetrisch) bilateral; im Schweizerischen der Bieler Gegend, als einer Sprachgrenze, ist sie bilingual (französisch/deutsch), und überdies spielt für das Schweizerische der Unterschied zwischen Mundart und Schriftsprache eine Rolle, das Schriftdeutsche bildet gleichsam die mit den Institutionen verbundene Vatersprache, der Dialekt die Muttersprache – und zuletzt ist diese »Eltern- und Geschwistersprache« in einer großen Familie immer auch eine Polyphonie. Das dichte Schneetreiben, das die Heimkehr im Schnee als Verheißung der »Eltern- und Geschwistersprache« begleitet, zeichnet sich in diesem im Dezember 1917 veröffentlichten Text nicht in der substantivierten Form ab, in der es für den Text Schneien, der im Band Kleine Prosa bereits im April des Jahres 1917 erschienen war, Titelwort ist – und autoreferentielles Bild einer Dekonturierung des Erzählens nur zu sein scheint. Der Text Schneien wird einen deutlichen Bezug auf den Ersten Weltkrieg zeigen. Wie aber, so fragt Moritz Baßler, ist dem Leser der Vossischen Zeitung im Januar 1916, nach zwei Seiten Kriegsberichterstattung (»Französischer Misserfolg bei Le Mesnil«), beispielsweise Robert Walsers Text Reisekorb, Taschenuhr, Wasser und Kieselstein vorgekommen: »Gibt es überhaupt noch eine intellektuelle oder diskursive Verbindung zwischen dieser willkürlich aufzählenden, offensichtlich spielerisch-sinnlosen Textur und den erschütternden Tatsachenberichten über die größte Katastrophe des jungen Jahrhunderts, wie sie hier, nur durch den traditionellen Strich getrennt, unmittelbar nebeneinander stehen?«148 In Robert Walsers genanntem Text ist zu lesen: »Lieber Leser, Du gibst höchstwahrscheinlich gern zu, daß eine Uhr überaus lieblich und sympathisch ist. Trägen und untüchtigen Leuten, die ihre Pflicht zu versäumen pflegen, kann man sie prächtig als Muster vorsetzen. Eine richtiggehende Uhr erinnert mit ihrem zarten, lieben, feinen Geräusch an ein Mäuschen, das im Verborgenen raschelt und knuspert.«149 Der Reisekorb-Text, so analysiert es Baßler selbst, lässt sich auch als Horror-Text lesen: »das unausweichliche Ticken der Uhr und das knuspernde Mäuschen als traditionelle memento mori-Motive; scheinbar beiläufig kommt die grausige Vorstellung von einem Kopf, ›dort, wo ein Kopf nicht sein soll‹, ins Spiel, ebenso der Alp, zu laufen, als wolle man ›reißaus nehmen; bleibt aber immer hübsch am Ort‹«. Der Inhalt des Reisekorbs umfasst nicht nur Schauerromane, sondern auch eine Totenmaske, doch: »erst die Isolation der Lexeme im rhetorischen Katalog macht die Präsenz 147 | SW 16/305. 148 | Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910-1916, Tübingen 1994, S. 134. 149 | SW 16/331.
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der Gegenstände zu einer unheimlichen. Das Fehlen des geistigen oder menschlichen Bandes, so könnte man folglich interpretieren, ist die eigentliche Ursache des Grauens, und die Motive wirken bloß verstärkend.«150 Das narrative Band fehlt. Die Geschichten seien nicht in genügendem Maße ›geschichtenhaft‹, hatte Robert Walser in einem Brief an Richard Dehmel 1902 bereits selbst bekannt.151 Und ähnlich befindet Oskar Loerke in einer Rezension aus dem Jahre 1918, Robert Walser habe das Erzählen ›an sich‹ erfunden: »ohne Gegenstand. Mit Dingen, die niemand sonst des Berichtens für würdig hielte, fesselt, bezaubert, ergreift er. Die Stille tönt. Nicht die Idylle, denn diese sucht das abgegrenzt Einmalige auf«. Nur scheinbar »zweck- und pointenlos plaudernd«, sieht Loerke Robert Walsers Texte jedoch zugleich »beherrscht bis in die Silbe«.152 Der Topos der Gegenstandslosigkeit im doppelten Wortsinn, prominent auch in Walter Benjamins Text zu Robert Walser formuliert, wird sich in der Rezeption fortsetzen. So pointiert ihn nun Susanne Andres, in Bezug auf den erwähnten Text der Bieler Prosa, der den Titel Schneien trägt, und zwar als Robert Walsers arabeskes Schreiben.153 Auf diesen Text Schneien, in dem ein Kriegstoter figuriert und – vom Schneien – (wie traumatisch) defiguriert ist, wird weiter unten näher einzugehen sein. Nur so viel: Im Text Schneien, der in gewissem Sinne als ein textuelles ›Grab des unbekannten Soldaten‹ gelesen werden kann (und zwar avant la lettre – denn diese Denkmalsform oder ›Gattung‹ wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg begründet, nachdem in diesem Krieg so viele Gräber unbezeichnet und mithin atopisch geblieben, das heißt nicht zu einem Ort geworden waren), sitzt das, »was als Arabeske schlangenhaft der Semantisierung entgeht«,154 ihr zugleich – im Titel dieses Textes – in einem Anagramm unmerklich auf. Das Anagramm ist dabei mehr nur ein Paragramm, Buchstabenänderung in einem Wort – und nicht einmal das, denn was das Schneien in einem einzigen, halben Buchstaben nur – dem durchgezogenen Bogenstrich vom Buchstaben ›r‹ zum Buchstaben ›n‹ – buchstäblich überdeckt und wie mit einer Haube aus Schnee überzieht, ist das nicht semantisch gewordene 150 | Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 145f. 151 | Vgl. den Brief an Richard Dehmel vom 15. Juni 1902, in: Br, S. 15f. und Anm. S. 385f., wo Robert Walser in Bezug auf mögliche Beiträge zu dem von Richard Dehmel herausgegebenen, 1904 erschienenen Kinderbuch Der Buntscheck schreibt: »Gegebenen Falls würde ich Ihnen noch einige, vielleicht etwas längere, oder farbigere, oder geschichtenhaftere Geschichten einsenden können.« 152 | Oskar Loerke: »Poetenleben« [1918], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 125. 153 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 11-18. 154 | Anselm Haverkamp: »Anagramm und Trauma. Zwischen Klartext und Arabeske«, in: Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, hg. v. Susi Kotzinger und Gabriele Rippl, Amsterdam 1994, S. 169-174, S. 169 [als »Anagramm und Trauma. Die vergessene Markierung«, in: ders.: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a.M. 2002, S. 163-174].
II. S CHRIFT , M INIATUR UND P RÄFIGURATION
Schreien. Das Schreien ist, als eines der Verwundung wie der Klage ›unsichtbar‹, unlesbar hierin dennoch mitgeschrieben – wenn auch signifikant nicht im Sinne einer Inschrift, nicht im Sinne der Inskription eines vollständigen Buchstabens, sondern in einer gleichsam hierüber gelegten, aufgelegten Schicht, aus der das Schreien hervorschimmert – als ein verborgenes Paragramm. Das Schreien des Soldaten, die Klage der Hinterbliebenen schimmert, wie als ausgebrochenes Mal, wie als Erinnerung (an den anderen Buchstaben), von der Semantik evoziert, durch das Schneien, die Schneedecke, wie als andere Schriftschicht im Palimpsest, hindurch – eben wie das im Text beschworene Bild des Toten. Und was die These von der arabesken Gegenstandslosigkeit der Texte Robert Walsers betrifft, so tritt in der Kurzprosa Schneien nicht der Verlust einer Referenz, sondern vielmehr die (eben nicht deutlich markierte) Implikation einer Referenz ›hervor‹.155 Im Paradox eines erinnerten Vergessens ist eine schwer kenntliche Spur hinterlassen, welche gerade die Verdrängung des Todes und der Sterblichkeit markiert – jedenfalls dann, wenn die Spur denn gelesen worden sein wird.
155 | Vgl. ebd., S. 173.
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III. Hieroglyphen
In Gestalt der Mikrographie wird die Arabeske, die Susanne Andres als Metapher für die Struktur der Texte Robert Walsers exponiert hat, »zu einem weder les- noch lösbaren Liniendurcheinander«.1 Aber eben nur scheinbar. Zwar stellt die Schrift der Mikrogramme sich dem Wortsinn der poiesis als einer Hervorbringung, als der Schöpfung eines Werks (im Sinne von Platons Symposion, wo poiesis alles das ist, was die Ursache für etwas ist, vom Nichtsein ins Sein überzugehen2) entgegen. Das Schriftbild wird nicht zu jener »Schlacke«, die beim Lesen der Buchstabenschrift abfällt, wie Walter Benjamin in seiner im Jahre 1916 entworfenen Schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels schreibt.3 Zwar konnten die Texte schließlich entziffert werden, in gewissem Sinne aber bleiben sie weiter von dieser ›Schlacke‹ der Schrift umhüllt. Das »Liniendurcheinander« aber, von dem Andres spricht, konnte gelöst, es konnte gelesen werden. Für Walter Benjamin ist das Komplement zur Buchstabenschrift die Hieroglyphik des barocken Trauerspiels.4 Als Lesedrama zeige das barocke Trauerspiel eine »Ostentation der Faktur«,5 das Schriftbild wird darin zur »Signatur« des Geschriebenen, zum »Monogramm des Wesens« und geht ins Gelesene ein »als dessen ›Figur‹«.6 Benjamin folgt darin Johann Wilhelm Ritters Auffassung, »alles Bild sei nur Schriftbild«, einer Auffassung, die, so Benjamin, »mitten ins Zentrum allegorischer Anschauung« treffe.7
1 | Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 83. 2 | Vgl. Platon: Das Gastmahl oder Von der Liebe, übertragen und eingeleitet von Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1979, S. 78 [205A]. 3 | Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1993, S. 190. 4 | Ebd., S. 185. 5 | Ebd., S. 153ff. 6 | Ebd., S. 190. 7 | Ebd.
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Arbiträr gedacht, löst sich die Schrift dagegen vor dem lesenden Auge im Blick auf das Signifikat auf.8 Mit Ferdinand de Saussure ist das Zeichen 8 | Vgl. Aleida Assmann: »Alte und neue Voraussetzungen der Hierogylphen-Faszination«, S. 262. Ideogramme und Piktogramme fallen aus der von Saussure unter der Bedingung der Arbitrarität gedachten Schrift so auch heraus. Es gibt keine Schrift, solange gezeichnet und nicht bezeichnet wird. Für den französischsprachigen Schweizer Ferdinand de Saussure ist die Schrift dabei nicht nur eine Einkleidung der Sprache, sondern deren Verkleidung: pervers, korrupt, eine Festmaske, besonders dann, wenn die Verknüpfung von Schriftbild und Ding so weit geht, dass das gesprochene Wort durch eine Verkehrung zum Spekulum der Schrift zu werden droht, beispielsweise wenn ein Buchstabe auf eine Weise ausgesprochen werden muss, die mit der Schreibung vorgegeben ist. Zu sprechen, wie es geschrieben steht, von dort wäre es nicht mehr weit, so zu denken, als wäre das Repräsentierte lediglich Reflex des Repräsentierenden. Die Autorität der Schrift anzuerkennen, wäre gleichbedeutend damit, einer Leidenschaft zu verfallen. (Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 67, wo Derrida bekennt, das Wort ›Leidenschaft‹ in seiner Darstellung dieses Zusammenhangs mit reiflicher Überlegung zu verwenden.) Saussure greift jedoch selbst auf eine Handzeichnung zurück, um genau jene Arbitrarität des Zeichens zu verdeutlichen. Die »Wieselambiguität« der Gehalte des Unbewussten, von der Lacan spricht, liefert keine Realität, die beständiger wäre als das Unmittelbare (vgl. Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens«, S. 55). Sinn insistiert zwar in der Signifikantenkette, kein Element der Kette jedoch hat eine Konsistenz außerhalb einer für den Augenblick geltenden Bedeutung. »Es drängt sich also der Gedanke auf, daß das Signifizierte unaufhörlich unter dem Signifikanten gleitet – was F. de Saussure an einem Bild illustriert, das den zwei Windungen des Oberen und Unteren Wassers gleicht, wie sie auf den Miniaturen der Genesishandschriften dargestellt sind. Ein doppelter Fluß, der markiert ist von feinen Regenstreifen, wodurch sich punktierte vertikale Linien bilden, die die korrespondierenden Segmente eingrenzen. […] Aber die Linearität, die F. de Saussure als konstitutiv ansieht für die Kette des Diskurses, konform zu seiner Aussendung durch eine einzige Stimme und in der Horizontale, wie sie sich in unserer Schrift niederschreibt, ist, wenn auch notwendig, so doch durchaus nicht zureichend. Denn sie bestimmt die Diskurskette nur in der Richtung, die diese in der Zeit orientiert, […]. Es genügt aber, der Poesie zu lauschen, was F. de Saussure ohne Zweifel tat, damit eine Vielstimmigkeit sich vernehmen läßt, und ein jeder Diskurs sich ausrichtet nach den verschiedenen Dimensionen einer Partitur. Tatsächlich gibt es keine signifikante Kette, die, gleichsam an der Interpunktion jeder ihrer Einheiten eingehängt, nicht alles stützen würde, was sich an bezeugten Kontexten artikuliert, sozusagen in der Vertikalen dieses Punktes. So sehen wir, wenn wir unser Wort: arbre (Baum) wieder aufgreifen, und zwar nicht mehr in seiner nominalen Vereinzelung, sondern an einer dieser Interpunktionen, daß wir es nicht allein der Tatsache, daß das Wort barre (Balken) sein Anagramm ist, zu verdanken haben, daß es den Balken des Saussureschen Algorithmus durchbricht. […] Indem es alle symbolischen Kontexte anzieht, in denen es im Hebräisch der Bibel erscheint, errichtet es auf einem baumlosen Hügel den Schatten des Kreuzes. Es reduziert sich dann auf das große Y als Zeichen für die Dichotomie,
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»unmotiviert« geworden, »d.h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit welchem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit hat«.9 Zeichen aber können nicht bezeichnen, ohne dass ihre Bedeutung in dem Moment, in dem sie aufscheint, nicht bereits von anderen Zeichen differenziert wäre.10 Und zur Differenzierung zählen, was die Hieroglyphen betrifft, eben auch eine Vielzahl von ›Beizeichen‹: »Damit es auf etwas verweisen kann, darf das, worauf verwiesen wird, nicht im Zeichen anwesend sein. Bedeutung und Referenz entstehen aus diesem konstitutiven Spannungsverhältnis von Präsenz des Zeichens und Absenz des Referenten. Diese zeichenkonstitutive Trennung scheitert an der Hieroglyphe als einem in sich bedeutenden Zeichen, das auf anderes verweist, während es zugleich selbstreferentiell ist.«11 Unter dem Gesichtspunkt der ›Materialität‹ von Schrift ist dabei vor allem auch die Nichtlinearität der Hieroglyphen bedeutsam: »die freie Schriftrichtung repräsentiert ein anderes, nicht-diskursives Verhältnis zum Raum und ermöglicht szenische Darbietung«.12 Und diese szenische Darbietung findet sich in der literarischen Moderne in avanciert typographischen Experimenten wieder. ›Beizeichen‹ können darin graphischer Natur sein. Der Seitenaufbau im Buch kann Bild werden.13 Und so denkt etwa auch Roman Jakobsons Begriff einer ›Reaktivierung‹ die Schrift, ausgehend von Stéphane Mallarmé und seinem von Fehlstellen durchsetzten Zeilenumdas ohne das Bild, das als Ausschmückung in den Wappenbüchern vorkommt, dem Baum nichts zu verdanken hätte […].« Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens«, S. 27f. Auch hier, in den Wappenbüchern, in der Heraldik, findet sich das Emblematische. Ferdinand de Saussures Arbeiten zur Anagrammatik, auf die Lacan zuvor anspielt (und die von Jean Starobinski publiziert sind: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980), in denen es um ein Gesetz der Poesie gehen soll, bleiben fragmentarisch. Lacan hat dennoch angenommen, dass Saussures berühmte These von der Arbitrarität des Zeichens von ihm »contre son cœur« formuliert worden ist: »er dachte durchaus anderes und durchaus näher am Text des Kratylos, wie das zeigt, was in seinen Schubladen ist, nämlich Anagrammgeschichten«. Jacques Lacan: »Für Jakobson« [1972-73], in: ders.: Encore. Das Seminar Buch XX, hg. v. Jacques-Alain Miller, 2. korrigierte Aufl., Weinheim 1991, S. 19-29, S. 24. 9 | Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 80. 10 | Vgl. Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 40. 11 | Aleida Assmann: »Alte und neue Voraussetzungen der Hieroglyphen-Faszination«, S. 267. 12 | Erika Greber/Konrad Ehlich/Jan-Dirk Müller: Materialität und Medialität von Schrift, Bielefeld 2002, S. 11 [Einl.]. 13 | Vgl. Uwe Fleckner: »Das zerschlagene Wort. Kunstkritik des Kubismus und kubistische Kunstkritik im Werk von Pierre Reverdy, Guillaume Apollinaire und Carl Einstein«, in: Prenez garde à la peinture! Kunstkritik in Frankreich 1900-1945, hg. v. Uwe Fleckner und Thomas W. Gaehtgens, Berlin 1999, S. 481-535, S. 485.
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bruch, dem typographisch freien Fall von Versbruchstücken im Gedicht Un coup de dés jamais n’abolira le hasard von 1897, als eine Poetizität, in der die Buchstaben, Zeilen und Zwischenräume, in der die Anordnungen des Textes durch den Umbruch, und in der überhaupt alles, was auf einer Seite in Erscheinung tritt, wozu auch der Unter- oder Hintergrund eines Textes gehört, eine ganz eigene Geltung hat.14 Doch wodurch manifestiert sich die Poetizität? – Dadurch, daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objekts oder als Gefühlsausbruch verstanden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen.15
Angelehnt an diese für die literarische Moderne konstatierte Poetisierung der Schrift ließe sich sagen, dass die Grapheme in den Mikrogrammen Robert Walsers in gewisser Weise reaktiviert, die Phoneme dagegen deaktiviert sind, doch antizipiert die Subtilität der Mikrogramme zugleich paradoxerweise gerade das, was selbst keine Spuren im Sinne eigener Positivität hinterlassen kann; gerade diese nahezu unlesbare Schrift provoziert neue Lektüren. Und zwar Lektüren, die, wie der ›Klassiker‹ der Rezeptionsforschung Viktor Šklovskij 1914 im Beginn des russischen Formalismus schreibt, »dazu zwingen können, das vertraute Wort lesend zu betrachten, statt es wiederzuerkennen«.16 Wo das Wort nur immer wiedererkannt würde, hieße dies für Šklovskij, dass Dichtung ihre Potenz verliert, Lesende zu berühren. Und auch wenn oder gerade weil sich die ersten Assoziationen im Blick auf die Mikrogramme Robert Walsers inzwischen verloren haben, ist noch einmal daran zu erinnern, dass die Schrift auf diesen Blättern, die wie Miniaturzeitungen wirken, sich lange als Trugbild einer Geheimschrift be14 | Vgl. Jean G. Lapacherie: »Der Text als ein Gefüge von Schrift (Über die Grammatextualität)«, in: Bildlichkeit, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt a.M. 1990, S. 6988, S. 69. 15 | Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, übers. und hg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M. 1979, S. 79. Jakobson schreibt hier auch: »So wie die poetische Funktion das dichterische Werk organisiert und reguliert, ohne notwendigerweise hervorzustechen und plakativ in die Augen zu springen, genauso tritt auch das Dichtwerk nicht aus dem ganzen Komplex gesellschaftlicher Werte hervor und überwiegt die anderen Werte nicht, ist aber trotzdem ein grundlegender und zielbewußter Organisator der Ideologie. Gerade die Dichtung sichert unsere Formeln von Liebe und Haß, von Aufbegehren und Versöhnung, von Glauben und Ablehnung vor Automation und Einrosten.« Ebd., S. 79f. 16 | Šklovskij, Viktor: »Die Auferweckung des Wortes« [1914], in: Texte der russischen Formalisten, Bd. II: Texte und Theorie des Verses und der poetischen Sprache, hg. v. Wolf-Dieter Stempel (Redaktion Inge Paulmann), München 1972, S. 3-17, S. 3.
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hauptet hat. Obgleich die opake, buchstäblich ›gedichtete‹ und gegen das Lesen abgedichtete Schrift sich in der Transkription in einen lesbaren Text gelichtet hat, obgleich sie wieder zum Medium, das heißt zu einer auf den Textsinn hin transparenten Schrift geworden ist, bleibt ein Dilemma noch für die Faksimiles der kritischen Ausgabe, deren erste Bände bereits erschienen sind, relevant. Der Lesetext löscht, obliteriert die Unlesbarkeit. Faksimilierung hingegen erhält die Unlesbarkeit absolut. Und eine diplomatische Umschrift kann zwar den Originalraum der Zeilen, Ränder, Seiten in ihrer Anordnung respektieren17 – doch nur um den Preis einer Vergrößerung von Format und Schrift.18 Alle an die Handschrift und an die Manuskripte gebundenen Merk17 | Vgl. Almuth Grésillon: »Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben«, S. 18, Anm. 19. 18 | Roland Reuß schreibt im Beitrag »Neuerlich im Bleistiftgebiet. Zur FaksimileEdition des ›Tagebuch‹-Fragments von Robert Walser«, in: Text. Kritische Beiträge, Heft Nr. 3 (1997), S. 153-161, S. 159: »Was das Faksimile anlangt, so ist das an sich Selbstverständliche zu fordern, daß man die äußere Gestalt der Buchstaben oder deren Verschleifungen, ihre Polyvalenz, mit normalem Auge erkennen kann. So wichtig es ist, im Fall des ›Tagebuch‹-Fragments auf Walsers mikrogrammatische Schreibweise hinzuweisen, so wenig darf deshalb die Reproduktion (allein) im originalen Maßstab erfolgen. Eine in diesen Proportionen nicht entzifferbare Handschrift abzubilden, kann beim Leser nur noch das Resultat haben, die Unlesbarkeit des Bildes als eine Art Schmuckbeilage, vielleicht sogar als Simulakrum anstaunen oder bewundern zu müssen.« (Hervorh. v. RR.) Vielleicht ist aber gerade das unumgänglich. Und im Zusammenhang mit der in Entstehung befindlichen kritischen Ausgabe der Werke Robert Walsers ergeben sich nun in der Tat Fragen. Almuth Grésillon erwägt Möglichkeiten und Verluste neuer Editionsformen: »Literarische Handschriften abzubilden, ist längst kein Problem mehr. Aber die Summe der Abbildungen aller handschriftlichen Vorstufen und Paralipomena eines Textes sprengt die Grenzen des Buchmediums. Ebenso sprengt die typographisch vollständige Darstellung textgenetischer Prozesse die Grenzen der Lesbarkeit. Die Reproduzierbarkeit literarischer Handschriften als Mimesis des Originals und als Abbild der Textgenese mündet in eine Aporie. […] Die Handschrift erscheint auf der Schirmoberfläche des Computers als digitalisiertes Abbild, also als immaterielle Konfiguration, ohne Raum, ohne Zeit und ohne Gewicht; dank ihrer numerischen Existenz ist sie beliebig abrufbar, vergrößerbar und verkleinerbar sowie mit beliebigen anderen ebenso im Computer gespeicherten Elementen vergleichbar. […] Unendlich viele Textwege und -bezüge, auch solche, die dem Autor vielleicht unbekannt und unbewußt waren, werden so auf dem Bildschirm visualisierbar und lassen etwas ahnen von den endlosen Proliferationen des Schreibprozesses, der auf diese Weise simuliert wird. […] Mit Recht wird dabei unterstrichen, daß es bei numerischen Bildern keine Analogie zwischen Repräsentation und repräsentiertem Gegenstand mehr gebe, denn diese repräsentieren nicht das Reale, sondern simulieren es. […] Was simuliert und manipuliert wird, sind nicht die Textobjekte selbst, sondern die zwischen ihnen bestehenden Relationen, welche sie im Licht neuer Kontexte und teilweise ungeahnter
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male, deren Bedeutung in diesem Fall ganz erheblich darüber hinauszugehen scheint, Zeugnis eines Schreibprozesses zu sein, lassen sich somit weiterhin nur durch den Kommentar erschließen. Und gerade dieser Umstand, dieses editorisch Undarstellbare der Unlesbarkeit, ist für die vorliegende Arbeit zum Anlass geworden, im Besonderen diese Unlesbarkeit in ihren zunehmenden Gradationen und darüber hinaus alle Merkmale der Mikrogramme als ein Determinativum, als ein ›Beizeichen‹ oder ternäres Zeichen der Schrift, anzusehen. Die ternäre Markierung, die von Michel Foucault als zu einem Zeitalter vor dem der Repräsentation (der französischen Klassik) zugehörig beschrieben worden ist, als eine Markierung, die das Zeichen mit einem zusätzlichen Zeichen, einem Zeichen anderer Ordnung versieht, bezeichnet einen Zusammenhang der Zeichen untereinander; sie reflektiert deren Zeichencharakter »füreinander aneinander«; in der von Foucault in ihrem historischen Entstehen beschriebenen neuen Ordnung der Dinge ist sie bis auf ferne Anklänge getilgt, die ternäre Markierung ist verblasst und hinterlässt nur mehr eine »blanke Materialität«.19 Und so sinkt auch die Imaginativität der Bilder, die ars memoriae auf den Effekt einer halluzinatorischen Erscheinung herab, wie Anselm Haverkamp schreibt, sie lebt in literarischen Texten fort oder kehrt im Traum wieder. Im Beginn des 20. Jahrhunderts wird der Traum sogar zu ihrem Paradigma, Freud zum Wiederentdecker der im Traum überdauernden Schrift ternärer Zeichen, das heißt all der Verfahren, die er im Begriff der »Rücksicht auf Darstellbarkeit« zusammengefasst hat und die sich als Verfahren des Assoziationen erscheinen lassen. […] Hinzu kommen Beziehungen zwischen Textfragmenten und Zeichnungen – ein Komplex, der noch viel zu wenig erforscht ist –, zwischen Textstellen und Quellen, zwischen Entwürfen und Briefstellen usw. […] Dank der simulierten Teilprozesse entsteht allmählich ein dichtes Netz von Verknüpfungen und Annotationen, das Zugang verschafft zu den komplexen Gesetzen der Textdynamik und das mit der Zeit dem sakralen Geheimnis der Textwerdung ein rationales Wissen über literarisches Schreiben entgegensetzt. Damit schließt sich der Kreis: Literarische Handschriften im Zeitalter ihrer elektronischen Reproduzierbarkeit implizieren über die Verfahren der Computersimulation, daß nicht nur die Handschriften selbst, sondern auch die in ihnen verborgenen genetischen Prozesse ihrer auratischen Einmaligkeit entzogen werden und zumindest teilweise reproduzierbar, also wiederholbar sind. Dadurch büßt das literarische Kunstwerk nichts von seiner Aura ein; ganz im Gegenteil; über die Wiederholbarkeit und Nachvollziehbarkeit gewinnt der Leser wissenschaftliche Einsicht in literarische Schreibprozesse, und damit entsteht ein neues Verständnis für Literatur insgesamt: Literatur als endloser Prozeß des Schreibens und Lesens.« Almuth Grésillon: »Literarische Handschriften im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Von der Mimesis zur Simulation«, in: Mimesis und Simulation, hg. v. Andreas Kablitz und Gerhard Neumann, Freiburg i.Br. 1998, S. 255-275, S. 266-272. 19 | Anselm Haverkamp: »Text als Mnemotechnik« [Einl.], in: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hg. v. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, Frankfurt a.M. 1991, S. 7-15, S. 10.
III. H IEROGLYPHEN
Unbewussten erweisen, Verdrängtes gerade mit verminderter ›Rücksicht‹, das heißt an der Zensur vorbei zur Darstellung zu bringen. Die »Rücksicht auf Darstellbarkeit« lässt das Bildliche dabei als besonders darstellungsfähig erscheinen, so dass ›Darstellbarkeit‹ andererseits auch als Äquivalent einer rhetorischen Figurabilität, Darstellungsdichte als Äquivalent einer besonderen Dichte von Figuren aufzufassen wäre.20 In Freuds Traumdeutung wie in seiner Analyse des Witzes, in einer Psychoanalyse, die auf Umwegen auch die Umbesetzung des in der rhetorischen Tradition versiegten Wissens der ars memoriae mit sich bringt, findet sich eine Ahnung dessen wieder, was lange Zeit einem Vergessen anheim gefallen war.21 Die Schrift ist in Freuds Traumdeutung dabei Piktogramm, Ideogramm, Rebus, Hieroglyphe und Phonem; die codierte, sichtbare Schrift nur eine der vielen Metaphern,22 denn die Verdrängung in den Traum, in diese »bedeutende Kette szenischer Form«23, arbeitet »höchst individuell«.24 Darin hat jedes Zeichen einen anderen Ursprung, es spricht eine andere Sprache, insofern es sich anders konstituiert hat. Und nicht nur ist das Trugbild des Traums selbst eine Übersetzung, es bedarf auch einer Übersetzung, damit alles wieder in eine einheitliche Sprache überführt, damit die Sprache der Traumgedanken entschlüsselt werden kann. Und Entschlüsselung ist notwendig, denn die Traumarbeit beabsichtigt ja gerade nicht, direkt und unmittelbar verstanden zu werden, und was nicht entwirrt, was nicht gelesen und verstanden werden kann, bleibt Gespinst. Die Entzifferung des Traumtextes erfordert die Zerlegung des Traumgespinsts in einzelne, diskrete Zeichen, doch gerade das ist erschwert, denn Traumsymbole sind, so Freud, »oft viel- und mehrdeutig, so daß, wie in der chinesischen Schrift, erst der Zusammenhang die jedesmal richtige Auffassung ermöglicht«.25 Was sich dem Verständnis zu entziehen, was außerhalb einfacher Rezeptivität zu liegen scheint, denkt Freud hier im Zeichen eines fremden Schriftbildes, das ebenfalls komplexe Entzifferungsarbeit erfordert. Die chinesische Schrift, die keine Grammatik kennt, sondern Identitäten der Struktur in Ideogrammen fasst, lässt die Etymologie der ›Begriffe‹ in ihren Schriftbildern augenfällig, und das bedeutet auch: Diese Schrift enthält Geschichte, sie enthält Zeit. In die Hieroglyphe ist das Lesen selbst, oft gleich mehrfach, eingegangen.
20 | Vgl. Jean-Philippe Antoine: »Ars memoriae – Rhetorik der Figuren, Rücksicht auf Darstellbarkeit und die Grenzen des Textes«, in: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, hg. v. Anselm Haverkamp und Renate Lachmann, Frankfurt a.M. 1991, S. 53-73, S. 72. 21 | Vgl. Anselm Haverkamp: »Text als Mnemotechnik«, S. 9. 22 | Vgl. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1995, S. 333 bzw. S. 320. 23 | Ebd., S. 333 24 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. X, S. 252. 25 | Ebd., Bd. II/III, S. 358.
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Auch das ägyptische System der Hieroglyphen ist, wie die chinesische Schrift, hybrid,26 und in dieser Hybridität zeigen sich unterschiedliche Zeitebenen erhalten. Und so schreibt die uns zeitgenössische Dichterin Yoko Tawada nun: »Die Hieroglyphen sind deshalb interessant, weil sie deutlich machen, daß die Bildlichkeit der Schrift nicht mit einem konkreten Bild zu tun haben muß. Vielmehr hat sie mit Erinnerungen zu tun«.27 Nicht nur deshalb ist die Hieroglyphe für das Epistem der Transparenz des Sinns ›dunkel‹, eine schwer lesbare Figur, stellt sie »das Andere einer arbiträren und konventionalisierten Schrift«28 dar. Das nicht-phonetische, nicht-arbiträre Moment der Hieroglyphe fasziniert und befremdet; die nicht-phonetische Schrift scheint Namen und Wort zu zerbrechen, Relationen zu beschreiben, nicht zu benennen.29 Für die abendländische Rezeption wesentlich ist dabei nicht eigentlich die Hieroglyphik, sondern die ›Hieroglyphizität‹, das Bedeutungsversprechen, das mit der Bilderschrift einhergeht30 – und das den Übergang zwischen Hieroglyphik, Emblematik und Ornamentik oder Arabeske fließend werden lässt.31 Imitationen 26 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 90. 27 | Yoko Tawada: Verwandlungen. Tübinger Poetik-Vorlesungen, Tübingen 1998, S. 29. 28 | Aleida Assmann: »Alte und neue Voraussetzungen der Hieroglyphen-Faszination«, S. 269. Aleida Assmann schlägt hierfür den Begriff der »unmittelbaren Signifikation« vor: Die Hieroglyphen werden als gegenständliche »Artikulationen einer göttlich durchwalteten Welt« gelesen. Doch: »Der jüdische Monotheismus zerschlägt dieses kosmotheistische Gewebe zugunsten des einen Gottes, der sich fortan nicht mehr in der Natur, sondern in den Dimensionen von Schrift und Geschichte (und damit auch verschrifteter Geschichte, das heißt in den beiden biblischen Testamenten) offenbart. Die Erschließung dieser neuen Dimensionen von Schrift und Geschichte setzt eine Weltabkehr Gottes voraus. Damit wird die Sphäre der Natur vergleichgültigt und kann der praktischen Vernunft und technischen Verfügung der Menschen überlassen werden. Indem sich Gott in den neuen Dimensionen offenbart, zieht er sich also aus der Welt zurück, die damit den Charakter einer lebendigen Botschaft verliert. An die Stelle der unmittelbaren Signifikation tritt dann zusammen mit einer entgötterten Welt das System der ›mittelbaren Signifikation‹, das auf die konstruktive Kraft menschlicher Zeichengebung gegründet ist.« Die Einrichtung wissenschaftlicher Akademien und die Durchsetzung eines intersubjektiven Diskurses auf der Basis experimenteller Forschungsmethoden führt gegen Ende des 17. Jahrhunderts zu einer endgültigen Marginalisierung und Verdrängung des kosmotheistischen Wissensmodus, die sich mit der (eindimensionalen) Rezeption von Francis Bacon verbunden zeigt. Vgl. ebd., S. 270. Das Schisma zwischen Gott und der Welt hat in der Folge dann eine Entsprechung im Schisma zwischen Schrift und Bild. 29 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 47. 30 | Vgl. Christian J. Emden: »Kulturwissenschaft als Entzifferungsunternehmen. Hieroglyphik, Emblematik und historische Einbildungskraft bei Walter Benjamin«, in: Hieroglyphen, hg. v. Aleida und Jan Assmann, München 2003, S. 297-326, S. 305. 31 | Vgl. ebd., S. 306.
III. H IEROGLYPHEN
entstehen. Bereits in den ältesten Handschriften des Abendlandes finden sich exotische, phantastische Alphabete, die meist europäischen Schriften nachgebildet sind, und nichtdiplomatische Kryptographien.32 Geheimnisvolle Schriftzeichen weisen im Sinne einer prisca theologica auf eine verlorene Urweisheit. Die fremden und erfundenen Alphabete fallen aus einer semiotischen Hierarchie heraus, in welcher der Schrift nur der Status der Sekundarität zukommt; sie lassen ganz eigene, assoziative Etymographien zu. Im Diskurs über die ägyptischen Hieroglyphen, der sich auch nach ihrer Entzifferung durch Jean François Champollion im Jahre 1822, als einer Entzauberung, von der die Frühromantiker sich nicht mehr betroffen sahen, fortsetzte, ließ sich die Frage nach der Motiviertheit des Zeichens anders in den Blick nehmen, weil die Hieroglyphen mit Bedeutung überhaupt erst belehnt wurden.33 Die Voraussetzung hierzu bildete das Missverständnis, Hieroglyphen seien rein ideographische Zeichen. Champollion erst unterschied phonetisches Zeichen, Ideogramm und Determinativ, perpetuierte jedoch den Topos der rein ideographischen chinesischen Begriffsschrift, wo er ihn, was die Hieroglyphen betraf, gerade entkräftet hatte.34 Das Entscheidende liegt, wie wir heute wissen, aber darin, dass die Hieroglyphenschrift ein und dasselbe Zeichen als Ideogramm, Phonogramm oder Determinativ verwenden kann.35 Und im Gegensatz zu den Emblemata stellen die Hieroglyphen nicht eine dem Zerfall anheim gegebene Kompositbildung dar; sie bilden einen unauflöslichen Komplex, ein Amalgam, das nicht einfach auseinanderbrechen konnte. Schrift und Bild bleiben darin eins, denn: »Als eine ikonische Schrift malen die Hieroglyphen gleichzeitig, indem sie schreiben.«36 Die Rezeption der Hieroglyphen, die über die der authentischen ägyptischen Buchstabenhieroglyphen weit hinausging, verband sich im Anschluss an die Renaissance dabei immer auch mit einer christlichen Rezeption der jüdischen Mystik und der Kabbala.37 Hieroglyphen verkörperten nicht nur 32 | Vgl. Michael Friedrich: »Chiffren oder Hieroglyphen? Die chinesische Schrift im Abendland«, in: Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie, hg. v. Aleida und Jan Assmann, München 2003, S. 89-116, S. 95. 33 | »In der faszinierten Auseinandersetzung mit der Schrift bzw. den Schriften der alten Ägypter entfaltet sich die abendländische Grammatologie, von Plotin bis Ficino, von Vico bis Humboldt, von Hegel bis Derrida.« Aleida und Jan Assmann: »Hieroglyphen: altägyptische Ursprünge abendländischer Grammatologie«, in: dies.: Hieroglyphen, S. 9-25 [Einl.], S. 11. 34 | Vgl. Michael Friedrich: »Chiffren oder Hieroglyphen?«, S. 114. 35 | Vgl. Astrid Keiner: Hieroglyphenromantik. Zur Genese und Destruktion eines Bilderschriftmodells und zu seiner Überlieferung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie, Würzburg 2003, S. 51. 36 | Aleida Assmann: »Alte und neue Voraussetzungen der Hieroglyphen-Faszination«, S. 265 (Hervorh. v. AA). 37 | Vgl. Christian J. Emden: »Kulturwissenschaft als Entzifferungsunternehmen«, S. 299f.
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die semiotische, sondern auch die politische Utopie eines Friedenszeitalters nach dem Turmbau zu Babel und nach dem Zwist der Sprachen und Nationen. Diese Restitution einer ›Ursprache‹, eines ›natürlichen Alphabets‹, wurde bereits zu Zeiten der Renaissance in den Bildern der Hieroglyphen wie in den Lauten des Hebräischen erkannt.38 Noch der englische Theologe William Warburton nimmt im 18. Jahrhundert eine Verwandtschaft zwischen der chinesischen und der hebräischen Schrift an, weil beide Deutzeichen (Radikale) kennen.39 Die Alphabetschrift, deren Entwicklung bei den ägyptischen Hieroglyphen beginnt und in der »Schreibung von Wörtern durch nichts mehr bedeutende Elemente«, in den Zeichen des Zeichens, endet, führte hingegen dazu, dass »sich der Logos als rein noetische Instanz ausbilden konnte«, so Christian Stetter.40 Die Alphabetschrift ist im Unterschied zu den ideographischen Schriften nicht nur durch Transzendenz und Abstraktheit, sondern auch durch die Attribute des Ausdrucks und der Äußerlichkeit charakterisiert. Das ›stumme‹, hieroglyphische Zeichen ist hingegen bereits allegorisch.41 Und wenngleich auch die Ideogramme eine durch den jahrtausendelangen Gebrauch konventionalisierte Schrift bilden, so sind ideographische Schriftzeichen doch: »für sich bedeutende Zeichen, nicht Ausdrücke, ›hinter‹ denen ein Inhalt stünde«. Die Ideographie wahrt in sich »den Ursprung einer jeden Schrift: bilderschriftliche Elemente«.42 Und wie die Orthographie intrinsisch zur Alphabetschrift gehört, so dass jede ihrer Störungen sofort größte Irritationen hervorruft, was sich bei Robert Walsers vermeintlich devianter Orthographie gut beobachten lässt, gehört zur Ideographie die Kalligraphie: Kalligraphie ist die ästhetische Individualisierung des konventionellen Sinns, der mit einem Ideogramm verbunden ist. […] Die Variation des ideographischen Schemas, die Reduktion der Graphie bis auf ein Minimum an Differenzen, das es dem Schriftkundigen noch immer erlaubt, aus der mit den Spuren des Pinselstrichs markierten Geste das Zeichen zu entschlüsseln, fordert über die graphischen Analogien die Einbildungskraft des Lesers heraus, diesen Spuren auf selbstgewählten Wegen nachzugehen. Die Schrift wird wieder in das Bild integriert, nicht als Unter-, Überoder Nebenschrift, sondern als in dessen Symbolik einbezogene Graphie. 43
38 | Vgl. Aleida und Jan Assmann: »Hieroglyphen: altägyptische Ursprünge abendländischer Grammatologie«, a.a.o., S. 22. So bezieht sich auch Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge unter dem Titel »Die Schrift der Dinge« auf das Hebräische (vgl. ebd., S. 67f.). 39 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 164. 40 | Christian Stetter: Schrift und Sprache, Frankfurt a.M. 1999, S. 299, 303. 41 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 408. 42 | Christian Stetter: Schrift und Sprache, S. 47, 49. 43 | Ebd., S. 51.
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III.1 U NDARSTELLBARKEIT : M A X B RODS K OMMENTAR ZU R OBERT WALSER Der Kommentar zu Robert Walser, den Max Brod im Jahre 1911 veröffentlicht und den er zwei Jahre später, mit weiteren seiner essayistischen Arbeiten, als Vademecum für Romantiker unserer Zeit im Kurt Wolff Verlag herausbringt, privilegiert eine Form der Literaturkritik, die noch »nicht eingeführt ist«, wie Brod hier selbst schreibt. Der Essay beginnt apologetisch; schon dem Incipit (lat.: ›es beginnt‹) ist das Resümee zu entnehmen, das Brod ziehen will: »Die einzig richtige Form, in der Buchkritiken verfasst sein sollten, ist: der Kommentar.« Und das bedeutet, wie Brod nun ausführt, »daß auf jeder Seite, die nur je ein Weniges des unschätzbaren Textes enthält, unter dem Strich jedes wichtigere Wort des Dichters erwogen und belobt, jede Wendung mit Parallelstellen belegt oder als originell befunden, jeder angedeutete Gedanke und jede auch nur etwaige Anspielung ausgearbeitet wird«. Vorerst jedoch bleibt dem Rezensenten, weil die Zeit hierfür noch nicht gekommen scheint, »nichts übrig, als eine kurze, unvollkommene und deshalb auch schwierigere Kritikerleistung zu versuchen«.44 Und so endet Brod mit den folgenden Worten: […] Es ist wirklich unmöglich, diesen Dichter nach Gebühr zu loben. Ich kann meine verliebte Freude über seine Existenz in Kurzem nicht mehr anders ausdrücken als indem ich die Namen seiner bisheutigen Bücher mit meiner schönsten Schrift ins Manuskript kalligraphiere: »Gedichte« – »Fritz Kochers Aufsätze« – »Geschwister Tanner« – »Der Gehilfe« – »Jakob von Gunten« – »Aufsätze«. 45
Der Text scheitert demonstrativ an einer begrifflichen Darstellbarkeit der eigenen literarischen Vorliebe, er geht an entscheidender Stelle sogar hinter die Satzbildung, die Prädikation, das Urteil zurück. Um die potentielle Endlosigkeit und Unabschließbarkeit des Kommentars, die sich nun doch abzuzeichnen scheint, aber begrenzen zu können, kommen »Namen« zu stehen. Mit einem Namen versehen zu sein, schreibt Christoph Türcke, heißt im aramäischen Sprachkreis so viel wie ›verziert zu sein‹. Wobei diese ›Zierde‹ den Status einer Lebensnotwendigkeit hat. Wer sie entbehrt, ist schutzlos ausgeliefert.46 In Brods Text soll die existentielle ›Zierde‹, soll dieser »Hauch der Unversehrtheit«47, der mit dem Namen einhergeht, noch einmal zusätzlich mit einem Schmuck versehen werden; so sind die Namen kalligraphiert. Das Verfahren, Dinge bei einem Namen zu nennen, der ihnen Schutz gewährt, ist angesichts von Buchtiteln, die doch bereits der Autor selbst vergeben hat44 | Max Brod: »Kommentar zu Robert Walser« [1911], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 78-83, S. 78. 45 | Ebd., S. 83. 46 | Vgl. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 182. 47 | Ebd., S. 192.
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te, auf einen anderen Modus der Differenzbildung angewiesen. Und so ist den »Namen« der Bücher Robert Walsers vom Rezensenten Brod in Gestalt seiner »schönsten Schrift« ein Determinativum, ein Deutzeichen beigegeben.48 Um aber die darin erwiesene Reverenz im gedruckten Text ›sichtbar‹ erhalten zu können, muss diese Kalligraphie in die Semantik gehoben sein, muss sie mittels einer Deixis – ›indem ich kalligraphiere‹ – ein semantisches Passepartout erhalten. Als die auf Schönheit der Linienführung, auf Wohlproportioniertheit der Schrift bedachte Kunst des Schreibens ist die Kalligraphie im Druck nur zu ›sehen‹, wo sie kommentiert ist, und das heißt, wo sie semantisch, zum Motiv des Textes geworden, wo sie als ›Materialität‹, als Skripturalität der Schrift aber bereits verloren ist. Max Brods »Kommentar« bezeichnet mit dieser Geste eine Logik der Texte Robert Walsers, die Spuren ihrer eigenen Genese auf kalkulierte Weise zu lesen geben, um eine Motilität zu erhalten, bei der »das Schreiben aus dem Blatt Papier heraustritt« oder herauszutreten scheint.49 Dass aber nicht nur auf die Bedeutung der Spur, der Geste und Performativität hingewiesen ist,50 dass vielmehr Brods Kalligraphie noch vielschichtiger ist, zeigt sich in einem anderen Text, der viel später erst entstanden ist und in dem sich Brod an Franz Kafka erinnert, genauer an dessen Lektüre von Robert Walsers Texten. Diese Lektüren fanden dabei zu eben jener Zeit statt, zu der Brods Kommentar zu Robert Walser entstanden ist. Kafkas Affinität teilte sich, wie Brod in diesem anekdotischen Text kolportiert, im lauten Rezitieren der Texte Robert Walsers mit: »Ich war allein mit ihm, aber er las wie vor einem Publikum von Hunderten.«51 Brods ureigenes Als-ob der Kalligraphie bildet, im Gedenken hieran, also auch die fast schon theatrale Szene – und die Valeurs einer Stimme ab, den Ton der Freundesstimme. Anders gesagt: Die metaphorische ›Stimme‹ des Autors Robert Walser und die ›manifeste‹ Stimme des Lesers Franz Kafka über48 | In seinem Band Über die Schönheit hässlicher Bilder. Ein Vademecum für Romantiker unserer Zeit, Leipzig 1913, S. 8, beschreibt Max Brod auch, wie für ihn »die unwillkürliche, unausschöpfliche Natur selbst, das Chaos und urzeitliche Zeremonien« aus »Annoncenklischees, Reklamebildern, Briefmarken, Klebebogen, aus Kulissen für Kindertheater, Abziehbildern, Vignetten« zu lesen waren und wie die »Phantastik der Zigarettenschachteln, die Etiketten auf Parfumflaschen, märchenhafte Vaudevilleszenen auf Briefkassetten und Wandkalendern, Diplome, Reiseandenken [und] gar die geliebte Mappe japanischer Holzschnitte« diese neue Ausprägung romantischer Phantasie anregten. 49 | Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 119. Von »Spaziergängen auf dem Papier« scheint nicht etwa nur deshalb wiederholt die Rede, weil Spaziergänge das bevorzugte Motiv insbesondere der Bieler Prosa sind; die Mimesis ist hier auch in einer Umkehr am Werk. 50 | Vgl. Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 177. 51 | Max Brod: »Kafka liest Walser«, in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 85-86, S. 86.
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lagern sich in Brods Semantik der Kalligraphie. Und so prolongiert Brods Geste, auf diesen Kontext zurückgeführt, die evokative Kraft der Texte Robert Walsers in einem doppelten Sinne – der allerdings erst aus der Jahrzehnte später, im Jahre 1948, aufgezeichneten Erinnerung rekonstruiert werden kann. Die Kalligraphie hat darin, wie die Freundesstimme, Valenzen, die der Druckschrift als Sinnproduktion und vorgeblich ›reiner‹ Referenz fehlen, denn wo das ausgesprochene Wort innerlich bleibt, »ohne einen Raum einzunehmen, wo es Teil der noumenalen Welt bleibt – Wort der Seele, wie Herder es beschrieben hat«52 – ist das geschriebene Wort immer ein zeitliches Ereignis, weil es im Zusammenhang geschrieben und gelesen wird, wie Christian Stetter schreibt, doch: Die Grenze zwischen Schrift und Sprache verläuft keineswegs immer und genau entlang der von Vergänglichkeit und Dauer. Die ursprüngliche Rückkopplung von Lautäußerung und Gehör wird nicht zur Gänze ersetzt durch die von Auge und Hand. Vielmehr bleibt sie im Lesen virtuell erhalten. Hier wird das virtualisierte Element nun kommentiert durch ein zweites, das in einem zweiten sichtbaren Modus artikuliert ist. Gesprochene und geschriebene Sprache analog zu begreifen, zu parallelisieren wie zwei Räder einer Achse, verkennt diese Struktur grundlegend. Gegenüber dem gesprochenen ist das geschriebene Wort durch eine strukturelle Asymmetrie gekennzeichnet: Das Wort kann geschrieben wie gesprochen werden, dies ist möglich dadurch, daß das geschriebene eine Darstellung des gesprochenen ist, besser gesagt ein Modell von diesem. Das gesprochene Wort ist aber und wird auch durchs Lesen kein Modell des geschriebenen, es bleibt autochthon. 53
Max Brods Semantik der Kalligraphie verdoppelt mithin einen Doppelcharakter der Schrift; geschrieben wird das Wort wahrnehmbar, erkennbar und identifizierbar durch die Differenzen seiner Gestalt.54 Indem Brod paradoxerweise gerade das Phänomen der bleibenden Innerlichkeit des gesprochenen, zumal des erinnerten gesprochenen Wortes in der Kalligraphie abbildet, und dies in der Semantik aber unkommentiert bleibt, schützt er das ›geheime Leben des Wortes‹ ebenso, wie er es zugleich enthüllt – jedenfalls, wenn sich der vermutete Zusammenhang erschlossen hat. Diese Semantik der Kalligraphie zeichnet sich dabei vor dem Hintergrund einer Restitution ab, die sich für Brod selbst mit den Vorträgen von Martin Buber im Prag der Jahre 1909/10 – 1911 in Drei Reden über das Judentum als Buch erschienen – durch das gesprochene Wort als ein Ereignis, das im Sinne des hebräischen Ausdrucks dabar ›Geschichte schreibt‹, vollzogen hatte.55 Und den Bezug zum Judentum zeigt auch jene »Seite«, die von Brod im Kommentar zu Robert Walser aufgeschlagen ist und »die nur je ein weni52 | Christian Stetter: Schrift und Sprache, S. 28f. 53 | Ebd., S. 41 (Hervorh. v. CS). 54 | Vgl. ebd., S. 40f. 55 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 78, sowie Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 170f.
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ges des unschätzbaren Textes enthält«; sie weist auf den Talmud, auf jenes Kommentarwerk zur Thora, als der heiligen Schrift jüdischen Glaubens, die selbst weder Medium noch Index, sondern Inauguration des Sakralen ist, und über die sich im Talmud komplexe Theologeme entspinnen. Der Gott des Judentums äußert sich in der Schrift; er veröffentlicht die Gesetze, nach denen gelebt werden soll. Schrift enthält in diesem Sinne kein Geheimnis, es geht nicht um Offenbarung, sondern um Auslegung. Die Seite, die auch in Max Brods Kommentar zu Robert Walser »je ein weniges des unschätzbaren Textes« enthält, gestaltet sich so: Die Kolumne des Thora-Textes ist von weiteren Kolumnen und das heißt nicht nur im graphischen Sinne wie von einem Rahmen umgeben. Die Wahrheit ist als Funktion der Sprache geschichtliche Entfaltung dessen, was im Ursprungstext der Thora gegeben, nicht aber vorhanden ist, das heißt nicht vor der Exegese im Talmud, als einem intrinsisch heteronomen Kommentar, in dem nicht nur der Text selbst, sondern auch der Kommentar seinerseits einen neuen Kommentar hervorruft. So gibt es immer mindestens zwei Kommentarschichten. Eine der alten Kommentarschichten ist dabei in aramäischer Sprache verfasst, in jener Sprache also, die den Namen als schutzbringende Verzierung ansieht. Auch hierin gründet jene Kalligraphie der »Namen« von Robert Walsers Büchern, die in Brods »Kommentar« ja nicht, wie zu erwarten wäre, mit ihren jeweiligen ›Titeln‹ benannt sind, sondern mit ihren »Namen«, ihren Schutzzeichen. Und während sich die undeutliche Manifestationsform Gottes im Christentum mit einem Spekulationsgebot verbindet, damit, das Unsichtbare im Sichtbaren, die Spuren Gottes in der Welt aufzufinden, geht es in der jüdischen Religion um die Lektüre der Schrift und die Befolgung der Gebote. Deshalb lautet die Selbstdefinition des Gottes der hebräischen Bibel stets: ›Ich bin, der ich sein werde‹.56 Und Micha Brumlik schreibt hierzu sehr grundsätzlich: »Das Judentum, dem es minder um eine Metaphysik der Sprache denn um eine Lebensform der Schrift ging, kam ohne Opfertod aus – die befreiende Erniedrigung Gottes geschah durch Interpretation, durch Lektüre.«57 Mit der Lektüre konnte revidiert, befragt, falsifiziert und bekämpft werden.58 Max Brods utopistisch belebte Poetisierung einer neuen literarischen Kritik privilegiert diese Form, von der es ausdrücklich heißt, dass der Text selbst sie allein noch nicht einlösen könne. Denn dazu bräuchte es die Wiederholung, die Wiederaufnahme, das Lesen der Anderen, den heteronomen Kommentar. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Brod in seiner Anekdote zum Leseverhalten von Kafka erwähnt, dass dieser den Text Robert Walsers im Vorlesen fragmentierte; im ersten Durchgang habe Kafka bereits 56 | Vgl. Aleida und Jan Assmann: »Geheimnis und Offenbarung« [Einl.], in: dies. (Hg.) in Verbindung mit Theo Sundermeier: Schleier und Schwelle. Geheimnis und Offenbarung, München 1998, S. 7-14, S. 10. 57 | Micha Brumlik: Schrift, Wort und Ikone, S. 73. 58 | Vgl. Aleida und Jan Assmann: »Geheimnis und Offenbarung«, S. 13.
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einzelne Sätze und Syntagmen aus den Texten Robert Walsers wiederholt. Kafka »kostete« diese, wie Brod schreibt. Der Text Robert Walsers bildet so eine Zyklizität aus, in der bis ans Ende eines Satzes oder Textes zu gelangen bedeutet haben wird, wieder an einen Anfang zu kommen: »Hatte er nun das Werkchen auf Details hin vorgelesen, sagte er, am Ende angelangt: ›Und jetzt höre einmal das Ganze.‹ Nun las er ohne Unterbrechung. Er hatte dann Lust, noch ein drittes Mal anzufangen. Sah mich aber quasi bemitleidend an: ›Nun hast du genug, nicht wahr?‹«59 Was sich hier, im Übrigen ähnlich wie in der weiter oben erwähnten Bemerkung von Paolo Chiarini zur »latenten Unentzifferbarkeit«60 und das heißt zur latenten Unausdeutbarkeit von Texten Robert Walsers, als Potential zu einer prinzipiell endlosen Repetitierbarkeit und einem ebenso unbegrenzten Genuss darstellt, versucht Brod im Kommentar zu Robert Walser nun aber dennoch zu analysieren. Nun ist es aber eine Eigentümlichkeit der Walserschen Diktion, daß er die Ruhe seiner Sätze oft mit einem scheinbar der Zeitungssprache oder dem Vulgären entnommenen Wort scheinbar unterbricht. Hier setzt nun die Drei-Schichten-Theorie ein. Solche Zerrissenheit klingt naiv, unbefangen, kunstlos. Der tiefer Zusehende erkennt wohl romantische Ironie in ihr, denkt etwa an Heine. Der Verstehende aber sieht unter dieser wirklichen Naivität und wirklichen Ironie (beide sind real vorhanden, nur beide nicht selbständig, beide auf die dritte Schicht beziehungsvoll) eine ganz inwendige Seelen-Unbekümmertheit, eine über allen Mitteln stehende und deshalb in den Mitteln mit Fug wahllose Dichterurkraft.61
Max Brods an dieser Stelle vermutlich absichtslose Verdoppelung des Wortes ›scheinbar‹ ist in Bezug auf die ›Insertion‹ des dem Kontext ›fremden‹ Wortes und die dadurch bewirkte ›Störung‹ der vormals bestehenden ›Homogenität‹ des Robert Walser-Textes – nur scheinbar – stilistisch redundant. Sie weist vielmehr auch auf eine Logik dieses Textes. Brod fährt an dieser Stelle fort: Ein Beispiel (man findet leicht treffendere): »Das Feuer, das wie alle wilden Elemente keine Besinnung hat, tut ganz verrückt. Warum sind noch die zügelnden Menschenhände nicht in der Nähe? Müssen denn gerade in solcher Schreckensnacht usf.« Ich habe mir erlaubt, natürlich gegen den Text, die deutlichsten Papierworte hervorzuheben. Wie flüchtig sieht man sie der Feder des Dichters entgleiten, als Anklänge fast an populäre Schillerzitate, sieht den Dichter ihr Unangebrachtes erkennen, ironisch belächeln, sieht ihn sie dann trotzdem stehen lassen, einer inneren Flüchtigkeit, weil Heiterkeit folgend, die sich zu jener oberflächlichen Flüchtigkeit wie ein lebendiger Mensch zu seiner Momentfotografie verhält.62 59 | Max Brod: »Kafka liest Walser«, S. 86. 60 | Paolo Chiarini: »Unvorgreifliche Gedanken eines Walser-Lesers«, S. 13. 61 | Max Brod: »Kommentar zu Robert Walser«, S. 79. 62 | Ebd., S. 79f. Von Max Brod zitiert ist Robert Walsers Text Die Feuersbrunst aus dem ersten Prosaband Fritz Kochers Aufsätze, der bereits 1904 erschienen ist (vgl. SW 1/12ff., S. 13; Hervorh. v. MB).
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Das Textstück aus Robert Walsers früher Prosa Die Feuersbrunst zeigt, näher besehen, dass in der Tat einiges nicht ›am Platze‹, mindestens nicht am erwarteten Platze ist. Das ›besinnungslose‹, anthropomorphisierte Feuer wird im Konnex mit dem Epitheton aller Elemente, und das bedeutet auch: aller Buchstaben, ein sprichwörtlich wild gewordener Mensch, mit den »zügelnden« Händen ein ungezügeltes, außer Rand und Band geratenes Pferd. Das Feuer evoziert so einen in seiner elementaren Gewalttätigkeit animalischen Menschen, ohne dass von einem Pferd oder von einem Menschen je die Rede gewesen wäre. Hier ist sprichwörtlich ›etwas vom Pferd erzählt‹ worden und darin findet sich zugleich eine seit der Antike stetig wiederaufgenommene Symbolik wieder: »Das Pferd, auf dem der Dichter reitet, ist, einer alten Auslegungstradition der Apokalypse des Johannes (Offb. 19,11) zufolge, das klangliche und stimmliche Element der Sprache.«63 Unausgesprochen aber ist so auch ein Hintergedanke, mittels eines Vorstellungsbildes (›Züngeln‹) und dessen graphemischer Nähe zu einem anderen Wort (›Zügeln‹), das in nur einem Buchstaben differiert, zum verborgenen Text geworden. Robert Walsers Text gibt mehr zu verstehen, als zunächst explizit wird, und zwar, weil etwas offenbar sprichwörtlich zu ›heiß‹, zu prekär, zu provokant zu sein scheint, um explizit werden zu können oder zu sollen. Verdeckt, verborgen, unausgesprochen geblieben ist darin die vom Menschen ausgeübte Gewalt. Wie aber sind die Zügel – in Gestalt der »zügelnden Menschenhände« – eigentlich ins Spiel gekommen? Was haben sie mit dem Feuer zu tun? Die Zügel, die in den Händen der Menschen liegen, lassen sich aus dem Alternieren von Metapher und Metonymie rekonstruieren oder anders gesagt: aus den Verfahren der Verdichtung und Verschiebung, wie sie Freud für die Traumarbeit angenommen hat. Und über diese Art ›Bedeutungsflackern‹ schreibt Christoph Türcke: Die Verdichtung hat also etwas von einer Konstellation, deren Elemente sich um ein Zentrum gruppieren, allesamt auf es verweisen, ohne daß auch nur einer der Verweise es verriete. Vielmehr verstellt jeder Verweis zugleich das Zentrum, auf das er hinzeigt. Er ist nicht nur Verdichtung auf ein Zentrum hin, sondern auch Verschiebung von ihm weg. Verschiebung und Verdichtung werden nie unabhängig voneinander tätig. Sie sind nur zwei Seiten desselben Versteckspiels, bei dem dieselben Dinge ausgeplaudert und verheimlicht werden. Ausgeplaudert insofern, als sie sich in einem manifesten Trauminhalt ausdrücken. Verheimlicht aber durch Tarnung. […] Die Bilder und Assoziationen, die aus ihm hervorgehen, haben denn auch etwas Flackerndes; sie züngeln gleichsam ineinander und durcheinander. Das macht den manifesten Trauminhalt so konfus und lückenhaft, so daß er manches doppelt und dreifach sagt, anderes überhaupt nicht. 64
63 | Giorgio Agamben: Idee der Prosa, S. 25. 64 | Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 35f. (Hervorh. d. Verf., KS).
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Bilder und Assoziationen züngeln in- und durcheinander. Im näheren Hinsehen stellen sich die Vorgänge in Robert Walsers Text dabei folgendermaßen dar: Feuer züngelt, es gleicht einer vor- und zurückschnellenden Zunge; und eben dieses Züngeln greift nun, wie das Feuer selbst, auf den folgenden Satz über. Im Weiterschreiben ist die ›Erinnerung‹ an den letzten Satz gleichsam noch ›wach‹ und trägt das Vorstellungsbild des ›Züngelns‹, zusammen mit dem graphemischen Material des Signifikanten, in den neuen Signifikanten, das ›Zügelnde‹, ein. Dabei greift die Metonymie nach zwei Seiten hin unvermutet aus: Zum einen vollzieht sich eine paradigmatische Substitution, der Ersatz eines Wortes – wie bei der Metapher.65 Zum anderen ist in diesen Prozess die Kontiguität des Graphisch-Graphemischen, die Nähe des Buchstabenmaterials zueinander einbezogen. In einem ersten Schritt ist also ein metaphorisches Vorstellungsbild nicht nur auf den Signifikanten, sondern auf dessen Grapheme, dessen Buchstaben reduziert worden, so dass ein neuer Signifikant, der durch die überwiegende Identität der Buchstaben im vorhergehenden gleichsam bereits enkodiert scheint, im Fortgang des Schreibens zu Tage treten kann: Dieser ist aus dem alten, verborgen gebliebenen Signifikanten entstanden, der auf ein anderes Signifikat zurückgeht. Es geht also buchstäblich um ein Wortbild, das ›Züngeln‹, das eine Rolle gespielt hat, weil es Bilder aufgerufen hat.66 Es geht um »die ansteckenden Metonymien der Materialität«, von denen auch Maria Jørgensen in Bezug auf Robert Walsers Band Kleine Prosa aus dem Jahre 1917 gesprochen hat.67 Das Band von Sprachform und Graphik, die »rein graphische Schicht in der Struktur des literarischen Textes«,68 weist dabei weder auf die Stimme noch auf das Epische. Lediglich die Linearität der Schrift hat hierzu ihren Teil getan, denn erst im 65 | »Der schöpferische Funke der Metapher entspringt nicht der Vergegenwärtigung zweier Bilder, das heißt zweier gleicherweise aktualisierter Signifikanten. Er entspringt zwischen zwei Signifikanten, deren einer sich dem andern substituiert hat, indem er dessen Stelle in der signifikanten Kette einnahm, wobei der verdeckte Signifikant gegenwärtig bleibt durch seine (metonymische) Verknüpfung mit dem Rest der Kette. Ein Wort für ein anderes ist die Formel für die Metapher, und wenn Sie Poet sind«, schreibt Jacques Lacan in »Das Drängen des Buchstabens«, S. 32, »bringen Sie, indem Sie sich ein Spiel daraus machen, einen ununterbrochenen Strom hervor, ein betörendes Gewebe von Metaphern.« 66 | »Es ist von entscheidender Wichtigkeit«, schreibt bereits Ferdinand de Saussure in den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 15, »hervorzuheben, daß das Wortbild nicht mit dem Laut selbst zusammenfällt, und daß es im gleichen Maß psychisch ist wie die ihm assoziierte Vorstellung.« Anders gesagt: Die im sprachlichen Zeichen enthaltenen Bestandteile sind beide gleichermaßen psychisch und für uns durch das »Band der Assoziation« verknüpft. Vgl. ebd., S. 77. 67 | Maria Jørgensen: »Immanenzpoetische Ornamentik – am Beispiel von Robert Walsers Kleine Prosa«, in: Text & Kontext. Jahrbuch für germanistische Literarturforschung in Skandinavien, Sonderreihe Bd. 54, München 2007, S. 79-106, S. 87. 68 | Jacques Derrida: Grammatologie, S. 104.
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Fortgang des Schreibens entwickelt sich dieser Prozess der Transpositionen.69 Und wirklich: Wo in einer flüchtigen Lektüre lediglich eine leichte Irritation entsteht, wo das Gefühl entsteht, in Robert Walsers Text sei noch etwas anderes als das, was an dieser Stelle zu lesen ist, gesagt worden, finden sich erst weiter unten im Text jene Assoziationen bestätigt, die sich als im Verborgenen vollzogene Transpositionen erweisen, die nun ›sichtbar‹ werden: »Das Feuer ist ein rasendes Feuer geworden. Weshalb hat man ihm Zeit lassen müssen, ein rasendes Feuer zu werden? Es frißt, es reißt, es zischt, es wütet, es ist wie ein glühender rotgefärbter Trunkenbold, der alles verwüstet und zertrümmert, was er nur ergreifen kann.«70 Das Züngelnde des Feuers ist zur unersättlichen Zunge des Trunkenbolds, das Ungezügelte zur Exzessivität des Oralen geworden – mit den entsprechend destruktiven Folgen: Das Feuer gleicht einem Menschen, der sprichwörtlich zum Tier geworden ist. Und so erhellt von hier aus auch das nun stark sexualisierte Titelwort: ›Feuersbrunst‹.
III.2 PALIMPSEST Wie nicht nur Die Feuersbrunst zeigt, suspendieren die Texte Robert Walsers in der Tat in gewissem Sinne Arbitrarität, in Bezug auf die Ostension des Begriffs, in Bezug auf die allgemein vereinbarte Begrifflichkeit, und zwar weil die Allusionen, Gegensinnigkeiten, Verdoppelungen, semantischen Resonanzen und Überlagerungen unzählige Schichten ausbilden, die im Kontext – und eben nur im Kontext des jeweiligen Textes – zu lesen sind. Nichts ist dabei präexistent.71 Robert Walsers »Dichtung tritt dem Leser gleichsam als zweite Natur entgegen«, schreibt Joachim Strelis, »mit einem wichtigen Unterschied allerdings, was ihre Verfügbarkeit angeht«, denn sie stellt sich als Textur dar, die Lesende »zu Übertragungen anstiftet«.72 Das Erzählte lässt sich nicht von der Art und Weise des Erzählens ablösen; die Texte lassen sich nicht in Begriffe oder Aussagen übersetzen; die Texturen sind in Robert Walsers Texten vielmehr aufgetrennt, gerade indem sie gewebt werden, in einem »Einbruch des durch Sprache Verdrängten in die Sprache selbst«.73 Die 69 | Aus dem Züngeln ist in der ›Erinnerung‹ der Schreibhand und der Linearität des Textes der Ruf nach »Menschenhänden« geworden, welche im Plural stehen und nicht die singuläre Hand Gottes sind. Andererseits verschwindet der spektakuläre Retter des im Feuer eingeschlossenen Mädchens in Robert Walsers Feuersbrunst, der nicht identisch mit dem ›Helden‹ der Erzählung, dem Protagonisten des Textes ist, gleich nach seiner Tat wieder ins Unsichtbare, gerade so, wie es ein deus ex machina tut. 70 | SW 1/13. 71 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, S. 84. 72 | Joachim Strelis: Die verschwiegene Dichtung, S. 60. 73 | Vgl. ebd., S. 89f. und S. 97.
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Poetizität der Sätze beruht in den Texten Robert Walsers so auch »gerade auf ihrer Undenkbarkeit«,74 wie Bernhard Echte pointiert hat. Und Urs Jenny schreibt: »Tatsächlich wirkt nichts, was in Walsers Texten erscheint, als hätte es schon vorher oder außerhalb der Sätze existiert […]. Alles ist nur in den Wörtern wirklich.«75 Diese Art Dearbitrarisierung, diese Poetizität bildet, dem Bewusstsein der Lesenden halb entzogen, dabei einen Schauplatz aus, der, insbesondere in der Bieler Prosa, nicht zufällig mit der Semantik des Traums einhergeht, insofern Entstellungen, Verlagerungen von Schauplätzen, Verkehrungen in ein Komplement ja gerade den Traum auszeichnen. Das Scheitern der Darstellbarkeit, das Max Brod im Kommentar zu Robert Walser inszeniert hat, weist, wie erwähnt, bemerkenswert genau auf die Bedeutung, die das Schreiben für die Texte Robert Walsers hat, die auch deshalb nicht zu einem »unbewegten Raum«76, zur autoritativen Schrift werden, weil sie sich als Kontextur von Schreiben und Lesen bereits konstituieren. Brod markiert gerade diese epistemologische Qualität, und zwar nicht nur, indem er Robert Walsers Geste, bei der das Schreiben aus dem Papier herauszutreten scheint und die Schrift nicht mehr nur hinter ihrer Funktion verschwindet, wiederholt. In einer weiteren Rezension aus dem Jahre 1913 wird Brod auch das darin zugrundeliegende Prinzip der Metonymie beschreiben: »Darin sehe ich das Wesentliche dieses Buches [Kleine Prosa; Aufsätze; Anm. d. Verf., KS], daß es so unbeschwert, so Wort-aus-Wort-folgend, so gleichsam von sich selbst verleitet und immer einer berückenden Wunderstimme, die aus seinem Innern tönt, wie willenlos gehorchend ist. Es wird scheinbar immer nur das Nächstliegende, das aus dem Vorhergehenden ohnedies Folgende gesagt: aber die Richtung, in der diese Selbstverständlichkeit fortschreitet, die unsichtbar regierende Hand ist eben bei aller Nähe unbegreiflich.«77 Das horizontale Kontiguitätsprinzip der Metonymie, das in Robert Walsers Feuersbrunst von einem buchstäblichen Wortbild auf den Text übergegriffen hatte, ist in Brods Kommentar zu Robert Walser dabei in einem uralten Denkbild gleichsam selbst gezügelt, dem Chorismos Platons, einem Denkbild, das auch Kurt Tucholsky 1913 im Titel einer kleinen Rezension zu Robert Walser als Dreischichtedichter übernehmen wird. Und die Proliferation von Schichten, ihre immer neue Herausbildung im Lesen der Texte Robert Walsers, wird sich noch in Walter van Rossums Beitrag von 1986 mit dem Titel Schreiben als Schrift wiederfinden. Auf signifikant andere Weise allerdings heißt es hier, wie bereits zitiert, über die Mikrogramme,
74 | Bernhard Echte: »Nie eine Zeile verbessert?«, S. 66 (Hervorh. v. BE). 75 | Urs Jenny: »Spaziergänge auf dem Papier. Zum späten Werk von Robert Walser«, in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1978, S. 204-209, S. 206. 76 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 81. 77 | Max Brod: »Kleine Prosa. Aufsätze« [Buchrezension von 1913], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 83-85, S. 84.
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sie seien »ihr ständig durchscheinendes Palimpsest«.78 Aus dem vertikalen Aufbau von Schichten ist ein Palimpsest geworden, und ein Palimpsest zeichnet sich durch Ausbrüche in seinen Schichten aus, so dass nicht alles lesbar wird. Max Brods Kommentar zu Robert Walser wie Walter Benjamins als Beitrag für die Zeitschrift Das Tagebuch entstandene Rezension von 1929 nehmen Walter van Rossums interpretatorisches Bild jedoch in Ansätzen bereits vorweg. So schreibt Benjamin: Walsern ist das Wie der Arbeit so wenig Nebensache, daß ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt. Man möchte sagen, daß es beim Schreiben draufgeht. […] Kaum hat er die Feder zur Hand genommen, bemächtigt sich seiner eine Desperadostimmung. Alles scheint ihm verloren, ein Wortschwall bricht aus, in dem jeder Satz nur die Aufgabe hat, den vorigen vergessen zu machen.79
Die Fabeln der Texte Robert Walsers sind buchstäblich fadenscheinig. Sie sind im Fortgang des Werks zunehmend überlagert durch einen anderen Prozess. Und wo der Stoff in einem übertragenen Sinne fadenscheinig geworden, der Flor abgeschabt ist, wird die Textur, die Gewebestruktur sichtbar. Robert Walsers Figuren entstammen für Benjamin daher auch nicht der Schweizer Region, welcher – wie Benjamin bemerkt – der Autor selbst entstammt, sondern sie kommen aus einer dunklen Untergründigkeit: Sie [die Figuren; Anm. d. Verf., KS] kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig. Was sie weinen, ist Prosa. Denn das Schluchzen ist die Melodie von Walsers Geschwätzigkeit. Es verrät uns, woher seine Lieben kommen. Aus dem Wahnsinn nämlich und nirgendwoher sonst. Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben und darum von einer so zerreißenden, so ganz unmenschlichen, unbeirrbaren Oberflächlichkeit bleiben. Will man das Beglückende und Unheimliche, das an ihnen ist, mit einem Worte nennen, so darf man sagen: sie sind alle geheilt. Den Prozeß der Heilung freilich erfahren wir nie, […]. 80
Walter Benjamins Wort, dass Robert Walsers Figuren einer venezianischen Nacht entstammten, erweist sich dabei als wörtlicher Reflex auf die Bieler Prosa, wo als »venezianische Nacht« der Abend des Nationalfeiertags am 1. August zum Gedenken an den Rütli-Schwur figuriert. Im ersten der Prosastücke aus dem so betitelten Band von 1917 heißt es zu diesen rituell mit abendlichen Feuern und Feuerwerken begangenen Feierlichkeiten:
78 | Walter van Rossum: »Schreiben als Schrift«, S. 239. 79 | Walter Benjamin: »Robert Walser«, in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 126-129, S. 127. 80 | Ebd., S. 128.
III. H IEROGLYPHEN Viele lichtergeschmückte Nachen bewegten sich im dunklen Wasser. Die Straßen und Nebenstraßen, die zum See führten, schienen mir Kanäle zu sein, und ich bildete mir mit Leichtigkeit ein, dass die Nacht eine venezianische Nacht sei. Heller Feuerschein loderte da und dort rötlich aus dem Schwarz auf, und nächtliche Menschengestalten spazierten in die hellen und in die dunklen Stellen. 81
Das Bild der bunt illuminierten und in diesem Sinne paradox hellen Nacht hat in diesem Text mit dem Titel Das Seestück ›helle und dunkle Stellen‹ – wie ein Gemälde. Noch deutlicher wird die Illumination durch die ›Schwesterkunst‹ dabei im Text Hans aus dem Band Seeland, wo sich die Szene wiederholt zeigt, in einem ebenfalls paradoxen Amalgam aus Feuer und Regen: Hoch in die nächtliche Luft flogen Raketen, um als sprühender Feuerregen in den See niederzufallen, was ein Schauspiel war, das fast wie eine venezianische Nacht aussah. Von Anhöhen hernieder glühten Feuerkugeln; durch das stille Schwarz der Nacht schossen prächtige, obgleich nur künstliche Sterne. In weiter Ferne, hoch oben auf den Bergen, brannten Erinnerungsfeuer. Die Nacht war still und warm, wie ein sorgfältig zugeschlossenes Zimmer oder wie ein hoher, schöner, vornehmer, dunkler Saal, wo jedermann, weil überflüssiges Geräusch unpassend zu sein scheint, sich unwillkürlich still hält. 82
Die Leichtigkeit, mit der die »Nachen« in der imaginären »venezianische[n]« Nacht schweben, ist jene Leichtigkeit der Fiktion, als einer ›Nacht‹, die durch »künstliche Sterne« erhellt ist. Das Inskriptionsverhältnis der Schrift, bei der dunkle Striche auf das Weiß des Papiers gesetzt sind, kehrt sich dabei um. Und doch sind es »künstliche Sterne«, welche die Nacht illuminieren, ist die Schrift mitgeschrieben. Die hellbunt illuminierte Nacht, alle Farben Weiß-auf-Schwarz, und die Schrift, Schwarz-auf-Weiß, figurieren und vertauschen sich doch auch gegeneinander. Und wie dies zu verstehen ist, kann eben im Begriff des Palimpsests deutlicher werden. Der Begriff des Palimpsests (von griech. palin psestos ›wieder abgekratzt‹ oder lat. codex rescriptus ›Schabtext‹) bezeichnet eine Handschrift, bei der, um den kostbaren Beschreibstoff (Papyrus oder Pergament) wiederverwenden zu können, die alte Schrift beseitigt und durch eine neue Schrift ersetzt ist; beides gelingt dabei nicht restlos. Und so gibt das Palimpsest in seinen zerkratzten, verwischten, verwitterten Überlagerungen differenter Schriftschichten indexikalische Spuren zu lesen. Das Palimpsest verweist auf die Historizität und Heteronomie der Schrift in einem gerade umgekehrten Sinn als bei Walter Benjamin und van Rossum, bei denen das Durchschimmern älterer Schriftschichten suggeriert ist, bei denen der Begriff des Palimpsests also selbst ein Palimpsest geworden ist, in das sich hineinsehen lässt, was daraus andererseits hervorzutreten scheint.
81 | SW 5/81. 82 | SW 7/196.
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Das Palimpsest aber dient Gérard Genette auch als Metapher zur Definition dessen, was einen Text in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt, was als Spur eines Textes in einem anderen Text erscheint, und zwar nicht nur in Form einer Intertextualität, die mit Texten anderer Autoren ausgebildet wird, sondern auch in einer weniger expliziten Beziehung, die der Text mit dem unterhält, was seine eigenen Ränder ausmacht und was Genette als Paratext bezeichnet, wozu die folgenden Bestandteile gehören: »Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale, die den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen […].«83 Auch Entwürfe, Skizzen, Prätexte sind Paratexte. Und so wären auch die Mikrogramme, als Prätexte für die zu Lebzeiten veröffentlichten Zeitungsbeiträge Robert Walsers, die als Abschriften zur Publikation gelangten, Paratexte. Der Paratext umgibt und verlängert einen Text, »um ihn im üblichen, aber auch im vollsten Sinn des Wortes zu präsentieren: ihn präsent zu machen«, schreibt Genette, und zwar als jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird.84 Wie aber können die Mikrogramme, die zunächst gerade nicht auf eine Publikation hin angelegt waren, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, diese Art Paratext sein? Genette zitiert eine, wie er selbst bemerkt, besonders schöne Beschreibung der Wirkung des Paratextes von J. Hillis Miller: Para ist eine antithetische Vorsilbe, die gleichzeitig Nähe und Entfernung, Ähnlichkeit und Unterschied, Innerlichkeit und Äußerlichkeit bezeichnet […], etwas, das zugleich diesseits und jenseits einer Grenze, einer Schwelle oder eines Rands liegt, den gleichen Status besitzt und dennoch sekundär ist, subsidiär und untergeordnet wie ein Gast seinem Gastgeber oder ein Sklave seinem Herrn. Etwas Para-artiges ist nicht nur gleichzeitig auf beiden Seiten der Grenze zwischen innen und außen: Es ist auch die Grenze als solche, der Schirm, der als durchlässige Membran zwischen innen und außen fungiert. Es bewirkt ihre Verschmelzung, läßt das Äußere eindringen und das Innere hinaus, es teilt und vereint sie […]. 85 83 | Gérard Genette: Palimpseste, S. 9ff., S. 11. Diese Art des Kommentars bilden, allerdings in einer Verkehrung der Aufeinanderfolge von Text und Kommentar und der Umkehrung einer Beziehung von Primärem und Sekundärem oder Sekundarisiertem, in den Mikrogrammen die buchstäblichen Vorschriften, das heißt die verschiedenen Eindrucke der Formulare, deren wechselseitiges Verhältnis zur Semantik der Texte ebenfalls noch der Entzifferung harrt, denn was auf den Blättern buchstäblich vorgeschrieben ist, wird gerade durch den Text von Robert Walser auch zu einem Kommentar eben dieses literarischen Textes. 84 | Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 2001, S. 9f. (Hervorh. v. GG). 85 | J. Hillis Miller: »The Critic as Host«, in: Deconstruction and Criticism, New York 1979, S. 219 (Hervorh. v. JHM); zit.n. Gérard Genette: Paratexte, S. 9, Anm. 2.
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Diese Art »Membran« schreibt auch Robert Walsers bereits weiter oben erwähnte Naturstudie, als eine der längeren Erzählungen aus dem 1920 erschienenen Band Seeland, und nicht zufällig in einer Digression. Es ist eine der unzähligen Digressionen in seinem Werk, Abschweifung vom ›eigentlichen‹ Thema, bei der sich der Text gleichsam durch ein übergreifendes »Erinnerungsfeuer«86 perforiert zeigt, um ein Wort aus dem Text Hans aus demselben Band zu zitieren. In der Naturstudie ist dieses Feuer eines, das sich – im Abendrot – wieder mit dem Wasser verbindet: Wie ich bei dem allem so innig ergriffen, so seltsam bewegt sein konnte, vermag ich mir heute kaum noch irgendwie zu erklären. So zum Beispiel erinnere ich mich, eines Abends ein entzückendes Abendrot gesehen und in hohem Grade genossen zu haben, das über hohen grünen Sommerbäumen schwebte. Die Erde und das Leben erschienen mir still, kühn, groß. Alles besaß eine ganz bestimmte Feinheit, die vielleicht einzig nur in mir selber in allzu starkem Umfang vorhanden war. Hierin, wie in manchen andern Dingen, täuscht man sich mitunter. Was wir zu betrachten und an uns anzuziehen meinen, gießt sich aus unserem eigenen Innern hervor usw. Übrigens bezieht sich dies auf Späteres, während hier eigentlich von Früherem geredet sein sollte. Eigentümlich ist, wie mir Frühes und Spätes, Jetziges und Längstvergangenes, Deutlich-Gegenwärtiges und Halbschonvergessenes in- und übereinanderschwimmen und schimmern und wie blitzende Lichter, schwerfällige Wellen zusammenfallen und übereinanderwogen. Derartiges Zittern und Blenden liebe ich jedoch mit aller Leidenschaft. Ich bin erklärter Freund des Ungewissen. In einer gewissen Undeutlichkeit, worin alles verfeinert ist, fühle ich mich außerordentlich wohl, und wenn es mir zeitweise um Herz und Geist herum dunkel ist, so freut es mich tief, daß ich mich anzustrengen habe, mich in Geist, Herz, Phantasie wieder zurechtzufinden, halb schon verlorengegangene schöne, liebe Dinge, Gesichter, Gebilde, lebhaft zurückzugewinnen. Suchen, spüren, stöbern, spähen und lauschen finde ich ungewöhnlich anregend und darum auf gewisse Art angenehm. Ich hoffe, daß ich mich deutlich ausdrücke. Also das Abendrot!87
Wellen sind Überlagerungen. Was aus dem »eigenen Innern« hervorkommt – und dann in ein »usw.« im Text unartikuliert ausfranst – bewirkt, dass Unterstes zuoberst gekehrt wird: »eigentlich« hatte »von »Früherem« die Rede sein sollen, dann aber fallen beide Zeiten zusammen und – wie Wellen – ineinander. Wellen entstehen durch Wind, »und da saß nun der Maler«, wird es im späten Text Die Allee, Anfang 1931 in der Prager Presse, heißen, »und bemühte sich, mit Strichen den Wind, das Wasser, die Wellen, das ganze herrliche, pathetische Ereignis, dieses Phänomen, abzumalen, und ich sah sogleich, daß ihm die nötige Schrift, genannt Technik, fehlte. Der Wind war ein weißes Unsichtbares, also ebensogut ein unsichtbares Weißes. Man kann das Unsichtbare natürlich sehr 86 | SW 7/196. 87 | SW 7/60f.
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gut malen, das sich auf den Ersichtlichkeiten abspiegelt.«88 Nicht jedoch, so ließe sich hinzufügen, gelingt es im Medium der Malerei, jenes Unsichtbare, Weiße darzustellen, das sich nicht immer und nicht unbedingt auf »Ersichtlichkeiten«, auf fest umrissenen Gegenständen, in einer Positivität »abspiegelt«. Wie nun aber leistet die Schrift die Darstellung des Unsichtbaren? Dieter Roser antwortet in Bezug auf den genannten Text Die Allee: »Indem sie das Unsichtbare als den Hintergrund, als das Weiß des Papiers, auf dem die Schrift aufgetragen wird, durch die Schrift zur Geltung kommen läßt. Solchermaßen entsteht mit der Schriftform oder dem Schriftkörper (›Ersichtlichkeiten‹) eine Negativform (das ›Unsichtbare …, das sich … deutlich abspiegelt‹); das Schwarz der Schrift zeichnet die Konturen der Negativform an den Rändern als Leerstellen mit oder stanzt diese aus.«89 Das also wäre die nötige Technik, genannt Schrift, doch wohlgemerkt dreht Robert Walsers Text Die Allee dies um: in »die nötige Schrift, genannt Technik«. Auch hier gilt es, wiederholt hinzusehen. Denn die Wellen, das Bewegte und Bewegende, das ohne die »Technik«, genannt Schrift, nicht abzubilden wäre, machen die Oberfläche eines Sees oder Meeres aus, »dessen glänzende Oberfläche«, wie Robert Harrison schreibt, immer »eine Unterwelt der Auslöschung verhüllt«. Diese Auslöschung bedeutet »nicht lediglich Verschwinden; sie bedeutet, daß sich die Stätte des Verschwindens nicht mehr bezeichnen läßt. Auf dem Meer gibt es keine Grabsteine. Geschichte und Gedächtnis gründen sich auf das Einschreiben, aber auf dieses Element lässt sich nichts schreiben.«90 Und genau aus diesem dunklen Grund ist die nicht bloß ironisch bejahte existentielle Ungewissheit in der Naturstudie bewegt; gerade ihr gilt alle Sympathie: »Ich bin erklärter Freund des Ungewissen.« Wenn es aber wahr ist, so schreibt Maurice Blanchot, dass, wie Freud zeitweise angenommen habe, »unser Unbewußtes sich unsere Sterblichkeit nicht vorstellen kann, bedeutet das höchstens, daß Sterben undarstellbar ist, nicht nur, weil Sterben ohne Gegenwart ist, sondern, weil es keinen Ort hat, auch nicht in der Zeit, als Zeitlichkeit in der Zeit. Wenn man die Interpretation von Pontalis zu bedenken hat, nach der ›das Unbewußte nichts vom Negativen weiß, weil es das Negative ist, das sich der angenommenen vollen Positivität des Lebens entgegensetzt‹, ist es ebenso notwendig, sich daran zu erinnern, daß das ›Negative‹ bisweilen tätig ist, indem es mit der Sprache spricht […].«91 Indem es an einer Oberfläche sichtbar wird. Und die Valenz, die der im Text Das Seestück – wie in der Bieler Prosa – des Öfteren wiederkehrende »Nachen«, der ja auf diesen Wellen gleitet, bei Robert Walser hat, zeigt sich in der Tat in der ›sprechenden‹ Etymologie. Das seltene, anachronistische ›Papierwort‹, um mit Max Brod zu spre88 | SW 17/100. 89 | Dieter Roser: Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift, S. 173. 90 | Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 26 und 32. 91 | Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 145.
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chen, bezeichnet zunächst einen fragilen, muldenartigen Kahn, der ohne Mast und Verdeck, zuweilen mit, meist jedoch ohne Segel durch ruhigere Binnengewässer kreuzt. Althochdeutsch gab es das Wort ›nachen‹ jedoch auch in der adverbialen Bedeutung von ›schwach‹. Über historische Schreibungen ist der ›Nachen‹ mit dem ›Nacken‹ verbunden, als dem, in Hinsicht darauf, brechen oder gebrochen werden zu können, sprichwörtlich ›schwachen Punkt‹ des Körpers. Als ›nachend‹ ist das Wort Nachen darüber hinaus mit dem räumlich Nahenden oder Nahen verbunden.92 Der ›Nachen‹ ist überdies ein poetisches Wort, ein Kunstwort, das auch die Nacht und das Wachen graphemisch und metonymisch in eins spielen lässt. Und so bewegt sich der Nachen, im geleiteten Wanken des Kahns, als Metapher der Schrift, ebenso selbsttätig, wie er sich aus den Wellen heraus bewegt zeigt. Ob die Bewegung transitiv oder intransitiv ist, ob das Schreiben bewusst oder aus einem dunklen Grund des Unbewussten motiviert ist, wird darin unentscheidbar. Und in der Verbrüderung mit allem Ungewissen geht es dabei nicht nur um Fragilität, sondern sogar um Vulnerabilität. Das Seestück nämlich, das im Jahre 1917 im Band Prosastücke erscheint, lässt einen (orientalischen) »Halbmond« einer Wunde gleichen, woraus folgt, »daß der schöne Körper der Nacht verwundet war, ähnlich wie eine schöne edle Seele verletzt und verwundet sein kann«. Der »schöne Körper der Nacht« ist fragil wie der Nachen, der, prinzipiell der Unbill von Wetterwechseln ausgesetzt, eben im Text Das Seestück (mithin in einem Genre der Malerei) zu einem, wie es heißt, »beinahe unsichtbaren Nachen« geworden ist.93 Und das betrifft auch das Vehikel der Schrift.
III.3 D AS D ATUM DER U NLESBARKEIT : H ANS (1916/1920) Robert Walsers Sammlung kleiner Prosa mit dem Titel Seeland, der auch der Text Naturstudie angehört, gibt am Ende des bereits 1918 abgeschlossenen, mit dem Druckvermerk vom Vorjahr jedoch erst 1920 erschienenen Bandes einen Satz zu lesen, der mit Blick auf die immer prekärer werdende Lesbarkeit der Schrift in den Mikrogrammen über seine textimmanente Bedeutung hinaus lesbar wird; der Satz entstammt der bereits zuvor erwähnten längeren Erzählung Hans94 und lautet: »Muß das Schöne nun 92 | Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 13 (N-Quurren), ›Nachen‹ S. 44f., ›Nacken‹ 238ff. und ›Nahend‹ S. 294ff. 93 | SW 5/82. 94 | Der Titel Hans könnte dabei in folgendem Zusammenhang stehen: René Schickele hält sich seit Herbst 1915 in der Schweiz auf. Die Aprilnummer 1916 der Weissen Blätter, nun von Schickele statt wie zuvor von Franz Blei herausgegeben, erscheint in Zürich im Verlag Rascher, die nächste Nummer wird in Deutschland bereits verboten. Im ersten Heft von 1916 hatte sich Schickele zum ersten Mal
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verblassen und alles, was kenntlich gewesen ist, zukünftig völlig unkenntlich scheinen?«95 Der Text Hans war im August 1916 in der Zeitschrift mit dem Titel Die Schweiz, in Heft Nr. 8 des XX. Jahrgangs, schon einmal veröffentlicht gewesen. Er rekapituliert den Zeitraum eines Sommers, der im August 1914 – der Protagonist ist mit einer völlig veränderten Realität konfrontiert – nicht nur zu Ende gegangen ist, sondern, so jedenfalls qualifiziert es der Text, der vergangen scheint »wie ein Traum«. Der Vorkriegssommer wird sich von nun an, wie vielleicht alle Vorkriegssommer, gleich einem Traum ins Wachleben verlieren und profanieren und sich nur mehr als schwer deutbare Kohärenz rätselhafter Elemente darstellen. Ein Traum ist vom Schlaf als theatraler Schirm gegen das Erwachen aufgespannt, gegen einen allzu abrupten, unvermittelten Wechsel; andersherum bewahrt der Schlaf den Traum vor dem Stigma des Psychotischen, dem die Traumbilder ohne entsprechende Markierung ›als Traum‹ im Wachleben nicht entgehen würden. Auch die Literatur genießt diese Immunität. Der Traum, dieses Gebilde von größter Komplexität, ist bereits für Heinrich Heine auch Paradigma einer Kulturtheorie.96
nach seiner Emigration als Herausgeber wieder zu Wort gemeldet. Vgl. Nicole Billeter: »Worte machen gegen die Schändung des Geistes!« Kriegsansichten von Literaten in der Schweizer Emigration 1914/1918, Bern u.a. 2005, S. 249ff. »Diese Worte sind vorsichtig gewählt«, schreibt Billeter, »und noch mit Anspielungen auf die Zensur gespickt. Kommentarlos stellt er beispielsweise fest, dass sein Schauspiel Hans im Schnakenloch erst nach dem Frieden als Buch ausgegeben werde, implizierend, dass es zu ›gefährlich‹ sei, um während des Krieges der Öffentlichkeit vorgestellt zu werden.« (Ebd., S. 255.) In dem bereits im Herbst 1914 verfassten Schauspiel Hans im Schnakenloch schildert Schickele das Ereignis des Kriegsbeginns. Es ist eines der ersten Werke über den Krieg, im Oktober 1914 innerhalb weniger Wochen geschrieben. Zu dieser Zeit habe Schickele noch nichts Genaueres über die Zustände im Krieg gewusst haben können, schreibt Billeter. Das Stück empöre sich so auch weniger über den Krieg als vielmehr über die zerrissene Situation in Schickeles Heimat, dem Elsass, wo das Stück auch spielt: »dort wo die Verhältnisse zwischen Frankreich und Deutschland auf kleinstem Raum aufeinanderprallen, zeigt das Theaterstück die Situation einer deutsch-französischen Familie. Sie sitzt im Brennpunkt des Krieges, sowohl geographisch wie auch familiär, Loyalitäten reissen Freunde auseinander, und Brüder kämpfen gegen Brüder.« (Ebd., S. 258.) Was Schickeles Kenntnis vom Krieg im Oktober 1914 betrifft, die Billeter eingeschränkt sieht, so umfasst sie jedenfalls das Wissen darum, dass der Jugendfreund von René Schickele, Ernst Stadler, Philologe, Lyriker und früher Expressionist, in diesem Oktober 1914 von einer Granate zerrissen worden war. Vgl. ebd., S. 246, Anm. 3. 95 | SW 7/206. 96 | Vgl. Norbert Altenhofer, »Chiffre, Hieroglyphe, Palimpsest«, S. 188ff.
III. H IEROGLYPHEN Es geht den Dichtern wie den Träumern, die im Schlafe dasjenige innere Gefühl, welches ihre Seele durch wirkliche äußere Ursachen empfindet, gleichsam maskieren, indem sie an die Stelle dieser letzteren ganz andere äußere Ursachen erträumen, die aber in so fern ganz adäquat sind, als sie dasselbe Gefühl hervorbringen. 97
Das Bewusstsein, das Erlebnis des Traums konstituiert sich in Robert Walsers Text Hans dabei nur im Abbruch des Traums, im bereits besiegelten Verlust, nachträglich. Und so endet mit dem Kriegseinbruch nicht nur die Erzählung Hans, sondern bezeichnenderweise der gesamte Prosaband mit dem Titel Seeland, dessen letztes Stück der Text Hans ist. Der Abbruch ist vollständig. Ein Traum substituiert, ersetzt laut Freud in der Übertragung auf Rezentes, Gegenwärtiges eine Szene aus der Vergangenheit, und zwar mittels eines Ausdruckssystems, das ganz eigenen Gesetzen gehorcht und mehr oder weniger schwer zu dechiffrieren sein wird, weil alle Bedeutungen, darin eingeschlossen die Abstrakta und die logischen Verknüpfungen, in Bilder transponiert sind. Worte figurieren im Traum beispielsweise als Wörter; ihr mehr oder weniger verblasster metaphorischer Sinn kann durch Buchstäblichkeit oder Wortwörtlichkeit kryptiert sein, im Wort kann wieder ein Bild erscheinen. Diese Art Transposition hat Freud im Bild der Hieroglyphe verdichtet, als jener weiter oben bereits betrachteten, gleichermaßen archaischen wie arkanen, über Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg rätselhaft und lange unentziffert gebliebenen Präfiguration des Buchstabens, die aus der Kultur des ägyptischen Altertums überliefert ist. Die Hieroglyphe, wie Freud sie in seinem Text Aus der Geschichte einer infantilen Neurose aus dem Jahre 1918 verstehen wird, der die Kryptonomie des sogenannten ›Wolfsmannes‹ zu entschlüsseln sucht, ist dabei eine Hybridbildung, bei der sich die Kette der Substitutionen, die sich erst in der Deutung des Traums in ihrer Signifikanz entfaltet, quer durch Sach- und Wortvorstellungen bewegt.98 In dieser Falldarstellung, in der ein Traumbild Bedeutung 97 | Heinrich Heine: Sämtliche Schriften, hg. v. Klaus Briegleb, Bd. 1-6, München 1968-76, Bd. 4, S. 646; zit.n. Norbert Altenhofer: »Chiffre, Hieroglyphe, Palimpsest«, S. 188. 98 | Vgl. zu Bilderschrift und Schriftbild in der Freudschen Analyse des ›Wolfsmannes‹ Roger Hofmann/Burkhardt Lindner: »Traumbild und Trauma – Der Ort des Unheimlichen bei Freud«, in: Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, hg. v. Martin Sturm, Georg Christoph Tholen und Rainer Zendron, Linz, Salzburg 1995, S. 35-48, S. 42. Hieroglyphe in diesem Sinn ist auch Walter Benjamins Bild der »Sprachgirlanden«, das sich im bereits zitierten Essay zu Robert Walser findet. Dort »kränzt Walser sich bacchisch mit Sprachgirlanden, die ihn zu Fall bringen. Die Girlande ist in der Tat das Bild seiner Sätze. Der Gedanke aber, der in ihnen daherstolpert, ist ein Tagedieb, Strolch und Genie wie die Helden in Walsers Prosa. Er kann übrigens nichts anderes als ›Helden‹ schildern, kommt von den Hauptfiguren nicht los und hat es bei drei frühen Romanen bewenden lassen, um fortan einzig und allein den Brüderschaften mit seinen
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hat, das sich dann im Wachleben in einer Handzeichnung des ›Wolfsmannes‹ entsprechend entstellt manifestiert, entzieht sich ein Trauma. Es entzieht sich als das, was nicht assimilierbar ist, wie Roger Hofmann darlegt; es entzieht sich dem Traum oder – was auf dasselbe hinausläuft – der Darstellbarkeit und durchkreuzt dabei jene ›Rücksicht auf Darstellbarkeit‹ im selben Maße, wie es zugleich vehement zu einer Darstellung hindrängt.99 Freuds Metapsycholohundert Lieblingsstrolchen zu leben.« (Walter Benjamin: »Robert Walser«, S. 127f.) Metonymisch im Sinne der Graphik weist das Bild der Girlande auf die horizontalen Schwünge der Handschrift, auf die Fügung und Sperrung von Buchstaben und Wörtern. Die Girlande verbindet vertikale Punkte im Raum, in einer sequentialisierten Bogenlinie, in Hebungen und Senkungen. Hierin wird die Girlande zum hieroglyphischen Bild auch der lyrisch-epischen Prosodie; die »Sprachgirlanden« sind nicht nur Metapher einer metonymischen Struktur, sie schreiben traumhieroglyphisch die Ligatur der Buchstaben, aber auch die Hebungs- und Senkungszeichen, die in der Notation lyrischer Versmaße als Striche und Bögen gebräuchlich sind. So findet das Pneumatische sich hierin ebenso wieder wie das Graphische – und beides kryptiert in einer Notation des Metrischen. Und das Schluchzen, das Walter Benjamin als »Melodie« der Texte Robert Walsers in seiner Rezension identifiziert, ist schließlich eben auch metrisch. 99 | Vgl. Roger Hofmann/Burkhardt Lindner: »Traumbild und Trauma – Der Ort des Unheimlichen bei Freud«, S. 38. In dem berühmten Traumbild bzw. der Zeichnung des ›Wolfsmannes‹ sitzen Wölfe in einem Baum. Das Bild entstammt der Erinnerung an das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein oder besser der Erinnerung an die Erzählung des Märchens durch den Vater – und der darin entstandenen Angst, selbst von Wölfen bzw. vom Vater aufgefressen zu werden. In Bezug hierauf schreibt Roger Hofmann: »Wie stark der Eindruck dieses Bildes auf den Träumer gewesen sein muß, zeigt sich – schon im unmittelbaren Kontext der Traumerzählung – in mehrerlei Hinsicht: zwanzig Jahre, nachdem ihm dieses Szenario im Traum erschien, begnügt sich der Wolfsmann nicht mit einer verbalen Wiedergabe des Traumbildes, sondern händigt Freud darüber hinaus eine gezeichnete Reproduktion desselben aus, die dieser seinerseits – als würde die bloß schriftliche Wiedergabe des Traumberichts auch ihm nicht ausreichen – in der publizierten Falldarstellung reproduziert.« Ebd., S. 37. Um welchen grundlegenden Zwiespalt es bei diesem Bild der Wölfe im Baum geht und in welcher zeitlichen Staffelung sich dieser Zwiespalt entfaltet, darauf führt Georg Christoph Tholen im rückwärtigen Abschreiten der Regression hin: »Der Angsttraum wurde von dem Knaben geträumt, als dieser 4 Jahre alt war, hatte hingegen eine Urszene zum Inhalt, die mit 1 ½ Jahren beobachtet worden war, also nachträglich erst ihre pathogene Wirkung entfaltete, und dank der Pubertätsverspätung ›wie ein neues Trauma‹ die Entstellung der Urszene, d.h. den prekären Zwang zur Entscheidung, Mann oder Frau zu sein, fortführte mit Hilfe der ›Aktivierung‹ des erinnerten ›Bildes‹.« Georg Christoph Tholen: »Traumverloren und lückenhaft – Zur Atopik des Unbewußten«, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse, Nr. 38 (Traum und Trauma. Traumatische Wunden und der Traum der Psychoanalyse), Juni 1992, S. 41-57, S. 52. Die Urszene ist, mit Tholen, der prekäre Zwang zur Entscheidung, Mann oder Frau zu sein.
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gische Ergänzungen zur Traumlehre, die aus demselben Zeitraum wie der Text zum ›Wolfsmann‹ datieren, setzen den Traum dabei an die Stelle eines inneren Anspruchs, der den Schlafenden beschäftigt, der den Schlaf hätte stören können: »Ein Traum ist also auch eine Projektion, eine Veräußerlichung eines inneren Vorganges.«100 Zugleich ist es erst der Traum, der (etwa auch beim ›Wolfsmann‹) ein traumatisches Ereignis – als Einbruch mit Folgen für die ganze Organisation101 – nachträglich zur Wirkung bringt.102 Dass eine Bilderfolge ein Traum gewesen ist, wird dabei erst bewusst, wenn der Traum vergangen ist, zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Bilder also bereits verloren sind, der Traum nur mehr in der Traumerzählung, der Deutung fortlebt, und das bedeutet: Er lebt ausschließlich in der Sprache fort, in der er, wie Walter Muschg 1930 in Bezug auf Freud als Schriftsteller und auf dessen Traumdeutung schreiben wird, »eine kaum mehr wirkliche
100 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. X, S. 414 (Hervorh. v. SF). 101 | Vgl. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 514. 102 | Im Jahre 1917 bereits verfasste Freud zwei längere Beiträge als Replik auf C.G. Jung. Nach diesen soll es in der Bearbeitung der individuellen Vergangenheit ein »Zurückphantasieren«, eine Reinterpretation geben, in der die Phänomene im Zeichen eines rückwirkenden Imaginären stehen und als diese rückwirkende Illusion trügen können. Und eine späte Antwort wird, in Freuds Text von 1937 mit dem Titel Konstruktionen in der Analyse, dann auch der Begriff der Konstruktion sein. Seine existentielle Notwendigkeit scheint dieser Begriff allerdings bereits aus den Ereignissen des Ersten Weltkriegs zu beziehen. Denn jeder (ohnehin wegen der konstitutiven Nachträglichkeit in der Entfaltung des Traumas erst mit einiger Verspätung begonnene) Diskurs über diese Ereignisse war gezwungen, sie zu konstruieren, er musste »das Amorphe und Unüberschaubare des Kriegsgeschehens in eine Form der Ordnung, der Erzählung oder der Theorie überführen«. Eva Horn: »Erlebnis und Trauma. Die narrative Konstruktion des Ereignisses in Psychiatrie und Kriegsroman«, in: Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, hg. v. Inka Mülder-Bach, Wien 2000, S. 131-162, S. 140. Über die inhärente Nachträglichkeit, mit der sich ein Trauma entfaltet, schreibt Cathy Caruth, wenngleich im Zusammenhang mit der Shoah: »Die historische Gewalt und Macht des Traumas resultiert folglich nicht nur aus der Wiederholung des Erlebnisses nach seinem Vergessen, sondern auch daraus, daß ein traumatisches Erlebnis überhaupt erstmalig in seinem und durch sein inhärentes Vergessen zu einer Erfahrung wurde. Es ist diese dem Ereignis eigene Latenz, die paradoxerweise die merkwürdige zeitliche Struktur – die Nachträglichkeit – der historischen Erfahrung erklärt: Da das traumatische Ereignis nicht während seines Geschehens erfahren wurde, wird es an einem Ort und zu einem Zeitpunkt völlig erkennbar, die nicht dem Ort und Zeitpunkt des ursprünglichen Geschehens entsprechen.« (Cathy Caruth: »Trauma als historische Erfahrung«, S. 89.) Das traumatisierende Erlebnis ist in gewissem Sinne gar nicht erfahren worden aufgrund einer Absenz, einer Benommenheit und Betäubung durch das Grauen, die während des ursprünglichen Geschehens eingetreten war.
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Materie« ist.103 Träume, diese »überzarten, mächtigen Gespinste«, lassen sich – Freud bildet hier für Muschg die Ausnahme – wissenschaftlich nicht berühren, »ohne dabei Schaden zu nehmen«. Nach eben dieser Qualität des Traums als einer Art Textur, die sich in eben dem Moment zeigt, in dem sie zugleich im wörtlichen Sinne ›im Begriff ist‹, modifiziert zu werden, in dem sie im Begriff ist, sich im (wissenschaftlichen) Begriff aufzulösen, fragt Robert Walsers Text Hans auch in der Nachkriegsfassung: Das Gleiche war für ihn immer wieder höchlich überraschend. Glich nicht auch ein Jahr dem andern, und nicht jedwedes Leben ebenso? Waren Wiederholungen nicht willkommener als Gegensätze? Sanfte, ruhige, liebliche Gleichmäßigkeit nicht wünschenswerter als Härte, Unruhe, Heftigkeit und schroffe Unterschiede? Mußte denn, was irgend recht und billig schien, gewaltsam ersetzt werden? Hätte all dieses Gute, Beglückende durch Neuerung, Änderung unterbrochen sein sollen? […] Der Sommer verging ihm wie ein Traum. Es wurde Herbst. Das Grün verwandelte sich in Braun, Gelb und Rot. Der grüne Sommerwald wurde zum buntfärbigen Indianerwald. Phantastische Nebel schlichen morgens und abends um Gärten, Wälder, Häuser herum. […] Der wärmende Gedanke an den Sommer blieb durch den ganzen Winter lebendig in ihm. Nach und nach wurde es wieder Frühling, wonach auch der Sommer wiederkehrte, der dem letztjährigen fast aufs Haar glich. Wäldchen und Wälder hatten von neuem wieder ihre liebe, grüne Wonnefarbe angenommen. Im August brach der Krieg aus. […] Was jedermann für unmöglich gehalten haben wollte, war plötzlich nackte, harte, schreckensverbreitende Wirklichkeit geworden. Allenortes sah es aus wie Lauern und schien sich in sonst so sanfter Luft anzuhören wie Gebrüll von Tigern. Vor Hans erhob sich mit einmal eine hohe, gebieterische Gestalt: die Pflicht. […] Alle bisherigen Gedanken sanken zu Boden. Was soeben noch hauptsächlich gewesen war, zerrann mit einmal in verschwindende Nebensache. Der Name des Generals war in aller Leute Mund. Noch einmal ging Hans in seinen Wald, um Abschied von ihm zu nehmen. »Soll ich von allen schönen, geliebten, guten Träumen mich jetzt trennen?« redete er, »und alles, was mir kostbar war, unweigerlich fortwerfen? Soll Wertvolles für mich nun wertlos, Engvertrautes, Nahverwandtes fremd, Bedeutendes durchaus unbedeutend, Bekanntes unbekannt, Wichtiges unwichtig und alles, was ich fleißig betrachtet habe, von nun an unsichtbar geworden sein? Muß das Schöne nun verblassen und alles, was kenntlich gewesen ist, zukünftig völlig unkenntlich scheinen?«104
103 | Walter Muschg: Die Zerstörung der deutschen Literatur, S. 153; vgl. hierzu auch Jutta Prasse: Sprache als Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze, hg. von Claus-Dieter Rath, Bielefeld 2004, S. 104. 104 | SW 7/202-205f.
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Aus dem Gleichmaß der Wiederholung, aus einer differenzierten, repetitiven Singularität, ist etwas geworden, das sich ausschließlich und nur noch im Plural bestimmen lässt. Aus Wiederholungen sind abrupt Gegensätze geworden. Alles sieht wie ein »Lauern« aus und alles hört sich wie das »Gebrüll von Tigern« an, das auf Reißzähne weist, die gefährlich zerfetzen können. Alles weist auf die bedrohliche Nähe einer Gefahr, auf die Diskontinuität eines unmittelbar eintretenden Sprungs, der sich auch in Gestalt der Metapher selbst als Sprung in das Bild manifestiert. Auch die Anführungszeichen tragen ein dialogisches und – nicht nur im Sinne der theatralen Gattung – auch ein dramatisches Element in die Prosa dieses Selbstgesprächs ein. Die Satzzeichen drücken aus, dass es um das Sprechen an sich geht, welches hier gefährdet erscheint, obwohl ein Verlust (und von was?) in den beständig erneuerten Fragen nicht endgültig signifiziert ist. Die Kombination der Frageform mit dem Tempus des futurum exactum (»wird alles von nun an unsichtbar geworden sein?«) lässt, in Verbindung mit der Zeitstelle ›von nun an‹, die ihrerseits völlig indefinit wird, vielmehr unwägbar werden, ob nicht bereits im Rückblick von einem Sinnverlust gesprochen ist, der sich – und nur scheinbar metaphorisch – als Verlust von Kenntlichkeit, von ›Sichtbarkeit‹ bemerkbar gemacht haben wird. Das Datum August 1914 trägt ein Realitätszeichen im Sinne historischer Referentialität in den Text ein; der Verlust von ›Sichtbarkeit‹ hingegen bildet ein anderes Datum, das nur nachträglich, im Tempus der vollendeten Zukunft, rekonstruiert werden kann, denn dieses Datum ist auch nur kryptiert – in einem Bildbruch – zu lesen. In diesem Bildbruch eröffnet sich erst, was »unkenntlich« geworden sein wird: »Soll […] alles, was ich fleißig betrachtet habe, von nun an unsichtbar geworden sein?« Die Katachrese, der Bildbruch, das heißt der Gebrauch eines Wortes in einem ihm fremden Kontext, die Vertauschung, die im Text in der ›fleißigen Betrachtung‹ statt des an dieser Stelle erwartbaren fleißigen Schreibens liegt, verschiebt den Sinn überraschenderweise zur Schrift hin, denn Hintergrund ist ein Topos, von dem Robert Walsers Werk seit seinen Anfängen wiederholt durchzogen ist: der Topos des fleißigen Schreibens. So heißt es bereits in der ersten Prosapublikation mit dem Titel Fritz Kochers Aufsätze: »Was weiß ich, ich schreibe, weil ich es hübsch finde, so die Zeilen mit zierlichen Buchstaben auszufüllen. Das ›Was‹ ist mir völlig gleichgültig.«105 In diesen Sätzen gründet dabei übrigens wohl auch jene von Oskar Loerke und Walter Benjamin bis zur jüngsten Forschung wiederholt formulierte Kommentierung der (vermeintlichen) Gegenstandslosigkeit der Texte Robert Walsers. Das Schreiben, der Schriftzug und die momentanistische Indexikalität dieses Schriftzugs sind, sobald eine Handschrift im Druck erscheint, ohne Rest aufgehoben. Aus der Katachrese, aus dem Bildbruch im Text Hans aber kommt der Schriftzug, kommt das Schreiben, vor dem Hintergrund eines konventionalisierten sprachlichen Idioms (dem des fleißigen Schreibens) 105 | SW 1/24.
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und im ideellen Zusammenhang mit dem Verhaltenskodex einer konformisierten Arbeitsproduktivität, in der Fleiß sich immer mit einem Produkt verbunden zeigen muss, und sich nicht, wie hier, mit der Unwillkürlichkeit der Kontemplation verbunden zeigen kann, wieder zu Tage. Das Schreiben kommt vor diesem im Grunde doch zutiefst hinderlichen Hintergrund in nachgerade paradoxer Weise wieder zum Zuge. »Soll Wertvolles für mich nun wertlos, Engvertrautes, Nahverwandtes fremd, Bedeutendes durchaus unbedeutend, Bekanntes unbekannt, Wichtiges unwichtig und alles, was ich fleißig betrachtet habe, von nun an unsichtbar geworden sein?« Die Klage in fast schon biblischem Sinne im Text Hans, die Litanei zeigt sich dabei nach dem Prinzip eines Parallelismus aufgebaut, das heißt in einer besonderen Dichte syntaktischer, semantischer und phonemischer Ähnlichkeitsbeziehungen, wie sie Johann Gottfried Herder in seinen Fragmenten zu einer »Archäologie des Morgenlandes« (1769) und in seiner Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782) deshalb als ›hebräische Poesie‹ bezeichnet hatte, weil diese Art der Textorganisation ihr Vorbild in den Psalmen, den Sprüchen Salomons und einem weiteren alttestamentarischen Text, dem Buch Hiob, hat. Herder schreibt hierzu: Die ganze Hebräische Dichtkunst, bis auf den inneren Bau ihrer Poetischen Sprache ist ein fortgehender Parallelismus – ist sie aber ganz eine fortgehende Litanei? – Ja wäre sie’s. Alle orientalische Dichtkunst ist im Grunde ebenso Parallelisch: so selbst ihre Fragen und Antworten, ihre Segnungen und Flüche, ihre Lehrsprüche und Sentenzen, ihre Räthsel und Gleichnisse – alles hinkt auf zwo Seiten, oder wenn man will, geht zweifüssig erhaben daher.106
Das Prinzip des Parallelismus findet sich, so Herder, dabei nicht nur bei den »Morgenländer[n]«, sondern »bei so vielen Nationen«, denn: »Zwei ist ja die leichteste Mensur: Zwei die leichteste, gefälligste Symmetrie in Gedanken, Bewegung, Rhythmus und Bau der Worte.« Und das »simpelste Ebenmaas in Gliedern der Gedichte, Bildern und Tönen«. Nur eben: »im Orient sind die beiden Perlenschnuren noch nicht zu einem Kranze gewunden, sie hangen einander einfach gegenüber«.107 Herder wird den von Friedrich Gottlieb Klopstock mit der Regelpoetik verworfenen Reim als Spielart einer allgemeineren, symmetrischen Struktur, als fortgehenden Parallelismus wieder anerkennen. Der Reim soll sich, dem Vorbild der biblischen Versifizierung folgend, so auch überall in der Poesie wiederfinden lassen. Ein gutes Jahrhundert später findet sich der Reim bei Robert Walser wieder, und zwar auch in der Prosa, in der Berührungen und Verkettungen oftmals durch Differenz und Wiederholung im Alphabet gestiftet sind: Allite106 | Johann Gottfried Herder: Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Berlin 1877ff., Bd. 6, S. 40f.; zit.n. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt a.M. 1987, S. 11. 107 | Zit. ebd., S. 11-13.
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rationen, Umlaute, Augenreime, unreine Reime, grammatikalische Reime, Konsonanzen, Assonanzen, Reimwörter in all ihren Variationen bilden hier »einen Text innerhalb des Textes« aus; Reimzugehörigkeiten bestimmen den Erzählverlauf.108 Reime haben eine »Initiationsfunktion«.109 In Robert Walsers Text Hans allerdings ist der Parallelismus, als ein »sinnfälliges Paradigma reflexiver Selbstverdoppelung«110, das Winfried Menninghaus für die literarische Romantik beschrieben hat, lexikalisch und überdies antithetisch bestimmt. Mit dem Präfix ›un-‹ vollzieht sich in der oben zitierten Textpassage jeweils die Negation eines Begriffs. Auf kleinstem Raum, dem Raum des einzelnen Wortes, schlägt Sinn beständig um. Und der Text Hans zeigt auch an anderer Stelle deutlich den Bezug zu Nietzsche, der ja um die Jahrhundertwende allseits rezipiert worden war. Max Brod hat in seinem weiter oben angeführten Kommentar in Robert Walsers Büchern einen »neuen Ton« erkennen wollen, den er selbst als Antithese zu Nietzsche formuliert: Robert Walser sei »endlich, endlich die Reaktion auf Nietzsche, die Freiheit, die Entspannung der Seele«.111 Friedrich Nietzsches wirkmächtiges Theorem von der »Umwertung aller Werte«, das den Titel zu einem auch als »Wille zur Macht« geplanten Werk abgeben sollte, das allerdings nie realisiert wurde, und Freuds Umschrift dieses Nietzsche-Wortes zu einer »Umwertung aller psychischen Werte«112, die zwischen Traummaterial und Traum stattfinden soll, scheinen selbst eine Umwertung zu erfahren. Und wo beständig ein und dasselbe Wort – lediglich durch ein kleines vorangesetztes Präfix – einen derart anderen, erschreckend anderen Sinn gewinnen kann, wird eine Monstrosität deutlich, die in Robert Walsers Blick die Philosophie Nietzsches, und jedenfalls das, was von anderer Seite aus Nietzsches Philosophemen bekanntermaßen gemacht werden konnte und gemacht wurde, annimmt.113 108 | Nach Bernhard Böschenstein wird ganz allgemein Homophonie bei Robert Walser zum Anlass, eine semantische Beziehung anzubahnen: »Die Reimwörter, oft kehren die gleichen in anderen Texten wieder, bilden einen Text innerhalb des Textes und nehmen sich wie Haltepunkte aus, die den Gang der Erzählung markieren, orientieren und strukturieren, nicht einfach inhaltlich, sondern in einer grundlegenderen Beziehung zum Gesamtverlauf des Textes, als eine Art von Konstante, die sich an verschiedenen Stellen der Erzählung aus der Tiefenstruktur in die Oberflächenstruktur emporhebt.« Bernhard Böschenstein: »Sprechen als Wandern. Robert Walsers ›Aus dem Bleistiftgebiet‹«, in: »Immer dicht vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walsers, hg. v. Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1987, S. 19-23, S. 20f. Aber ist es nicht vielmehr die Homographie, die den Anlass hierzu bildet? 109 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 85. 110 | Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 8. 111 | Max Brod: »Kommentar zu Robert Walser«, S. 83. 112 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 335. 113 | Hier ist an die Rezeption der von Elisabeth Förster-Nietzsche mit Heinrich Köselitz (»Peter Gast«) 1906 herausgegebenen Kompilation nachgelassener Texte
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Die Traumbilder nun, welche sich bereits in Freuds Arbeit Über den Traum (1901) als »Umwertung der psychischen Wertigkeiten«114 darstellen, in einer Umwertung, die zwischen Traum und Traummaterial stattfindet, insofern sich die wichtigsten Elemente des latenten Traumgehalts zuweilen in den kleinsten, unscheinbarsten Details des manifesten Traums wiederfinden lassen, drohen auch in Robert Walsers Text ihre Geltung zu verlieren, sich in ihr Gegenteil zu verkehren. Gerade diese Verkehrung in den Gegensinn aber ist es, was nach Freud zugleich die »Urworte« ausmacht. Im Text Über den Gegensinn der Urworte (1910) nimmt Freud eine bereits in der Traumdeutung von ihm selbst aufgeworfene Frage noch einmal auf und zitiert diesen eigenen Ausgangspunkt: »Höchst auffällig ist das Verhalten des Traumes gegen die Kategorie von Gegensatz und Widerspruch. Dieser wird schlechtweg vernachlässigt. Das ›Nein‹ scheint für den Traum nicht zu existieren. Gegensätze werden mit besonderer Vorliebe zu einer Einheit zusammengezogen oder in einem dargestellt. Der Traum nimmt sich ja auch die Freiheit, ein beliebiges Element durch seinen Wunschgegensatz darzustellen, so daß man zunächst von keinem eines Gegenteils fähigen Elemente weiß, ob es in den Traumgedanken positiv oder negativ enthalten ist.«115
Diese Praxis der Traumarbeit deckt sich für Freud mit einer Eigentümlichkeit der ältesten uns bekannten Sprache, der ägyptischen Sprache, wie sie noch vor den ersten hieroglyphischen Inschriften entwickelt worden sein muss. In dieser Sprache finden sich nicht nur Worte, die entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinen, sondern auch solche – Freud bezieht sich hier auf K. Abel – »in denen zwei Vokabeln von entgegengesetzter Bedeutung zu einem Kompositum vereint werden, welches die Bedeutung nur eines von seinen beiden konstituierenden Gliedern besitzt«. So bedeutet das Wort ›außeninnen‹ nur ›innen‹, »um durch das Kompositum die Bedeutung eines seiner kontradiktorischen Glieder, das allein dasselbe bedeutet haben würde, auszudrücken«. Jeder Begriff ist so zugleich »der Zwilling seines Gegensatzes«. Und: »Da man den Begriff der Stärke nicht konzipieren konnte, außer im Gegensatze zur Schwäche, so enthielt das Wort, welches ›stark‹ besagte, eine gleichzeitige Erinnerung an ›schwach‹, als durch welche es erst zum Dasein gelangte. Dieses Wort bezeichnete in Wahrheit weder ›stark‹ noch ›schwach‹, sondern das Verhältnis zwischen beiden und
mit dem Titel Der Wille zur Macht zu denken, die in der Folge zu Unrecht als systematisches Hauptwerk angesehen wurde. Bernhard H.F. Taureck hat darauf aufmerksam gemacht, dass Nietzsches Texte in einer möglichen Lesart durchaus den Faschismus präfigurieren. Vgl. Bernhard H.F. Taureck: Nietzsche und der Faschismus, Hamburg 1989, passim. 114 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 667 (dor t gesperr t gedruckt). 115 | Ebd., Bd. VIII, S. 214.
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den Unterschied beider […].«116 Wie nun aber teilte man sich in dieser Sprache eindeutig mit? Nach der von Freud referierten Auffassung Abels diente die Geste dazu, dem gesprochenen Wort das gewünschte Vorzeichen zu geben: »In der Schrift geschah dies mit Hilfe der sogenannten ›determinativen‹ Bilder, welche, hinter die Buchstabenzeichen gesetzt, den Sinn derselben angeben und selbst nicht zur Aussprache bestimmt sind.«117 Der Nachweis kontradiktorischer Urbedeutungen kann dabei nach Abel auch für die semitischen und indoeuropäischen Sprachen geführt werden. Und ein ähnliches Phänomen findet sich in der Tat, wo das Hebräische kein Lexem für das Wort ›Antwort‹ kennt, sondern der entsprechende Term nur die ›Umkehr‹ zurück zu einer neuerlichen Frage bezeichnet. Und so dauern auch die Träume in Robert Walsers Text Hans, obgleich in Frage gestellt, in 116 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 217f. Ernest Fenollosa schreibt in einer im Jahre 1907 oder 1908 entstandenen und 1920 von Ezra Pound erstmals publizierten Arbeit, die zwar von der Sinologie kritisch bewertet wird, aber für die Entwicklung der konkreten Poesie im Fortgang des 20. Jahrhunderts inspirierende Wirkungen entfalten sollte, über das Das chinesische Schriftzeichen als poetisches Medium, dass dieses eben weit mehr sei als ein willkürliches Symbol: »Es basiert auf dem Stenogrammbild natürlicher Vorgänge. Das Denk-Bild wird nicht nur einfach hervorgerufen durch Zeichen, wie es durch Wörter der Fall ist, nein, es wirkt weit lebendiger und konkreter. […] Die Chinesen haben ein Wort, ming oder mei. Sein Schriftzeichen ist das Zeichen der Sonne zusammen mit dem Zeichen des Mondes. Es dient als Verb, Substantiv, Adjektiv. So schreibt man buchstäblich ›Sonne und Mond des Bechers‹ für ›des Bechers Glanz‹. Als Verb eingesetzt, schreibt man ›der Becher sonn-und-mondet‹, tatsächlich ›Becher Sonne-und-Mond‹, oder in abgeschwächter Denkweise ›ist wie Sonne‹, d.h. glänzt. ›Sonne-und-Mond-Becher‹ heißt natürlich: Ein glänzender Becher. […] Die Wahrheit ist, daß fast jedes geschriebene chinesische Wort eigentlich genau ein solches Grundwort ist, und trotzdem ist es nicht abstrakt. Es ist nicht ohne Wortart-Zugehörigkeit, aber es ist umfassend. Es ist nicht etwas, das weder ein Substantiv, ein Verb noch ein Adjektiv ist, sondern etwas, das alles gleichzeitig und jederzeit ist. […] Aber dies ist erst der Anfang unserer Angelegenheit. Bis jetzt haben wir die chinesischen Schriftzeichen und den chinesischen Satz hauptsächlich als lebendige Kurzschriftbilder von Aktionen und Prozessen in der Natur dargelegt. […] Solche Aktionen werden gesehen, aber das Chinesische wäre eine arme Sprache und die chinesische Poesie eine beschränkte Kunst, könnten sie [die chinesischen Schriftzeichen; Anm. d. Verf., KS] darüber hinaus nicht auch das Unsichtbare darstellen. […] Der größte Teil der natürlichen Wahrheit ist in Prozessen verborgen, die zu winzig sind für das Sehvermögen, in Harmonien, die zu umfassend sind, in Schwingungen, Zusammenhängen und Verwandtschaften. […] Beziehungen an sich sind realer und wichtiger als die Dinge, die dadurch miteinander verbunden werden.« Ernest Fenollosa: Das chinesische Schriftzeichen als poetisches Medium, hg. v. Ezra Pound, Vorwort und Übertragung von Eugen Gomringer, Starnberg 1972, S. 13, S. 22 und S. 25f. (Hervorh. v. EF). 117 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. VIII, S. 218.
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einem gewissen Gegensinn, der eben in der Frageform liegt, zugleich weiter an? Das ist die Frage, die Zirkularität der Frage. Mit der Frageform ist nichts auf endgültige Weise designiert, ist nichts festgeschrieben. Die textuelle Klage gestaltet sich als Übergangsritual, in dem, was früher oder später abgetrennt und aufgegeben werden muss, nicht verabschiedet werden soll, bevor nicht etwas wie ein Introjekt existiert, welches das Verabschiedete ersetzt. Was aber könnte Introjekt eines Traums sein? Robert Walsers Text Hans schreibt den Abbruch des Traums als Trauma. Bilder drängen nun nicht mehr von innen, sondern von außen an. Am Ende des Traums wird im Text Hans »alles, was kenntlich gewesen ist, zukünftig völlig unkenntlich scheinen«, alles Vertraute wird mindestens den Anschein erwecken, unkenntlich zu sein. Das »Schöne« wird »von nun an« einer Übersetzung, einer Transkription bedürfen, um überhaupt als solches noch in Erscheinung treten zu können. Und dabei hatte es sich in der erwähnten früheren Fassung des Textes Hans, die im August 1916 in der Zeitschrift Die Schweiz erschienen war, noch ganz anders verhalten. Dort heißt es im inneren Monolog der Figur Hans noch: »So muss ich also scheiden von all dem Träumerischen und Schönen, von all dem Guten und Geliebten«, sprach er, »und was mir kostbar gewesen ist, das muß ich jetzt von mir fortwerfen. Was wertvoll gewesen ist, gilt nun nichts mehr, und was mir so vertraut, so bekannt gewesen ist, soll mir nun fremd sein, als hätte ich es niemals angeschaut. Alles bisher Wichtige und Schöne muß verblassen.«118
In der Fassung letzter Hand aus dem Band Seeland wird es im Kontrast hierzu, wie bereits zitiert, 1920 heißen: »›Soll Wertvolles für mich nun wertlos, Engvertrautes, Nahverwandtes fremd, Bedeutendes durchaus unbedeutend, Bekanntes unbekannt, Wichtiges unwichtig und alles, was ich fleißig betrachtet habe, von nun an unsichtbar geworden sein? Muß das Schöne nun verblassen und alles, was kenntlich gewesen ist, zukünftig völlig unkenntlich scheinen?‹« Es zeigt sich, dass diese letztere Fassung nicht nur, wie gezeigt, die Umformung nach Art eines Parallelismus darstellt, sondern dass sich mit dem Bildbruch, der in der ›fleißigen Kontemplation‹ liegt, auch ein autoreferentieller Kommentar zur Praxis der Mikrographie verbirgt. Die unscheinbare Katachrese verweist noch auf ein anderes als nur das historische Datum, das mit dem August 1914 im Text explizit ist. Mit Blick auf die Mikrogramme Robert Walsers lässt sich vielmehr vermuten, dass etwas, dass die Schrift in der Tat »von nun an unsichtbar« geworden sein wird. Auch die Schrift der Mikrogramme scheint völlig unkenntlich, ist ›unsichtbar‹ im Sinne von (nahezu) unlesbar. Das Datum, das sich, neben dem Datum des Kriegsausbruchs im Text Hans findet, ist das Datum dieser »von nun an« einsetzenden und fortan zunehmenden Unlesbarkeit 118 | Robert Walser: »Hans«, in: Die Schweiz, Jg. XX, Heft Nr. 8 (1916), S. 439450, S. 450.
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(des Traums wie des Textes). Edmond Jabès hat, als sei es exakt hierzu von ihm gedacht worden, die widerstreitenden Effekte, in denen sich das Gewebe von nun an konstituieren wird, beschrieben; sie betreffen einen Traum, einen Text, der bereits im Entstehen von einer Gefährdung durchwirkt ist, die im Widerspruch zu seiner existentiellen Behauptung steht: »Was ist der Traum anderes als die gelöschte Schrift eines Buchs, das bei diesem Gelöschtwerden geschrieben und mit geschlossenen Augen gelesen wird: der Mangel – Leerstelle, Auslassung, Fehlleistung – des Buchs?«119
III.4 D IE S PR ACHE DER G R APHEME Roman Jakobson hat die Struktur von Dichtung generell als »die eines fortlaufenden Parallelismus« bezeichnet: »angefangen von den – mit dem Fachausdruck auch so bezeichneten – Parallelismen der hebräischen Poesie und der kirchlichen Antiphongesänge bis zu den verflochtenen Versformen griechischer, italienischer oder englischer Dichtung«.120 In seinen mit dem Jahre 1915 einsetzenden Arbeiten, deren Resultate im Vortrag Die neueste russische Poesie (1919) formuliert sind, ist »Literarizität« als Ensemble dieser Verfahren der Verdoppelung bestimmt, die sich in »transitorischen und chromatischen Formen« auch in der Prosa wiederfinden lassen: »Jede Sequenz ist ein Simile. In der Dichtung, wo die Ähnlichkeit die Kontiguität überlagert, ist jede Metonymie leicht metaphorisch und jede Metapher leicht metonymisch gefärbt.«121 Poetische Texte sind für Jakobson Geflechte mikrologischer und makrologischer Parallelismen, die nicht selbstpräsente Positivität, sondern Effekt sprachlicher Differenzen sind, weshalb der Begriff des Parallelismus auch nicht im Gegensatz zum strukturalistischen Prinzip steht. Ein Beispiel ist der Endreim: Die Wiederkehr des Buchstabenmaterials einer Phonemgruppe geht nicht nur, in Gestalt des differierenden Reimworts, mit einer Modifikation einher; sie wird, was sie ist, erst im Durchgang durch eine Folge nicht-ähnlicher Zeichen.122 Erst vor dem Hintergrund aller anderen Zeichen eines Textes, also all der Phonemgruppen, mit denen zusammen sich gerade kein Reim ausbildet, sind Reime als Reime, sind Parallelen als Parallelen bestimmt. Jakobsons Annahmen überschreiten das von Ferdinand de Saussure übernommene, negativ-differentielle System der Sprachglieder dabei mit einem po-
119 | Edmond Jabès: Das kleine unverdächtige Buch der Subversion, München, Wien 1985, S. 31. 120 | Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971, hg. v. Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, Frankfurt a.M. 1979, S. 107. 121 | Ebd., S. 110. 122 | Vgl. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 19 (Hervorh. v. WM).
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sitiven Begriff, dem der »ressemblance«, der Ähnlichkeitsbeziehung.123 Ferdinand de Saussures wie auch Roman Jakobsons Annahmen, die jeweils aus der Zeit des Ersten Weltkriegs stammen, haben dabei den Charakter einer Revision, einer Wiederentdeckung.124 So zitiert Roman Jakobson das ihm seit dem Jahre 1912 bekannte Fragment des Novalis mit dem Titel Monolog, in dem es heißt: […] das rechte Gespräch ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen – sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner. Darum ist sie ein so wunderbares und fruchtbares Geheimniß […] Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge. Nur durch ihre Freiheit sind sie Glieder der Natur und nur in ihren freien Bewegungen äußert sich die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maaßstab und Grundriß der Dinge.125
Das ›Spiel‹ ist bei Novalis Reflexion, die »logisch das erste«126 ist, wie Walter Benjamin in seiner Dissertation zur Kunstkritik der Romantik formulieren wird, die ebenfalls aus der Zeit des Ersten Weltkriegs datiert. Für den Novalis-Freund Friedrich Schlegel ist Spiel »nichts anderes als Leben, das aus einem ihm äußerlichen archimedischen Punkt heraus gelebt und gedeutet wird«, schreibt Peter Szondi.127 Jakobson nennt in seinem Vortrag Die neueste russische Poesie von 1919 diese Art ›Gegenstandslosigkeit‹ als wichtige Möglichkeit des poetischen Neologismus. In einer Fußnote heißt es hier: »Bis zu einem gewissen Grad ist jedes poetische Wort gegenstandslos. Dies meinte der französische Dichter, der sagte, in der Poesie gebe es Blumen, die in keinem Strauß vorkämen. [S. Mallarmé, Divagations, Crise du vers]«.128 Für Novalis »spiegelt« die Sprache in seinem Monolog ein »Verhältnißspiel der Dinge«. Es geht nicht um die sichtbaren, voneinander unterschie123 | Konkretes Beispiel sind für Roman Jakobson die Pluralformen der Sprachen, deren signifiants (Nächte, nuits, noches, nights), entsprechend dem ›Mehr‹ ihres signifié, eine größere Anzahl von Phonemen oder besser Graphemen als die Singularformen aufweisen und dergestalt eine ›innere ikonische Verbindung‹ zu dem durch sie Bezeichneten unterhalten. 124 | Vgl. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 14. 125 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 672. 126 | Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, S. 39. 127 | Peter Szondi: »Friedrich Schlegel und die romantische Ironie. Mit einem Anhang über Ludwig Tieck«, in: Euphorion, Bd. 48, Heft Nr. 4 (1954), S. 397-411, S. 405. 128 | Roman Jakobson: »Die neueste russische Poesie« [1921], in: Texte der russischen Formalisten, Bd. 2, hg. v. Wolf-Dieter Stempel, München 1972, S. 19-135, S. 93 und Anm. 9.
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denen »Dinge«, um eine Kette von Differenzen im Raum,129 ebenso wenig aber nur um das »Verhältniß« der Dinge zueinander, sondern um das »Spiel«, das sich entfaltet und das sich in der Sprache »spiegelt«, und das bedeutet auch, dass es – qua Spiegelung – eine Verkehrung erfährt. Wo aber Differenz die Quelle des Wertes ist, ist die Bewegung »unendlicher Widerspiegelung«130 nicht aufzuhalten, nicht zu unterbrechen. Nichts vermag sich ihr zu entziehen. Ein Textäußeres gibt es nicht.131 Und so drängt sich der Gedanke auf, so wird es Jacques Derrida formulieren, »daß die Schrift das Spiel in der Sprache sei«.132 Die Verräumlichung in der Schrift ist das Nicht-Wahrgenommene, Nicht-Gegenwärtige, Nicht-Bewusste; und doch gilt: »ohne diese Kadenz und vor dieser Zäsur ist das Unbewußte nichts«.133 Nicht nur die Poesie, auch der epische Text kann Träger eines psychischen Geschehens sein, das sich, der Erzählung eines Traums vergleichbar, auf die bildliche Darstellbarkeit der unbewussten Gedanken eingelassen hat.134 Und wie Robert Walsers Korrespondent und Adressat der Poetik des »Bleistiftge129 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 163. 130 | Ebd., S. 281. (Hervorh. v. JD.) 131 | So erzeugt nach Jacques Derrida (der sich hier auf Jean-Jacques Rousseau bezieht) erst die Lektüre eines Textes dessen signifikante Struktur, doch: »Selbst wenn die Lektüre sich nicht mit der Verdoppelung des Textes begnügen darf, so kann sie legitimerweise auch nicht über den Text hinaus- und auf etwas anderes als sie selbst zugehen, auf einen Referenten (eine metaphysische, historische, psychobiographische Realität) oder auf ein textäußeres Signifikat, dessen Gehalt außerhalb der Sprache, das heißt in dem Sinn, den wir diesem Wort hier geben, außerhalb der Schrift im allgemeinen seinen Ort haben könnte oder hätte haben können. […] Ein Text-Äußeres gibt es nicht. […] Es hat immer nur Supplemente, substitutive Bedeutungen gegeben, die ihrerseits nur aus einer Kette von differentiellen Verweisen hervorgehen konnten, zu welchen das ›Wirkliche‹ nur hinzukam […] Wir halten es für prinzipiell unmöglich, durch Interpretation oder Kommentar das Signifikat vom Signifikanten zu trennen und so die Schrift durch die Schrift, die auch noch Lektüre ist, zu zerstören; nichtsdestoweniger glauben wir, daß diese Unmöglichkeit sich historisch artikuliert. Nicht immer begrenzt sie in derselben Weise, in demselben Maße und nach denselben Regeln die Entzifferungsversuche.« Jacques Derrida: Grammatologie, S. 274ff. (Hervorh. v. JD). 132 | Jacques Derrida: Grammatologie, S. 82ff, S. 87. Im Phaidros Platons wird die Schrift gerade als dieses Spiel verurteilt, doch, so schreibt Derrida: »Wäre die Sprache nicht schon in diesem Sinne Schrift, dann wäre auch keine abgeleitete ›Notation‹ möglich, und das klassische Problem des Verhältnisses zwischen gesprochenem Wort und Schrift könnte sich nicht aufdrängen.« (Ebd., S. 110.) Schon die Idee des ›psychischen Eindrucks‹ sei vielmehr mit der Idee der Artikulation verknüpft. Vgl. ebd., S. 115. 133 | Ebd., S. 121. 134 | Vgl. Jean Starobinski: »Acheronta Movebo«, in: Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Katalog zur Ausstellung der Wiener Festwochen in Zusam-
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biets«, Max Rychner, bemerkt hat, sind bei Robert Walser die Bezüge nicht »handgreiflich« vorhanden, sondern vielmehr »in einer Schicht, die unter den Übereinkünften des Bewußtseins liegt«.135 Verknüpfungen vollziehen sich »Wort für Wort«136, in einer Bewegung, die, ohne anhalten zu können, alles erfasst und von der alles erfasst ist: Die Metonymie (griech. ›Umbenennung‹), die Vertauschung verwandter Begriffe, z.B. ›Stahl‹ statt ›Schwert‹, ist Mittel des Unbewussten, Zensur zu vermeiden, sie zu umgehen, an ihr vorbeizuschreiben. Der Buchstabe jedoch erzeugt »Wahrheitswirkungen«, »ohne daß der Geist auch nur das geringste damit zu schaffen hat«.137 Wo aber der Text nicht etwa Unbewusstes ist,138 wo es nichts, wie Jacques Derrida pointiert, außerhalb des Textes gibt – welche untergründige Bewegung manifestiert sich also? Das Geschriebene zeigt sich davon bestimmt, »daß das Signifikat nichts zu tun hat mit den Ohren, sondern allein mit der Lektüre dessen, was man vernimmt von Signifikantem. Das Signifikat, das ist nicht das, was man vernimmt. Was man vernimmt, das ist der Signifikant. Das Signifikat, das ist der Effekt des Signifikanten.«139 Anders und in Bezug auf Robert Walser gesprochen: Das Vorstellungsbild ist Effekt (auch) der Grapheme. Und so stellt sich im Weiteren die Frage, welche »Wahrheitswirkung«140 sich herausbildet, wenn, wie im »Bleistiftgebiet«, Buchstaben nicht mehr ›als solche‹ zu erkennen und zu synthetisieren sind, wenn das, was nicht dem konstituierten Raum widerfährt, sondern diesen erst generiert, zur Verneinung von Inskription wird, und dies nicht etwa nur als Umkehr der Prädikation, der ein Urteil bereits inhärent ist,141 nicht etwa nur in der Semantik, sondern in der angefochtenen Signifikanz des Buchstabens selbst. menarbeit mit dem Historischen Museum der Stadt Wien 1989, hg. v. Jean Clair, Cathrin Pichler und Wolfgang Pircher, Wien 1989, S. 651-661, S. 654. 135 | Max Rychner: »Robert Walser. Große kleine Welt« [Buchrezension], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 148-149, S. 148. 136 | Vgl. Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens«, S. 30. 137 | Ebd., S. 34. 138 | Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 166. 139 | Jacques Lacan: »Die Funktion des Geschriebenen«, in: ders.: Encore. Das Seminar Buch XX, hg. von Jacques-Alain Miller, 2. korrigierte Aufl., Weinheim 1991, S. 31-42, S. 38. Worum es sich im analytischen Diskurs handelt, schreibt Jacques Lacan hier, ist immer dies – »dem, was sich aussagt an Signifikantem, geben Sie eine andere Lektüre als das, was es bedeutet.« Ebd., S. 42. 140 | Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens«, S. 34. 141 | Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 127. In der ersten Fassung von Robert Walsers Der Spaziergang ist das Urteil selbst verurteilt: »Es genügt aber vollkommen, daß ich selber weiß, was ich weiß, und daß ich selbst es bin, der am besten über meine Person unterrichtet ist. Oft trügt der Schein, mein Herr, und ein Urteil über einen Menschen zu fällen, wird wohl am besten diesem Menschen selbst überlassen sein.« SW 5/14.
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Anders gesagt: Neben den Graphen der Sprache gibt es in den Mikrogrammen Robert Walsers auch eine Sprache der Graphen.142 Die Obliteration, die annähernde Auslöschung der Lesbarkeit in den späten Manuskripten deutet auf eine Komplizenschaft von Autor und Schrift, die zu der Vermutung Anlass gibt, dass die Unkenntlichkeit der Schriftzeichen selbst zeichenhaft ist. Weil diese Schrift nahezu unlesbar ist, weil sie dieses gerade auch editorisch undarstellbare Deutzeichen darin hat, in ihren spätesten Ausformungen nahezu nicht mehr lesbar zu sein, ist diese Schrift gerade nicht bedeutungsindifferent.
III.5 »S YMPATHIE DES Z EICHENS MIT DEM B EZEICHNE TEN « Die geglückte Entzifferung der Mikrogramme Robert Walsers scheint auf ein empathisches Vermögen zurückzugehen – und auf den Text selbst. Denn die Entzifferung, als Ergänzung ›fehlender‹ Zeichen, gelingt ja gerade aufgrund derselben Struktur, welche die Texte zugleich als latent unentzifferbar143 erscheinen lässt. Unerklärlich geblieben sind dabei allerdings kleinste Marken, Markierungen, die von der Maserung des Papiers nicht zu unterscheiden sind. Bernhard Echte schreibt hierzu: »Was Punkte über dem Mittelband (i, ie, ei, u, eu, mm) signalisieren sollen, ist – sofern sie sich überhaupt von kleinen Holzeinsprengseln des schlechten Papiers unterscheiden lassen – in positivistischem Sinn nicht zu entscheiden.«144 Doch gilt es, so gibt Echte selbst zu bedenken, Lesen nicht mit Buchstabieren zu verwechseln. Und so ist die Nivellierung von Markierungen auf dem Papier und den Einsprengseln im Papier dort zu verstehen, wo in einer Textur »Zwischenräume« anders bewertet sind, wo, wie Franz Mon in seinem Text Zur Poesie der Fläche (1966) schreibt, »eine falte oder ein riß […] plötzlich in der verquickung mit fragmentierten lettern den wert einer interpunktion« gewinnt.145 Und in den Mikrogrammen haben selbst noch die Graphen, 142 | Vgl. Andreas Stötzner: »Vorwort«, in: Signa. Beiträge zur Signographie, Heft Nr. 1 (Herbst 2000), S. 5. 143 | Vgl. Paolo Chiarini: »Unvorgreifliche Gedanken eines Walser-Lesers«, S. 13. 144 | Vgl. »Editorischer Bericht« von Bernhard Echte, in: Mikro, Bd. 6, S. 704. Edmond Jabès schreibt: »Was ist der Punkt? Im Hebräischen ist der Punkt der Vokal. Dank ihm kann das Wort gelesen und gehört werden. Fehlt der Punkt, so besteht das Risiko eines groben Widersinns. In Wirklichkeit gibt es kein Wort. Es gibt nur Konsonanten, die darauf warten, Wort zu werden. Das Fehlen von Punkten in den großen Texten der jüdischen Tradition verlangt besondere Aufmerksamkeit des Lesers, der das Wort selbst wiedererschaffen muß, was von diesem, über ein tiefes Textverständnis hinaus, eine wahrhafte Intuition erfordert.« Edmond Jabès: Die Schrift der Wüste, S. 48. 145 | Franz Mon: »Zur Poesie der Fläche« [1966], in: Konkrete Poesie, hg. v. Eugen Gomringer, Stuttgart 1980, 172f.; zit.n. Dagmar Buchwald: »Buchstabe, Schriftbild,
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welche die Blätter im Sinne des Oxymorons dichter Dispersion förmlich übersäen, den graphischen Wert von Interpunktionen, den Wert diakritischer Zeichen, aus denen Buchstaben wie Interpunktion bestehen. Striche und Punkte werden erst im Buchstaben, den sie formieren, zu den im eigentlichen Wortsinn146 diakritischen Zeichen (von griech. diakritós = ›unterscheidend‹) geworden sein. In den Mikrogrammen aber ist der Buchstabe vor einer Verräumlichung als Signifikanz arretiert. Oder anders: Er verliert seine Signifikanz im Gewirr scheinbar ›loser‹ Striche und Punkte. Und gerade die diakritischen Zeichen, mit denen die Buchstaben sonst zu unterscheiden sind, verwandeln das Differieren der Schrift in die fast vollkommene Unlesbarkeit des Textes. Der Buchstabe ist zerstäubt, atomisiert; und in der Tat kennt bereits das Griechische für das Atom und den Buchstaben ein und dasselbe Wort (stoicheion). Historische Tendenzen der Schrift zur vereinfachenden Abstraktion, zur verkürzenden Abbreviatur sind in den Mikrogrammen gewissermaßen nur überboten. Und es scheint, als ob die Interpunktion, von der die Performanz eines Textes, insbesondere in der theatralen Rezitation, geleitet wird und die ein explizit schriftliches Register ist (man spricht und hört Interpunktion nicht, man schreibt und sieht sie147), die Schrift überformt hat. Es scheint, als ob die Schrift nur noch aus jenen diakritischen Zeichen bestünde, mit denen sich die Laute üblicherweise unterscheiden lassen – mit der Pointe, dass gerade dies die Lautung nahezu unmöglich macht. Dinge sind zu ›lesen‹, im Sinne von ›zusammenzulesen‹, so schreibt es das Wörterbuch der Brüder Grimm, wo sie »als einzelne oder zerstreut vorkommen«.148 Die Schrift der Mikrogramme mit ihrem unlesbaren Übermaß an Dispersion ist, wie auch Elke Siegel betont hat, eine Schrift, bei der das Lesen in anderem Sinne immer wieder neu zu lernen ist, »ohne Garantie, ohne sich aufhebende Gewinne und Verluste«.149 Die Schrift stellt sich dabei, so ließe sich formulieren, als jene »gebundene Hieroglyphe«150 Bild als Schrift«, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hg. v. Miltos Pechlivanos et al., Stuttgart, Weimar 1995, S. 11-22, S. 18. 146 | Üblicherweise werden unter diakritischen Zeichen nur jene verstanden, die die Aussprache eines Buchstabens spezifizieren, wie beispielsweise die Akzente im Französischen oder die Punkte, die im Deutschen die Umlaute markieren. In der Auseinandersetzung mit Robert Walsers Mikrogrammen lädt der Begriff jedoch dazu ein, ihn wieder in seinem eigentlichen, allgemeineren Wortsinn zu verstehen. Und so wird er in dieser Studie in der Folge auch gebraucht. 147 | Vgl. Georg Witte: »Das Gesicht des Gedichts. Überlegungen zur Phänomenalität des poetischen Texts«, in: Die Sichtbarkeit der Schrift, hsrg. von Susanne Strätling und Georg Witte, München 2006, S. 173-190, S. 188. 148 | Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 12 (L-Mythisch), S. 774. 149 | Elke Siegel: Aufträge aus dem Bleistiftgebiet. Zur Dichtung Robert Walsers, Würzburg 2001, S. 160 und passim. 150 | Jacques Derrida: Grammatologie, S. 488ff., S. 490.
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dar, die im Allgemeinen der depoetisierenden Formalisierung unterliegt, weil sich in ihr jene Logik des Sinns angefochten findet, für die gerade die strikte Unterscheidung zwischen Schreiben und Lesen grundlegend ist, und die dabei auch keine Bindung an materiale ›Träger‹, an Schriftträger, wie etwa das Papier, kennt. Die Spur als indexikalisches Zeichen, das nicht nur Anteil hat an dem, was es bezeichnet, das, wie der Fußabdruck, anzeigt, wo ein Lebewesen seine Bahnen gezogen hat, wird in den Mikrogrammen zu einem Zeichen, das bereits in seiner Form antizipiert: nicht nur was, sondern vor allem, wie es bezeichnen will. Und das darüber hinaus auch anzeigt, wozu es nicht dienen will, wofür es sich nicht als tauglich erweisen soll. So heißt es im bereits angeführten Text Hans: Waren Wiederholungen nicht willkommener als Gegensätze? Sanfte, ruhige, liebliche Gleichmäßigkeiten nicht wünschenswerter als Härte, Unruhe, Heftigkeit und schroffe Unterschiede? Mußte denn, was irgend recht und billig schien, gewaltsam ersetzt werden? Hätte all dieses Gute, Beglückende durch Neuerung, Änderung unterbrochen sein sollen? Sah denn der Vernünftige bisheriges Angenehmes und Anmutiges nicht herzlich gern in immer neuer ähnlicher, nämlicher sympathischer Erscheinung?151
Das unreine Reimen in »ähnlicher, nämlicher […] Erscheinung«, in dem sich lediglich der Umlaut und das Suffix ›-lich‹ wiederholen, figuriert eine Erscheinung, die dem Imaginären entstammt. Die »sympathische[ ] Erscheinung«, deren Wiederkehr wie als die einer besonders menschlichen, besonders humanen Gestalt, einer sprichwörtlich ›angenehmen Erscheinung‹, begrüßt wird, scheint auch die Wiederkehr (der Philosopheme) des Novalis zu sein. Und zwar, wie sich anhand von Robert Walsers Text Doktor Franz Blei weiter unten zeigen lassen wird, vermittelt, literarisiert in Gestalt des Literaten Franz Blei. Er ist die »sympathische Erscheinung«, die sich eng mit Novalis verbunden zeigt. So hatte Franz Blei die Gedichte des Novalis bereits vor der Jahrhundertwende ediert. In den Materialien zu einer Enzyklopädistik152 von 1798/99, auch bekannt als Das Allgemeine 151 | SW 7/202. 152 | »Im Fragment Nr. 599 gibt Novalis gewissermaßen eine Leseanleitung seines Allgemeinen Brouillon, wenn er schreibt: ›Die Einleitung ist die Encyklopaedistik des Buchs – vielleicht der philosophische Text zum Plan.‹ Sowohl das Brouillon [des Novalis] als disparates Ganzes wie auch jedes einzelne der über tausend Fragmente läßt sich also als ›philosophischer Text zum Plan‹ interpretieren, zu einem Plan, der freilich niemals ausgeführt wird, werden kann, werden soll. Novalis Enzyklopädistik zielt auf das Konkretum als Ganzes, das im systematischen Zugriff abhanden zu kommen droht. ›Die Elemente entstehen später, als die Dinge‹, heißt es in einem der vielen, programmatischen, mit der Überschrift Encyklopaedistik versehenen Fragmente.« Das Allgemeine Brouillon versteht sich insofern als »Kompendium von Einleitungen«, die ihrerseits einen Weg anzeigen, »das Gan-
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Brouillon des Novalis verspricht das Sympathische, Sympathetische, (in) der Schrift wiederzukehren: 136. Begr[iff] von Ansteckung. 137. MAGIE. (mystische [Sprachlehre]) S y m p a t h i e des Zeichens mit dem Bezeichneten (Eine der Grundideen der Kabbalistik.) Die Magie ist von Philos[ophie] etc. ganz verschieden und bildet eine Welt – eine Wissensch[aft] – eine Kunst für sich. Magische Astronomie, Grammatik, Philosophie, Religion, Chymie etc. Wechselrepräsentationslehre des Universums. Emanationslehre. (personificirte Emanationen.) In der Magie dienen die Geister. Beschauliches Leben. Plato nennt die Magie d[es] Zoroaster einen Dienst der Götter. Theurgie. Der Weise. Mittler zwischen Gott und Menschen, mit denen sich der Weise vereinigen müsse. Klassificationssystem der Daemonen. Amulete. Talismane. Beschwörungen. Kalenderreligion der Egypter. 138. Überall liegt eine grammatische Mystik, wie mir scheint zum Grunde – die sehr leicht das erste Erstaunen über Sprache und Schrift erregen konnte. (Die wilden Völker halten die Schrift noch jezt für Zauberey.) Hang zum Wunderbaren und Geheimnißvollen ist nichts als Streben – nach unsinnlichen [sic!] geistigen Reitz. Geheimnisse sind Nahrungsmittel – incitirende Potenzen. Erklärungen sind verdaute Geheimnisse. 139. W[as] i[ist] Synkretismus?153
»Ich bin erklärter Freund des Ungewissen«,154 wird in Robert Walsers Text Naturstudie, wie zitiert, der Satz lauten, der an das Novalis-Wort »Geheimnisse sind Nahrungsmittel« denken lässt. Das Fragment, dem dieses Wort entstammt, gehört dabei in den Zusammenhang des von Novalis selbst umfassend angelegten Projekts zu einer Poetisierung der Wissenschaften und der Künste, einem ästhetischen Begriff des Wissens. So firmiert etwa auch der Eintrag über die »Romantische Gelehrsamkeit« im Allgemeinen Brouillon unter dem Titel »LITTER[ATUR]«.155 Das epistemologische Projekt baut, so Andreas Kilcher, »auf der Annahme einer allgemeinen Wechselwirkung aller Dinge und darüber vermittelt ze aufscheinen zu lassen«, so Wolfgang Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, Berlin 1995, S. 137f. [zu Novalis S. 136-157]. 153 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 266f. 154 | SW 7/60. 155 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 277.
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aller Wissenschaften auf. Denn beides, Begriff und Ding, Buch und Welt, sind semiotische Systeme, deren Elemente aufgrund ihrer ›Sympathie‹ untereinander in Wechselwirkung stehen. Novalis bezeichnet diese allgemeine, semiotische Korrespondenz als ›Wechselrepräsentationslehre‹.«156 Zeichen und Bezeichnetes existieren darin nicht in verschiedenen Sphären, sondern sind durch »Sympathie« miteinander verbunden. »Sympathie« als Ordnungsprinzip, das bis in den Mikrokosmos, bis hin zu den »Atomen« reicht, findet sich dabei auch in Friedrich Schillers Gedicht mit dem Titel Freundschaft.157 Und es wird in diesem Zusammenhang auf Robert Walsers Text Freundschaftsbrief zu kommen sein. Novalis selbst folgt in seinem Allgemeinen Brouillon einem hermetischen und kabbalistischen Naturbegriff, er folgt der von Paracelsus und Jakob Böhme geprägten Signaturenlehre. »Michel Foucault hat die von Paracelsus beschriebene Welt der signatura rerum als die der Ähnlichkeit charakterisiert«, schreibt Michael Wetzel und zitiert Foucaults Beschreibung in Die Ordnung der Dinge: »Die Welt drehte sich in sich selbst: die Erde war die Wiederholung des Himmels, die Gesichter spiegelten sich in den Sternen, und das Gras hüllte in seinen Halmen die Geheimnisse ein, […].«158 Was der Signaturenlehre des Paracelsus die Signaturen der Dinge sind, das sind der ästhetischen Produktion bei Novalis die Bilder, die rhetorischen Tropen.159 Das eigene, synkretistische Konzept bringt Novalis dabei unter Namen wie: »Kabbalistik«, »mystische Sprachlehre«, »Grammatik«, »mystische Grammatik« oder auch »Symbolistik«. Die Namen werden zu Metonymien einer semiotischen Ordnung der Dinge, die der Dichter Novalis, so Kilcher, nicht nur in seinem Wissenskonzept, sondern auch in seiner eigenen Praxis des Zitierens und Kompilierens selbst ›szenisch‹ vorführt.160 Die eigene Ordnung des Wissens ist nicht deduktiv, sondern horizontal, syntagmatisch und kombinatorisch begründet: »Bedeutung und Wissen ergeben sich weder aus einer hierarchischen Strukturierung von Sätzen, noch aus einer Referentialität der Begriffe zur Dingwelt.«161 Das poetologische Verfahren besteht vielmehr in der kombinatorischen Umwendung
156 | Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, S. 274. 157 | Auch jene Zeilen, mit denen Hegel seine Phänomenologie des Geistes (1807) beschließt, entstammen diesem Gedicht Schillers mit dem Titel Freundschaft: »aus dem Kelche dieses Geisterreiches/schäumt ihm seine Unendlichkeit«. Vgl. Philipp Theisohn: Totalität des Mangels. Carl Spitteler und die Geburt des modernen Epos aus der Anschauung, Würzburg 2001, S. 149, Anm. 9. 158 | Michael Wetzel: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, S. 61 (Hervorh. v. MW); Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 46. 159 | Vgl. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, S. 276, 300. 160 | Vgl. ebd., S. 278. 161 | Ebd., S. 283.
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und Umstellung, der Tropologisierung sprachlicher Elemente.162 Novalis selbst charakterisiert diese Kombinatorik entsprechend auch als Rhetorik, als Figurenlehre. Es geht ihm in seiner Enzyklopädistik um eine ästhetische Transposition der Kombinatorik (der Kabbala), um eine »Wort und Zeichenmalerey« oder, mit einem langen, bereits selbst ›zeichnenden‹ Wort, um eine: Zeichenflächenform(figuren)bedeutungskunst.163
Die Kombinationen der Buchstaben der Kabbala sind, von Athanasius Kircher geprägt (auf den auch der Begriff einer ›christlichen Kabbala‹ zurückgeht), dabei auf drei Operationen zurückgeführt, auf das Anagramm, das Akrostichon und eine Art verborgener Schrift, das heißt die Substitution einzelner Buchstaben.164 Seit der Romantik, so folgert Kilcher, wird die Kabbala (hebräisch für ›Überlieferung‹, ›Tradition‹), und das eben ist das Entscheidende, zum Paradigma einer Sprache, die nicht mehr nur die des Hebräischen ist, sondern eine poetische Sprache der Tropen. Auch für den französischen Enzyklopädisten Denis Diderot ist in seinem – lange vor Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen verfassten – Brief über die Taubstummen165 das Materiale des sprachlichen Signifikanten, die literarische Rede, »nicht mehr bloß eine Verknüpfung von wirkungsvollen Ausdrücken«, sondern »ein Gewebe von aufeinandergehäuften Hieroglyphen, die diesen Gedanken malen. In diesem Sinne könnte ich behaupten«, so Diderot, »dass alle Poesie sinnbildlich (emblématique) ist.«166 Und dabei geht es nicht um Bildlichkeit im Sinne von Metaphorizität. Auch fasst Diderot die Kunst nicht als eine Sprache im übertragenen Sinne auf, sondern als eine Sprache im konkreten Sinne. Es geht ihm um Abfolgen, um Rhythmus- und Klangqualitäten von Wörtern und Syntax, um 162 | Vgl. ebd., S. 301. 163 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 387. 164 | Vgl. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, S. 286. 165 | Das Komplement zum Taubstummenbrief ist Diderots Brief über die Blinden. Zum Gebrauch für die Sehenden (1749). In diesem Resümee eines Gesprächs mit einem Geburtsblinden über dessen Spracherwerb heißt es: »Erstaunlich ist in der Tat die Leichtigkeit, mit der man Sprachen lernt. Mit einer Menge von Wörtern, die nicht durch sinnlich wahrnehmbare Gegenstände vorgestellt werden können und sozusagen körperlos sind, können wir Ideen doch nur durch eine Reihe von feinen und tiefen Kombinationen zwischen den Ähnlichkeiten verbinden, die wir zwischen diesen nicht sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen und den durch sie erweckten Ideen bemerken.« Denis Diderot: Schriften zur Kunst, ausgewählt, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Peter Bexte, Berlin, Hamburg 2005, S. 22. 166 | Denis Diderot: »Brief über die Taubstummen« [1751], in: ders.: Ästhetische Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1968, S. 27-97; zit.n. Barbara Hunfeld: »Zur Hieroglyphe in der Kunst um 1800«, S. 284.
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eine instinktive Verbindung von Vokalen und Konsonanten. Und so ist die hieroglyphische Kunst für Diderot zwar durchaus überkomplex, nicht aber universal.167 Das Gewebe ist durch die Zeichenkörper vielmehr so einzigartig konstituiert, dass jede Übersetzung in eine andere Sprache zum Verlust des Hieroglyphischen führt. Diese Auffassung wird sich viel später bei Maurice Blanchot wiederfinden, für den Sinn vergeht, »sobald man ihn von der Form, die ihn erhalten hat, trennen möchte«. Für Blanchot, der seine Auffassung im Blick auf Stéphane Mallarmé entwickelt und der dem Buch eine »Abwesenheit des Buches« als heteronome, nicht aus Buchstaben, sondern aus Spuren gewirkte Schrift entgegenstellt, »erfordert die Dichtung, um verstanden zu werden, ein totales Einverständnis mit der einmaligen Form, die sie vorschlägt«.168 Im Blick auf die – stets zu distinkt – vom Schriftsinn getrennte ›Materialität‹ der Schrift erscheint auch die Unlesbarkeit der Mikrogramme Robert Walsers nicht nur als Komplement zur »latenten Unentzifferbarkeit«169 seiner Texte, sondern als diese ›einmalige Form‹, die der Autor sich selbst vorgeschlagen hat und in der es um die Verschränkung der phänomenalen Beschaffenheit des Zeichens mit seiner Referenz in einem differentiellen Paradigma geht,170 das im Sinne einer Frage, die Friedrich Hölderlin gestellt hat, anders verfährt: »Woher ist die Sucht denn unter den Menschen, daß nur Einer und Eines nur sei?«171 Und so bringt Robert Walsers Text Hans auch nicht etwa explizite Kritik am historischen Wandel im Einbruch des Krieges vor, eine Kritik, die selbst wiederum nichts anderes wäre als die Programmatik neuen, abrupten, zerstörerischen Wandels, neuer Substitution, neuer Ersetzung. Die implizite, kryptierte Rückwendung auf eine andere Poetik oder besser auf eine uneingelöste Potentialität romantischer Poetiken hat vielmehr utopischen Charakter. Und diesen utopischen Charakter schreibt die Schrift der Mikrogramme dabei auch in ihrem unmöglichen Verschwinden, in ihrem notwendigen Scheitern, denn sich selbst als Prinzip des Schwarz-auf-Weiß zum Verschwinden zu bringen – daran muss diese Schrift scheitern. Nicht jedoch, ohne sich in diesem Vexierspiel auf ihre eigene Weise, und das heißt auch auf unheimliche Weise, bemerkbar zu machen. »Freuds Analyse folgend«, so schreibt Shoshana Felman, »ist vielleicht dies am unheimlichsten am Unheimlichen, daß es nicht das Gegenteil von heimlich ist, sondern eher das, was unheimlich den Gegensatz zwischen ›heimlich‹ und ›unheimlich‹
167 | Vgl. Astrid Keiner: Hieroglyphenromantik, S. 98f. 168 | Maurice Blanchot: »La poésie de Mallarmé est-elle obscure?«, in : ders.: Faux Pas, Paris 1943; zit.n. Gérard Genette: Palimpseste, S. 290. 169 | Paolo Chiarini: »Unvorgreifliche Gedanken eines Walser-Lesers«, S. 13. 170 | Vgl. Dagmar Buchwald: »Buchstabe, Schriftbild, Bild als Schrift«, S. 14. 171 | Friedrich Hölderlin; zit.n. Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 170.
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subvertiert.«172 Wo Schrift das Unheimliche par excellence ist, insofern sie das unmöglich Verborgene ist – aber zugleich nichts, außer den Graphemen, zu sehen gibt, subvertiert die graue Schrift der Mikrogramme Robert Walsers in einem grundsätzlichen, übertragenen Sinne den Antagonismus von Schwarz und Weiß.
172 | Shoshana Felman: »Weiblichkeit wiederlesen«, in: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, hg. v. Barbara Vinken, Frankfurt a.M. 1992, S. 33-61, S. 58 (Hervorh. v. SF).
Relais: Sigmund Freuds Das Unheimliche »Ich kann mir ein leises Erschrecken nicht abgewöhnen, wenn ich einen der Bände Aus dem Bleistiftgebiet zur Hand nehme und mir die normierte Zutraulichkeit des Druckbildes entgegenblickt.«1 So beschreibt Werner Morlang, der mit Bernhard Echte die Mikrogramme entziffert hat, das nachgerade unheimliche Gefühl, das ihn im Aufschlagen der Bände befällt, in denen die aus den Mikrogrammen entzifferten Texte nun in konventioneller Typographie abgedruckt sind. Ähnlich und doch im genauen Gegensinn hatte John Christopher Middleton, Übersetzer der Texte Robert Walsers in die englische Sprache, im Jahre 1958, als, Carl Seeligs Auffassung folgend, in den Mikrogrammen Kryptogramme gesehen wurden,2 geschrieben: »Die letzten Manuskripte entfalten eine nicht geheure kalligraphische Anmut, aber sie sind in keiner bekannten Sprache geschrieben.«3 Was sich mit den Manuskripten entfaltet, und sich noch in die Texte fortzusetzen scheint, ist nicht vertraut, behaglich, sanft, sondern beunruhigend. Mit einem Wort: unheimlich. Das Attribut der Anmut verdankt sich dabei allerdings nicht oder mindestens nicht nur einer Fragilität der Schrift; instabil sind vielmehr die Empfindungen von Lesenden angesichts dieser Manuskripte. Die »nicht geheure«, unheimliche Anmut erzeugt offenkundig den Eindruck eines Atavismus, einer magischen Ähnlichkeit, bei der die Symbole die Bedeutung des Symbolisierten annehmen. Das ›Unheimliche‹ ist, wie Sigmund Freud in seinem gleichnamigen Text schreibt, der im Jahre 1919 erscheint, jedoch nicht nur einer »intellektuellen Unsicherheit« geschuldet, dem gegenüber, »worin man sich sozusagen nicht auskennt«, und nicht etwa nur dem Zweifel, »ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei«.4 Um 1 | Werner Morlang: »Trascrittore – Traditore?«, S. 77. 2 | Vgl. Bernhard Echte: »Editorischer Bericht« in Mikro, Bd. 2, S. 574-588, S. 578. 3 | John Christopher Middleton: »Der Herr Niemand. Anmerkungen zu Robert Walser – mit einer Notiz über Walser und Kafka«, S. 14. Im englischen Originaltext heißt es an dieser Stelle: »The last manuscripts display an uncanny calligraphic grace, but are written in no known language.« John Christopher Middleton: »The Picture of Nobody. Some Remarks on Robert Walser with a Note on Walser and Kafka«, in: Revue des langues vivantes, Jg. 24, Heft Nr. 5 (1958), S. 404-428, S. 409. 4 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 258, S. 231 und S. 237.
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den Umstand des Unheimlichen aufzuklären, wendet man sich vielmehr, Freuds Beispiel folgend, der Etymologie des Wortes oder besser gleich zweier Wörter zu. Mit der Schrift der Mikrogramme entfaltet sich eine Ambiguität, die im Blick auf die Etymologie der Terme des ›Unheimlichen‹ und der ›Anmut‹ deutlich werden kann. Die Präfixe deuten dabei bereits auf Verkehrungen in den Gegensinn. Das Unheimliche ist Verneinung, Negation des Heim(e)lichen, des ›(gegenüber den Fremden) Verborgenen‹,5 des häuslich, weiblich, von einem Innenraum her Konnotierten. Und die Anmut dieser Unheimlichkeit erweist sich ebenfalls als Umschrift, ebenfalls unter veränderten Vorzeichen. Anmut, das »nur deutsche wort«, wie es im Wörterbuch der Brüder Grimm verzettelt ist6, erscheint noch bei Goethe als grammatisches Maskulinum in der Bedeutung von ›Verlangen‹ oder dem ›an etwas gesetzten Sinn‹. Mit dem 16. Jahrhundert aber hatte bereits eine Bedeutungsverschiebung eingesetzt, die am Ende auch das grammatische Geschlecht betreffen wird. Das Wort Anmut wird, im Verlust der Bedeutung von ›Verlangen‹, ›Lust‹, zum grammatischen Femininum. Das Leibliche wird zum Lieblichen. Und während das Verb anmuten den ursprünglichen Wortsinn von ›verlangen‹ verliert und die ganz andere Bedeutung des ›Zumutens‹ annimmt, geht das Adjektiv anmutig in seiner Bedeutung von ›verlangend‹ zu ›Verlangen weckend, gefällig, lieblich‹ über. Seit dem 16. Jahrhundert verändert sich nicht nur das Geschlecht des Wortes, sondern seine geschlechtsspezifische Konnotation.7 Das Begehren wird, wo es weiblich ist, rein sprachgeschichtlich gesehen, zu einer Zumutung. Es wird in passive Attraktivität verkehrt, die nur mehr Begehren weckt. John Christopher Middleton nun spricht angesichts der Mikrogramme Robert Walsers von einer »nicht geheure[n] kalligraphische[n] Anmut«. Die Kalligraphie setzt in seine Ausführungen, mitten in die undeutliche Heraufkunft von etwas möglicherweise Verdrängtem, den Halt an einer schönen Deutlichkeit der Schrift – die im üblichen Sinne von Kalligraphie in den Mikrogrammen allerdings gerade gar nicht gegeben ist. Und auch das verfügbare Wissen kann nicht etwa beruhigen, denn die Manuskripte scheinen »in keiner bekannten Sprache geschrieben«. Linguistisch betrachtet, mochte eine Sprache bzw. eine Schrift vorliegen, die noch nicht wieder entdeckt worden war. Das Unheimliche zeigt eine Umkehr an, die Wiederkehr einer Schrift, welche, wie jene der Hieroglyphen, erst noch entziffert werden muss. Die Schrift hat die Dimension eines Kryptogramms, weil sie ei-
5 | Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 21. unveränderte Aufl., Berlin, New York 1975, S. 300. 6 | Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 1 (A-Biermolke), S. 409ff. 7 | Noch im 18. Jahrhundert kann Anmut zuweilen für ›Lust‹ stehen; dieser Bedeutungszusammenhang des Verbs anmuten (im Sinne von ›jemandem etwas zumuten‹, ›verlangen‹) findet sich jedoch zunehmend im Verb ›zumuten‹ wieder. In der Klassik allerdings bedeutet anmuten auch immer noch ›angenehm berühren‹.
R ELAIS : S IGMUND F REUDS D AS U NHEIMLICHE
ner verlorenen Sprache angehört.8 Und wie Freud vom Traum als von einer Schrift in einer unbekannten Sprache, von einer Hieroglyphenschrift des Traums gesprochen hat, zeigt sich auch hier, dass etwas erst wieder lesbar gemacht werden muss. Die unheimliche Anmut, von der sich Middleton in seinem Text zu Robert Walser befragt sieht, wäre die Wiederkehr eines noch prä-androgynen Begehrens. Zugleich wäre sie der an etwas gesetzte Sinn – und wie das Determinativ der hieroglyphischen Schrift ein nur vermeintlich ›sekundäres‹ Zeichen, weil das Beizeichen die Bedeutung des ›primären‹ Zeichens vielmehr erst bestimmt. Es wäre die Wiederkehr ternärer Zeichen. In Freuds Text Das Unheimliche, der parallel zu den Vorarbeiten für den Text Jenseits des Lustprinzips entstand, markiert die Vorsilbe ›un-‹ dabei die stattgehabte Verdrängung. Wie später in seinem Text Die Verneinung (1925) explizit wird, kann ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt zum Bewusstsein durchdringen, »unter der Bedingung, daß er sich verneinen läßt. Die Verneinung ist eine Art, das Verdrängte zur Kenntnis zu nehmen, eigentlich schon eine Aufhebung der Verdrängung, aber freilich keine Annahme des Verdrängten«.9 Das Unheimliche ist somit auch Kenntnisnahme von etwas, das mit dem Heimlichen, Heimeligen zu tun hat. Das Unheimliche ist, wie zitiert, Phänomen einer Latenz, was das Antonym des Heimlichen, Wohlvertrauten betrifft, das unversehens »mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt«10 – oder mindestens beständig zusammenfallen kann. Und: »Wir werden überhaupt daran gemahnt«, schreibt Freud, »daß dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne, gegensätzlich zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgengehaltenen. Unheimlich sei nur als Gegensatz zur ersten Bedeutung, nicht auch zur zweiten Bedeutung gebräuchlich«, und dennoch stellt sich Freud die Frage, »ob nicht doch eine genetische Beziehung zwischen diesen zwei Bedeutungen anzunehmen ist« – auch wenn im zitierten Wörterbuch darüber nichts zu erfahren sei, wie Freud selbst betont.11 Freud buchstabiert das Unheimliche nämlich nicht nur aus den »opaken und disparaten Elementen«12 des Sandmann-Textes von E.T.A. Hoffmann, sondern auch aus diesen Wörterbucheinträgen. Im Vergleich zwischen verschiedenen Sprachen zeigt sich dabei, dass im Arabischen und Hebräischen ›unheimlich‹ mit ›dämonisch‹, ›schaurig‹ zusammenfällt. Und das Dämonische ist, wie Freud im Rekurs auf Heinrich Heines Die Götter im Exil von 1853 erläutert, auch der gestürzte, exilierte Gott, der als sein sich selbst rächender Doppelgänger wiederkehrt. Freud selbst aber kehrt an dieser Stelle lieber »zur deut8 | Vgl. Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens«, S. 36. 9 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 12. 10 | Ebd., Bd. XII, S. 237. 11 | Ebd., S. 236. 12 | Friedrich A. Kittler: »›Das Phantom unseres Ichs‹«, S. 148.
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schen Sprache zurück« und zitiert, neben dem einschlägigen Wörterbuch der Brüder Grimm, extensiv Daniel Sanders’ Wörterbuch der Deutschen Sprache aus dem Jahre 1860: »Heimlich, a. (-keit,f. -en): 1. auch Heimelich, heimelig, zum Hause gehörig, nicht fremd, vertraut, zahm, traut und traulich, anheimelnd etc. (a) (veralt.) zum Haus, zur Familie gehörig oder: wie dazu gehörig betrachtet, vgl. lat. familiaris, vertraut: Die Heimlichen, die Hausgenossen; Der heimliche Rath. 1. Mos. 41,45; 2. Sam. 23,23. 1. Chr. 12,25. Weish. 8,4., wofür jetzt: Geheimer (s. d 1.) Rath üblich ist, s. Heimlicher – (b) von Thieren zahm, sich den Menschen traulich anschließend. Ggstz. wild, z.B.: Thier, die weder wild noch heimlich sind etc.«13
Der Wörterbucheintrag, das Lemma, zerlegt das Wort, ähnlich einer Maschine, die belebt zu sein scheint, er zerlegt das automaton der Sprache, ähnlich wie E.T.A. Hoffmanns Puppe Olimpia, in vermeintlich leblose Bestandteile, die als Etyma bereits selbst etwas zu erzählen oder als Worte toter Dichter aus dem Eintrag des Wörterbuchs zu uns zu sprechen scheinen. Aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgerissen, die mit entsprechenden Abbreviaturen nachgewiesen sind, werden die verzettelten (so der Fachbegriff), gestückelten Dichterworte wie zu Aphorismen. Und Freuds Text gerät schriftbildlich beinahe selbst wie zum Fragment einer romantischen Enzyklopädistik, ähnlich der des Novalis. Über ganze Seiten hinweg weitergeführt, scheint der Exkurs zur Etymologie des Unheimlichen dabei wie ein in Szene gesetzter melancholischer ›Einzelkampf‹ zwischen der Eigenmacht der dichterischen Sprache, die zerlegt erscheint, und der eigenen analytischen Theorie-Erzählung. Es ist ein Einzelkampf, der sich wie ein Emblem gestaltet zeigt.14 Die Wörter13 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 232f. 14 | Das Wort ›Emblem‹ wurde im Griechischen und Lateinischen für die handwerkliche Technik des Ansetzens oder Einsetzens von Steinen in Schmuckfassungen, in Mosaik- und Intarsienwerk verwendet. Ähnlich wie der Künstler unterschiedliche Materialien montierte, so montiert der Emblematiker die Zeichensysteme von Bild und Schrift. Das Emblem bestand dabei, wie oben ausgeführt, aus dem Bild, der pictura, und seiner Bedeutung. Erstere wurde als Sichtbares mit dem Leib assoziiert. Die (unsichtbare) Bedeutung des Emblems wurde hingegen als dessen Seele verstanden. Vgl. Aleida Assmann: »Alte und neue Voraussetzungen der Hieroglyphen-Faszination«, S. 267. Wie im Schmuckstück der Stein vom Metall ist im Emblem das Bild oben und unten durch Schrift, durch die inscriptio und die subscriptio, ›eingefasst‹. Das Emblem ist dabei eine Kompositbildung, in der das Bild durch die Schrift ausgedeutet, die Schrift durch das Bild entweder veranschaulicht oder hintergründig verrätselt wird. Entlang der Fuge aber, die Schrift und Bild im Emblem zusammenhalten, so schreibt Aleida Assmann, wird dieser Zeichenverbund historisch aufbrechen: »Der Roman ist von der Fessel des Bildes, das Tafelbild von der Fessel der Sprache befreit«. Diese Entwicklung der Autonomisierung der Zeichensysteme von Schrift und Bild und der ihr zugeordneten Medien Buch und Tafelbild
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buchlemmata werden wie die pictura eines Emblems von Freuds eigenem Text gerahmt, der als inscriptio eingangs an die vorangegangene Forschung anknüpft, als subscriptio schließlich die eigenen Auffassungen referiert. Das Unheimliche findet sich darin mit einem Schriftbild zur Darstellung gebracht, das nicht nur eine Unzahl diakritischer Zeichen enthält und das ohne Kenntnis des Zusammenhangs wahrhaft kryptisch erscheinen muss, sondern das in Freuds Text überdies die Fugen eines Emblems einzieht. Die Schauplätze von eigener Schrift und fremdem Schriftbild vereinen sich darin zu einem einzigen – und bleiben doch weiter getrennt. Und genau darin, im Wörterbucheintrag, der als Schriftbild zur pictura wird, wendet Freud das Wort ›unheimlich‹ nach seiner rätselhaften Doppeldeutigkeit hin.
hat in der Renaissance mit dem Diskurs des Paragone, des Wettstreits der Künste, begonnen: »Malerei und Dichtung definieren sich in Zukunft gegeneinander; jene wird zur stummen Dichtung, diese zur blinden Malerei.« Ebd., S. 266.
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IV. Texte als »gebundene Hieroglyphen«
IV.1 P OE TISCHE R E ANIMATION : D IE DEUTSCHE S PRACHE (1919) Die stummste Schrift, die es gibt, ist die alphabetische Schrift, sie bringt keine Sprache und erst recht keine Mundart unmittelbar zum Ausdruck.1 Die alphabetische Schrift ist zwar am besten in der Lage, »vor der Stimme zurückzutreten und diese gewähren zu lassen«,2 aber sie ist gefürchtet wie eine »Todesmaschine«, weil sie vom Gesang entfernt.3 Das Kennzeichen einer »gebundenen Hieroglyphe« ist hingegen, dass es bei ihr nur eines einzigen bildhaften Ausdrucks für die Bezeichnung gleich mehrerer ›Dinge‹ bedarf.4 Und den Charakter einer solchen ›gebundenen Hieroglyphe‹, die auf ihre ganz eigene Weise gegen eine Depoetisierung der Schrift opponiert, hat nicht nur Robert Walsers Prosatext mit dem Titel Die deutsche Sprache, der 1919 publiziert wird. In diesem Text ist die Sprache selbst in eine Situation auf Leben und Tod gestellt: Die Schmach dauerte lange. Einige dachten, daß sie dem Tode nahe sei, und sie hatten recht. Sie starb, d.h. sie schlich hin wie eine Tote. Niemand glaubte, daß sie je wieder zu Kräften käme. Sie verlor all ihren Liebreiz, klang trocken, hart und albern und diente fast ausschließlich zu Barschheits- und Schneidigkeitszwecken. Ihre verdorbene Stimme war das denkbar Misslichste, den meisten grauste es vor ihr. Ja, sie war krank und liegt nun zertreten, doch es leben Leute, die sie lieben wie immer, und ihr treu bleiben wollen, denn sie denken, sie sei unausrottbar und werde ihre Schönheit wiedergewinnen. Ganz im stillen, wo es unscheinbar und dunkel ist, pflegen sie sie, damit sie gesunde. Sicher wird sie wieder aufstehen und duften und blühen und ihren Frühling haben und tönen wie Vögleinstimmen. Das will erlebt sein, und die an sie glauben, müssen Geduld haben. Jetzt ist sie müd und 1 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 514. 2 | Ebd., S. 506. 3 | Ebd., S. 517. 4 | Vgl. ebd., S. 488-490.
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M IKROPOETIK schläfrig, die Glieder sind matt, die Worte klanglos. Sie scheint gelähmt, wird aber wieder springen und tanzen und die Behendigkeit besitzen, die sie früher besaß. Nur warten, bis sie wiederhergestellt ist. Sie ist verirrt, sie weint, […].« 5
Die Glieder der Kranken sind ›bleischwer‹, die Worte sind eben »klanglos« geworden. Und die Pflege dieser Kranken, ganz »im stillen, wo es unscheinbar und dunkel ist«, verbindet sich mit dem Halbdunkel, in das die gesamte Bieler Prosa getaucht ist. Der Geist, welcher der deutschen Sprache in der Prosopopöie dabei Leben einhaucht, ist anthropomorph, und das heißt auch: Er ist sterblich. Die Sprache befindet sich in Agonie; sie stirbt, ist bereits wie eine Tote, und schleicht doch noch immer umher. Mit der Verbform, die entgegen der im Text sonst gebräuchlichen Präsensform ins paradigmatische Erzähltempus des Präteritum setzt (»sie schlich«), ist allerdings kategorisch umgangen, das Buchstabenmaterial des Leichnams schreiben zu müssen; denn noch ist Hoffnung. Zwar ist die Kranke eine gespenstische Untote, Geistererscheinung und Doppelgängerin des ›Geistes‹ einer Sprache, die weder dem Leben noch jenem großen Reich der nicht stumm gewordenen ›Stimmen‹ der literarischen Welt einstiger Zeiten angehört, die vielmehr entkräftet und ohne die feuchten, warmen und vollen Lebenssäfte ist. Eingetrocknet, verhärtet und »albern«, wie die Literatur des Betriebs, hat sie eine Stimme, die sich nur noch über den Laut, die Verlautbarung, das Laute definiert, der Selbstreflexion nicht mehr zugänglich. Im Verlust ihrer Anmut – »[s]ie verlor all ihren Liebreiz« – dient sie »fast ausschließlich zu Barschheits- und Schneidigkeitszwecken«, zu reichsdeutschem Militarismus und Chauvinismus. Diese Kranke erfordert Lesende, denen sie sich wie eine von ihr selbst nicht mehr zu entziffernde Hieroglyphe zu lesen geben kann,6 Lesende, die warten können, die Geduld aufbringen, bis die deutsche Sprache »wiederhergestellt« ist. Es ist an die Mikrogramme Robert Walsers zu denken, aus denen die ›Sprache‹ ebenfalls nur mit Geduld ›wiederhergestellt‹ werden konnte. Im Sinne von Luthers Bibelwort, »so ist der Leib zwar tot […], der Geist aber ist Leben« (Röm 8,10), ist die im Text beschriebene Kranke zwar noch nicht tot, aber Leben hat sie auch keines mehr in ihren Adern; sie geht umher »wie eine Tote«. Das Leben ist kein einfaches Gegenteil des Todes, wie die Krankheit kein einfaches Gegenteil der Gesundheit ist.7 Und 5 | SW 16/395. 6 | Vgl. Michel de Certeau: »Sterbekünste. Anti-mystisches Schreiben«, in: Junggesellenmaschinen, hg. v. Hans-Ulrich Reck und Harald Szeemann, erweiterte Neuausg. Wien, New York 1999, S. 142-157, S. 149. 7 | Es gibt keine einfache Exteriorität, nicht der Schrift gegenüber dem gesprochenen Wort, nicht des Todes gegenüber dem Leben, nicht der Repräsentation gegenüber der Präsenz, nicht des Signifikanten gegenüber dem Signifikat, nicht des Traums gegenüber dem Wachleben. Und wo sich dieser Oppositionen bedient wird, kann immer nur mit Umkehrungen gearbeitet werden, was auch bedeutet:
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so gleicht die Genesung, die Wiederbelebung der deutschen Sprache auch einer Nekromantie: der Kunst, die Toten zu beschwören und zu befragen, die Geister der Verstorbenen zur Erscheinung und vor allem zum Sprechen zu bringen. Die Kranke im Text Die deutsche Sprache ist dabei aber nicht nur von ihrem grammatischen Geschlecht her weiblich bestimmt, sondern vor einem Horizont spezifisch weiblicher Erfahrungen, wie sie der Erste Weltkrieg mit sich gebracht hatte, zu sehen. Im Jahre 1918 schreibt Robert Walser in einem Brief: »In Nidau war in der Bäckerei eine deutsche Dame, anscheinend eine arme Kriegswitwe, deren es ja jetzt Tausende und Abertausende gibt, überall, in ganz Europa, das von einem wahnsinnigen Krieg förmlich geschändet ist, inwiefern man so sagen darf, und ich glaube in der Tat, dass man das darf.«8 Nicht nur hat der Krieg unzählige Kriegswitwen hinterlassen; ganz Europa ist »förmlich«, der Form nach, zur geschändeten Frau geworden. Krankheit, Schändung, der Krieg, die Frau – das alles hat in der deutschen Sprache, die 1919 in Robert Walsers Text dahinschleicht »wie eine Tote«, Untote, eine nicht mehr zu entziffernde Hieroglyphe, keinen Ort. Oder doch? Robert Walsers Mikrogramme werden sich der Kranken anverwandeln: material in einer grauen Schrift, metaphorisch in einem Land, das – wie Europa – auf besondere Weise polyglott zu denken ist und das die im Ersten Weltkrieg verfeindeten Nationen wieder zu vereinen und darüber hinaus ein Schisma von Schrift und Bild aufzuheben sucht: im »Bleistiftgebiet«. Und so findet sich die gespenstische Kranke auch in Robert Walsers Text Leben eines Malers im Band Seeland wieder, dort in Gestalt einer zarten Bleistiftzeichnung des Bruders Karl Walser, genannt ›Die Kranke‹.9 Und noch im selben Satz, in dem diese Zeichnung Erwähnung sucht, noch im selben Atemzug, ist ein Blatt mit dem Titel ›Das Lebewohl‹ erwähnt. Auf dieses Blatt ist in einer ganzen Motivkette aus Zweisamkeit, Zwiesprache, Abschied, Tod und Jenseits hingewiesen; und auf deren ganze, in eins verwobene Unbegreiflichkeit und Unbegrifflichkeit ist wie mit anderen, ge-
Es kann nur konfirmativ gearbeitet werden. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 540. 8 | Brief vom 29. Dezember 1918 an Frieda Mermet, in: Br, S. 158. 9 | Interessanter als die in Karl Walsers Bleistiftzeichnung Die Kranke aus dem Jahre 1903 aus der Bildmitte verschobene Frau auf einem Fauteuil, die mit ihrer über den gesamten unteren Leib geschlagenen Decke so wenig linear ausgeführt erscheint, dass sie wie ein massiges Volumen wirkt, ist dabei die links im Bild angeschnittene Fensterfront. Hier ist sowohl der Fensterrahmen zu erkennen als auch die darüberhängende Gardine, deren punktierte Ornamentlinien den Rahmen, allerdings nur teilweise, überschneiden. Die Transparenz des Vorhangs ist somit durch eine Verwirrung der Perspektive angezeigt. Was ist näher, was weiter entfernt im Raum? Vgl. Abb. in: Die Brüder Karl und Robert Walser. Maler und Dichter, hg. von Bernhard Echte und Andreas Meier, Stäfa 1990, S. 31.
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spenstischen Händen – wie mit den Schriftzeichen als quasi-indexikalischen Zeigefingern der Schrift – hingedeutet: Eine zarte Bleistiftzeichnung, genannt »Die Kranke«, will erwähnt sein, zudem ein Blatt, »Das Lebewohl«, wo in gespensterhafter Darstellung deutende Hände aus grenzenlosem Luftgebiet herabhängen, als wenn das Diesseits dem Jenseits, ein Unendliches dem andern, zwei Unbegriffenheiten einander Lebewohl sagen sollten.10
Einerseits deuten die Hände aus dem Jenseits ins Diesseits. Andererseits scheint das Diesseits dem jenseitig Gewordenen Lebewohl zu sagen. Eine Hand weist auf die andere. Und in eben dieser Art ist der Tod zuweilen auf Grabsteinen bildlich dargestellt worden: Der Verstorbene wird mit einem Handschlag oder einer Umarmung von den Lebenden ins Jenseits geleitet.11 Der Text Leben eines Malers aber bleibt gespenstisch diffus. Es bleibt offen, wer wem die Hände reicht – was ja sprichwörtlich gerade nicht bedeuten würde, Abschied zu nehmen, sondern in einer Beziehung neu anzufangen. Und wie sollte auch deutlich werden, worum es geht, wo gleich »zwei Unbegriffenheiten einander Lebewohl sagen«. Ähnlich wie in einer Mehrfachbelichtung oder in der unausdeutbar hieroglyphischen Skizzenhaftigkeit einer Zeichnung finden sich augenscheinlich mindestens zwei gleichermaßen Beteiligte oder aber mehrere Abschiede, die sich überlagert haben und ›unbegreiflich‹ geblieben sind, hierin aufgehoben. Es geht um das Ende einer Freundschaft. Und um einen Abschied von Toten.
IV.2 F REUNDSCHAFTSBRIEF (1919) Auf dem Manuskript der Erstfassung zum Prosastück Freundschaftsbrief, das am 22. Februar 1919 in der Wiener Zeitung Die Republik und im selben Jahr in einer veränderten Fassung in der Zeitschrift Saturn veröffentlicht werden wird, ist in Bleistiftschrift ein Anschreiben zu lesen. Die Mitteilung an den Redakteur lautet: »Werter Herr, ich sandte Ihnen ›Rückblick‹ und gebe Ihnen hier noch einen ›Freundschaftsbrief‹, den Sie vielleicht auch bringen können. Bestens grüßt – Robert Walser.«12 10 | SW 7/29f. 11 | Vgl. Andrea Suppmann: »›Feiertagsgedichte‹ und ›Heiligenbilder‹. Das Buch ›Theben‹ (1923)«, in: Else Lasker-Schüler. Schrift:Bild:Schrift, hg. v. Verein August Macke Haus e.V., Bonn 2000, S. 69-94, S. 82. 12 | Vgl. Abb. 1, S. 18 dieser Studie. Der ehemals unveröffentlicht gebliebene Text Robert Walsers mit dem Titel Rückblick ist, da er auf diesem Blatt, das mit dem Eingangsstempel »16.9.1918« versehen ist, erwähnt wird, nicht, wie in der Ausgabe der Sämtlichen Werke, auf 1919, sondern spätestens auf den Sommer des Jahres 1918 zu datieren. Aus diesen Jahren sind mit zwei signifikanten Ausnahmen –
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Bereits in der knappen Formulierung scheinen der Rückblick und der Freundschaftsbrief einander zugehörig. Der Rückblick auf die Übergabe des Textes Rückblick wiederholt den performativen Akt, den der eingesandte Text Rückblick semantisiert hatte; Rückblicke bilden gleichsam ein eigenes kleines Kontinuum aus. Und auch der Text Freundschaftsbrief wirkt wie ein Abschnitt, der einem weit größeren Zusammenhang entrissen scheint; er beginnt ebenso unvermittelt, wie er folgendermaßen endet: Die Innigkeit ist die Kraft, die uns aus uns selbst wie aus dem Sarg heraushebt. Ohne Fühlen ersticken wir an uns, wir können sagen, was wir wollen. Redensarten helfen uns nicht. Ich zittere, schweife aus. Das Leben steht wie ein Riese vor mir. Der Bogen Papier fliegt mir weg, ich bin wie im Fieber. Die Feder springt, mir wird angst. Ich muß an die Luft hinaus, damit ich mich kühle und mich etwas oberflächlicher fühle, sonst zergehe ich. Wie bin ich im Meer der Erregtheit arm. Doch bin ich froh, denn ich denke, daß nur der Arme fähig sei, vom engen Selbst geringschätzig wegzugehen, um sich an etwas Besseres zu verlieren, an das Schwebende, das uns selig macht, an die Bewegung, die nicht stockt, an ein Hohes, das immer wächst, an das schwingende Gemeinsame, das uns trägt, bis es uns in Frieden begraben mag.13
Ein Grab birgt, fixiert die Toten an einem festgelegten Ort, damit die Lebenden nicht mehr an jedem beliebigen Ort von der Erfahrung des Todes der Anderen überwältigt und heimgesucht werden können. Es stellt den Tod still. Mit dem Grab, einem Ort, der dazu dient, einen Nicht-Ort zu markieren, wird der unfassliche Tod, analog zu den Orten der Lebenden, als Schacht, als humische Höhlung, topisch. Und doch bleibt die Referenz dieser Topik unergründlich, bleibt diese Unergründlichkeit in den Ort eingelassen. Im Text Freundschaftsbrief aber ist von einem Sarg und nicht von einem Grab die Rede – und Anagramm, ja sogar Palindrom, das heißt das ›zurücklaufende‹ Wort zum Sarg ist immerhin doch das sprießende Gras. Im Prosastück Eine Weihnachtsgeschichte, das mutmaßlich etwa zur selben Zeit wie der Freundschaftsbrief entstanden ist, nun »werden Schmerzen heraufgezaubert; und das ist’s ja, was die Innigkeit ausmacht«, dass »Wunden aufbrechen«.14 Wunden brechen auf, Schmerzen werden »heraufgezaubert« – wie aus einer wundersamen Versiegelung. Und gerade die Vulnerabilität, die »Innigkeit«, ist das, was »uns« im Freundschaftsbrief »aus uns selbst wie aus dem Sarg« heraushebt; paradoxerweise bildet gerade sie das vitale Prinzip. Die Idiome dagegen, die »Redensarten«, welche die Gemeinschaft ritualisiert im Munde führt, die sogenannten und eben selbst wie ein Grabdem Text Saul und David (I) und eben dem Text Rückblick – sonst keine ehemals unveröffentlicht gebliebenen Arbeiten überliefert. 13 | SW 16/398f. 14 | SW 16/65f.
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mal ›stehenden Redewendungen‹ sind, entgegen dem berühmten Epitheton Homers, nicht mehr ›geflügelte Worte‹ – mit der Kraft und der Freiheit, aber auch der Flüchtigkeit der Evokation –,15 sondern die Redensarten scheinen starr geworden: zu kurz, zu bündig, zu wortgewaltig. Die Sprache erinnert an jene »Barschheits- und Schneidigkeitszwecke«16, denen Die deutsche Sprache im gleichnamigen Text Robert Walsers – im selben Jahr 1919 veröffentlicht – lediglich noch gedient hatte. Im Freundschaftsbrief kann sich das poetische Ich dem gespenstischen Einschluss dagegen noch entheben, indem es den Blick über die Sprachlandschaft schweifen lässt, die Worte nicht zu eng fokussiert. Wenig später jedoch, im Mai 1919, gibt der Text Der Kamerad zu lesen, dass das Trauma seine Wirkung eben doch, in der ihm inhärenten Nachträglichkeit, entfaltet hat: Was ich nie erlebt hatte, erlebte ich jetzt. Was ich nie sah, war nun sichtbar. Wie ein Riese stand das Erlebnis vor mir. Zwar erlebte ich es nicht selbst, sondern er, doch erlebte ich es mit ihm. Hätte ich es in eigener Person erlebt, so würde es mich vielleicht weniger stark angegriffen haben. Wundersam war’s. Es glich dem unbegreiflichen nächtlichen Geräusch, dem undurchdringlichen Wald, dem fremdartigen Strom. Kurz, es überwältigte mich.17
Mit dem Überwältigungserlebnis wird die Icherzählung in ein auktoriales Erzählen verschoben: »Zwar erlebte ich es nicht selbst, sondern er«. Der ›undurchdringliche Wald‹, das Dickicht, das Gespinst, dem das Erlebnis oder vielmehr die Erfahrung, die ›Verarbeitung‹, ›Bearbeitung‹ des Erlebnisses gleicht, spielt dabei einmal wieder auf die Fabel des Dornröschen an, auf die auch der bereits erwähnte Text Freiburg zu sprechen kommt, der den Wechsel des Schreibwerkzeugs, den Bleistift thematisiert.18 Im Gegensatz zu dieser Art Festsetzung und Verstrickung scheint der Bogen Papier im Freundschaftsbrief aber wie selbsttätig, ›anthropomorph‹ zu fliegen und zu fliehen – kommt das Erzählen mit dem Flug des Papiers in eine parabolische Bewegung, in der nun ohne einen Schriftträger geschrieben wird, und zwar im Sinne des plastischen lateinischen Verbs delirare: Wer beim Pflügen des Ackers der Schrift, beim ›Beackern‹ des Textes, aus der Spur (der Zeilen) gerät, deliriert.19 In Bezug auf Stéphane Mallarmés Reflexionen Das Buch betreffend (1895), in deren Schluss das Wort papillon nicht nur den Schmetterling meint, sondern auch das lose, bewegliche Blatt Papier, schreibt Georges Didi-Huberman:
15 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 80. 16 | SW 16/395. 17 | SW 16/262. 18 | Vgl. SW 16/312. 19 | Vgl. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 138.
IV. T EXTE ALS » GEBUNDENE H IEROGLYPHEN « […] der aufgefaltete Schmetterling der Seiten, selbst wenn er rein weiß ist, selbst wenn er in Wirklichkeit tot ist, schlägt irgendwann mit den Flügeln, und sei es nur in dem Moment eines unausbleiblichen flüchtigen Lidschlags unserer Augen. In diesem Moment können die aufgefalteten Seiten, ihre Symmetrie, die durch das Umblättern und Herumblättern im Buch jedesmal durchbrochen wird (so fragil ist sie) und sogleich wiederhergestellt (so beharrlich ist sie), kann das aufgeschlagene Buch uns wie eine Art Organismus erscheinen, zumindest wie etwas, das mit einem eigenen Bewegungsvermögen begabt ist: als wäre das Papier ein wenig lebendig. So wie wir aus anderen Objekten, Gegenständen vergangener Kulte, noch immer auf hunderterlei Weise Zeit und Sinn schöpfen, so neigen wir dazu, den Büchern unbeirrt dieses Eigenleben zuzugestehen, das jedem Anthropomorphismus inhärent ist – um so gewisser, je zweifelhafter, unbegründeter, undurchschaubarer, unwahrscheinlicher er auf den ersten Blick erscheint. So verleihen wir dem Papier eine Bewegung, quasi um ihm etwas von unserer eigenen Kinästhesie mitzuteilen: eine Projektion, zugegebenermaßen, doch werfen wir dies alles nur deshalb auf das Papier, um möglicherweise einen Blick von ihm zurückzuerhalten. Solcher Art ist das Geschenk, das lyrische, wechselseitige Geschenk, das das Subjektil (das Papier als materieller Träger der Schrift) und das Subjekt einander manchmal machen. 20
Im Freundschaftsbrief fliegt der Bogen Papier weg. Die Schreibfeder dagegen springt im Text, wie als Spannfeder, die ihre Kraft verloren hat, wie die zerbrochene Mechanik eines Uhrwerks – wie das Reißen der Zeit. In dem im August 1913 in der Zeitschrift März erschienenen Text Robert Walsers mit dem Titel Helblings Geschichte hatte es geheißen: Die Zeit, das gibt mir immer zu denken. Sie vergeht schnell, doch in all der Schnelligkeit scheint sie sich plötzlich zu krümmen, scheint zu brechen, und dann ist es, als ob gar keine Zeit mehr da wäre. Manchmal hört man sie rauschen wie eine Schar auffliegender Vögel, oder zum Beispiel im Wald: da höre ich immer die Zeit rauschen, und das tut einem recht wohl, denn dann braucht der Mensch nicht mehr zu denken. Aber es ist meistens anders: so totenstill! Kann das ein Menschenleben sein, das man nicht spürt, sich vorwärts, dem Ende zudrängen!21
Doch im Freundschaftsbrief geht es um das Zerbrechen einer unfraglichen Kontinuität im Trauma, das spürbar wird, denn: »Was ich nie sah, war nun sichtbar«, wie es im Text Der Kamerad geheißen hatte.22 Das ›oberflächlichere‹ Gemeinsame der alphabetischen Repräsentation, das sich auch in den Reimen, den Parallelismen des Textes Freundschaftsbrief, wie so oft, geschrieben sieht – »damit ich mich kühle und mich etwas oberflächlicher fühle« –, rettet nicht vor dem ›Zergehen‹: vor Dissoziation, Desynchroni20 | Georges Didi-Huberman: »Geschenk des Papiers, Geschenk des Gesichts«, S. 174f. (Hervorh. v. GDH). 21 | SW 4/62. 22 | SW 16/262.
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sation, vor einer Störung des Voranschreitens, Fortschreitens, des Fortschritts in jedem Sinn des Wortes.23 Im Text Über den Charakter des Künstlers, bereits im Januar 1911 in der Zeitschrift Kunst und Künstler erschienen, verbindet sich diese Diskontinuität dabei insbesondere mit der Figur des Künstlers, denn für diesen: ist immer eine Frage da, ein Gedanke, ein Geist, ein Fortlaufendes, und es bricht immer in ihm, es tönt, und er bildet sich ein, immer bildet er sich ein, treulos zu sein an einem schönen, unbezwinglichen, gräßlichen Etwas, das da ist und nie da ist, das nie da ist, weil es selbst ist, weil er das selbst ist, was da ist und immer fortgeht. So lebt er in fortlaufenden überzarten Sorgen, die ihm die gesunden Sinne zu verrücken drohen. […] Ja, sein Lebenswandel ist wie ein Traum, und seine Erscheinung ist wie ein Rätsel. Immer dicht vor dem Sturze […]. 24
Der Bruch ist allgegenwärtig. Eine Depersonalisation findet statt und findet nicht statt, das Leben ist wie ein Traum, der Protagonist ist sich selbst zum Rätsel geworden. Im Freundschaftsbrief verschränken sich dagegen Rätselfragen zu einem Rebus, den es zu entschlüsseln gilt: Was ist »das Schwebende, das uns selig macht«, »die Bewegung, die nicht stockt«, »ein Hohes, das immer wächst«? Eines der Rätsel ließe sich lösen. Das »schwingende Gemeinsame«, in dem sich anagrammatisch sowohl das ›Singende‹ wie auch das ›Einsame‹ wiederfinden lässt und »das uns trägt, bis es uns in Frieden begraben mag«, ist nicht etwa nur der Gemeinsinn, sondern das Humische, es ist ›Mutter Erde‹, auf der die Lebenden wandeln und von der die Toten dereinst bedeckt sein werden. Im Freundschaftsbrief ist nur der »Arme« fähig, sich an diese Bewegung, an das »schwingende Gemeinsame«, zu verlieren. Nur »der Arme«, als derjenige, der sich durch die Arbeit seiner Hände ernährt, der ›Proletarier‹ im Wortsinn, ist »fähig«, sich an diese Bewegung zu verlieren, die nicht stockt. Und er ist sogar nicht etwa nur fähig, sondern vielmehr dazu gezwungen, dass diese Bewegung des Schreibens, die auch die des Publizierens ist, nicht stockt. Das aber bleibt unausgesprochen. Und doch findet sich noch anderes, weniger Konkretes hierin, folgt man den von Hans Dieter Zimmermann eröffneten Bezügen zur Mystik des Meister Eckhart, bei dem es heißt: Denn soll der Mensch wahrhaft arm sein, so muß er seines geschöpflichen Willens so ledig sein, wie er’s war, als er noch nicht war. […] Da ich noch stand in meiner ersten Ursache, da hatte ich keinen Gott – da gehörte ich mir selber. Ich wollte 23 | Das Gehen ist, wie sich in Robert Walsers Text Waldfest (I) zeigt, eben nicht immer, wie es das Klischee insbesondere im Zusammenhang mit der Bieler Prosa will, mit Kreation verbunden: »Im Gehen warf ich wahre Paläste von Schaffensplänen um; sie stürzten zusammen, ohne zu krachen. Derlei Katastrophen vollziehen sich im stillen.« SW 16/60. 24 | SW 15/64f.
IV. T EXTE ALS » GEBUNDENE H IEROGLYPHEN « nichts, ich begehrte nichts, denn ich war da ein lediges Sein und ein Erkennender meiner selbst nach göttlicher Wahrheit. Da wollte ich mich selbst und wollte nichts anderes; was ich wollte, das war ich, was ich war, das wollte ich – hier stand ich Gottes und aller Dinge ledig. Als ich aber aus meinem freien Willen herausging und mein geschaffenes Wesen empfing, da hatte ich einen Gott; denn ehe die Kreaturen waren, war Gott nicht Gott; er war, was er war. 25
Die syntaktischen Anklänge an Meister Eckhart in Robert Walsers zitiertem Text Über den Charakter des Künstlers sind in der dort wechselnden Bewegung zwischen Sein und Nichtsein, als »Etwas, das da ist und nie da ist, das nie da ist, weil es selbst ist, weil er das selbst ist, was da ist und immer fortgeht«, überdeutlich. Auch Meister Eckharts Text weist alle Begriffe, alle Bilder von Gott zurück; Gott »ist und ist nicht«. Und doch, fragt Hans Dieter Zimmermann: »Wie wäre davon in unserer Sprache, die von dem Geschaffenen redet, zu sprechen?«: »Gott ist ein Wort, ein ungesprochenes Wort«, heißt es bei Meister Eckhart, und: »Es ist Eines und viel zu unnennbar, denn daß es einen Namen haben könnte, ist viel zu unbekannt, denn daß man es erkennen könnte.« Gott ist in dieser mystischen Tradition Bewegung – und nicht etwa Figur.26 Das Schreiben, als ebensolche Bewegung, kann, anders als die in Robert Walsers Text Freundschaftsbrief beschworenen herkömmlichen »Redensarten«, etwas evozieren. Und das Lesen, als nicht-metaphorische Entbergung, verlebendigt Schrift; und eben darum geht es: Die Schrift soll dem Lesen gleichen; sie soll dieses »schwingende Gemeinsame« werden. Die Texte Robert Walsers bilden, verstärkt in der Berner Prosa, in ihrer vermeintlichen Inkohärenz in der Tat auch einen nicht-linearen Prozess ab, den der Lektüre. Die Öffnung, die im Freundschaftsbrief beschworen wird, ist die des Grabes oder besser die des Sarges, als die in der metaphorischen Substitution verborgene Gegenwart dessen, was in der Schrift erscheinen wird und wohin der Übergang für Maurice Blanchot als unendlicher Sprung zu denken ist: als Sprung in das, was durch die vermeintliche Evidenz des Buches verstellt ist. »Und dann dünkt mich eine Buchausgabe so lange schön und interessant, als sie noch nicht stattfand. Jedes Buch, das gedruckt wurde, ist doch für den Dichter ein Grab oder etwa nicht?«27 wird Robert Walser an Max Brod in einem Brief aus dem Oktober 1927 schreiben. Auch Maurice Blanchot geht es um das Wagnis, das im Beginn einer Lektüre liegt, im Beginn des Lesens, das im Grunde ein Schreiben ist, eines, das dem Schreiben vorgreift: »In der Lektüre, zumindest am Ausgangspunkt der Lektüre, ist etwas Schwindelerregendes, das der törichten Regung ähnelt, mit der wir die schon geschlossenen Augen dem Leben öffnen wollen; eine mit der Sehn25 | Zit.n. Hans Dieter Zimmermann: Der babylonische Dolmetscher. Zu Franz Kafka und Robert Walser, Frankfurt a.M. 1985, S. 287. 26 | Vgl. ebd., S. 288. 27 | Brief vom 4. Oktober 1927 an Max Brod, in: Br, S. 311.
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sucht verbundene Regung, die, wie die Inspiration, ein Sprung ist, ein unendlicher Sprung: Ich möchte LESEN, was noch nicht geschrieben ist.«28 Blanchot bringt diesen Sprung oder Aufschwung aus dem Grab mit der biblischen Geschichte des Lazarus in Verbindung. Das Grab ist darin verborgene Gegenwart dessen, was in der Auferstehung auf wunderbare Weise erscheinen wird. Und je fester das Grab verschlossen ist, desto wundersamer ist seine Öffnung, aus der die Lektüre – und das Schreiben – als unendlicher Sprung entstammen werden. Und dass sich in der Tat hieraus, aus dem symbolischen Grab oder Sarg der Sprung vollzieht, wird Robert Walsers Diktion im Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 erweisen, in dem die Rede davon ist, etwas sei noch »in der letzten Minute«29 dem zuvor eingesandten Text ›angestückt‹, das heißt hinzugefügt worden. Dieses Syntagma zeigt noch dort, wo dies durchaus übliche Redensart ist, einen Bezug zur wirklich allerletzten Minute, als derjenigen, die dem eigenen Tod vorausgeht. Auf diese Stunde, die der Todesstunde vorausgeht, spielt auch Blanchot an. Neben der biblischen Geschichte des Lazarus zitiert er das auch von Walter Benjamin in der Schlussformel seines Textes Über das mimetische Vermögen30 entlehnte Wort Hugo von Hofmannsthals aus Der Tor und der Tod: »Was nie geschrieben wurde, lesen.« In Hofmannsthals Stück erstehen dem Protagonisten Claudio ›seine‹ Toten, das heißt diejenigen Menschen, die ihm zu Lebzeiten nahegestanden hatten und an denen er Verrat geübt hatte, wieder auf. Am Ende des 1893 entstandenen lyrischen Einakters, der im Ersten Weltkrieg noch immer vielgelesen und in den Tornistern der Soldaten zu finden war, spricht aus dem mit einer Figur personifizierten Tod dabei ein respektvolles Erbarmen für die Menschheit: »Wie wundervoll sind diese Wesen,/Die, was nicht deutbar, dennoch deuten,/Was nie geschrieben wurde, lesen,/Verworrenes beherrschend binden/Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden.«31 Auch Robert Walsers Text Erinnerung an »Hoffmanns Erzählungen« aus dem Band Poetenleben, der mit dem Druckvermerk von 1918 bereits Ende 28 | Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare, S. 14 (Hervorh. v. MB). 29 | Brief vom 20. Juni 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 300f. 30 | Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 213: »›Was nie geschrieben wurde, lesen‹. Dies Lesen ist das älteste: das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen oder Tänzen. Später kamen Vermittlungsglieder eines neuen Lesens, Runen und Hieroglyphen in Gebrauch.« 31 | Hugo von Hofmannsthal: Der Tor und der Tod, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 3, hg. v. Götz Eberhard Hübner, Klaus-Gerhard Pott und Christoph Michel, Frankfurt a.M. 1982, S. 61-80, S. 79f. In einem Tagebucheintrag von 1894 charakterisiert Hofmannsthal selbst bruchstückhaft die »Stimmungen«, aus denen Der Tor und der Tod im Jahr zuvor entstanden war, und er nennt dabei den Namen eines anderen Autors, den des wohl berühmtesten Essayisten der Literaturgeschichte: »Montaigne. que philosopher. einer der sich selbst überlebt (oder in der Hand des Todes sein Leben als abgeschlossen und vergangen erblickt) und über sein verlorenes, unverstandenes, zweckloses Leben weint.« Ebd., S. 450.
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1917 ausgeliefert war, wird in der Rückschau auf einen Theaterabend rekapitulieren: »Alles Leben konnte jetzt entweder völlig aufhören oder gänzlich neu beginnen./Welche Gegenwart war das! Tausende von Stunden strömten in diese eine.«32 Und weniger als eine Reminiszenz an die Oper von Jacques Offenbach oder an E.T.A. Hoffmanns Erzählungen scheint dies ein Anklang an das Stück Der Tor und der Tod zu sein, das 1908 unter der Regie von Max Reinhardt in Berlin aufgeführt worden war.33 Der Einakter, für den Hofmannsthal ursprünglich den Titel Der neue Totentanz vorgesehen hatte, stellt Kunst und Leben vor dem Hintergrund des personifizierten Todes gegeneinander, der auch als analogon des Dichters auftritt. Wie ein Dichter presst der Tod in eine Stunde mehr Leben, »als das ganze Leben konnte halten«. In der Todesstunde, die das Stück figuriert, ist das Leben gewissermaßen besser, genauer, als das Leben selbst es kann, grausam kondensiert. In Robert Walsers Text Erinnerung an »Hoffmanns Erzählungen« strömen in diese eine Stunde, in der das Leben zwar ebenfalls in Gefahr ist, »völlig aufzuhören«, hingegen »Tausende von Stunden«. Die Stunden strömen, sich frei ergehend wie die Theaterbesucher; sie sind nicht etwa gepresst in die wenigen Theaterstunden – und das Leben selbst kann dabei jederzeit »gänzlich neu beginnen«. Die immer neuen Anfänge sind betont, nicht das Ende, nicht der Tod. 32 | SW 6/92. 33 | Am 30. März 1908 wurde das Stück bei Max Reinhardt Premiere, der selbst die Rolle des Kammerdieners übernahm. Der Schauspieler Alexander Moissi gab den Claudio. Moissi in Biel wird ein Text Robert Walsers betitelt sein (SW 16/318320), der im August 1920 in der Weltbühne erscheint und in dem es heißt: »Mit Moissi kam ein Stück Berlin hierher. ›Wenn schon, denn schon‹, dachte ich und ging hin. Ich sah Reinhardt im Geist […]«. Weiter unten im Text ist dann die Rede vom gemeinsamen Wirtshausbesuch nach der Vorstellung, bei dem Moissi unter anderem den französischen Wortführer des Pazifismus, den Mitbegründer der sogenannten Clarté-Bewegung, erwähnt: »Er sprach von seiner Gefangenschaft in Frankreich, von der russischen Revolution, von Clarinetisten oder Clartisten und Henri Barbusse und seiner Anhängerschaft. Moissi schien begeistert; ich hingegen mußte bei all dem ein bißchen lächeln. Er fragte, ob ich nicht sofort mit nach Berlin fahren wolle. ›Eilt es so sehr?‹ machte ich. Beim Verabschieden rief er: ›Grüßen Sie Ihren Bruder.‹« SW 16/319f. Henri Barbusse, der sich zunächst freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte und bis August 1916 Frontsoldat gewesen war, veröffentlichte im selben Jahr sein Kriegstagebuch Le Feu (Das Feuer. Tagebuch einer Korporalschaft), Vorläufer der Bücher Krieg von Ludwig Renn und Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque. Ab 1917 gab Barbusse die Zeitschrift Le monde heraus, die sich ebenfalls der Aufgabe widmen sollte, den Krieg und vor allem dessen Ursachen zu bekämpfen. 1919 hatte Barbusse gemeinsam mit Romain Rolland die Clarté-Bewegung, eine Friedensbewegung demokratischer Intellektueller, begründet. Zu welcher Bewegung Robert Walser sich von Alexander Moissi nicht mobilisieren lassen wird – ob zur Friedensbewegung oder zur Rückkehr nach Berlin – bleibt im Text Moissi in Biel allerdings offen.
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Auch im Text Freundschaftsbrief verschiebt sich der Sinn in einem dramatischen Bogen von der grausigen Ungeborgenheit, bei der man ›wie lebendig begraben‹ ist, zu einem Ereignis, welches schließlich auch das des Prozessierens des Textes ist. Anders aber als viele Texte Robert Walsers endet dieser Text mit einem Abschluss des in ihm inszenierten Handlungsbogens. Am Ende werden das Schreiben und die Lektüre gemeinsam wieder, wenn vielleicht nicht begraben, so doch eingesargt sein, in der Schrift. Das »schwingende Gemeinsame«, die Lektüre, als Durchgang durch die Zeichen, als Entkommen der Schrift aus dem Sarg, als Wiederbelebung, Wiedergewinnung im Lesen – auch dieses Nachleben der Schrift findet irgendwann unweigerlich ein Ende. Das kleine Anschreiben aber, welches in das Manuskript des Textes Freundschaftsbrief – und signifikant in eine Lücke – hineingeschrieben ist, dieses Anschreiben, welches als eines der frühest datierten auffindbaren mikrographischen Schriftstücke von Robert Walser gelten kann, erwähnt den Text Rückblick, wodurch bereits ein retrospektiver Charakter betont wird. Und die Verkleinerung der Schrift im Rahmen der Weitergabe des Freundschaftsbrief[es] ist in der Tat ein Erinnerungsmal, eine Epigraphik. In trivialem Sinn dem Umstand geschuldet, dass das Anschreiben noch in das Manuskript eingefügt wurde, was aber nicht zwingend war (denkbar wäre ja auch ein gesondertes Blatt gewesen), entsteht die Miniaturisierung in einer Lücke, die in ihrer ›Materialität‹ eben auch metaphorisch zu verstehen ist. Im Text Freundschaftsbrief schwingen »Redensarten«, die zwar als obsolet bezeichnet werden, wie etwa diejenige, ›schweigen zu können wie ein Grab‹, ›etwas zu Grabe tragen‹, ›eine Freundschaft zu Grabe zu tragen‹ oder ›etwas in Frieden ruhen zu lassen‹, durchaus mit. Ausbuchstabiert sind sie nicht; sie bleiben kryptiert – und dennoch sind sie ›am Werk‹, denn sonst läge es nicht nahe, sie im Zusammenhang mit dem Text zu assoziieren. »Durch die Identifizierung mit dem betrauerten Objekt«, schreibt Ulrike Dünkelsbühler im Rekurs auf das Vorwort von Jacques Derrida zur Entschlüsselung der bereits erwähnten Kryptonomie des ›Wolfsmannes‹, werden bei einer Kryptierung »die Erinnerungen und Erwartungen an das andere Objekt im Inneren des Ichs in einem Residuum gewissermaßen ›eingebunkert‹«: Bei der in dieser Weise angelegten Krypte handelt es sich um einen »Ort«, der im Inneren des trauernden Ichs angesiedelt und – wie jede Rahmensetzung – mehr oder weniger künstlich und gewaltsam konstruiert ist. Die Kryptsetzung bedarf aber einer umso rigideren Struktur, als sie qua Krypte vom Inneren absolut ausgeschlossen bleiben muß […]. »In« diesem atopischen, ja atopographischen und damit »unheimlichen« Raum par excellence ist etwas eingeschlossen, das mit einem fundamentalen – »unverdauten« – Mangel in Zusammenhang steht. Zur Essenz der Funktionsweise der Krypte gehört, daß sie qua ihrer hermetischen Ein- und Ausgeschlossenheitstopologik ein Geheimnis birgt. Und nicht nur ihr »innewohnendes« Geheimnis, sondern die Existenz der Krypte selbst muß ihrem Träger verschlossen bleiben. Ihre Wirkungsweise wird mit der eines Phantoms in Verbindung gebracht,
IV. T EXTE ALS » GEBUNDENE H IEROGLYPHEN « ähnlich einem »revenant« d.h. einem »Geist«, der seinen Träger immer wieder »heimsucht«. […] Durch die Anlegung einer solchen Kryptstruktur (mise en crypte) wird Totes konserviert und auf diese Weise (halb-)lebendig gehalten. 34
Das Manuskript des Freundschaftsbrief[es] zeigt diese Art »Rahmenstruktur«, als Schrift ›in‹ der Schrift, als Schrift an den Rändern der eigenen, bereits vorhandenen Schrift, als ›Inschrift‹, die den Sinn der Inschrift, als einem Wort ›auf Zeit und Ewigkeit‹, aber zugleich konterkariert – denn es geht ja lediglich um eine kleine Korrespondenz. Wenn die mikrographische Schrift Robert Walsers, wie Greven vermutet hat, mit der Abfassung des verlorenen Tobold-Romans begonnen wurde, würde sie sich unweigerlich dieser Großform verbinden, hätte unweigerlich den Charakter einer Programmatik. Dagegen erscheint die Herkunftslinie von einem Brief, Miniaturbrief, der in eine Lücke geschrieben ist, auf einem Blatt, auf dem Text bereits existiert, in einer informellen Mitteilung an den Redakteur, plausibel, weil es sich bei der Mikrographie nicht nur um eine Verkleinerung der Schrift, sondern um ein ganzes Ensemble von Verfahren handelt, das nicht nur Form der Genese ist, sondern auch Form wiederhergestellter Genealogie. Die Mikrogramme sind ein Gespräch, ein Zwiegespräch, über das »schwingende Gemeinsame«. Sie sind deshalb nicht für eine Lektüre vorgesehen, weil sich in ihnen, so die These, eine sekretierte Adresse bereits findet; angesichts der Schriftzeichen obliegt die Performanz der Piktur. Adressiert ist die bildende Kunst, der Bruder. Das Schreiben ist getragen durch dieses »schwingende Gemeinsame«; und doch ist es durch etwas, das darin mitschwingen kann, zugleich gefährdet, denn das »schwingende Gemeinsame« hat ein – in dem einen einzigen differerierenden Buchstaben gefährlich wenig differenziertes, prekär nahes – Komplement: im Schwindenden. Und so ist der Text Robert Walsers, dessen Veröffentlichung aus dem Beginn des Jahres 1919 datiert, nicht nur ein Freundschaftsbrief, er ist auch ein Abschiedsbrief. Es ist der »Kamerad«, von dem – kryptiert – Abschied genommen ist. Dieser Kamerad ist nicht nur ein Kriegskamerad, auf den mit dem Wort »Kamerad« immer auch angespielt ist, sondern im Blick auf den Text Der Kamerad der diesem Kameraden metonymisch verwandte Bruder. Die zwei Lexeme – Kamerad, Bruder – haben dabei in Kriegszeiten einen zwar existentiellen, aber gerade unwägbaren, weil geteilten Sinn: Wer ist in dieser Situation noch wessen Kamerad, wessen ›Bruder‹? Welche Haltung hierbei eingenommen werden soll, angesichts der im Krieg unausweichlich gewordenen Frage danach, auf welcher Seite man steht, beschreibt, an äußerst unscheinbarer Stelle, der Text Leben eines Malers aus dem Band Seeland, und zwar eingeführt durch den Schnee als ein verbindendes Element, das alles einhüllt:
34 | Ulrike Dünkelsbühler: »Good Mourning Melancholia«, in: Fragmente. Schriftenreihe für Kultur-, Medien- und Psychoanalyse, Bd. 44/45 (Melancholie und Trauer), Kassel 1994, S. 229-243, S. 235.
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M IKROPOETIK Er sah es in dichten Flocken auf Straßen und Menschen herabschneien und malte dieses feine, träumerische Schneien. Er sah die Blumenverkäuferin, den Blumenladen und all die andern Schaufenster und malte, was er sah. Malen ist ein stilles, hartes, wortloses Geschäft, das auf unermüdlicher Treue beruht. In die Farben fließen die Gedanken, wie in das Malen alles Wesen fließt. Er sah die Nächte mit den Laternen in den Straßen und malte sie. […] Er selber glich dem Abenteurer, der stets ein seltenes, seltsames Menschenexemplar ist, der, weil es ihm keineswegs um Auffälligkeit, sondern immer nur um den Strom des Erlebens zu tun sein kann, so wenig Geräusch zu machen liebt wie möglich. Mensch sein heißt, hin und her sehen und suchen und still dabei bleiben. 35
»Hin und her sehen« kann in einem Gespräch, in einer Auseinandersetzung, von der im Übrigen nicht einmal die Rede ist, nur der Dritte zwischen zweien – ein Dritter, der selbst »still« bleibt.36 Dies ist die neutrale Position der Schweiz mit ihrem in der Verfassung verankerten immerwährenden Neutralitätsprinzip. Es ist die Position zwischen feindlichen Kriegsparteien – und zugleich die Position eines Kindes zwischen streitenden, widerstreitenden Eltern. Der im Januar 1916 in der Neuen Rundschau erstmals abgedruckte Text Leben eines Malers stellt dabei einen Katalog nicht nur der referierten Bildthemen eines Malers dar, der leicht als Karl Walser zu identifizieren ist – er katalogisiert über dasjenige hinaus, was vom ›Maler‹ »in die Grenzen der Darstellung gebannt«37 worden ist, auch die eigene, schriftstellerische, mit stupender Konstanz in der Bieler Prosa geschriebene und umgeschriebene emblematische Ordnung. Im Universum des Textes Leben eines Malers, der ein textuelles Komplement im Text Leben eines Dichters hat, ist die Schwalbe ein »Sinnbild der Freiheit und Schönheit«.38 Doch glaubt ›man‹ bald, so heißt es im Text, »sie scharwenzieren hören zu können«.39 Die Schwalbe scharwenzelt höfisch; das im »scharwenzieren« mitschwingende Musizieren spielt eine Rolle – und doch ziert sich die Schwalbe auch, kokett. Der Vorwurf der Selbststilisierung verdichtet sich dabei mittels der Kontamination zweier Wörter in einem einzigen Wort. Noch ein weiteres Wort aber ist verborgen. Es ist nicht mehr kenntlich, weil es vom »scharwenzieren« überschrieben worden ist. Im ›Scharwen35 | SW 7/26. 36 | In Jacques Lacans Lesart ist das ›Mensch sein‹ andersherum eben dies: die Öffnung der Dyade auf einen Dritten hin, den, wie Friedrich A. Kittler schreibt, »die Mutter als erste Figur des Anderen beim Namen nennen muß«. Anders gesagt: »Der Mensch anerkennt sich als Mensch nur im Maß, wie er von mindestens zwei anderen anerkannt wird, die einander anerkennen.« Friedrich A. Kittler: »›Das Phantom unseres Ichs‹«, S. 158. 37 | SW 7/23. 38 | SW 7/22. 39 | SW 7/22.
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zeln‹ steckt der Name Wenzel40 – und alles, wofür dieser Name im Text mit diesem Titel steht, in dem wieder das Aquarell Karl Walsers Erwähnung findet, das Robert Walser als Schillers Figur Karl Moor zeigt. Der Name Wenzel steht für das alte brüderliche Einvernehmen im Spiel mit den Bruderfiguren von Friedrich Schiller.
IV.3 E IN »M INIATURBUCH«: L IEBE KLEINE S CHWALBE (1919) Das »Miniaturbuch«, das Robert Walser im Dezember 1919 in einem Brief an den Hermann Meister Verlag annoncieren wird, ist im Hinblick auf die Mikrogramme, die aus den Jahren 1924 bis 1933 datieren, als Paradigma für den dort praktizierten Zug der Schrift ins Kleine zu sehen. Emblematisch figuriert im Brief an den Verlag eine Liebe kleine Schwalbe. Sie entstammt einem Prosastück, das bereits im Herbst desselben Jahres vorab publiziert worden war. Nun soll die Schwalbe einer Edition den Titel geben, die sich den ›kleinen Tieren‹ der Literatur widmet, die verstreut erschienene kleine Prosa kontextualisiert, ihr einen Rahmen gibt. Die Schwalbe allegorisiert, was dem Autor mit dem »Miniaturbuch« vorschwebt und was zugleich gefährdet erscheint, wie im Text Liebe kleine Schwalbe deutlich werden kann: Wie schön war’s, dir zuzuschauen. Du taumeltest mit deinen Kameradinnen im silbernen Licht, im göttlichen Luftmeer, stürmtest und jagtest hin und her, stiegest ins Luftgebirge hinauf, um senkrecht niederzustürzen, als wärest du ohnmächtig geworden und wolltest mit zerschlagenen Flügeln am Boden liegen, wovon zum Glück keine Rede ist, denn du hieltest dich ständig im Gleichgewicht und im Besitz der Schwungkraft. Die Furcht, du würdest dich im jähen Flug an Mauer und Schornstein stoßen, erwies sich als überflüssig. So unbesonnen du schienest, so wundersam gabst du acht, und so flogest du bald im Kreise, bald in Wellenlinien, und ich hörte dein Stimmchen dabei, das mit deiner Lebensweise so zart übereinstimmt und mehr nur ein leises Schreien als ein Singen ist. Du redest eben, wie du kannst und musst. Doch wer nimmt es in der Geschwindigkeit mit dir, Tänzerin, auf, die nicht müde wird und gar keiner Füße bedarf?41
Das diminutive »Stimmchen«, dessen Referenz die kleinere Form ist, das aber das längere Wort bildet, »stimmt« mit der Lebensweise »so zart überein«, als ob letztere gar keines anderen Ausdrucks mehr bedürfte. Und in der Tat stimmt ja die Identifizierung des Stimmchens, indem sie bereits mittels desselben Buchstabenmaterials glückt. Die Prosopopöie, die poetische Personifizierung, in der etwas, wie die Schwalbe, Gesicht und Stimme erhält, das streng genommen keines von beidem sein eigen nennen kann, weist auf die Kreisbewegungen, die »Wellenlinien« einer ›wundersamen‹ 40 | SW 2/81-91. 41 | SW 16/396.
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Rationalität: der Schrift. Auf diese weist auch die »Tänzerin«, die selbst zwar Gesicht und Stimme hat, hier aber »gar keiner Füße bedarf«, denn Lesende dieses Textes, wie auch jedes anderen Textes, vollziehen den Akt der Prosopopöie, wenn sie den ›toten‹ Buchstaben ihre ›Stimme‹ leihen,42 wenn sie Schriftzeichen phonetisieren, rephonetisieren. Und genau dieser Akt ist es, der mit den Mikrogrammen nicht gelingt. Und so ist im Text Liebe kleine Schwalbe auch nicht etwa ein ›Ruf‹ der Schwalbe zu hören, der mindestens im Tierreich beantwortet werden könnte; es ist vielmehr nur ein Schrei zu hören; dieser gilt aber wieder nur einer solchen Interpretation als Zeichen für die Abwehr von Schmerz, die anthropomorphisiert. Und dabei ist es: »mehr nur ein leises Schreien«. Die Füllwörter sind, jedes für sich besehen, im Hinblick auf ihre Referenz – der größeren (›mehr‹) oder der kleineren Fülle (›nur‹) –, im Widerstreit. Und ebensowenig offensichtlich wird dabei noch eine andere Aporie. Ein Schrei ist, als »Grenzfall vokaler Aktivität«, der »auf dem Grenzrain zwischen Sprache und Vokalität« 43 siedelt, grundsätzlich asignifikant und enthält doch alle möglichen, alle nur denkbaren Signifikanten. Das ist es, was denen, die den Schrei hören, ›unter die Haut‹ geht. Nun ist aber das Schreien hier in seiner expressiven Bedeutung, und damit auch in der impliziten Anrufung des Anderen, doppelt in Frage gestellt. Nicht nur zeigt es sich vom Singen als von einer prosodischen, melodiösen Artikulation überlagert; es ist auch nahezu unhörbar, geradezu ersterbend geworden, »ein leises Schreien«. Und als ob die Schwalbe selbst »ohnmächtig« geworden wäre, wie es im Text ja droht, kann den Lesenden angesichts ihrer Sturzflüge der Atem stocken; und dies wäre dann – mit der Synkope – in einem Begriff zu fassen, in dem sich physiologische und ästhetische Konnotationen überschneiden. Als Synkope wird in der medizinischen Terminologie das plötzliche, kurzfristige Aussetzen des Bewusstseins in Schwindel- oder Ohnmachtsanfällen bezeichnet, etwa in epileptischen Absenzen. In der musikalischen und poetischen Metrik hingegen bezeichnet die Synkope ein Phänomen der schwebenden Betonung, den Zusammenfall von zwei betonten Tönen oder Silben, zwei Hebungen in unmittelbarer Folge, ohne den verbindenden Zwischenton einer Senkung.44 Doch davon ist hier »zum Glück keine Rede«. Um Suspension von Alternation, um Taumel geht es nicht. Der Satz »als wärest du ohnmächtig geworden und wolltest mit zerschlagenen Flügeln am Boden liegen, wovon zum Glück keine Rede ist, denn du hieltest dich ständig im Gleichgewicht und im Besitz der Schwungkraft« setzt sich vielmehr in eine vitale Äquilibristik fort; 42 | Vgl. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 224ff., S. 226. 43 | Reinhart Meyer-Kalkus: »Jacques Lacans Lehre von der Stimme als Triebobjekt«, in: Kulturelle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse, hg. v. Wolfgang Raible, Tübingen 1995, S. 259-307, S. 271. 44 | Vgl. Gert Hofmann: Schweigende Tropen, S. 3.
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eine bedrohliche Zäsur bildet sich nicht im Enjambement der Lyrik ab. Und doch ist die Liebe kleine Schwalbe ein Prosastück, auf dessen Versmaß Robert Walser den Hermann Meister Verlag ausdrücklich hinweist, wobei der Autor sich – im Doppelsinn des Wortes (unter-)zeichnend – als Tier figuriert: »Ich werde erst hören müssen, was Sie zu dem Trochäus meinen. Ich wage einiges zu hoffen und zeichne mich herzlich grüßend/nicht als großer, sondern als ganz, ganz kleiner unbedeutender/Robert Bären Walser/Ein Anderer verstände keinen Spaß und sagte: frecher Hochstappler!«45 Hier stapelt sich mimetisch vor allem der Buchstabe ›p‹. Dass in der explizit im Doppelsinn gezeichneten Signatur aber noch ein anderes Tier als der Trochäus (respektive die Liebe kleine Schwalbe in ihrem Versmaß), nämlich der Bär erscheint, lässt sich zum einen vielleicht mit der französischen Aussprache des eigenen Vornamens ›Robert‹ erklären. Der Bär ist darüber hinaus jedoch ein kleistisches Tier par excellence. In Heinrich von Kleists 1810 in den Berliner Abendblättern in Fortsetzung erschienenem Essay Über das Marionettentheater ist der Bär Beispiel einer dem Menschen im Erwachen seines Selbstbewusstseins unmöglich gewordenen Grazie, einer Anmut, die ihm nur nach einem unendlichen Durchgang durch das Wissen, im neuerlichen Öffnen der Pforte zum Paradies, schließlich wieder erwachsen kann. Der Bär ist bei Kleist »geschickt und ungeschickt zugleich. Er ist der tanzende Gefangene. Man führt ihn an einem Ring an der Nase herum, aber er versteht Musik und kann fechten. Er ist das graziöse Monster! […] Der Bär kann die Seele lesen; Taktik und Reflexion des Gegners können ihn nicht täuschen. Sein Blick fixiert den Schwerpunkt des Feindes und wenn ein Stoß nicht von diesem Zentrum aus geführt wird, reagiert er einfach nicht. Seine anmutige Kunst ist ein Filter gegen Finten, Täuschung und List.«46 Der Bär hebt zwar die Tatzen, jedoch nur um sich zu verteidigen. In Robert Walsers bereits erwähntem Text Über den Charakter des Künstlers wandelt der Bär als »Brummbär«47, und das heißt zuweilen missmutig, unter seinen Mitbürgern herum: »Der Künstler ist nie allein; sein Tagwerk hört nie auf, und weil er das lebhaft fühlt, kommt er sich im allgemeinen, was er auch tun mag, berechtigt, ja sogar, möchte man sagen, geadelt vor, geadelt durch unaufhörliche innere Munterkeiten, und er tritt ruhig, vielleicht manchmal sogar ein wenig schlapp auf, im Gefühl, daß ›es‹ nie aufhört […].«48 Die Bewegung setzt sich immer weiter fort. Auch der Trochäus der Titelapostrophe Liebe kleine Schwalbe mimetisiert mit seinem Gleichmaß, bei dem Hebungen und Senkungen alternieren, den Flug, das Gleiten, bei dem nichts, nicht das Pneuma, nicht der Schreibfluss ins Stocken gerät. Die Prosodie des Trochäus bildet das Erhebende des Schwalbenflugs 45 | Brief an den Hermann Meister Verlag vom 13. Dezember 1919, in: Br, S. 174. 46 | Mathieu Carrière: Für eine Literatur des Krieges. Kleist, Frankfurt a.M. 1984, S. 58f. 47 | SW 15/65. 48 | Ebd.
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ab, sie zeichnet den Flug der Schwalbe, den Zug der Schrift ihrerseits nach. Immer wieder hebt sich der Ton im Versmaß; immer wieder hebt sich die Schwalbe im Flug über Hindernisse hinweg. Der innere Monolog apostrophiert den Vogel und folgt seinem Flug dabei wie in einem archaischen Orakel, doch das Vogelflugorakel ist, als dieses Medium divinatorischer Zeichen, bereits von einer Zeitgenossenschaft signiert, die den Flugzeugabsturz kennt – und fürchtet.49 Die Katastrophe des Absturzes, der immer auch der mythologische Sturz des Ikarus wäre, bleibt aber Allusion, Andeutung. Im Text Die Brüder – die erste von zwei Fassungen erscheint im Oktober 1916 – heißt es: »Entzückend, so schwöre und behaupte ich, sind erste kühne Künstler-Flugversuche, die mit öfteren Abstürzen verbunden sind.«50 In den Fluss des Prosatextes Liebe kleine Schwalbe bleibt der Absturz zwar eingetragen, ist aber zugleich von der Kontinuierung des Textes fortgetragen und negiert, so dass sich das Kontinuum, über das Moment der Todesdrohung hinweg, als lineares ästhetisches Performativ erwiesen haben wird. Der Flug der Schwalbe hypnotisiert weiter, er setzt eine intensive assoziative Bearbeitung in Gang, und die Lesenden folgen nicht nur der Bewegung der Schwalbe, sondern der jener anderen »Tänzerin«, über die es in einem Brief Robert Walsers aus dem Jahre 1927 heißen wird: »Meine kleinen Prosastücke beliebt mir mit kleinen Tänzerinnen zu vergleichen, die so lange tanzen, bis man sie vollständig verbraucht sind [sic!] und vor Müdigkeit hinsinken. Eigentlich ist dies ja mit allen Menschen oder Arbeitskräften so.«51 Der elitäre Gestus, »mir beliebt … zu vergleichen«, führt noch im selben Satz auf die andere Seite der Klassengesellschaft. Und hier geht es nicht um den Tanz als Abstraktum, sondern um Tänzerinnen, Ausführende, die sich irgendwann wie Waren verbraucht sehen. Robert Walsers Konkretion lässt sich auf die Schriftmetapher des Tanzes beziehen, die sich in den Divagations von Stéphane Mallarmé findet, Ende 1912 von Franz Blei in seiner Zeitschrift Der lose Vogel rezensiert. Für Mallarmé gilt darin ein: »Aufzustellender Satz oder Axiom, das in Sachen Ballett festzuhalten ist!/Nämlich: daß die Tänzerin keine 49 | Eben diese Angst vor Desintegration und Vernichtung findet sich auch im Märchen Däumelinchen mit seiner winzigen Titelfigur – deren Name über den Daumen metonymisch auf die Schreibhand weist. Das Däumelinchen, ein zartes, mikrologisch kleines Mädchen, entgeht im Märchen von Hans Christian Andersen durch das Zutun einer Schwalbe dem historischen Lebensmodell der Zweckehe. Zunächst pflegt das Däumelinchen die totgeglaubte Schwalbe, deren Gesang es lauscht, und zu der es eine Zuneigung fasst, die erwidert wird; dann aber lässt das Däumelinchen die Schwalbe um ihrer selbst willen in wärmere Gefilde ziehen. Diese Art Selbstlosigkeit lässt später auch die Schwalbe walten, als sie dem Däumelinchen einen kleinen und also angemessenen Ehemann zuführt. Robert Walsers Präferenz für Märchenmotive legt dieses märchenhaft hilfreiche Tier, das avant la lettre feministisch ist, als Intertext auch für die Liebe kleine Schwalbe nahe. 50 | SW 5/102. 51 | Brief vom 12. Februar 1927 an Frieda Mermet, in: Br, S. 292.
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Frau ist, die tanzt, aus den miteinander verbundenen Gründen, daß sie keine Frau ist, sondern eine Metapher, die einen der elementaren Aspekte unserer Gestalt, Schwert, Kelch, Blume etc., in sich faßt, und daß sie nicht tanzt, sie suggeriert vielmehr, durch das Wunder von Raffungen und Schwüngen, mit einer Körperschrift etwas, wozu es ganze[r] Abschnitte dialoghafter wie auch beschreibender Prosa zu einem schriftstellerischen Ausdruck bedürfte: Poem, losgelöst von allem Rüstzeug des Schreibers.«52 »Mallarmé abstrahiert«, wie bereits Peter Utz hierzu angemerkt hat, »vom Körper der Tänzerin und ihrem Tanz, um diesen selbst als abstraktes Zeichensystem mit einer Schrift korrelieren zu können, die ihrerseits aller Materialität entkleidet wird.«53 In Robert Walsers Brieftext von 1927 hingegen sind die eingesetzte Arbeitskraft und die Frau deutlich markiert, womit auch auf den Schreiber selbst verwiesen ist, dem es nicht um Poeme geht, die nur scheinbar »losgelöst von allem Rüstzeug des Schreibers«, und das heißt unabhängig von allen Produktionsmitteln und Interpretinnen, entstehen. Und doch ist die Schwalbe, die alliterierend mit dem literarromantischen Schweben54 verbunden ist, im Text Liebe kleine Schwalbe als Motilität, als Beweglichkeit adressiert, bei der die Zeit ›wie im Fluge‹ vergeht und der Raum nicht markiert, ja nicht einmal berührt wird, geschweige denn, dass die Schwalbe je Spuren ihrer eigenen Positivität hinterließe, außer derjenigen, gesehen worden zu sein. »Es gäbe eben ein winziges Büchlein«, wird Robert Walser in der auch mit dem Rascher Verlag über das »Miniaturbuch« geführten Korrespondenz schreiben: »Der Titel deutet dies an.« Die Schwalbe ist, wie der Autor im Brief nahelegt, emblematisch. In Bezug auf das Mäuschen, das die Schwalbe als Titelfigur für den geplanten Band ablösen sollte, weist Robert Walser auf die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Symbolisiertem und Symbol, auf die isomorphe ›Körpergröße‹ von Tier und »Miniaturbuch« hin.55 Was aber ist es, das die Schwalbe symbolisiert? Im Hinblick darauf, dass Ferdinand de Saussure das Symbol, soweit es eine ›natürliche‹ oder ›rationale‹ Beziehung zum Symbolisierten unterhält, nicht als Synonym des linguistischen Zeichens anerkennt, das ja gerade arbiträr und damit nicht-ratio-
52 | Stéphane Mallarmé: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch, hg. v. Gerhard Goebel und Bettina Rommel, Gerlingen 1998, S. 171 (Hervorh. v. SM). 53 | Peter Utz: Tanz auf den Rändern, S. 440. 54 | Im 116. Athenäum-Fragment kann die romantische Poesie »am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, […].« Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 182. 55 | Vgl. Brief vom 23. November 1919 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 173. Ein Gedicht Robert Walsers mit dem Titel Mäuschen erscheint 1919 in der Vossischen Zeitung. Werner Kraft hat in diesem Gedicht die Vorlage für Franz Kafkas poetologisch bedeutsame Erzählung Josefine, die Sängerin – oder – Das Volk der Mäuse vermutet. Vgl. Marion Gees: Schauspiel auf Papier, S. 123.
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nal ist,56 wird die Frage noch deutlicher, für was die Schwalbe im Text Liebe kleine Schwalbe steht, die nachgerade vorbildlich den Vorwand der Harmlosigkeit, unter dem verdrängtes Material die Zensur passieren kann, erfüllt. – Bleibt das Versmaß, und das, was das Versmaß verdeckt. Die prononcierte Erwähnung des Trochäus im Brief an den Hermann Meister Verlag, der dem leisen Schrei der Schwalbe eine Form, eine Versform zuspricht, lenkt von etwas anderem ab, von der Apostrophe des Texttitels. Mit der Anrede der Schwalbe nämlich ist eine Absage oder besser eine Selbstabsage erteilt, denn die Liebe kleine Schwalbe ist zwar ein Brief, der abgesandt werden kann. Aber er wird niemals ankommen können; hierin liegt die lautlos unscheinbare Katastrophe des Textes. Die Krisis, die sich im Text Liebe kleine Schwalbe in dieser unscheinbaren Weise bemerkbar macht, ist eine Krise der Adressierung. In einer Postkarte an den Kurt Wolff Verlag vom 30. Juni 1917 wird dies auch in einem ganz konkreten Sinne deutlich, denn hier heißt es zum einen: »Blei’s Adresse ist mir unbekannt.« Der frühe Förderer ist unauffindbar. Zum anderen wird Karl Walser erwähnt, »dessen Aufenthaltsort mir zur Zeit nicht recht bekannt ist«.57 Auch der Bruder ist nicht mehr zu adressieren. Im Brief an Rascher betrifft die Allegorese das Format, die geringe räumliche Extension des Buches (»ein winziges Büchlein«); zieht man aber einen weiteren Text hinzu, bildet sie auch in Bezug auf die Zeit einen Index aus. Das Tierchen ist klein, als ob es aus weiter Ferne gesehen wäre. Und dies ist auch eine lebenszeitliche Ferne. Wie die Liebe kleine Schwalbe war zur selben Zeit ein weiterer Text in der Zeitschrift Saturn erschienen – auf jenem der Melancholie zugeordneten ›Planeten‹ also, und dieser bereits erwähnte Text Rückblick verspannt schon in seinem Titel zwei Zeiten. Die Erinnerung gilt darin einer märchenhaften Vergangenheit, in der man sich »wie ein seidenfeines weißes Mäuschen« vorgekommen war, »das verhätschelt und von weichen Händen liebkost wurde«.58 Oft entstehen im Traum solche Substitute, Ersatzbildungen durch Verschiebung in ein sensorisches Bild.59 Das Fell des weißen Mäuschens im Text Rückblick aber ist nicht etwa nur seidig oder seidenweich, es ist ›seidenfein‹. Das Wort ist mit einem Bedeutungsüberschuss versehen und so einer relativ klar umgrenzten Referenz enthoben. Seidenfein nämlich ist eher eine bestimmte Sorte Papier, ein Durchschlags- oder Pauspapier, durch das Linien auf einem darunterliegenden Blatt sichtbar werden und auf einem darüberliegenden Blatt nachgezeichnet werden können. Das Epitheton, das Beiwort, schreibt die hyletische Qualität eines Stoffes, durch den, wie in einem Palimpsest, etwas hervorschimmern kann.
56 | Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 85. 57 | Postkarte vom 30. Juni 1917 an den Kurt Wolff Verlag, in: Br, S. 106f. 58 | SW 16/245. 59 | Vgl. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 112f.
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Auch das Adjektiv ›weich‹ zeigt sich deplatziert und dem Konnex, in dem es als Phrase zu erwarten wäre, als Eigenschaft des Tierfells nämlich, entzogen. Stattdessen ist es auf die Hände übergegangen. Zudem rückt die ›Zeichnung‹ des Fells – die ›Farbe‹ Weiß – die Erinnerung in die Nähe einer sprichwörtlichen Redensart, die darauf zurückgeht, dass Mäuse einst als divinatorische Zeichen angesehen wurden. Mittlerweile allerdings bedeutet ›weiße Mäuse zu sehen‹ einer optischen Halluzination aufzusitzen, Imaginäres so zu fokussieren, als ob es real sei. Wer aber das »Mäuschen« vor Augen hat, das im Text Rückblick evoziert ist, halluziniert nicht; diese weiße Maus existiert ohnehin ›nur‹ auf dem Papier – was allerdings nun auch bedeutet, dass das Mäuschen in einem Raum existiert, der für andere nicht einsehbar und vielleicht nicht einmal nachzuvollziehen ist; es existiert lediglich in der Imagination der Lesenden. Mit dem Epitheton ›seidenfein‹ ist, wie mit der ›Farbe‹ ›Weiß‹, dabei auch eine Trägerschaft verbunden, die sich mit der Evokation des literarischen Bildes intrinsisch verbunden zeigt: Es geht um das Papier. Die Materialität des Papiers bleibt – anders als die ›Materialität‹ des Signifikanten – noch in der Lektüre mit Händen zu greifen. Es ist sogar nur im Hinblick auf das Papier überhaupt von einer ›Materialität‹ der Schrift zu sprechen. Und so ist es auch im Text Rückblick das Papier, dem die ersehnte Eigenschaft der handelnden Hände, das Weichsein, wieder zukommen soll. Es ist das Papier, das, wie das Mäuschen, wieder zarter angefasst werden und die Rücksicht derjenigen spüren können soll, die es berühren. – Dass bei der Sehnsucht nach dem Komplement zur eigenen Fragilität eine rezente, aus der Erzählgegenwart des Textes herrührende Wunschvorstellung mit im Spiel ist, schreibt der Text dabei bereits selbst: Tag und Nacht hingen wie aufs innigste aneinander. Alles hing still zusammen, Reden, Atmen und Schlafen. Ich war vielleicht damals durchaus kein schlechter Mensch. Rund um mich glich es einem fortwährenden Einzigen und Einigen. Die Stunden schienen untereinander eng befreundet. Zeit und Raum waren freundlich verbunden und alles Große lag nah und warm bei allem Engen und Kleinen, wie wenn eins das andere unablässig nötig gehabt hätte, und so ist es ja auch. Es gibt nichts auf der Welt, was nicht aufs nächste andere lebhaft angewiesen wäre.60
Alles Große liegt, »nah und warm«, Haut an Haut, aneinandergeschmiegt, bei allem Kleinen. Doch hat das Große hier auch das Kleine zur Voraussetzung, was in Hinsicht auf die Generativität des Menschen, wo ›das Kleine‹ nicht ohne die ›großen‹ Eltern zur Welt kommen kann, die Verhältnisse gerade umkehrt. Analog stellt sich der Zusammenhang von Tag und Nacht, von »Reden, Atmen und Schlafen« unerwartet dar. Das Atmen, als durchgängige vitale Funktion, eint zwei Welten, die der Tagwelt und die Welt der Nacht und des Traums, wo ein anderer Mund spricht. Im Text Das Theater, ein Traum (I) ist dieser andere Mund, wie zitiert, der große weitgeöff60 | SW 16/245f.
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nete Mund der Theaterbühne, das Proszenium, der Raum des Spektakels, des Spektakulären.61 Im Text Rückblick heißt es dagegen: »Alles hing still zusammen«.62 Das Tableau aus »Reden, Atmen und Schlafen« ersetzt, als Kontinuum nominalisierter Verben, nun die Organizität des Mundes. Und das »Mäuschen«, dessen Kontur die Prosopopöie als sprichwörtlich ›stilles Mäuschen‹ nun angenommen hat, kennt keine Vergangenheit mehr, die Anderes, Größeres enthalten hätte. Die Liebe kleine Schwalbe hingegen hat immerhin noch eine Stimme, wenn auch in der grammatischen Verkleinerungsform, ein »Stimmchen« nur. Und ihr Schriftträger ist, wie einem Brief vom November 1918 zu entnehmen ist, auch als veritable Papierschwalbe zu denken. Gegenüber Frieda Mermet protokolliert Robert Walser in diesem Brief, in dem er auch den schweizerischen Generalstreik von 1918 erwähnt, der durch ein massives Truppenaufgebot durchbrochen worden war, dass – nach der offiziellen Kriegszeit – nun wieder Zeitungen erscheinen und der Freundin »vor das liebe Gesichtchen fliegen werden«.63 Die parabolische Bewegung aus dem Text Freundschaftsbrief ist wieder zu lesen – doch nicht nur das. Die Erwähnung der gewaltsamen Niederschlagung des Generalstreiks deutet auf eine Fortsetzung des Kriegsgeschehens mit anderen Mitteln. Mit dem Fliegen der Blätter ist implizit eine Ambivalenz verbunden, denn während des gerade vorübergegangenen Krieges waren erstmals Flugblätter, als sogenannte Einblattdrucke, im Gegensatz zu Mehrblattdrucken in Form von Zeitungen und Zeitschriften, im Rahmen der Kriegspropaganda zum Einsatz gekommen. Die Demoralisierung des Feindes wurde darin durch Konfabulation versucht, etwa durch Falschmeldungen, die behaupteten, feindliche Soldaten wären in die eigenen Reihen übergelaufen; diese Falschmeldungen knüpften um ihrer besseren Glaubhaftigkeit willen dabei an tatsächlich stattgehabte Frontereignisse an.64 Wahrheit und Lüge verbanden sich darin. Robert Walsers Text Liebe kleine Schwalbe und die im Brief erwähnten fliegenden Blätter scheinen zudem eine Kontrafaktur, das heißt eine Gegenschöpfung wie eine Nachbildung zum Expressionismus zu sein, insofern das ›lyrische Flug61 | Vgl. SW 15/8. 62 | SW 16/245 (Hervorh. d. Verf., KS). 63 | Vgl. Br, S. 152. Auch Anfang Juni 1926 sind die Frieda Mermet zur Aufbewahrung überlassenen »fliegenden Blättchen Zeitungsausschnittchen« erwähnt, das »Zeitungliche, Fliegende«. Vgl. Br, S. 278f. 64 | Aus den ebenfalls erstmals eingesetzten Flugzeugen wurden andersherum aber auch eigene Truppen, die hinter den feindlichen Linien gefangen waren, mit Meldungen zum Kriegsverlauf versorgt, um deren Durchhaltewillen zu bestärken, wofür man sich der Verschlüsselung in Codes oder einer Tarnschrift bediente. Die Kryptographie spielte in diesem Krieg daneben eine Rolle für Kriegstagebücher. Das Abfassen solcher Tagebücher war im Feld verboten, so dass etwa auch Ludwig Wittgenstein sein Kriegstagebuch als Kryptogramm führte. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Geheime Tagebücher. 1914-1916, hg. und kommentiert von Wilhelm Baum, Wien 1991.
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blatt‹ eine seit 1910 aufgekommene Publikationsform expressionistischer Literatur war. René Schickele hatte in einer Notiz der Rubrik ›Bemerkungen des Herausgebers‹ im dritten Jahrgang der Zeitschrift Die Weissen Blätter im Jahre 1916 dabei festgehalten: »Vielfach nennen wir heute expressionistisch, was früher romantisch hieß, […]«.65 Die fliegenden Blätter – das ist zugleich das fortfliegende Laub der Bäume im Herbst. Auch dieses Bild, mehrfach von Robert Walser in den Fassungen zum Text Herbst und andernorts wieder aufgenommen, ist nun vom Krieg überschrieben. So etwa in einem kurzen Gedicht von Giuseppe Ungaretti. Das Gedicht besteht aus einem einzigen Satz. Nicht etwa durch einen Satzpunkt abgeschlossen, sondern ins Offene geführt, wird dieser Satz, der in seiner Lakonik von der japanischen Tradition des Haiku inspiriert scheint, im Enjambement, das darin dann auch die vertikale Schreibung ostasiatischer Schriftzeichen imitiert, zu einer schlichten Epigraphik, in der sich die ganze Fragilität des menschlichen Körpers figuriert: Man ist wie im Herbst an den Bäumen die Blätter 66
In seiner Anknüpfung an das Epische gibt das Gedicht Ungarettis mit dem Titel Soldati, das in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs entstand, der Gemeinschaft, den öffentlichen Belangen, der Vielzahl von Stimmen, denen im Gedicht der Plural der Blätter entspricht, eine lyrische Färbung: als universalisierte Stimme des Indefinitpronomens der dritten Person Singular, mit der sich die Spannung zwischen Individuation und Gemeinschaft, die immer auch eine Gemeinschaft der Sterblichen ist, poetisch intensiviert zeigt, wie Robert Harrision schreibt.67 Singuläre Stimme und Chor der Stimmen, lyrische Singularität und epische Multiplizität überlagern sich dabei in mehr als einem Sinne, insofern Ungarettis Gedicht als Umschrift in einem Palimpsest auf die Ilias Homers zurückgeführt werden kann, genauer auf die Verse: »Gleich wie Blätter im Walde, so sind die/Geschlechter der Menschen«.68 Das Homerische »Geschlecht« ist in Ungarettis Gedicht so auch im Sinne der eigenen Provenienz miteingeschrieben; bereits Homers Vers evoziert dabei die Analogie zwischen dem Fallen der Blätter und dem Fallen der Soldaten auf dem Schlachtfeld.
65 | Zit.n. Thomas Anz/Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, Stuttgart 1982, S. 38. 66 | Giuseppe Ungaretti: »Vita d’un uomo«, in: ders.: Tutte le poesie, Mailand 1974, S. 87; zit.n. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 186. 67 | Vgl. ebd., S. 186f. 68 | Homer: Ilias, 6. Gesang, Verse 145-149, in: ders.: Ilias/Odyssee, München 1963; zit.n. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 188.
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Auch die Liebe kleine Schwalbe Robert Walsers ist, folgt man diesen anderen Bildern, in denen »Man ist wie/im Herbst/an den Bäumen/die Blätter«, als »Sinnbild von Freiheit und Schönheit«, von dem im Text Leben eines Malers die Rede ist, von Ereignissen heimgesucht, die »ein leises Schreien« zur Folge haben. Aus der Interdependenz, der Überlagerung von zwei Klangbildern (»mehr nur ein leises Schreien als ein Singen«), aus dem Gemisch von Schreien und Singen, das bereits an einen rituellen Klagegesang denken lässt, geht der unartikulierte Laut des Schreis deutlicher hervor – indes deutlicher als was? Die poetische Valenz des Gesangs, die Metaphorizität, die mit Prosodie, mit Dichtung in Verbindung bringen würde, ist hier nicht mehr verbürgt. Am Rande des nominalisierten Verbs »Schreien« kommt vielmehr ein unscheinbares Epitheton zu stehen, wodurch das Syntagma aporetisch wird. Das Schreien der Schwalbe ist ein leises Schreien; diese Art der Expressivität ist bis zur Unkenntlichkeit als Ausdruck – und wovon? – herabgemindert. In einem Brief von 1926 an Max Rychner wird auch das Mäuschen mit dem Attribut des Leisen versehen sein.69 Und die Mikrogramme sind in gewissem Sinne leise, zu leise, um ankommen, um rephonetisiert werden zu können. Sie sind Briefe, die beinahe nicht haben ankommen können. Und ähnlich wie das »Stimmchen« und der leise Schrei im Text Liebe kleine Schwalbe wirft das Konvolut der Mikrogramme, wirft das Werk Robert Walsers Fragen nach der Deutbarkeit einer Artikulationsform auf, die eine Schwelle der Visibilität der Schrift und der Lesbarkeit literarischer Bilder unterschreitet, so dass, in Analogie zur Schwalbe, bei der »mehr nur ein leises Schreien als ein Singen«70 zu hören ist, mehr nur ein graues Rauschen von Strichen und Punkten zu sehen und eine arabeske Gegenstandslosigkeit von Texten vermutet worden ist, weil auch die Semantiken fast unterhalb der Wahrnehmungsschwelle etwas zu lesen aufgeben. Und doch tun sich im scheinbar Undifferenzierten winzige Differenzen auf. So ist noch einmal auf die Konsekution der Füllwörter im Teilsatz des Textes Liebe kleine Schwalbe zu achten. Es ist »mehr nur« ein leises Schreien – und doch ist dabei, gerade in der Verstellung, auch zu lesen: »nur mehr«. Es ist ›nur mehr‹ ein leises Schreien, um das es geht, weil sich an das Singen offenbar Befürchtungen knüpfen. Welche Befürchtungen das aber sein könnten, und dass diese, wie sich zeigt, eine möglicherweise erfolgende Detonation, eine Explosion betreffen, lässt sich 1917 der Erstfassung von Der Spaziergang entnehmen: »In einem schönen Gesang ist immer ein gleichsam zusammengedrängtes und -gepreßtes Erfahren, Empfinden und Fühlen, eine zur Explosion fähige Summe von beengtem Leben und von bewegter Seele.«71 In der zweiten Fassung 69 | Vgl. Brief vom 18. März 1926 an Max Rychner, in: Br, S. 265. 70 | SW 16/396. 71 | SW 5/35, vgl. SW 7/110. Ernst Jandl wird in seinem Gedicht schtzgrmm, welches das Wort ›Schützengraben‹ – buchstäblich verstümmelt – anklingen lässt, auf
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des Textes Der Spaziergang im Band Seeland wird es 1920 zwar noch immer die Substantivierungen des ›Erfahrens‹ und ›Empfindens‹ geben, das ›Fühlen‹ aber wird entfallen sein.
IV.4 D ER K L ANG DER I NVERSIONSLINIE : S CHNEEGLÖCKCHEN (1919) Nach dem Prinzip von Liebe kleine Schwalbe sind die Texte der Bieler Prosa fast durchgängig analogon eines hypnoiden Zustands, in dem ein landschaftliches Szenario, welches der Spaziergänger, welches das poetische Ich sich erschließt, zugleich ›real‹ und imaginär oder auch surreal avant la lettre ist. Wo Phantasie und Tagtraum nach Freuds Konzeption in den nächtlichen Traum, in dem sie für die Symbolik eine Rolle spielen und Entstellungen unterworfen sind, als Tagesreste Eingang finden und dort im Verbund mit dem Unbewussten ausbilden, was Freud die »Traumfassade«72 genannt hat, ist dieses Verhältnis in den Texten der Bieler Prosa Robert Walsers gerade verkehrt. In diese Texte ist das Hieroglyphische nächtlicher Traumbilder eingegangen, was auch zur »latenten Unentzifferbarkeit«73 der Texte führt, die teilweise wie ein Rebus aufgebaut zu sein scheinen, das heißt: »Mehrere Gedanken verdichten sich in einem Trauminhalt und ein Traumelement verschiebt sich ersatzweise auf andere manifeste Bilder, Worte oder Buchstaben«, wie Georg Christoph Tholen zu Freuds Traumdeutung formuliert hat.74 Sigmund Freuds Bestimmung des Traumbildes als Rebus ist dabei buchstäblich aufzufassen: »Im Traum nämlich verfolgen wir die Einwirkungen eben der verbuchstäblichenden (oder anders gesagt: phonematischen) Struktur, in welcher sich der Signifikant im Diskurs artikuliert Vokale verzichten. Der Text lässt in der nicht durch die Vokale abgemilderten Zusammenziehung der Buchstaben, in den komprimierten Konsonanten die Schrecken des Krieges, die auch die akustischen Schrecken der Detonationen waren, fühlbar werden: »t-t-t-t/grrrmmmmm/t-t-t-t«. Vgl. Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, Stuttgart, Weimar 1997, S. 40. 72 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 497 bzw. S. 680 im Text »Über den Traum« [1901]. 73 | Paolo Chiarini: »Unvorgreifliche Gedanken eines Walser-Lesers«, S. 13. 74 | Die Überführung der Tagesreste in den Traum ist dabei »das Rätselhafte am Prozeß der Verschiebung und Verdichtung, da das, was sie übertragend verschiebt, ihre eigene Wirkung ist. Ihre Mission ist gleichsam die Trans-Mission einer sinnvollen Botschaft, die sie unterbricht. Sie ist ein Medium, das überraschend dazwischen kommt. […] Das Unbewußte stellt sich in manifesten Bildern dar, undarstellbar jedoch ist es selber als bilderlose Zeichenschrift, die, wie Freuds implizite Semiotik es präzisiert, als ›Bilderrätsel voller Zeichenbeziehungen‹ zu lesen ist. Diese entfalten sich in assoziativen Verknüpfungen, horizontal und doch ohne Horizont, […].« Georg Christoph Tholen: »Traumverloren und lückenhaft – Zur Atopik des Unbewußten«, S. 46 (Hervorh. v. GCT).
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und sich analysieren läßt. Wie die in der Natur nicht vorkommenden Bilder des Bootes auf dem Dach oder des Mannes mit dem wegapostrophierten Kopf, auf die Freud hinweist, sind die Bilder des Traums nur in ihrem Signifikantenwert zu nehmen, das heißt nur so weit, wie sie die Möglichkeit eröffnen, den ›Spruch‹ des Traumrebus‹ nachzubuchstabieren.«75 Etymologisch gesehen liegt der Kern des ›Traums‹, der Bedeutungskern dabei im althochdeutschen Verb ›triugan‹ = ›trügen‹. Der Traum ist Trugbild: ein Simulakrum, wie es in gewissem Sinne auch die Schrift der Mikrogramme gewesen war, solange sie, der Auffassung Carl Seeligs folgend, für eine Geheimschrift gehalten wurde. Und das Trugbild findet sich auch in der Bieler Prosa. Im Text Das Traumgesicht, der im Juni 1913 in den Deutschen Monatsheften (Die Rheinlande) und dann im Band Kleine Dichtungen erschien, erklingt eine Glocke, die keine ist; der zweite Satz des Textes lässt diese Glocke in »etwas Süßes«, »etwas Loses, Lustiges, Flatterhaftes« hinein erklingen; der Ton dieser Glocke skandiert: »Der Ernst des Lebens klang wie eine Glocke in das liederliche Geflüster und Geklingel und Gelispel hinein. Die Blätter flüsterten […].«76 Die Glocke, der »Ernst des Lebens«, weist auf Zusammenkünfte zu lebenszeitlich einschneidenden Begebenheiten hin, auf Taufen, Hochzeiten – und auf Begräbnisse, als Sonntagsglocke weist die Glocke aber zugleich auf die Wiederkehr des immergleichen, sonntäglichen Rituals. Diese Glocke nun, die in Verbindung mit dem »Ernst des Lebens« steht, die hier noch Metapher ist, findet sich im Titel des Textes Schneeglöckchen wieder, der in seinem Incipit auch einen Hinweis auf die tatsächliche Existenz des Tobold-Romans gibt, der mutmaßlich mikrographisch verfasst war und als Manuskript wie als Text verloren ist. Der Prosatext Schneeglöckchen erscheint dabei zuerst im März 1919 in der Neuen Zürcher Zeitung: »Eben schrieb ich einen Brief, worin ich kundgab, ich hätte einen Roman mit oder ohne Müh und Not fertiggebracht. Das stattliche Manuskript liege marschbereit in meiner Schublade.«77 Die Mobilmachung eines Manuskripts, das sich zur Distribution bereitgestellt sieht, ist mit der Alternation »mit oder ohne 75 | Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens«, S. 35. 76 | SW 4/26. 77 | Vgl. SW 16/392 und Br, S. 154 f.: An den Rascher Verlag Biel, 12. Dezember 1918 Sehr geehrter Herr, Ich habe einen Roman entworfen, der, wie ich voraussetze, Ende Januar 1919 niedergeschrieben sein wird und eine starke Arbeit zu sein verspricht. Das Buch wird straffe Form haben und nicht sehr groß sein. Es handelt von meinem früheren Erleben. Der Schauplatz ist Zürich. Der Held ist ein junger Mensch, Commis und Dichter. Dazwischen klingt viel Zeitgemäßes, Jetziges hinein. […] Es kann ja sein, dass Sie zuerst lieber mit dem Roman, d.h. mit einer Neuigkeit, hervortreten würden als mit ›Seeland‹. […] Ob Sie es dann möglich [sic!] bald, d.h. ohne Weiteres drucken und verlegen könnten? Und mit ›Seeland‹ warten würden, wozu wir ja so
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Müh und Not« gestört; und wie beiläufig weist der folgende Satz auf eine historisch privilegierte Aufzeichnungsfunktion der Schrift, die immer auch der Volkszählung und damit der Aushebung von Wehrfähigen zum Kriegsdienst gedient hatte.78 Das »stattliche« Manuskript ist also auch ›staatlich‹. Und doch ist das ›marschbereite Manuskript‹ sprichwörtlich ›ohne Not‹ entstanden. Im Redaktionsjargon gesprochen, ist es nicht nur ›unverlangt‹ eingesandt, sondern ›unverlangt‹ bereits abgeschrieben worden. Wodurch ist es also mobilisiert? Der Texttitel, das Schneeglöckchen, ist, gerade als Titel, einesteils außerhalb der inneren Geographie des Textes befindlich, bleibt außerhalb der fiktiven Narration; andernteils überschreibt das Titelwort – am Kopf des Textes – eine »Inversionslinie«79 , die durch die Trennung des Titels vom Korpus der Narration markiert ist. Der Titel überschreibt nicht nur den Text selbst, sondern auch die imaginäre Linie zwischen Titel und Incipit, die Leerzeile, den Zwischenraum, der mit der Konvention einer dem Titel zugewiesenen exponierten Stelle gegeben ist. Der leere Raum wird darin – mit der Semantik des Schneeglöckchens – zur graphischen Metonymie auch der Schneedecke, durch die hindurch sich nicht nur das Schneeglöckchen Bahn bricht, sondern auch der Text selbst, und zwar sowohl der des Textes Schneeglöckchen als auch der des darin erwähnten ›marschbereiten‹ Manuskripts, der des Romans Tobold.80 Und doch gelten für den letzteren Text andere Gesetze, denn das Romanmanuskript, das sich über die Inversionslinie zwischen Titel und Incipit in Bewegung setzt, ist gleichsam rückwärtig – qua Schrift – an einen unhörbaren, lediglich imaginären ›Klang‹ gebunden, den des Schneeglöckchens. Und hier ›klingelt‹ es nun also auch. Das Glöckchen macht, weil es im Titelwort unmittelbar benachbart ist, auf die Schneedecke allererst aufmerksam – und wie so auf die Radierungen warten müssen? […] Ich bin von heute ab mit der Reinschrift tätig und grüße Sie …« 78 | Vgl. Franz Dornseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie, S. 9. 79 | Vgl. Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 1992, S. 62. 80 | Schneeglöckchen, Grashalmen, die unter Hauben von Schnee hervorragen, ähnelt die feingliedrig gestreute Schrift in den Mikrogrammen Robert Walsers. Und es ist an Platons poetische Beschreibung der Schrift im schriftphilosophischen Dialog Phaidros zu denken, im Folgenden zitiert nach Platon: Phaidros oder Vom Schönen, übersetzt und eingeleitet von Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1998, S. 89, in dem die Metaphorik der zart keimenden Halme ebenfalls auftaucht. Im Gegensatz zu den »Reden der Erkenntnis«, die das Gerechte, Schöne und Gute betreffen und die Samen tragen, um immer von neuem in anderen Seelen zu keimen und um so auch den, der diese Reden führt, unsterblich zu machen, steht eine andere Praxis; es ist die des Autors: »um des Spieles willen wird er die Gärten der Schrift, denke ich, besäen und beschreiben, wenn er schreibt, und sich damit selbst einen Schatz von Erinnerungen sammeln für die Zeit, da er ins Alter des Vergessens gelangt, und auch für jeden, der mit ihm derselben Spur folgt, und er wird seine Freude daran haben, wenn er ihr zartes Wachstum betrachtet.« [276C]
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auf den Frühling, weshalb es im Text nun auch »zu frühlingeln beginnt«, Hoffnung keimt: »Da wird wohl da und dort ein gutklingender Frühlingsvers gelingen.«81 Im ›Gelingen‹, im Nachhall, den dieses Reimwort ausbildet, wird auch der vorstehende Vers nachträglich gut ›klingen‹. Beim Schneeglöckchen hingegen geht es um einen Klang, den es nicht gibt, der aber in etwas ›Sichtbares‹ transponiert erscheint, in ein Wort, dessen anderer Wortteil – Schnee – metonymisch im Gegenteil mit Stille verbunden ist. Es ist jene fast heilige Stille, die herrscht, wenn Schnee liegt, und die sich als Stille des Gebets, als Residuum von Sakralität, auch im (Kirch-)glöckchen evoziert zeigt – jene Stille, die es als Eigenschaft des vokalisierbaren literarischen Kunstwerks, im Gedicht wie in der Prosa, im strengen Sinne nicht geben kann. Auch der Klang oder besser die Stille des Schneeglöckchens, das in einer phonetisch identifizierbaren Schrift notiert ist, dessen Signifikat aber gerade keineswegs – wie vom Glöckchen evoziert – mit einem Laut, mit einer Lautung zu tun hat, ist in keiner Sphäre ›rein‹ zu begreifen; es ist weder reine Abstraktion, noch hat es eine reine ›Materialität‹. Es gleicht, gerade als dieses Paradoxon, dem Doppelcharakter des Phonems/Graphems. Das »Schneeglöckchen« ist im Text Robert Walsers weder ein Ideogramm, als Sichtbarmachen von Beziehungen, die kein Äquivalent auf der Ebene des Lautes haben,82 noch ein Ideophon, und doch – durch die literarische Evokation von gleich zwei Bildern in einem Wort – beides zugleich. Es ist, als ob die Arbitrarität der Zeichen, die vom vereinbarten Sinn generierte Bildhaftigkeit der Sprache, hier selbst sichtbar gemacht und ihre Verabsolutierung zudem ad absurdum geführt würde, denn obgleich das Phonem, als der nur durch seine Differentialität bestimmte ›stumme Laut‹83, das NichtAbbildbare par excellence ist, obgleich dem Phonem nichts Sichtbares ähneln kann,84 evoziert das »Schneeglöckchen«, als sichtbares Zeichen des Frühlings, als Ikonizität des eben nur vermeintlich ›stummen‹, verschriftlichten Lauts, in Robert Walsers Texttitel Schneeglöckchen eine Schrift, die eben mehr ist als nur die Anordnung von Punkten auf einer Oberfläche, die mehr ist als nur der »Schlüssel für in Klang gesetzte Wörter«.85 Diese Mikropoetik der Schrift ist dabei zugleich eine Mikropolitik86, denn wo 81 | SW 16/393. 82 | Vgl. Sybille Krämer: »Schriftbildlichkeit«, S. 160. 83 | Sybille Krämer schreibt in »Schriftbildlichkeit«, S. 165: »Nicht wenige Sprachwissenschaftler kommen daher zu der Überzeugung, dass das Phonem – im Unterschied zum Graphem – kein empirisches Datum, vielmehr ein theoretisches Konstrukt ist. Das Phonem wird dann interpretiert als ein Epiphänomen des Buchstabens. Und das heißt: Der einzelne Laut ist kein Vorkommnis des Sprechens, sondern das Ergebnis einer Analyse der gesprochenen Sprache im Medium der Schrift.« 84 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 19. 85 | Vgl. Walter Ong: Literalität und Oralität, S. 78f., Zitat S. 79. 86 | Vgl. »Mikropolitik« als Begriff bei Félix Guattari: Mikro-Politik des Wunsches, Berlin 1977.
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das Schneeglöckchen nicht zu hören ist, ruft es auch nichts aus, dem Folge geleistet werden müsste. Und obgleich nicht etwa sprichwörtlich ›wie gedruckt‹ gelogen worden ist, wie in den Verlautbarungen zum Krieg, wie in der Kriegspropaganda, ist dies das Gegenbild, das mit einem leise sardonischen Ton im Text mitschwingt. Und schließlich ist das ›Lügen‹ nur durch diakritische Zeichen, durch zwei kleine Punkte, die Umlautzeichen, vom schweizerischen Idiom des ›Lugens‹, Hervorlugens (des Schneeglöckchens aus dem Schnee) getrennt. Der Blütenkelch der Blume, der Form nach einer Glocke, und damit auch der Totenglocke ähnelnd, der beim Schneeglöckchen weiß ist wie Schnee, bricht durch die imaginäre Linie zwischen Titel und Incipit, die mit dem ›marschbereiten‹ Manuskript gleichermaßen auch Frontlinie ist, hindurch. Das Schneeglöckchen ist dabei jedoch durch die mit dem Wort ›Schnee‹ gebildete, haubenartige und denkbar harmlose Blüte zugleich gegen diese Art Mobilmachung abgeschirmt. Die Bedeutung des Ganzen erscheint in Robert Walsers Text Schneeglöckchen dabei sprichwörtlich ›durch die Blume‹, und in diesen Zusammenhang gehört, dass René Schickele, für den die Kontroverse eine Art heuristisches Prinzip der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Weissen Blätter war, kurz vor Erscheinen des Textes Schneeglöckchen von Robert Walser einen letzten großen Beitrag verfasst hatte, in dem er, wieder mittels einer Kontroverse, seine eigene Position zu klären versucht hatte. Es handelt sich um den Leitartikel des Januarheftes aus dem Jahre 1919, der den Titel trägt Durch die Blume eines Privatbriefes. Als offener Brief verfasst, richtete sich der Beitrag an Otto Flake und war die Antwort auf ein Manuskript, das Schickele von seinem Jugendfreund Flake zur Veröffentlichung übergeben worden war. Schickele propagiert darin »die Befreiung der Menschen vom bösen Zwang, womit Menschen Menschen beherrschen«. Um dieser Hoffnung willen sei er, Schickele, bereit, »alle Demütigung, die in der zeitweiligen Abdankung der Intelligenz besteht«,87 auf sich zu nehmen. Hier hört man zum einen Robert Walsers Verzicht auf »Inteligentika’s« heraus, der in einem viel späteren Brief an den Redakteur der Neuen Schweizer Rundschau (Titel der Monatsschrift war bis 1926 Wissen und Leben), an Max Rychner propagiert werden wird. In Beantwortung einer von Alfred Kerr publizistisch aufgeworfenen Frage danach, ob, so wird es Robert Walser hier kolportieren, »zur Gedichtfabrikation ein Grad von Verblödung erwünscht sei«, entwirft Robert Walser in diesem Brief eine eigene Poetik des »Gedicht-Körpers«, auf die weiter unten noch zu kommen sein wird, und die jedenfalls zur Voraussetzung hat: »Inteligentika’s in Menge nach links und nach rechts, zu Gunsten des Gedichtbildes zu verdrängen. Sich dümmer, unwissender zu benehmen, als man ist, ist eben eine Kunst, ein Raffinement, das und die wenigen gelingt. 87 | René Schickele: »Durch die Blume eines Privatbriefes«; zit.n. Julie Meyer: Vom elsässischen Kunstfrühling zur utopischen Civitas Hominum. Jugendstil und Expressionismus bei René Schickele (1900-1920), München 1981, S. 141.
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Weßhalb steigen aus Shakespeare-Stücken Frauengestalten so eminent-, so leuchtend-lebendig, lebenswarm herauf? Weil er’s versteht, d.h. verstanden hat, oder weil es ihn hinriß, Manches gar nicht auszusprechen. Aus den Unausgesprochenheiten entwickelt sich das Gestaltliche.«88 Aus »Unausgesprochenheiten« entwickeln sich die Dinge, entwickelt sich das »Gestaltliche« auch hier. Das Wort »Inteligentika’s«, in dem sich die Pluralbildung analog zu der des Lexikons/der Lexika vollzieht, sich die gehobene Bildung dann aber nicht nur durch den Verlust des Doppelkonsonanten, sondern vor allem durch das angefügte ›s‹ konterkariert findet, illustriert den aufsässigen Umgang mit der bei Hölderlin poetologisch hochbedeutsamen und in einem Gedichttitel firmierenden Blödigkeit89, die bei Robert Walser zur Frage nach der für die Lyrik notwendigen »Verblödetheit Kerr’s« geworden ist, doch: »Zweifellos ist Kerr’s Umfrage oder Enquête eine gescheite. Kerr’s Inteligenz feiert in dieser Problemstellung einen Triumpf. Im Begriff Blödsein liegt eben etwas Strahlendschönesund Gutes, etwas unsäglich Feinwertiges, etwas, das gerade die Inteligentesten sehnsüchtig gesucht haben und fernerhin sich zu eigen zu machen suchen.«90 Eine »Enquête« ist die Untersuchung einer Frage durch persönliche Aussprache mit Sachverständigen oder beteiligten Personen oder die schriftliche Umfrage im parlamentarischen Disput. Auch René Schickeles 88 | Brief vom 18. März 1926 an Max Rychner, in: Br, S. 265-267, S. 266f. 89 | Vgl. Uta Degner: Bilder im Wechsel der Töne. Hölderlins Elegien und »Nachtgesänge«, Heidelberg 2008, S. 219-237: Hölderlins Titel meint in der Sprache der Zeit um 1800, wie Adelungs Wörterbuch zu entnehmen ist, so viel wie ›Schüchternheit, unzeitige Scham im gesellschaftlichen Umgange‹. Und wie der ›blöde‹ Mensch im gesellschaftlichen Umgang, so befindet sich auch der Gedichttext Hölderlins in einer Verlegenheit, was das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem betrifft, wie Uta Degner darlegt. Diese Verlegenheit äußert sich in den zerstückelten Einzelgliedern des Gedichts, in inversiven Spiegelungen, kontraintuitiven Tempuswechseln und einer Metrik, die immer auch eine zweite Lesart des Gedichts ermöglicht. Hölderlins Gedicht Blödigkeit, das in konventionellem Sinne selbst nicht reimt, inszeniert dabei in besonderer Intensität das Textverfahren der mixtura verborum: Einzelne von Kola und Kommata zerlegte Bruchstücke liegen zerstreut umher und müssen erst einmal ›zusammengereimt‹ werden. Der Text überlässt es dabei den Lesenden, »neue Ordnungsgefüge aufzubauen«. (Ebd., S. 237.) Ein und demselben Satzglied sind immer zwei verschiedene syntaktische Funktionen zuzuordnen, was dem Gefüge grundsätzlich Ambiguität verleiht: »Was Apposition wozu ist, wie die einzelnen Glieder zusammenhängen, bleibt höchst vieldeutig.« (Ebd., S. 226) Denn »eine solche Verschiebbarkeit der Attribuierungen – der ›Reime‹ in Hölderlins Sinn – legt den Text auf ganz verschiedene Sinnrichtungen hin aus« (ebd., S. 228). Und so bringen sich die Verse »durch verschiedene Stilmittel der ›Unschicklichkeit‹ in ihrer Artifizialität selbst auf die Textbühne. Man hat daher mit Recht den Titel der Ode als Selbstbeschreibung« für ihre eigene Verfasstheit verstanden, schreibt Uta Degner (ebd., S. 235). 90 | Brief vom 18. März 1926 an Max Rychner, in: Br, S. 266 (Hervorh. v. RW).
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Text Durch die Blume eines Privatbriefes, den Robert Walser, wie der Reflex im späteren Brief an Rychner zeigt, rezipiert haben wird, lässt die kontroverse Gesprächssituation noch einmal deutlich werden, die charakterisiert wird als die Präliminarien einer Aktion und Reaktion »zwischen zwei Menschen, für die das Problem eine Lebensfrage ist«.91 Auch hier geht es um mehr und anderes als um Poetik, es geht um Politik. René Schickele, der während des Krieges keineswegs von Beginn an erklärter Pazifist gewesen war, vermochte dem Kriegsgeschehen nur Sinn zu unterlegen im Ruf nach einer Freiheit, nach der Befreiung von jedweder Unterwerfung, von der er hoffte, sie würde am Ende des Krieges stehen und in eine Demokratie einmünden. Im ersten Heft des Jahres 1916, dem ersten Heft, das aus der Schweizer Emigration der Zeitschrift und ihres Herausgebers erschienen war, stellt Schickele – in den zuvor von Franz Blei herausgegebenen Weissen Blättern – in Bezug auf das zeitgenössische Ideologem eines sogenannt ›wahren Deutschtums‹ dazu fest: »Unsere Mörser, sie mögen noch so gut sein, haben mit Goethe nichts gemein, die gelungensten Durchbrüche zu Bach nicht die geringste Beziehung. Ein Sieg ist, wenn Geist Macht wird, wenn aber die Gewalt sich des Geistes bedient, um der Macht und nur ihretwillen, so übt sie die schlimmste Sklaverei, die Menschen erdulden können.«92 Macht bleibt Gewalt. Die Verantwortung der Intellektuellen in diesem Prozess zwinge allerdings unter Umständen dazu, von einem Mittel Gebrauch zu machen, das, so Schickele, der Intelligenz zumeist widerwärtig erscheine: der Politik. Literatur aber habe grundsätzlich nur Wert darin, dem Geist zur Herrschaft zu verhelfen – und so geht auch Hugo Balls Schrift Zur Kritik der deutschen Intelligenz (1919) auf eine Anregung von René Schickele zurück.93 Was dieses Postulat dabei für den einzelnen Autor bedeuten sollte, beschreibt Schickele im selben Heft wie folgt: »Jeder tue, an seinem Platz, was sein Gewissen ihm gebietet. Es gibt kein anderes ›Gebot der Stunde‹.«94 Die Weissen Blätter sah Schickele dabei als ein Gemeinschaftswerk an, als Forum aller Meinungen. Im Verlauf des Krieges wurde jedoch zunehmend die kriegskritische Publizistik, die zuvor versteckt im Glossenteil erschienen war, positiv rezensiert, Gewaltideologie verurteilt; und zuletzt gaben Die Weissen Blätter auch den Stimmen des organisierten Pazifismus Raum. 91 | René Schickele: »Durch die Blume eines Privatbriefes«; zit.n. Julie Meyer: Vom elsässischen Kunstfrühling zur utopischen Civitas Hominum, S. 141. 92 | René Schickele: »Glossen. Bemerkungen des Herausgebers«, in: Die Weissen Blätter, Heft Nr. 1 (1916), S. 136; zit.n. Nicole Billeter: »Worte machen gegen die Schändung des Geistes!« Kriegsansichten von Literaten in der Schweizer Emigration 1914/1918, Bern u.a. 2005, S. 273 [zu René Schickele: S. 245-279]. 93 | Vgl. ebd., S. 262ff., 278, 248. 94 | René Schickele: »Glossen. Bemerkungen des Herausgebers«, in: Die Weissen Blätter, Heft Nr. 1 (1916), S. 136; zit.n. Nicole Billeter: »Worte machen gegen die Schändung des Geistes!«, S. 274.
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Kriegsopposition hieß für René Schickele, ernst zu machen mit einer Utopie. Und genauer gelesen, und nicht etwa, wie es leicht geschehen kann, überlesen, ist auch in Robert Walsers Text Schneeglöckchen im Zusammenhang mit dem Frühling als der hoffnungsfrohen Jahreszeit von Politik die Rede: Das ist ein Volksschauspiel, und der Eintritt kostet keinen Rappen. Die Natur, der Himmel über uns, treibt nicht üble Politik, daß er das Schöne allen, ohne Unterschied schenkt, […]. Schneeglöcklein, wovon redet ihr? Sie reden noch vom Winter; dabei aber doch auch schon vom Frühling; sie reden vom Vergangenen, doch dabei schon keck und fröhlich vom Neuen. Sie reden vom Kalten und dabei doch schon vom Wärmern; sie reden von Schnee und zugleich von Grün, von keimendem Wachstum. […] Schneeglöckchen lispeln allerlei. Sie erinnern an Schneewittchen, das in den Bergen, bei den Zwergen, freundliche Aufnahme fand. Sie erinnern an Rosen, darum, weil sie anders sind. Alles erinnert stets an sein Gegenteil.95
Die Blume zeigt sich einer uralten Vorstellung von Blumengeistern verbunden, der Vorstellung, dass in der Blume, als einem Gesicht ohne Stimme, subtilere Geister am Werke seien: »D[ie] Blüthe ist das Symbol des Geheimnisses unsers Geistes«,96 schreibt Novalis im Allgemeinen Brouillon. Das Schneeglöckchen Robert Walsers aber, das gerade mittels seiner schneeweißen Farbe eine Similarität zum weißen Papier hin fortsetzt, ist mit dem nur trügerisch, qua Schrift, evozierten Klang eines »glöckchens« assoziiert. Die beinahe unmerkliche Subvertierung arbeitet dabei mit den ›eigenen Waffen‹ der Schrift, das heißt mit der Evokation eines Bildes, das sich in der Metonymie immer schon von einer neuerlichen Bewegung erfasst zeigt. Diese Bewegung bedient sich durchaus des Signifikats, des Vorstellungsbildes; denn andernfalls wäre der unhörbare ›Klang‹ des Schneeglöckchens gar nicht zu ›hören‹. Doch gerade der Klang (zumal der eines Schneeglöckchens) ist Referent, der zwar, von der Musik her gedacht, topisch ist, und das heißt auch, dass er abstrakt zu dokumentieren sein kann, beispielsweise in einer musikalischen Notation,97 aber in der Wirklichkeit ist er nicht zu positionieren. Klang ist Umgebung, er erzeugt Stimmun95 | SW 16/393f. 96 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 477. 97 | Den Charakter einer ausschließlich ideosynkratisch dechiffrierbaren, phantastischen Notation haben die graphischen Arbeiten von Adolf Wölfli, der, wie später Robert Walser, in der psychiatrischen Anstalt Waldau bei Bern interniert war. Dass diese graphischen Notationen jedoch für ihn selbst als Musik dechiffrierbar waren, zeigt eine Anekdote: Legte man Wölfli eines seiner Blätter mit dieser Phantasiemusik aus Noten vor, die keiner sonst zu entziffern vermochte, spielte er Töne, die er auch bei erneutem Vorlegen desselben Blattes identisch wiederholen konnte. Vgl. Der letzte Kontinent. Bericht einer Reise zwischen Kunst und Wahn. Ein Bilder- und Lesebuch mit Materialien aus dem Waldau-Archiv, hg. v. Michael Beretti und Armin Heusser, Zürich 1997, S. 29-36, S. 32.
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gen, bildet eine akustische Hülle. Der Differentialcharakter des Graphems jedoch, der Abstand, auch zwischen Titel und Incipit eines Textes, ist für das Gehör nicht wahrnehmbar – es sei denn in einer Lesepause, im Enjambement der Lyrik; wohl aber ist dieser Abstand in der Schrift wahrzunehmen.98 Auch als Leerzeile, die den Titel vom Text absetzt. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf den wichtigen Umstand hinzuweisen, dass die Texte im »Bleistiftgebiet«, in den Mikrogrammen, keine Titel haben. Einen Titel haben die Texte vielmehr erst bei ihrer Abschrift für die Redaktionen erhalten. Erst hier entsteht mithin diese Inversionslinie. Die Mikrogramme sind in diesem Sinne keine ›marschbereiten‹ Manuskripte. Das Manuskript ist erst, wenn es in der Reinschrift vorliegt und mit einem Titel versehen ist, »marschbereit« und zeigt sich einer Distribution ausgesetzt, die der Mobilmachung des Militärs gleicht. Exterritorial gegenüber dem »Bleistiftgebiet«, regelrecht in Stellung gebracht, verliert die Schrift darin ihren einzigartigen Nimbus, ist nicht mehr die auratische Signifikation, die mit einem »Halo assoziierter Bilder« versehen ist.99 Und noch mehr: Mit dem Manuskript des Tobold-Romans, der dem Verlag gegenüber als »marschbereit« deklariert wird, ist auch auf den strukturellen Zusammenhang mit der in der Schweiz nur im Bereich der Armee kodifizierten nicht-dialektalen Schriftsprache, auf eine Sprache, die nicht die Muttersprache ist, auf das Schriftdeutsche verwiesen. Und dies ist ein Zusammenhang, der sich während des Ersten Weltkriegs als durchaus prekär erweist, insofern die durch unterschiedliche Sprachen differenzierten Landesteile zu dieser Zeit zeitweilig in ein Schisma zu driften drohten. Robert Walsers Text Schneeglöckchen ist nicht nur explizite Annonce des Tobold-Romans, sondern implizit auch eine der schwer auffindbaren Annoncen seiner mikrographischen Schrift.
98 | Vgl. Hélène Cixous: Weiblichkeit in der Schrift, Berlin 1980, S. 105. 99 | André Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 264, spricht vom »Halo assoziierter Bilder, der die archaischen Formen der Schrift kennzeichnet«. Denn: »Das Bild besitzt noch eine dimensionale Freiheit, die der Schrift stets fehlen wird; es vermag den Sprachvorgang auszulösen, etwa die Erzählung eines Mythos, ist diesem Vorgang aber nicht verhaftet; sein Kontext verschwindet mit dem Erzähler.« Ebd., S. 246.
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V. Macht der Substitution – Poetik der Transposition
Robert Walsers Text Hans, als jener Text, der, wie weiter oben gezeigt, in einer signifikanten Veränderung zwischen Erst- und Zweitfassung auf ein Datum, auf den Beginn der Mikrographie weist, figuriert als Paradigma der vom Kriegsausbruch zerstörten Zusammenhänge den Abbruch des Traums, das Zerreißen des Nimbus, der auch der Nimbus der Schrift ist. Der Bezug zum Krieg ist explizit, doch macht der Ausbruch des Krieges nur einen geringen Teil des ganzen Textes aus, bricht doch der Krieg, erst kurz vor Schluss des Textes, auch in diesen selbst unvermittelt ein. Gegen Ende des 1916 und dann wieder im Band Seeland publizierten Textes Hans aber, der den langen, schönen Sommer vor dem Kriegsausbruch im August 1914 zum Thema hat, heißt es in der zweiten Fassung noch immer: Er trat in den Toten- oder Friedhof hinein, wo er bedächtig die blassen, kaum noch leserlichen Inschriften auf den alten Grabsteinen las, die von Buchsbäumen und andern seltsamen Gebüschen, deren Blätter und Nadeln schlanken Federn und zarten Händen glichen, dunkel umsponnen waren. Am gedankenvollen Ort unweigerlichen Lebensendes dufteten und prangten Sommerglück und -schönheit. Leben und Sterben, Blühen und Welken, Vögelsingen und Menschengräber, blauer Himmel und Grabschriften schienen hier innig zusammengewachsen. Hans blieb lang im Dorffriedhof, der eine so süße Poesie enthielt.1
Grabsteine, Male, die das Grab markieren, sind ihren Inschriften zum Trotz stumme Steine. Sie sind hier jedoch von vegetabilen Gewächsen, die (zarten) Federn und (schlanken) Händen gleichen, bei denen die Epitheta also gegeneinander vertauscht sind, nicht etwa organisch bewachsen, sondern »dunkel umsponnen« – und zwar auch im Sinne einer in der Verwirrung der Wortfolge erzeugten Dunkelheit der Rede, einer poetischen Obscuritas. Das Firmament und die Grabschriften, Gesang und Sterblichkeit sind hingegen »innig zusammengewachsen«, und zwar zu einer Sprache, die, dem Gesang der Vögel ähnlich, polyphon ist, und die eine Sprache nicht nur des 1 | SW 7/200.
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Vegetabilischen, sondern auch ein Humanum ist, durch das die leere Monumentalität auf dem »Toten- oder Friedhof« eine »so süße Poesie« erhält, sich als Poetik der Transposition entfaltet. Die »schlanken Federn und zarten Hände[ ]«, denen die beschriebenen »Blätter« als Schreibblätter, denen die inskriptiven »Nadeln« gleichen, und jene »blassen, kaum noch leserlichen Inschriften« sind von Buchsbäumen, Blättern, Federn, Händen, vom ganzen belebten und unbelebten, organischen wie anorganischen Inventarium des Schreibens »dunkel«, das heißt verstellt und kryptiert, umsponnen. Der Text verschlüsselt und benennt das Verschlüsseln zugleich. Die Friedhofszenerie aus dem Text Hans sucht im wahrsten Sinne des Wortes nicht unumwunden das unmögliche ›Gespräch‹ mit den vermittels des Schreibinventariums ›hörbaren‹, scheinhaft wispernden Toten. Und es sind nicht nur die eigenen Toten; der 1916 erstmals erschienene Text impliziert auch die Kriegstoten, die publizistisch nun mehr und mehr sichtbar werden. In diesem Text Hans findet sich, wie oben ausgeführt, ein Hinweis auf die Mikrographie, auf die, mit Blanchot zu sprechen, ›einmalige Form‹, die Robert Walser sich angesichts dieser Ereignisse als Schreibpraxis vorgeschlagen hat. Die Antizipation einer Obliteration, die Vorwegnahme der Verwittertheit und einer nur noch blassen Erinnerung an die Schrift, wird sich mit einem anderen Instrument als dem der Feder verbinden – mit dem Bleistift. Medialität ist nicht mehr gekennzeichnet durch Liquidität; es ist nicht mehr nur die aktivische Medialität der Feder, des Instrumentellen, sondern auch die passivische Medialität des Beschreibstoffes, des Papiers, die eine Rolle spielen wird. Denn die Feder scheint sich diskreditiert zu haben, wo es, wie der Text Hans schreibt, um eine Form der Epigraphik geht, in der das persönliche Andenken seinen Ausdruck an einem Ort findet, dem Friedhof, dem Gedächtnisraum einer Gemeinschaft, in einer verräumlichten Manifestation, die zwar noch zu sehen, aber kaum mehr zu entziffern ist: in den »blassen, kaum noch leserlichen Inschriften«, die mit allem Organischen »innig zusammengewachsen« sind. Das Gegenbild zu dieser Art des Umfangenseins, des Umsponnenseins, aber ist das ›Gesponnene‹ oder ›Umgesponnene‹, das sich, wo es um eine Form der Konfabulation geht, die sich mit der Feder verbindet, im Text Poetenleben zeigt, der im Oktober 1916 in Die Weissen Blätter und später im gleichnamigen Band Poetenleben erscheint. Und dort: »In dem Dasein, das uns interessiert, spielte die feinsinnige, graziös und behend über das Blatt Papier hinschweifende, allerlei niedliche, zierliche Zahlen und Sätze zeichnende, spitzige, zarte Schreibfeder offenbar von jeher eine ausschlaggeende Rolle.«2 Die Feder ist mit den Attributen der mädchenhaften, noch sehr jungen, auch jungenhaften weiblichen Konstitution versehen; sie ist »spitzig«, worin – wie sich im Verlauf des Textes zeigen wird – ›spitz‹ und ›spitzfindig‹ kontaminiert sind. Das Schreibinstrument steht mit der Spitzfindigkeit als besonderer Pedanterie, mit der Unwahrscheinlichkeit des fiktional bloß Behaupteten in Beziehung. Die Feder steht nicht nur für die 2 | SW 6/121.
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Hyperbel, als der über die Grenzen der Wahrscheinlichkeit hinausgetriebenen erzählerischen Deskription, für die ausschmückende, ornamentierende Rede. Im Text Hans wird sich vielmehr herausstellen, dass die dort beschriebenen und nicht zufällig maurisch beeinflussten Städte mit ihrer arabesk ornamentierten Architektur, an die »dies und das« im Text zu erinnern scheint, eben ›wirklich‹ nie gesehen wurden: »Der da meinte, dass ihn dies und das an Granada, Madrid, Barcelona, Sevilla und Toledo mahne, hatte übrigens solche Städte nie gesehen, woraus man ersieht, dass er entweder gern prahlte oder gern log, oder gern schwindelte, oder gern dichtete, spann und simulierte. Menschen, die Phantasie haben und Gebrauch davon machen, gelten leicht als Spitzbuben. Dieses nebenbei.«3 Auch die Feder ist suspekt; sie ist gesellschaftlich demselben Verdacht ausgesetzt wie das halb adorierte, halb inkriminierte dichterische Vermögen zur Imagination, das sich mit dem im Ersten Weltkrieg bedeutsamen Vorwurf eines Simulantentums verbindet. Die Traumata der nicht physisch, sondern psychisch Versehrten waren zunächst als solche ›Simulation‹ abgetan worden. Die philiströse Ambivalenz gegenüber den Dichtern wird im Text Hans dabei kommentiert, indem die gesellschaftliche Marginalisierung selbst marginalisiert, der ›Spieß‹ umgedreht wird. So heißt es dazu nur lapidar: »Dieses nebenbei.«4 Der Text thematisiert jedoch auch, dass die Authentizität der Erfahrung wie die der Erzählung – als autobiographischer Erzählung – in der Tat bezweifelbar geworden ist. Mit der Stadt Toledo weist der Text Hans auf den Dichter Cervantes und auf dessen Roman Don Quijote und bildet eine Performanz dieser berühmten Fabel aus, denn die Tragikomik des Don Quijote von Miguel de Cervantes besteht ja gerade darin, dass er durch die Lektüre märchenhafter Ritterromane dazu verleitet wird, die Wirklichkeit zu verkennen. Don Quijote »unterlaufen rein literarisch motivierte Lesefehler, gebildete Alexien [d.i. die Unfähigkeit, trotz intakten Sehvermögens, Geschriebenes zu lesen, gedanklich zu erfassen. Buchstaben werden erkannt, aber nicht zu Worten zusammengesetzt; bei einer literalen Alexie (Buchstabenblindheit) werden selbst die Buchstaben nicht erkannt; Anm. d. Verf., KS], und diese hochpoetischen Störungen in der Poesie bescheren der Dichtung des Cervantes das höchste Qualitätssiegel der Romantik […] Im Wahnsinn des Ritters von der traurigen Gestalt schlummert die Literatur als das, was der Wahnsinn und sein Verstehen in der Moderne, also seit 1800, sein werden: Auslöschung von Kontingenz und restlose Motivation aller Zeichen oder Ereignisse«, schreibt Manfred Schneider.5 3 | SW 7/176. 4 | Ebd. 5 | Manfred Schneider: »Das Grauen der Beobachter: Schriften und Bilder des Wahnsinns«, in: Bild und Schrift in der Romantik, hg. v. Gerhard Neumann und Günter Oesterle, Würzburg 1999, S. 237-253, S. 238. Michael Wetzel: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, S. 64, schreibt zum Don Quijote des Cervantes: »Immer noch einer Ordnung der Ähnlichkeiten verhaftet, sucht er in der
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In Robert Walsers Text Tobold (II) heißt es so auch: »Ist nicht Don Quichote in seiner Verrücktheit und Lächerlichkeit ein wahrhaft glücklicher Mann? Ich vermag das keinen Augenblick zu bezweifeln. Ist ein Leben ohne Sonderbarkeiten, ohne sogenannte Verrücktheiten überhaupt ein Leben?«6 Auch im Text Über eine Art von Duell wird die Stadt Toledo »als der Geburtsort des europäischen Romanes« figurieren, »indem daselbst Miguel Cervantes zeitweilig wohnte, der den Don Quichotte schrieb, der noch immer der beste Roman Europas blieb«.7 – Und dies bleibt noch immer ein Zitat. Auch wenn dies nur in den beiden unscheinbaren Wörtern »noch immer« kenntlich ist. Friedrich Schlegel nämlich hatte, in seinen Fragmenten zur Litteratur und Poesie, elliptisch festgehalten: »D[on] Q[uixote] noch immer d.[er] einzige durchaus romantische Roman. – Die Engländer – Goethe im W[ilhelm] M.[eister] – haben zuerst die Idee von einer R π [Romanpoesie] in Prosa restaurirt.«8
Welt vergeblich nach Entsprechungen des Versprechens vergilbter Folianten, weil er noch nicht begriffen hat, daß die Schrift und die Dinge aufgehört haben, einander zu ähneln: ›Sein ganzes Wesen ist nur Sprache, Text, bedruckte Blätter, bereits geschriebene Geschichte. Er ist aus verkreuzten Wörtern gemacht, ist in der Welt zwischen den Ähnlichkeiten der Dinge irrende Schrift.‹ [Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 78] Zugleich vollzieht Cervantes in seinem Roman den Übergang zum typographischen Modell der klassischen Schrift. Der Druck schreibt auf dem anderen Schauplatz einer Rücksicht auf Darstellbarkeit keine Prosa der Welt mehr, sondern läßt die Sprache in ›jene einsame Souveränität‹ [ebd., S. 81] eintreten, die im emphatisch modernen Sinne Literatur heißt. Don Quijote lernt, die bildlichen Verweisungen nicht als Gegebenheiten einer realen Spur zu entziffern, sondern als Aufgabe einer moralischen Weisung zu verstehen, denn die Repräsentativität gedruckter Schrift ist nicht symbolischer, sondern emblematischer Natur. Sie läßt nicht dingliche Verhältnisse und Zeichenkombinationen zusammenfallen, sondern legt in letztere einen figürlichen Sinn, der erst zu realisieren ist. Repräsentation im emblematischen Sinne heißt nicht Reproduktion, sie ist nicht die Wiedergabe eines Außen oder die Restitution einer verborgenen, ursprünglichen Präsenz. Die entsprechende Einsicht, die Don Quijote nachzuvollziehen hat, lautet folglich, daß sich Präsenz über die einfache Verdoppelung der sprachlichen Zeichen herstellt, daß ihre ›Wiege‹, ihr Ursprung buchstäblich Inkunablen sind, daß Realität also durch Drucktechnik simulierbar ist. Diese Einsicht beherrscht das ganze Zeitalter des Barocks und macht es etwa möglich, daß Athanasius Kircher, ohne die geringsten Kenntnisse ihres symbolischen Zusammenhangs, die Bedeutungen der ägyptischen Hieroglyphen durch bloße ›Transformationen in andere Sprachen und Repräsentationen‹, statt zu übersetzen, einfach simuliert.« (Hervorh. v. MW.) 6 | SW 5/227. 7 | SW 17/167. 8 | Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 16, S. 176. Die »Romanpoesie« – und das heißt in Schlegels Nomenklatur die Universalpoesie – ist hier in einer Abbreviatur in Gestalt des mathematischen Zeichens geschrieben, das auf eine Zahl
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Zwei zunächst unscheinbare Worte »noch immer« spannen also den Bogen, in dem Cervantes noch immer Vorbild ist und in dem aus dem ›einzigen durchaus romantischen Roman‹ – in einem ein ganzes Jahrhundert überwölbenden literarischen ›Gespräch‹ zwischen Robert Walser und Friedrich Schlegel – der ›noch immer beste Roman Europas‹ wird. Und erst in diesem literarischen Palimpsest wird dann eben auch das zeitgenössische Bekenntnis Robert Walsers zu einem geistigen Europäertum deutlich – und sein Plädoyer für einen Internationalismus. Nicht zu reden von einer Poesie in Prosa. Auch das die Feder im Text Poetenleben kennzeichnende Wort »spitzig« findet sich, nun in Robert Walsers bereits erwähnter Naturstudie, mit einem um die Wende zum 20. Jahrhundert virulenten, oft literarisierten gesellschaftlich-literarischen Topos verbunden, der Differenz von Stadt und Land: Wie man vielleicht die Länder mit Körpern vergleichen könnte, so würden womöglich die Städte mit Geistern verglichen sein wollen. Das Land scheint alles in allem geduldig und weich, sanft und reich zu sein, wogegen sich die Stadt als spitzig, spitzfindig, unruhig, ungeduldig, schmal, hart, dünn, mager, unzufrieden, herrisch und armselig darstellt. So oder ähnlich beliebe ich die Sache nun einmal aufzufassen, was irgendeinen andern an irgendwelcher anderer Anschauung doch wohl durchaus nicht hindert. Ich möchte bloß fragen: was sind Blumen in der Stadt? und man wird mir antworten müssen: entschieden etwas Beeinträchtigtes, […]. 9
Wo der Singular der Nation in den Plural gesetzt ist, das Land zu Ländern vervielfältigt ist – und auch das »Bleistiftgebiet« ist im Übrigen Land, bevölkert von Textkörpern – diversifiziert sich analog der ›Geist‹ der Stadt zu körperlosen Geistern, wovon die »Blumen«, das heißt die rhetorischen Tropen, betroffen sind. Die lange Reihe nicht synonymer Adjektive in der Naturstudie – »spitzig, spitzfindig, unruhig, ungeduldig, schmal, hart, dünn, mager, unzufrieden, herrisch und armselig« – bedeckt das Blatt dabei wie ein arabeskes, maureskes, schriftbildliches Ornament, überwuchert, hypertrophiert den Text scheinbar ohne erfindlichen Grund. Das treffende Wort aber scheint bewusst nicht gefunden; es wäre möglicherweise in einem injurierenden Sinn des Wortes zu treffend. Schließlich soll nicht etwa eine Absage ergehen an den Internationalismus, an die Stadt, an das literarische Leben, an das, was Friedrich Schlegel geistige »Urbanität« genannt hatte. Wo »die feinsinnige, graziös und behend über das Blatt Papier hinschweifende, allerlei niedliche, zierliche Zahlen und Sätze zeichnende, spitzige, zarte Schreibfeder offenbar von jeher eine ausschlaggebende
weist, deren Stellen hinter dem Komma ins Unendliche fortlaufen, nicht auszuschreiben sind. 9 | SW 7/61f.
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Rolle«10 gespielt hatte, wo sie salonfähig war, wird dieser Satz aus dem Text Poetenleben allerdings bald konterkariert, denn: »Wir haben uns hier, wie uns scheint, mehr um innere als um äußere Beziehungen zu kümmern und mehr mit Merkwürdigkeiten als mit Oberflächlichkeiten zu beschäftigen. Inneres weist zwar unserer Meinung nach immer auch auf Äußeres hin, wie denn z.B. Regierungen innere so gut wie äußere Angelegenheiten zu behandeln haben und umgekehrt.«11 Das Verhältnis der inneren zu den äußeren Angelegenheiten, auch des Textes, ist ein politisches, gesellschaftspolitisches, es ist Sache der Diplomatie ebenso wie der ›inneren Sicherheit‹. Denn das Spitze, Spitzige, Spitzbübische, Spitzbubenhafte ist eben nicht nur harmlos konnotiert. Im Text Pauli und Fluri etwa, bereits im Juli 1915 erschienen, fallen »sie«, die nun »die Schurken, die Spitzbuben« sind, über einen »Wehrlosen« her, sie peinigen einen »Schwankenden«, indem sie diesen nur »noch mehr schwächen und ganz dem Armen alles Vertrauen zu sich selber rauben«: Ich sah das, und ich sah noch mehr als das. Es war ein abscheuliches Schauspiel, ein marternder Anblick, ein hässliches, entsetzliches Theater. Die ganze Abscheulichkeit und Grausamkeit der Menschen, dieser Bestien im Kleide der Gebildetheit, lag in ihrer Schamlosigkeit, in ihrer widerlichen Unverkennbarkeit vor meinen Augen. Wo eins eine Schwäche, einen Mangel, eine Armut zeigte, weidet sich sogleich ein Rudel Unmenschen an des Mitmenschen Blöße. »Unholde!« hätte ich laut schreien mögen. Doch das Sonderbare war: ich konnte weder etwas sagen zu all dem Unrecht, noch vermochte ich mich auf irgendeine Art zu bewegen. Gefesselt lag oder stand ich da, und hieraus geht für mich deutlich hervor, daß ich »das alles« im Traume sah.12
Die Ohnmacht des Zeugen dieses »abscheuliche[n] Schauspiel[s]«, wie auch der Krieg eines gewesen war, wird unversehens zur Absenz des Schlafenden, des Träumenden. »Stimme und Zunge« des »Armen« sind »wie abgestorben«: »ich brachte kein Wort hervor«.13 Erst der Traum klärt die artikulatorisch ohnmächtige Position – indem er luzide wird. Die Lähmung verliert sich, indem, was ›real‹ erschien, sich nun nur noch als Traum, als Albtraum erweist. Das Trauma der Ohnmacht ist in den Traum abgerückt, abgewendet, in einen Traum, in dem das poetische Ich »dieses ganze elende, grausame Leben zerstücken« will, wie es im Text Pauli und Fluri auch heißt. Und wirklich ist der Text selbst durch ungewöhnlich viele Absätze graphisch ›zerstückt‹. Und um ›Zerstückelung‹, im Sinne von Verteilung einer Macht, die sich in Körpern und Körperschaften ungebührlich konzentriert und akkumuliert hat, soll es in der Tat gehen, denn, so formuliert der Text Pauli und Fluri in der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft: 10 | SW 6/121. 11 | SW 6/122. 12 | SW 16/175f. 13 | SW 16/177.
V. S UBSTITUTION /T RANSPOSITION Die Großen sind nicht durch sich selbst groß, sondern durch die andern, durch alle die, denen es ein Entzücken bereitet, sie als groß zu erklären. Durch vieler Leute Würdelosigkeit entsteht diese eine überragende Ehre und Würde. Durch vieler Leute Kleinheit und Feigheit entsteht diese auf einem Punkt aufgehäufte Summe von Größe und durch vieler Leute Verzicht auf Macht diese gewaltige Macht. Ohne Gehorsam ist der Befehlshaber und ohne Diener ist der Herr nicht möglich.14
V.1 V OM TODE GEFRISTE TES E RZ ÄHLEN : P RINZIP DER I NSERTION In seinem Text Der Erzähler15, der sich dem Untertitel nach dem Werk des russischen Dichters Nikolai Lesskow widmet und als eine Auftragsarbeit 1936/37 in der Zeitschrift Orient und Occident erscheinen wird, dessen Vorarbeiten, die einer großangelegten Erzähltheorie gelten, aber bis in die 1920er Jahre zurückreichen, wird Walter Benjamin schreiben, dass Erfahrung als solche in der Zeit des Ersten Weltkriegs eine andere geworden ist. Von Giuseppe Ungaretti im zitierten Gedicht Soldati poetisiert, findet sich die zu Kriegszeiten prekär nahe Sterblichkeit des menschlichen Körpers auch in diesem Essay: Mit dem Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung. Was sich dann zehn Jahre später in der Flut der Kriegsbücher ergossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von Mund zu Mund geht. Und das war nicht merkwürdig. Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.16 14 | SW 16/179. 15 | Walter Benjamins Text Der Erzähler basiert auf Vorarbeiten, Notizen zum Projekt einer Erzähltheorie, deren Arbeitstitel »Theorie des Romans« oder »Roman und Erzählung« Benjamin 1928 und 1929 in Briefen an Gershom Scholem – und Max Rychner – mitteilt. Das große Gewicht, das diese Arbeit für Benjamin selbst hatte, zeigt sich auch darin, wie er 1936 in einem Brief schreibt, dass der Aufsatz zum Erzähler, »ohne im entferntesten die Tragweite der kunsttheoretischen [Arbeit über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; Anm. d. Verf., KS] zu beanspruchen, einige Parallelen zu dem [dort dargestellten; Anm. d. Verf., KS] ›Verfall der Aura‹ in dem Umstande aufweist, daß es mit der Kunst des Erzählens zuende geht«. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II.3, S. 1277. 16 | Ebd., Bd. II.2, S. 439.
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Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs ist – auf verschlüsselte Weise – ubiquitär geworden.17 Sie ist zum Symptom geworden. Was aber verborgen bleibt, ist der Zusammenhang von Symptom und Erfahrung. Die Sprachlosigkeit der psychisch versehrten Kriegsheimkehrer, von der psychiatrischen Klinik als Mutismus bezeichnet, teilt die traumatische Erfahrung zwar mit, ohne jedoch, dass diese ›von Mund zu Mund ginge‹, wie Benjamin schreibt, ohne dass sie diskursiv würde; die Sprache ist sprichwörtlich ›verschlagen‹. Wer jedoch nicht spricht, verschweigt auch nichts.18 Das Symbol- und Sprachversagen ist auch Indiz für die Zeugenschaft.19
17 | Das Phantasma des Körpers in seiner Ganzheit ist gestört, wo dieser manifest zerstückelt werden konnte. Was die sogenannten »Kriegszitterer« betrifft, bilden ihre Körperkonvulsionen dabei eine Ähnlichkeit zu jenem »Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen« aus, von dem Benjamin schreibt: und zwar in unzeitiger Anverwandlung an das, was für den Körper unkontrollierbar bedrohlich gewesen war. Die Exzentrik der Glieder antizipiert darin simulatorisch das, was im Krieg in der Tat unzählige Male geschehen war: Extremitäten wurden vom Körper abgetrennt oder zerfetzt. Und so schreibt Eva Horn: »Das Verstummen, Erblinden und Ertauben, der Stupor und die Lähmungserscheinungen erscheinen als die körperliche Inszenierung der Bedingungen des Stellungskriegs: die Lähmungen und Gliedertaubheiten ›spielen‹ die Unbeweglichkeit des Grabenkriegers, Aphasie und Aphonie sind die psychosomatische Umsetzung der Kommunikationsschwierigkeiten im extremen Lärm, die hysterische Erblindung ist Reflex der Unsichtbarkeit von Zielen und Feinden. Die neurotischen Ausfälle sind ein Zerrbild des normalen Frontalltags.« Eva Horn: »Erlebnis und Trauma«, S. 140. Der Vorwurf der Simulation, den die institutionelle Militärpsychiatrie vorbrachte und der die Rückstellung der Patienten vielfach aufheben sollte, ist dabei nicht ohne fatale Ironie, weil er dieses theatralische Moment benennt. Nur verkennt er vollends die Retroaktivität, die Freud bemerkt hatte: Das System präpariert sich in den Symptomen nicht nur, wie Freud analysiert, für einen längst stattgehabten Schock, es antizipiert ihn nachträglich, versucht eine Angst nachzuholen, die den stattgehabten Schrecken ›nachzubereiten‹ versucht. Darin liegt, so Christoph Türcke, die Wiederholung, der Wiederholungszwang – als der Versuch, »den Schrecken in eigene Regie zu nehmen«. Vgl. Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 29. 18 | Vgl. Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 30. 19 | »Das Empfinden für die Unangemessenheit des tradierten Idioms, die Sprachlosigkeit vor dem Neuen (mochte sie sich auch Jahre oder Jahrzehnte nach dem Krieg erst artikulieren) ist eine Folge des Widerspruchs zwischen herkömmlichen Bildern und neuer Realität; dieser Widerspruch leuchtet im absurden Augenblick auf. Die Einsicht in das Symbol- und Sprachversagen ist damit wesentliches Indiz für die wahre Zeugenschaft.« Ulrich Linse: »Das wahre Zeugnis. Eine psychohistorische Deutung des Ersten Weltkriegs«, in: Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, hg. v. Klaus Vondung, Göttingen 1980, S. 90-114, S. 101.
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Das unaussprechlich Schreckliche ist, bildlich gesprochen, aus einer Form der Kursivität, als schriftlicher Differenzierung, die im Fluss der Rede kein analogon hat,20 nicht herausgeführt und zu einer Rede formiert, die ›geradeheraus‹, in einem ›Klartext‹ die Erlebnisse mitteilen würde – wobei dieser ›Klartext‹ sich auch hier wieder als das Phantasma erweisen würde, das er immer ist. Das Erfahrene findet nicht den Weg in eine Symbolisierung, es beharrt vielmehr in seiner ganzen Dichte in einem Schweigen, das nicht in der Linearität einer Erzählung dekomplexiert und aufgelöst wird. Was ausbleibt, aussetzt, ist die – epische – Erzählung. Erst zehn Jahre später – und dies ist in der Tat das Intervall, in dem sich ein Trauma entfaltet, und in dem es sich, auch bei Robert Walser, semantisch zu artikulieren beginnt – werden literarische Arbeiten erscheinen, in denen die Kriegsgeschehnisse erzählt sind. So wird Ende des Jahres 1928 Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues zunächst in der Vossischen Zeitung, 1929 als Buch veröffentlicht.21 »Für die Kriegsliteratur des Nachkriegs wird es darum gehen […], wenigstens im Nachhinein einen Blick zu (er)finden, von dem aus die Diffusion, die Unüberschaubarkeit des Krieges sich ordnet. Denn dieser Blick wäre es, der […] dem nicht-erlebten Krieg seine ›Zeitstelle‹ anwiese«, schreibt Eva Horn.22 Doch Erzählung ist auch eine Modalität, Zeit zu erfahren, wieder zu erfahren. Und gerade die Erfahrung einer Zeit des Leidens soll ja suspendiert bleiben. In Remarques Narration wird im Selbstgespräch des Protagonisten Paul Bäumer so auch deutlich, was obsolet geworden ist – es ist die Schrift selbst: Wie sinnlos alles ist, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muß alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, daß diese Ströme von Blut vergossen wurden, daß diese Kerker der Qualen zu Hunderttausenden existieren. Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist. […] Ich sehe, daß Völker gegeneinandergetrieben werden und sich schweigend, unwissend, töricht, gehorsam, unschuldig töten. Ich sehe, daß die klügsten Gehirne der Welt Waffen und Worte erfinden, um das alles noch raffinierter und länger dauernd zu machen. Und mit mir sehen das alle Menschen meines Alters hier und drüben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt das meine Generation. […] Jahre hindurch war unsere Beschäftigung Töten – es war unser erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom Leben beschränkt sich auf den Tod. Was soll danach noch geschehen? Und was soll aus uns werden?23 20 | Vgl. Sybille Krämer: »Schriftbildlichkeit«, S. 160. 21 | Vgl. Eva Horn: »Erlebnis und Trauma«, S. 136ff. 22 | Ebd., S. 141. 23 | Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues [1929], Köln 2004, S. 177f. Anders beschreibt der Kulturphilosoph Theodor Lessing die Erfahrung des Ersten Weltkriegs: »Alles das, woran ich auf Erden gelitten habe und was mir am Menschen böswillig und gehässig erschien, brüchig und gemein, machtwillig oder eitel, alles das begegnete mir auf meinem Lebenswege stets im Gewande der Ideale. Im
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Das Kriegstrauma muss, um als solches überhaupt gedacht werden zu können, Teil einer Geschichte werden; doch diese Geschichte kann erst von ihrem Ende her erzählt werden. Wann aber ist dieses Ende anzusetzen – und gibt es für diese Art Traumatisierung überhaupt je eines? Zeitlich erheblich vom Kriegsgeschehen entfernt steht das im Jahre 1962 geschriebene, neue Vorwort von Georg Lukács zu seiner Theorie des Romans, die 1920 im Paul Cassirer Verlag erschienen war. Zu einer solchen Theorie des Romans hatte auch Walter Benjamins Essay zum Erzähler einen ersten Ansatz leisten wollen. Georg Lukács nennt in diesem neuen Vorwort zur Arbeit von 1920 als deren Beweggründe und auslösende Momente den Kriegsausbruch von 1914, die kriegsbejahende Stellungnahme der deutschen Sozialdemokratie und die eigene, »besonders anfangs wenig artikulierte Ablehnung des Krieges, vor allem der Kriegsbegeisterung«. In dieser Situation schien sich eine lange vorgeprägte literarische Form wieder anzubieten, wozu Lukács im Rückblick schreibt: In solchen Stimmungen entstand der erste Entwurf zur »Theorie des Romans«. Ursprünglich sollte daraus eine Kette von Dialogen werden: eine Gruppe junger Leute zieht sich vor der Kriegspsychose ihrer Umgebung ebenso zurück wie die Novellenerzähler im »Dekameron« vor der Pest; sie führen Gespräche der Selbstverständigung, die allmählich zu den im Buch behandelten Problemen, zu dem Ausblick auf eine Dostojewkijsche Welt überleiten. Bei genauerem Durchdenken wurde dieser Plan fallengelassen und es kam zur Niederschrift der »Theorie des Romans« in ihrer heutigen Fassung. Sie entstand also in einer Stimmung der permanenten Verzweiflung über den Weltzustand. Erst das Jahr 1917 hat für mich die Antwort auf bis dahin unlösbar scheinende Fragen gebracht. 24
Lukács erwägt in der eigenen, »wenig artikulierte[n] Ablehnung des Krieges« die Hinwendung zu einer alten literarischen Form, bei der, eingebettet in eine Rahmenhandlung, das Erzählen im fiktionalen Rahmen selbst vom Tode gefristet ist, und bei der Geschichten erzählt werden, die sich von diesem Rahmen naturgemäß noch einmal anders beleuchtet zeigen. Der Novellenzyklus von Giovanni Boccaccio, der zwischen 1349 und 1353, und das heißt nach der Florentiner Pestepidemie von 1348 entstanden ist, enthält dabei, wie es dortselbst heißt, »hundert Geschichten, Fabeln, Parabeln oder wahre Geschehnisse, wie man sie nennen will«. Die Rahmenhandlung wird Gewande der Wahrheit: die Lüge. Im Gewande der Logik: der Irrsinn. Im Gewande des Rechtes: jegliches Unrecht. Im Gewande der Vaterlandsliebe: alles die Heimat Entehrende. Im Gewande des Menschheitsfortschritts: alles den Menschen Entwürdigende. Und nie sah ich eine geschichtliche Niedertracht, nie eine wirkliche Abscheulichkeit, die nicht geübt wurde im Namen irgendeines Ideals.« Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, Hamburg 1962 [Neudruck der 4. Aufl. von 1927], S. 32; zit.n. Ulrich Linse: »Das wahre Zeugnis«, S. 92. 24 | Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1920], München 1994, S. 5f.
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von der Katastrophe gebildet, vor der die Protagonisten aufs Land geflüchtet sind. An den Anfang hat Boccaccio so auch ein memento mori gestellt. In der Vorrede aber heißt es: »Mitleid zu fühlen mit den Betrübten ist die Pflicht der Menschen, die jedem geziemt, besonders aber von denen erwartet wird, die selber einmal Trost benötigt und ihn bei anderen gefunden haben.« Das Werk ist dabei explizit »den holden Damen« zugedacht, denn: wer könnte leugnen, daß des Trostes, wie immer es auch um ihn bestellt sein mag, weit mehr als die Männer die holden Damen bedürfen? Sie verbergen aus Furcht und Scham in ihrem zarten Busen die Flammen der Liebe. Doch mit welcher Gewalt diese sich vor aller Welt zu äußern begehren, das weiß nur, wer es an sich selber erfahren hat und noch erfährt! Darüber hinaus müssen die Frauen, abhängig von den Wünschen, Geboten und Befehlen ihrer Väter und Mütter, Brüder und Gatten, die meiste Zeit in den engen Grenzen ihrer geschlossenen Häuslichkeit verbringen, wo sie, fast ohne Beschäftigung, gleichzeitig wollend und nicht wollend, sich ihren Gefühlen hingeben, die gewiß nicht immer die fröhlichsten sind. 25
Auf den kleinen Bezirk ihrer Gemächer beschränkt, soll den Frauen durch die Geschichten nicht nur Trost gespendet werden, sondern diese Geschichten erweitern ihren Raum in der Tat – um das Imaginäre. Im Dekameron trägt Boccaccio dabei eine Form der Insertion in die europäische Literatur ein, die als Rahmenerzählung, in die heterogenes Erzählmaterial als Einlage eingebunden ist, aus der bedeutendsten orientalischen Sammlung von Märchen, Geschichten und mehr als tausend Gedichten bereits bekannt war. Im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts wurde die Sammlung Tausendundeine Nacht, im Jahre 1907 von Franz Blei rezensiert, geradezu zum Paradigma orientalischen Fabulierens.26 Tausendundeine Nacht lang erzählt die Figur der Scheherezade (d.i. das persische Wort für ›von edlem Antlitz‹). Am Ende dieses Spannungsbogens wird ihre Bestimmung zum Tode aufgehoben sein. Die beiden Strukturmuster – hier die einzelnen Geschichten, dort die Folge der 1001 Nächte – kommen formal dabei jedoch nie über25 | Das Dekameron des Giovanni Boccaccio, Berlin, Weimar 1990, S. 8f. 26 | Während die Rahmenerzählung von Tausendundeine Nacht zwar über mehr als ein Jahrtausend der Überlieferung hinweg konstant geblieben war, zeigt die Sammlung jedoch insgesamt die Spuren mehrerer Überarbeitungen. Und dieser Umstand war bereits zu Zeiten der literarischen Romantik im Bewusstsein. So findet sich bei Friedrich Schlegel eine kleine Arbeit mit dem Titel Über den wahren Ursprung der Tausend und Eine Nacht für den Österreichischen Beobachter (1810): »Das Ganze der Tausend und eine Nacht […] ist aus sehr ungleichartigen Teilen zusammengesetzt; aber diese Vermischung geschah nicht auf einmal und in den neueren Zeiten, sondern zu sehr verschiedenen Epochen von der ersten Erscheinung der Tausend und Eine Nacht im Arabischen […] bis auf unsere Tage. Das Original der Tausend und Eine Nacht ist nicht, wie man bisher allgemein geglaubt, arabisch, sondern persisch, oder vielleicht gar zum Teil […] indisch.« Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 3, S. 361 (Hervorh. FS).
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ein, der Wechsel der Nächte findet immer mitten in einer Geschichte statt. In Robert Walsers Bieler Prosa nun gibt es Texte, die diesem Prinzip der Einlagen folgen. Das gilt für den Text Der Arbeiter, insbesondere aber für Tobold (II) – und für die Mikrogramme, bei denen sich ein durch den Zuschnitt vorgegebenes Papierformat findet, die Grenzen des Blattes jedoch nicht immer die Grenzen des Textes bilden. – Und auch hier scheint eine Katastrophe die bindende Rolle zu spielen. Im Text Tobold (II), der in die Nähe des verlorenen und mutmaßlich mikrographisch verfassten Romans Tobold führt, ist eine Atmosphäre beschworen »gleich einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht«. – Dass aber dies nicht nur auf das orientalische Fabulieren weist, wird weiter unten im Text deutlich: »Viele Worte dürfen jedoch wegen Platzmangel und Papiermangel [und dies ist in der Tat eine ganz reale Folge der Kriegszeiten gewesen: der Papiermangel; Anm. d. Verf., KS] nicht gemacht werden.«27
V.2 D ER VERLORENE R OMAN : TOBOLD ›Größere Zusammenhänge‹, wird es im späten Text Robert Walsers mit dem Titel Meine Bemühungen heißen, hätten das poetische Ich »sozusagen zu irritieren«28 begonnen, und wirklich finden sich im Wort ›irritieren‹ zwei Wörter – ›irr‹ und ›tiere‹ – wie zusammengezwungen und interniert; sie weisen auf das, was irritierbar ist: die Psyche, das Soma, die Kreatürlichkeit. Der Roman Tobold, als einer dieser größeren Zusammenhänge, ist verschollen. Möglicherweise hat Robert Walser ihn selbst vernichtet – und lediglich die darin entwickelte Technik, die ›Tradierbarkeit‹ der eigenen Schrift im »Bleistiftgebiet« beibehalten. Der Roman wäre, mit der Fortsetzbarkeit der Schrift, preisgegeben. Im März 1919 aber schreibt Robert Walser an den Verlag Rascher noch über »129 Manuscriptseiten, eingeteilt in 25 Kapitel, die jedes für sich ein festes, präzises Gemälde darbieten«.29 Die Angabe bezüglich des Romans Tobold betont die Autarkie der Kapitel mit einer Metapher, die auf den Kontext der Schwesterkunst, auf »Gemälde« verweist. Und: »Der Roman unterscheidet sich von meinen früheren Romanen durch Knappheit«, schreibt der Autor hier. Der Name Tobold jedoch mäandert in Robert Walsers Werk; so ist er für zwei Texte titelgebend: der erste im Band Kleine Dichtungen,30 hier taucht Tobold in einem kleinen Versstück, einem Dramolett auf, der zweite im Band Kleine Prosa.31 Ferner findet sich die mutmaßlich früher entstandene Erzählung Aus Tobolds Leben in der
27 | SW 5/246f. 28 | SW 20/429. 29 | Brief vom 31. März 1919 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 165. 30 | SW 4/45. 31 | SW 5/224ff.
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Textsammlung Poetenleben.32 Tobold ist Name und doch auch selbst bereits eine Figur der Iteration, der Wiederholung, durch die das jeweilige ›feste, präzise Gemälde‹ ausgerahmt und in einen möglichen Zusammenhang mit anderen ›Gemälden‹ gebracht ist. Und das konterkariert den Sinn eines Namens. In den Kleine[n] Dichtungen tritt die Tobold-Figur wohl erstmals auf. Robert Walser übergibt das Manuskript für diese Textsammlung im Laufe des Jahres 1912 an den Ernst Rowohlt (später Kurt Wolff) Verlag, genauer an Max Brod, der es für das von ihm dort herausgegebene Jahrbuch Arkadia bestimmt. Es sei denn, das Prosastück Der fremde Geselle im Band Aufsätze, dessen Erstabdruck in der Zeitschrift Die Rheinlande aus demselben Jahr 1912 datiert, wäre doch der ältere Text.33 Das Phänomen des Mäanderns aber zeigt sich vor allem in Tobold (II), jener Fassung, die im Jahre 1917 veröffentlicht wurde und die mutmaßlich am ehesten an den verlorenen Roman Tobold heranführt. Der Text hat eine Exposition, die bereits Greven »als verschlüsselte Selbstaussage sehr bedeutsam« erscheint.34 »Ich hieß früher Peter, erzählte mir eines Tages ein sonderbarer stiller Mensch namens Tobold«,35 beginnt Tobold (II) und verschafft ein Wiedersehen mit der gleichnamigen Figur aus jenem frühen Dramolett aus dem Jahre 1899 mit dem Titel Die Knaben (dieses Dramolett ist in Komödie, einem Sammelband, der in diesen späten 1910er Jahren wiederaufgelegt wird, enthalten). Auch die Kameraden Franz, Hermann und Heinrich waren schon eingeführt. »Die Gedichte, die ich als Peter schrieb, gab ich viel später unter dem Namen Oskar bei guter Gelegenheit und zu guter Stunde heraus«,36 heißt es weiter in Tobold (II). »Oskar« ist der Name des Dichters im zweiten Dramolett mit dem Titel Dichter (ebenfalls in Komödie enthalten). Und nun fährt der Text fort: »Als Bruder Lustig, d.h. zu Zeiten, wo ich sehr gut aufgelegt war, nannte ich mich Wenzel.« Wenzel ist die Titelfigur einer Erzählung im Band Geschichten,37 zudem der fiktive Schreiber im Stellengesuch im Band Kleine Dichtungen.38 Kurz: Die Exposition von Tobold (II) führt Figuren aus früheren Texten als Wiedergänger ein, lässt sie zu revenants ihrer selbst werden, bevor nun die Aufhebung aller Ich-Figurationen im Namen Tobold statthat, der sich – streicht man die mittleren Buchstaben, die spiegelverkehrt das ›Lob‹ ergeben würden – anagrammatisch zum Wort ›Tod‹ zusammenziehen lässt. Auf dem Wege dorthin tun sich jedoch noch einige weitere (literarische) Bezüge auf:
32 | SW 6/83ff. 33 | Vgl. Anmerkungen des Herausgebers in: SW 4/178f. 34 | Vgl. Anmerkungen des Herausgebers, in: SW 5/273-278, S. 277. 35 | SW 5/224. 36 | Ebd. 37 | SW 2/81. 38 | SW 4/125.
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M IKROPOETIK Als Peter verzweifelte ich eines Tages gänzlich, und von da an schrieb ich kein Gedicht mehr. Feldherr, nichts Geringeres, hatte ich mir eingebildet werden zu sollen. Welch ein jugendlicher Wahnsinn. Ich sank in ein völliges Verzagen. Meinen Kameraden ging es damals übrigens auch nicht viel besser. Franz [Moor, die Figur in Schillers Drama Die Räuber; Anm. d. Verf., KS] wollte ein großer Schauspieler, Hermann [ebenfalls eine Figur in Schillers Die Räuber sowie der Name eines der Geschwister von Robert und Karl Walser; Anm. d. Verf., KS] ein Virtuose und Heinrich [von Ofterdingen, Titelfigur im Roman von Novalis; Anm. d. Verf., KS] ein Page werden. Sie sahen jedoch die Lächerlichkeit ihrer Träumereien ein, sanken von den hohen Postamenten ihrer kühnen Einbildungen herab, wurden Soldaten und gingen in den Krieg. Oder vielleicht wurden sie auch friedliche Beamte und Bürger, ich weiß es nicht genau. Ich hingegen, hingerissen von der unendlichen Trauer, darüber, daß ich zu nichts Hohem in der Welt taugen sollte, lief in den Wald, der mir hold und süß erschien, und rief, da ich mich nach einem raschen Ende sehnte, laut weinend und bittend den Tod herbei, und der gute, mitleidige Tod kam als verschleierte Gestalt aus den Tannen auf mich zu, um mich mit seinen Armen zu erdrücken. Die arme unglückliche Brust zerbrach, und das Wesen erlosch, aber aus dem Getöteten stand ein neuer Mensch herauf, und dieser neue Mensch wurde mit der Zeit Tobold genannt, welcher hier vor dir ist und dir dies alles erzählt. Als Tobold kam ich mir wie neugeboren vor, und in der Tat war ich es ja auch. Ich schaute die Welt mit neuen Augen an; frische Zuversicht verlieh mir ungeahnte Kräfte und Säfte. Hoffnungen und Aussichten, die ich nie für möglich gehalten hatte, sprangen an mich heran, um mich zu küssen, und das Leben lag mit einmal fabelhaft glänzend und wunderbar heiter vor der teils wiedergefundenen, teils neuerschaffenen Seele. 39
Aus dem Getöteten nun, dem getöteten Menschen »stand ein neuer Mensch herauf«. Der Mensch hier ist getötet, wie die Weltkriegssoldaten, aber er aufersteht nicht etwa – wie in der christlichen Diktion. Denn: »Schon die bloße Hypothese der Auferstehung ist von einer Erde abhängig, die unsere sterblichen Überreste aufnimmt und ihren Ort festhält«, wie Robert Harrison schreibt. Und diesen Ort, in Form des Grabmals, für das die Erde »letztlich unser Stein, unsere Tafel, unser beschreibbares Blatt« ist, gibt es offenbar nicht. Deutlicher als die Ruhestätte des Toten markiert das Grab dabei die Sterblichkeit desjenigen, der es errichtet. Und genau dies bezeichnet die eigentümliche Diktion »stand ein neuer Mensch herauf«. Der Mensch steht hier wie zu einem Mal seiner selbst aufgerichtet, es geht dabei um ein Mal, das der Körper selbst ausbildet, das er selbst ist; er ist das Mal seiner eigenen Sterblichkeit. Und darin transformiert sich dann auch der Vorgang der Zeichenbildung, wie Robert Harrison ihn beschrieben hat. Nicht umsonst ist das griechische Wort für ›Grab‹ auch das Wort für ›Zeichen‹.40 Das antike sema ist der Indikator, der den Grund, auf den gedeutet ist, bestimmt – und der rings herum eine Grenze des Zugehörigen 39 | SW 5/224f. 40 | Vgl. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 33ff., S. 43.
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zieht. Das sema markiert einen Ort, den Ort des ›hier‹, und markiert diesen Ort zugleich als den Ort eines Verschwindens. Das Verschwinden, der Tod ist dabei das, was den Bezug erst stiftet. Und der Verweis, der in der Grabmarkierung liegt, ist so zuallererst ein Verweis auf sich selbst, auf das Vermögen, das Hinscheiden eines Menschen zu bezeichnen; gerade durch die Institution eines solchen Vermögens entstehen Orte.41 Robert Walsers Prosastück Der fremde Geselle benennt hingegen eine Transposition; hier heißt es, der Name Tobold, als der Name desjenigen, der hingeschieden war und nun als neuer Mensch ›heraufsteht‹, sei »zwischen Schlafen und Wachen«42 eingefallen. Und wirklich ist der Name Tobold eine Hybridbildung, eine Kontamination von Tobler und Kobold, die zu Spekulationen Anlass gibt. Ist es die Figur des Tobler, die hier eine Rolle spielt, das heißt die Figur des scheiternden Fabrikanten und versponnenen Erfinders aus Robert Walsers zweitem Roman Der Gehülfe? Ist dem Geist seines Hauses, das dem Bankrott anheimfällt, mit einem Kobold, einem Hausgeist, auf die Sprünge geholfen? Und würde dieser Kobold an William Shakespeares Sommernachtstraum, in den Berliner Tagen Robert Walsers von Max Reinhardt aufgeführt, denken lassen? Ein Kobold (althochdeutsch für ›Walter des Hauses‹) ist als Erd- und Hausgeist zwergenhaft klein – und bald helfend, bald strafend. Der Kobold ist selbst doppelsinnig, er ist in sich differenziert, er kann Alb sein, unterirdischer Naturgeist, der sich über lateinisch albus auch mit dem Weißen, Schneeweißen der Berge, der Alpen, dem Weißen des Papiers verbunden zeigt.43 Die Unwägbarkeiten bleiben. Und eine ähnlich unwägbare Hybridbildung findet sich im Text Der Spaziergang: Tomzack. […] Tomzack! Nicht wahr, lieber Leser, der Name allein klingt schon nach schrecklichen und schwermütigen Dingen. […] Groß schaute er mich an, das heißt, er schaute nur so von hoch oben auf mich herab; denn er überragte mich an Länge und Höhe um ein bedeutendes. Ich kam mir neben ihm wie ein Zwerg oder wie ein armes schwaches Kind vor. […] Er hauste überall und nirgends. Heimat hatte er keine, und irgendein Heimatrecht besaß er keins. Ohne Vaterland und ohne Glück war er; gänzlich ohne Liebe, und ohne Menschenfreude mußte er leben. Anteil nahm er nicht, und auch an ihm und an seinem Treiben und Leben nahm niemand Anteil. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren ihm eine wesenlose Wüste, und das Leben war zu gering, zu klein, zu eng für ihn. Es gab keinerlei Bedeutung für ihn, und er 41 | Ebd., S. 43f. Robert Harrison schreibt: »Wir wohnen zwar im Raum, aber zu allererst wohnen wir in den Grenzen unserer Sterblichkeit. Diese Grenzen sind nicht nur restriktiv, sondern in Wirklichkeit erzeugen sie die – räumlichen und anderweitigen – Grenzbereiche der Welten, in denen sich Geschichte in ihrer temporalen Entfaltung abspielt.« Ebd., S. 43. 42 | SW 3/144. 43 | Vgl. Artikel »Alb« in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 1 (A-Biermolke), S. 200.
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M IKROPOETIK selbst bedeutete für niemanden etwas. Aus seinen großen Augen brach ein Glanz von Überwelten- oder Unterwelten-Gram. […] Hunderttausend Jahre alt schien er mir zu sein, und es schien mir, als müsse er ewig leben, um ewig nicht lebendig zu sein. Er starb jeden Augenblick und vermochte dennoch nicht zu sterben. Kein Grab mit Blumen gab es für ihn. Ich wich ihm aus und murmelte für mich: »Leb wohl, und laß es dir immerhin gut gehen, Freund Tomzack.« 44
Typographisch abgesetzt, beherrscht Tomzack in dieser ersten Fassung von Der Spaziergang das Druckbild augenfällig. Die zweite Fassung wird ihn in den Fließtext integrieren, in der ersten Fassung aber erscheint er wie die despotische Macht der graphemischen Distinktion selbst. Der Riese ist aber, was vom Text nicht zwingend nahegelegt ist, möglicherweise ein Trugbild, das sich aus einer Angst gespeist zeigt. Und dann ist das Vorstellungsbild zwar metaphorisch, aber im Hinblick auf die darin zur Darstellung kommende Angst eben doch angemessen.45 Formal ist der Name des Riesen oder Scheinriesen wie der des Tobold gebildet. Auch Tomzack scheint wie »zwischen Schlafen und Wachen«46 eingefallen – wie es im Prosastück Der fremde Geselle über den Namen Tobold geheißen hatte. Und Freud schreibt in der Traumdeutung: »Der psychische Vorgang bei der Mischbildung im Traume ist offenbar der nämliche, wie wenn wir im Wachen einen Zentauren oder Drachen uns vorstellen oder nachbilden.«47 Tobold und Tomzack sind diese Art Fabelwesen; sie gleichen romantischen Zentauren, Sphinxen, Chimären, sind Wortkomposita, in denen sich zwei Sphären, zwei species, zwei Welten miteinander kombiniert zeigen. Der Riese Tomzack ist dabei Kontamination zweier Wörter, die gebildet sein könnte aus dem franz. ›tombe‹ für ›Grab‹ oder auch für ›Gefallenes‹, ›Gefallensein‹ und dem ›ziczac‹ oder zu Deutsch ›Zickzack‹, das 44 | SW 5/28ff. 45 | Jacques Derrida: Grammatologie, S. 472ff.: »Wenn die Angst mich Riesen sehen läßt, wo nur Menschen sind, dann ist der Signifikant – als Vorstellung des Gegenstandes – metaphorisch, doch ist der Signifikant meiner Leidenschaft eigentlich. Und wenn ich sage: ›Ich sehe Riesen‹, so ist diese falsche Bezeichnung der eigentliche Ausdruck meiner Angst. Denn ich sehe tatsächlich Riesen, habe es also hier mit einer verläßlichen Wahrheit zu tun, nämlich der des sinnlich erfahrbaren cogito, ähnlich jenem, welches Descartes in den Regulae analysiert: phänomenologisch gesehen ist die Aussage ›Ich sehe gelb‹ einwandfrei; irrtümlich wird sie erst in dem urteilenden Satz: ›Die Welt ist gelb‹. […] Man muß also zum subjektiven Affekt zurückkommen, die phänomenologische Ordnung der Leidenschaften mit der objektiven Ordnung der Bezeichnungen, den Ausdruck mit der Indikation vertauschen, um jenes jähe Hervorbrechen der Metapher und die wilde Möglichkeit der Übertragung zu begreifen. […] nicht der Schrecken selbst ist es, den das Wort Riese angemessen ausdrückt […], sondern eher ›die Vorstellung, welche die Leidenschaft uns präsentiert‹«, zitiert Jacques Derrida hier Jean-Jacques Rousseau. 46 | SW 3/145. 47 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 329.
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heißt der diskontinuierlichen Linie der Handschrift, aber auch der in Zickzacklinien geführten Schützengräben des Ersten Weltkriegs, dem sprichwörtlich Zackigen des Militärs, der kurzangebundenen Sprache des Befehls. Wie im Wort »Brouillon«, es wird darauf zu kommen sein, greift Robert Walser, auf das Französische zurück. Und Tomzack wäre so, aus den zwei Sprachen heraus, möglicherweise zu ›übersetzen‹ als Grabschrift oder als Kriegstod. Aber das bleibt Spekulation. In der fünften Hymne an die Nacht des Novalis trägt dagegen in der Tat ein »alter Riese« die Welt: Fest unter Bergen lagen die Ursöhne der Mutter Erde. Ohnmächtig in ihrer zerstörenden Wuth gegen das neue herrliche Göttergeschlecht und dessen Verwandten, die frölichen Menschen. Des Meers dunkle, grüne Tiefe war einer Göttin Schooß. In den krystallenen Grotten schwelgte ein üppiges Volk. Flüsse, Bäume, Blumen und Thiere hatten menschlichen Sinn. […] Ein Gedanke nur war es, Ein entsetzliches Traumbild, […] Geheimnißvoll war dieses Unholds Pfad Des Wuth kein Flehn und keine Gabe stillte; Es war der Tod, der dieses Lustgelag Mit Angst und Schmerz und Thränen unterbrach. […] Sanft wird das Ende, wie ein Wehn der Harfe. Erinnerung schmilzt in kühler Schattenflut, So sang das Lied dem traurigen Bedarfe. Doch unenträthselt blieb die ewge Nacht, Das ernste Zeichen einer fernen Macht. Zu Ende neigte die alte Welt sich. Des jungen Geschlechts Lustgarten verwelkte – hinauf in den freyeren, wüsten Raum strebten die unkindlichen, wachsenden Menschen. Die Götter verschwanden mit ihrem Gefolge – Einsam und leblos stand die Natur. Mit eiserner Kette band sie die dürre Zahl und das strenge Maaß. Wie in Staub und Lüfte zerfiel in dunkle Worte die unermeßliche Blüthe des Lebens. Entflohn war der beschwörende Glauben und die allverwandelnde, allverschwisternde Himmelsgenossin, die Fantasie. 48
Hier herrscht »das strenge Maaß«, und nicht, wie im Monolog des Novalis, der »sanfte[ ] Maaßstab«.49 Zeitgenössisch und von Kriegsereignissen überschattet, ließ sich diese Hymne durchaus anders lesen, zumal in Verbindung mit einem Autor jüngerer Zeit. Aus den Augen des Unholds ›bricht‹ in Robert Walsers Text Der Spaziergang schließlich »ein Glanz von Überweltenoder Unterweltengram«, der an Friedrich Nietzsches ›Übermenschen‹ denken lässt, aber auch, und darin ist der Bezug zu Nietzsche noch einmal in sich differenziert, an die »Hinterwelt«, von der es in Nietzsches Also sprach Zarathustra heißt: »Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist 48 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 141, 143, 145. 49 | Ebd., Bd. 2, S. 672.
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jede andre Seele eine Hinterwelt./Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken./Für mich – wie gäbe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen!«50 Der ›Übermensch‹ und die »Hinterwelt« amalgamieren in Robert Walsers Text Der Spaziergang zu einem Überweltengram, der bezeichnenderweise wiederum mit dem »Unterweltengram« alterniert, mit der Unterwelt des Hades, der Welt der Toten. Und der Glanz findet sich auch nicht etwa, wie zu erwarten wäre, in den Augen des Riesen, sondern er bricht aus dessen Augen hervor, durchaus expressiv; und doch ist es der »Glanz« eines buchstäblich kleingeschriebenen, nicht besonders gewichteten »gram[s]«. Die Perspektiven wechseln beständig. Der Riese, in der Hymne des Novalis Symbol für das monströseste aller Ereignisse, den Tod (»unenträthselt blieb die ewge Nacht,/Das ernste Zeichen einer fernen Macht«), lässt in Robert Walsers Text Der Spaziergang schon aufgrund seiner eigenen Größe alles um ihn herum klein erscheinen. Die Welt wird im Moment der Begegnung mit dem Riesen eine kleine, kleingewordene Welt: »Alles war so klein, so zierlich, unwirklich und fremd. Und ich saß mitten darin wie ein unförmiger Riesenklotz, der alles in Trümmer schlagen mußte, sobald er sich erhob.«51 So hatte es in Bernhard Kellermanns Buch Ein Spaziergang in Japan, das 1910 im Verlag Paul Cassirer erschienen war und das die gemeinsam mit dem Illustrator Karl Walser unternommene Reise dokumentierte, die Cassirer mäzenatisch unterstützt hatte, über die liliputanische Welt Japans geheißen. Und die Assoziation zu Jonathan Swifts 1726 erschienenem Reiseroman Travels into several remote Nations of the World. By Lemual Gulliver, First a surgeon, and Then a Captain of Several Ships, zu Deutsch kurz Gullivers Reisen, liegt in der Relativität nahe, dass alles nur vergleichsweise groß oder klein ist. In Swifts Werk beziehen sich die in ferne Länder transponierten politischen Allegorien indes auf die Heimat. Und um eine befremdliche Sprachheimat geht es in der Tat auch in der ersten Fassung von Robert Walsers Text Der Spaziergang: »Befremden darf nicht, wenn ich sage, daß ich alle diese hoffentlich zierlichen netten Zeilen mit deutscher Reichsgerichtsfeder schreibe. Daher die sprachliche Kürze, Prägnanz und Schärfe, die an einigen Stellen zu spüren ist, worüber sich jetzt niemand weiter wundere.«52 Auch die Feder ist, vom preußischen Militarismus affiziert, ›zackig‹. Hier betrifft das nur die »Zeilen«. In der zweiten Fassung des Textes hingegen, die im Band Seeland erscheinen wird und in der die graphische Hervorhebung, die furchterregende Alleinstellung des Riesen Tomzack entfallen wird, heißt es, und ganz im Gegensatz zu den sonstigen Verhältnissen in Robert Walsers Werk, in dem zweite Fassungen meist kürzer ausfallen als erste, nun ausführlicher und in Erwähnung der 50 | Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 4, Berlin, New York 1999, S. 272. 51 | Bernhard Kellermann: Ein Spaziergang in Japan, Berlin 1910, S. 12. 52 | SW 5/27.
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»Sätze« und »Buchstaben«: »Befremden darf nicht, wenn ich sage, dass ich alle diese hoffentlich zierlichen Sätze, Buchstaben und Zeilen mit deutscher Reichsgerichtsfeder schreibe.«53 Wo das Land, die Sitten beim Gebrauch der Feder nicht befremden sollen, treten im Text Der Spaziergang nun zu »unhörbare[n]« Stimmen »sichtbar-unsichtbare« Gestalten hinzu, die eine Provenienz der Töne allerdings nicht klären helfen: »Die Tannen standen wie Säulen da, und nicht das geringste rührte sich im weiten, zarten Walde, den allerlei unhörbare Stimmen zu durchhallen und -klingen und allerlei sichtbar-unsichtbare Gestalten zu durchstreifen schienen. Töne aus der Vorwelt kamen, von ich weiß nicht woher, an mein Ohr.«54 Anders als die Töne ist die Feder, die »Sätze, Buchstaben und Zeilen« schreibt, zu verorten; sie entstammt der Welt der Jurisprudenz, deren Domäne das Urteilen ist, das sich auch in der Publizistik wiederfindet. Die »Reichsgerichtsfeder« entstammt diesem Reich des Urteilens – und sie entstammt dem damaligen Deutschen Reich. Der Riese aus dem Text Der Spaziergang nun taucht in einem Gedicht wieder auf, das in Robert Walsers Text mit dem Titel Ophelia55 eingelegt ist. Der lange erste Satz – in Versen – beleuchtet ein Reich des Zünftigen (!) und Unvernünftigen, das durchaus das Deutsche Reich sein könnte und jedenfalls das sogenannte, nur vermeintliche Reich der Vernunft ist: D ie sich so wichtig nahmen
in ihrem Rahmen, über träumerisches Betrachten sich lustig machten, den Verstand, den Riesen, in einem fort priesen, fielen alle um, blieben stumm, vom Verstand umgebracht, den sie sich viel zu vernünftig gedacht; sie waren von jeher zünftig und unvernünftig. 56
Wie »Säulen« – und das heißt auch wie Kolumnen ganz anderer Art – stehen hingegen die Tannen in der zweiten Fassung von Der Spaziergang aufrecht da, sie fallen nicht und sie sind als ikonographisch deutbares Bildzeichen Relikte einer Vorwelt, deren Gestalten, Töne und Synästhesien nicht 53 | SW 7/102. 54 | SW 7/105f. 55 | Vgl. zu William Shakespeares Figur der Ophelia bei Robert Walser den Aufsatz von Marion Gees: »›Um Ophelia wob etwas?‹ – Weibliche Theatralität und Szenarien poetischer Entgrenzung«, in: Robert Walser und die moderne Poetik, hg. v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt a.M. 1999, S. 187-208. 56 | SW 17/294.
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zu rekonstruieren sind. Stimmen und Gesichte flottieren darin, ohne fiktionale Referenz, ohne ein Relat. Im frühen Text Ein Maler sind Tannen wiederholt als motivische Vorliebe des Maler-Bruders erwähnt, und ihre positive Konnotation ist überschwänglich. Die Tannen allein werfen keine Schatten, und doch: »Selbst das Grün erscheint hier grau: die Tannen! Wie ich sie doch liebe, die heiligen Tannen, es ist nicht zu sagen.« Und dann: »Ich habe Tannen so fest im Gedächtnis, so fest in der Seele. Ich wünsche oft […] ihren Geruch malen zu können. Obgleich ich Maler bin, wirkt Malen oft, sogar sehr oft, wie etwas Wunderbares, Geisterhaftes, Unbegreifliches auf mich.« Und noch etwas weiter unten im Text heißt es: »Wie die Tannen zu mir sprechen, o, die süßen Tannen! Wie oft kommen sie nicht auf meinen Bildern vor: immer wieder Tannen! Bald im hellen, etwas verwischten Sonnenschein, bald im Nebel, bald so, wie sie am tiefsten und ergreifendsten sind: weder sonnig, noch düster umflort, sondern bloß Tannen, keine Schatten werfend.«57
V.3 L EERE , S YNKRE TISMUS , Ü BERDE TERMINATION »Ich habe einen Roman entworfen«, schreibt Robert Walser im Dezember 1918 in einem Brief an den Rascher Verlag, »der, wie ich voraussetze, Ende Januar 1919 niedergeschrieben sein wird und eine starke Arbeit zu sein verspricht«.58 Dass der Roman, es geht um den verlorenen Tobold-Roman, zu diesem Zeitpunkt bereits vorhanden und nicht bloß »entworfen« ist, wird erst zuletzt im Brief deutlich: »Ich bin von heute ab mit der Reinschrift tätig und grüße Sie […]«.59 In Anbetracht der üblichen Verhältnisse in Robert Walsers Korrespondenz ist dieser Brief, der erstmals die zweiteilige Arbeitsweise erwähnt, ungewöhnlich insistent, am Anfang wie auch am Ende, von der Ich-Form bestimmt; zugleich findet sich hier der letztpublizierte Roman Jakob von Gunten in Erinnerung gerufen. Der Autor versucht den Redakteur Efraim Frisch für das neue Buch, einen Roman, der »eher knapp als lang« sei und »eine moderne Stadt (Zürich)« zum Schauplatz habe, zu interessieren: »unwillkürlich«60, wie es in diesem anderen Brief heißt, ist dabei Jakob von Gunten wieder auf den Plan oder besser in den Plan getreten, denn, so heißt es über den neuen Text: Der Held ist ein junger Mensch, Commis und Dichter, der sich mit einem andern jungen Menschen auseinandersetzt. Zeitliches, Zeitgemäßes spielt deutlich mit. Der Roman hat unabhängiges und künstlerisches, doch dabei starkes Gegenwarts-Gepräge. An Umfang wird er ungefähr sein wie der »Jakob von Gunten«. 57 | SW 1/67, 76, 79f. 58 | Brief vom 12. Dezember 1918 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 154. 59 | Ebd., S. 155. 60 | Brief vom 5. Januar 1919 an Efraim Frisch, in: Br, S. 161.
V. S UBSTITUTION /T RANSPOSITION Indem ich Sie zum Austritt aus dem Heeresdienste und zur Wiederaufnahme kultureller Arbeit freundlich beglückwünsche, gewärtige ich gerne was Sie mir antworten werden und grüße Sie herzlich […] 61
Der Roman soll, in jeder Hinsicht, das Format des Jakob von Gunten haben, jenes letzten Romans, den Robert Walser 1909 veröffentlicht hatte und an dessen Ende das Bild einer Wüste steht, in die der Protagonist aus einer seltsam pervertierten Bildungsinstitution heraus aufzubrechen beschließt, und zwar, befremdlich genug, gemeinsam mit dem paternalistischen Leiter der Institution. Im Romantext war diesem Aufbruch ein Traum vom Aufbruch in die Wüste bereits vorausgegangen; und dieser Traum bildete sogar das eigentliche Vehikel des Aufbruchs: Mir scheinbar zuliebe rollte jetzt der Traum, als wenn er ein Wagen gewesen wäre, Stück um Stück weiter, und da befanden wir uns, ich und »dieser Mensch«, natürlich niemand anders als Herr Benjamenta, mitten in der Wüste. […] Es sah so aus, als wenn wir beide dem, was man europäische Kultur nennt, für immer, oder wenigstens für sehr, sehr lange Zeit entschwunden gewesen seien.62
Der Traum ist, obgleich das gewählte Tempus dies indizieren könnte, hier aber nicht etwa bereits an sein Ende gekommen, sondern er geht noch weiter: »Der Kultur entrücken, Jakob. Weißt du, das ist famos«, sagte von Zeit zu Zeit der Vorsteher, der wie ein Araber aussah. Wir ritten auf Kamelen. Und die Sitten, die wir sahen, entzückten uns. Es war etwas Unverständlich-Mildes und Zartes in den Bewegungen der Länder. Ja, mir war es, als marschierten, nein eher, als flögen die Länder. Das Meer zog sich majestätisch dahin wie eine große blaue nasse Welt von Gedanken. Bald hörte ich Vögel schwirren, bald Tiere brüllen, bald Bäume über mir rauschen.63
Das Bild der Entfernung aus der europäischen Kultur, das den in die Absurdität geführten Bildungsroman beschließt,64 in einer Bewegung, in der Länder fliegen – und nicht marschieren – schreibt zugleich Leere und Überdetermination. Die Wüste ist Gegenteil der Welt der Tropen in ihrem ganzen Doppelsinn, doch als »nasse Welt von Gedanken« ist sie zugleich tropi61 | Ebd., S. 161f. 62 | SW 11/162. 63 | SW 11/163. 64 | Agnès Cardinal schreibt in »Widerspruch und kulturelle Paradoxien in Walsers Werk«, in: Robert Walser, hg. v. Klaus-Michael Hinz und Thomas Horst, Frankfurt a.M. 1991, S. 70-86, S. 83, zu Robert Walsers Roman Jakob von Gunten: »Die zuversichtlichen Maximen des Bildungsromanes der deutschen Tradition: ›Erkenne die Welt‹, ›Erkenne dich selbst‹ und ›Entwickle dich‹, werden in diesem Roman eine wie die andere zum sinnlos lächerlichen Imperativ.«
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sche, sexualisierte Schwüle. Die Wüste ist mythische Landschaft, weil sie von der menschlichen Kultur unberührt, ›rein‹ und frei von Gegenständen ist; und wie die Schrift besteht sie nicht aus Volumina, sondern aus Horizonten – und aus Mikrotexturen. Sie ist abstrakt, nicht figurativ, nicht signifikant, nicht segmentär.65 Die Wüste ist leer, »wesenlos«, wie sie es auch in Robert Walsers Text Der Spaziergang im Zusammenhang mit dem Riesen und seinem Rätselnamen Tomzack ist. Für den Riesen ist die zeitliche Ausdehnung des Lebens diese »wesenlose Wüste«, deren Eigenschaftslosigkeit allerdings erst aus einem anderen Bedeutungsverlust resultiert – dem Verlust der Bedeutung des Anderen: »Anteil nahm er nicht, und auch an ihm und an seinem Treiben und Leben nahm niemand Anteil. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren ihm eine wesenlose Wüste, und das Leben war zu gering, zu klein, zu eng für ihn. Es gab keinerlei Bedeutung für ihn, und er selbst wieder bedeutete für niemanden etwas.« Und eben deshalb würde es für ihn dereinst auch »kein Grab mit Blumen« und keine Grabschrift geben.66 Der Exodus in die Wüste, in ein Nichts, entfernt von Zeit und Raum, in kontemplativer Erstarrung.67 Die Wüste hat jedoch auch eine Kultur erblühen lassen. Das Bild im Roman Jakob von Gunten ist auch biblisches68 Bild vom Exodus eines Volkes an einen Ort, der keiner ist.69 In der Heterotopie der Wüste löst sich eine determinierte Beziehung auf, die zwischen Volk und Land, zwischen Natalität und Territorialität, zumal in Nationalstaaten, besteht. Während dieses Band durch das Exil entknüpft wird, bewahrt das Volk Selbstidentität durch die Lektüre der (heiligen) Schrift. Und die Wüste hat noch eine weitere Konnotation, wo sie sich mit dem durch Sklaverei und Kolonialismus geschundenen Kontinent Afrika verbunden zeigt. In der ersten Prosapublikation nach Robert Walsers Exodus aus Berlin findet sich, in einem mit dem Namen Wenzel unterzeichneten Text – und dies eine der Transfigurationen von Tobold –, ein titelgebendes Stellengesuch, das aufgegeben ist von einem, der sich selbst eher als einen »Träumer« denn als einen »Denker« sieht, der sich selbst eher als »eine Null [denn] als eine Kraft« ansieht:70 65 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, S. 120. 66 | SW 5/29. 67 | Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 390. 68 | Bibellektüren liegen einigen der Texte Robert Walsers zugrunde, so Saul und David in der ersten und zweiten Fassung. Im Brief an Frieda Mermet Anfang Mai 1924 ist erwähnt, dass »einige Abschnitte aus dem Neuen Testament zur Erholung« vom Autor gelesen wurden. Vgl. Br, S. 214, wo es unmittelbar im Anschluss an diese Erwähnung heißt: »Jetzt wohne ich in unmittelbarer Nähe der Schokolafabrik Tobler […].« 69 | Vgl. Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare, S. 185. 70 | SW 4/126. Als eine »Null« antizipiert sich auch Jakob von Gunten in Robert Walsers gleichnamigem Roman, im sozialen Niedergang: »Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein. Ich werde als alter Mann junge, selbst-
V. S UBSTITUTION /T RANSPOSITION Sicherlich gibt es in ihrem weitverzweigten Institut, das ich mir überreich an Ämtern und Nebenämtern vorstelle, eine Art von Arbeit, die man träumend verrichten kann. – Ich bin, um es offen zu sagen, ein Chinese, will sagen, ein Mensch, den alles, was klein und bescheiden ist, schön und lieblich anmutet, und dem alles Große und Vielerforderische fürchterlich und entsetzlich ist. […] Die Leidenschaft, es weit in der Welt zu bringen, ist mir unbekannt. Afrika mit seinen Wüsten ist mir nicht fremder.71 bewußte Grobiane bedienen müssen, oder ich werde betteln, oder ich werde zugrunde gehen.« (SW 11/8) Das Minoritäre, Unterprivilegierte, das sich zugleich angefüllt zeigt, denn es gibt: »Innere Erfolge, ja. Doch was hat man von solchen? Geben einem innere Errungenschaften zu essen?« (ebd., S. 7), ist, graphisch gesehen, dagegen Symbol der Perfektion, der Kreis. Die O ist eine Kreislinie, die sich fast konzentrisch zu einer leeren Mitte verhält. Als Zahl fügt die Null (wie im Übrigen der oder die Lesende dem Text) nichts hinzu; die Null ist – formal – zugleich ideale Fülle und neutraler Zahlenwert, der seinerseits allem hinzugefügt werden kann, ohne dass sich das Resultat verändert. Und doch ist es die (arabische) Invention der Ziffer Null, die mathematische Operationen überhaupt erst ermöglicht. Die Null ist Chiffre einer Differentialität, von der jede Ontologie durchkreuzt wird, insofern Buchstabenwert und Zahlenwert verschiedenen Sphären angehören, aber beispielsweise in der Kabbalistik, wo den Buchstaben Zahlenwerte zugeordnet sind, durchaus miteinander vermittelt erscheinen können. Aus der binären Logik des Ersten und Sekundären springt die Null gleichsam in einem salomonischen Akt heraus. Auch im Allgemeinen Brouillon des Novalis findet sich die Null – im Zusammenhang mit dem Künstlerdasein – in einem Fragment zur Physiologie: »Viel innrer Reitz – viel Sensibilitaet. Viel äußrer Reitz, viel Reitzbarkeit. […] Unvollk[ommene] Med[icin] ist, wie unvollkommene Politik, mit unvollkommenen, wircklichen, gegenwärtigen Zuständen nothwendig verbunden (Streit zwischen Praxis und Theorie). Aber es ist nöthig, daß scientifische Ideale aufgestellt werden – als nothwendige Basen und Anfänge einer künftigen Verbesserung des Gegenstandes und der Kunst. (Anfang und Ende sind beydes Enden.)/Wenn sich die höchste Reitzbarkeit in heftigen Bewegungen und Spannungen offenbart, so offenbart sich hingegen die höchste Sensibilitaet in unmercklichen Spannungen und Bewegungen. Reitzbarkeit zeigt sich durch große Veränderungen und Wirckungen. Sensibilitaet durch kleine – Unend[liche] Reitzb[arkeit] d[urch] unendl[ich] Große – unendliche Sensibilitaet durch unendlich kleine Veränderungen./Synthesis von Seele und Körper – und Reitzbarkeit und Sensibilitaet. Sie gehn natürlich jetzt schon in einander durch Indifferenzsfären über – unendliche Erweiterung dieser Indifferenzsfären – Realisirung, Ausfüllung der Null ist das schwierige Problem d[es] Künstlers der Unsterblichkeit. Die Indifferenzsfäre ist das Maas d[er] Constitution. Willkührliche Glieder sind Sinne im strengern Sinn. Vermehrung der Sinne gehört mit zu der Hauptaufgabe d[er] Verbesserung des Menschengeschlechts, der Graderhöhung der Menschheit./Wir sahen vorhin, daß Bildung und Vermehrung der Seele das wichtigste und erste Unternehmen ist.« Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 317f. (Hervorh. v. N.). 71 | SW 4/126f.
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Es wird Arbeit gesucht, die sich sprichwörtlich ›im Schlaf‹ erledigen lässt. Doch damit nicht genug. Afrika, metonymisch der ›dunkle‹ Kontinent, wird, mit dem tertium comparationis weitläufiger Landstriche, die als Territorien besetzt und kolonisiert werden können, zum Maßstab – und das bedeutet nicht zur Metapher – einer in der Landkarte der Libido abgetragenen Selbstentfernung, Selbstentfremdung. Eroberungspolitik aber soll keine Geltung mehr haben. Und das gilt für die Wüste, in die der Protagonist des Romans Jakob von Gunten noch aufgebrochen war, auch. Afrika ist fremd ›geworden‹. Inzwischen ist nicht mehr die Durchmessung großer territorialer Entfernungen, größerer epischer Zusammenhänge gesucht, sondern die Nähe, die Nähe des Kleinen, die in Robert Walsers Text Stellengesuch mit dem Chinesischen, und das bedeutet auch mit einer ideographischen Schrift zu tun hat. Die Nähe hat nicht mit der Metrik der Linie, sondern mit einer anders bestimmten Kontiguität zu tun. Und darin ist China auch Japan. Wie in weiteren Texten der Bieler Prosa findet sich der Reflex auf jene Reise nach Japan, die der Bruder mit dem Autor Bernhard Kellermann zu Zeiten der Produktion von Robert Walsers Roman Jakob von Gunten unternommen hatte und die in zwei Publikationen, die durch Karl Walser illustriert sind, dokumentiert ist. Diese Buchgestaltungen lassen, wie Karl Walsers elf Paneele zur Ausgestaltung des Hauses von Hugo Cassirer zum Thema Tausendundeine Nacht, nicht nur den Einfluss der Japanpapiere erkennen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa kursierten.72 In Bernhard Kellermanns Reiseberichten sind vielmehr bereits die Wahrnehmungen auf der Reise von der japanischen Kunst präfiguriert. Die Bilder der Ukiyo-e, der japanischen Holzschnittkunst, liegen dem eigenen Erleben als Folie zugrunde, so dass eine Art Wiedererkennen entsteht: »Das gab ein herrliches Bild. Dieser schräge, graue Regen, […]. Eine Szene, die mich an einen Holzschnitt des Hiroshige erinnerte«, heißt es in Kellermanns Buch Ein Spaziergang in Japan.73 Im Buch geht es dabei immer wieder auch um die Myriaden von Schriftzeichen, vor allem solche auf den unzähligen Papierlaternen in den Straßen, es geht immer wieder um eine Miniaturisierung aller Räume und Gegenstände – Götterbildnisse etwa sind »nicht größer als ein Däumling«.74 Der Vergleich bezieht sich hier auf Ludwig Uhlands Gedicht Romanze vom kleinen Däumling, und folgerichtig ist der Garten des japanischen Gasthauses mit seinen Miniaturwäldern in Kellermanns Buch auch »nichts anderes als eine romantische Landschaft, die man durch ein Verkleinerungsglas erblickt«.75
72 | Vgl. Rahel E. Feilchenfeldt: »Japonismus und Orientsehnsucht. Die Reisebücher aus dem Verlag von Paul Cassirer«, in: Karl Walser in Japan. Eine Reise im Jahr 1908, hg. v. Philippe Lüscher, Wädenswil 2008, S. 111-133, S. 127. 73 | Bernhard Kellermann: Ein Spaziergang in Japan, S. 171. 74 | Ebd., S. 57 (Hervorh. v. BK). 75 | Ebd., S. 13.
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Und immer wieder geht es in Ein Spaziergang in Japan um Schnee76 – und eine fremde Form von Weiblichkeit. Über die Gestik der japanischen Tänzerinnen, die im zweiten von der Reise inspirierten Buch Kellermanns mit dem Titel Sassa yo yassa. Japanische Tänze (1911) besonders in den Illustrationen von Karl Walser zur Geltung kommt, heißt es in Ein Spaziergang in Japan signifikant, sie sei »ein Spiel wunderbarer Linien«. All das findet sich dabei in »dieser märchenhaften Stadt, in diesem kleinen Tausend-und-eine-Nacht«.77 Von Japan ist zwar die Rede, doch die Motive zeigen sich zu einem Synkretismus verbunden. Die vermeintliche Leere der Wüste, in die der Protagonist Jakob von Gunten aufgebrochen war, der Synkretismus im Blick auf ferne Länder, wie er bei Kellermann präfiguriert ist, Literaturen aus der Ferne der literarischen Romantik, Schriftzeichen in der Andersartigkeit der Logographie – all das trifft sich im gemeinsamen Fluchtpunkt einer klein- und vielteiligen, nicht oder nur sehr schwer entzifferbaren (graphischen) Überdetermination. Und so bemerkt Ute Schaffers zu den Konstruktionen der Fremde in Bernhard Kellermanns Ein Spaziergang in Japan auch: »Ein ›Märchenreich‹ hält viele Geheimnisse bereit. Zu den für den gebildeten europäischen Reisenden provozierendsten Geheimnissen werden die japanischen und chinesischen Schriftzeichen stilisiert, die in den Straßen und im Alltagsleben allgegenwärtig sind und die ihn immer wieder aufs Neue als ›Analphabeten‹ in diesem Reich kennzeichnen. ›Phantastische Ideogramme‹, ›verwirrende Schriftzeichen‹ begegnen dem Reisenden auf Schritt und Tritt. Es scheint, als behielten sie ihr Geheimnis für sich, vielmehr ist es jedoch so, dass die geheimnisvollen Zeichen wesentlich zum Inventar des Märchenreichs gehören. Sie dürfen somit gar nicht dekodiert werden.«78 Die Intransparenz der Zeichen soll bestehen bleiben und der okzidentale Blick, der hierin eher Bilder als Schrift erkennt, sieht ja etwas in gewissem Sinne auch richtig, denn abgesehen vom Rätselcharakter, den die japanische Schrift für den abendländischen Blick beibehält und sogar beibehalten soll, ist die chinesische Schrift, und, was die sinojapanischen Schriftzeichen betrifft, auch die japanische Schrift, die ihre Schriftzeichen auf einer strikt ideographischen Ebene aus dem Chinesischen übernommen 76 | Carl Seelig wird im Nachruf auf Robert Walser von der »Reinheit des Schnees, den er mit chinesischem Aquarellenduft oft geschildert hat« sprechen. Carl Seelig: »Am Grab von Robert Walser« [Nachruf 1956], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 198-204, S. 199. Und in der Tat hat Robert Walser oft jenes Weiß des Schnees beschrieben, das sich metonymisch mit dem Weiß des Papiers verbindet. Der »Aquarellenduft«, von dem Seelig spricht, führt aber auch an den fernen, exotischen Ort, dessen eindrückliche Beschreibung durch Bernhard Kellermann offenbar nachhaltige Wirkung gezeitigt hat. 77 | Bernhard Kellermann: Ein Spaziergang in Japan, S. 11, 14. 78 | Ute Schaffers: Konstruktionen der Fremde. Erfahren, verschriftlicht und erlesen am Beispiel Japan, Berlin 2006, S. 65 [zu Bernhard Kellermann S. 40148].
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hat,79 logographisch; und das bedeutet: diese Schrift »hat niemals darauf verzichtet, in den Zeichen die Anwesenheit einer Bedeutung zu sehen«.80 Die Schriftzeichen sind selbst sinnhaltig – als Minimaltexte.81 Die Sprache ist ein Ausdruckssystem, dem es darum geht, »Symbole nebeneinanderzustellen, die keine Sätze, sondern Gruppen von signifikativen Bildern bilden«.82 Und in diesen Bildern erhält sich auch die Etymologie der Sprache, die bereits in der 1920 erstmals publizierten Arbeit von Ernest Fenollosa, Das chinesische Schriftzeichen als poetisches Medium, Topos ist. Ernest Fenollosa schreibt in diesem mutmaßlich bereits im Jahre 1907 oder 1908 entstandenen Text: Nur Gelehrte und Dichter fühlen sich mühsam zurück am Faden unserer Etymologien und setzen, so gut sie können, aus vergessenen Fragmenten unsere Diktion zusammen. Diese Blutarmut der modernen Sprache wird nur zu sehr ermutigt durch die schwache Kohäsionskraft unserer phonetischen Symbole. Es gibt wenig oder nichts in einem phonetischen Wort, was die embryonalen Stadien seines Wachstums vorführen würde. Es trägt seine Metapher nicht im Gesicht. Wir vergessen, daß Persönlichkeit einst nicht die Seele, sondern die Maske der Seele meinte. Das ist so eine Sache, die man möglicherweise nicht vergißt im Gebrauch chinesischer Symbole. Hier zeigt das Chinesische seinen Vorzug. Seine Etymologie ist dauernd sichtbar. […] Nach Tausenden von Jahren sind die Linien des metaphorischen Fortschreitens noch immer zu sehen und in vielen Fällen auch tatsächlich im Sinn bewahrt. Auf diese Weise wird ein Wort, anstatt mit uns allmählich ärmer und ärmer zu werden, reicher und noch reicher von Generation zu Generation, fast bewußt leuchtend. Sein Gebrauch in nationaler Philosophie und Geschichte, in Biographie und Dichtung stattet es aus mit einem Nimbus aus Bedeutungen. Diese konzentrieren sich um das graphische Symbol. […] Poetische Sprache ist stets vibrierend vor einander überlagernden Obertönen und natürlichen Affinitäten, aber im Chinesischen hat die Sichtbarkeit der Metapher den Hang, diese Eigenschaft zu ihrer größten Steigerung zu bringen. 83
Dass es sich um eine Projektion auf die chinesische Schrift handeln mag, macht Rainier Lanselle deutlich, der auch die Quelle, aus der sich diese Projektion speist, markiert: 79 | Vgl. André Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 259. Ansonsten allerdings sind die beiden Sprachen sich weit fremder als das Lateinische und das Arabische, wie Leroi-Gourhan auch schreibt: »die chinesische Sprache hängt der japanischen Sprache etwa so an, als wolle man sich darauf kaprizieren, das Französische mit Hilfe von Briefmarken zu schreiben«. 80 | Rainier Lanselle: »Schrift oder graphische Sprache?«, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse. Freud. Lacan (Psychoanalyse in China), Jg. 21, Heft Nr. 67 (2007/ III), S. 23-60, S. 24. 81 | Vgl. Peter Fuchs: Die Umschrift, S. 110. 82 | André Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 260. 83 | Ernest Fenollosa: Das chinesische Schriftzeichen als poetisches Medium, S. 28.
V. S UBSTITUTION /T RANSPOSITION Hier ist das sinogrammatische System vielleicht das verwirrendste, indem es etwas enthüllt, das wir von anderswo gut kennen, nämlich dass es stetig etwas beim Subjekt gibt, das dem Begriff des Arbiträren des Zeichens widersteht: Das Subjekt kann nicht hinnehmen, dass der Buchstabe, das Zeichen, der ausgestoßene Ton frei von Bedeutung ist, ja dass sogar das Wort ohne notwendigen Bezug zum Ding ist. Das Beispiel des Chinesischen gibt sehr gut Aufschluss über diesen Widerstand der Bedeutung. 84
Über die Bilder hinaus, die sich in Gestalt der Schriftzeichen erhalten zeigen, kommt es in der japanischen Kalligraphie, genannt sho, zu einer Überlagerung, bei der es nicht nur auf die Bedeutung der Schriftzeichen ankommt, sondern auf deren skripturale Ausgestaltung, die eine zweite Bedeutung – im Sinne eines Kommentars oder Dementis zum Text – ausbilden kann. Die ›Materialität‹ der Tuschzeichnung bildet, in der Überlagerung des Zeichens durch diesen zusätzlichen Sinn, der von der Faktur realisiert wird, eine Verdoppelung der Mitteilungsmöglichkeit aus, in der sogar bestritten werden kann, was doch gesagt wurde.85 Die Schichten sind unzählig.
V.4 V ON DEN » WINZIG KLEINEN W ANDERUNGEN « ZUM S PAZIERGANG Transpositionen vollziehen sich in Robert Walsers Texten nicht nur, wie gezeigt, zwischen Orten und Ländern, als Motiven im Text. Im Zusammenhang mit dem verlorenen Tobold-Roman vollzieht sich eine Transposition auch als Mäandern dieses Namens durch verschiedene Texte hindurch. Im März 1914 mit fünf anderen Prosastücken vor seinem Eingang in den Band Kleine Dichtungen erschienen, führt bereits der Text mit dem Titel Spazieren den Namen Tobold ein, nicht jedoch bereits im Titel. Texttitel ist hier vielmehr das erst später, in dem wohl bekanntesten Text von Robert Walser, Der Spaziergang, substantivierte Verb, mit dem sein Werk seither immer wieder identifiziert wird: »Es ging einer spazieren. Er hätte in die Eisenbahn steigen und in die Ferne reisen können, doch er wollte nur in die Nähe wandern. Das Nahe kam ihm bedeutender vor als das bedeutende und wichtige Ferne. Demnach also kam ihm das Unbedeutende bedeutend vor. Das mag man ihm wohl gönnen. Er hieß Tobold, doch ob er nun so hieß oder anders, […].«86 Der Name Tobold scheint unwichtig geworden in der Priorität des Nahen, unwichtig geworden wie der Aufbruch in die Ferne; zugleich ist er selbst gleichsam fortgerissen, wo es um das Spazieren geht, und der Ort selbst transitorisch wird. Und der wiederkehrende Topos der Bieler Prosa ist – streng dem Wortsinn nach – so auch selbst kein Topos, insofern Sujet der Prosastücke die »kleinen, ich muß und darf 84 | Rainier Lanselle: »Schrift oder graphische Sprache?«, S. 46. 85 | Vgl. Peter Fuchs: Die Umschrift, S. 113-115f. 86 | SW 4/76.
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sagen, winzig kleinen Wanderungen«87 sind, wie es im Band Kleine Dichtungen 1914 heißt. Der Topos hat selbst transitorischen Charakter und wird mit der Erstfassung von Der Spaziergang (1917) doch auch an einen vielfach besetzten, poetischen Code anknüpfen.88 Immer wieder führen die Texte der Bieler Prosa in eine symbiotisch besetzte Bergwelt, die mit ihren Höhlungen und Tälern, wie der Traum, als das andere wichtige Sujet der Bieler Prosa, theatralisch perspektiviert ist. Mit der Traumähnlichkeit ist dabei, untergründig, eine Zeit, die mit der Zäsur des Ersten Weltkriegs abrupt geendet hatte, prolongiert, verlängert, denn nun, im Rückblick: »sah ich mich vor eine völlig neue Lage gestellt, die mich eindringlicher denn ja an den Ernst des Lebens mahnte. Alles bisher Erlebte ging weg wie ein Traum.«89 Das Kontinuum ist zerrissen; die Vergangenheit versinkt in die Irrealität eines nach kürzester Frist nur noch schwer rekonstruierbaren Traums, der nicht etwa abbricht oder verblasst, sondern ›weggeht‹ – wie ein Mensch, von dem es Abschied zu nehmen gilt. Im Beginn der Bieler Prosa, kurz nach Robert Walsers Abwanderung aus Berlin zurück in die Schweiz findet sich dabei noch eine Reminiszenz an eine Theatralität, die nicht die irreale des Traums ist; so ist im Text Kleine Wanderung Max Reinhardts Invention der Drehbühne dasjenige, was das neue mit dem gerade verlassenen alten Leben vermittelt. Alte und neue Welt drehen vermittels dieser neuartigen theatralen Repräsentationsform ineinander, so dass die Phrase von der ›Kulisse der Bergwelt‹ oder auch die vom ›Naturschauspiel‹ eine ganz eigene, wörtliche Prägung erhält: »Die Berge waren groß, sie schienen sich zu drehen. Die ganze Gebirgswelt erschien mir wie ein gewaltiges Theater.«90 Das sprichwörtlich Unverrückbare scheint sich nicht nur zu bewegen, sondern ein Proszenium zu sein, einen szenischen Rahmen auszubilden, in dem sich etwas abspielen kann. Und in der Tat: Der Text Kleine Wanderung gehört zu einem Konvolut von Prosatexten, das, als Kleine Sachen betitelt, im Februar 1914 in der Zeitschrift März erschienen war. Auf den Rückseiten dieser Manuskripte,91 die nur durch Zufall erhalten geblieben sind, finden sich Vorstufen zu Texten, die in stark abweichender Fassung in die Sammlung Kleine Dichtungen (1914) aufgenommen worden sind.92 Diese Fragmente weisen bereits in das »Bleistiftgebiet« voraus, wo Rückseiten und Ränder beschriftet sein werden. Aber anders als noch bei diesen 87 | SW 4/107. 88 | Vgl. Angelika Wellmann: Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg 1991, S. 221-270 sowie Claudia Albes: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard, Tübingen, Basel 1999, S. 221-270. 89 | SW 16/247. 90 | SW 4/141. 91 | Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Nachlass Theodor Heuss. 92 | Vgl. Nachwort von Werner Morlang in Mikro, Bd. 2, S. 506-522, S. 507.
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Kleine[n] Sachen und den in ihrem Titel weniger unspezifischen Kleine[n] Dichtungen wird die Komposition der Mikrogramme auf größere Achtsamkeit, ja auf unbedingten Respekt gegenüber den durch die Schnittkanten gesetzten Grenzen hindeuten. Die März-Fragmente hingegen sind noch buchstäblich auf ihre Kehrseite, ihre ›nächtliche‹ Seite gewendet, ohne Rücksicht auf die Vorbeschriftung zu nehmen, so dass dabei teils mitten durch eine Schriftzeile des nun rückwärtig gewordenen, alten Textes hindurch ein Schnitt geht, der das neue, selbstredend kleinere Format bestimmt. Rückseitigkeit ist auf diesen Blättern, die den Mikrogrammen in ihren kleinen Formaten durchaus bereits vergleichbar sind, durch die zeitliche Aufeinanderfolge der Beschriftung bestimmt. Kreuzweise durchgestrichen findet sich der alte Text entwertet und es bleibt erkennbar, dass das Blatt umgedreht und mit neuem, gültigem Text versehen worden ist. Die Genese der Texte ist leicht nachzuvollziehen, weil die mit der Feder in einer bräunlichen Tinte beschriebenen Seiten sichtbar aus einer Heftung getrennt und dann erst in Teile zerschnitten worden sind. Sprichwörtlich ›auf den Kopf gestellt‹ dienten die Blätter der neuen Beschriftung. Anders aber als im »Bleistiftgebiet« ist das Schreiben dem Schneiden vorausgegangen. Diese Konsekution wird sich im »Bleistiftgebiet«, wo die vorgegebene Schnittkante respektiert wird und die Schriftblöcke sich dem durch Zuschnitt gewährten Format anpassen, wobei sie denkbar geringen Abstand zum Papierrand halten, verändern. Der Rahmen, in dem die Schrift erscheint, wird nun, gleich dem Proszenium einer Bühne, unverrückbar. Und doch zeigen diese Prosastücke, wie schon Greven zu dem 1914 erstmals in limitierter Auflage und 1915 im Kurt Wolff Verlag erschienenen Band Kleine Dichtungen schreibt, neue Möglichkeiten an, »die Gegenstände sich in ihrem Medium verwandeln und auflösen zu lassen«.93
V.5 E IN DOPPELTES MEMENTO MORI : D AS P FERD UND DIE F RAU Das Blatt mit dem Text Das Pferd und die Frau gehört zum Konvolut der in der Redaktion der Zeitschrift März auf den Rückseiten erhaltenen Fragmente. In diesem Konvolut zeigen sich zum ersten Mal auch jene Kolumnen, wie sie in den Mikrogrammen zu sehen sein werden. Und auf dem Blatt Das Pferd und die Frau zeigt sich zudem der Wechsel der Schriftrichtung, der eines der Merkmale der Mikrogramme sein wird (vgl. Abb. 2 und 3).
93 | Vgl. Nachwort des Herausgebers, in: SW 4/177.
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Abbildung 2, 3: Manuskript zum Text Das Pferd und die Frau (recto und verso), Januar 1914 in der Zeitschrift März, 10.8 x 17.5cm.
Quelle: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Theodor Heuss.
Das Incipit des Textes Das Pferd und die Frau, der an die sprichwörtliche Nachtseite großstädtischen Lebens erinnert und in seiner Motivik an Charles Dickens denken lässt, konstelliert gleich zweimal (!) ein memento mori: Daß ich zwei kleine Erinnerungen aus der Großstadt doch nicht vergesse niederzuschreiben. Die eine betrifft einen Pferdekopf, die andere eine alte arme Streichholzverkäuferin. Um beide Dinge, um das Pferd sowohl wie um die Frau ist es Nacht. In einer Nacht, wie in so vielen anderen Nächten, die bereits verbummelt und in das Vergessen hinabgeschüttet waren, zog ich im eleganten, gleichwohl aber nur geliehenen Überzieher durch die Straße, […].94 94 | SW 4/138.
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Um beide Wesen, das Tier, die Frau, ist es Nacht. Und doch ist es nicht dieselbe Nacht. Nicht nur, weil von anderen Nächten die Rede ist – in »einer Nacht, wie in so vielen anderen Nächten«; in dieser ganz anderen ›Nacht der Nächte‹ ist vielmehr Nacht in einer Nacht. Und wo der Satz endet und der folgende Satz die Nacht nicht als diese Nacht wiederaufnimmt, im Fehlen des Satzkonnektors also, beginnt der Text in gewisser Weise von vorn. Und doch fallen beide Nächte, die durch Interpunktion voneinander getrennt sind, in eine gesteigerte Dunkelheit zusammen; und dann heißt es im Text: Ein Mensch, der bestrebt ist, sich amüsieren zu gehen, hat es stets furchtbar eilig. Doch betroffen durch den wunderbaren Anblick des weißen Pferdes in der schwarzen Nacht blieb ich stehen. Die langen Strähnen hingen dem Tier herab bis zu den großen Augen, aus denen eine unnennbare Trauer schaute. Unbeweglich, als sei es eine weiße Geistererscheinung, aus dem Grab herausgestiegen, stand das Pferd da, mit einer Ergebenheit und Duldung, die an Majestät mahnte. 95
Vom »wunderbaren Anblick« des weißen Pferdes in der schwarzen Nacht, in dem das Schwarz-auf-Weiß der Schrift sich invertiert zeigt, »als sei es eine weiße Geistererscheinung, aus dem Grab herausgestiegen«, nicht etwa berührt oder angerührt, sondern ›betroffen‹, hält das poetische Ich inne. An welche Majestät aber erinnert das Pferd? Die langen Strähnen, die großen Augen weisen auf eine Frau: »Geistererscheinung«, aus einem »Grab herausgestiegen«. Die »Majestät«, das ›Majestätische‹ des geschundenen Tieres, seines Kopfes, seines Ausdrucks, die Würde der Armut der Streichholzverkäuferin, bilden ein tertium, das über einen dritten Text – wenn Das Pferd und die Frau als die zwei Texte gezählt würden, die es in der Tat sind – deutlich werden kann. Dieser dritte Text existiert als ein Mikrogramm oder besser: als zwei Mikrogramme. Mit dem Incipit identifiziert, weil wie immer in diesen Fällen titellos, findet sich der Text Vorkommen kann, daß z.B. Pferde über Gebühr in Arbeitsanspruch genommen werden in seinem ersten Teil auf dem mit der Nummer 370 versehenen Mikrogrammblatt, auf dem auch der im November 1926 im Simplicissimus publizierte Text mit dem Titel Anekdote notiert ist; in seinem zweiten Teil findet sich der Text Vorkommen kann usf. auf Blatt Nr. 371, auf dem außerdem Von Tirol weiß ich niedergeschrieben ist (vgl. Abb. 4 bis 7). Die Teilung des Blattes hat auch den Vordruck, hat die GÖTTER zerteilt. Und in dem für die Publikation als Anekdote firmierenden Text heißt es: »Glich er mitunter nicht beinahe einem ausgedienten, abgerackerten Droschkengaul? London würde sich vielleicht als Aufenthaltsort für eine Figur geeignet haben, wie er eine zu sein schien.«96 London als mögliche Provenienz des Pferdes in jenem früheren Fragment Das Pferd und die Frau
95 | Ebd. 96 | SW 18/278f.
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Abbildungen 4-7: Mikrogramme Nr. 370 und 371 (jeweils recto und verso) u.a. mit dem Text – in zwei Teilen – Vorkommen kann, daß z.B. Pferde über Gebühr in Arbeitsanspruch genommen werden, 1926, jeweils 17.2 x 8cm.
Quelle: © Keystone/Robert Walser-Stiftung, Bern.
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und die Assoziation zu Charles Dickens sind demnach nicht dem Text Vorkommen kann usf. zu entnehmen, sondern der textuellen Umgebung, der Nachbarschaft auf dem Blatt. Zehn Jahre später entstanden, zeigt der Mikrogrammtext zwar einen Anklang an das alte Motiv – aber nur das Blatt als Ganzes gibt Aufschluss über den im Zusammenhang des Fragments Das Pferd und die Frau noch kryptierten Bezug zu Charles Dickens, der sich metonymisch nun über die Erwähnung der Stadt London herstellen lässt. Die Assoziation, die von einem bestimmten Kolorit ausgegangen war, gewinnt Kontur. Und es zeigt sich, dass in den Mikrogrammen die Nähe zu einem weit früher entstandenen Text ebenso vorhanden sein kann wie diejenige zu einem Text auf demselben Blatt. Im Text Von Tirol weiß ich heißt es so auch, wie selbstreferentiell: »Es ist gar nicht gesagt, dass Nahbeieinanderwohnende einander in Wirklichkeit die nächsten sind, was Abstammung usw. betrifft oder die Eigenart.«97 Und so wird deutlich, dass dieser Text in der Tat noch einer anderen der vielen Abstammungslinien aus früheren Texten folgt; es ist auch bei Tirol zu denken an: »die Blümchen, die dort ebenso unschuldig und seltsam als zierliche Mysterien aus dem Frühlingsboden keimen wie in Pommern oder im Kanton Zürich oder wie in Grönland, falls Schnee und Eis und Temperatur es gütigst zulassen.«98 Es ist an das Schneeglöckchen zu denken, an jenen gerade in seiner indizierten ›Harmlosigkeit‹ paradigmatischen Text, der, wie weiter oben gezeigt, in einem verdeckten Zusammenhang mit der Kriegsproblematik steht. Die Kriegsproblematik in Vorkommen kann, daß z.B. Pferde über Gebühr in Arbeitsanspruch genommen werden steht hingegen unverdeckt – und nicht etwa ›durch die Blume gesprochen‹ wie im Text Schneeglöckchen – im Vordergrund. Eingeleitet wird der Mikrogrammtext dabei durch ein kryptisches Incipit, das erst im Blick auf das Fragment Das Pferd und die Frau entzifferbar wird. Und der Text Vorkommen kann, daß z.B. Pferde über Gebühr in Arbeitsanspruch genommen werden, der in seinem zweiten Teil mit dem Tirol-Text auf einem Blatt als buchstäblich »Nahbeieinanderwohnende« versammelt ist, zeigt sich mit Versen aus Friedrich Hölderlins Gedicht Patmos verbunden und zitiert diese in einem trivialeren Kontext: »Im Finstern wohnen/Die Adler und furchtlos gehn/Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg/Auf leichtgebaueten Brücken./Drum, da gehäuft sind rings/die Gipfel der Zeit, und die Liebsten/Nah wohnen, ermattend auf/Getrenntesten Bergen,/So gib unschuldig Wasser,/O Fittige gib uns, treuesten Sinns/ hinüberzugehn und wiederzukehren.«99 »Nah wohnen« auf »Getrenntesten Bergen«, wie es bei Hölderlin heißt, ist in Robert Walsers Text nun: auf den Tiroler und nicht auf den Schweizer Bergen. In der Zitation kryptiert sind aber eben auch die Provenienzen der 97 | Mikro 4/203. 98 | Mikro 4/204. 99 | Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Studienausgabe in zwei Bänden, hg. und kommentiert von Detlev Lüders, Bad Homburg v.d.H. 1970, Bd. 1, S. 340.
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eigenen Texte, bei denen ebenfalls nicht gesagt ist, »dass Nahbeieinanderwohnende einander in Wirklichkeit die nächsten sind, was Abstammung usw. betrifft oder die Eigenart«. Die grundsätzliche Frage, die sich mit Blick auf die Texte Robert Walsers durchgehend stellt, die Frage, »nicht nur, was, sondern auch, ob das Erzählte überhaupt etwas bedeutet«,100 wie Susanne Andres zum arabesken Schreiben Robert Walsers formuliert hat, dieser Eindruck, dass »rhythmische Ornamente«, wie Christoph Siegrist konstatiert hat, »den Zusammenhang der abbildenden Darstellung« auflösen, so dass Texte »in beziehunglose Stücke zerbrechen«,101 entsteht auch und gerade durch diese Struktur der Wiederholung, in der Text fragmentiert, umgeordnet, verstreut102 und zuweilen in jahrzehntelangem Abstand zur ersten Produktion andernorts wieder auftaucht. Was vor allem die Berner Prosa in diesem Sinne in der Tat latent unentzifferbar103 werden lässt, ist nicht die Frage, ob es sich hier noch um Parekbasen handelt, ob noch von etwas abgewichen, abgeirrt werden kann,104 sondern es ist die Intransparenz der Textprovenienzen, die diese Verunsicherung auslöst. Die Abstammungslinien des Textes sind vielfach von fremden, vielfach aber eben auch von eigenen Texten Robert Walsers her zu ziehen. Und die Multilinearität ist in der Lektüre selbstredend nicht immer präsent; die schwer rekonstruierbaren Herkunftslinien müssen vielmehr immer erst aufwändig rekonstruiert werden. Und noch eine andere Frage kommt in diesem Zusammenhang auf. Das Fragment Das Pferd und die Frau und der Mikrogrammtext Vorkommen kann, daß z.B. Pferde über Gebühr in Arbeitsanspruch genommen werden lassen beide Charles Dickens assoziieren. Aber geht es dabei wirklich um den sozialen Roman, um die bildhafte Sprache von Dickens oder nicht vielmehr um den Umstand, dass die Radierungen von George Cruikshank, etwa zum Roman Oliver Twist, den Text selbst oft vergessen ließen, wie der Schriftsteller Henry James in einer Erinnerung an seine eigenen Lektüren von Dickens bekannt hat?105
100 | Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 283. 101 | Christoph Siegrist: »Robert Walsers kleine Prosadichtungen«, in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1978, S. 125-147, S. 131. »Dabei siegt das Assoziativ-Ornamentale allemal über die Erzähllogik, die sprachliche Formulierung über die Plausibilität des Sachzusammenhangs«, schreibt Christoph Siegrist an anderer Stelle in: »Vom Glück des Unglücks. Robert Walsers Bieler und Berner Zeit«, in: Robert Walser, hg. v. Klaus-Michael Hinz und Thomas Horst, Frankfurt a.M. 1991, S. 56-69, S. 66. 102 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 246ff. 103 | Vgl. Paolo Chiarini: »Unvorgreifliche Gedanken eines Walser-Lesers«, S. 13. 104 | Vgl. Joachim Strelis: Die verschwiegene Dichtung, S. 50. 105 | J. Hillis Miller führt einen Kommentar von Henry James aus dessen Werk A Small Boy and Others an, der diesen Umstand beleuchtet. Vgl. J. Hillis Miller: Illustration, S. 66.
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Geht es im Text Das Pferd und die Frau um ein Erlebnis der Berliner Zeit, um die Lektüre von Dickens, die auch in Robert Walsers Dichterporträt mit dem Titel Dickens als Eloge auf den Dichter und dessen literarische ›Würdigung‹ der Armut zum Tragen kommt – oder geht es um die Illustrationen zu Büchern von Dickens, die hier Wirkung zeigen? Vom September 1915 datiert der Abdruck zweier Bildbeschreibungen von Robert Walser zu Gemälden des Bruders Karl Walser. Das »Damenbildnis«, ein Text, bei dem der Titel in Anführung gesetzt ist, figuriert eine »junge Dame«, lesend. Vielleicht aber, so ist gleich eingangs des Textes vermutet, ist es gar nicht das Lesen, das hier zur Darstellung kommt, sondern eine Form des Innehaltens in der Lektüre, das den in Bewegung gekommenen ›eigenen‹ Gedanken der Figur gehört: als retardierendes Moment, in dem ein Bild im Bild entsteht. Nun aber zu dem Bild, zur Malerei. Das Bild ist seltsam und die Malerei darin zart und feinsinnig, denn der Maler hat in einer Anwandlung von kühner Schönheit die gewohnten Grenzen überschritten und ist durch ein einseitig Gegebenes frei hinausgedrungen. Er malt mit dem Bildnis der jungen Dame auch ihre liebenswürdige, heimliche Träumerei, ihr Denken und Phantasieren, ihre schöne, glückliche Einbildung, indem er über dem Kopf oder Köpfchen der Leserin, in sanfter, zarter Entfernung, grade, als sei es ein Phantasiegebilde, eine grüne Wiese, umgeben von einem Kranz prächtiger Kastanienbäume, hinmalt, auf welcher, in süßem, sonnenbeschienenem Frieden ein Schäfer ausgestreckt liegt, der wieder seinerseits in einem Buch zu lesen scheint, da er weiter nichts zu tun hat.106
Es geht um Überschreitung in ein Bild zweiter Ordnung, das als Phantasie einer bereits vom Maler phantasierten Figur konjunktivisch bleibt (»als sei es ein Phantasiegebilde«). Der Schäfer ist als Bild, das selbst imaginär ist, Phantasiegebilde der literarischen Idyllentradition von Theokrit,107 Vergil, der Anakreontik bis zu Salomon Gessners Idyllen und dessen Brief über die Landschaftsmalerei von 1770 als einem der seinerzeit prominentesten Plädoyers für eine ›malende Poesie‹.108 Das Bild ist nicht nur vom Maler in ein zweites Bild potenziert, stellt sich als das eines Phantasiegebildes heraus. Die textinterne Grenzüberschreitung führt in den Rahmen. Es sind die Lesenden, die über ein ›einseitig Gegebenes frei hinaus‹ dringen, indem sie Text modifizieren, ihren eigenen Assoziationen, ihren eigenen Phantasien anhängen. Lesen ist – wie das Betrachten eines Gemäldes – kein line106 | SW 16/339f. 107 | »Das Idyllische geht seiner literarischen Fixierung als Gattung, dem designierten Ursprung der Idylle bei Theokrit zu Beginn des 3. Jahrhunderts vor Christus, um mehrere Jahrhunderte voraus«, schreibt Florian Schneider, »und läßt sich bis in die schriftlichen Wurzeln der abendländischen Kultur zurückverfolgen: Bereits im Ersten Buch Mose, der alttestamentarischen Genesis, sind Spuren der Idylle aufzufinden.« Florian Schneider: Im Brennpunkt der Schrift, S. 15. 108 | Vgl. Gottfried Willems: Anschaulichkeit, S. 211, Anm. 2.
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arer Prozess. Die mehrfache Potenzierung – als Bild im Bild im Bild usf. – weist auf die Einbildungskraft selbst, denn die Potenzierung ist an diese Kraft der Imagination gebunden, an die des Autors ebenso wie an die der Lesenden. Und jede noch so mimetische Abbildung beruht dabei zugleich auf einer Distanz, die kein Bild aufzuheben vermag; sie beruht auf der Fähigkeit, die Welt als Bild zu sehen.109 Über ein »einseitig Gegebenes« frei hinauszudringen, heißt in Robert Walsers Porträt der lesenden Frau mit dem in Anführung gesetzten Titel »Damenbildnis«, der dieses distanzierende Moment bereits mitschreibt, aber auch, sich von jenen Schriftstücken abzuheben, die grundsätzlich einseitig beschrieben sind. Und dies sind Urkunden. Kryptiert und schwer kenntlich steckt hierin auch eine Kontrafaktur zum offiziösen, rechtsverbindlichen Schriftstück, das, wie es im Text Der Spaziergang heißt, mit der »Reichsgerichtsfeder«110 geschrieben ist. Und so ist der Autor Robert Walser mit der Beschriftung von Rückseiten – und die Blätter sind, beginnend mit den März-Fragmenten recto und verso beschriftet – in der Tat »durch ein einseitig Gegebenes frei hinausgedrungen«.111
V.6 Z EIT -E CHO : P HANTASIEREN In den Jahren 1916/17 zeichnen sich im Kriegsverlauf zwei Entwicklungen ab: Zum einen wird der Tod, wird das Sterben deutlicher sichtbar. Zum anderen aber wächst mit dem Friedensangebot der Mittelmächte im Dezember 1916 und der Friedensresolution des deutschen Reichstags im Juli 1917 bei vielen nicht nur die Hoffnung auf ein Ende des Krieges, sondern zunächst darauf, dass die Schockstarre nachlassen und die Hoffnung nun einen adäquaten literarischen Ausdruck finden könnte. Ein programmatisch mit dem Titel Friedensgedanken überschriebener Beitrag für das Literarische Echo zu Anfang des Jahres 1917 beginnt so auch mit den Worten: »Wie lang ist dieses Wort [i.e. Friedensgedanken] verpönt gewesen, allen, die sich heiß danach sehnten, der Mund amtlich versiegelt, die Feder aus der Hand gerissen!«112 Nun aber ließ sich wieder phantasieren. Und das Phantasieren wird den Titel zu einem Prosastück Robert Walsers geben, das im April 1915 im ZeitEcho erscheint, einer Zeitschrift, die dem Vorbild der Weissen Blätter folgt. Das Zeit-Echo versteht und gestaltet sich als Kriegstagebuch der Künstler, wie 109 | Vgl. Sabine Groß: »Schrift-Bild. Die Zeit des Augen-Blicks«, in: Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, hg. v. Georg Christoph Tholen und Michael O. Scholl, Weinheim 1990, S. 231-246, S. 240. 110 | SW 5/27 und SW 7/102. 111 | SW 16/340 (Hervorh. d. Verf., KS). 112 | Alexander von Gleichen-Rußwurm: »Friedensgedanken«, in: Das Literarische Echo, Nr. 19 (1916/17); zit.n. Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller, S. 19.
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der Untertitel des ersten Jahrgangs lautet, in dem essayistische, dichterische und zeichnerische Stellungnahmen von Künstlern zum Krieg versammelt sind. Spätestens mit dem dritten Jahrgang im Mai 1917 hat es – wie Die Weissen Blätter – ein dezidiert pazifistisches Profil.113 Besonderes Augenmerk liegt dabei auf einer sprechenden Konstellativität von Text und Bild. Die Redaktion bemüht sich um die Herstellung von Bild-Text-Bezügen, wobei es ausdrücklich nicht unbedingt um »directe Illustration« geht. Vielmehr verläuft der Anregungsprozess auch umgekehrt. So schreibt Mechthild Lichnowsky ihr Gedicht Aus Pferderücken fließt unter dem Eindruck einer Pferdegraphik von Willi Geiger; Gedicht und Graphik erschienen in Heft Nr. 9 des ersten Jahrgangs im Februar 1915, begleitet von einem Brief der Autorin.114 Auch Robert Walsers Text Phantasieren entspricht in einem übertragenen Sinn – der, wie gezeigt, in seinem Text »Damenbildnis« zum Tragen gekommen war – durchaus dem Prinzip, über »ein einseitig Gegebenes frei hinausgedrungen«115 zu sein, was sich material darin zeigt, dass eines der zwei im Text Der Arbeiter eingelegten Prosastücke eine unwesentlich abweichende Variante zum Text Phantasieren ist, das zweite eine Variante zum Text Notizen I-IV. Diese Notizen I-IV waren im Dezember 1915 in den Weissen Blättern erschienen. Einiges scheint, Greven zufolge, dafür zu sprechen, in den Einlagen die Erstfassungen zu sehen,116 die erst später zu eigenen Texten wortwörtlich entbunden wurden. Als ganzer, integraler Text, der durch die Einlagen bestimmt ist, die darin mit dem eigenen Titel Zwei kleine Prosastücke nummeriert eingefügt sind, wird der Text Der Arbeiter 1918 in die Sammlung Poetenleben aufgenommen werden. Im Haupttext von Der Arbeiter, an den sich die beiden eingelegten Texte anschließen, heißt es über den beschriebenen Arbeiter: »Geister und Gedanken schlossen sich, fast wie gutherzige Frauen, freundschaftlich an ihn an. Er lebte mehr im Geiste als in der Welt; er lebte ein doppeltes Leben.«117 Ist der Satz selbstreferentiell gelesen, so wären die Einlagen jene »gutherzige[n] Frauen«, die sich an den Arbeiter, an den Haupttext »freundschaftlich« anschließen – und die, weil sie Textvarianten sind, zugleich »ein doppeltes Leben« führen, sich zu integralen Texten emanzipieren werden. Ein solches zweites Leben des weiblich konnotierten Prätextes wäre dann auch der Text mit dem Titel Phantasieren. Am Ende der zweiten Einlage und somit am Ende des Textes Der Arbeiter heißt es: »vielleicht war der Arbeiter einer unter denen, die für das Vaterland fielen«.118 Der Arbeiter mag unter 113 | Vgl. Thomas Anz/Michael Stark (Hg.): Expressionismus, S. 298. 114 | Vgl. Peter Sprengel: »Kristallisierung: Trakl, Klee und der Krieg. Zur Frage des Bild-Text-Bezugs im Zeit-Echo«, in: DVjs für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 68, Heft Nr. 3 (1994), S. 549-561, S. 552 und Anm. 4. 115 | SW 16/340. 116 | Vgl. Anmerkungen des Herausgebers in SW 6/140. 117 | SW 6/110. 118 | SW 6/116.
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den Gefallenen des Ersten Weltkriegs sein; den Schlusspunkt des gesamten Textes setzt sein möglicher Tod. Anders verhält es sich mit dem Phantasieren. Am 24. August 1918 teilt Robert Walser dem Rascher Verlag mit, dass der im Weiteren nicht realisierte Sammelband mit dem Titel Kammermusik, der »hauptsächlich einen universellen geistig-humanistischen, internationalen Charakter« habe, so der Autor, »mit einer Art von Gesang und Verherrlichung von Frieden und Freiheit, die über die Welt kommen möchten«119 schließen sollte. Und damit dürfte der Text mit dem Titel Phantasieren gemeint sein, der im Band den Schlusspunkt hatte setzen sollen. Wie aber sehen »Gesang und Verherrlichung« in diesem Text aus? Das Incipit des Textes Phantasieren wird von einem Satz gebildet, der ein im weiteren Fortgang des Textes oftmals wiederholtes Wort zunächst in einer Inversion versteckt: »Freundlich sind dort die Menschen.« Wo aber dieses »dort« zu situieren ist, wird auch im Folgenden an keiner Stelle deutlich – es sei denn, man ließe die etwas weiter unten im Text nachgereichte Explikation gelten, die jedoch keine räumliche Zuordnung trifft, die nichts darüber aussagt, wo dieses Reich des Besseren zu verorten wäre; es bleibt im genauen Wortsinn utopisch: »Die Menschen, die dort wohnen, wo die Gedanken wohnen, sind weit davon entfernt, eine Lust in irgend jemand anderes Unlust zu finden und eine abscheuliche Freude zu fühlen, wo ein anderer sich in Verlegenheit befindet.« Das Reich des Besseren existiert in den auf Innerlichkeit und Innigkeit konzentrierten Menschen selbst, »die dort wohnen, wo die Gedanken wohnen«. Es ist dadurch demarkiert, dass Menschen sich darin in anderer als der gewohnten Weise verhalten, und zwar nicht hierarchisierend: »Keine Könige und keine Kaiser hat es dort, wo der gesunde Mensch wohnt, je gegeben«, dort also, wo – im ›Klartext‹ gesprochen – ›der gesunde Menschenverstand zu Hause ist‹. Die Frau herrscht dort nicht über den Mann, der Mann aber ebensowenig über die Frau. Es herrscht niemand, außer jedermann über sich selber. Alles dient dort allem, und der Sinn der Welt geht deutlich dahin, den Schmerz zu beseitigen. Niemand will genießen; die Folge ist, daß alle es tun. Alle wollen arm sein; hieraus folgt, daß niemand arm ist. Dort, dort ist es schön, dort möchte ich leben. Unter Menschen, die sich frei fühlen, weil sie sich beschränken, möchte ich leben. Unter Menschen, die einander achten, möchte ich leben. Unter Menschen, die keine Angst kennen, möchte ich leben. Ich sehe wohl ein, daß ich phantasiere.120
An diesem Ende des Textes, dort, wo das Schlüsselwort ›dort‹ noch dreimal wiederholt wird, als könne es – und gerade als der denkbar unbestimmte Index – das Reich dieses Besseren aufschließen, taucht zum ersten Mal das Bekenntnis des poetischen Ichs im Text auf: Drei Sätze lang wird es sich, »unter Menschen befindlich«, in die Hoffnung auf einen dau119 | Brief vom 24. August 1918 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 140. 120 | SW 16/99.
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ernden Haus- und Weltfrieden einbringen; dann wird es das Ganze in einem kurzen Metadiskurs nicht etwa als Phantasie, sondern als Phantasieren, wie im Fieber, abtun. Doch heißt es hier nicht etwa: ›Ich sehe ein, dass ich wohl phantasiere‹, sondern das unscheinbare Füllwort findet sich unerwartet im Hauptsatz: »Ich sehe wohl ein, daß ich phantasiere.« Durch diese Verschiebung, die den spöttischen Blick der anderen bereits antizipiert, zeigt sich die Verwerfung durch diese anderen jedoch selbst bereits fast unmerklich ironisiert. Der Text geht dabei unmittelbar auf den Auftrag zu seiner Entstehung ein; er kommentiert diesen, wie aus Robert Walsers Antwort auf die vorausgegangene Anfrage der Redaktion des Zeit-Echo deutlich werden kann: »Ich danke Ihnen für Ihren freundlichen Brief und da Sie, wie Sie sagen, auch das Bekenntnis eines Weltentrückten oder Phantasten in Ihre Blätter aufnehmen wollen, so gebe ich Ihnen gern hier ein kleines Stück, von dem ich vielleicht annehmen darf, daß es in einer Beziehung steht zu den gegenwärtigen Ereignissen.«121 Die Ereignisse, auf die angespielt ist, die Kriegsereignisse, lassen sich aus dem Erscheinungsdatum des Textes, dem April 1915, erschließen – nicht aber aus Robert Walsers Begleitschreiben oder aus seinem mit dem Titel Phantasieren eingesandten Text, in dem der Bezug an keiner Stelle explizit wird; der Text scheint den Ereignissen vielmehr enthoben. Und in der Tat gehört ja das Phantasieren, das Robert Walser bald nach Ausbruch des Krieges zum Titel dieses Textes macht, als solches weder dem Tagleben noch dem Traum an; es ist ein »isoliertes Phänomen«122 . Und ebenso isoliert scheint auch der Text Phantasieren in jenem Kontinuum von »Reden, Atmen und Schlafen«123 , als das sich die Bieler Prosa darstellt. Das Phantasieren steht im Widerspruch – zum Leben wie zum Traum.124 Und wovon der Text Phantasieren utopisch spricht, der ein goldenes Friedenszeitalter imaginiert, hat keine symbolische Bedeutung in Bezug nur auf ein Individuum, dessen ›Träume‹ hierin zum Tragen kämen. Genau darin liegt die Differenz zu allen anderen Texten der Bieler Prosa. Für das Phantasieren ist überdies der Faktor der Zeit wesentlich, einer Zeit, die hier allerdings instantan bleibt, denn: »Beim Phantasieren geschieht alles sofort – wenn man davon absieht, daß überhaupt nichts geschieht.«125 Im Phantasieren, das durch ein Gefühl der Omnipotenz geprägt ist, kann alles geschehen, kann der gesamte Raum mit eigenen Phantasien besetzt und phantasmatisch modifiziert werden. – Was aber geschieht, wenn eine »Gegend«, die phantasiert wird, ihrerseits phantasierte? So heißt es im Text
121 | Undatiertes Begleitschreiben zum Text Phantasieren (Poststempel Biel 22.1.15) im Besitz des Deutschen Literaturarchivs Marbach; zit.n. der Anm. zum Text in: SW 16/426f. 122 | Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 1987, S. 37. 123 | SW 16/245. 124 | Vgl. Donald W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, S. 42. 125 | Ebd., S. 38.
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Spaziergang (I), wohlgemerkt nicht in der Erzählung Der Spaziergang, aus dem Band Kleine Dichtungen: Nun wurde mir mit einem Mal alles zu Traum, Liebe und Phantasie. Alles, was ich jetzt anschaute, nahm große und hohe Form an. Die Gegend selber schien zu dichten, zu phantasieren. Sie schien über ihrer eigenen Schönheit zu träumen. Das Land war wie versunken in ein tiefes, musikalisches Denken. […] Es war Abend geworden, das Grün sprach eine herrliche abendliche Sprache. Farben sind wie Sprachen.126
Das »Land«, das »wie versunken in ein tiefes, musikalisches Denken« ist, sinniert – und spricht sich zugleich aus, drückt sich in seinen Farben aus; die Farben sind seine Form der Notation. In Friedrich Schlegels Brief über den Roman hatte es geheißen: »Nein, es ist der heilige Hauch, der uns in den Tönen der Musik berührt. Er läßt sich nicht gewaltsam fassen und mechanisch greifen, aber er läßt sich freundlich locken von sterblicher Schönheit und in sie verhüllen; und auch die Zauberworte der Poesie können von seiner Kraft durchdrungen und beseelt werden. Aber in dem Gedicht, wo er nicht überall ist, oder überall sein könnte, ist er gewiß gar nicht.«127 Die Musik ist hier Inbild einer Dichtung, die durchdrungen ist von einem Hauch, der »überall ist, oder überall sein könnte«; Schönheit provoziert das Erscheinen dieses Hauchs, doch nur, wo sie diesen Hauch noch einmal verhüllt, einhüllt. Nur die Phantasie kann den Hauch in seinem vollkommen ephemeren Charakter erfassen – und zugleich darstellen. Und eben dieses Moment der Verhüllung – der kalkulierten Kryptierung – lässt sich in Robert Walsers Texten auch dort finden, wo es um die Darstellung von weniger Erfreulichem geht: Denn dass die Farbe Grün noch eine andere, weniger erbauliche Sprache spricht als im Text Spaziergang (I), dass sie noch eine andere als die frühlingshafte Konnotation hat, wird sich in zwei Texten erweisen, auf die noch zu kommen sein wird und die vom Titelwort Grün organisiert sind. Im Text Grün (II) geht es auch um die Nicht-Farbe Grau – und um das Grauen des Krieges. In der durch Farbwörter begründeten Motivkette wird sich dabei wieder einmal erweisen, wie komplex und intransparent die literarischen Palimpseste sind, die Robert Walsers Texte ausbilden, und wie viele Schichten sich darin überlagern können. Wie das Farbwort 126 | SW 4/133. 127 | Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 334. Friedrich Schlegel fährt in Bezug auf das Phantasieren fort: »Er [der Hauch; Anm. d. Verf., KS] ist ein unendliches Wesen und mitnichten haftet und klebt sein Interesse nur an den Personen, den Begebenheiten und Situationen und den individuellen Neigungen: für den wahren Dichter ist alles dieses, so innig es auch seine Seele umschließen mag, nur Hindeutung auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphe der Einen ewigen Liebe und der heiligen Lebensfülle der bildenden Natur./Nur die Fantasie kann das Rätsel dieser Liebe fassen und als Rätsel darstellen; […].«
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Grün im gleichnamigen Text Robert Walsers diese völlig andere Konnotation des Grauen/s erhält, lässt sich dabei auch Lawrence Sterne entnehmen, der der fiktiven Adressatin in Friedrich Schlegels Brief über den Roman im Übrigen wiederholt zur Lektüre empfohlen ist. Im Roman Leben und Ansichten des Herrn Tristram Shandy nämlich findet sich eine überraschend andere Konnotation des Grüns, die durch Verschiebung entsteht und die auch für Robert Walsers Verschiebungen im Text mit dem Titel Grün relevant zu sein scheint. In Sternes Roman haftet der Farbe Grün die bestürzende Mitteilung eines Todes an. Die Farbe Grün heftet sich an die Todesnachricht im instantan erstarrten Blick auf einen grünen Gegenstand, einen Schlafrock, der der Mutter des Hauses gehört und der der Zofe, obgleich er sich nicht im Raum befindet, bei der Nachricht vom Tode des Sohnes dieser Mutter augenblicklich vor Augen steht, ihr aus unerfindlichen Gründen als erstes in den Sinn kommt. Die Farbe Grün steht von nun an im Zusammenhang mit der Trauer über den Verlust des Jungen, einer Trauer, die konventionell eher mit den Nicht-Farben Schwarz oder Grau assoziiert würde: Der junge Herr in London ist gestorben, sagte Obadiah. Der erste Gedanke, den Obadiahs Ausruf in Susannahs Kopf hervorrief, war ein schon zweimal gewalkter grünseidener Schlafrock meiner Mutter. – Locke dürfte wohl ein Kapitel über die Unvollkommenheit der Sprache schreiben. – Dann müssen wir alle trauern, sagte Susannah. – Aber wohlgemerkt, obschon Susannah selbst das Wort »trauern« aussprach, verfehlte es doch vollständig seine Bedeutung, es vermochte keine grau oder schwarzgefärbte Idee in ihr zu erwecken: – alles war grün.128
Die Anspielung gilt John Lockes Essay concerning human understanding aus dem Jahre 1690, in dem Erfahrung durch Sinneswahrnehmung (sensation) und Selbstwahrnehmung (reflection) bestimmt ist. Wahrgenommene Qualitäten sind subjektiv, die Sprache ein System von Zeichen, das diese Vorstellungen und deren Beziehung zueinander vertritt. Unerwartet und unkonventionell symbolisiert das Grün im Text Sternes den Tod. Im erneuerten Blick auf Robert Walsers Text Spaziergang (I) wird nun andersherum deutlich werden, was es heißt, wenn das Grün eine »abendliche Sprache« spricht, wenn es sich verdunkelt zeigt, grau oder schwarz eingefärbt: Der Abend hat, wie das Grün, nicht per se diese verdunkelte Konnotation. Er ist vielmehr noch ganz anders und anheimelnd konnotiert.
128 | Lawrence Sterne: Leben und Ansichten des Herrn Tristram Shandy, S. 328.
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V.7 P OE TISCHE L ATENZ : » SPURWENIG « »Es war Abend geworden«, heißt es in dem im Mai 1914 in Der Neue Merkur erschienenen Text Spaziergang (I), der sich bereits im Titel als ein Prätext erweist. Der Spaziergang wird wenig später, mit dem Artikel ausgestattet, entsprechend bestimmter auftreten. Der Abend ist ein durchgängiges Motiv der Bieler Prosa – und nicht etwa die Nacht129, die metonymisch das gänzliche Schweigen oder Verstummen nicht nur der Natur nahelegen würde, hätte sie in ihrer vollendeten Schwärze Gestalt oder besser Ungestalt angenommen. Die Texte der Bieler Prosa aber halten durchgehend nur auf das Zwischenreich zu, auf den Abend als definitorisch undeutliche, unklar umrissene Trennlinie zwischen Tag und Nacht. Das gesamte Konvolut der Bieler Prosa hindurch halten Narrationen auf eine Nacht zu, die nicht anbricht, sondern – immer wieder und immer wieder anders – nicht anbricht. Die Nacht ist in dieser Dämmerung, die gleichermaßen auch Morgendämmerung, die immer auch ihr eigenes Gegenteil sein kann, lediglich antizipiert. Das Dunkel, in das die Nacht hüllen würde, ist, paradox gesprochen, nicht zur Erscheinung gebracht. Es bleibt, gerade als die nur alludierte, angespielte Nacht, das – für sich besehen – unkenntliche Bild einer Latenz. Und so wähnt auch das poetische Ich im Text Büren, der im Oktober 1917 erscheint, auf dem prospektierten späteren Heimweg der Wanderung »von Sommerabendsonne schön umsponnen und eingefasst«130 zu werden. Auf die Nacht ist nicht etwa in einer Prolepse der Erzählung vorgegriffen, auf sie ist in der Antizipation des Übergangs zur Nacht, in der Dämmerung, in der sich Augenblickliches und Zukünftiges überlagern, nur verwiesen. Das poetische Ich wird, so antizipiert es der Text Büren, von der untergehenden Sonne gespinsthaft »umsponnen und eingefasst« sein. Und umsponnen und eingefasst werden auch die Texte auf den Blättern der Mikrogramme im »Bleistiftgebiet« sein, in diesem filigranen Rahmenwerk, diesem Zwischenreich und Reich des Dazwischen, dieser Dämmerung im Sinne eines Heraufdämmerns der Erinnerung, diesem Vorgriff, der selbst in gleichem Maße als undeutliche und von der Gegenwart überlagerte Analepse, als Rückgriff erscheinen wird. Als Robert Walser gegenüber dem Hermann Meister Verlag im Dezember 1919, wie oben zitiert, das »Miniaturbuch« erwähnt, das er zu dieser Zeit plant, hat der Verlag in der hauseigenen Zeitschrift Saturn im September desselben Jahres bereits drei Texte des Autors veröffentlicht, die in der Tat zurückblicken: Freundschaftsbrief, Herbst (I) und Aus meiner Jugend. Der Text Herbst (I) beginnt dabei wie folgt:
129 | Vgl. zum Motiv der Nacht in der Berner Prosa von Robert Walser Stephan Kammer: Figurationen und Gesten des Schreibens. Zur Ästhetik der Produktion in Robert Walsers Prosa der Berner Zeit, Tübingen 2003, S. 141-183. 130 | SW 16/48.
V. S UBSTITUTION /T RANSPOSITION Herbst hat etwas Nachdenkliches, wie jemand, der sich besinnt, wie er sich verhalten soll. Er wird als sorglich, bedächtig, beinah vornehm, sozusagen zweideutig empfunden. Etwas Geistiges geht herum. Die Luft ist kühl. Blätter fallen von den Bäumen. Ein Blatt ums andere löst sich los, wird abtrünnig, fällt herunter, indem es sich wirblig, strudlig umdreht, was drollig, doch auch wehmütig aussieht. Welches Blatt fällt wohl zuletzt? Eigentümliche Frage! Als wenn es wichtig wäre, hierüber nachzudenken. Mit dem ersten fängt es an; mit dem letzten hört es auf, so viel ist sicher. Wahrheit ist uns entweder lieb oder unangenehm, je nachdem. Einer freut sich darüber, der andere fürchtet sich davor. Da uns allzuviel Gedankliches schwerfällt und drückt, so schütteln wir es ab und fahren fort, vom Herbst zu parlieren, der als etwas Mildes, Mittleres zwischen Hitze und Kälte liegt und sich neutral verhält, indem er einerseits noch manches vom Sommer hat, wo alles blüht und grünt und Insekten heftig stechen, und anderseits schon manches vom Winter, wo Schneegefletsch herumschwimmt, wofür man dankt, und Hudelwetter sudelt, wovon man glaubt, es komme früh genug, um Schauder einzuflößen. Der Wald wechselt sein Kleid. Wer möchte jahraus, jahrein denselben Anzug tragen? Schon hat es angefangen zu gilben und zu bräuneln; auf Wiesen und Wegen wird bald alles voll Gesprenkel sein, das wie Parteien wirr durcheinander schwatzt, was im öffentlichen Leben öfter vorkommt. Fuchtelt man mit Schuhen im Laub, so entsteht ein Geraschel, das an sich durchaus eigenartig ist. Herbst erinnert an Lenau, dieser an Zigeuner, die ihrerseits an ausgiebiges Herumschweifen mahnen. Wandern ist wunderschön im Herbst. Etwas Edles, Duldendes, Gewinnendes zieht mit dir herum. Du schlüpfst in einen Wald, dann in ein Haus, gehst über ein Feld, wo Säcke voll Kartoffeln wie Soldaten in der Achtungsstellung dastehen. »Schultert Gewehr! Vorwärts marsch!« Doch sie stehen unbeweglich, rühren kein Glied, verziehen keine Miene, scheinen weder Augen noch Ohren, noch Hände, Füße, Köpfe zu haben. »Euch wird man schon Begriffe einprägen!« Sie blinzeln nur und lächeln.131
Die Blätter fangen im Text Herbst (I) zu »gilben« an, womit auf Schreibblätter verwiesen ist, die vergilben können. Kartoffelsäcke stehen unmobilisiert, ihnen müssen »Begriffe« (!) erst beigebracht werden. Der Text Aus meiner Jugend rekapituliert hingegen die dichterischen Anfänge eines Autors, die als Anfänge Robert Walsers zu dieser Zeit bereits zwanzig Jahre zurückliegen: »Auch begann ich um jene Zeit auf dünne Streifen Papier kleine Gedichte zu schreiben. Ich tat dies in ruhiger handwerklicher Absicht, doch war etwas Geheimes dabei. Vielleicht fing ich an zu dichten, weil ich arm war und einer Nebenbeschäftigung bedurfte, damit ich mich reicher fühlte.«132 Einmal mehr ist signifikant, was in der spezifischen Wortwahl vermieden, was gerade nicht geschrieben worden ist. Die »Streifen Papier« substituieren die denkbaren ›Abschnitte‹ oder ›Stücke‹, die hätten zum Tragen 131 | SW 16/371f. 132 | SW 16/251.
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kommen können. Die gewählten »Streifen« finden sich dagegen weniger mit dem Schnitt assoziiert und leichter in einer Polysemie mit dem ›Streifen‹ wieder, in der Bedeutungsvielfalt von ›Vagabundieren‹, ›Herumgehen‹ oder auch ›zart berühren‹. Überdies ist das Papier hier nicht von seiner Qualität oder Konsistenz her dünn; es ist, in Teile geteilt, dünn geworden. Das ›Dünne‹ ersetzt das näherliegende Wort ›klein‹ – ein Wort, das bei Durchsicht der Bieler Prosa nirgends je in Bezug auf die Schrift erscheint; das Kleine (auch das der Schrift der Mikrogramme) bleibt vielmehr immer kryptiert. Und dass dem Schreiben der Gedichte im Prosatext Aus meiner Jugend »etwas Geheimes« angehaftet haben soll, ist eine rückwärtige Projektion, die dem Entstehungszeitraum dieses Textes, mutmaßlich dem Jahre 1919, entstammt. Die semantisch gewordene ›Erinnerung‹ hat prospektive Bedeutung angenommen, das heißt, dass der Wert einer solchen Erinnerung, wie Freud dargelegt hat, im Gegenteil darin besteht, dass sie »im Gedächtnisse Eindrücke und Gedanken späterer Zeit vertritt«.133 In Robert Walsers Text Aus meiner Jugend wird so eine nur vermeintlich der Vergangenheit entstammende ›Heimlichtuerei‹ zu einer ›Deckerinnerung‹ der Gegenwart.134 Diese Art Umschrift in einem Text, der in seinem Titel Aus meiner Jugend gleichzeitig eine ›Authentizität‹ der Erinnerung evoziert, enthüllt so nicht etwa bis dato Geheimes, sondern ›enthüllt‹ paradoxerweise das Geheime per se, um es nur umso besser verhüllen zu können – und zwar genau dort, wo es für alle ›sichtbar‹ wird: in der Semantik. Im Oktober 1916 hatte Robert Walser dem Rascher Verlag gegenüber noch propagiert: »jedes einzelne Stück sollte mit einer frischen Druckseite beginnen, denn das würde gut aussehen«; schließlich, so der Autor, seien die Stücke ja teilweise »ganz neu aus dem Kopf frisch abgefasst«.135 Der Widerspruch, der sich mit den Aussagen ergibt, die Texte seien »ganz neu«, 133 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. I, S. 546 (Hervorh. d. Verf., KS); vgl. auch Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 114. Freud hat im Briefwechsel mit Wilhelm Fließ bereits früh mit der Annahme gearbeitet, »daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt«. Sigmund Freud: Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, hg. v. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a.M. 1986, S. 185 (Hervorh. d. Verf.); vgl. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 314. 134 | Auch erzähltheoretisch ergibt sich so eine Verdoppelung. So schreibt Philippe Lejeune in Der autobiographische Pakt, S. 43, dass »jede Erzählung in der ersten Person bedingt, daß der Protagonist, wie weit zurückliegende Abenteuer man auch immer von ihm erzählt, gleichzeitig auch die aktuelle, diese Erzählung hervorbringende Person ist: Das Subjekt der Aussage ist verdoppelt, insofern es sich nicht vom Subjekt der Äußerung trennen läßt […].« 135 | Briefe vom 5. und 21. Oktober 1916 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 95ff. (Hervorh. v. RW).
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»frisch« und doch »aus dem Kopf«, folglich auswendig abgefasst worden, formuliert, was sich auch im ›Erinnerungstext‹ Aus meiner Jugend zeigt, der durch Zweizeitigkeit bestimmt ist. – Im Januar 1919 wird Robert Walser sich in einem Brief, in Bezug auf den Tobold-Roman, über eine Art künstlerischer Autonomie äußern, die unbedingt rezent geprägt ist: »Zeitliches, Zeitgemäßes spielt deutlich mit. Der Roman hat unabhängiges und künstlerisches, doch dabei starkes Gegenwarts-Gepräge.«136 Und in einem Brief vom November 1927 an Max Brod wird es heißen: Gewiß riefen Ihre liebenswürdigen Worte auf der Karte, die Sie mir schrieben, gleichsam etwas wie Echo’s in meinen Gebirgigkeiten hervor, und wie finde ich schön von mir, Sie zum Empfinden veranlasst zu haben; nur wissen Sie ja sicher selbst, in wie beinahe ausschließlichem Maß wir den Tagen der Gegenwart gehören, womit ich vielleicht kurz sagen möchte, dass ich weit eher bloß liebe als mich nach irgendetwas sehne.137
Die Sehnsüchte sind in die Vergangenheit zu datieren. Zwar ruft noch etwas daraus ein Echo hervor, doch »Gebirgigkeiten« bewegen sich nicht. Der Text Die Gedichte (II), der 1919 selbständig als bibliophiler Druck erscheint, thematisiert dagegen die Sehnsucht vergangener Tage; darin greift das bereits aus dem Text Freundschaftsbrief bekannte Epitheton »arm« die Entbehrung in einem Rückblick auf: »Und dabei war ich ja ganz arm, wußte von allem, was man ›Welt‹ nennt, nichts oder nur spurwenig.«138 Ähnlich wie in Bezug auf das Weltwissen – »nichts oder nur spurwenig« – macht der Text Die Gedichte (II) dabei auch in Bezug auf eine wie immer geartete ›Krankheit‹ widersprüchliche Angaben; so heißt es: »Ich verglich mich oft mit jungen Mädchen, die immerdar sehnsüchtig sind. Mitunter lag ich auf dem Bett wie ein Kranker.« Dann aber heißt es, ganz im Gegensatz hierzu: »Halb war’s Traum, halb Fieber. Krank war ich nie; nur immer in hohem Grade von Verlangen nach außergewöhnlichen Dingen seltsam angegriffen.«139 Die Krankheit wird bestritten; und doch wirkt das poetische Ich noch im selben Satz »angegriffen«. In einer ersten Fassung des Textes Aus meiner Jugend, die im September 1919 in der Frankfurter Zeitung unter dem Titel Ein junger Mensch erschienen war, heißt es gar: »Zuweilen lag ich auf dem Bett ausgestreckt wie einer, der sich todkrank fühlt. In der Tat lüstete es mich oft, mich zu vernichten.«140 Nicht nur jedoch ›gelüstete‹ es nicht, dazu fehlt ein Präfix. Das Begehren, wenn es denn als ein solches, vielleicht im Sinne von Freuds Todestrieb, bezeichnet werden kann, richtet sich auf Selbstvernichtung. Das Verbum ›vernichten‹ aber tritt auch im Zusammenhang 136 | Brief vom 5. Januar 1919 an Efraim Frisch, in: Br, S. 161. 137 | Brief vom 4. November 1927 an Max Brod, in: Br, S. 313. 138 | SW 16/256. 139 | SW 16/249ff. 140 | Vgl. Anmerkung des Herausgebers zum Text Aus meiner Jugend in: SW 16/431.
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mit der Vernichtung von Manuskripten in Erscheinung, die im Text thematisch wird, so etwa im oben erwähnten Prosastück Heimkehr im Schnee: »Vergebliche Anstrengungen machten mich gewissermaßen krank. Manches mühsam Geschaffene vernichtete ich. Je aufrichtiger ich mich sehnte und bemühte, auf festem Boden zu stehen, um so deutlicher sah ich mich schwanken.«141 Die größere Sehnsucht führt paradoxerweise zu einer nur noch größeren schmerzhaften Nüchternheit. Und so schreibt der im April 1919 erschienene Prosatext Das erste Gedicht in seinem Incipit auch ein Oxymoron, »starkstill«, das an Friedrich Hölderlins »heilignüchterne Wasser«142 aus dem Gedicht Hälfte des Lebens denken lässt; bei Robert Walser heißt es: »Einer stand im Raum starkstill, schaute bloß herum. Ob er etwa dichtete?« Zu lauschen gibt es nämlich »nicht sonderlich viel«: Alles rings verhielt sich tonkarg. Hin und wieder schrie nur etwa ein Fuchs. Wahrscheinlich würden wenige arm dastehen und aushalten, was er aushielt, der hier Verskunst trieb. […] Es freute ihn, dass er hier im Schweren wie in einem geistigen Feuer stand. Der Gedanke, daß alles Schöne und Gute schwierig sei, flößte ihm Trost ein. In der Nähe zitterte ein Blatt im Wind. Er nahm es in sein Gedicht auf; ebenso einen strubligen Baum; ebenso ein Häufchen Schnee, das in einem Graben lag, und ebenso sich selbst, der auch eines Tages am Boden lag, wie das Blatt und das bißchen Schnee.143
Im selben Text Das erste Gedicht heißt es: »›Weint jemand‹ fragte er. Es war ihm, als kehre jemand das Gesicht ab, um die Tränen zu verbergen. Er nahm nun auch das Gesicht, nebst den Bergspitzen, sowie alles Abhärmen der Welt in sein Gedicht auf, […].«144 Das Gedicht kann, wie eine auktoriale Erzählung, auch das abgewandte Gesicht, es kann verborgene Tränen ›sehen‹ und »nebst den Bergspitzen«, neben dem unbewegten Gebirge, aus dem etwas noch widerhallt, in sich aufnehmen. Und das gilt ebenso für »alles Abhärmen der Welt« – mit dem ein möglicherweise einsetzendes ›Abhärten‹ gegenüber der Welt wieder einmal gerade nicht geschrieben worden ist, mit dem aber geschrieben ist, dass die »Welt« selbst abgehärmt, ›abgearbeitet‹ wirkt. Im Text Die Knaben sucht die ›Krankheit‹, sucht das jugendliche Leiden an indefiniter Sehnsucht den Tod im Wald, in den Armen einer maternalen Gestalt. Der Prosatext, erschienen im Mai 1918, steht in einer Verbindung zu dem gleichnamigen Dramolett, das im Band mit dem Titel Komödie kurz darauf 1919 wieder aufgelegt werden wird. Dieses Dramolett war – durch Vermittlung von Franz Blei – bereits lange zuvor im »splendiden«145 Rahmen der Zeitschrift Die Insel zuerst erschienen. Der Prosatext Die Knaben deutet die eigene Vorgeschichte selbst an: »Als blut141 | SW 16/304. 142 | Vgl. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte, Bd. 1, S. 300. 143 | SW 16/252f. 144 | SW 16/253f. 145 | Vgl. Anm. zum Text München, in: SW 16/432.
V. S UBSTITUTION /T RANSPOSITION
junger Mensch, d.h. 1899, hatte ich im Sinn, die Schlacht bei Sempach zu dramatisieren.« Indem aber ein ungenannter Literat von dem Projekt abrät, das in Gestalt des Prosatextes Die Schlacht bei Sempach von Robert Walser in der Tat existiert, entsteht, wie es in Die Knaben heißt, »ein kleines Prosastück in Dialogform ›Die Knaben‹, das drei Jahre später von Wedekind, dem Dichter von ›Frühlings Erwachen‹, in der damaligen Münchner Zeitschrift ›Die Insel‹ veröffentlicht wurde.« Und: »In dem winzigen Stück treten sechs Personen, nämlich vier Knaben, eine Dame und eine Geistergestalt auf.« So die Rekapitulation des frühen Dramoletts, was die Arithmethik seiner Figuren betrifft. Im Prosastück Die Knaben, wie es im Mai 1918 erscheint, treten hingegen nun ebenfalls vier Knaben auf, doch darüber hinaus gibt es nur noch eine Geistergestalt, die möglicherweise mit der früheren »Dame« identisch ist, welche nun vom »Geist seiner Mutter« ersetzt ist – oder aber die Geistergestalt aus jenem früheren Text doubliert, Geist einer einstigen Geistergestalt ist. Die andern glaubten den Weg aus dem Jünglingszustand in die Männlichkeit dadurch beschritten zu haben, daß sie Soldaten werden. Ob sie richtig handeln, sei dem Leser zu beurteilen überlassen. Derlei Fragen sind ja heute auf den Lippen von uns allen. Ich für mich finde, daß es nachgerade weder auf Männlichkeit noch auf Weiblichkeit noch auf sonst etwas so stark ankomme wie auf etwas ganz Einfaches, nämlich sozusagen auf Menschlichkeit. Es sind wohl viele der Meinung, dass es unter Umständen für junge Leute einen schönern Lebensweg geben könnte als den militärischen; wobei niemand geschworener Gegner des Kriegshandwerks zu sein braucht. Es gilt als mißlich, auf irgend etwas zu schwören. Auch ich würde mich nie allzu eng an ein Bestimmtes anklammern.146
Wieder wird mit einer Erwartung gespielt; man erwartet gemäß staatlicher Doktrin zu lesen, dass es für junge Leute ›keinen schöneren Lebensweg‹ geben könne, als Soldat zu werden. Im Prosatext Die Knaben aber ist von anderer Bestimmung und einem ganz anderen Vermögen die Rede, das, wie Kurt Tucholsky in einem Das Felderlebnis überschriebenen Beitrag für die Weltbühne im Jahre 1922 konstatieren wird, im Nachkriegsdeutschland der Weimarer Republik nicht eben weit verbreitet war. Tucholsky schreibt: »der Schmerz ist fast vergessen«.147 In Robert Walsers Prosatext Die Knaben aber heißt es über den vierten Knaben, der »klein wie ein Hase« ist: »Er ist winzig und weiß es auch. Weinen ist sein Talent.«148
146 | SW 16/265f. 147 | Kurt Tucholsky: »Das Felderlebnis« [1922], in: ders.: Gesammelte Werke, hg. v. Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg 1972, Bd. 1, S. 1035-1040; zit.n. Hans-Harald Müller: Der Krieg und die Schriftsteller, S. 24. 148 | SW 16/264.
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VI. Zwischenreiche der Artikulation
Das Träumen, Phantasieren und Erwachen im Arm der Mutter, diese, wie Friedrich A. Kittler im Rekurs auf Novalis schreibt, »Urszene romantischer Texte«,1 ist im Text Das Grab der Mutter auf den Schauplatz des Friedhofes verschoben. Zu jenem »ins Mythische transponierten Auferstehungserlebnis in Tobolds ›märchenhafter‹ Vorgeschichte«2 in der weiter oben zitierten Passage aus dem Text Tobold (II) gibt es insofern eine Parallele. Der Friedhof, der im Text Hans auf den Grabsteinen jene »blassen, kaum noch leserlichen Inschriften«3 zeigt, kennt in Das Grab der Mutter dagegen zwei akustische Modi der Artikulation; so heißt es zunächst: »Es war alles so still. Kein Blatt bewegte sich, nichts regte und rührte sich. Es war, als lausche alles. Wie wenn das Grün die ringsverbreitete Feierlichkeit empfinde und über das uralte und immer wieder junge Rätsel vom Tod und vom Leben in ein langes und tiefes Sinnen versunken sei, hing es und lag es da in seiner feuchten, wunderbaren Schönheit.« Das Grün lauscht, es ist in »das uralte und immer wieder junge Rätsel vom Tod und vom Leben« versunken. Es spricht nicht etwa. Und doch hebt, und zwar buchstäblich mit einem Mal, eine andere Stille an, die keine mehr ist: Unendlich freundlich und lieblich hing das reiche Grün eines Akazienbaumes über ein Grab herab, bei dem ich stehen blieb. Es war das Grab meiner Mutter. Da schien alles nun zu flüstern und zu lispeln, zu reden und zu deuten. Das lebendige Bild der Lieben und der Verehrten stieg mit seinem Gesicht und mit des Gesichtes edlem Ausdruck sanft und schleierhaft hinauf aus des grünen, stillen Grabes unfassbarer Tiefe. Lange stand ich da. Doch nicht traurig. Auch ich und du, wir, wir alle kommen einst dahin, wo alles, alles still ist und beschlossen ist und alles aufhört und alles sich auflösen muß zu einem Schweigen.4
1 | Friedrich A. Kittler: »Das Phantom unseres Ichs«, S. 153, Anm. 63. 2 | Vgl. Anmerkung zum Text Tobold (II), in: SW 5/277f. 3 | SW 7/200. 4 | SW 4/168f.
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M IKROPOETIK
Aus dem Geflüster ersteht das »lebendige Bild« der Toten. Die Mikrophonetik des Hauchs, des Geflüsters usf., das heißt all jener Artikulationen, die nicht laut und ›voll‹ artikulierte Sprache sind, schlägt in der Schrift im Allgemeinen sprichwörtlich nicht zu Buche, es sei denn in Heinrich von Kleists Paragrammatismus,5 in dieser ›gestammelten Sprache‹, die Robert Walser kongenial beschrieben hat, oder aber in Robert Walsers Mikrogrammen, welche die metaphorische Rede vom Schweigen, Verstummen, einer leisen Rede, einem Geflüster, Gewisper, wie es in vielen Texten der Bieler Prosa semantisch wird, nahezulegen scheinen. Im Alt- und Mittelhochdeutschen ist es das Wort ›Rune‹, das als Schriftzeichen etymologisch auf das Raunen, auf das heimliche Geflüster, auf das Geheimnis hinweist.6
VI.1 »D ÜSTER , G EFLÜSTER UND D UNKEL« DER TOTEN Der Text Fusswanderung, der jenem Band Kleine Dichtungen zugehörig ist, der, 1914/15 aus dem Nukleus der Kleinen Sachen entwickelt, zur ersten Publikation nach Robert Walsers Rückkehr aus Berlin in die Schweiz geworden war, schreibt die immer wieder beschworene Sphäre der Dämmerung als triadische Reihung aus »Düster, Geflüster und Dunkel«.7 Das Düstere schreibt sich im Parallelismus des Buchstabenmaterials im »Geflüster« fort, was durch den Umlaut buchstäblich pointiert ist; es ist vom anachronistischen und mittlerweile ungebräuchlichen Nomen ›Düster‹ dabei durch das Komma getrennt. Im »Dunkel« aber, bei dem das Substantivische lediglich durch die Großschreibung festgelegt ist, fällt beides zusammen. Das »Geflüster«, das die transitorische Mitte bildet, weist, als Synonym, paradigmatisch, auf ein Dunkel, mit dem es sich durch die Kopula verbunden zeigt. Graphematisch hingegen ergeben sich andere Verhältnisse von Nähe und Distanz, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, als von der Semantik oder Syntax her besehen. Hier rücken nun das »Düster« und das »Geflüster« zusam5 | »Kleist hat die Möglichkeiten des Hyperbatons und der gefährdeten Satzkonstruktion wie kein zweiter ausgespielt«, schreibt Wolfram Groddeck in Reden über Rhetorik, S. 74. Robert Walser selbst wendet das Phänomen, was Kleists Dramen betrifft, im Text Weiteres zu Kleist, im Dezember 1936 in der Prager Presse, literarisch wie folgt: »Hauptsächlich lassen sie sich lesen, sie besitzen als sogenannte Buchdramen Wert. Für die Schauspieler sind die Kleiststücke quälend, indem Kleist seine Figuren alles das sprechen läßt, was die Schauspieler lieber lediglich spielen, darstellen, als mühsam aussprechen. Hiezu [sic!] kommt die ungeheure Formfeinheit, die komplizierte, barocke Schönheit der Kleistschen Ausdrucksweise […].« (SW 19/258.) Die »barocke Schönheit« weist, jenseits ›richtiger‹ Epochenbezeichnungen, auf eine Emblematik der Sprache, wie sie Walter Benjamin in Ursprung des deutschen Trauerspiels rekonstruieren wird. 6 | Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 14 (R-Schiefe), S. 1518. 7 | SW 4/23.
VI. Z WISCHENREICHE DER A RTIKULATION
men und es besteht zwischen dem »Geflüster« und dem »Dunkel«, insbesondere mit der Aufhebung des Umlauts zum ›u‹, mit dem Wegfall der Umlautpunkte, keine Assonanz und graphische Identität mehr. Und die Kopula verstärkt noch die räumliche Distanz zwischen den Worten »Geflüster« und »Dunkel«. Das Syntagma hat seinen Ausgang von einem »Düster« genommen, schreibt sich von einer Düsternis her fort, die auch in übertragenem Sinne als Verdunkelung aufzufassen wäre. Im Text Hans heißt es im Anschluss an die weiter oben zitierte Passage über die quasi-venezianische Nacht: »Stellen gab es da, wovon er sich nur mit Mühe loszureißen vermochte, weil sie wie zu immerwährendem Sitzen und Liegen einluden, damit hier der Wanderer und Erdenbewohner ununterbrochen schlummere. […] Nichts Dunkles mehr, nur bisweilen etwas Halbdunkles trat ihm vor das glückliche Herz. Von uneingeengter Seele nahmen Illusionen Besitz.«8 Das Halbdunkel des Illusionären ist Rettung aus dem Dunkel. Von der Synonymie zwischen ›düster‹ und ›dunkel‹ unterspannt, wird die Nominalisierung »Düster« im Text Fusswanderung am Ende auf eine Art von Düsternis verweisen, die nichts mit einem physikalischen Dunkel zu tun hat. Die melancholische Verdunkelung wird sich jedoch erst im Blick zurück auf den Satz entfaltet haben. Das »Geflüster« findet sich erst im Fortgang des Schreibens und der nachträglichen Konstitution von Bedeutung etabliert. Als das ›eigentliche‹ Ausgangslexem ist es, als ein Synonym der Schrift, dabei kryptiert – und als Metapher einer anderen Schrift zu lesen, denn es sind die Toten, die den Schlaf stören, Stimmungen kolonisieren, in der Phantasie umhergehen; es sind die Toten, die im Dunkeln flüstern.9 Das Geflüster, das im Text Das Grab der Mutter wie aus dem Grab aufsteigend anhebt, hat jedoch noch eine weitere Konnotation. Wie sich in der zweiten Fassung des Textes Das Theater, ein Traum (II) zeigt, die im Dezember 1918 in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint – die erste weiter oben bereits erwähnte Fassung entstammte noch der Berliner Produktion –, ist das Geflüster auch eines im Dunkel des Theaterauditoriums: ein Geflüster, das »verstummte, als das Schauspiel zu reden begann«.10 Dieses Geflüster ist von der erwartungsvoll geschürten Spannung akkordiert, die dem dramatischen Text gilt und die sich im Geflüster, das verstummt, wenn der ›Haupt- und Staatsakt‹ beginnt, Luft macht. Das Geflüster ist hier die akustische Marginalie der dramatischen Artikulation, der Illusionierung; und schon der Weg ins Theater, auf dieser »Straße mit den zahlreichen Menschen«, gleicht dabei einem »Gedicht«, lässt Bilder erstehen:
8 | SW 7/196. 9 | Vgl. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 149. 10 | SW 16/37.
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M IKROPOETIK Sommerlandschaft tauchte weich vor mir auf. Ich sah mich baden, bergsteigen, rudern, unter hübschem grünen Gebüsch liegen. Eine Tänzerin tanzte in der Nähe, Blumen standen im dichten Gras, frische Luft strich mir um den Kopf, und dabei machten mich die Stimmen der Vögel schwelgen wie in der großen Oper. Das war flüchtige Einbildung. Jetzt hatte ich das Schauspielhaus erreicht. Damen stiegen unter anmutigen Bewegungen aus Droschken und zierlichen Autos, was einem Gesellschaftsanlaß aus dem Zeitalter des Rokoko glich. Bald befand ich mich im Zuschauerraum. […] Schöne Augen schimmerten und Lichter blitzten. Da der Vorhang aufging, war alles mäuschenstill. […] Wie war nun tiefes Mitempfinden schön, tiefes Miterleben mit dichterischen Gestalten, das Mitleiden mit den leidenden, das Mitfreuen mit den fröhlichen Mienen, der Anblick der sprechenden Gebärden und das Verstehen der Sprache, die von seltsamen Lippen tönte. […] Würdevoll war’s mit dem Liebenden zu lieben, den Kuß mitzuspüren. Wie ein Wanderer zog eigenes Erlebtes durch das Leben im Drama. Ganz gebannt vom Andern, ergriffen vom Gespielten, hingerissen vom Dargestellten, trüge es mich über vieles Wirkliche, was ich allzu ernst nahm und scharf ansah, groß und frei hinaus […]. Wer ist sich nicht selbst dann und wann schwer gefallen und hat sich gequält, weil ihn sein kleines Eigenes allzu eng umstrickte, aus dem er sich in ein Helleres, Weitherzigeres sehnte? Darum lobe ich das Theater. Die Phantasie erlöst uns, und der Traum ist unser Befreier.11
Nicht nur hier, in Das Theater, ein Traum (II), wird deutlich, dass der Traum bei Robert Walser immer auch der des Theaters ist. Zugleich heißt es aber, dass dieses Theater über »vieles Wirkliche« trüge, und das heißt einerseits und konjunktivisch, dass es über etwas hinwegtragen, hinweghelfen könnte. Im Wortmaterial enthalten ist aber auch, dass der Illusionsraum über das Wirkliche trügt. Im Raum des Textes Das Theater, ein Traum (II) setzt dabei eine theatrale Katharsis ein, die vom Topos des Wanderers, vom Protagonisten der Bieler Prosa überformt und in Bewegung gebracht scheint: »Wie ein Wanderer zog eigenes Erlebtes durch das Leben im Drama.« Die Figur des Wanderers geht in einem Bild umher, das, wie im Theater auch, gegenüber der Wirklichkeit verkleinert oder verschoben erscheint – oder aber beides zugleich. Und es ist von einer Sprache die Rede, die »von seltsamen Lippen tönt«, von Lippen, die vielleicht gar keine sind; gleich darauf heißt es nun im Text: »Ich hatte den Eindruck, als sei jeder Spieler einsam in fremdartiger Ebene, wo Gewaltsamkeiten hausen. Dann schien er mir wieder bekannt und vertraut wie der nächstbeste schlichte Mensch. Doch kam ich aus dem Traum nie ganz heraus; er blieb, und alles, was vorging, besaß Stimme und Linie von ihm.«12 Wo Menschen sich »einsam in fremdartiger Ebene, wo Gewaltsamkeiten hausen«, begegnen, scheint es sich eher 11 | SW 16/37f. 12 | SW 16/37.
VI. Z WISCHENREICHE DER A RTIKULATION
um das Traumatische einer Kriegsszenerie zu handeln als um einen harmlosen Traum, scheint der »Traum« eher einem Albtraum zu gleichen. Und der Widerspruch reicht noch weiter: »Stimme und Linie« sind das, was dem nächtlichen Traum in seiner schemenhaften Undeutlichkeit und seiner auf die Schauplätze der Bildlichkeit verlagerten Sprache gerade fehlt. Und so heißt es in Robert Walsers Text Pauli und Fluri auch: »Stimme und Zunge waren mir wie abgestorben, ich brachte kein Wort hervor.«13
VI.2 »S TIMME UND L INIE « DES TR AUMS Die »Linie« im Text Robert Walsers Das Theater, ein Traum (II), die nicht dem Traum selbst anzugehören scheint, führt vielmehr auf eine andere literarische Stimme: In Friedrich Schillers Gedicht Elegie, das parallel zur Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung14 im Jahre 1795 entstanden und in den Horen abgedruckt worden war, hatte es geheißen: »Körper und Stimme leyht dem stummen Gedanken die Presse,/Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt.« Und in einer umgearbeiteten Fassung dann: »Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken,/Durch der Jahrhunderte Strom trägt ihn das redende Blatt.« Die Fassung letzter Hand trägt dabei dem in Schillers Korrespondenz formulierten eigenen Anspruch an eine poetische »Bewegung« vor allem in einem revidierten Titel Rechnung; und dieser lautet: Der Spaziergang.15 Friedrich Schillers Gedicht Der Spaziergang beginnt in der schönsten Idylle, doch schon bald schlägt einem der »Wind« der Geschichte entgegen, der den Menschen auf seiner Wanderung durch die Jahrhunderte treibt. Historischer Fortschritt schlägt in Zerstörung um; »der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit gerät zum Verhängnis«, wie Florian Schneider schreibt. Es »wird die grundsätzliche Ambivalenz der ›Freiheit‹ im Denken Schillers offenbar, die als Befreiung von natürlichen Zwängen konzipiert ist, den Menschen aber mit den ›Fesseln der Furcht‹ zugleich auch ›lüstern‹ die Bindung an die ›heilge Natur‹ zerreißen läßt«. Denn die Entfernung von der Natur entfesselt auch die Begierden: »Die menschliche Begierde wird ›wild‹ und gänzlich ›zügellos‹ 13 | SW 16/177. 14 | Friedrich Schiller markiert in seiner Abhandlung nicht Gattungsgrenzen, sondern legt Wert auf die Feststellung, dass mit seinen Begriffen lediglich die in verschiedenen Dichtungsarten herrschende ›Empfindungsweise‹ charakterisiert werden sollte. Von der Elegie im engeren Sinne heißt es, dass in ihr die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer sei. Das heitere Komplement hierzu bildet dann die Idylle. 15 | Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe [Elegie in Bd. 1, hg. v. Julius Petersen und Friedrich Beißner, Weimar 1943, S. 260-266; Der Spaziergang in Bd. 2.1, hg. v. Norbert Oellers, Weimar 1983, S. 308-314].
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und der Wind der Geschichte zum ›Sturm‹, der dem Menschen endgültig den festen Boden unter den Füßen entzieht: Der ›warnende Anker‹ reißt und der ›flutende Strom‹ trägt den Menschen ins ›Unendliche‹. Unversehens finden sich die Insassen von Klopstocks Kahn ›hoch auf der Fluten Gebirg‹ wieder, in einem Gefährt, das ohne feste Verankerung steuerlos dem Unendlichen zutreibt. Subvertiert durch die schriftliche Ersetzung der in Körper und Stimme präsenten Natur, hat auch die Sprache in der Aufhebung der ursprünglichen idyllischen Einheit jeden festen Bezugspunkt verloren.«16 Und so lautet ein Vers in Schillers Gedicht denn auch, paradox: »Kaum gibt wahres Gefühl noch durch Verstummen sich kund.« Wo aber in Schillers Der Spaziergang noch »das redende Blatt« den »stummen Gedanken« gleich einem Nachen durch den reißenden »Strom« der Zeiten trägt und die Schrift ihm »Körper und Stimme« leiht, ist in Robert Walsers Das Theater, ein Traum (II) alles in ein Schauspiel abgerückt, in dem »jeder Spieler einsam in fremdartiger Ebene, wo Gewaltsamkeiten hausen«, zu existieren scheint. Von einem Albtraum, aus dem nie mehr ganz aufzuwachen ist, bezieht nun alles seine »Stimme« und – anders als bei Schiller – nicht etwa mehr einen »Körper«, sondern lediglich noch die »Linie«. Schrift ist nicht etwa Rettung, sie ist selbst gezeichnet – in und von dem, »was vorging«. Auch das »Zeichnen von Buchstaben«17, von dem in Robert Walsers Text Der junge Dichter – erstmals veröffentlicht im August 1918 – die Rede ist, hat demnach »Stimme und Linie« von einer besonderen Theatralität, welche die des Traums/Albtraums ist, von einem Zeichensystem, welches die Traumgedanken zu einem Rebus verschlüsselt, zu einem Rätsel, das niemals ohne Rest aufzulösen sein wird, weil der Ariadne-Faden der Ausdeutung immerzu an verschiedene Orte, zu unterschiedlichen Schlüssen führt, was auch für die Erinnerungen gilt, die im Text Fusswanderung, bereits 1913 veröffentlicht, noch schlummern: »Das Sehnen und Suchen, das Niebefriedigtsein und der Durst nach Schönheit trieben ihn vorwärts, und hinter, weit hinter ihm schlummerten die bilderreichen Erinnerungen.«18 Die Erinnerungen drängen nicht von irgendwoher an, sondern sie existieren, merkwürdig genug, außerhalb dessen, was sich einer autobiographisch motivierten Erzählung noch erschließt oder erschließen kann. Der »Schlummer«, der in Robert Walsers Dramolett Dornröschen hundertjäh-
16 | Florian Schneider: Im Brennpunkt der Schrift, S. 146ff., S. 149f. Dass »der in der Landschaft hausende imperiale Geist des Deutschen Reiches ebenso ein literarisch-skripturales Phantasma ist, wie die Frau alias Mutter Natur, und daß mithin beide den durchaus patriarchalen Federn männlicher deutscher Schriftsteller entflossen sind, ist Schillers Blick entgangen«, schreibt Florian Schneider mit Bezug auf Friedrich Schillers Gedicht Der Spaziergang weiter. Ebd., S. 154. 17 | SW16/214. 18 | SW 4/22f.
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rig und »gewiß keine Kleinigkeit«19 ist, wie es im gleichnamigen Prosatext heißt, bezieht seine Positivität aus der Grimmschen Märchenliteratur. Auch im Text Fusswanderung, der naturgemäß schon im Titel einen Vortext zu den beiden Versionen der Texte Spaziergang und Der Spaziergang bildet, sind die Erinnerungen bilderreich, gleich solchen Eltern, die kinderreich sind. Die Erinnerungen selbst scheinen dennoch keine Symbolisierungen zu sein; sie imprimieren sich vielmehr nur, immer weiter. Woher rührt nun aber das »Sehnen und Suchen«? Was treibt voran? Im Text Fusswanderung von 1913 verbindet sich das Bilderreich/e mit der Vergangenheit, wohingegen die Töne der Zukunft gehören, in die sich der Text fortgesetzt zeigt: Das Sehnen und Suchen, das Niebefriedigtsein und der Durst nach Schönheit trieben ihn vorwärts, und hinter, weit hinter ihm schlummerten die bilderreichen Erinnerungen. Was hinter ihm lag, ging ihm durch den Wanderkopf, und was Unbekanntes vor ihm lag, zog wie Musik durch seine begierige Seele. Die Sonne brannte, und der Himmel war blau, und der blaue weite große Himmel schien sich immer mehr auszudehnen, als werde, was groß sei, immer größer, und was schön sei, immer schöner, und was unaussprechlich sei, immer unermesslicher, unendlicher und unaussprechlicher. 20
Der Himmel weist nicht nur über die Himmelskörper hinaus, sondern über Anfang und Ende in eine delinearisierte Zeit hinaus, die durch diese Figur der Entgrenzung bestimmt ist. Der Komparativ »unaussprechlicher« ist, wo »immer« noch Unaussprechlicheres ist, das Unmaß gleichsam perenniert, dabei im wahrsten Sinne des Wortes nicht angemessen. Wodurch sind Raum und Zeit noch bestimmt? Der Text thematisiert hier selbst die Metonymie als den per se kaum eingeschränkten Horizont einer Trope, einen Horizont, der die Grenzen des Nachbarschaftsbezuges immer weiter verschiebt: Darin wird, »was unaussprechlich sei, immer unermesslicher, unendlicher und unaussprechlicher«. Gleichzeitig gibt sich in der ebenso anaphorischen wie komparativen Rhetorik – aus »unaussprechlich« wird »unaussprechlicher« – eine Fixierung zu erkennen, die sich gerade nicht präzise semantisieren lässt. Der ›blinde‹ Fleck, das Unaussprechliche, das paradox eben doch ausgesprochen wird, ist dadurch in seinem Wirkkreis nur erweitert – was mit der gesteigerten adverbialen Form im Fortgang des Textes angezeigt ist: Je mehr ›gesprochen‹ worden sein wird, je länger die Narration Raum gewonnen haben wird, desto größer wird das Unaussprechliche. Es weitet sich in eine Überbordetheit des Textes in den Epitheta aus, in denen sich der Verlust an Prägnanz zu einer dezidierten Unschärfe weitet. Und die Rhetorik, die auf dieser Unschärfe insistiert, wird schier amorph, alles »immer unermesslicher, unendlicher und unausprechlicher«. 19 | SW 6/18. 20 | SW 4/22f.
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Das Unendliche, zu dem das Firmament der Erzählung sich ausdehnt, in einer Zitation des unaufhörlichen Potenzierens der von Friedrich Schlegel formulierten Universalpoesie im Roman Lucinde,21 korreliert mit einem drohenden Verlust des Ausdrucksvermögens, der Darstellbarkeit. Es korreliert mit etwas nicht Artikulierbarem, das an einem anderen Ort, in einem anderen Text Robert Walsers, in Tobold (II), signifikant mit demselben Wort, dem Unendlichen nämlich, wiederbegegnet – und zwar in einer »unendlichen Trauer, darüber, daß ich zu nichts Hohem in der Welt taugen sollte«.22
VI.3 D ISSOZIATION VON B ILD UND TON : F R AUENBILDER UND - TÖNE Zum Wesen der Latenz gehört es, dass die Erinnerung sich in Bildern imprimiert, die indes erst ›entbunden‹ sind, wenn Vorbilder durch einen vergleichsweise einfachen Vorgang, wie den der von den Eltern her vertrauten Nutritivität, aktualisiert sind. Und so wird Robert Walser in einem Brief vom Januar 1924 auch schreiben: Gegenwärtig liest man im Emmenthalerblatt eine Geschichte von Jeremias Gotthelf: Betrachtungen vom Wandergesellen Jakob, und die sind so schön zu lesen, als äße man knusprigen Braten. Gotthelf’s Sätze schmecken wie nach Fleisch: hat man sie gelesen, so hat man sich förmlich dran ersättigt, von einem spielend-reichen gesunden Geist sind sie schauspielhaft hingeworfen. Wenn andern Schriftstellern beim Schreiben sozusagen die Rede abstirbt, blüht sie bei ihm und wird zur Frucht, und aus dem Gedruckten hervor schaut uns des Schreibers Gesicht an; man liest ihn nicht nur sondern hört und sieht ihn, und das will ungemein viel sagen in einer Zeit, wo die Autoren bloß noch dartun, daß sie »schreiben« können d.h. die 21 | Friedrich Schlegels Roman Lucinde endet: »Alte wohlbekannte Gefühle tönen aus der Tiefe der Vergangenheit und Zukunft. Leise nur berühren sie den lauschenden Geist und schnell verlieren sie sich wieder in den Hintergrund verstummter Musik und dunkler Liebe. Alles liebt und lebt, klaget und freut sich in schöner Verwirrung. […] Welche Seele solche Träume schlummert, die träumt sie ewig fort, auch wenn sie erwacht ist. […] Nun versteht die Seele die Klage […] und was auf Blumen wie an Sternen sich in geheimer Bilderschrift bedeutsam offenbart, versteht sie; den heiligen Sinn des Lebens wie die schöne Sprache der Natur. Alle Dinge reden zu ihr und überall sieht sie den lieblichen Geist durch die zarte Hülle. […] Dazwischen ew’ger Gesang, von dem sie nur dann und wann einzelne Worte vernimmt, welche noch höhere Wunder verraten lassen./Immer schöner umgibt sie der Zauberkreis. Sie kann ihn nie verlassen und was sie bildet oder spricht, lautet wie eine wunderbare Romanze von den schönen Geheimnissen der Götterwelt, begleitet von einer bezaubernden Musik der Gefühle und geschmückt mit den bedeutendsten Blüten des lieblichen Lebens.« Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 5, S. 81f. 22 | SW 5/225.
VI. Z WISCHENREICHE DER A RTIKULATION Schreibtechnik beherrschen, was oft wenig genug fruchtet. Da kann einer z.B. sein neues Werk »Das Wunderbare« betiteln, aber es ist dann noch nicht gesagt, daß die Leser davon was schmecken. Wunderbar mutet mich der Gotthelf fast in jedem beliebigen Spruch und Satz an, es mag ihm aus dem Mund fallen was ihm will. 23
Die Sätze sind das, was dem Lesenden aus Jeremias Gotthelfs Buch Jakobs Des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz wie als märchenhaft gebratene Taube in den Mund fliegt – aus einem derart ›schmackhaften‹ »Emmenthalerblatt« heraus. Die Sätze, die wie Bilder nähren, die Augennahrung sind, gleichen dabei jenen Spruchbändern, die den Bildfiguren in mittelalterlichen Darstellungen buchstäblich aus dem Mund fallen, um die Bildbotschaften auch sprachlich und damit vermeintlich eindeutiger übermitteln zu können. Diese Art Spruchbänder konkretisieren – im Bild – das Abstrakte. Als Drittes neben diesen beiden überschreitenden Bewegungen erscheint in Robert Walsers Brieftext jedoch noch etwas anderes. Die Schriftzeichen selbst haben eine Physiognomie: »aus dem Gedruckten hervor schaut uns des Schreibers Gesicht an«. Und es ist besonders bemerkenswert, dass dieses Gesicht noch aus dem Druckbild hervorscheint, dass die Physiognomik der Schrift sich nicht etwa, wie in den Auffassungen der Graphologie, auf die Handschrift als die an der sichtbaren Faktur erscheinende Spur der Leiblichkeit24 – und vermeintlich der Seele oder des ›Charakters‹ – bezieht. Vielmehr geht es gerade um die allgemeinverbindliche Gestalt der Buchstaben, die diesen singulären, anheimelnden Eindruck macht. Wie in einem Gesicht geht in der gedruckten Schrift beständig etwas in seine eigene Existenz über, und gerade dieses Erscheinen, das eine Emergenz für den Leser und in gewissem Sinne nur für den Leser Robert Walser ist, und das im Gelesenwerden der Schrift entsteht, bildet erst das bewunderte, wunderbare Gesicht der Schrift Gotthelfs aus.25 Das Wunderbare, als Widerschein und Manifestation einer anderen Welt und Ordnung, hat Gotthelf selbst dabei in einer im Jahre 1851 erschienenen Novelle mit dem Titel Das Erdbeeri-Mareili illuminiert, die sich in Robert Walsers Text Hans als Lieblingslektüre des Protagonisten26 und im späten Text Die Zofe von 1931/32 in einer Nacherzählung findet, was dort in einem Satz kulminiert, der zwar dem Dichter Gotthelf gilt, der aber auch für Robert Walser selbst Geltung haben kann: »Mit wenig Stoff, Vorwand oder Beweggrund kommt einer aus, der viel zu sagen hat.«27 In der Erzählung Gotthelfs erblickt ein Mädchen, genannt ErdbeeriMareili, eben aus einem Traum erwacht, im Wald eine Gestalt – die »mit weißen Kleidern angetan« ist – und ist überzeugt, darin einen Engel vor sich 23 | Brief an Frieda Mermet vom Januar 1924, in: Br, S. 210f. 24 | Vgl. Peter Fuchs: Die Umschrift, S. 105. 25 | Vgl. Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, S. 24. 26 | Vgl. SW 7/175. 27 | SW 20/402.
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zu haben: »wie schöne Sterne glänzten seine Augen«.28 Jahre später erst wird sich aufklären, dass es sich um das Schlossfräulein gehandelt hatte, dem das Erdbeeri-Mareili einst begegnet war. Engelsgleich ist jedoch nun, in einer Wiederbegegnung der beiden Frauen – die durch den Namen bzw. die gesellschaftliche Stellung im Text gleichermaßen mit dem grammatischen Neutrum bezeichnet sind – der Einfluss und das Gebaren des Schlossfräuleins, das, wie es im Text heißt, eine »weiche Stimme«29 hat. Diese »weiche Stimme« wirkt nun auf das Leben des Erdbeeri-Mareili ein, das als Bedienstete ins Schloss einzieht und dabei allerdings auch den Launen der geliebten Herrin ausgesetzt ist, die selbst vom Korsett ungeschriebener Familiengesetze eingeschnürt ist: »Familienmitglieder, besonders weibliche, welche ihre Gefühle nicht immer in dieser konventionellen Hausschranke bergen können, werden beständig mit einer Art von Ängstlichkeit betrachtet, mit bedenklichem Achselzucken wird verblümt von ihnen gesprochen, als ob man sagen wollte, man kann nicht wissen, was Tüfels die noch anstellt./Es ist aber eine gleichsam heillose Methode, daß alle Glieder einer Familie die gleiche Schnürbrust tragen sollen, und zwar gar zuweilen noch durch verschiedene Geschlechter hindurch, daß dieser Schnürleib gleichsam die Familien-Zwangsjacke sein soll für alle höheren menschlichen und religiösen Gefühle.«30 Mit der Zeit jedoch kommen die beiden Frauen sich nah, und: »Wenn sie zusammen saßen in vielen einsamen Abendstunden, so waren sie ähnlich zwei Nonnen, welche die Welt hinter sich gelassen und über der Welt zu Schwestern geworden waren.«31 Und so ist im Erdbeeri-Mareili das Wunder der Engelserscheinung zwar geklärt, aufgeklärt, rationalisiert, was auch bedeutet, dass es in die Schranken der gesellschaftlichen Klassen zurückverwiesen ist, denn die beiden Frauen sind lediglich »über der Welt zu Schwestern geworden«, doch gibt es eben noch die Sphäre des Imaginären. Das wunderbare Wirken der Vorbotin (ihrer selbst) hat sich in der Wiederbegegnung des Erdbeeri-Mareili mit dem einst für einen Engel gehaltenen Schlossfräulein eben doch entfaltet. Und nicht erst im Tode der Dienstherrin und Freundin, die von Gott – durch einen Engel – aus dem Leben abberufen wird, sondern bereits im Leben dieser weichen Stimme, sind beide zu Geschwistern geworden. Gotthelfs Erzählung ist Parabel der Relevanz des Imaginären, jedoch nicht nur in der Nachträglichkeit der Wiederbegegnung der beiden Frauen, sondern auch in der vorangegangenen Antizipation dieser Begegnung. Denn das Schlossfräulein ist nicht nur Vorbotin ihrer selbst, sondern Wiedergängerin noch ganz anderer Engel. Das Motiv des Engels reicht bis in die Kindheit des Erdbeeri-Mareili zurück, die getreu einer konventionellen Erzähllogik vorangehend er28 | Jeremias Gotthelf [d.i. Albert Bitzius]: Das Erdbeeri-Mareili [1851], Leipzig o.J. [1924], S. 31. 29 | Ebd., S. 43. 30 | Ebd., S. 57f. 31 | Ebd., S. 61f.
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zählt worden ist, und hier heißt es über das Kind: »Mareili lebte ein seltsam Leben, bald im Himmel, bald auf Erden, beide waren eins und eng verflochten ineinander.« Das Leben zwischen zwei Sphären, dieses doppelte Leben erklärt sich dabei aus einem traurigen Umstand: »Da war ein großer Schmerz in der Hütte, Mutter und Mareili konnten ihm kaum verwinden; zuweilen hörte man ein leises Weinen, sonst war es stille bei ihnen wie im Grabe.« Die Stille, die aus dem Grab der beiden toten Geschwisterkinder entweicht, ragt in die Stube der Lebenden. Mareili aber hält Zwiesprache mit der toten Schwester, dem toten Bruder, wünscht sich, dass beide zu ihm zurückkämen, wenn es oben im Wald allein sei, dass dort dann Schwester und Bruder säßen: als »zwei weiße Engelein«. Und allabendlich gibt Mareili diesen »seinen Träumen Worte«; das Kind beginnt leise zu reden von diesen Engeln, was ihm die Mutter verwehrt, »denn sie hielt solche Reden für Vorboten des nahen Todes. Kinder, die viel von Engeln sprächen, würden bald auch solche«. Doch: »Die Mutter konnte Mareili wohl das Reden wehren, aber nicht das Denken. Die Bilder der Seele gestalteten sich um so lebendiger, es gestaltete sich in ihm ein fast zusammenhängend Leben mit den Gestorbenen, lange, lange Gespräche führte es mit ihnen.«32 Der Traum, dem das Mädchen Erdbeeri-Mareili Worte gibt, ist Bindeglied zwischen den Toten und den Lebenden und, wie in Robert Walsers Bieler Prosa, bei Gotthelf wiederkehrender Topos. Der Traum ist die Erscheinung, die »am unmittelbarsten und am deutlichsten vom innern Leben spricht«.33 Gotthelfs Erzählung Das Erdbeeri-Mareili konfiguriert die den Träumen gegebenen Worte, erschafft »ein fast zusammenhängend Leben mit den Gestorbenen«, ein Kontinuum der Lebenden und der Toten – in jenem »langen, langen« Gespräch, das mittels der Literatur geführt wird. Auch in Robert Walsers oben zitiertem Tagebuch-Fragment wird es heißen: »Dieser Brief stellt übrigens keineswegs ein photographisch treu abgebildetes Stück Wirklichkeit dar, sondern er beruht zum Teil auf einer immerhin vielleicht ganz hübschen Eingebildetheit. Ich meine, es gehöre zur Vervollständigung dessen, was wirklich ist, daß man sich hie und da etwas einreden oder einbilden dürfe, mit anderen Worten, unsere Einbildungen sind genau so wirklich, wie es unsere sonstigen Wirklichkeiten sind. Das Gefühl ist nicht minder Wirklichkeit wie der Verstand. Dies dürfte mit geradezu phänomenaler Raschheit einleuchten. Natürlich bin ich auch des Glaubens, daß es in höchstem Grad nützlich sei, wenn man Einbildungen bekämpft, doch neige ich zur Ansicht, daß man es mit diesem Kampf nicht i-tüpfchenhaft genau zu nehmen braucht. Übrigens ist es für mich unab32 | Ebd., S. 24f. 33 | Marianne Baumann: Der Traum im Werk von Jeremias Gotthelf, Bern 1945, S. 110. Die Differenz gegenüber der Romantik liegt bei Gotthelf, nach Baumann, jedoch darin, dass der Traum dem Tagleben, als der Welt des Sichtbaren, Aufschluss über das Unsichtbare, schwer Zugängliche und Verborgene gibt, dass also der Primat, anders als später im Surrealismus, noch immer dem Bewusstsein zukommt.
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weisbar, mir zu gestehen, daß es durchaus kein großes Erlebnis ist, worin ich mich mit allen diesen Zeilen abspiegle, was vielleicht für die Literatur oder für die menschliche Allgemeinheit nicht von großer Bedeutung sein wird.«34 Mit untrüglicher Evidenz leuchtet das trügerische, aber auch das tragende Moment, das in den Einbildungen liegt, ein. Und auch im Text Abendspaziergang von 1915 findet sich das Imaginäre plastisch wieder: »Das Wesentliche und Wirkliche verschwand, um traumhaften und geisterhaften Dingen Platz zu machen. Das Eingebildete trat deutlich hervor, mit großer, lebendiger Geste, ging als Gestalt herum, während die festen Gegenstände zergehen zu wollen schienen.«35 Die Sinnbildung durch eine Differenz von Gegenstand und Schemen weicht der Dämmerung als einem Rest des Tageslichts und der Latenz einer Nacht, weicht einem Zwischen34 | SW 18/107. In Bezug auf das Tagebuch-Fragment von 1926 schreibt Martin Jürgens in Die Krise der Darstellbarkeit, S. 103: »Der Antagonismus von ästhetischem Prinzip und Wirklichkeitsprinzip, die Unmöglichkeit, die darzustellende Realität und die Realität der Darstellung zur Deckung zu bringen, werden dem schreibenden Ich zur Krise der Darstellbarkeit schlechthin. Diese Krise ist nicht Gegenstand der Darstellung, sondern sie ist als das den Text konstituierende Moment sein nicht intendierter Inhalt.« Das Wirklichkeitsprinzip mache sich, so Jürgens, im Tagebuch-Fragment – wie im Theodor-Fragment – immer wieder »als normative Kraft geltend, die dem schreibenden Ich als unabweisbare Forderung begegnet« (ebd., S. 101). Jürgens selbst zitiert jedoch die Einrede in Robert Walsers Text: »daß anscheinende Unwirklichkeit für mich inhaltreicher, d.h. wirklicher sei als die sogenannte, vielgerühmte und -gepriesene, tatsächlich vorhandene Wirklichkeit.« (SW 18/102.) Und diese Auffassung wird in der letzten Eintragung des fiktionalen Tagebuchs noch einmal ausdrücklich bekräftigt: »Ich meine, es gehöre zur Vervollständigung dessen, was wirklich ist, daß man sich hier und da etwas einreden oder einbilden dürfe, mit andern Worten, unsere Einbildungen sind genau so wirklich, wie es unsere sonstigen Wirklichkeiten sind.« (SW 18/107.) Dass »die Spannung zwischen Anpassung und Selbstbehauptung für den Künstler als Außenseiter die Tendenz hat, sich zur Krise der Darstellbarkeit zu verschärfen, ist die Erfahrung, die das Tagebuch als ›Ichbuch‹ dokumentiert«, schreibt Jürgens weiter (ebd., S. 107). Robert Walsers Text insistiert dagegen auf »Unwirklichkeit«. Anders gesagt: Er insistiert auf dem Horizont des Utopischen – der weit über den der Absetzbarkeit der eigenen Texte hinausgeht. Für Jürgens zeigt sich Robert Walsers »sprachliches Verhalten, in dessen Perspektive die Wirklichkeit nur noch unter dem Aspekt ihrer Potentialiät greifbar erscheint« (ebd., S. 115), zeigen sich die »bewußte Destruktion des erzählerischen Kontinuums« (ebd., S. 125) und »der damit implizierte Zweifel an der Literatur als einem Organon von Mimesis« (ebd., S. 43) bereits im vermutlich ersten Gedicht Robert Walsers, Ein Landschäftchen, in dem Jürgens auch das Gestaltungsmittel des Parallelismus ausmacht. Der Parallelismus aber demonstriere »nicht nur den Verlust einer problemlosen, auf eine naturhafte Ganzheit bezogenen Augenvertrautheit, sondern darüber hinaus die Erschütterung eines festen Sinn-, ja sogar eines sinnlichen Zusammenhangs« (ebd., S. 11). 35 | SW 16/20.
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reich, das die manichäische Opposition von Licht und Dunkel aufhebt, die als Metaphorik bekanntlich für die abendländische Aufklärung und ihre Dialektik zentral ist. Die »Vernunft der vernünftigen Gesellschaft« ist auch für Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der während ihrer Emigration aus Nazi-Deutschland entstandenen Arbeit Die Dialektik der Aufklärung obsolet; ihre »Notwendigkeit ist Schein« und: »Solchen Schein, in dem die restlos aufgeklärte Menschheit sich verliert, vermag das Denken nicht aufzulösen, das als Organ der Herrschaft zwischen Befehl und Gehorsam zu wählen hat. Ohne sich der Verstrickung, in der es in der Vorgeschichte befangen bleibt, entwinden zu können, reicht es jedoch hin, die Logik des Entweder-Oder, Konsequenz und Antinomie, mit der es von Natur radikal sich emanzipierte, als diese Natur, unversöhnt und sich selbst entfremdet, wiederzuerkennen.«36 Und an anderer Stelle heißt es: »Der Schein hat sich so konzentriert, daß ihn zu durchschauen objektiv den Charakter der Halluzination gewinnt.«37 Um diese luzide Halluzination geht es. Und während sich die Gegenstände in Robert Walsers Text Abendspaziergang in der Tat nur zu dekonstituieren scheinen, bildet sich eine »zweite Welt« aus. Die Landschaft als das vor den Augen stehende Bild und der Traum als das im Text Der Kuss (I) vor den »zweiten und anderen Augen«38 stehende Bild scheinen in der Dämmerung in eins zu fallen: in eine Welt, die im Licht des Tages und der Semantik unbeobachtbar ist, in eine Welt, in der es auch im Abendspaziergang keine Entität gibt, die nicht vom Anderen affiziert wäre. Und durch diese geisterhafte »zweite Welt« ist nun auch die Irreversibilität der Zeit anders beleuchtet. Was vergangen ist, kann wiederkehren – und die Gegenwart ambiguisieren. Aus der Darstellung tritt, und zwar so deutlich, wie es angesichts sprichwörtlicher Vernebelung durch das Klischee noch möglich ist, der Eintrag der deutschen Romantik hervor. Das »Eingebildete«, in dem nahezu ›unhörbar‹ auch ein Ressentiment gegen einen wie immer gearteten Dünkel mitschwingt, geht jedoch »als Gestalt herum« – zur Sichtbarkeit entstellt. Zugleich schwindet das Sichtbare als solches; die Gegenstände scheinen »zergehen zu wollen«. Die Realität schwindet jedoch nicht ohne Realitätsprüfung, denn nicht zuletzt das als wesentlich und wirklich Reflektierte ist das, was sich im Text zu verlieren scheint; was hingegen einer Halluzination zugrundeläge, wäre die Verwechslung von beidem, die als Wahrnehmung verkannte Vorstellung.39 Zeichentheoretisch gesprochen, 36 | Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 45. 37 | Ebd., S. 214. 38 | SW 4/25. 39 | In Eugen Bleulers psychiatrischer Definition sind Halluzinationen »als Wahrnehmungen verkannte Vorstellungen«; zit.n. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 78. Wenn der Traum oder die Halluzination erst einmal bestehen, greift die Realitätsprüfung nicht mehr; gerade dort, wo ihre differenzierende Kraft am wichtigsten wäre, ist diese Art Prüfung, die eine ›innere‹ Realität begründet, die sie von der ›äußeren‹ Realität abhebt, nicht wirksam. Im Text Die Verneinung (1925)
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verlieren die »festen Gegenstände« als Referenten ihre Kontur, während die Vorstellungsbilder Gestalt annehmen. Und während die Signifikate »mit großer, lebendiger Geste umhergehen«, sind die Signifikanten ihrerseits in den »traumhaften und geisterhaften Dingen« zu sehen, aus denen das Imaginäre jedoch eminent »deutlich« hervortritt. Das Eingebildete nimmt Gestalt an; und in der Tat erscheint uns als Lesenden das Vorstellungsbild ja in Gestalt seiner notationellen Ikonizität – als Text, mit Buchstaben. – In den Mikrogrammen jedoch erscheinen die Buchstaben wie aus einem Nebel. Auch der Text Abendspaziergang, im April 1915 als Zeitungsabdruck im Verbund mit dem Text Die Kneipe in der Vossischen Zeitung erschienen, figuriert so »Dornröschenschlummer« als metaphorische Substitution einer »Abendmusik«; dem Märchen entsteigt dabei ein Mädchen: »Um auf die kleine, zarte Abendmusik von dem Mädchen zurückzukommen, das da im Zimmer spielt, so klang es wie Dornröschenschlummer und wie Sehnen nach lebendigem, beglückendem Erwachen, als solle ein lieber kühner starker Ritter durch die Dornen, Hemmungen und Hindernisse bis zu ihr herdringen, um sie aus der Verzauberung zu befreien.«40 Ob diese Art »Abendmusik« sediert und ob sie weiblicher Gesang ist, wie der zuvor im Text diskret angespielte »Ton einer schüchternen Mädchenmusik« vermuten lässt, der die anwesende Stimme bezeichnen würde, oder ob es sich vielmehr um das Spiel auf einem Instrument handelt, etwa auch dem der Schrift, von dem die Töne herrühren, bleibt buchstäblich im Dunkel. Aus einem stillen, abseits gelegenen Fenster schaute mich ein blasses zartes Frauengesicht mit eigentümlich fragenden Augen an, so still, so unbeweglich, als sei sie bloß ein Bild, die da hinter verschlossenem bleichen Fenster saß und in das Gäßchen schaute, wo nur ganz wenige Leute gingen. Das Wesentliche und Wirkliche verschwand, um traumhaften und geisterhaften Dingen Platz zu machen. Das Eingebildete trat deutlich hervor, mit großer, lebendiger Geste, ging als Gestalt herum, während die festen Gegenstände zergehen zu wollen schienen. Aus einem andern Haus, das nahe stand, drang der Ton einer schüchternen Mädchenmusik an meine Ohren, die überall hin lauschten, da ich wie die Aufmerksamkeit selber herumstand und ging. Mir war, als habe der schöne Abend ein eigenes Auge, womit er mich betrachte, und einen Mund, mit dem er zu mir rede. 41 beschreibt Freud die Realitätsprüfung als Grundlage der Urteilsfunktion, die zugesteht oder bestreitet, dass eine Vorstellung der (äußeren) Realität entspricht, und die notwendig wird, weil »das Denken die Fähigkeit besitzt, etwas einmal Wahrgenommenes durch Reproduktion in der Vorstellung wieder gegenwärtig zu machen, während das Objekt draußen nicht mehr vorhanden zu sein braucht«. Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 14. Ihre unbedingte Wichtigkeit erweist die Realitätsprüfung mithin, wie Freuds Diktion zeigt, in einem aporetischen Zusammenhang, der sich als Erinnerung an etwas gleichermaßen doch auch bereits Verlorenes beschreiben lässt. 40 | SW 16/21. 41 | SW 16/20.
VI. Z WISCHENREICHE DER A RTIKULATION
Im Verlust des Prioritären in der Syntax zugleich getrennt und verbunden, geraten Bild und Ton in eine Dissoziation. Das »Frauengesicht«, mit dem die Frau, nicht jedoch als persona, benannt ist, weil das Personalpronomen im Halbsatz – »als sei sie bloß ein Bild« – im impliziten Bezug auf das Neutrum ›Gesicht‹ ohne grammatikalischen Bezug bleibt, erscheint syntaktisch stillgestellt. Diese Frau ist »bloß ein Bild«. Aus anderer Richtung aber dringt »der Ton einer schüchternen Mädchenmusik« an Ohren, über die hinaus sich der Satz in einen Relativsatz verlängert, der auf diese Ohren bezogen ist, und nicht etwa, wie zu erwarten, auf den noch immer undefinierten Ton, der vielmehr auch weiterhin der »schüchterne[ ]«, unaufdringliche Ton bleibt – der überdies einem »Bild«, also dem, was eine Akustik gar nicht ausbilden kann, entstammt. Und so kommt die Rede auch von woanders her: Die aufschneiderische Substitution durch »die Aufmerksamkeit selber« verdankt sich einem Abstraktum, in das sich das poetische Ich nicht nur eingeschlossen finden kann, sondern wovon es sich geradezu umschlossen fühlt: »Mir war, als habe der schöne Abend ein eigenes Auge, womit er mich betrachte, und einen Mund, mit dem er zu mir rede.« Der Abend gibt einem körperlosen Bild und einem Ton ohne Provenienz, gibt dem geisterhaft Gespenstischen Auge und Mund, eine deutliche mütterliche Gestalt – wenn auch in einer Dissoziation von Bild und Ton: »Frauengesicht« und »Mädchenton« blicken und erklingen im Text Abendspaziergang aus verschiedenen Häusern. Was aber ist »das Wesentliche und Wirkliche«, das beides getrennt erscheinen lässt? Wäre die Konstellation der beiden in der Vossischen Zeitung erschienenen Texte bewusste Anordnung eines erzählerischen Diptychons, würde Die Kneipe mit ihrer tumultuarischen Szenerie auch den Abendspaziergang ausleuchten, bei dem das »Wesentliche und Wirkliche« verschwindet und das »Eingebildete« demgenüber Gestalt annimmt. Die Gruppe der »Waldvaganten« in der abendlichen Kneipe aber hat »einen eigentümlichen malerischen Zauber, der mich an die Gemälde von Cézanne erinnerte, die ich in der Hauptstadt zu sehen hie und da Gelegenheit hatte«42 . Und der Maler Paul Cézanne wird auch in einem im Mai 1926 in der Redaktion der Prager Presse eingereichten, jedoch erst 1929 abgedruckten Text mit dem Titel Cézannegedanken den Anlass zu einer Theorie der Auslassung geben, zu der sich Robert Walser, so Dieter Roser, in diesem Text bekennt.43 42 | SW 16/21. 43 | Eine solche Theorie der Auslassung ist in Gotthold Ephraim Lessings Fragment gebliebener kunsttheoretischer Schrift, die 1766 aus dem Briefwechsel mit Moses Mendelssohn als Laokoon: Oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie hervorgangen war, die Einlassung zum Elliptischen, das der Literatur eignen soll. In Abgrenzung zum Diktum von Horaz – ut pictura poesis – wählt Lessing sein Motto zum Verhältnis von Poesie und Malerei bei Plutarch. Danach sind beide sowohl im Stoff wie in den Arten der Nachahmung verschieden. Ausgangspunkt ist für Lessing die spätantike Skulpturengruppe sowie Vergils Erzählung der zugrunde-
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Robert Walsers Text wird diese Theorie der Auslassung, von der Roser gesprochen hat, poetologisch formulieren. Und so heißt es im Text Cézannegedanken: »Ich bin mir hier unvollständiger Ausdrucksweise bewußt, möchte aber der Meinung sein, man verstehe mich trotzdem oder vielleicht, um solcher Unausgearbeitetheit willen, worin Lichteffekte schimmern, sogar noch besser, tiefer, obwohl ich selbstverständlich prinzipiell Flüchtigkeiten beanstande.«44 Cézanne erfasst in diesem Text Robert Walsers nicht den Gegenstand als Volumen, sondern nur dessen Umrisse; im Incipit des Textes heißt es: »Wollte man, so ließe sich ein Mangel an Körperlichkeit konstatieren; es handelt sich aber um eine Umfassung, […].«45 »Alle Aufmerksamkeit wird also jener Linie zuteil«, schreibt Roser hierzu, jener Linie, »welche sowohl den sichtbaren Körper von seinem Hintergrund abhebt als auch diesen Hintergrund als Negativ- oder Gegenform des sichtbaren Körpers mitzeichnet.« So wird »im Sichtbaren (der Körper) dessen Negativ- oder Gegenform als Leerstelle oder ummalte (umschriebene) Fläche aus ihrem Dasein als bloßer Hintergrund befreit«.46 Auch die Differenz von Bild und Ton sieht sich im Abendspaziergang also in der Reminiszenz an diese Theorie der Auslassung, an diesen Cézanne, reflektiert. In den nur lose aneinandergesetzten, den Gegenstand ausbildenden Farbtönen, die in Cézannes Darstellungen des Mont Sainte-Victoire vom Weiß des Blattes eingefasst sind, dessen Wirkung einbeziehen, verwischt sich eine Differenz. Und zwar auch im Wortsinn der Töne, die zu liegenden Geschichte im zweiten Buch der Aeneis, worin ein schreiender Laokoon beschrieben ist. Das Konzept des »poetischen Gemähldes« wird in Lessings Laokoon dann anhand von Homers Beschreibungen exemplifiziert, deren »Kunstgriff« zu sein scheint, das »Coexistierende« von Körpern – bei Lessing sind dies »Gegenstände, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren« (Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften, Bd. 9, hg. v. Karl Lachmann, Stuttgart 1893, S. 94) – »in ein wirkliches Successives zu verwandeln« (ebd., S. 105). Die elliptische Zergliederung des Erzählgegenstandes in eine »Folge von Augenblicken«, wie sie von der Dichtung betrieben werde, hat dabei der ausgreifenden epischen Narration »das Täuschende« voraus, das dieser deshalb fehle, so Lessing, »weil das Coexistierende des Körpers mit dem Consecutiven der Rede dabey in Collision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöset wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Theile zwar erleichtert, aber die endliche Wiederzusammensetzung dieser Theile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird« (ebd., S. 104). Und so beschreibt Homer, um die Schönheit Helenas zu veranschaulichen, nicht etwa detailliert ihre körperlichen Vorzüge, sondern deren Wirkung auf die trojanischen Greise. Lessings Ableitung von Kunstprinzipien aus dem Gegenstand selbst, aus seinen Materialien und Zeichen, beendet die Herrschaft abstrakter Kunstanschauung. Das vor allem sollte die ungeheure Rezeption inspirieren. 44 | SW 18/255. 45 | SW 18/252. 46 | Dieter Roser: Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift, S. 175f.
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Farbtönen werden. Die Töne heben sich vom Blatt ab, das gleichsam weißes Rauschen ist und bei dem das Auge, geblendet, nicht differenzieren kann. Und doch wird etwas anderes darin transparent. Und so heißt es im Text Robert Walsers mit dem ganz ähnlich lautenden Titel Abendgang, der im November 1915 in der Vossischen Zeitung erscheint, auch: Es war mir, als solle ich blind sein und nichts mehr sehen von dem Schönen, es war mir so seltsam, so kalt ums Herz, und doch so gut, so wonnig. Ich schaute mich nach allen Seiten vorsichtig um, wie um hinter und neben den Gegenständen Neues und Niegesehenes zu sehen. Die Abendfarben tönten wie ein unschuldiges, süßes, banges Abschiedslied, und mir war, als solle ich die Töne sehen und die Farben tönen hören können. Abend, was bist du für ein wunderbares Gemälde!47
Das »Wesentliche und Wirkliche« aus dem kurz vorher erschienenen Text Abendspaziergang ist nun verschwunden, »um hinter und neben den Gegenständen Neues und Niegesehenes zu sehen«. Der Ton kann Farbton sein – und sich doch mit einem Laut verbinden. So schreibt Velimir Chlebnikov in einem Text mit dem Titel Poetische Prinzipien 1914: »Bei den Hieroglyphen war die Farbe ebenso wichtig wie die grafische Seite, das heißt das Zeichen war ein farbiges Symbol.«48 Der Abend, der im Abendgang »leise, wie an einer Hand« führt, ist als »Gemälde« in diesem Sinne hieroglyphisch konstituiert und gleicht jener maternalen Figur aus dem Text Am See, in dem es heißt: »das Gemälde der Mutter verband sich mit dem leisen, lieblichen Plätschern der zarten Wellen«.49 Der Abend ist zugleich das, was die Welt im Text Abendgang identifiziert oder besser differenziert und sie doch zum Traum, zur Traumwelt macht, obgleich oder gerade weil die Mutter, die hierbei an die Hand nimmt, nur ein »Gemälde« und das heißt unwirklich und ›nur‹ Malerei, als persona tot, nicht jedoch bloße imago ist. Die »Abendfarben« klingen wie ein »Abschiedslied«, das blind macht, das andererseits aber eben auch bewirkt, dass das poetische Ich »die Töne sehen und die Farben tönen hören« kann; diese Art Blendung bildet eine synästhetische Wahrnehmung aus. Das »Abschiedslied« hebt überdies das Schisma zwischen den Künsten auf. Dichtung ist nicht für die »Abendfarben« der Malerei blind; sie ist in diesem Sinne ›stumme Dichtung‹ geworden – wie die Malerei selbst.50 47 | SW 16/23. 48 | Velimir Chlebnikov: »Poetische Prinzipien« [1914], in: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938), hg. v. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Stuttgart, Weimar 1995, S. 91; zit.n. Markus Hallensleben: »Von der Hieroglyphik zu einer Poetik der Handschrift: Lasker-Schülers Beitrag zur ›Primitivität‹ der Moderne«, in: Else Lasker-Schüler. Schrift:Bild:Schrift, hg. v. Verein August Macke Haus e.V., Bonn 2000, S. 161-184, S. 163. 49 | SW 16/15. 50 | Aleida Assmann hat, wie weiter oben bereits zitiert, das historische Aufbrechen des Emblems so beschrieben: »Malerei und Dichtung definieren sich in Zukunft gegeneinander; jene wird zur stummen Dichtung, diese zur blinden Malerei.«
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VI.4 D IE DOPPELTE Z EICHNUNG DER B L ÄT TER Der Band Poetenleben enthält einen Text mit dem exotistischen Titel Die Indianerin, und doch führt der Weg auch hier nicht weit aus dem Alltäglichen heraus, wenngleich »Geister und Gedanken« auch hier Kontur erhalten. Es geht wieder an einen See, an dem es im Incipit des Textes »[ f ] eenhaft schön« ist: An Geld und Hoffnungen besaß ich zwar so viel wie nichts; dafür aber lebte der feste Entschluß in mir, in solcher zaubervollen, entzückenden Nacht etwas Schönes zu erleben. Eine Art Abenteuer war es für mich schon, nur durch die Bahnhofstraße zu gehen, wo die Bäume geisterhafte Blätterschatten aufs Trottoir und an die Mauern warfen. Die nachgeahmten, abgezeichneten Blätter bewegten sich wie die wirklichen und natürlichen. Alles schien in der dunklen Schwüle zu flüstern, zu zittern. Träume waren wach und lebendig geworden; Geister und Gedanken bewegten sich in weichen, schleierhaften Gewändern milde durch abendlicher Straßen heiße Atmosphäre. Aus einem Palast tönte Musik; ich trat näher. Es war ein Hotel, in dessen Garten konzertiert wurde. Auf der Terrasse, dicht an der Balustrade, saß mit finsterem Gesicht und großen, dunklen Augen voll eines verhaltenen Zornes eine Frau, die mir etwas wie eine Indianerin zu sein schien. Herrlich war ihr Haar und ihre nachdenkliche Geste. 51
In Platons Höhlengleichnis sind die Schattenrisse der Dinge durch ihren Abbildcharakter, durch eine Kluft, Chorismos genannt, von einer Welt hinter den Schatten, die doch erkannt werden soll, getrennt. In Robert Walsers Text Abendgang geht es hingegen darum, nicht nur »hinter«, sondern auch »neben den Gegenständen Neues und Niegesehenes zu sehen«.52 Neben den Zeichen gibt es Beizeichen. Im Text Die Indianerin nun entsteht eine Zeichnung aus Licht und Dunkel; dieser ›Kunst‹ scheint Atem von einem unsichtbaren Leben, einem göttlichen Pneuma her eingehaucht, das zugleich das Sichtbare selbst ist, denn: »Die nachgeahmten, abgezeichneten Blätter bewegten sich wie die wirklichen und natürlichen.« Der Schattenriss der Blätter in ihren vom Wind bewegten wechselnden Umrissen, die wie Buchstaben, wie eine Schrift erscheinen können, ist in seiner geisterhaften, zittrigen Bewegtheit, in seiner wechselnden Kontur wie die Autopoiesis der Schrift selbst und wird gerade darin zur Mimesis der »wirklichen und natürlichen« Blätter. Und das konterkariert das Epistem, wonach die nur repräsentierende, sekundäre, vereinbarte Schrift – der Schattenriss – nurmehr toter Buchstabe ist: »Die Schrift im geläufigen Sinn ist toter Buchstabe, sie trägt den Aleida Assmann: »Alte und neue Voraussetzungen der Hieroglyphen-Faszination«, S. 266. 51 | SW 6/50f. 52 | SW 16/23.
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Tod in sich. Sie benimmt dem Leben den Atem.«53 Nicht so in Robert Walsers Text Die Indianerin. Was aber hat die ›Sprache‹, die von den Blättern in Robert Walsers Text so ganz anders gesprochen ist, mit der abenteuerlichen Indianerin zu tun, die dem Text den Titel gibt? Der »Halo assoziierter Bilder«54 betrifft mit der Indianerin immer auch eine untergegangene Kultur der Totemzeichen, der Bilderschriften, der Piktogramme und Logogramme. Die Unbekannte, die als Indianerin erscheint, ist ihrer markanten Physis wegen oder besser der Ähnlichkeit mit einem vorab geprägten Bild wegen allerdings wie in Anführungsstriche gesetzt; sie ist nicht etwa eine Indianerin, sie erscheint wie eine ›Indianerin‹. Die ›Indianerin‹ hat in dieser Begegnung einen auffälligen Zug, durch den sie aber, zunächst jedenfalls, nichts über ihre Provenienz enthüllt, die vielmehr nur umso geheimnisvoller wird. Und das liegt vor allem an ihrem Geschlecht. Der Indianer als männliches Wesen evoziert für den okzidentalen Blick Krieg, und konkret jenen Krieg, der den Indianern durch die amerikanischen Siedler in ihrem Treck nach Westen durch die Annektion von Land aufgezwungen wurde. Auf einem Kriegspfad aber ist keiner weiblichen Indianerin zu begegnen. Und die Indianerin trägt auch nicht den pittoresken Federschmuck als Trophäe aus der Jagd auf Beutetiere. Robert Walsers Die Indianerin wird sich im weiteren Fortgang des Textes von dieser Geschichte der fast vollkommenen Auslöschung der Indianer in äußerst verdeckter Weise allerdings dennoch ambiguisiert zeigen: Ohne langes Besinnen trat ich zu ihr in den Garten, und wenn ich sie anzureden wagte, so geschah dies in der festen Überzeugung, daß es ihr nur angenehm sein könne, in ein Gespräch zu kommen. […] Beide gingen wir nun unter die Menschen, tauchten bald im Schwarz der Nächtlichkeit unter, um an hellen Stellen wieder behutsam hervorzukommen. »Sind Sie Amerikanerin?« fragte ich. Sie sagte: »Ja!« Wir stiegen in ein Boot, und hier gefiel es ihr zu sagen: »Das sieht ja aus wie eine Entführung.« Immer schaute sie mich aufmerksam an, ich aber sie nicht minder. Wie eine Königin saß sie im Boot; ich selbst erschien mir wie ihr Ruderknecht. Die Königin war auf der Flucht, um sich drohendem Untergang zu entziehen. 55
Die unbekannte Frau, die als Indianerin erschienen war, stellt sich nun als Amerikanerin heraus, sie vereint unausgesprochen eben den Konflikt in sich zwischen den neu hinzugekommenen Amerikanern und den Indianern als Ureinwohnern. Und konfligierend sind so auch das Majestätische und das Moment der Flucht, das der Indianerin eignet. Die Amerikanerin 53 | Jacques Derrida: Grammatologie, S. 33. 54 | André Leroi-Gourhan: Hand und Wort, S. 264. 55 | SW 6/51f.
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ist auf der Flucht, »um sich drohendem Untergang zu entziehen«, eben jenem Untergang, dem die Indianer sich nicht zu entziehen vermocht hatten. Und so gehört die indianische Kultur nun einer Vergangenheit an, die nur noch in der Literatur zugänglich ist – wie etwa in den bei Paul Cassirer 1909/10 wieder aufgelegten Lederstrumpf-Erzählungen von James Fenimore Cooper, die durch Max Slevogt illustriert und durch Karl Walser mit einem Einband versehen worden sind. Die im Vorwort von W. Krickeberg geäußerten zeitgenössischen Überlegungen zur anhaltenden Faszinationskraft des Indianers betreffen dabei: »das Malerische und Prunkvolle seiner Erscheinung, das nicht zuletzt immer wieder seinen Zauber auf uns ausübt«. Dieses insbesondere auch aus den Darstellungen des Schweizer Reisenden und Indianer-Malers Karl Bodmer gewohnt Malerische und Farbige eliminieren die Lithographien von Max Slevogt allerdings. Zeitgenossen sind von der Edition insofern nicht nur fasziniert, sondern verwirrt von der im deutschsprachigen Raum so neuartigen Buchausstattung.56 Erst 1921 wird Emil Waldmann die malerische Behandlung der Zeichnungen von Max Slevogt als »sinnliche Schönheit« des »Schwarz-Weiß« rühmen: »Während man glaubt, daß auf dem ›Lederstrumpf‹-Blatt […] es die Landschaft ist, die einen so beglückt, ist es in Wahrheit ja nur die lückenlose Folge der malerischen Töne, die Skala der Valeurs, welche diese Wirkung ausübt und diesen Blättern ihren unerhörten malerischen Duft verleiht. […] Das Flimmern der Luft, das zarte Singen und Schwingen der Atmosphäre, das Funkeln der tiefen Schatten und das Blitzen der Lichter, alles dies erzeugt ein so nuancenreiches Spiel zwischen dem hellsten Weiß und dem dunkelsten Schwarz, eine so reiche Skala der Lichtgrade, wie sie als graphisches Ausdrucksmittel vorher nicht existierte.«57 Erst 1921 also werden die Schwarz-Weiß-Darstellungen Slevogts als ebenso nuancenreich empfunden wie die gewohnt farbigen Illustrationen. Den Nuancenreichtum einer Schwarz-Weiß-Darstellung bildet auch der Blätterwald in Robert Walsers Text Die Indianerin ab: »Die nachgeahmten, abgezeichneten Blätter bewegten sich wie die wirklichen und natürlichen.« Der Blätterwald weist dabei nicht nur auf die publizistische Landschaft, sondern auf die Schrift in ihren wechselnden Umrissen, die sich durch Zeilen, Wörter, Buchstaben ergeben. Er weist auf die Graphie. Und nicht etwa von der ›Wirklichkeit‹, sondern von der Zeichnung und Malerei, der bildenden Kunst ist im Text Die Indianerin auch das Bild gestellt, das die »Gedanken« abgegeben. Sie sind in das gut bekannte, symbolistische Gewand des Todes gehüllt, bewegen sich in »weichen, schleierhaften Gewändern«, in einer aus der abendländischen Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, etwa bei Arnold Böcklin, vertrauten Ge56 | Berthold Roland: Nachwort zu Max Slevogt. Illustrationen zu James Fenimore Cooper. »Lederstrumpf-Erzählungen«, hg. v. der Max-Slevogt-Galerie im Schloß »Villa Ludwigshöhe«, Edenkoben 1984, S. 131. 57 | Emil Waldmann [1921]; zit.n. Max Slevogt. Illustrationen zu James Fenimore Cooper. »Lederstrumpf-Erzählungen«, S. 138.
VI. Z WISCHENREICHE DER A RTIKULATION
stalt. Das weiche Gewand, in dem das weiße Gewand mitschwingt, führt dabei auf die Auferstehungsszene, die leere Grabstätte der Vulgata. Das leere Grab ist darin Beweis der Existenz von Dingen, die man nicht sieht, da das Grab trotz seiner Leere voller Bedeutung ist.58 Das leere Grab ist Zeichen dessen, was sich dem Fassungsvermögen entzieht, der Wandlung von Tod in Leben, die sich auch bei den »nachgeahmten, abgezeichneten« Blättern Robert Walsers vollzieht. Leben als das Vitale, Erotisierende äußert sich im Text Die Indianerin »in der dunklen Schwüle«59 dabei nur ›flüsternd‹, es zeigt sich im Buchstabenmaterial enthalten, nicht aber ›sichtbar‹, sondern zensiert und von zwei Konsonanten umhüllt, die in Hinsicht auf das Flüstern lautmalerisch sind (›f – d‹). Um Atmosphärisches nicht zu zerschneiden, Einvernehmliches nicht zu zertrennen, ist die laute Artikulation gemieden. Und das Geflüster als durchgängiger Topos der Bieler Prosa zeigt sich zwar auf anderem Schauplatz als dem des Friedhofs im Text Das Grab der Mutter und im Text Hans wiederholt, doch scheint der Tod auch im Text Die Indianerin impliziert. Im Text Die Indianerin aus dem im Mai 1917 von Robert Walser fertiggestellten und im Herbst desselben Jahres, vor dem eingedruckten Datum »1918« ausgelieferten Band Poetenleben geht es nicht nur um eine doppelte Zeichnung der Laubblätter/Papierblätter, die sich mit der ›Indianerin‹ verbunden zeigt – und mit deren ambiguisierter Herkunft aus dem Imaginären. Der Text weist auch auf einen anderen als den okzidental gebräuchlichen Umgang mit den Ahnen, denn wo in Robert Walsers Text Die Indianerin alles in der Dunkelheit zu flüstern scheint, wo alle (Toten) in der Dunkelheit zu flüstern scheinen, heißt es zugleich: »Träume waren wach und lebendig geworden.« Diese Art Gegenwart der Toten bedeutet Leben; sie initiiert ein neues Gespräch. Worauf aber weist, noch anders gefragt, die Indianerin, wenn nicht auf die Feder/n, die Schreibfedern auch, die in der Friedhofsszenerie im Text Hans kryptiert eine Rolle spielen? Ein Hinweis hierauf findet sich in eben diesem Text Hans, in dem es über den Übergang vom Sommer zum Herbst, der 1914 auch Übergang vom Frieden zum Krieg ist, in der überarbeiteten Fassung aus dem Jahre 1920 heißen wird: »Der grüne Sommerwald wurde zum buntfärbigen Indianerwald.«60 In der ersten Fassung des Textes Hans, die 1916 in der Zeitschrift Die Schweiz erschienen war, zeigte sich derselbe 58 | Vgl. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 166. 59 | ›Schwüle‹ ist bei Robert Walser synkretistisch konnotiert, wie sich in folgendem Brief zeigt: »Inliegenden Ausschnitt vom Gast würde ich Sie ersuchen wollen, für so etwas wie eine persische Miniatur zu halten. Es ist so ein ganz klein wenig etwas Schwüles dabei, nur eben sehr geschickt gestickt und gemalt, d.h. aquarelliert und ausgedrückt.« Brief ohne Datumsangabe, nach dem 20. August 1925, an Frieda Mermet, in: Br, S. 234. Es geht um den Text mit dem Titel Wie sich etwa ein Gast benähme, der im Prager Tagblatt erstmals erschien. 60 | SW 7/205.
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»Indianerwald« noch »voll [von] phantastischen Melodien«.61 In der Nachkriegsfassung des Textes Hans werden diese »Melodien«, werden die Töne, die für dieses Mal nicht Farbtöne sind, hingegen weggefallen sein; sie sind den Blättern, mit denen in der Polysemie des Wortes ›Blätter‹ immer auch auf die Schreibblätter angespielt ist, abhandengekommen.
61 | Robert Walser: Hans, in: Die Schweiz, Jg. XX, Heft Nr. 8 (1916), S. 450. Melodien finden sich auch im Heinrich von Ofterdingen des Novalis: »Er [d.i. Heinrich] sah die Welt in ihren großen und abwechselnden Verhältnissen vor sich liegen. Noch war sie aber stumm, und ihre Seele, das Gespräch, noch nicht erwacht. […] um durch Laute der Muttersprache und durch Berührung eines süßen zärtlichen Mundes, die blöden Lippen aufzuschließen, und den einfachen Accord in unendliche Melodien zu entfalten.« Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 268.
VII. Konsignationen: »Das Schreiben scheint vom Zeichnen abzustammen«
Um denselben Jahreswechsel 1917/18 herum, zu dem Robert Walsers Band Poetenleben erscheint, schreibt Walter Benjamin in einem schriftlich geführten Gespräch mit Gershom Scholem: »Ich habe dies Problem des Kubismus weder von dieser noch einer anderen Seite berührt einerseits, weil es mir bisher vor einzelnen konkreten Bildern oder Meistern noch nicht entscheidend aufgegangen ist. Der einzige Maler unter den neuen, der mich in diesem Sinne berührt hat, ist Klee, andrerseits aber war ich mir über die Grundlage der Malerei noch viel zu sehr im unklaren, um von dieser Ergriffenheit zur Theorie fortzuschreiten.«1 Der Brief steht im Zusammenhang mit Benjamins eben im Entstehen begriffenen Aufsatz mit dem Titel Über die Malerei oder Zeichen und Mal. Er berührt das Problem des Kubismus vorgeblich nicht – in der Negationswendung dann aber eben doch. Und das im Weder-noch, im alternierenden Ausschluss berührte Problem des Kubismus geht dabei ohne syntaktische Markierung über in eine noch über den nächsten Satz hinausgreifende Perspektivik von »einerseits« – »andrerseits«. Aus Berührtheit wird noch im selben Satz Ergriffenheit. Das Fortschreiten zur Theorie jedoch gibt es – eines doppelten Hindernisses wegen – nicht, denn das Problem des Kubismus ist einerseits vor konkreten Bildern oder Meistern noch nicht genügend aufgegangen; andererseits, und (eben doch) konkret von Klee berührt, ist Benjamin sich über die Grundfragen der Malerei noch zu sehr im Unklaren. Das Problem ist verschränkt und zugleich – ganz tautologisch – ein Problem; es stellt sich als solches dar, es erfährt keine linearisierende Auflösung in der Sukzession des Textes, es überfordert die Perspektive des einzelnen Satzes, und noch die Perspektive der aufeinanderfolgenden Sätze. Und gerade darin bildet der Text etwas ab: in der notwendigen Linearität
1 | Walter Benjamin: »Malerei und Graphik« und »Über die Malerei oder Zeichen und Mal«, in: ders.: Gesammelte Schriften; Bd. II.2, S. 602-607 und Anm. in Bd. II.3, S. 1412-1415, Zitat S. 1413.
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von Sätzen im Text einerseits – und der Darstellbarkeit einer Multiperspektivität der Bildkunst, wie der Kubismus sie zeigt, andererseits. Das Andere als eine Mythographie, als eine Schrift zu schreiben, die ihre Symbole in der Mehrdimensionalität buchstabiert und deren Bedeutungen nicht der Sukzessivität unterworfen sind, dieses unmögliche Vorhaben skizziert auch ein Text Robert Walsers. Er ist im März und April des Jahres 1927, unmittelbar vor jenem Brief des Autors an Max Rychner, in dem das »Bleistiftgebiet« erläutert werden wird, in Gestalt von sechzehn Aphorismen in zwei Lieferungen, in einer Beilage der Frankfurter Zeitung erschienen – die Beilage trägt den Titel: »Für die Frau«. Der Text, eine Sammlung von Aphorismen, ist mit dem Titel Sätze überschrieben. Als autorisierte Druckfassung ist auch er eine der vielen Singularitäten im Werk Robert Walsers, der einzige Umgang mit Aphorismen. Aus der Sukzession der Erzählung sind die »Sätze« hier in die Simultaneität einer Satzlandschaft gehoben. Augenfällig spielt der Satz auch als Satzspiegel eine Rolle. Mit den leeren Zwischenzeilen – zwischen den Zeilen – wird hier die Linearität der Schrift im Doppelsinn des Wortes ausgestellt. Auch das Auge macht so beim Lesen des Textes – Sätze. Das Schriftbild des Textes Sätze bildet so eine Poetik, die sich allerdings erst im Blick auf die Semantik des Titels wirklich entfaltet; steht nämlich der Titel Sätze, als das sowohl außen wie innen Stehende des Textes, als Eigenname wie als originärer Teil des Textes2 2 | Vgl. Jacques Derrida: Préjugés, S. 17. »Von Rechts wegen«, schreibt Derrida in Préjugés, »ist jeder Titel der Eigenname eines Textes«; der Titel benennt und garantiert die Identität, die Einheit und die Grenzen des ursprünglichen Werkes. Die Literatur bewahrt darin »eine wesentliche und enge Beziehung zu einem Moment der Rechtsgeschichte« (ebd., S. 87). Wir setzen voraus, dass ein Text – bei Derrida geht es um Kafkas Text Vor dem Gesetz, der im Jahre 1919 entstanden ist – in einer Originalversion existiert und über seinen Entstehungsort mit der deutschen Sprache verwachsen ist. Diese Originalversion gibt auch die Referenz für Übersetzungen ab. Doch Derridas Auffassung eines Originaltextes, und dies gilt für alle Texte, geht noch weiter. Der Text ist unantastbar, worunter Derrida versteht, er ist »der Berührung unzugänglich, uneinnehmbar und schließlich unbegreiflich, unverstehbar, aber auch das, was zu berühren wir nicht das Recht haben. […] Es ist verboten oder illegitim, ihn umzuformen, ihn zu verformen, an seine Form zu rühren« (ebd., S. 78f.; Hervorh. v. JD). Dem Glauben zufolge, der in »unseren Regionen am weitesten verbreitet ist, konstituiert eine solche sogenannte Originalversion die letzte Referenz bezüglich dessen, was man die rechtliche Persönlichkeit des Textes, seine Identität, seine Einmaligkeit, seine Rechte et cetera nennen könnte«; es gibt jedoch Werke – so etwa Kafkas nach seinem Ableben zur Vernichtung bestimmtes Romankonvolut Der Process, in das der Text Vor dem Gesetz gehört, der von Kafka selbst zugleich isoliert veröffentlicht wurde –, »deren Einheit, Identität und Vollständigkeit problematisch bleiben, weil nichts es erlaubt, mit voller Gewißheit zu entscheiden, ob die Unvollendetheit des Korpus ein realer Zufall oder eine Täuschung ist, das mit Bedacht kalkulierte Simulakrum« eines Autors (ebd., S. 35f.). Bereits im doppelten Status des Textes Vor dem Gesetz beginnt das von Kafka mit zwei wi-
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mit in Betracht, durchkreuzt dies den apologetischen Textsinn von Aphorismen. Sätze sind, auch wo sie keine Aphorismen sind, das Gebiet des Sinns. Auch solche Sätze, die nicht wahr sind, sind sinnvolle Sätze. Und der Satz ist hierarchisch, wie Roland Barthes schreibt: »er impliziert Abhängigkeit, Unterordnung, innere Ausrichtung«. Daraus resultiert seine Abgeschlossenheit, denn: »wie kann eine Hierarchie offen bleiben? Der SATZ ist abgeschlossen; er ist sogar ganz genau: jene Sprache, die abgeschlossen ist.« Und die damit bereits zur Ideologie tendiert, so Barthes.3 Hingegen überschreibt der Titel Sätze den in der Tat einzigen Fall, in dem Sätze diesem Umstand zu entrinnen vermögen, weil Sätze hier ›als solche‹, als demonstrative Schulbeispiele konstituiert sind.4 Aber natürlich bezeichnet der Titel Sätze auch etwas, und nicht etwa nur die Gattung des Aphorismus. Er spielt auf Felder an, in denen der Satz Baustein von Gebäuden, von ganzen Tektoniken ist, wie in der Grammatik, der Rhetorik, den Naturwissenschaften, der Legislative, der Logik, der Musik. Und doch entspricht der Titel Sätze noch immer Robert Walsers Zögerlichkeit vor Titeln, die »zu sehr treffen«.5 Und die einzige Möglichkeit, die es gibt, ›sinnlose‹ Sinnsätze zu formulieren, solche Sätze, die in ihrem Bedeutungsanspruch durchkreuzt werden, zeigt sich im Text Sätze genutzt. Der Titel organisiert eine Relativierung, die sich auf allen Ebenen wiederfinden lässt: »Wenn ich hier Aphorismen schreibe, so scheint es wahr zu sein, daß mich etwas Schwieriges beschäftigt.« Aphorismen zu schreiben »scheint« die Verifikation für die Beschäftigung mit etwas Schwierigem, scheint ein unwägbarer Beweis hierfür zu sein, doch auch »hier« wird der Konsekutivsatz verunsichert. Das Verb »scheinen« ersetzt das für die Verifikation notwendige Verb »sein«, das zwar anagrammatisch darin enthalten ist, sich »hier« aber etwas langwieriger, schwieriger und im alliterierenden Gleichklang oder Gleichschwung mit dem Schreiben und dem Schwierigen geschrieben findet. Etwas Schwieriges beschäftigt, und gerade das Aphorismen-Schreiben beglaubigt dieses Schwierige, insofern es im Schriftspiegel, in der Anordnung der Sätze auf dem Blatt zu sehen ist. Der Text hat Spründerspruchsvollen Mitteilungen an Max Brod aufgegebene Rätsel zum Umgang mit seinem Nachlass, den Kafka, was die unveröffentlichten Texte betraf, zur Vernichtung bestimmt hatte. Bekanntlich ist Brod dem Wunsch Kafkas nicht gefolgt. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera hat im Zusammenhang damit von einem verratenen Vermächtnis gesprochen. 3 | Roland Barthes: Die Lust am Text, S. 75 (Hervorh. v. RB). Dort heißt es weiter: »Darin unterscheidet sich die Praxis von der Theorie. Die Theorie (Chomsky) sagt, daß der Satz theoretisch unendlich ist (unendlich katalysierbar), aber die Praxis zwingt dazu, den Satz stets zu beenden. ›Jede ideologische Aktivität präsentiert sich in der Form kompositionell abgeschlossener Aussagen.‹ Nehmen wir auch diese Behauptung von Julia Kristeva in ihrer Umkehrung: jede abgeschlossene Aussage läuft Gefahr, ideologisch zu sein.« 4 | Vgl. Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, München 1997, S. 198f. 5 | »Titel treffen überhaupt immer zu sehr. Ich habe Angst vor Titeln, namentlich vor Gesamttiteln.« Postkarte an Richard Dehmel vom 26. August 1902, in: Br, S. 17.
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ge. Ent-Sprechungen. Zwischen den Sätzen ergibt sich etwas Unbeschriebenes, etwas buchstäblich Bloßes. Und inmitten von alledem findet sich, als einer der zarten Buchstabenarchipele, der Satz: »Das Schreiben scheint vom Zeichnen abzustammen.«6 Diese Genealogie hat dabei selbst eine Abkunft im ›Zeichnen‹, denn der Satz entstammt dem Bleistiftentwurf. In der ersten Fassung, die wie alle Mikrogramme keinen Titel hat, der den Sinn hier hätte durchkreuzen können, lautete der Satz noch: »Das Schreiben, das Schriftstellern scheint mir vom Zeichnen abzustammen.«7 Schreiben und Schriftstellern können noch als Synonyme gelesen werden. Und doch ist in der Reihung auch eine Differenz enthalten. In der Druckfassung wird das »Schriftstellern« entfallen.8 »Schreiben« und »Zeichnen« stehen sich nun auf einfache Weise gegenüber; das Schreiben findet sich nicht noch einmal intern differenziert. Wo nicht mehr weitergeschrieben wird, ist vom Schreiben nur noch die Rede; und das Schriftstellern konstituiert sich, ohne dass es noch eines Wortes oder auch nur eines einzigen Buchstabens über den Schriftsteller bedarf, der ja das ›r‹ zum »Schriftstellern« gestellt hatte. Das »Schreiben« ist im Bleisatz des Drucks nicht mehr als von der Hand des Schriftstellers gestellte Schrift sichtbar. Und doch geht das Schreiben in diesem Aphorismus, der ein Ausdruck der Beschäftigung mit etwas Schwierigem ist, auf eine Schwester- oder besser eine Bruderkunst zurück. Oder besser gesagt: Das Schreiben scheint auf diese Kunst zurückzugehen. Der Schein (»scheint mir vom Zeichnen abzustammen«), der sich der Wahrnehmung verdankt, kann Augenscheinlichkeit sein, kann Evidenz haben – oder aber das Gespenstische einer ›Erscheinung‹. An die Stelle einer gesicherten Genealogie, die als grundlegende anthropologische Frage das 19. Jahrhundert bewegt hatte, tritt eine Vermutung oder mehr noch eine Anmutung. In seiner ersten Fassung war in den Aphorismus noch das Personalpronomen eingelassen, das in der Fassung zum Druck dann getilgt ist. Mit dem Pronomen war deutlich, von woher Licht auf etwas fällt, wer etwas sieht, oder besser, wem etwas erscheint: »mir«. Ähnlich aber wie bei diesem Aphorismus wird noch ein weiterer Satz in der Druckfassung nicht in identischer Weise zu lesen sein. Einige Sätze sind sogar nicht nur modifiziert, wie derjenige zur Genealogie des Schreibens, sondern entfallen ganz, wie dieser: »Politisch scheine ich dann zu sein, wenn ich mir angewöhnt habe, statt irgend etwas zu wissen, bloß für möglich zu halten, ich wisse etwas.« Im Satz steht zuletzt eine eigentümliche Verbform zu lesen: »ich wisse etwas«. Symmetrisch gebildet, würde die Konstruktion – »statt irgend etwas zu wissen« – »etwas zu wissen« nahelegen. Ohne die Syntax des Gesamt6 | SW 19/232f. 7 | Mikro 4/410. 8 | Das Wort vom Schriftstellern muss im Rahmen der besonderen Korrekturwege Robert Walsers, die das »Bleistiftsystem« als »Abschreibesystem« mit sich bringt, aber nicht zwingend auf dem ersten Blatt linear oder kreuzweise durchgestrichen, sondern nur im Übergang vom Entwurf zur Abschrift und zum Bleisatz des Drucks fallengelassen werden.
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gefüges bliebe der letzte Teil des Satzes, gerade weil das »ich« sich noch einmal eingeschoben hat, unverständlich, bizarr. Statt »irgend etwas« – selektiv – zu wissen, wird das Wissen nun konjunktivisch, stellt sich möglicherweise, nicht aber zwingend ein. Wo die Verbform durch Abtrennung des letzten Buchstabens vom Indikativ oder auch vom Substantiv ›Wissen‹ gebildet ist und mit dem zugehörigen Imperativ Singular – ›wisse!‹ – in eins fällt, macht sich noch eine andere, eine zweite Stimme bemerkbar, von der es heißen könnte: »ich (die Leserin?) wisse etwas«. Alles hängt dabei an einem einzigen Wort: »bloß«. Wäre es ›stolz‹ konnotiert, würde sich der Satz umkehren lassen: An »bloß für möglich zu halten« könnte sich »dass ich etwas weiß« anschließen. Aber es bleibt vielmehr immer das eigentümliche Verb »wisse« (im mahnenden Imperativ: »wisse etwas« oder aber im distanzierenden, in Frage stellenden Konjunktiv I) stehen. Der Aphorismus als prägnante Welterklärung ist in mehr als einem Sinne durchstrichen vom Zug des »Schwierigen«. Wo sonst nicht zufällig an Schlüsselstellen heikler Diskurse eine Metapher steht, weil sie schwierige Materie, wie die Frage nach der Authentizität des Subjekts und seiner Zeichen, profanem Zugriff entzieht, indem sie einen Bereich des Unverfügbaren markiert,9 ist »hier« nichts metaphorisiert. Und bei alledem bleibt zu sehen eben vor allem eins: die Weis(s)heit im lichten Satzbild, die diaphane Äquilibristik von Schriftfigur und -grund, in der das Wissen und die Wahrheit von Aphorismen »Für die Frau« im bloßen Papier mitgeschrieben scheint: und zwar sprechend, ohne dass dabei allzu viele Worte, Sätze, Aphorismen gemacht würden: Vor diesem weiten, weißen Grund einer Unwägbarkeit, was sich wovon abhebt, genau vor diesem Grund, daran ist zu erinnern, bleibt die Genealogie bezweifelbar. »Schreiben« stammt nicht etwa definitiv vom Zeichnen ab, es »scheint« vom Zeichnen abzustammen. Gesichert ist dieses Wissen in der Aphorismensammlung mit dem Titel Sätze mitnichten.
VII.1 S CHNEE IN F R AK TURSCHRIF T In einem Brief hat Kurt Tucholsky Max Brod 1911 zu einem Text, zu dem weiter oben bereits ausführlich gewürdigten Kommentar zu Robert Walser, beglückwünscht: »Der Walserkommentar war fein. (zu fein?)«. Im Jahre 1913 wird Tucholsky dann Brods in diesem Text entwickelte »Drei-Schichten-Theorie« zu Robert Walser im Titel einer eigenen kleinen Rezension wiederaufnehmen. Tucholskys Text mit dem Titel Der Dreischichtedichter beginnt dabei wie folgt: In dem entzückenden Buch von Robert Walser: Fritz Kochers Aufsätze ist ein Bild vom Bruder Karl drin: Der Dichter. Da sitzt ein elegisch angezogener Jüngling auf einem dünnen Stuhl am Fenster und sieht in den Regen, der aus vierzehn Strichen
9 | Vgl. Barbara Hunfeld: »Zur Hieroglyphe in der Kunst um 1800«, S. 293.
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Ein »Regen, der aus […] Strichen besteht« wie in diesem Text von Tucholsky, findet sich auch in Guillaume Apollinaires Kalligramm mit dem Titel Il pleut, das wie die anderen seiner Calligrammes während des Ersten Weltkriegs entstanden ist.11 Die Buchstaben der Worte »Il pleut« (›es regnet‹) ›regnen‹ auf 10 | Kurt Tucholsky: »Aus einem Brief an Max Brod« [1911] und »Der Dreischichtedichter« [1913], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 87-88, S. 87. 11 | Im April 1913 war eine Sammlung von Guillaume Apollinaires Gedichten, in denen er erstmals auf Interpunktion verzichtete, erschienen. Im Jahre 1914, in seiner eigenen Zeitschrift Les Soirées de Paris, erschien dann eines der als Schriftbilder gestalteten Gedichte, die er später, in der Herausgabe während des Ersten Weltkriegs, in dem er 1916 selbst schwer verwundet wird, Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre nennen wird. (Vgl. Apollinaire. Wortführer der Avantgarde. Avantgardist des Wortes, hg. v. d. Hannema-de-Stuers Fundatie, Heino/Wijhe und der Stiftung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp e.V., Rolandseck 1999/2000, S. 12f.) Hervorgegangen waren diese Arbeiten aus Briefkalligrammen, wie Apollinaire sie an Pablo Picasso geschrieben hatte, so am 4. Juli 1914, wo er seinem Brief ein Gedicht einfügt, La pipe et le pinceau (Die Pfeife und der Pinsel), das als Doppel- und Freundschaftsportrait zu lesen ist: »Die Verse der ersten Strophe zeichnen die Konturen einer Tabakpfeife nach und spielen zugleich auf das in sich gekehrte, nachdenkliche Pfeiferauchen des Schriftstellers an, dessen Ikonographie – auch und gerade in den Porträts von Picasso – nicht vom Bild der Pfeife zu trennen ist; der zweite Teil evoziert im Motiv des Pinsels die malende Hand des Künstlers, dessen Werk die Bilder dieser Welt, ihre Menschen und Landschaften festhält.« (Uwe Fleckner: »Das zerschlagene Wort«, S. 509ff., Zitat S. 510.) Die Schrift bildet beide Gegenstände in ihren Umrisslinien nach. Exakt invers wird dagegen das im Mai 1917 in der Zeitschrift SIC erschienene Bildgedicht Apollinaires mit dem Titel Pablo Picasso verfahren. Hier bildet die Textur der Wörter und Sätze einen dicht gefügten rechteckigen Bildgrund, aus dem weiße Formen herausgeschnitten sind, die, ohne eindeutig erkennbar und benennbar zu sein, doch an die Gegenstandswelt der ›choses cassées‹ erinnern, von denen in der letzten Textzeile auch die Rede ist. (Vgl. ebd., S. 512.) Der durchgängige Textsinn ist durch die bildhafte Fragmentierung jedoch gestört; Satzstrukturen sind buchstäblich gebrochen. Das Gedicht mit dem Titel Pablo Picasso ist gleichsam eine Anamorphose zwischen Schrift und Bild, die bereits auf den Surrealismus vorausweist. Im selben Mai 1917 prägte Apollinaire in seiner Einleitung zum Programmheft zu einer Aufführung der Ballets Russes, die im Mai 1917 in Paris Premiere hatte und an deren
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diesem Blatt in einer gleichsam durch den imaginären Wind verursachten schrägen Anordnung von Kolumnen, die durch einzelne, vertikalisierte Buchstaben formiert sind, in langen Fäden immer wieder von oben nach unten herab. Im Kalligramm Il pleut vermischen sich dabei zwei oder besser drei Sphären, insofern von Regen die Rede ist, die Buchstaben, welche die Worte ›Es regnet‹ bilden, als diskrete Schrifteinheiten vorhanden sind und diese Buchstaben zugleich, als ›reine‹ Striche herabregnend, die Bewegung des Regnens mimetisch nachbilden. Auch Tucholskys »Sinnbild« für die Texte Robert Walsers ist nicht oder nicht nur in der Illustration von Karl Walser zu sehen, dessen frühes Vorbild der Künstler Aubrey Beardsley war, zu dem ein Essay von Franz Blei existiert,12 sondern in Tucholskys eigenem poetischen Bild, welches den Blick auf die Faktur der Zeichnung freigibt. Ausstattung Picasso arbeitete, selbst den Begriff des »sur-réalisme«. (Vgl. ebd., S. 513.) Für seine erste Kalligrammsammlung, die in Farbe erscheinen sollte, hatte Apollinaire noch den Titel Et moi aussi je suis peintre (Auch ich bin Maler) gewählt. Das Buch konnte in den ersten Wirren des Krieges nicht mehr erscheinen; die Arbeiten daraus gingen jedoch später mit anderen in die Calligrammes (1918) ein. Bezeichnenderweise waren die ersten Kalligramme auch alle (außer Il pleut) nach dem Prinzip des Stilllebens komponiert, das an den Kubismus von Picasso und von Georges Braque und Juan Gris erinnerte. Ursprünglich hatte Apollinaire den Ausdruck idéogrammes lyriques für seine Kalligramme vorgesehen. (Vgl. Willard Bohn: »Apollinaires plastische Imagination«, in: Bildlichkeit, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt a.M. 1990, S. 162-191, S. 171.) Dann jedoch wählte er den Ausdruck calligrammes. Und ohne den Einfluss des chinesischen Ideogramms auf das Kalligramm überschätzen zu wollen, weist auch Willard Bohn im Zusammenhang mit Apollinaire auf Ernest Fenollosas weiter oben bereits erwähnte Arbeit Das chinesische Schriftzeichen als poetisches Medium und die darin entwickelte Auffassung vom chinesischen Schriftzeichen als einer Bildkurzschrift der Naturvorgänge hin, in der die gesamte geschriebene chinesische Sprache als ›konkrete Poesie‹ (so Fenollosas Ausdruck) fungiere. Zwei Dinge, die addiert werden, erzeugen dabei nicht ein drittes, sondern deuten eine grundlegende Relation der beiden Dinge zueinander an. So würde beispielsweise im Chinesischen der Satz ›Die Sonne geht im Osten auf‹ mit drei Schriftzeichen wiedergegeben, die alle das Zeichen für Sonne enthalten. Dieses Zeichen verändert jedoch beim Übergang von einem Schriftzeichen zum nächsten seine Position, so daß es – aufsteigend wie die Sonne – den Vorgang der Natur nachzeichnet. (Vgl. ebd., S. 174ff.) Auch die Wirkung der Calligrammes von Apollinaire beruht auf dieser Art Kontiguität. Die Beziehungen zwischen den in seinen Gedichten nebeneinandergestellten Figuren seien ebenso ausdrucksstark wie die Wörter, aus denen sie zusammengesetzt sind, schreibt Apollinaire selbst: »Les rapports qu’il y a entre les figures juxtaposées d’un de mes poèmes sont aussi expressifs que les mots qui le composent«. Zit. ebd., S. 173. 12 | Vgl. Dominik Müller: »Künstlerbrüder – Schwesterkünste. Robert und Karl Walser«, S. 394. Im Essay von Franz Blei zu Aubrey Beardsley aus dem Jahre 1924 wird es heißen: »Wie immer auch die Meinungen über diesen Künstler sich teilen, darin einen sie sich: daß Beardsley ein Zeichner war, der sein Mittel, die Linie, beherrsch-
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Ein solches Bild figuriert auch Robert Walsers Text mit dem Titel Der Philosoph, der im Mai 1919 erscheint: »Er scheint Schriftsteller zu sein [was im Widerspruch zur Berufsbezeichnung im Titel des Textes steht; Anm. d. Verf., KS]; hat aber schrecklich wenig Papier und auffallend wenig Tinte nötig, […].«13 Im deutlichen Verweis auf die in der Mikrographie fehlenden Utensilien schreibt sich das in mehrfachem Sinne Gedrängte der Expression. Und so heißt es im Text auch: »Einige halten ihn für ein Unikum unter seinesgleichen. Er lebt und ist wie tot.«14 Ähnlich und doch signifikant anders liest man im Text Marie, auf den noch zu kommen sein wird, im Band Poetenleben: »Ich komme mir manchmal wie eine Traumgestalt oder Phantasiefigur vor. Ich lebe nicht und bin dennoch lebendig. Wie kommt das?«15 Das Incipit des Textes Der Philosoph aber wird lauten: »Er lauert beständig, steht starr wie ein Bild, spürt nach Dingen, die spinnfadendünn sind. Schon jahrelang treibt er es so und scheint entschlossen zu sein, auf solche Art fortzufahren. Bedauerlich ist’s, beinahe empörend. Immer sucht und findet er etwas und verliert dann alles wieder, weil es allzu fein ist. Jedenfalls übt er eine ans Große streifende Geduld.«16 Die eigene Philosophie und ein »Bild der Trauer«17 wird auch der inmitten Drei[er] kleine[r] Dichtungen 1915 erschienene Text Am See figurieren: an einem See, »in dessen warmes graues Wasser es sorgfältig und gleichsam vorsichtig regnete« und in dem das »holde, heitere Weinen sanft sich verbreitete«: te wie keiner. Kritiker, deren Urteil darin kulminiert, ob etwas ›richtig‹, das heißt von außen her wahr ist, fanden diese Hand zu groß, diesen Fuß zu klein – aber sie messen überhaupt, und hier noch ganz besonders, mit einem falschen Maß, weil sie am unrechten Ort messen. Wo es die bescheidene Absicht eines Mannes ist (oder seine Einbildung, was auf dasselbe herauskommt), nichts als die natürliche Natur wiederzugeben, sie gewissermaßen noch einmal mit einem anderen Mittel zu machen, da wird vielleicht die Kritik am Platze sein, die an ihrer Erinnerung an dieses Stück Natur und an dieser Wiedergabe den Abstand mißt. Aber Beardsleys Kunst erhebt gar nicht den Anspruch, so äußere Natur zu sein. Beardsleys Artung war, einen seelischen Zustand, einen Charakter, eine Leidenschaft in den Linien des menschlichen Körpers und seiner Bewegungen so darzustellen, daß das Ganze ein wesentlich Neues ist, das man das Dekorative nennen mag in Mangel eines besseren Wortes. Es genügt ihm dazu nicht, etwa bloß den Blick der Augen zu ändern, um einen Affekt auszudrücken – er ändert den ganzen Körper: Hände, Füße, Haar, Kleidung und auch die Umgebung erfahren Änderungen, doch nicht etwa sogenannte symbolischer Art. Beardsley zeichnete niemals Übersinnlichkeiten, Philosophien, Ideen und solchen Tiefsinn.« Franz Blei: »Aubrey Beardsley«, in: Aubrey Vincent Beardsley. Zeichnungen, Köln o.J., S. 7-25, S. 14 (Hervorh. d. Verf., KS). 13 | SW 16/115. 14 | SW 16/116. 15 | SW 6/73. 16 | SW 16/115. 17 | SW 16/15.
VII. K ONSIGNATIONEN Ich ging eines Abends nach dem Abendessen rasch noch zum See hinaus, der, ich weiß nicht mehr deutlich von was für einer regnerischen Melancholie dunkel umhüllt war. Ich setzte mich auf eine Bank, die unter den freien Zweigen eines Weidenbaumes stand, und indem ich mich so einem unbestimmten Sinnen überließ, wollte ich mir einbilden, daß ich nirgends sei, eine Philosophie, die mich in ein sonderbares reizendes Behagen setzte. Herrlich war das Bild der Trauer am regnerischen See, in dessen warmes graues Wasser es sorgfältig und gleichsam vorsichtig regnete.18
Die Seenlandschaft ist überlagert von Pikturalität; bedächtig sind Linien gezogen, sorgfältig in das »Bild der Trauer« Ströme eingezeichnet, die den See auffüllen, das Wasser anschwellen lassen. Auf einer Bank niedergelassen und einem »unbestimmten Sinnen« überlassen, bildet sich das poetische Ich dabei ein, »nirgends« zu sein. Diese Einbildung verursacht zwar ein »sonderbares Behagen« – gibt aber zugleich das Bild einer Trauer ab, die sich durch umfassende Ambiguisierung auszeichnet. Die Trauer selbst ist dabei jedoch nicht zugänglich; es geht um das »Bild« der Trauer, das sich mit meteorologisch wechselnden Aggregatzuständen von Wasser, mit dem Fluiden verbindet. »Ich kann sagen, daß ich den Winter gut angewendet habe«,19 wird Robert Walser nach Fertigstellung des verlorenen Tobold-Romans im März 1919 resümieren. Und das kann bedeuten, dass der Autor den Winter 1918/19 gut genutzt, möglicherweise aber eben auch ›gut angewendet‹ hatte. Ob und inwiefern Wintermotive im Tobold-Roman eine Rolle gespielt haben mögen, bleibt Spekulation. Dass aber Schnee in Robert Walsers Werk, von den frühen bis zu den späten Arbeiten, durchgehend figuriert ist und sich zuweilen eben auch mit dem Regen verbindet, erweist sich im selben Jahr 1919, in dem bei Bruno Cassirer der bereits 1909 erschienene Band Gedichte wiederaufgelegt wird. Hierin findet sich das frühe Gedicht Robert Walsers mit dem Titel Schnee (I). Es ist von einer Zeichnung des Bruders Karl Walser illustriert, die im einfachen SchwarzWeiß einer Federzeichnung einen Spaziergänger in Rückenansicht inmitten einer Schneelandschaft zeigt (vgl. Abb. 6). Die zeichnerischen Striche wimmeln und verdichten sich, locker vom Himmel fallend, erdrückend zum schneebedeckten Boden hin, auf dem der einsame Spaziergänger seine nur lose konturierten, schraffierten Fußabdrücke hinterlässt. Der Fond des weißen Blattes wird dabei gleichermaßen zum Boden wie zum Himmel wie zum Schnee. Der Schnee, der in den Strichen graphisch, der zu Schneeflocken wird, ist als Schneedecke nicht gezeichnet, weil er in Gestalt des weißen Blattes ja bereits vorhanden ist. Die Zeichnung von Karl Walser ist bereits in der Erstausgabe der Gedichte in das Poem des Bruders mit dem Titel Schnee (I), wie als die pictura eines Emblems, mitten zwischen die Strophen des Gedichts und in das Bild gesetzt, das diese Seite im Band abgibt: 18 | SW 16/14f. 19 | Brief vom 6. März 1919 an Frieda Mermet, in: Br, S. 162.
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Abbildung 8: Schnee (I) im Band Gedichte (1909/1919) mit der Illustration von Karl Walser
Quelle: Museum Neuhaus Biel, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung © GKS, Zürich
VII. K ONSIGNATIONEN Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde mit weißer Beschwerde, so weit, so weit. Es taumelt so weh, hinunter vom Himmel, das Flockengewimmel, der Schnee, der Schnee. Das gibt dir, ach, eine Ruh, eine Weite, die weißverschneite Welt macht mich schwach. So daß erst klein, dann groß mein Sehnen sich drängt zu Tränen, in mich hinein. 20
Im Emblem wäre die erste Strophe des Gedichts die inscriptio, die folgenden drei Strophen würden die subscriptio bilden. Die ersten Verse des Gedichts öffnen dabei auf eine Weite – auch der Auslegung: »Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde/mit weißer Beschwerde, so weit, so weit.« Bereits im ersten Vers der zweiten Strophe jedoch (»Es taumelt so weh, hinunter vom Himmel«), mit dem die brüderliche Zeichnung von unten her eingerahmt wird, verengt sich die Deutbarkeit – und zwar mit einem einzigen Wort: »weh«. Der angeschlagene elegische Ton setzt sich nun in der dritten Strophe mit einem kleistischen »ach« fort. Und im vierten Doppelvers erscheinen am Ende die »Tränen«. Der Schweizer Kritiker Eduard Korrodi hat im Zusammenhang mit der Wiederauflage des Bands Gedichte 1919 geschrieben, dass Gedichte und Zeichnungen hierin »ein inniges Monogramm« bilden würden.21 Und besonders innig scheint dieses Monogramm in der Tat beim Gedicht Schnee. Die Federstriche der Zeichnung korrespondieren graphisch mit der Frakturschrift, als der vom Autor Robert Walser immer wieder ausdrücklich präferierten ›gotischen‹, sogenannt ›gebrochenen‹ Druckschrift. Die Friktion der Buchstaben in dieser Schrift ähnelt – fraternalisierend – den Strichen der brüderlichen Zeichnung. Und die zeichnerische Lineatur berührt sich darin eigentümlich präzise mit den Versen des Gedichts: »So daß erst klein, dann groß mein Sehnen/sich drängt zu Tränen, in mich hinein.«22 Die Striche der Frakturschrift geraten zum analogon nicht nur der sinnfreien Striche der Zeichnung, sondern auch der sinnhaltigen Striche, der Kommata, die als Schriftzeichen im Wesentlichen den Pausen innerhalb der gesprochenen Sprache entsprechen. Auch die Schneeflocken sind in ihrer Piktur wie Kommata. 20 | SW 13/15. 21 | Eduard Korrodi: »Robert Walsers Gedichte« [1919], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 114-115, S. 114; zit. bei Anna Fattori: »Karl und Robert Walser: Bild(er) und Text in Leben eines Malers«, in: Bildersprache. Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser, hg. v. Anna Fattori und Margit Gigerl, München 2008, S. 89-105, S. 91. 22 | SW 13/15.
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Im Blick auf die Buchseite wird alles eins und doch nicht eins: Die Schneeflocken sind Federstriche, kurze Graphen, die den Strichen der Frakturschrift ähneln, und ebenso dem Komma, das in der letzten Strophe des Gedichts den Umschlag des Sinns – von »klein« zu »groß«, von außen nach innen, von der Weiterung zur Komprimierung – anzeigt. Das Komma, etymologisch von griechisch kóptein ›schlagen‹, steht am Ort des ›Abschnitts‹. Es ist ein Beistrich, nicht nur zur positiv gesetzten Schrift, sondern zu einem gedanklichen Schnitt.23 Es markiert den Umschlag, den Übergang zu etwas anderem, einem anderen Gedanken, einem im Gefüge des Satzes beigeordneten Syntagma. In Robert Walsers Versen im Gedicht Schnee (I) steht das Komma am Ort eines Übergangs, der zunächst explizit wird, wo es um das Sehnen geht, das »erst klein, dann groß« ist. Im Enjambement, im Wechsel zur folgenden Zeile, einem Wechsel, der ins Leere, ins offene Blatt führt und gerade nicht durch ein Komma markiert ist, verkehrt sich das expansive Sehnen jedoch zur Bewegung nach innen. Es drängt nicht, wie Tränen dies tun, als ein Reflex auf den Schmerz, als Expressivität des Gefühls, nach außen, sondern paradoxerweise drängt das Sehnen sich zu Tränen: »in mich hinein«. Der Weinende, der nicht mehr an sich hält, ist ohne Worte, machtlos, und trotzdem ist er nah am Sprechen, das ebenfalls fließt und sich ergießt. Die Schrift hingegen hält an sich: »in mich hinein«.24 Tränen extrovertieren die Gefühlsregung, sie drücken diese aus, sie verschaffen Erleichterung und bedrängen nicht etwa – wie der Schmerz selbst dies tut. Auch Sehnsucht entfaltet sich, ist expansiv, breitet sich aus, verdichtet sich nicht. Alle konventionellen – räumlichen – Vorstellungen sind in den Versen verkehrt. Noch stärker und zugleich subtiler wird die Ambiguisierung dabei in der fehlenden Entsprechung zwischen den beiden zentralen Substantiven, dem Sehnen und den Tränen. Das unreine Reimen zeigt, dass sich beides auch in einem übertragenen Sinne nicht etwa aufeinander reimen muss, dass es schwierig ist, sich – zumal von außen – auf dieses unwägbare, nicht ›eins zu eins‹ zu rekonstruierende Ausdrucks- und Entsprechungsverhältnis in sprichwörtlichem Sinne ›einen Reim zu machen‹. Die Schrift hat dabei jedoch eine Freiheit der Darstellung, welche die bildende Kunst nicht hat. Tränen sind kaum je in der Malerei und Graphik dargestellt worden. Tränen entstellen das Gesicht und unterstehen deswegen demselben Verdikt, wie Lessing es auch für die Darstellung des Schreis in der Kunst formuliert hat.25 Robert Walsers Gedicht 23 | Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 390. 24 | Vgl. Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 17. 25 | Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften, Bd. 9, S. 8ff. sowie Christine Rospert: Poetik einer Sprache der Toten. Studien zum Schreiben von Nelly Sachs, Bielefeld 2004, S. 101f., die David E. Wellbery: »Das Gesetz der Schönheit«, in: Was heißt Darstellen?, hg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt a.M. 1994 folgt. Rospert schreibt: »Das, was das identische Subjekt, seine makellose Gestalt, infragestellt, zugleich das, was mich unvermittelt anspringt wie etwa
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Schnee (I) aber spricht gewissermaßen aus, was in der Zeichnung Karl Walsers nur alludiert, worauf mit vielen sinnneutralen Strichen nur angespielt ist. Und so ist auch der im April 1919 erschienene Prosatext mit dem Titel Das erste Gedicht noch einmal in Erinnerung zu rufen, in dem das abgekehrte Gesicht mit seinen Tränen in das Gedicht oder vielmehr in das Gedicht im Prosatext aufgenommen ist: »Es war ihm, als kehre jemand das Gesicht ab, um die Tränen zu verbergen. Er nahm nun auch das Gesicht, nebst den Bergspitzen, sowie alles Abhärmen der Welt in sein Gedicht auf, […].«26
VII.2 D IE A UK TORIALITÄT DES B L AT TES Wie Wolfram Groddeck gezeigt hat, bezieht die Similarität im Prosatext Robert Walsers mit dem selbstreferentiellen Titel Prosastück, das nach 1927 geschrieben und unveröffentlicht geblieben ist, und das auf Blatt Nr. 119 der Mikrogramme in einem Gefüge von acht Textkolumnen konstelliert ist, vom Papier über die Farbe Weiß bis hin zum Schnee den Ort und die Materialiät der Schrift mit ein: »Schriftbildlichkeit selbst [wird] als poetisches Bild lesbar.«27 Das Prosastück ist auf dem Blatt, so Groddeck, »umgrenzt von kleinen flüchtigen Gedichten, selbst zu einem zwischen seiner Vorhandenheit und seinem Verschwinden sich wissenden Prosa-Gedicht – wie Schnee auf weißem Grund« geworden.28 Es fragt dabei nach einer Art Auktorialität des Blattes: »Weiß das Blatt, wie schön es ist?« Der kleine Text lautet wie folgt: Prosastück Zwischen Schneeflocken und Blättern sind Ähnlichkeiten vorhanden. Sieht man es schneien, so meint man Blümchen aus dem Himmel herunterfallen sehen zu können. Warum ist welkendes Laub im Herbst goldig-schön, und warum meint man, die Frühlingsblumen hätten Zungen, bildeten eine Art von Gespräch? Beim Anblick von Blättern denkt man an Hände, deren Befingertheiten knospenhaft sind. Die Federn der Vögel, die Blätter am Baum, das zierliche, federliche, fingerlige Schneien im Winter seien verwandt, meint man ein Recht zu haben, sich zu sagen. Der Wind scheint das Unachtsame zu sein, dem man nicht trauen kann; die Windstille ist süß das Gefühl des Ekels oder der realen Verletzung, welches nicht für etwas, sondern nur für sich selbst steht, wird von Lessing mit einem Verdikt belegt: Das andere der Repräsentation, dasjenige, welches das Klaffen der Identität des Subjekts im Pathos einer Geste offenbart, darf keine Spur am Kunstwerk hinterlassen haben. Paradigma dieses Verdikts ist die kategorische Ablehnung der bildnerischen Darstellung des Schreis des Laokoon durch Lessing.« Ebd., S. 153. 26 | SW 16/253f. 27 | Wolfram Groddeck: »›Weiß das Blatt, wie schön es ist?‹ Prosastück, Schriftbild und Poesie bei Robert Walser«, in: Text. Kritische Beiträge, Heft Nr. 3 (1997), S. 23-41, S. 32. 28 | Ebd., S. 41.
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M IKROPOETIK wie die in sich selbst selig umherfließende Folgsamkeit, sich als schön empfindend. Empfindet sich der Wind als windig? Weiß das Blatt, wie schön es ist? Lächeln die Schneeflocken und bezaubern sich die Blumen selbst und wissen Locken um ihre Löckeligkeit? Ein Fluß ähnelt in seinem Ziehen einem geschmeidigen, eiligen Wanderer, die Wassermasse eines Sees in ihrer Ruhe einer schönen Frau mit weißen Handschuhen und blauen Augen. Die Blätterfülle verhüllt die reizende Feinheit der Zweige. Hübsch ist’s zu denken, daß Hübsches vorhanden sei. Wellen und Äste haben Schlangenform, und Augenblicke kommen, wo man weiß, man sei nicht mehr und nicht weniger als Wellen und Schneeflocken oder als das sich gewiß hier und da aus seiner so ungemein anmutigen Umgrenztheit sehnende Blatt. 29
Das sich »gewiß hie und da aus seiner so ungemein anmutigen Umgrenztheit sehnende Blatt« ist derjenige Teil des Blattes, den der Text Prosastück bedeckt, der auf demselben Blatt umrahmt ist von fünf Gedichtentwürfen, in denen Schnee ebenfalls motivisch ist. Das Sehnen, das Grenzen sprengende Begehren des Blattes ist zur Semantik einer Textkolumne geworden, die, für sich genommen, kein ganzes Blatt ist, sondern klein, und das heißt nur im Gefüge der »so ungemein anmutigen Umgrenztheit« existent. Die Präfixe bilden die Rahmungen und Gerahmtheiten ab, das Angrenzende, den Umlauf, den Blickwechsel, das je andere Verhältnis, in das die Texte durch die Umkehrung im Präfix ›un-‹ zueinander gesetzt sind. Und die Pointe einer für das Schriftbild konstitutiven Zwischenräumlichkeit liegt, so Sybille Krämer, in der Tat darin, »ein Prinzip von Visualität zur Geltung zu bringen, bei dem an die Stelle von ›Gestalt‹ etwas anderes tritt, nämlich die ›Stellung-innerhalb-einer-Konfiguration‹, wir können dazu auch sagen: der ›Stellenwert‹.«30 Die »Umgrenztheit« verleiht auch Robert Walsers Text eine Positivität, die allerdings zugleich in Frage gestellt ist: Was würde geschehen, wenn das Blatt sich aus dieser »anmutigen Umgrenztheit« lösen, wenn es nicht nur die eigenen Grenzen aufkündigen, sondern Antinomien als solche dislozieren und bis zur Unkenntlichkeit verwirren würde? Die Indifferenz hat zwei Aspekte: den undifferenzierten Abgrund, das schwarze Nichts, das unbestimmte Lebewesen, in dem alles aufgelöst ist – aber auch das weiße Nichts, die wieder ruhig gewordene Oberfläche […] Eigentlich lösen sich alle Formen auf, wenn sie sich in jenem aufsteigenden Untergrund reflektieren. Er selbst ist nicht länger das reine Unbestimmte, das im Hintergrund bleibt, aber auch die Formen sind nicht länger koexistente oder komplementäre Bestimmungen. Der aufsteigende Untergrund ist nicht mehr im Hintergrund, sondern gewinnt autonome Existenz; die Form, die sich in diesem Grund reflektiert, ist keine Form mehr, sondern eine abstrakte Linie, die unmittelbar auf die Seele einwirkt. 31 29 | SW 19/182f. 30 | Sybille Krämer: »Schriftbildlichkeit«, S. 164. 31 | Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 49f. »Der Blitz zum Beispiel unterscheidet sich vom schwarzen Himmel, kann ihn aber nicht loswerden, als ob er sich selbst nicht unterscheidet. Man könnte sagen, der Untergrund steige zur
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»Wir sind hier bis jetzt noch nicht mit Schneeflocken begnadigt worden«,32 wird Robert Walser in einem Brief Ende 1925 schreiben und den Charakter einer existentiellen Weisung, einer Aufhebung von Strafe, einer Amnestie offenbaren. Diese Bedeutung nämlich hat die Motivkette Schnee, Schneien, Schneeglöckchen usf. in ihrer metonymischen Verbindung zum Weiß des Papiers – und das heißt, wie Wolfram Groddeck gezeigt hat, in ihrer Verbindung zum Wissen. Das Papier, der weiblich konnotierte Beschreibstoff, der sich mittels der Farbe Weiß33 mit dem Schnee metonymisch verbunden zeigt, ist wie die Schneedecke ein Hymen, mit dem unterschiedlich umzugehen ist. So scheinen die Mikrogramme das ›Einschneien‹ dem Einschreiben als Verfahren entgegenzusetzen. Wie beim Schneien, diesem »Lebensmotiv« Robert Walsers, wie Peter Utz pointiert hat, »legt sich auch beim Schreiben eine Schicht von Fremdheit über die Dinge, eine an sich kühle Decke, die aber das, was sie unter sich begräbt, am Leben hält und wärmt«.34 Der Schnee Oberfläche auf, bleibe aber weiterhin Untergrund. […] Die Differenz ist diese Fassung der Bestimmung als einseitiger Unterscheidung. […] Die Platoniker sagten, das Nicht-Eine unterscheide sich vom Einen, nicht aber umgekehrt, da sich das Eine nicht dem entzieht, was sich ihm entzieht: und die Form unterscheide sich, auf der Gegenseite, von der Materie oder vom Untergrund, nicht aber umgekehrt, da die Unterscheidung selbst eine Form ist.« (Ebd., S. 49.) Wenn, wie Deleuze die Platoniker interpretiert, »die Unterscheidung selbst eine Form ist«, unterscheidet sich auch diese Unterscheidung selbst »von der Materie oder vom Untergrund, nicht aber umgekehrt«. Die Materie oder der Untergrund unterscheidet sich nicht von der Differenz selbst. Und damit wäre – buchstäblich im Grunde – jede Unterscheidung zunichte gemacht. Es sei denn, sie entfaltete sich in der Wiederholung, in den Parametern der Zeit – und nicht in denen des Raumes. Im Jugendstil bereits erscheinen Linien »als übertragene Gebärden, Äußerungen von Lebenskraft und Erregung – psychische Kräfte leiten die Hand, natürliche Kräfte hinterlassen Spuren wie der stürzende Fels auf den Flächen, die er trifft, oder der Wind in den linearen Arabesken bewegten Wassers. So schreiben sich die Linien, wie das Ornament Schrift der Gebärden, als Ausdruck von Erregungen auf vorher nackte Flächen ein«, schreibt Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Gießen 1989, S. 91. 32 | Brief an Therese Breitbach (nach dem 15. November 1925), in: Br, S. 250. 33 | »Leere Papierkonvolute enthalten alle möglichen Bücher, enthalten ganze ›Welten‹ im Zustand der Virtualität in sich, so wie die leere Leinwand ein Versprechen vielfacher zukünftiger Bilder sein mag. Weiß ist also auch Chiffre des Möglichen, des Nicht- oder Noch-nicht-Wirklichen. Darf das Schwarz der Lettern als die Symbolfarbe des Faktischen als des ›Positiven‹ gelten, so verhält sich das Weiß kontrafaktisch, oft subversiv.« Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, München 1995, S. 50f. 34 | Peter Utz: »›Wärmende Fremde‹ – zur Einführung«, in: ders. (Hg.): Wärmende Fremde. Robert Walser und seine Übersetzer im Gespräch. Akten des Kolloqui-
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ist Mantel, und wie dieser Mantel soll die poetische Sprache ›warm geben‹: »Ich nahm schon den Schnee für einen prächtig wärmenden Mantel«,35 hatte es in Robert Walsers bereits zitiertem Initiationstext Heimkehr im Schnee geheißen, der die Heimkehr in eine vertraute Sprache figuriert. Auch der Schnee spricht eine vertraute Sprache: Er ›zeichnet‹, jedoch invers; das Inskriptionsverhältnis kehrt sich gegenüber der Schrift um: Filigranstrukturen werden nicht Schwarz-auf-Weiß, sondern Weiß-aufSchwarz sichtbar. Im Panorama einer verschneiten Landschaft lassen sich Gegenstände dabei nicht mehr unterscheiden; die Natur wird unter dem vertikalen Auftrag zu einem Palimpsest. Und das Wissen um das, was unter der sichtbaren Schneeschicht gelegen hatte und was sich dort ja auch noch immer befindet, verflüchtigt sich zu einer Ahnung, zur Erinnerung daran, wie derselbe Landstrich ohne eine Schneedecke ausgesehen hatte. Schnee überzieht filigrane Strukturen mit einer Haube, welche die sonst übersehenen Mikrostrukturen kenntlicher macht. Die Dinge sind überdeckt, verhüllt – und haben dennoch deutlicher Kontur. Alles Kleine, Verästelte rückt in den Blick – und zeigt sich zugleich verrätselt. Was mag sich darunter verbergen? Robert Walser hat insgesamt vier Gedichte geschrieben, die den Titel Schnee tragen; und sie bilden selbst zusammen genommen in der Tat ein Palimpsest aus. So zeigt die zweite Fassung, spätestens im Jahre 1900 entstanden und damals unveröffentlicht geblieben, in den Versen »Ganz weiß ist nun die Welt./Erloschen ist die Welt./Vergangen ist die Welt./Wie sie vorher war, drängt/sie sich in mich hinein:/da stürmt ein quälend Grün«36 eine Verbindung zur ersten, publizistisch erfolgreicheren Fassung, die, wie weiter oben zitiert, endete: »So daß erst klein, dann groß mein Sehnen/ sich drängt zu Tränen, in mich hinein.«37 In der zweiten Fassung ist es nicht das Sehnen, sondern die Welt, wie sie vorher war, die Vergangenheit, die in das poetische Ich hineindrängt, es sogar bedrängt. Als ein »quälend[es] Grün«. In der letzten Fassung des Gedichts Schnee, im Februar 1930 im Prager Tagblatt erschienen, wird es dagegen heißen: »Auch ich bin wie mit Schnee bedeckt,/als hätt’ ich mich vor mir versteckt.«38 In den Anfangsversen der ersten Fassung mit dem Titel Schnee (I) jedoch, die im Jahre 1900 in der Zeitschrift Die Insel, dann in der vom Bruder illustrierten Erstausgabe der Gedichte 1909 erschienen und mit dieser Ausgabe im Jahre 1919 wiederaufgelegt worden war, hieß es dagegen noch: »Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde/ mit weißer Beschwerde, so weit, so weit.«39 Die Etymologie des Wortes Schnee deutet auf eine Sprachverwandtschaft mit dem Gebären, der Geums an der Universität Lausanne. Februar 1994, Bern 1994, S. 11-17, S. 15. 35 | SW 16/305. 36 | SW 13/35. 37 | SW 13/15. 38 | SW 13/107. 39 | SW 13/15.
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bärde und der Erde, die mit dem Schnee eine Last trägt – wie die Mutter das Kind.40 Und doch ist die »Beschwerde«, die im Reimwort, im Nachklang zur Erde auftaucht, noch in einem anderen Sinne doppeldeutig. Es geht auch um die Beschwerde im Sinne von Klage und Anklage. Was aber ist eine ›weiße Beschwerde‹? Robert Walser wird in den Mikrogrammen angesichts der fast unmöglich gemachten Lektüre der Texte in gewissem Sinne weiße Blätter schreiben; dies sind ›weiße‹, ›unschuldige‹, nicht deutlich markierende und das heißt nicht injurierende, nicht verletzende, weiße »Beschwerde[n]«. Die »weiße Beschwerde« bedeckt, nivelliert, äquilibriert; sie kehrt das Verhältnis von Figur und Grund um.41 Und sie beantwortet das diskursive Getöse der Welt, ohne sich etwa auch daran zu beteiligen, ohne Intervention. Das Zurückweichen der Schrift zugunsten des Blattes oder besser in das weiße Blatt hinein, das sich in der grauen Schrift der Mikrogramme darstellt, findet sich als semantische Korrespondenz dabei auch im Titel der von Franz Blei und später von René Schickele herausgegebenen Zeitschrift Die Weissen Blätter, die, wie erwähnt, ab 1916 pazifistisch orientiert war.42 Im Briefwechsel zum Band Seeland, für den Robert Walser eigentlich wieder die Frakturschrift präferiert hatte, wird es durch den Autor 1918 so auch konziliant heißen: »Sollte es Antiqua sein, so käme mir beispielsweise die in den Weißen Blättern verwendete wärmer, weicher, d.h. besser vor.«43
40 | Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, S. 27 und S. 237 [zu ›aper‹ = ›nicht (Schnee) tragend‹ und ›gebären‹, ›hervorbringen‹ und ›bhar‹ = ›als Leibesfrucht tragen‹]. 41 | Auch Walter van Rossum behält aber zugleich Recht, wenn er schreibt: »Man möchte fast sagen, Walser hat das Blatt schwarz geschrieben – das Weiße, der geschwätzige Hintergrund der Rede, zeichnet sich nicht mehr ab.« Walter van Rossum: »Schreiben als Schrift«, S. 240. 42 | Der Titel der Zeitschrift Die Weissen Blätter folgt dabei vermutlich dem französischen Vorbild der Revue blanche, die, begründet von den Brüdern Natanson, jungen polnischen Juden, in ihrer kurzen Erscheinungszeit zwischen 1889 und 1903 Sprachrohr der künstlerischen Intelligenz Frankreichs war. Die Zeitschrift stellte sich in der Dreyfus-Affäre ab 1894, die die französische Gesellschaft in zwei Lager spaltete, auf die Seite von Alfred Dreyfus, der als jüdischer, aus dem Elsass stammender Artilleriehauptmann im Generalstab der Dritten Republik zu Unrecht der Spionage und des Landesverrats angeklagt und erst nach Jahren rehabilitiert wurde. 43 | Brief vom 26. Oktober 1918 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 148.
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VII.3 M ALEN UND I LLUSTRIEREN : B RIEF WECHSEL ZUM B AND S EELAND Zehn Jahre nach den Illustrationen von Karl Walser zum Band Gedichte wird Robert Walser sich im Zusammenhang mit der Publikation des Bandes Seeland gegen Illustrationen verwahren, und zwar mit dem im Brief an den Verlag vorgebrachten Einwand, seine Feder male und illustriere schließlich schon selbst und bedürfe der »lieblichen Stempel« nicht mehr. Aufrichtig gesprochen bin ich immerhin überzeugt, daß gerade »Seeland« sich entweder keineswegs oder nur in geringem, d.h. in allzu geringem Grad zum Illustrieren eignet, und zwar deßhalb nicht, weil der Autor hier zu wenig Lücken offen läßt, mit andern Worten, weil hier der Dichter schon selber mit der Schreibfeder, mit den sprachlichen Worten – malt und illustriert. 44
Nun ist gerade die Schrift »ein notationales Medium, welches im Unterschied zum dichten, zum piktoralen Medium mit Lücken bzw. Leerstellen arbeitet«, insofern syntaktische Einheiten und ihre Relationen durch Leerstellen und Interpunktion überhaupt erst unterscheidbar gemacht werden können.45 Hier aber hat die Schrift »zu wenig Lücken«. Und in der Tat haben die Mikrogramme zu wenig Lücken, wodurch Worte als Einheiten nicht leicht zu entziffern sind. Zugleich tragen die Texte, so formuliert es der Brief, offenbar selbst einen Stempel. Es ist in der Schrift selbst etwas sichtbar gemacht. Die Federzeichnungen scheinen buchstäblich überflüssig geworden, wo mit »sprachlichen Worten«, als gäbe es im Gegensatz dazu auch ›Worte‹ der Zeichnung, gemalt und illustriert worden ist. Die Betonung (einer Differenz) liegt dabei auch auf der Kopula ›und‹. Dass aber die Liquidität, dass der Fluxus der Tinte bereits mit der Sprache erreicht wäre, ist etwas, das mit dem Druck nicht sichtbar werden kann – es sei denn in der Semantik eines sprichwörtlich ›flüssigen Textes‹. Was also wird hier gegen die Konkurrenz der bildlichen Illustration gewahrt, verwahrt, gerettet, als etwas, das einer Beglaubigung durch die »lieblichen Stempel« nicht mehr bedarf? Es scheint nicht um Bilder zu gehen, die im Lesen vor Augen stehen, sondern es geht um ein Bild, das im Schreiben entstanden ist, um ein Schriftbild, in dem sich etwas bereits eingedrückt zeigt. Die Stempel, die die ers44 | Brief vom 17. April 1918 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 126f. (Hervorh. v. RW). Auch vermeintlich einfachen Buchschmuck betreffend ist diese Auffassung schon im Jahr zuvor, in einem Schreiben zur Ausgabe Poetenleben, formuliert: »Wozu soll der Strich oben dienen? Sie werden verzeihen, wenn ich der Meinung bin, dass er gänzlich überflüssig sei. Ich möchte im Buch keinen andern Schmuck haben als den hübschen Text selbst, den ich deshalb schmuck und zierlich wünsche./Ebenso wie der Strich oben soll das Initial wegfallen, weil dadurch die dekorative und sinngemäße Wirkung der Ueberschrift des Prosatextes leidet.« Brief vom 19. Juni 1917 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 105 (Hervorh. v. RW). 45 | Vgl. Sybille Krämer: »Schriftbildlichkeit«, S. 160ff., S. 163.
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ten Urheberzeichen zur Beglaubigung von Texten bildeten und in denen sich, wie in den Siegeln, der Körper durch die Stärke des Eindrucks noch selbst abbildete, die als exakt wiederholbare Zeichen aber zugleich bereits vom Körper abstrahieren, braucht es dazu nicht mehr. Präzise wie von einem Druckblock, von einem Stempel signiert und designiert ist die Erzählung von etwas anderem. Das Graphieren mit dem Stempel ist Bewegung entgegen Fläche, reliefartige Einprägung oder/und Abdruck mittels einer färbenden Substanz, »punktuelle Abbildung einer physisch vorgebildeten Form« oder eines flächigen Zeichens auf dem Papier – wie ein Fußabdruck oder wie die Fährte eines Tieres. Das lineare Schreiben von Schriftzeichen hingegen ist Ablauf, »die Abbildung der Bewegung eines Punktes« entlang einer Fläche, als Ritzung, Zeichnung oder als Schreiben mittels eines Griffels. Sprachlich sind die Verfahren durch die Wörter charakter (griech. ›Eingeprägtes‹) und graph (griech. etwa so viel wie ›Ritzung‹, ›Linienzug‹, ›Geschriebenes‹) modelliert.46 Und zwar mögen die »lieblichen Stempel« wieder Reminiszenz auch an Bernhard Kellermanns Buch Ein Spaziergang in Japan sein, wo rote Stempel erwähnt sind, mit denen ein Warentausch beglaubigt worden war: »Ich bekam eine wunderbare Rechnung mit drei roten Stempeln, ein ganzes Bilderbuch.«47 Doch gab es eben auch grausigere Stempel. So besiegelte der Amtsstempel des Eisernen Kreuzes in Deutschland den Tod der Gefallenen im Ersten Weltkrieg.48 Auch Stempel hatten mittlerweile eine andere Konnotation. Bernhard Kellermann selbst war Kriegsberichterstatter des Berliner Tageblatts, einer seiner Kriegsberichte als Der Krieg im Westen 1915 bei S. Fischer erschienen.49 Das Verfahren der Konsignation aber, der Beglaubigung, dem die Illustrationen des Bruders gedient hatten, ist der Schrift nun selbst inhärent. So jedenfalls legt es Robert Walser, den Band Seeland betreffend, 1918 im Brief an den Verlag Huber nahe und spricht sich selbst dabei frei: »Was ich irgendwie tun konnte, um ein schönes, wohlgeformtes Buch herzustellen, habe ich getan. Mit der Reihenfolge der Stücke darf ich Sie wohl einverstanden hoffen. Mit der frischgefaßten Lust, hinzugehen und die Pflicht zu erfüllen, wird doch wohl das Werk anstandshalber ausklingen dürfen.«50 Die Stücke scheinen durch ihre Anordnung gerechtfertigt. Vor allem durch ihren Schlusspunkt, denn zuletzt ist die Rede von der Erzählung Hans, jenem letzten Stück im Band, in dem sich der Protagonist zum Kriegsdienst, wenn nicht motiviert, 46 | Andreas Stötzner: »Signographie als eigenständiges Fach«, in: Signa. Beiträge zur Signographie, Heft Nr. 1 (Herbst 2000), S. 23-36, S. 26. 47 | Bernhard Kellermann: Ein Spaziergang in Japan, S. 76. 48 | Vgl. Margareta Benz-Zauner et al. (Hg.): »Und ich flog«. Paul Klee in Schleißheim, München 1997, S. 55. 49 | Vgl. Kai-Uwe Scholz: Bernhard Kellermann (1879-1951), Frankfurter Buntbücher 12, hg. v. Wolfgang Barthel, Förderkreis Kleist-Gedenk- und Forschungsstätte/Kleist-Museum Frankfurt (Oder) e.V. 1994, S. 3. 50 | Brief vom 1. Februar 1918 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 119.
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so doch mobilisiert zeigt. Der Sammelband Seeland, der am Ende doch von Karl Walser illustriert und sogar vom Illustrator und nicht vom Autor signiert51 ausgeliefert worden war, wird in Robert Walsers Korrespondenz zunächst mit dem Titel Studien und Novellen, später als Studien geführt.52 Die Studien, heißt es Ende Mai des Jahres 1917, »oder wie sie sonst zu benennen sein werden«, seien nun ein »fest-aufgebautes« Buch, und »vielleicht bedeutender« als das andere Buch, Poetenleben, mit dessen Drucklegung der Autor zur selben Zeit befasst ist und das er zuerst herauszubringen vorschlägt, dabei »stark für alles interessiert«, wie es im Brief an den Verlag heißt, »was die Gewandung von Poetenleben betrifft«.53 So findet die Wahl des Papiers sein Einverständnis, nicht aber die der Schrifttype: »[…]; hingegen muß ich, immer Ihre freundliche Erlaubnis vorausgesetzt, den Buchstaben entschieden verwerfen, […].«54 Der Buchstabe sei besonders für ein Buch wie Poetenleben zu »spitzig und eckig« und seine Präferenz, schreibt Robert Walser hier, sei vielmehr: »eine feine, zarte, runde, unverkünstelte Fraktur. Das Buch soll deutsch und nicht assyrisch oder ägyptisch aussehen. Besitzen Sie Erstausgaben von Klassikern, wie Schiller, Lessing, Göthe usw.?«55 Nicht »ägyptisch« soll das Buch aussehen, nicht fremd, nicht hieroglyphisch. Im Jahre 1918 aber kommt der Autor gegenüber dem Verlag Huber auf den Titel des Bandes Seeland zu sprechen, und dort ist das Hieroglyphische durchaus intendiert: »Er [der Titel] bezeichnet in aller Kürze dasjenige, um das es sich handelt, nämlich eine Gegend. Außerdem klingt irgendwelches Magische im Wort.«56 Und gegenüber dem Rascher Verlag heißt es hierzu: Der Titel »Seeland« erscheint mir deßhalb denkbar richtig, weil er knapp und straff dasjenige bezeichnet, um das es sich hier handelt, um eine Gegend und um die Erscheinungen derselben. Der Titel ist sinnlich und einfach und ich möchte sagen, europäisch oder rein-weltlich. »Seeland« kann in der Schweiz oder überall sein, in Australien, in Holland oder sonstwo.57
Was also für den »Buchstaben« entschieden verworfen worden war, als synkretistische Beimengung des Assyrischen, Ägyptischen, Hieroglyphischen 51 | Vgl. Anmerkungen des Herausgebers in: SW 7/212. Der Band Seeland erschien, anders als Robert Walser es beabsichtigt hatte, in limitierter, bibliophiler Ausgabe mit fünf Illustrationen, Radierungen des Bruders Karl Walser, und im Widerspruch zum Ansinnen des Autors nicht in einer Fraktur-, sondern in einer Antiqua-Type. Vgl. Nachwort von Werner Morlang, in: Mikro, Bd. 2, S. 514. 52 | Vgl. Briefe vom 12. März und 28. Mai 1917 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 100 und S. 103. 53 | Vgl. Briefe vom 28. und 30. Mai sowie dem 19. Juni 1917 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 102ff. 54 | Brief vom 19. Juni 1917 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 104. 55 | Ebd., S. 105f. 56 | Brief vom 1. Februar 1918 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 119. 57 | Brief vom 1. April 1918 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 126.
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oder Hieratischen, ist, was die Semantik des Titels Seeland betrifft, in der Allusion des Anderen gerade beabsichtigt. Neben dem Heimatland Schweiz und Australien, als dem sprichwörtlich ›anderen Ende der Welt‹, erscheint im Brief am Ende Holland. Und das ist nicht nur ebenfalls ein Land an der See – und eines, durch das, wie durch die Schweiz, der Rhein fließt. Implizit weist Holland auf einen Text Robert Walsers, der bereits im Jahre 1909 in der Zeitschrift Kunst und Künstler abgedruckt worden war und der sich mit Buchstaben, mit einem Alphabet befasst. Ein ABC in Bildern von Max Liebermann bezieht sich auf das 1908 erschienene Künstlerbuch des Malers, das Buchstaben des Alphabets zu eigenen Bildquadraten ausgestaltet. In quadratischen Bildgevierten koexistieren hier Buchstabe und Bild. Das Buch nimmt die Tradition der Handschrifteninitialen auf; jeder Buchstabe ist auf je einer Seite von Figurinen und einer Landschaft umgeben, die an Liebermanns Bildproduktionen im Zusammenhang mit seinen Reisen nach Holland erinnert. Auf einer dieser Reisen hatte ihn Karl Walser 1907 begleitet. Robert Walser nun beschreibt Liebermanns Kunstbuch 1909 in einem Text, der die einzige dezidierte Buchbeschreibung ist, die es von ihm gibt, und er beschreibt es als ein »Buch ohne Worte«: »[…] es erzählt in Bildern, in flüchtigen Zeichnungen voll eigentümlicher Kunst und Anmut, es enthält eine gute, verständliche Sprache, eine Sage voll uralter Spannung, es atmet Leben, und wenn Du so Seite für Seite umschlägst, tritt Dir die Klage und die Wonne der Natur hinreißend entgegen.«58 Eine »Sage voll uralter Spannung« ist das Buch in der Tat, denn es findet sich hierin auch ein subtiler Reflex auf den hebräischen ›Urtext‹ der Thora, der in einer Quadratschrift aufgezeichnet ist.59 Und das Buch vermag es, Stimmungen zu vermitteln: Hier hat die zeichnende Hand die Weltabgeschiedenheit beschrieben, als wäre das Treffende und Überzeugende von einem geübten Novellisten knapp gesagt worden. Aber die schöne Zeichnung wehrt sich, mit irgend etwas ähnlichem verglichen zu werden. Eine langsame, schwermütige Schafherde in einem Weg. Sonne zittert darüber hin. Und dann kommt wieder das Traurige, ein Sarg wird irgendwohin getragen, man meint, von hinten her die Wogen des Meeres brüllen zu hören, alles ist düster und peinlich. Schlagen wir aber um, so lächelt uns wieder die Kindheit, das Unsterbliche an, und es ist alles wieder voll Sonne. Entzücken und Entsetzen weiß uns die künstlerische Feder abzugewinnen. 60
Und nun illustriert Robert Walsers Text eine besondere Arbitrarität des Zeichens: »Jedes einzelne Bild schmiegt sich an einen Buchstaben, an B ein Stück Meer, an F kindliches Lachen, an U Weinen, an Z Lebenslust, an K Mühseligkeit. Vielleicht verhält es sich etwas anders. Man suche sich dann eben das Buch zu verschaffen, und man wird sehen, inwiefern ich mich
58 | SW 15/68. 59 | Vgl. Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik, S. 250. 60 | SW 15/68f.
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etwa geirrt habe.«61 Wo das Meer, das als deutsches Wort mit dem Buchstaben ›M‹ anfängt, sich an den Buchstaben ›B‹ anschmiegt, ist das Prinzip der Initiale gerade aufgehoben. Und es kommt eben auf die Lektüre an. Die Bilder Liebermanns werden vom Betrachtenden interpretiert, ihnen wird dabei ein Wort zugeordnet, dessen Anfangsbuchstabe nicht mit dem ins Bild gesetzten Buchstaben zusammenfallen muss: Da ist der aleatorisch gewählte Buchstabe des Alphabets, ein Bild, das diesen Buchstaben rahmt, ein Wort, welches das Bild kommentiert, interpretiert – und der Anfangsbuchstabe dieses Wortes, der nicht unbedingt mit dem Buchstabeninitial im Bild identisch ist. »I. überspringe ich«, wird es in einem Text mit dem ähnlichen Titel Das Alphabet heißen, der im Juni 1921 in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint: »denn das bin ich selbst«.62 Das Prinzip der Initiale scheint zunächst gewahrt, doch gegenüber dem ›Ich, das man selbst ist‹, wird das Entsprechungsverhältnis – im »selbst«, das den Buchstaben ›S‹ als Anfangsbuchstaben erfordern würde – nun doch verworren; hier wird also besser eine – markierte – Lücke riskiert. Das Faszinosum des Wortes Seeland nun, das im Brief an den Verlag als »dasjenige, um das es sich handelt«, tautologisch insistiert, und das eben nicht arbiträr zu sein scheint, verdankt sich weniger einer Erinnerung an die eher tonlos vorgebrachte »Gegend« um den Bieler See als vielmehr der Präzision einer räumlichen Abbildung im Wort selbst. Nicht nur ›liegt‹ im Seeland das Land am See und vice versa. Skizzenhaft, mit wenigen Strichen, eben »in aller Kürze«, ist dies die Abbreviatur einer weitläufigen Seelenlandschaft: im Nebeneinander, in der Kontiguität des Bildnerischen, der Simultaneität der Landschaft, des Koexistierenden – und im Nacheinander, dem Konsekutiven der Literatur, der Kontinuierung des Textes und der Aufeinanderfolge von Drucktypen in der Schrift. Lessings in diesem Sinne wirkmächtige Unterscheidung von bildender Kunst und Literatur fällt in dieser Kontiguität gerade zusammen.63
61 | SW 15/69. 62 | SW 17/192. 63 | Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften, Bd. 9, Kap. XVII, S. 101107. Paul Klee bezweifelt Lessings Unterscheidung. In seinem oben erwähnten Beitrag zum Band Schöpferische Konfession schreibt er 1920: »In Lessings Laokoon, an dem wir einmal jugendliche Denkversuche verzettelten, wird viel Wesens aus dem Unterschied von zeitlicher zu räumlicher Kunst gemacht. Und bei genauerem Zusehen ist’s doch nur gelehrter Wahn. Denn auch der Raum ist ein zeitlicher Begriff. Wenn ein Punkt Bewegung und Linie wird, so erfordert das Zeit. Ebenso, wenn sich eine Linie zur Fläche verschiebt. Desgleichen die Bewegung von Flächen zu Räumen. Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus. Und der Beschauer, wird er auf einmal fertig mit dem Werk? (Leider oft ja.)
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Und doch geht es um das Elliptische, das Lessing gerade als ›malerisches‹ Qualitätsmerkmal der Schrift ansieht. Je weniger das Wort, in diesem Falle das Wort ›Seeland‹, expandiert, desto mehr auratische Kraft scheint ihm in Robert Walsers Brieftext zuzukommen. Und was der lautlich weiche Konsonant, ein wie die Uferlinie mäanderndes ›S‹, anführt, spiegelt im Doppelvokal einen Effekt wider, der durchgehend in den Texten der Bieler Prosa begegnet: Das Land, das Seeland spiegelt sich im Wasser, dessen Bläue oftmals ununterscheidbar auch die des Himmels ist.64 Der Doppelvokal lässt das Feste und Fluide, lässt Wirklichkeit und Illusion, lässt den Horizont als eine imaginäre Linie und den Horizont des Imaginären zu einem homophonen ›Sehland‹ verschwimmen. Und wirklich verbindet sich das Seeland im Reisebericht auch mit Gemälden. Es heißt dort, »daß das wohlige grüne See- und Mattenland wie Watteaumalerei aussah«.65 Das duftig erscheinende »Mattenland« enthält denselben doppelten Mittelkonsonanten wie der Maler des Schäferspiels und der Galanterie im Rokoko – als einer durch den orientalisierenden Bezug auf die Arabeske geprägten Epoche.66 Und das »Mattenland« erinnert dabei möglicherweise auch deshalb an das Rokoko und das typische bauliche Ornament dieses Kunststils, die Rocaille, weil das handgeschriebene kleine ›t‹ im Wort »Mattenland« durchaus Ähnlichkeit mit der C-Form der Rocaille haben kann.
Sagt nicht Feuerbach, zum Verstehen eines Bildes gehöre ein Stuhl? Wozu der Stuhl? Damit die ermüdenden Beine den Geist nicht stören. Beine werden müd vom langen Stehen. Also, Spielraum Zeit. Charakter: Bewegung. Zeitlos ist nur der an sich tote Punkt. Auch im Weltall ist Bewegung das Gegebene. Ruhe auf Erden ist zufällige Hemmung der Materie. Dies Haften für primär zu nehmen eine Täuschung. Die Genesis der ›Schrift‹ ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis, niemals wird es als Produkt erlebt.« Paul Klee: Schriften. Rezensionen und Aufsätze, S. 119f. 64 | Die Ununterscheidbarkeit des Horizonts kommt auch im Text Träumen zum Tragen, Juli 1920 im Schweizerland, in dessen Incipit es heißt: »Ich stelle mir China als ein Liebes- und Friedensland vor, wo die Gesetze weich sind wie die Luft, die über den sittsamkeitsgefüllten Gegenden säuselt. Städte und Länder sind wie Lieder, die von Dichtern gesungen werden, und der Himmel liegt näher bei der Erde als anderswo.« (SW 16/99.) 65 | SW 7/58. 66 | Auch hierin ergibt sich, einmal wieder, eine Verbindung zu Franz Blei. Vgl. Marion Gees: »Robert Walsers galante Damen. Fragmente einer Sprache der höfischen Geste«, in: Text + Kritik 12/12a. Robert Walser, 4. Aufl., Neufassung (Oktober 2004), S. 142-154, S. 149f. Franz Blei wird Anfang der 1920er Jahre zwei Bände zum Rokoko herausgeben, die mit Bildern von Antoine Watteau ausgestattet sind. Und so wird Robert Walser in einem Brief von 1928 Blei auch als »Rokoko-Menschen und Frauen-Essayisten« bezeichnen (Br, S. 332).
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Und so zeigt sich: Die Natur bildet die Kunst ab; die Gegenwart trägt die Signatur der Vergangenheit, das ›Naturerlebnis‹ ist überformt von der Kulturform der Schrift als Kalligraphie, von einem piktoralen Element. »Wäre ich Zeichner oder Maler, so hätte ich auf dem Wege sicher allerhand abgebildet, um es als Skizze und reizende bleibende Erinnerung mit nach Hause zu nehmen«, heißt es im Reisebericht auch. Überraschend ist hier die Gleichsetzung von Skizze und bleibender Erinnerung. Aber die Erzählung ist keine Malerei, auch wenn sie sich bemüht zeigt, alles abzubilden, wie etwa auch: »[…] ein blühendes Gebüsch voll Gestrüpp und Vögleingezwitscher, wobei zu bedenken und gestehen wäre, daß es mir wohl schwerlich gelänge, das himmlische liebe Singen, Summen und Girren zeichnerisch wiederzugeben«.67 Wo Robert Walsers Bildbeschreibungen oftmals das Gemalte und Gezeichnete (in den Arbeiten des Bruders) in seiner »akustische[n] Dimension«68 zu erschließen suchen, wie Peter Utz angemerkt hat, wird hier die Akustik des Abzubildenden »zeichnerisch wiederzugeben« versucht. Die »Bildbeigaben«69, von denen der Brief an den Verlag Rascher in Bezug auf den Band Seeland wie in einer Analogie zu Grabbeigaben spricht, braucht es dabei nicht mehr. So jedenfalls legt es der Autor im Brief an den Verlag nahe. Das Ikonische, das Bildhafte, für das vormals die Illustrationen zuständig waren, soll sich nun in der Schrift, die selbst malt und illustriert, wiederfinden lassen. Was aber hat es, noch einmal gefragt, damit auf sich? Etwas zu illustrieren bedeutet im Wortsinn etwas ›ans Licht zu bringen‹. Gemälde, Zeichnungen, Illustrationen bringen, anders als Wörter auf einer bedruckten Seite, die mit der Kraft der Evokation ›gegenwärtig‹ erscheinen lassen, was abwesend ist, die Totes zum Leben erwecken, im Gegenteil vor unseren Augen, hier und jetzt, etwas ans Licht. Kurzum: Das Wort evoziert, wohingegen die Illustration präsentiert. So jedenfalls schreibt es J. Hillis Miller: »Die Macht eines Bildes liegt darin, daß es einen Augenblick aus einer zeitlichen Sequenz herauslöst und ihn in einer ewigen Gegenwart auf Dauer stellt, ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Die Macht der Vergegenwärtigung in einer Abbildung ist so stark, daß sie jede Erinnerung und Antizipation, wie sie in Wörtern mitschwingt, auflöst […] Ein Bild, mit oder ohne Untertitel, ist eine fortwährende Parabase, ein verewigter Augenblick, der zumindest vorübergehend jeden Versuch suspendiert, eine Geschichte in zeitlichem Ablauf zu erzählen.«70 Wo Robert Walser an den Verlag schreibt, dass seine Feder »schon selbst malt und illustriert«, insistiert er nicht nur auf der Ikonizität oder Hieroglyphizität seiner Schrift, sondern die reklamierte, besondere Bildhaftigkeit scheint eine Kontrafaktur zu sein (contra kann dabei sowohl ›entgegen‹ als auch ›entsprechend‹ bedeuten) zu den Gemälden, Prospektmalereien, Zeichnungen 67 | SW 7/37f. 68 | Peter Utz: Tanz auf den Rändern, S. 274. 69 | Brief vom 17. April 1918 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 127. 70 | J. Hillis Miller: Illustration, S. 62.
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und Illustrationen des Bruders – und mit der Struktur der Texte dabei so unauflöslich verbunden, dass Illustrationen redundant erscheinen könnten. Und in der Tat ist ja nahezu jeder Text der Bieler Prosa in dem von J. Hillis Miller genannten Sinne selbst eine Parabase, im Augenblick arretiert. Das Buch Seeland eignet sich, so will es Robert Walser im Brief an den Verlag verstanden wissen, nicht zur Illustration, »weil der Autor hier zu wenig Lücken offen läßt«. Und wirklich lässt der bereits hier und da erwähnte Text Leben eines Malers in diesem Band Seeland wenig offen, was das Verhältnis der beiden Brüder zu dieser Zeit, was die Beziehung zwischen Autor und Illustrator betrifft: Wie der Künstler nicht als gefühllos und hart hingestellt werden kann, wenn er Liebes abschüttelt, um den Gesetzen zu gehorchen, denen er dienen muß, so kann auch der Soldat nicht der Härte und Grausamkeit beschuldigt werden, der, indem er ohne Mitleid tut, was schrecklich ist, nur seine Pflicht und Schuldigkeit befriedigt!71
Die Lektüre des Satzes stutzt bei dem Wort »befriedigt«, das den ganzen Satz in ein neues Licht stellt. Hier war eine Phrase – der Soldat tut nur seine Pflicht und Schuldigkeit – erwartet worden. Die Befriedigung, in die der Satz mündet, konterkariert den Befehlsnotstand dagegen mit einem einzigen ›deplatzierten‹ Wort, das die interesselose Pflichtschuldigkeit des Soldaten gerade bezweifeln lässt. Und durch diese ›Vertauschung‹ ist nun auch dem Künstler, Maler, Bruder en passant und wie absichtslos Härte und Grausamkeit vorgeworfen. Der Text, der auf ein Vorkriegsgeschehen im Leben von Karl Walser Bezug zu nehmen scheint (eine gemeinsame Freundin hatte sich, von Karl Walser verlassen, das Leben genommen), zeigt sich vom Kriegsgeschehen kontaminiert. Ein Zerwürfnis, das wie jedes Zerwürfnis tief in der Vergangenheit wurzelt, macht sich, Monate sind seit der Auseinandersetzung über den Band Seeland vergangen, aber noch an anderer Stelle, in der devianten Schreibung eines Wortes geltend: So bekundet Robert Walser in einem Brief vom August 1919, »wieder einmal ein par [sic!] Worte«72 schreiben zu wollen. Das Paar, das Buchstabendoppel existiert hierbei jedoch nicht mehr; es ist zum singulären Buchstaben geworden. Und im selben Brief heißt es nun auch: Schriftstellern ist zur Stunde wohl eine [sic!] der unlohnendsten Berufe, ich hoffe mich aber dieses Jahr noch behaupten zu können, denn es handelt sich für mich um Fertigstellung nicht nur eines Buches [gemeint ist der Tobold-Roman; Anm. d. Verf., KS] sondern, ich möchte sagen, um säuberliche Ordnung meines gesamten dichterischen Werkes.73
71 | SW 7/15. 72 | Brief vom 5. August 1919 an Frieda Mermet, in: Br, S. 170. 73 | Ebd., S. 171.
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Gerade die »säuberliche Ordnung« des »gesamten dichterischen Werkes«, in der durchaus die ›Ordnung‹ eines Nachlasses bereits zu Lebzeiten anklingt, scheint auf die beginnende Einrichtung eines Archivs der Texte im »Bleistiftgebiet« hinzuweisen. Im Schluss dieses Briefes heißt es in vermeintlich sprunghafter Assoziation von einem möglichen eigenen Weggang aus der Vaterstadt zum stattgehabten Weggang des Vaters: »Biel könnte wohl für immer mein Aufenthaltsort sein. Ich würde mich schwer von hier trennen. Wenn es aber sein muß, so tu ich’s./Neulich war ich auf Papa’s Grab. Es sah sehr nett aus.« Die Mikrogramme nun, die in der Tat als »säuberliche Ordnung« des damals aktuellen »dichterischen Werkes« gelten können, setzen ein Differieren in Szene, um gerade die Differenzen über das Malen und Illustrieren zu beschwichtigen, um sie zu dekonturieren. In dem seit dieser Zeit betretenen »Bleistiftgebiet« introvertiert die Schrift andererseits buchstäblich die Zeichnung. Die Zeichnung ist im Sinne der Bestimmung einer ›kleinen Literatur‹ nun die mythische Sprache, die Sprache ›dahinter‹.74 Und nur einen ›Grabdeckel‹ braucht der eigene Band Seeland – als »Buch ohne Bilder«, im Gegensatz zum »Buch ohne Worte«75 , das Max Liebermanns Kunstbuch für Robert Walser in seinem Text hierzu gewesen war – dann noch: Ein hübscher duftiger Deckel wird doch wohl vielleicht dem Buche auch eine schöne Empfehlung sein. Ich schlage vor, das Buch ohne Bilder in Ihre Sammlung Europäischer Bücher aufzunehmen, eine Eingruppierung, womit ich gerne einverstanden wäre, da ich sie absolut richtig fände. »Seeland« trägt in der Tat den internationalen Stempel und verleugnet allerlei Einflüsse aus gegenwärtigen europäischen Geschehnissen keineswegs.76
74 | Das Attribut ›klein‹ umfasst die Bedingungen jeder Literatur, die sich innerhalb oder außerhalb, das heißt auf einer Grenze zur großen Literatur, und das heißt zu einer Literatur, die im eigenen Zusammenhang als ›papierene‹ Sprache empfunden wird, aufhält. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, S. 27. Im Kapitel zur Frage »Was ist eine kleine Literatur?«, ebd. S. 21-39, nennen Deleuze/Guattari die Kriterien dieser kleinen Literatur: 1. Die kleine Literatur ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient. 2. »Ihr enger Raum bewirkt, daß sich jede individuelle Angelegenheit unmittelbar mit der Politik verknüpft. Das individuelle Ereignis wird um so notwendiger und unverzichtbarer, um so mehr unterm Mikroskop vergrößert, je mehr sich in ihm eine ganz andere Geschichte abspielt.« (Ebd., S. 25.) 3. Alles in diesen kleinen Literaturen hat kollektiven Wert; das Politische durchdringt alles. Zum Mythos schreibt Roland Barthes: »Der Mythos ist ein reines ideographisches System, in dem noch die Formen durch den Begriff motiviert sind, den sie darstellen, ohne sich jedoch im geringsten mit deren Darstellung zu erschöpfen.« Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 110. 75 | SW 15/68. 76 | Brief vom 17. April 1918 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 127.
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Das Buch Seeland wird der »lieblichen Stempel« nicht mehr bedürfen, und zwar, weil es den »internationalen Stempel« der zeitgenössischen, europäischen Kriegs- und Nachkriegsereignisse trägt, von dem es sich selbst bereits geprägt zeigt. Auch in Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues wird die Rede von einem »Prägestempel«77 sein, den der Krieg hinterlassen hat. Und so heißt es in Robert Walsers Reisebericht aus dem Band Seeland auch: »Alles dies [gemeint ist die Berglandschaft; Anm. d. Verf., KS] besitzt in der Tat in seiner Linierung etwas sowohl in höchstem Grad Elegantes, wie gewiß auch Schreckeinflößendes, Dämonisches. Man kann glauben, dass hier Graziöses mit Ungetümem sonderbar verbunden ist.«78
VII.4 B ILD Zu malen und zu illustrieren bedeutet – trotz der scheinbaren Synonymie – aber eben zweierlei. Im einen Fall wird ein Gegenstand, im anderen Fall das Motiv eines Textes abgebildet. Das Illustrieren ist eine Abbildung zweiter Ordnung. Robert Walsers Diktion im Brief an den Verlag Rascher zeigt nicht nur die eine Verdoppelung an – im Malen und Illustrieren –, sondern darüber hinaus die interne Verdoppelung des Bildes zum bildkünstlerischen wie zum literarischen Bild. Bereits das ›Bild‹ ist als Lexem zum einen Gemälde oder Zeichnung, zum anderen literarisches Bild, Trope, und darüber hinaus inneres Bild, Vorstellungsbild. Die Bedeutung des Bildes reicht von der Wahrnehmung über die Imagination bis hin zur Halluzination. Das Bild selbst ist – als Begriff – Vexierbild.79 Und das gilt umso mehr für das Schriftbild. Die Konjunktion zwischen Signifikat und Signifikant im ternären Zeichensystem, wie es Michel Foucault in Die Ordnung der Dinge als dem Zeitalter der Repräsentation, das heißt der französischen Klassik vorgängig beschrieben hat, lässt sich in der Moderne als Drittes in der ›anderen Rede‹ der klassischen Allegorie, als verborgene Spur wieder lesen: als das, was im etymologischen Wortsinn der Allegorie ›anders als allen verständlich, anders als im Lichte der Öffentlichkeit‹ spricht, als »murmeln77 | Vgl. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, S. 183. 78 | SW 7/39f. 79 | W.J.T. Mitchell beantwortet die Frage »Was ist ein Bild?«, in: Bildlichkeit, hg. v. Volker Bohn, Frankfurt a.M. 1990, S. 17-68, S. 19, folgendermaßen: »Wir sprechen von Gemälden, Statuen, optischen Illusionen, Karten, Diagrammen, Träumen, Halluzinationen, Schauspielen, Gedichten, Mustern, Erinnerungen und sogar von Ideen als Bildern, und allein schon die Buntheit dieser Liste läßt jedes systematische, einheitliche Verständnis unmöglich erscheinen. Zweitens wird man sich darüber wundern, daß die Tatsache, daß alle diese Dinge den Namen Bild tragen, noch lange nicht heißt, daß ihnen allen etwas gemeinsam ist. Vielleicht ist es also besser, wenn man sich die Bilder als eine weitverzweigte Familie vorstellt, die sich zeitlich und räumlich auseinandergelebt und in diesem Prozeß grundlegende Veränderungen durchgemacht hat.«
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de Ähnlichkeit der Dinge«, wie Foucault schreibt.80 Diese »murmelnde«, undeutlich artikulierte Ähnlichkeit kann, wie Walter Benjamin in seinem Text zur Lehre des Ähnlichen einschränkt, aber »nur an etwas Fremdem, eben dem Semiotischen, Mitteilenden der Sprache als ihrem Fundus in Erscheinung treten […]. So ist der buchstäbliche Text der Schrift der Fundus, […].«81 Und dergestalt wäre: Sprache die höchste Verwendung des mimetischen Vermögens, in das ohne Rest die frühern Merkfähigkeiten für das Ähnliche so eingegangen seien, daß nun sie das Medium darstellt, in dem sich die Dinge nicht mehr direkt wie früher in dem Geist des Sehers oder Priesters sondern in ihren Essenzen, flüchtigsten und feinsten Substanzen, ja Aromen begegnen und zu einander in Beziehung treten. Mit andern Worten: Schrift und Sprache sind es, an die die Hellsicht ihre alten Kräfte im Laufe der Geschichte abgetreten hat. 82
In den Handschriften finden sich, so habe die neueste Graphologie gelehrt, schreibt Walter Benjamin in diesem Text von 1933, »Bilder, oder eigentlich Vexierbilder«, »die das Unbewußte des Schreibers darinnen versteckt«.83 80 | Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 91. 81 | Walter Benjamin: Gesammelte Werke, Bd. II.1, S. 208f. 82 | Ebd., S. 209. 83 | Ebd., S. 208. Gershom Scholem führt die Genealogie der sprach- und schriftphilosophischen Arbeiten Benjamins auf das Jahr 1916 zurück, und zwar auch in Bezug auf diese Arbeit, Lehre vom Ähnlichen. Für Benjamin konstituieren »gelebte Ähnlichkeiten« eine Erfahrung, die der von ihm selbst im Aufsatz zum Erzähler konstatierten Krise der Erfahrung vorausgeht. Im Zusammenhang mit dem Text Über das mimetische Vermögen schreibt er an Scholem, der dort entwickelte Begriff der unsinnlichen Ähnlichkeit finde »vielfache Illustration in der Art wie der Soharautor die Lautbildungen, und mehr wohl noch die Schriftzeichen als Depositen von Weltzusammenhängen auffaßt«. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II.3, S. 953. Bereits um 1916 hatten Benjamin Gedanken über die Wahrnehmung als Lesen in den Konfigurationen der Fläche beschäftigt. Wie Robert Walser beginnt Walter Benjamin in diesen Jahren eine mikrographisch kleine, wiewohl entzifferbare Schrift zu schreiben. Und so steht bereits im Text Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen zu lesen, Sprache sei »in jedem Falle nicht allein Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht-Mitteilbaren. Diese symbolische Seite der Sprache hängt mit ihrer Beziehung zum Zeichen zusammen.« Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 156. Benjamins Begriff einer »unsinnlichen Ähnlichkeit« realisiert, nach Winfried Menninghaus, eine doppelte Distanzierung: sowohl von der Arbitraritätsthese, denn der Begriff behauptet eine »Ähnlichkeit«, als auch von den Onomatopoetika, denn der Begriff ist nicht »an den geläufigen (sinnlichen) Bereich der Ähnlichkeit gebunden«, wie Benjamin selbst schreibt. Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 207. Vgl. Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, Frankfurt a.M. 1980, S. 64. Die »unsinnliche« oder auch »entstellte Ähnlichkeit« bei Benjamin ist viel-
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Vexierbilder aber sind Bilder, die »immer die Form zweier Bilder in einem« aufweisen, wie Valérie Baumann ausgeführt hat: »Diese Figuren entstehen also da, wo ihre Konturlinien als Demarkationslinie die vorläufige Verwischung ihrer Eindeutigkeit beendet haben. Die Unschärfe, die das Erscheinungsbild auf den ersten Blick aufweist, kippt erst in die Gewissheit der wahrgenommenen Konturen, wenn die Möglichkeit eines Vexierbildes ganz bewusst realisiert worden ist. Ein Vexierbild erscheint oft da, wo man es nicht mehr suchen kann: in der Unvoreingenommenheit des ersten Blickes, der zunächst das unscharfe Bild hat erblicken können, doch sobald man das Bild mit Konturen entziffert hat, ist die Naivität des ersten Blickes ein für allemal verlorengegangen. Die Pluralität der anfangs offenstehenden Möglichkeiten bleibt als Zweideutigkeit in Erinnerung.«84 Die ursprüngliche Mehrdeutigkeit bleibt, zur Zweideutigkeit verkürzt, in Erinnerung; sie ist es, die das Changierende des Vexierbildes bewirkt. Und doch liegt die Lesbarkeit des Vexierbildes »sozusagen schon ganz ›da‹«, während »die Lesbarkeit des Traumbildes erst zum Schluss eines Vorganges als dessen gelungene (verifizierte) Prozessualität identifiziert werden kann«,85 wofür die Lesenden dann eine nicht geringe Rolle spielen.86 »Fundus« der mimetischen »Verspannung«, wie Benjamin sie denkt, ist dabei nicht etwa ein einzelner Buchstabe oder ein einzelnes Wort, sondern die innere Form einer Schrift-Sprach-Gestalt als ganzer, wie Winfried Menninghaus darlegt.87 »So ist«, wie Benjamin selbst schreibt, »der Sinnzusammenhang der Wörter oder Sätze der Träger, an dem erst, blitzartig, die Ähnlichkeit in Erscheinung tritt«. Und in diesem Sinne ist dann für Benjamin auch jedes Wort, ist die gesamte Sprache onomatopoetisch.88
mehr als Wiederkehr des Verdrängten im Sinne dessen zu lesen, dass sie selbst die Reminiszenz an einen verlorenen Status der Schrift darstellt. (Vgl. Sigrid Weigel: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt a.M. 1997, S. 92ff.) Sie ist Erinnerung an eine Schrift der Dinge, wie sie von Michel Foucault als ternäres Zeichensystem beschrieben worden ist, als Zeichensystem, das sich, im Modus der ins Bild verschobenen Erinnerung – allegorisch – in die literarische Moderne wieder einschreiben wird. 84 | Valérie Baumann: Bildnisverbot. Zu Walter Benjamins Praxis der Darstellung: Dialektisches Bild – Traumbild – Vexierbild, Eggingen 2002, S. 142f. 85 | Ebd., S. 129. 86 | Die Übersetzung des Wortes ›Vexierbild‹ ins Französische lässt mit dem Wort image-attrappe das Moment des Truges und der Falle aufscheinen, »während das Deutsche die Irritation vom lateinischen vexare vergegenwärtigt«. Ebd., S. 128 und Anm. 169. 87 | Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 68. 88 | Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, S. 213, vgl. ebd. S. 207.
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VII.5 V E XIERBILD : S CHNEIEN Dass das Schneien noch eine andere Konnotation haben kann als in jenem Brief Robert Walsers vom 15. November 192589, in dem es sich als eine Amnestie erweist, zeigt sich im Text Schneien: »Das hört nicht auf, hat nicht Anfang und nicht Ende.«90 So lautet der erste Satz der Kurzprosa Schneien. Still fällt Schnee durch das All. Und je langsamer die Schneeflocken zu Boden gleiten, desto mehr mag der Himmel an das unermessliche All erinnern, desto mehr gleichen die Flocken Sternen. Erzählpräliminarien, die an einen Schauplatz, in eine erzählte Zeit und an Charaktere heranführen würden, gibt es nicht; das Lesen ist sogleich in medias res.91 Und was in der Tat im gesamten Verlauf des Textes »nicht Anfang und nicht Ende« hat, ist das Schneien: Verschleiert, ausgeglichen, abgeschwächt ist alles. Wo ein Vielerlei und Mancherlei war, ist nur noch eines, nämlich Schnee; und wo Gegensätze waren, ist ein Einziges und Einiges, nämlich Schnee. Wie süß, wie friedlich sind alle mannigfaltigen Erscheinungen, Gestalten miteinander zu einem einzigen Gesicht, zu einem einzigen sinnenden Ganzen verbunden. Ein einziges Gebilde herrscht. Was stark hervortrat, ist gedämpft, und was sich aus der Gemeinsamkeit emporhob, dient im schönsten Sinne dem schönen, guten, erhabenen Gesamten. Aber ich habe noch nicht alles gesagt. Warte noch ein wenig. Gleich, gleich bin ich fertig. Es fällt mir nämlich ein, daß ein Held, der sich tapfer gegen eine Übermacht wehrte, nichts von Gefangengabe wissen wollte, seine Pflicht als Krieger bis zu allerletzt erfüllte, im Schnee könnte gefallen sein. Von fleißigem Schneien wurde das Gesicht, die Hand, der arme Leib mit der blutigen Wunde, die edle Standhaftigkeit, der männliche Entschluß, die brave tapfere Seele zugedeckt. Irgendwer kann über das Grab hinwegtreten, ohne daß er etwas merkt, aber ihm, der unterm Schnee liegt, ist es wohl, er hat Ruhe, er hat Frieden, und er ist daheim. – Seine Frau steht zu Hause am Fenster und sieht das Schneien und denkt dabei: »Wo mag er sein, und wie mag es ihm gehen? Sicher geht es ihm gut.« Plötzlich sieht sie ihn, sie hat eine Erscheinung. Sie geht vom Fenster weg, sitzt nieder und weint. 92
Friedlich scheinen »alle mannigfaltigen Erscheinungen, Gestalten miteinander zu einem einzigen Gesicht, zu einem einzigen sinnenden Ganzen verbunden«. Die Apostrophe des Lesenden aber, die Aufschub erreichen will – »Warte noch ein wenig« –, erinnert auch an den metrischen Hauch »Warte nur,/Balde ruhest du auch« aus Goethes für die Gesamtausgabe von 1815 vom Autor selbst als Doppelgedicht konzipierten Wandrers Nachtlied/Ein Gleiches (1776/1780) und deutet so auf das voraus, worum es auch in Robert Walsers Text nun in der Tat gehen wird: um den Tod. Denn wo 89 | Vgl. Br, S. 250. 90 | SW 5/159. 91 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 12. 92 | SW 5/161f.
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eben noch alles dem »schönen, guten, erhabenen Gesamten« diente, wird diese Art zeremonieller Rhetorik, wie sie den Gedenkfeiern für Kriegstote zu entstammen scheint, abrupt obsolet: Unter dem Schnee »könnte« ein Soldat liegen, ein Mensch, den – aus nächster Nähe – wahrzunehmen dabei gerade der Schnee hindert. Unter dem Schnee herrscht jene (Waffen-)Ruhe, die dem Lebenden zuträglich gewesen wäre; doch es ist erst der Tote, der »Frieden« hat. Er ist gegen das Schlachtgetümmel vom Schnee abgeschirmt, der eine doppelte Wand, ein Hymen bildet, das nicht etwa undurchdringlich ist, wie sich im Folgenden zeigen wird, wo der Schnee zur motivischen Brücke für einen weiteren ›Annex‹ des Textes wird. Über den Gedankenstrich hinweg geleitet das Motiv des Schnees, gleitet die Signifikantenkette zum Heim des Soldaten, zu dessen Frau, für die das Schneetreiben sich zu einem Bild kristallisiert hat: »sie hat eine Erscheinung«. Über jede Entfernung hinweg ›erblickt‹ sie – durch den Schnee hindurch – den Toten; signifikant ist das Substantivum Schnee bei seinem Eintreten, Wiedereintreten in der Welt der Frau dabei zum substantivierten Verbum, zur Motilität geworden; der Schnee wird zum Schneien – und schlussendlich zum Titelwort des Textes. Es ist der Übergang in eine Beweglichkeit, die mit zahlreichen kleinen Anagrammwörtern – den Präpositionen ›in‹, ›ein‹, ›hinein‹, die alle im Schneien enthalten sind – als Übergang in ein Inneres gekennzeichnet werden kann. Doch: »Kein Fleckchen existiert, das vom Schnee unberührt bleibt, außer was in Häusern, in Tunneln oder in Höhlen liegt«,93 was also bereits selbst diese Art Interiorität, diese Art Versteck bildet, aber: »Grotten und Höhlen sind Matrizen, bei denen das Äußere innen und das Untere oben ist«, Negativräume, rekursive Figuren, »die der Logik unendlicher Transmutationen des Sichtbaren gehorchen«.94 Und nur »Seen sind unmöglich einzuschneien, weil das Wasser allen Schnee einfach ein- und aufschluckt, aber dafür sind Gerümpel, Abfällsel, Hudeln, Lumpen, Steine und Geröll sehr veranlagt eingeschneit zu werden«.95 Die abgetragenen, abgenutzten Dinge, die Reste, Rückstände des Lebens, der Abfall – das Zerriebene, Aufgeriebene – bringt diese Art Prädisposition mit sich, eingeschneit zu werden, und dies im Gegensatz zu den spiegelnden Oberflächen der »Seen«, die, obgleich sie aus demselben Element bestehen, aus Wasser, das den Schnee ja gerade unsichtbar werden lässt, indem es ihn »ein- und aufschluckt«, sich dennoch gleich bleiben. Die »Seen« zeigen sich homophon, nicht etwa homograph, mit dem Sehen eins, und sie bleiben sich so bereits im Roman Der Gehülfe gleich: »Und die Seen liegen, wo sie seit langer, langer Zeit liegen. […] sie verwandeln sich weder eines Tages in Wolken noch eines Nachts in wilde Pferde«96 – wie etwa das Feuer sich in Robert 93 | SW 5/159. 94 | Hans-Ulrich Treichel: Auslöschungsverfahren, S. 17 [Einl.]. 95 | SW 5/159f. 96 | SW 10/199.
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Walsers Text Die Feuersbrunst, wie weiter oben gezeigt, in ein wildes Pferd verwandelt hatte. Und doch verschwindet etwas im Text Schneien und ist im anderen Aggregatzustand zugleich doch auch vorhanden: Als wenn es noch einen Weg gäbe! Man geht so, und indem man geht, hofft man, daß man auf dem rechten Weg sei. Und still ist es. Das Schneien hat alles Geräusch, allen Lärm, alle Töne und alle Schälle eingeschneit. Man hört nur die Stille, die Lautlosigkeit, und die tönt wahrhaftig nicht laut. Und warm ist es in all dem dichten weichen Schnee, so warm wie in einem heimeligen Wohnzimmer, wo friedfertige Menschen zu irgendeinem feinen lieben Vergnügen versammelt sind. Und rund ist es, alles ist rundherum wie abgerundet, abgeglättet. Schärfen, Ecken und Spitzen sind zugeschneit. Was kantig und spitzig war, besitzt jetzt eine weiße Kappe und ist somit abgerundet. Alles Harte, Grobe, Holperige ist mit Gefälligkeit, freundlicher Verbindlichkeit, mit Schnee, zugedeckt. Wo du gehst, trittst du nur auf Weiches, Weißes, und was du anrührst, ist sanft, naß und weich. Verschleiert, ausgeglichen, abgeschwächt ist alles. Wo ein Vielerlei und Mancherlei war, ist nur noch eines, nämlich Schnee; und wo Gegensätze waren, ist ein Einziges und Einiges, nämlich Schnee. Wie süß, wie friedlich sind alle mannigfaltigen Erscheinungen, Gestalten miteinander zu einem einzigen Gesicht, zu einem einzigen sinnenden Ganzen verbunden. Ein einziges Gebilde herrscht. 97
Das Schneien »hat alles Geräusch, allen Lärm, alle Töne und alle Schälle eingeschneit«. Und doch: »fällt mir nämlich ein, daß ein Held, der sich tapfer gegen eine Übermacht wehrte, nichts von Gefangengabe wissen wollte, seine Pflicht als Krieger bis zu allerletzt erfüllte, im Schnee könnte gefallen sein.« Der Soldat kommt konjunktivisch ins Bild, und zwar insbesondere dadurch, dass das Prädikat »könnte« durch Inversion mit dem Schnee rhythmisch prägnant zusammentrifft.98 Die Halluzination der Frau aber, zu Hause am Fenster, ist keine, wo der Mann in der Tat tot ist; wo er aber konjunktivisch bloß tot sein »könnte«, 97 | SW 5/160f. 98 | Vgl. Dierk Rodewald: Robert Walsers Prosa. Versuch einer Strukturanalyse, Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1970, S. 172. Susanne Andres schreibt über den (toten) Soldaten in Robert Walsers Text Schneien: »Die Mittelbarkeit seiner Geburt und die Potentialität seiner Existenz lassen ihn zum Spielball in der Hand des Erzählers werden. Der Held, sein Tod und die Vision seiner Frau stellen sich als eine weitere Variante des Themas Schnee dar. Es ist ein Spiel der Phantasie des Erzählers, ein Erzählen im Erzählen. Denn der abrupte Rückgriff auf die alte Erzählzeit des Präsens läßt erkennen, daß der Schauplatz des Geschehens immer noch die Winterwelt des Anfangs ist und daß es immer noch schneit. Irgendwer kann über das Grab hinwegtreten, ohne daß er etwas merkt, aber ihm der unterm Schnee liegt, ist es wohl, er hat Ruhe, er hat Frieden, und er ist daheim. Auch stilistisch fügen sich diese Zeilen in die Erzählform der vorangegangenen Betrachtungen und beschwören, wie schon vor dem Eingriff des Erzählers, eine Situation des Ausgleichs.« Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 15.
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bleibt der Status der narrativen ›Halluzination‹ ungesichert. Er ist reflektiert durch diese Modalform, doch dann heißt es schließlich eben auch: »Plötzlich sieht sie ihn«. Dass der Tod ›tatsächlich‹ eingetreten ist, wird durch die Trauer der Frau ›evident‹. Und so wird grundsätzlicher noch, was über diesen Tod, was über den Tod überhaupt ausgesagt werden kann, dem Gesicht oder besser den Gesichten der Lebenden zu entnehmen sein. Die Frau, deren gleichsam mystische Schau, vom Fenster abgewandt und auf sich selbst zurückgeworfen, den Tod reflektiert, setzt sich nieder, um nicht zu taumeln, wie die Schneeflocken es tun; sie weint, und die gefrorenen Wassertropfen, die vom Himmel fallen und die das Wasser der Seen »einfach ein- und aufschluckt«, rinnen ihr übers Gesicht, bevor sie im Ende des Textes vom Weiß des Blattes buchstäblich ›aufgeschluckt‹ werden. Auch der allseits ungehört verhallende Ruf, der Todesschrei des Soldaten ist – im Vokalgestöber von e – i – e des Titelwortes Schneien verloren, wie unter der Haube des Buchstabens ›n‹, im durchgezogenen Bogenstrich vom Schreien zum Schneien, verschluckt. Er unterliegt einem Bilderverbot, das Akustische betreffend, einem Tonverbot. Alles wird weiß, was die vorausgesetzte Verwundung des Soldaten, was das rote Blut gleichermaßen in den Text hinein sickern wie zugleich versickern lässt. Inmitten des ungehörten Schreiens, des Schneiens und des Weinens, im Gestöber und in der Wirrsal der Trauer findet sich dabei das gestochen klare Bild des phänomenal Unfassbaren: das Bild des Toten. Und es ist das Gesicht im Doppelsinn auch der Erscheinung der Frau, das den unbekannten Soldaten identifiziert. Die Erde oder besser der Schnee birgt zwar die sterblichen Überreste, aber es wird kein Grabmal geben, das den Ort der Totenruhe markiert. Der Tote wird Untoter bleiben; die Klage um ihn kann sich ohne Bergung des Leichnams nicht artikulieren. Und doch ist beides durch das Gesicht, die Gesichte der Frau, instantan, für einen Moment, gewährleistet. Der Schnee ist zum Leichentuch des Soldaten, zu einem weißen Leichentuch aller Gefallenen geworden, deren Totenstarre darunter verborgen bleibt, deren Kontur der Schnee jedoch, wenn auch undeutlich, abzeichnet. Und wie der Beginn des Prosatextes eine Zufälligkeit in der Wahl des Weltausschnitts suggeriert, bei der das Erzählen »nicht Anfang und nicht Ende« zu haben scheint, bezeugt die Erzählung gerade mit der selektiven Ausschnitthaftigkeit am Ende überdeutlich noch etwas anderes, das ebenfalls und in verheerendem Ausmaße ›nicht Anfang und nicht Ende‹ hat. Zeit- und raumübergreifend grausam bleibt die Kontingenz des, wenn auch hypothetisch gebliebenen, gewaltsamen Todes. Und so wird der Anfang des Textes von seinem Ende her noch einmal ganz anders lesbar: »Das hört nicht auf, hat nicht Anfang und nicht Ende. Einen Himmel gibt es nicht mehr, alles ist ein graues weißes Schneien.«99 Der Satz weist, wo er metaphorisch verstanden ist, vor dem Komma auf das Ende einer Transzendenz (»Einen Himmel gibt es nicht mehr«), nach 99 | SW 5/159.
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dem Komma aber – und das Komma ist hier, wie so oft, die Inversionslinie des Satzes – erinnert er an die ›Materialität‹ der Schrift, wie sie uns in den Mikrogrammen erscheinen wird: als graues, weißes Rauschen von Strichen, ähnlich dem der Piktur der Zeichnung von Karl Walser zum Gedicht Schnee (I), wo ein Gewirr von Strichen, im Verbund mit dem Gedicht des Bruders auf der Buchseite jedoch auch ein Gefüge existiert, ähnlich dem eines Emblems. Die vertikale Ausrichtung im Text Schneien nun fällt nicht nur als das Bild des Toten unterhalb der generischen Schneedecke buchstäblich ins Gewicht; vielmehr schimmert dieser andere Text, das alte Gedicht Schnee (I), wie in einem Palimpsest, durch den neueren Text Schneien semantisch hindurch. Die Schrift (der Mikrogramme) hat die Zeichnung (des Bruders) inkorporiert, und zwar nicht nur in dem vom Schnee zum Schneien zerstobenen Wort. »Es schneit, es schneit«: Diese Epanalepse im Incipit des Prosatextes Schneien zitiert das eigene frühe Gedicht Robert Walsers. Und deckt fast schon zu, was folgt und: »was vom Himmel herunter mag, und es mag Erkleckliches herunter«. Das ›Erkleckliche‹, in dem sich der Farbklecks der Malerei findet, lässt daneben den ganz anderen Kontext des Finanziellen anklingen, im erklecklichen Salaire. Und so hat der Text am Ende oder an seinem wiederholt gelesenen Anfang im dispersiven Schneien den Kriegstod und die Kriegsprofite, aber auch die eigene Schrift und die dafür bezahlten geringen Entgelte nahezu unmerklich enggeführt. »Ein einziges Gebilde herrscht«.100
VII.6 A R ABESKE Insbesondere den Text Schneien hat Susanne Andres mit dem Begriff der Arabeske in Zusammenhang gebracht, da dieser Begriff »allem Anschein nach die Antwort auf die schwierige Frage nach der Gattungszugehörigkeit des Walserschen Werkes darstellt«.101 Die Digression, diese rhetorische Figur der Abweichung, Abschweifung vom ›eigentlichen‹ Thema, in einem Nebenthema, das – wie hier das Schneien – zum Hauptthema wird, ist dabei in Analogie zum labyrinthischen Spiralrankenwerk islamischer Ornamentik gedacht, das von Friedrich Schlegel in seinem Brief über den Roman und der Rede über die Mythologie, beides Einlagen im Gespräch über die Poesie, unter dem Einfluss der Fragmente des Novalis und im Rekurs auf Denis Diderot, Laurence Sternes Tristram Shandy, Shakespeare und Cervantes, als Metapher romantischer Poetizität konturiert ist. Das romantische Buch schlechthin ist für Friedrich Schlegel dabei der Roman, über den es im Brief über den Roman heißt: »Ja ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen. Anders hat Cervantes nie gedichtet, und selbst der sonst so prosaische Boccaccio schmückt seine Sammlung mit einer Einfassung von Liedern.«102 100 | SW 5/161. 101 | Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 16ff. 102 | Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 336.
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Der Roman ist seiner Form nach Arabeske, und das bedeutet für Schlegel, und zwar gerade auch in Bezug auf Sterne, wie Karl Konrad Polheim dargelegt hat, »unendliche Fülle in der unendlichen Einheit«.103 In der ebenfalls im Gespräch über die Poesie enthaltenen Rede über die Mythologie erläutert Schlegel dieses Konzept einer Heteronomie dabei wie folgt: »Aus dem Innern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich getan, aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schöpfung von vorn an aus Nichts.« Die neue »Mythologie« hingegen wäre das »mystische«, und das heißt auch das »wunderbar zusammengesetzte« Gedicht; sie wäre ein Gemeinschaftswerk: Ihr mögt wohl lächeln über dieses mystische Gedicht und über die Unordnung, die etwa aus dem Gedränge und der Fülle von Dichtungen entstehen dürfte. […] Alle Gedichte des Altertums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer größeren Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift ineinander, und überall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedrückt. Und so ist es wahrlich kein leeres Bild, zu sagen: die alte Poesie sei ein einziges, unteilbares vollendetes Gedicht.104
Und was sei jede schöne Mythologie anderes als »ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in der Verklärung von Fantasie und Liebe«, heißt es hier weiter; in dieser neuen Mythologie sei alles »Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode […]«. Da finde ich nun eine große Ähnlichkeit mit jenem großen Witz der romantischen Poesie, der nicht in einzelnen Einfällen, sondern in der Konstruktion des Ganzen 103 | Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München, Paderborn, Wien 1966, S. 13f. Es gäbe einen Roman, schreibt Polheim hier, »bei dem die Abschweifung und Digression zum Selbstzweck geworden ist, so sehr, daß es keine Fabel mehr gibt und man daher eigentlich gar nicht mehr von Abschweifung und Digression reden dürfte, sondern von verschlungener Ornamentik: dieser Roman ist Sternes Tristram Shandy. Gerade diesen Roman aber bezeichnete Friedrich Schlegel als Arabeske […] die Arabeske ist ihm niemals Beiwerk, verzierender Schnörkel oder Abschweifung allein, sie ist durchaus Selbstzweck und Ziel [wie sie dies auch ›im orientalischen Ornament und in der modernen Malerei‹ ist, die Polheim, ebd. S. 12, anführt; Anm. d. Verf., KS]. Dies wird sich im Verlauf der Untersuchung immer bestätigen. Und es wird zu zeigen sein, wie Schlegel die Arabeske als absolute und reine Malerei bezeichnet, wie er den so gefaßten Begriff auf die Dichtung überträgt und bis zu seinem romantischen Romanideal steigert, zugleich in ihm den Ausdruck für sein höchstes erahntes Ziel begreifend: für die unendliche Fülle in der unendlichen Einheit. Und welcher Begriff wäre in der Tat geeigneter, auf diese nicht mehr vorstellbare Idee zu deuten und sie zu versinnbildlichen als der der Arabeske?« 104 | Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 312f., Zitat S. 313.
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M IKROPOETIK sich zeigt, und den unser Freund uns schon so oft an den Werken des Cervantes und des Shakespeare entwickelt hat. Ja diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe und gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie. Weder dieser Witz noch eine Mythologie können bestehn ohne ein erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflöslich ist, was nach allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern läßt, wo der naive Tiefgang den Schein des Verkehrten und Verrückten, oder des Einfältigen und Dummen durchschimmern läßt. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.105
Das »bunte Gewimmel der alten Götter« ist dabei nicht nur das der abendländischen, etwa der antiken griechischen Götter: »auch die anderen Mythologien müssen wieder erweckt werden nach dem Maß ihres Tiefsinns, ihrer Schönheit und ihrer Bildung, um die Entstehung der neuen Mythologie zu beschleunigen. Wären uns nur die Schätze des Orients so zugänglich wie die des Altertums! Welche neue Quelle von Poesie könnte uns aus Indien fließen, wenn einige deutsche Künstler mit der Universalität und Tiefe des Sinns, mit dem Genie der Übersetzung, das ihnen eigen ist, die Gelegenheit besäßen, welche eine Nation, die immer stumpfer und brutaler wird, wenig zu brauchen versteht«.106 Das »wunderbar zusammengesetzte« Gedicht, diese neue »Mythologie« verweist jedoch nicht nur auf verschiedene Kulturkreise, sondern kann sich auch in Gestalt einer Distanz zum eigenen Text zeigen: »Abweichungen«, heißt es in Sternes Tristram Shandy, »sind unleugbar der Sonnenschein – das Leben, die Seele der Lektüre – man nehme sie zum Beispiel aus diesem Buche – so könnte man ebensogut das ganze Buch mitnehmen – auf jeder Seite desselben würde ein kalter ewiger Winter herrschen […].«107 Die Linearität der Erzählung – und wie sollte diese auch aussehen? – wird in Sternes Buch nicht nur in der Abschweifung durchbrochen, sondern im Schreiben über das Schreiben.108 Diese Art Digression, diese Texte über den Text, von Friedrich Schlegel mit dem griechischen Term als Parekbasen bezeichnet, mit denen sich in der griechischen Komödie der Chor »direkt ans Publikum wendet und damit die szenische Mimesis 105 | Ebd., S. 318f. 106 | Ebd., S. 319f. 107 | Laurence Sterne: Leben und Ansichten des Herrn Tristram Shandy, S. 69. 108 | Vgl. Kerstin Gräfin von Schwerin: Minima Aesthetica, S. 167, die Wolfgang Isers Auffassung über die »Inszenierte Subjektivität« in Lawrence Sternes Roman Tristram Shandy referiert.
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überschreitet«,109 sollen für Friedrich Schlegel, als eine seiner Potenzen, auch dem Roman angehören. Und sie sind auch der Topos, der sich in Walter Benjamins Rezension fortgeschrieben findet, dem in Robert Walsers Texten »das Wie der Arbeit so wenig Nebensache [zu sein scheint], daß ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die Bedeutung des Schreibens völlig zurücktritt. Man möchte sagen«, schreibt Benjamin hier, »daß es beim Schreiben draufgeht.«110 Aber es geht eben im Schreiben über das Schreiben »drauf«, im Schreiben zweiter Ordnung, das nicht immer als solches explizit wird und sich nicht immer im Topos des Schreibens wiederfindet. Das Schreiben in dieser zweiten bis x-ten Ordnung affiziert dabei den ganzen Text, ungeachtet dessen, wovon dieser vordergründig handeln mag. Es zeigt sich – wie in der Arabeske – ins Unendliche ausgefaltet. Was nun hat es mit der Arabeske auf sich? Ausgehend von Johann Joachim Winckelmann, dessen Schrift Von der Grazie in Werken der Kunst (1759) Lessings Laokoon angeregt hatte, erkennt der okzidentale Blick in der islamischen Kunst eine Abwesenheit der Figur. Eben daraus resultiert das Paradigma der Arabeske, welches die abendländische Wissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert zum emblematischen Element der islamischen Kunst erklärt; doch die Schrift als Kalligraphie spricht noch eine ganz andere Sprache, »die in einem Spiel von Verschachtelungen und Verflechtungen von verwirrender Komplexität gleichzeitig die Form und die Bedeutung einsetzt«, wobei die bedeutungstragenden Zeichen nicht unbedingt zu entziffern sein müssen.111 Das Bilderverbot des Islam, das Ausgangspunkt für die Arabeske ist, bezieht sich auf Abbilder von lebenden Wesen, Menschen wie Tieren, da diese Darstellungen in Gefahr kommen könnten, als Substitute Allahs, als Götzen also, verehrt zu werden; eine figurative Darstellung würde darum als anmaßend empfunden, weil, was in der Kunst allenfalls in seinem Umriss oder in seiner Gestalt nachgebildet werden kann, frei beweglich sein müsste, um wirklich Abbild des Lebendigen sein zu können. Das Abbild bräuchte zu seiner Vollendung den Lebensodem, ruh, der nur von Allah selbst verliehen werden kann. Und so ist das Blattwerk der Arabeske, das sich im 10. Jahrhundert in Spanien und seit dem 16. Jahrhundert überall als »Maureske« verbreitet, deshalb stilisiert, bildet es deshalb pflanzliche Blätter und Stiele nicht naturalistisch ab, um nicht den Anschein menschlicher Hybris zu erwecken.112 Spiegelnde oder reziproke Wiederholungen, Kelchund Palmettformen in ihren Verdoppelungen, das geometrische Bandwerk und die Pass- und Medaillonformen erzeugen, nicht zentralperspektivisch 109 | Vgl. Maria Jørgensen: »Immanenzpoetische Ornamentik«, S. 93 110 | Walter Benjamin: »Robert Walser«, S. 127. 111 | Vgl. Eloïse Brac de la Perrière/Jean-Pierre van Staëvel: »Die islamische Kunst im Spiegel von Paul Klees Werk«, in: Auf der Suche nach dem Orient. Paul Klee. Teppich der Erinnerung, Ausstellungskatalog des Zentrum Paul Klee Bern, Ostfildern 2009, S. 10-39, S. 15 und S. 19. 112 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 20.
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geführt, sondern dem Prinzip absoluter Flächenfüllung folgend, die Illusion, sich in ein transzendentes Unendliches fortzusetzen, was durch die konkrete Dreidimensionalität der Bauten noch befördert wird. Die Arabeske ist dabei jedoch auf eine verborgene Mitte bezogen, auf etwas Unsichtbares, das aufgrund des Bilderverbots nicht selbst zur Darstellung gebracht werden kann. Die Bedeutung der maskierenden Hülle, die Fläche und Raum gleichermaßen zum Ausschnitt eines nur ahn-, nicht aber ›greifbaren‹ Ganzen werden lässt,113 wird im okzidentalen Verständnis, das die Arabeske lediglich als Ornament und Decorum ansehen will, jedoch zurückgedrängt, was sich bei Johann Wolfgang von Goethe in seinem zu Zeiten der Französischen Revolution im Teutschen Merkur veröffentlichten Text Von Arabesken bereits abzuzeichnen beginnt. Goethes Interesse am Orientalischen wird sich in den letzten napoleonischen Jahren, den Kriegsjahren, jedoch verstärken. Im Herbst 1813 wendet er sich China zu; vom Juni 1814 an wird seine Lektüre die zweibändige Übersetzung der Lyriksammlung Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis sein, die ins Deutsche übersetzt 1812/13 bei seinem Verleger Cotta erschienen war. In Goethes von dieser Lyriksammlung inspiriertem Werk mit dem Titel West-östlicher Divan wird es im Gedicht mit dem Titel Unbegrenzt heißen: »Dass du nicht enden kannst das macht dich groß,/Und daß du nie beginnst das ist dein Los./Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,/Anfang und Ende immer fort dasselbe,/Und was die Mitte bringt ist offenbar/ Das was zu Ende bleibt und anfangs war.«114 Die Unterschiede zu Robert Walsers Prosatext Schneien sind prägnant. Das Bildnisverbot synkretistisch rezipierter, fremder kultureller Horizonte mischt sich hier mit einer Sprachohnmacht des Traumatischen, wird ihr undurchschaubar ähnlich: »Das hört nicht auf, hat nicht Anfang und nicht Ende.«115 So heißt es in Robert Walsers Text. Bei Goethe hingegen bringt die Mitte noch immer hervor: »Das was zu Ende bleibt und anfangs war.« Bestand und Kontinuität scheinen weiter gewährleistet. Robert Walsers korrespondierender Satz hingegen enthält gleich dreimal das Wort ›nicht‹. Hier sind Anfang und Ende nicht mehr dasselbe; es gibt sie vielmehr erst gar nicht mehr – jedenfalls nicht als abstrakte Entitäten, die vom jeweils anderen scharf zu unterscheiden wären. Und doch ist der Text Robert Walsers mit dem Titel Schneien – und gerade im ›ursprünglicheren‹, älteren Verständnis der Arabeske – auf eine verborgene Mitte bezogen, auf den Toten, den Kriegstoten, der darin figuriert ist.
113 | Vgl. Franz Lothar Kroll: Das Ornament in der Kunsttheorie des 19. Jahrhunderts, Hildesheim, Zürich, New York 1987, S. 150; zit.n. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 23, Anm. 21. 114 | Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan [1819], hg. und erläutert von Hans-J. Weitz, mit Essays zum ›Divan‹ von Hugo von Hofmannsthal, Oskar Loerke und Karl Krolow, Frankfurt a.M. 1977, S. 25. 115 |SW 5/159.
VII. K ONSIGNATIONEN
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer haben 1944 in der Dialektik der Aufklärung einen paradoxen theologischen Sinn des (jüdischen) Bilderverbots skizziert: »Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.«116Robert Walsers Text Schneien kommt, obgleich oder gerade weil er das verschliffene Konzept der Arabeske ›nur‹ noch zitiert, dem existentiellen Sinn der Arabeske als einer Formfindung angesichts des Bilderverbots – in jener Mitte, die der Tote bildet – noch einmal näher. Der Text erhält das Recht des Bildes in der Verhüllung. Es ist eine Verhüllung durch den Schnee, die Schrift, die Mikrographie.
116 | Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1981, S. 24f.; zit.n. Micha Brumlik: Schrift, Wort und Ikone, S. 14 und S. 33.
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VIII. »Abstraction« (Paul Klee)
Goethes West-östlicher Divan findet sich auch in der Bibliothek von Paul Klee, und zwar in einer antiquarischen Ausgabe von 1840.1 In Klees Korrespondenz gibt es darüber hinaus einen Hinweis auf den persischen Dichter Hafis (1326-1389). Neben den literarischen Inspirationen aber, die Klee für seine Arbeit nutzbar machte, wird immer wieder seine Reise in den Orient kurz vor dem Ersten Weltkrieg erwähnt, die er selbst zu einer künstlerischen Epiphanie, zum Beginn seines malerischen Schaffens erklärte, zu einer zwanglosen Okkupation durch die Farbe.2 Wilhelm Hausensteins 1921 erschienene Monographie mit dem Titel Kairuan oder eine Geschichte vom Maler Klee und von der Kunst dieses Zeitalters hingegen relativiert oder besser verschiebt die Bedeutsamkeit dieser Reise: »Vom Standpunkt des Kunstgeschichtsschreibers mochte nicht sehr viel mehr zu konstatieren sein, als Befestigung des Sinns für die Farbe. […] Licht und Farbe. Allein derlei Errungenschaften sind Nebenumstände. Wichtiger ist, daß der europäische Gast in Kairuan auf gütige Weise das Jenseits berührte.«3 Eher als um den Durchbruch zu einem neuen Umgang mit der Farbe scheint es also um eine Sphäre des Existenti1 | Vgl. Michael Baumgartner: »Paul Klee und der Mythos vom Orient«, in: Auf der Suche nach dem Orient. Paul Klee. Teppich der Erinnerung. Ausstellungskatalog des Zentrum Paul Klee Bern, Ostfildern 2009, S. 130-143, S. 135 und Anm. 24. 2 | Paul Klee: Tagebücher 1898-1918, Textkritische Neuedition, hg. v. der PaulKlee-Stiftung/Kunstmuseum Bern, bearbeitet von Wolfgang Kersten, Stuttgart, Teufen 1988, S. 350: »Zuletzt in einem Strassenkaffee gelandet. Ein Abend von ebenso/zarter als bestimmter Farbigkeit. […] Glückliche/Stunde. Louis [d.i. Louis Moilliet, Jugendfreund Klees und einer der beiden Künstlerfreunde, mit denen die Tunesienreise im April 1914 unternommen worden war; Anm. d. Verf., KS] sieht coloristische Leckerbissen und ich soll sie/festhalten, weil ich das so genau könne./ Ich lasse jetzt die Arbeit. Es dringt so tief und mild in/mich hinein, ich fühle das und werde so sicher, ohne Fleiss./Die Farbe hat mich. Ich brauche nicht nach ihr zu haschen./Sie hat mich für immer, ich weiss das. Das ist der glücklichen Stunde/Sinn: ich und die Farbe sind eins. Ich bin Maler.« 3 | Wilhelm Hausenstein: Kairuan oder eine Geschichte vom Maler Klee und von der Kunst dieses Zeitalters, München 1921, S. 87.
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ellen – und weiterhin um die Linie – zu gehen. Auch Hausenstein lokalisiert dabei den Orient als Vorbild für Klees Weg in die Abstraktion, der sich mitten in der Katastrophe des Ersten Weltkriegs vollzogen habe: »Kairuan. Der Name ward Symbol für eine vielfache Erfahrung. Östlich war, zu erkennen oder bestätigt zu finden, dass in der Tat die Dinge ohne Wesen sind; dass sie als Schein verachtet werden sollen.«4 Der Krieg aber war es, der die existentielle Notwendigkeit erzwungen hatte, alles als »Schein« verachten zu sollen. Und bedeutsamer als jene Reise nach Tunesien, die Klee 1914 mit den Freunden August Macke und Louis Moilliet unternommen hatte, war, so stellt es Michael Baumgartner dar, die Nachwirkung dieser Reise, in die Kriegszeit hinein. Zwischen 1915 und 1920 griff Klee deren Themen und Motive auf und variierte sie. Ab 1918 knüpfte er sogar in besonderem Maße an die Aquarelle an, die 1914 auf der Reise entstanden waren. Aus diesen Aquarellen generierte er durch Teilung, durch das Zerschneiden der Blätter weitere Werke.5 Ganz material zeigt sich so eine Verzweigung und subtile Verästelung, eine Perpetuierung von Motivkreisen und Arbeitsweisen, die sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg fortgesetzt zeigen wird.6 Erst die nachträgliche Gewichtung der vor Ort in Tunesien entstandenen Bilder löst, so Baumgartner, einen »Prozess der bildnerischen Retrospektion« aus, der für Klees weiteres Schaffen von Bedeutung sein sollte. Und dabei geht es nicht mehr nur um die Bildthe4 | Ebd., S. 125. 5 | Vgl. Christoph Otterbeck: »Zweimal Orient – und zurück. Paul Klee in Tunesien und Ägypten, die Werke der Reisen und ihre Rezeption«, in: Auf der Suche nach dem Orient. Paul Klee. Teppich der Erinnerung, Ausstellungskatalog des Zentrum Paul Klee Bern, Ostfildern 2009, S. 170-185, S. 175. Vgl. dazu auch Wolfgang Kersten/ Osamu Okuda (Hg.): Paul Klee. Im Zeichen der Teilung. Die Geschichte zerschnittener Kunst Paul Klees 1883-1940. Mit vollständiger Dokumentation. Katalog zur Ausstellung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen/Düsseldorf und der Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart 1995. 6 | In Klees Werk korrespondieren Motive, Formen und Titel grundsätzlich in wechselnder Zusammensetzung der Elemente. Dabei bilden sich sowohl horizontale als auch vertikale Reihen aus. Anders gesagt: Die Variation verläuft syntagmatisch und paradigmatisch – wie in einer Sprache. Allerdings ist dies eben kein barockes Universum mehr, sondern in den emblematischen Anordnungen zeigen sich inscriptio, pictura und subscriptio immer wieder gegeneinander verschoben und vertauscht. So zeigt beispielsweise das Bild mit dem Titel Gräberstadt eine ähnliche, wenngleich stärker graphisch parzellierte Anlage als Teppich der Erinnerung. In einer Arbeit aus dem Jahre 1922 mit dem Titel Arabische Stadt hingegen zeichnet sich eine Verwandtschaft mit dem Gedenkblatt an Gersthofen oder dem Perspectivspuk ab. Der Perspectivspuk erinnerte den Kunstsammler Heinz Berggruen in seinen Memoiren, Hauptweg und Nebenwege. Erinnerungen eines Kunstsammlers, Frankfurt a.M. 2002, S. 84, an einen anderen Autor und dessen Werk: »Das Blatt war von 1921, und die eigentümliche Atmosphäre dieser perspektivischen Raumansicht assoziierte ich sofort mit Kafkas Prozeß.«
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men, wie etwa die maurischen Architekturen und Ornamentiken, die Kalligraphien, die kryptischen Zeichen- und Bilderschriften, die orientalischen Märchen und Mythen, wie etwa auch die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. In den von Charles W. Haxthausen als ›auratisch‹ bezeichneten Bildern Klees, die um 1918 bereits zu einer Art Markenzeichen Klees geworden waren, wird die Evokation des Orients vielmehr in einem grundlegenderen Sinn zur »Fiktion materialisierter Erinnerung«, so Baumgartner.7 Exemplarisch führt Baumgartner dabei das Bild mit dem Titel Teppich der Erinnerung von 1914 an, das Klee im Jahre 1921 noch einmal überarbeitete; dabei montierte er den ursprünglich auf einen klassischen Keilrahmen gespannten Leinenstoff neu auf einen ärmlicheren Karton; die Malschicht wurde erneut bearbeitet: Durch Verschmutzungen der Oberfläche, durch absichtsvoll ausgefranste Ränder und Flecken entstand der Eindruck eines alten Teppichs, bei dem Zeit und Zerfall Spuren hinterlassen hatten. Das Bild erinnert an die persischen »Gartenteppiche«, deren symmetrische Anlage sich an den fürstlichen Gärten orientierte, die mittels künstlicher Wasserläufe in Parzellen unterteilt waren und die in ihrer Symbolik selbst den Beschreibungen der Paradiesgärten des Korans folgten.8 Der Teppich der Erinnerung von Paul Klee ist jedoch noch von etwas anderem durchwirkt. Auf erdfarben patiniertem Untergrund finden sich unregelmäßig gestreute, unterschiedlich große geometrische Formen, Quadrate, Rhomben, Dreiecke, Kreisflächen, die, in den Farben Rot, Siena, Grün, Violett gehalten, teils durch Linien konturiert aneinander angrenzen oder sich als nicht konturierte reine Farbflächen überschneiden. Keine dieser Bildformen entspricht dabei der idealen abstrakten Form; alle sind in ihrem Umriss oder durch das Ausbrechen der Farbe in ihrem Abstraktionsgrad beschädigt. Hin und wieder findet sich eine einzelne Gerade oder Bogenlinie, die eine größere, untergegangene Form anzudeuten scheint – zu sehen ist überdies eine Anzahl von Kreuzen. Einige Kreuze, die in einem blasseren Braun gehalten sind, verschwimmen wie als Schatten ›eigentlicher‹ Formen. Was diese restweise geometrischen Formen betrifft, ist das Bild im Prinzip konstruktiv. Es weist in seiner künstlichen Patinierung aber auf die Vergänglichkeit auch des eigenen malerischen Materials. Was aus dem Untergrund hervortritt, was in ihn eingeht, bleibt dabei undefinierbar. Und lediglich oben rechts lässt sich ein einziges, definites, bedeutungstragendes Zeichen erkennen: der Buchstabe ›A‹. Das Bild Teppich der Erinnerung ist die früheste Arbeit in der von Haxthausen als ›auratisch‹ bezeichneten Werkgruppe Klees. Zum ›Auratischen‹ scheint dabei ein besonderer Umstand beizutragen, der unentdeckt bleiben kann. Das Bild, welches der Maler zu dieser Art Schrundigkeit erst umarbeitete, ist ein Gedenkblatt, auch und vor allem im Gedenken an jenen Freund, mit dem die Reise nach Tunesien unternommen worden war. Das 7 | Michael Baumgartner: »Paul Klee und der Mythos vom Orient«, S. 140. 8 | Elo Ȓ se Brac de la Perrière/Jean-Pierre van Staëvel: »Die islamische Kunst im Spiegel von Paul Klees Werk«, S. 21.
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Bild Teppich der Erinnerung gibt der Erinnerung an den noch im selben Jahr der Reise, 1914, im Krieg gefallenen Malerkollegen August Macke eine späte Gestalt, es erinnert den Freund, dessen Vorname mit dem einzigen im Bild kenntlichen Zeichen – dem Buchstaben ›A‹ – beginnt. Der Kunstpublizist Karl Scheffler wird sich im Blick auf die Werke Klees in einem seiner Beiträge zu der von ihm bei Bruno Cassirer herausgegebenen Zeitschrift Kunst und Künstler im Jahre 1928 »an alte Stoffe mit unleserlichen Schriftzeichen erinnert« fühlen.9 Ein alter Stoff ist Klees Bild Teppich der Erinnerung in einem ganz buchstäblichen Sinne – aber eben nicht nur als eine Fiktion materialisierter Erinnerung. Alte Stoffe sind verschossen, werden fadenscheinig, verlieren Schichten. Im Bild Teppich der Erinnerung ist mit dem mehrmaligen Farbauftrag jedoch gerade der gegenteilige Vorgang verbunden. Und doch ist das Bild auch Palimpsest. In diesem Palimpsest kommt, obgleich nicht mehr alle Schichten erhalten sind, sondern porös und durchsichtig geworden sind, inmitten all der verwischten und zerkratzten Formen etwas wieder zum Vorschein: ein initialer Buchstabe, ein Mensch, ein initium, das im Krieg sein frühes Ende fand.
VIII.1 R OBERT WALSER ALS P AUL K LEE DER P ROSA Immer wieder ist in Bezug auf Robert Walser von Paul Klee gesprochen worden. Susan Sontag hat, nachdem der Vergleich zwischen Robert Walser und Paul Klee bereits 1969 von John Christopher Middleton in seinem Vorwort zur Übersetzung des Jakob von Gunten angestellt wurde, den Autor Robert Walser als einen »Paul Klee in prose« bezeichnet.10 Und bereits Jean Moser hat in seiner Dissertation zum zeitgenössischen schweizerischen Roman 1934 diese Parallele gezogen, die dann wenig später auch Heinz Politzers im Jahr seiner Emigration nach Jerusalem (1938) entstandene Rezension zu der von Carl Seelig besorgten Ausgabe der Texte Robert Walsers inspirieren sollte, deren Titel Große kleine Welt an Novalis erinnert. Liest man dieses Buch, dann fällt einem der Schweizer Paul Klee ein, der mit seinem Zeichenstift merkwürdige und unvergeßliche Figuren entwirft, die fast alle in tieferem Sinne Selbstportraits sind.11
9 | Karl Scheffler: »Kunstausstellungen. Berlin«, in: Kunst und Künstler, Jg. 26, Heft Nr. 8 (1928), S. 322; zit.n. Michael Baumgartner: »Paul Klee und der Mythos vom Orient«, S. 143, Anm. 41. 10 | Vgl. Tamara S. Evans: »›A Paul Klee in Prose‹: Design, Space and Time in the Work of Robert Walser«, in: The German Quarterly, Vol. 57, No. 1 (Winter 1984), S. 27-41, S. 27 und Anm. 3. 11 | Heinz Politzer: »Robert Walser: Große kleine Welt« [Buchrezension], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 143-146, S. 144f.
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Im Buch mit den Texten Robert Walsers »riecht es«, so Heinz Politzer, »nach zwanzigstem Jahrhundert«; denn auch das sei etwas, was Robert Walser und Paul Klee verbinden würde: »das Leiden an diesem Jahrhundert und eine neue, flüchtige und traumbefangene Schönheit«. Das Buch Große kleine Welt ist durchaus als zeitgenössisch empfunden, obgleich Politzer angesichts der eher ›unvertrauten‹ Sprache in seinem Text bereits bemerkt hatte: »man glaubt fremdländische Worte, fremdländische Buchstaben zu lesen«. Die Zitate aus Texten Robert Walsers, von denen Politzers Assoziationen ihren Ausgang nehmen, entstammen dabei sämtlich der Bieler Prosa. Und mit den vom Rezensenten angeführten Motiven sind diejenigen Texte zu identifizieren, die weiter oben in dieser Studie bereits Erwähnung gefunden haben: Schneien und Schneeglöckchen. Und das Schneeglöckchen scheint dabei nicht zufällig ein Text, an den die Assoziation zu Klee anknüpft. Die »Erinnerung« an Klees Malereien und Zeichnungen, an Lineamente, die von einer Spannung zwischen Graph, Schriftzeichen und Figur zeugen, stellt sich ohne Kenntnis der Mikrogramme Robert Walsers ein. Und doch mischt sich in die Lektüre von Robert Walsers Texten die Erinnerung an »merkwürdige und unvergeßliche Figuren«. Dass diese Figuren Selbstportraits sind, scheint zu ihrer Unvergesslichkeit beizutragen; merkwürdig ist nur der Zusatz, sie seien Selbstportraits »in tieferem Sinne«. Und wie lässt sich eine Ähnlichkeit zwischen Robert Walser und Paul Klee verstehen, die sich über Figuren vermittelt zeigt, die als Selbstportraits (und demnach dann doch wohl als Selbstportraits von Paul Klee) erscheinen? Oder was ist es anderes, das hierbei »in tieferem Sinne« portraitiert ist? Paul Klee hat, so wird es Michel Foucault schreiben, jene Unterordnung, die entweder »von der Form zum Diskurs oder vom Diskurs zur Form geht«, aufgebrochen, indem er in einem ungewissen, umkehrbaren, schwebenden Raum (zugleich Blatt und Leinwand, Fläche und Masse, kariertes Heft und parzellierte Erde, Geschichte und Karte) die Komposition der Figuren und die Syntax der Zeichen möglich machte. Schiffe, Häuser, Männchen sind zugleich erkennbare Formen und Schriftelemente. Sie stehen oder bewegen sich auf Wegen oder Kanälen, die wie Zeilen zu lesen sind. Die Bäume der Wälder marschieren auf Notenzeilen. Der Blick begegnet, als hätten sie sich inmitten der Dinge verlaufen, Wörtern, die ihm seinen Weg anzeigen, die ihm die Landschaft nennen, welche er gerade durchwandert. Und am Knotenpunkt dieser Figuren und dieser Zeichen taucht immer wieder der Pfeil auf – das Zeichen, dessen ursprüngliche Ähnlichkeit wie eine graphische Onomatopöie wirkt, und die Figur, die einen Befehl formuliert. Der Pfeil zeigt an, in welcher Richtung sich das Schiff gerade wegbewegt; er zeigt, daß eine Sonne eben untergeht; er schreibt die Richtung vor, der der Blick zu folgen hat, oder vielmehr die Zeile, auf der er die vorläufig und etwas willkürlich hierher gesetzte Figur verschieben muß. Es handelt sich da keineswegs um Kalligramme, in denen einmal das Zeichen der Form untergeordnet wird (die Wolke aus Buchstaben und Wörtern, die die Gestalt dessen annehmen, wovon sie sprechen) und dann wieder die Form dem Zeichen (die Figur, die sich in alphabetische Elemente auflöst). Es handelt sich auch nicht um jene Kollagen und Reproduktionen, welche die ausgeschnit-
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Foucaults überraschendes Dementi, es handele sich bei Klees Bildern nicht um Kalligramme, jedenfalls nicht im Sinne der transitorischen Qualität der Calligrammes von Guillaume Apollinaire – und auch nicht im Sinne der kubistischen Collagen –, dient, so Regine Prange, im Gegenteil zu einer Befestigung dessen, was sie selbst im Anschluss hieran als »utopisches Kalligramm« fassen möchte: »Das avancierte Moment in Foucaults Kalligramm liegt darin, dass es zunächst als ein grundsätzlich unerreichbarer Zustand vorgestellt wird.«13 12 | Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife, München, Wien 1997, S. 26f. 13 | Regine Prange: »Das utopische Kalligramm: Klees ›Zeichen‹ und der Surrealismus«, in: Paul Klee. Kunst und Karriere. Beiträge des internationalen Symposiums in Bern, hg. v. Oskar Bätschmann und Josef Helfenstein (unter Mitarbeit von Isabella Jungo und Christian Rümelin), Bern 2000, S. 204-225, S. 205f. Regine Prange diskutiert die zeichentheoretische Interpretation von Rainer Crone und Joseph Leo Koerner: »Koerner vergleicht die künstlerische Verkehrung von Figur und Grund mit einer Idee der jüdischen Mystik. Gemäss talmudischer Tradition wurde vor ihrer Entstehung die Thora auf weisses Feuer geschrieben. Die spätere Interpretation des 13. Jahrhunderts betrachtete das weisse Feuer als den eigentlichen, nun unsichtbaren Text, während der geschriebene Text auf der Thora-Rolle nur als ein Kommentar zu diesem verschwundenen galt.« (Ebd., S. 207f.) In der jüdischen Legende wie bei Klee würde nach Koerner dort, wo wir eine Figur zu sehen glauben, vielmehr der Grund selbst zur Figur oder zum Zeichen werden. Joseph Leo Koerner selbst schreibt in Bezug auf Paul Klee: »daß das Zeichen erst bei diakritischer Betrachtung erscheint, und zwar durch die unvermeidliche Kombination von Figur und Grund, in der jedes Element vom anderen abhängt. Bedeutung entsteht an der Schnittstelle zwischen dem, was wir für geschriebene Zeichen hielten, und Linien, Buchstaben, Worten oder Büchern./Zu der Art, wie Klee die Ordnung von Figuren und Hintergrund, Buchstaben und Seite umkehrt, findet sich eine hilfreiche Parallele in der jüdischen mystischen Tradition mit ihrem Nachsinnen über den Ursprung des Schreibens. [...] Daraus folgte, daß das Gesetz für das menschliche Auge gänzlich unsichtbar geworden war und nun hinter dem weißen Pergament der Schriftrolle verborgen blieb. Die schwarzen Zeichen galten nurmehr als Kommentar zu dem verschollenen Text.« Die Legende werfe, wie Klee, die Frage nach dem Grund auf, vor dem Zeichen gelesen werden. »Schreiben wird zu einem Spiel von Präsenz und Absenz: Worte und Buchstaben sind nur durch ihre Differenz zu der Oberfläche, auf der sie geschrieben wurden, sichtbar und daher bedeutungsträchtig.« In der jüdischen Geschichte ließe sich, wie bei Klee, feststellen, »daß dort, wo wir eine Figur vor einem Hintergrund zu sehen glaubten, der Grund tatsächlich selbst Figur oder Zeichen wird./Solche Betrachtungen lassen sich leicht zur zeitgenössischen Zeichentheorie in Beziehung setzen. Seit Ferdinand de Saussure werden Sprache und
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Was Foucault in den Bildern Klees beschreibt, sind Inversionen, ist der Umschlag von Sinn. Gegensätze fallen ineinander, scheinen in ihrer gleichzeitigen ›Präsenz‹ aber nicht etwa aufgehoben, denn dann wären sie als Antinomien ja gar nicht mehr wahrzunehmen, sondern in einer ebenso beständigen wie beweglichen Umkehrbarkeit ›am Werk‹. Und das gilt auch für die Schriftzeichen, die sich in den Bildern finden. Für Prange hat die Einführung von Schrift darin »keinen anderen Sinn als die IntegratiSchrift als diakritisch angesehen, nämlich als bedeutungsvoll insofern, als sie innerhalb einer Beziehung ausgedrückt werden, das heißt einer solchen zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen langue und parole, Diachronie und Synchronie etc. Erst dieses Spiel der Differenzen ermöglicht das Lesen und die Interpretation. Die Geschichte vom weißen und schwarzen Feuer bezieht sich speziell auf das Verfahren der Interpretation.« Was wir lesen, die schwarzen Schriftzeichen der Thora, bildet nur einen Kommentar zu einem verborgenen Text. Joseph Leo Koerner: »Paul Klee und das Bild des Buches«, in: Paul Klee und Edward Ruscha. Projekt der Moderne. Sprache und Bild, hg. v. Petrus Graf Schaesberg, Regensburg 1998, S. 89136, S. 91f. (Hervorh. v. JLK). Regine Prange aber schreibt: »Dabei wird in der genannten jüdischen Legende der Grund keineswegs zum Zeichen; es wird vielmehr seine metaphysische Bedeutung als numinoser Grund bekräftigt«, und führt André Bretons Abbildung eines Feuerwerks als Symbol der écriture automatique an. Diese Darstellung veranschauliche das »utopische Kalligramm« als von konventionellen Bedeutungen abgezogenes, sich selbst generierendes Zeichen: »Derselbe Linienverlauf kann die Erinnerung an Gegenständliches hervorrufen […] und diese Raumform wieder auflösen in nicht lesbare flächige Lineamente.« Bei den Aktdarstellungen Klees etwa habe die »Verzerrung der Gegenstandskonturen […] keinen karikierenden Charakter im üblichen Sinn, sondern ist satirisch durch den Rückbezug der Linie auf sich selbst. Dadurch dass sie in einen kontinuierlichen Fluss versetzt wird, bricht sie, scheinbar aus eigener Kraft, mit ihren deskriptiven und projektiven Qualitäten. Klees Linie ist keineswegs ›psychische Improvisation‹. Durch die immanente dialektische Wendung ist sie etwas anderes als symbolistische Ausdrucksgebärde, écriture automatique oder Zeichen. […] In psychoanalytischen Termini könnte man davon sprechen, dass Klee das Verdrängte des neuzeitlichen Bildes an die Oberfläche treibt, indem er seine Evidenz als Kompromissbildung zwischen Zeichen und Abbild, Fläche und Raum sichtbar und potenziell verstehbar macht.« Regine Prange: »Das utopische Kalligramm«, S. 214f. Und Prange resümiert: »Klees Philosophie einer schöpferischen Linie, die auch in heutigen semiotischen Konzepten noch Geltung beansprucht, bezeichnet eine rückwärtsgewandte Utopie, deren Inhalt nicht positiv lesbar ist, sondern auf den Verlust der klassischen ästhetischen Union von Zeichen und Abbild deutet. Diesen Verlust und seine Verarbeitung artikulieren die nachkubistischen Werke Klees, die umso gelungener sind, als sie selbst ihrer primitivsten Ikonographie widersprechen.« (Ebd., S. 225.) »Zu den ›primitiven‹ Zeichensystemen, die Klee zitiert«, führt Prange an, »gehört auch das System der Schrift. All diese Zeichensysteme gewinnen aber ihren Sinn erst aus dem Durchgang durch das kubistische Raster und nicht aus den vermeintlich ins Bild gesetzten Inhalten.« Ebd., S. 219.
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on von Figuren ins kubistische Netz«; Klees Auseinandersetzung mit dem Kubismus sei entscheidend für »die Entfaltung der kritischen Selbstreferentialität der Linie«: »Im Rahmen des Ornaments war sie nicht gänzlich zu gewinnen, weil das Ornament durch die hierarchische Beziehung von Figur und Grund konstituiert bleibt und die Spannung zwischen Fläche und Raum nicht auszutragen vermag.« Durch das kubistische Linienraster aber, dadurch, »dass das gesamte Bildfeld im Kubismus durch vertikale, horizontale und diagonale Linienelemente strukturiert ist, werden Raum und Körper in eine Bildschicht verbracht, verschränkt sich also die deskriptive Konturlinie […] mit den bedeutungsfreien Linien des Raums, die lediglich auf die Achsen des Bildfeldes Bezug nehmen, also ein selbstreferentielles Gestaltungselement sind. Die kubistischen Facetten vergegenständlichen das Bild im Bild.«14 Der Grund, der in diesem Rasternetz materialisiert ist, wird selbst zur Figur. Das Netz zehrt die Figur auf. Raster und Figur verschränken sich zu einem »Gespinst«, in dem das kubistische Achsenkreuz einen doppelten Wert bekommt. Und in der linear-deskriptiven Schicht erscheint es nun als ein X, das – seriell gereiht – ein Farbfeld ausfüllt.15 Die konstruktive Ordnung greift auf Körper und Raum über. Und doch stellen sich Achsenkreuz und X in der Folge in Klees Bildern auch als Module dar, »die auf der einen Seite Bausteine des Textes, auf der andern aber als Flächenelement das Bild im Bild vergegenständlichen«.16 Anders verhält es sich dagegen mit den verrätselten Bildtiteln, die scheinbar inkongruent oder ironisch im Kommentar zum Sujet handschriftlich verfasst sind und dadurch, wie die Signatur auch, zum unablösbaren Bestandteil des Bildes werden und graphisch und sprachlich eine Valenz haben, »ein Bild der Sprache« sind. Und anderes gilt auch für jene späten Bilder von Klee, die, wie J. Hillis Miller schreibt, »so etwas wie aneinandergereihte primitive Zeichnungen oder Buchstaben aus einem unbekannten und bis jetzt noch nicht entzifferten Alphabet darstellen«.17 Ganz ähnlich hatten sich ja John Christopher Middleton im Blick auf die Mikrogramme und Heinz Politzer im Blick auf die Texte der Bieler Prosa Robert Walsers geäußert. 1931 legt Paul Klee mit einem solchen Schrift-Bild aus dieser späten Werkgruppe, das als Abstrakte Schrift betitelt ist, »die Abstraktion einer Handschrift vor«, die, wie Dieter Roser schreibt, »eine an sich schon abstrakte Schrift weiter reduziert, bis sie nur noch an die (arabische) Schrift er14 | Regine Prange: »Das utopische Kalligramm«, S. 216ff. 15 | Vgl. ebd., S. 217. 16 | Ebd., S. 220. 17 | »In diesen Zeichnungen«, schreibt J. Hillis Miller, wobei anzumerken wäre, dass es sich bei dieser Werkphase Klees in vielen Fällen um Malereien handelt, »scheinen Wort und Bild in ihren gemeinsamen Ursprung zu verschmelzen. Diese seltsamen Zeichen sind weder Bilder noch Buchstaben. Sie stellen den Ursprung oder Grund dar, in dem beide noch eine Einheit bildeten, ehe sie sich in ihre unterschiedlichen Zeichenfunktionen von Abbild und Schrift spalteten.« J. Hillis Miller: Illustration, S. 68.
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innert«. Diese Bild-Schrift verbirgt »die Buchstaben, wobei sie gerade noch am Linearismus einer zeilenmäßigen Graphie festhält«.18 Bereits früher finden sich jedoch in den Bildschriften Klees Schriftzeichen, die nicht von der Bilderzählung motiviert scheinen.19 Dass Wörter oder Buchstaben in das Sujet eines Bildes montiert sein können, ohne von der Bilderzählung legitimiert zu sein, ist bereits Merkmal des Kubismus. Und: »Die Quelle des Kubismus ist ja ganz selbstverständlich der Vertrag von Versailles und alle seine so einschneidenden Folgen«,20 hatte Robert Walser in einem Brief von 1925 aufschlussreich geirrt, denn die ›Geburt‹ des Kubismus ist bereits auf den November 1908 zu datieren. Der Begriff geht auf eine kleine Zeichnung zurück, die Henri Matisse für den Kunstkritiker Louis Fauxcelles angefertigt hatte, um zu demonstrieren, wie die Bilder von Georges Braque aus »petites cubes«, aus kleinen Würfeln, aufgebaut seien.21 Als Georges Braque im Jahre 1908 erstmals diese kubistischen Bilder in der Galerie Kahnweiler zeigte, stammte das Katalogvorwort dabei im Übrigen von Guillaume Apollinaire.22 Kubistische Bilder ließen sich, so formuliert es Sabine Groß, »interpretieren als Annullierung der im dreidimensionalen Raum ablaufenden Bewegungszeit des Sehens, in der man einen Gegenstand umkreist und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Sie leisten also der Ein-Blick-Logik der Zentralperspektive Widerstand. Damit läßt sich der Kubismus als Metapher der Bildillusion lesen, die er durchbricht: er stellt anschaulich dar, wie die bildliche Darstellung den Sehvorgang aus dem Raum extrahiert und auf zwei Dimensionen reduziert, indem sie die verschiedenen Augen-Blicke simultan übereinanderschichtet.«23 Der Kubismus hebt also die Bannung in die Fläche gewissermaßen auf, gerade indem er sie deutlicher markiert; er gewinnt den Dingen die Mehrdimensionalität, die sie eingebüßt haben, gerade in der Zweidimensionalität, die den Verlust hervorgerufen hat, zurück. Und für Foucault handelt es sich beispielsweise bei den Pfeilen in Klees Bildern, bei diesen Zeichen, deren »ursprüngliche Ähnlichkeit wie eine graphische Onomatopöie wirkt«, eben keineswegs um Kalligramme, in denen einmal das Zeichen der Form und dann wieder die Form dem Zeichen untergeordnet wird: »Vielmehr verschränken sich das System der Repräsentation durch Ähnlichkeit und das System der Referenz durch Zeichen zu einem einzigen Gewebe.«24 18 | Dieter Roser: Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift, S. 167. 19 | Vgl. Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife, S. 16 und S. 26. 20 | Brief (ohne Datumsangabe, vermutlich nach dem 20. August 1925) an Frieda Mermet, in: Br, S. 233ff., S. 236 (Hervorh. v. RW). 21 | Vgl. John Richardson (in Zusammenarbeit mit Marilyn McCully): Picasso. Leben und Werk, Bd. 2 (1907-1917), München 1997, Kapitel 7 »Die Entstehung des Kubismus«, S. 113-133, S. 113f. 22 | Vgl. Uwe Fleckner: »Das zerschlagene Wort«, S. 496f. 23 | Sabine Groß: »Schrift-Bild. Die Zeit des Augenblicks«, S. 246. 24 | Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife, S. 26f.
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Was nun aber den Pfeil bei Paul Klee betrifft, hat jene Resonanzen auf den Ersten Weltkrieg, die in Robert Walsers brieflicher Äußerung zum Kubismus nahegelegt sind, schon Otto Karl Werckmeister aufgezeigt. Die Pfeile weisen nicht nur auf den Einsatz der sogenannten Fliegerpfeile im Ersten Weltkrieg hin, sondern sie sind als Chiffren jener Flugzeuge und Flugzeugabstürze zu sehen, die der in Fliegerhorsten rekrutierte Klee während seines Militärdienstes photographisch zu dokumentieren hatte. Seit der zweiten Kriegshälfte erscheinen die Pfeile in Klees Bildern. Sie sind ideographische Zeichen, symbolisieren die Kräfte, die in diesem Krieg eben vor allem zerstörerische Kräfte sind. Die Pfeile sind graphisch-physikalische Vektoren, Abbreviaturen der Flugbewegungen. Der Pfeil symbolisiert darüber hinaus Zeit, Geschichte, Fortschritt, Linearität. Und doch kehrt sich gerade im Pfeil der Zeitpfeil um. Auch Werckmeister legt dar, wie Klee in der Abstraktion nicht etwa endet, sondern mit ihr beginnt: »um durch wiederholte Erinnerung im Laufe der Zeit zum historischen Erfahrungsgrund des Themas vorzudringen oder zurückzufinden«.25 Klee selbst hat diesen Prozess, der sich bis weit in die 1920er Jahre fortgesetzt zeigt und in dem die Referenzen auf das Kriegsgeschehen immer expliziter werden, bereits 1915 in seinem Tagebuch als »abstract mit Erinnerungen« bezeichnet. Und die Konjunktion bedeutet auch: Nichts ist in Amnesie befangen; die konkreten Ausgangspunkte können vielmehr durchaus memoriert und rekonstruiert werden. Jedenfalls bildnerisch. Klee wird bis Ende des Jahres 1918, kurz vor seiner Entlassung aus dem Militärdienst, vier Tagebücher führen. Mit dem Ende der Militärzeit brechen diese Tagebuchaufzeichnungen dann ganz ab.26 Die ersten drei Tagebücher überarbeitete Klee später bis zum Jahre 1921 in mehreren Schritten und entnahm Passagen daraus, die er umarbeitete und seinen ersten Monographen zur Verfügung stellte; nur das vierte und letzte Tagebuch, das mit der Militärzeit einsetzt und endet, beließ er im einstmals niedergeschriebenen Wortlaut. In diesem Tagebuch IV, dem Kriegstagebuch, variiert der Schriftduktus besonders häufig; zudem sind die Heftseiten nicht mehr fortlaufend beschrieben. Texte, die in einer Reinschrift verfasst sind, laufen parallel zu ersten Entwürfen. Im vorderen Teil sind ungefähr sechzig Heftseiten herausgerissen, lediglich die zweite Hälfte ist vollständig erhalten. Der vierte und letzte Tagebuchband ist ein Fragment.27 Der Eintrag aus dem Jahre 1915 aber, in dem die Wendung »abstract mit Erinnerungen« auftaucht, entstammt nicht dem fragmentarischen, unredigierten, unzensierten Teil der Tagebücher:
25 | Otto Karl Werckmeister: Versuche über Paul Klee, Frankfur t a.M. 1981, S. 103. 26 | Vgl. Margareta Benz-Zauner et al. (Hg.): »Und ich flog«, S. 13. 27 | Vgl. das Nachwort von Wolfgang Kersten in: Paul Klee: Tagebücher 1898-1918, S. 584-591, S. 585 und S. 590.
VIII. »A BSTRACTION « (P AUL K LEE ) Man verlässt die diesseitige Gegend und baut dafür hin-/ über in eine jenseitige, die ganz ja sein darf. Abstraction. Die kühle Romantik dieses Stils ohne Pathos ist unerhört. Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute) desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt ein[e] diesseitige Kunst hervorbringt. Heute ist der gestrige-heutige Übergang. In der grosse[n] Formgrube liegen Trümmer, an denen man noch teilweise hängt. Sie liefern den Stoff zur Abstraction. Ein Bruchfeld von unechten Elementen, zur Bildung unreiner Kristalle. So ist es heute. Aber dann: Einst blutete die Druse. Ich meinte zu sterben, Krieg und Tod. Kann ich denn sterben, ich Kristall? Ich Kristall Ich habe diesen Krieg in mir längst gehabt. Daher geht er mich innerlich nichts an. Um mich aus meinen Trümmern herauszuarbeiten musste ich fliegen. Und ich flog. In jener zertrümmerten Welt weile ich nur noch in de[r] Erinnerung, wie man zuweilen zurückdenkt. Somit bin ich »abstract mit Erinnerungen«. Gewisse kristallinische Gebilde, über die eine pathetische Lava letzten Endes nichts vermag. Traum: Bei den Geishas verlangte ich nur etwas Musik und etwas »von jenem Thee, der für sämtliche Geishas der Welt mehrfacher Ersatz« sei. Bei der geringsten Versuchung hörte ich leises Klopfen. Als ich dem Klopfen nachging, streckte ein kleiner Genius sein Händchen nach mir aus und führte mich in seine Region sanft hinauf. Da fielen die Dinge nach oben und nicht nach unten. […] 28
Der Passus aus Klees Tagebuch scheint eine Welt- und Kriegsabgewandtheit zu belegen, doch lohnt das genauere Lesen. Drusen sind Mineralindividuen, welche die Innenwand eines Gesteinshohlraums bedecken, es sind im Inneren eines Gesteins ausgebildete Kristallflächen. In der 1917 veröffentlichten und wie andere Publikationen Ernst Haeckels faszinierend illustrierten Schrift Kristallseelen. Studien über das anorganische Leben heißt 28 | Paul Klee: Tagebücher 1898-1918, S. 365f.
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es: »Viele Kristalle, sowohl feste als flüssige, besitzen die Fähigkeit, Verletzungen auszuheilen und verlorengegangene Teile wieder zu ersetzen.«29 Bei Klee hingegen heißt es: »Einst blutete die Druse.« Auch mineralische, anorganische Kristallflächen bluten hier; sie erweisen sich darin als sterblich, und so heißt es auch: »Ich meinte zu sterben, Krieg und Tod.« Eine Abkehr vom Kriegsgeschehen, die sich mit der Druse als einem von außen nicht einsehbaren Raum der Interiorität, mit dem Kristall in buchstäblichem Sinne gespiegelt, reflektiert, aber gleichermaßen auch erstarrt zeigt, setzt dabei erst mit der nun folgenden Frage ein, die aber eben zuvor, mit der »einst« blutenden Druse, ja bereits bejahend beantwortet werden musste: »Kann ich denn sterben, ich Kristall?« Aus dem moribunden Geschehen errettet der Gedanke des Kristallinen, errettet die Vorstellung einer Petrifizierung, die aber eben erst im Wissen um die Vergänglichkeit alles Nicht-Kristallinen so wichtig wird: als »kühle Romantik«, die den Schmerz zwar abklingen lässt, in der jedoch, im Bild des Kristalls, die Erstarrtheit in der Angst, und damit der Anlass der Angst, chiffriert sichtbar bleibt. Und Steine wachsen im Unterschied zu organischen Substanzen von außen, nicht von innen her, doch »Steine sind«, so schreibt Hans-Ulrich Treichel, »ebenso wie die verblassenden Linien einer vergessenen oder unkenntlich gemachten Schrift – Erinnerungen ohne Gedächtnis.«30 Auch die Abstraktion, die in Klees Wortwendung aus seinem Tagebucheintrag »abstract mit Erinnerungen« wie ein prospektiver Bildtitel in Anführungszeichen gesetzt scheint, ist nicht nur die sukzessive Abfolge immer weitergehender, formaler Konzentrationen, das Weglassen von immer mehr Details, die den Gegenstand näher bezeichnet hätten. Die Abstraktion, die zwar noch Erinnerungen enthält, Allusionen zulässt, ist – wie der ausgeformte Kristall – ohne Gedächtnis, ohne Speicher.
29 | Ernst Haeckel: Kristallseelen. Studien über das anorganische Leben, Leipzig 1917, S. 33; zit.n. Cornelia Blasberg: »Ornament, Schrift und Lektüre. Überlegungen zu Ernst Haeckel, Gustav Klimt und Hugo von Hofmannsthal«, in: »Wunderliche Figuren«. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften, hg. v. Hans-Georg von Arburg, Michael Gamper und Ulrich Stadler, München 2001, S. 293-315, S. 300. 30 | Hans-Ulrich Treichel: Auslöschungsverfahren, S. 15ff. [Einl.]. Steine sind »Zeugen geologischer Tumulte« und fungieren in der literarischen Moderne als »Zeugen der poetischen Einbildungkraft. Darüber hinaus werden sie […] immer wieder als Verkörperungen schriftlichen Ausdrucks beschrieben, denen die Zeichen einer verschwundenen ›Urschrift‹ eingeschrieben sind, wobei der Begriff der ›Urschrift‹ hier, ungeachtet seiner metaphysischen Färbung, zur Beschreibung einer paradoxalen ästhetischen Zeichenhaftigkeit der Dinge fungiert, denen Zeichen eingeschrieben sind und die selber Zeichen sind, die nichts bezeichnen und auf nichts verweisen. In dieser ›Zeichentheorie des Anorganischen‹, die in der paradoxalen Figur absoluter Zeichenhaftigkeit denkt, formuliert eine besondere Antinarrativik ihr eigenes Programm.« Ebd., S. 16.
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Es gibt keine Gegenständlichkeit mehr, nicht jedenfalls im Sinne der unmittelbaren Abrufbarkeit eines dahinter stehenden Bildes oder eines konkreten Geschehens. Und in den Modalitäten der Zeit gibt es eben eine unerwartete Umkehrung: Klee selbst hat dargelegt, dass in seiner Arbeitsweise Bedeutungen erst am Ende eines Prozesses zum Vorschein kommen können. Das Motiv kann gewissermaßen verborgen bleiben, bis es sich schließlich durchsetzt, dem Künstler selbst zuvor unbewusst. Beim Fliegerabsturz erstreckt sich dieser Vorgang über Jahre; die Kriegserfahrungen treten in der Wiederholung der Chiffren immer unverhüllter, und das heißt immer gegenständlicher hervor: Die »Dinge« fallen, wie es im Tagebuchtext von Klee auch heißt, »nach oben und nicht nach unten«. Die Topologie in den Bildern Klees, die auf andere Weise als der Kubismus der einen Perspektive andere Perspektiven entgegen- und hinzustellt (einer der Bildtitel aus den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg lautet Perspectiv-Spuk), zeigt Dinge skelettiert, sklerotisiert, auf schwache Umrisslinien reduziert. Opake Gegenstände werden transparent, luzide, wie als Nachbild oder Relikt. Das Bild scheint zugleich ein projektiver Plan oder eine Skizze, eine seismographische Kartographie zu sein, welche das Vermögen zur Entzifferung, zur Ergänzung der ›fehlenden‹, nicht dargestellten, nicht illusionierten Volumina des Gegenständlichen erfordert. Und als radikale Fortsetzung dessen lässt sich der verstärkte Einzug abstrakter Schriftzeichen in Klees Arbeiten seit der zweiten Kriegshälfte sehen. Ins Auge fällt dabei das häufige Vorkommen des Buchstabens, des Zeichens X. Das X kann grundsätzlich, je nach Zusammenhang, verschiedene Bedeutungen annehmen; mit ihm kann angekreuzt, markiert oder aber durchgestrichen, entwertet und ausgelöscht werden. Paul Claudel wird in seinem Werk zu den Idéogrammes occidentaux (zu dem Genette anmerkt, dass der Titel ein implizites Oxymoron sei, weil es ein solches abendländisches Ideogramm gar nicht geben könne31), das im Jahre 1926 erscheint, auch anhand des Buchstabens X seine Auffassung eines mimetischen Ideogramms darlegen, die wiederum Charles Bally, Mitherausgeber und Transkribent des von Ferdinand de Saussure ja selbst nicht in Schriftform verfassten sprachwissenschaftlichen Grundlagenwerks, folgendermaßen charakterisiert hat: »Man weiß, dass die geschriebenen Wörter, vor allem in den Sprachen mit launenhafter und willkürlicher Orthographie, wie dem Englischen und dem Französischen, für das Auge die Gestalt globaler Bilder annehmen, von Monogrammen; doch darüber hinaus kann dieses visuelle Bild recht und schlecht mit seiner Bedeutung assoziiert werden, so daß das Monogramm zum Ideogramm wird; diese Annäherungen sind meist kindisch, doch die Sache an sich gar nicht so belanglos. Manche behaupten, lys wäre schöner als lis ›Lilie‹, weil das y darin den Stiel der Blume
31 | Vgl. Gérard Genette: Mimologiken, S. 416 [Kapitel »Im Spiel: Die Schrift« zu Paul Claudel S. 391-417].
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abbildet, die in den Konsonanten erblüht.«32 »Und ist es denn so absurd zu glauben«, fragt Paul Claudel selbst, »daß das Alphabet der kurzgefasste Abriß und der Überrest aller Akte, aller Gesten, aller Haltungen und folglich aller Gefühle der Menschheit im Schoß der Schöpfung, die ihn umgibt, ist?«33 In diesem kratyleischen Sinne, das heißt in Bezug auf Platons Dialog Kratylos und dessen Echo in den nachfolgenden Epochen, in einer Vorstellungsweise, »die zu Unrecht oder zu Recht zwischen dem ›Wort‹ und dem ›Ding‹ eine Beziehung widerspiegelnder Analogie (der Nachahmung) annimmt«,34 wie Gérard Genette in seinen Studien zu den Mimologiken schreibt, heißt es bei Claudel an anderer Stelle auch: X ist zunächst eine Kreuzung, der Treffpunkt von vier Richtungen. Ich vergleiche es mit einem Herz, das bis in seine äußersten Endpunkte eine ausgewogene Übereinstimmung von Konsequenzen anzieht und abweist. Die vier Ecken, die seine beiden Zweige bestimmen, bilden das Prinzip jeder planen Geometrie, während sie, indem sie durch Rotation zu Flügeln werden, die Sphäre schaffen. Das X steht im Zentrum jeden Maßes und jeder Schöpfung. Es ist der Baum, es ist der breitbeinig dastehende Riese, der den Himmel stützt. Es ist das Zeichen der Multiplikation. Und es ist das Zeichen des Kreuzes, das den Ungebildeten als Unterschrift dient [etc.]. 35
Das X ist, als Zeichen des Kreuzes, nicht allein in einer christlichen Schreibweise, auch Zeichen des Todes.36 Und so fasst Claudel in den Idéogrammes occidentaux 1926 auch zusammen: »X [ist] all das, was Schnitt ist, das gierige Sensenmesser, das überall seine Kiefer öffnet«.37 Und doch erhält sich auch hierin eine Ambivalenz. So war das Kreuz, ins Lotrechte verschoben, 32 | Charles Bally: Linguistique générale et linguistique franη aise, Bern 1965, S. 133; zit.n. Gérard Genette: Mimologiken, S. 405f. 33 | Paul Claudel: »Idéogrammes occidentaux«, in: ders.: Œuvre en prose, édition établie par Jacques Petit et Charles Galpérine, Paris 1973, S. 90; zit.n. Gérard Genette: Mimologiken, S. 399. 34 | Gérard Genette: Mimologiken, S. 10. 35 | Paul Claudel: Œuvres complètes XVIII, Paris 1961, S. 458; zit.n. Gérard Genette: Mimologiken, S. 411. 36 | Der Konnex zwischen Schriften und Kulturen, zwischen einem Palimpsest und einem Kriegsgeschehen stellt sich dabei auch bei Victor Hugo in seinem Roman Notre-Dame de Paris her: »Andere Inschriften standen, wie es bei Alchimisten Brauch war, in großer Zahl an den Mauern zu lesen: die einen waren mit Tinte geschrieben, die anderen waren mit einem scharfen Instrument eingeritzt. Gotische, hebräische, griechische und lateinische Buchstaben schwirrten durcheinander. Eine Inschrift ging über die andere weg; die neueren verwischten die älteren. Sie waren verwirrt wie die Zweige eines Gestrüpps, wie die Lanzen bei einem Schlachtengetümmel.« Zit.n. Michael Wetzel: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift, S. 58f. 37 | Zit.n. Gérard Genette: Mimologiken, S. 408.
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im Krieg auch Abzeichen der Krankenschwestern, ein Abzeichen des Heils oder mindestens möglicher Heilung – in all dem Unheil. Robert Walser wird ein kleines ›x‹ in einem seiner Mikrogrammtexte schreiben, der auf 1926 datiert wird. Der Text, der unter dem Titel firmiert, der von seinem Incipit vorgegeben ist, beginnt wie folgt: »Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte ich ab und zu Lust zu brüllen. Eine Wut, die sich hauptsächlich gegen mich selbst richtete, machte aus meiner Innerlichkeit einen phosphorisch zuckenden Sumpf.« Eben diese Wut hat Folgen. Bemerkenswert ist der Verweis auf das besonders reaktionsfähige chemische Element Phosphor (griech. ›lichttragend‹, vom Leuchten des weißen Phosphors bei der Reaktion mit Sauerstoff). Die Brand- und Nebelwirkung des weißen Phosphors wurde bereits im Ersten Weltkrieg, besonders aber im Zweiten Weltkrieg als Kampfmittel genutzt. Phosphore sind Stoffe, die phosphoriszieren, die ein Nachleuchten erzeugen. Und ein Nachleuchten von Ereignissen zeigt sich auch hier im Text, wo mit dem »phosphorisch zuckenden Sumpf« auf den Schlamm des einstigen Kriegsschauplatzes verwiesen ist. Im nächsten Satz aber geht es um die eigenen Eingeweide und es heißt unvermittelt: »Von Schlangen [Variante: Pflanzen] und dergleichen habe ich mir total abgewöhnt zu sprechen. Könnte ich mich nicht, in unverfänglicher [Variante: unsäglicher] Verkennung meiner selbst, beispielsweise in einen Tiger verwandelt glauben, der, sein Opfer krampfhaft umkrallend, mit Glasaugen in die Unausdenkbarkeit blickt, allmählich aus seinen Grausamkeiten herauszutreten?«38 Auch Glasaugen lassen an den Krieg, an die notwendig gewordenen Prothesen denken, die im Falle der Glasaugen den prothetischen Zweck jedoch gar nicht erfüllen, das Sehen gar nicht wieder ermöglichen konnten; und nun folgen die Sätze: »Ich bin übrigens von der Sehnsucht jedes Tigers überzeugt, sein tragisches Dasein abzuschütteln, etwas Schöneres als das Furchtbare zu sein, woran er bildhaft haftet. Sind wir alle wirklich nur Bilder für unsere hochgeachteten Mitmenschen? Manchmal scheint mir dies so, und nun spreche ich plötzlich von einer unheimlichen Figur, […].«39 Der »Tiger« war bereits im Text Hans, im Ausbruch des Ersten Weltkriegs begegnet, wo »[w]as jedermann für unmöglich gehalten haben wollte, […] plötzlich nackte, harte, schreckensverbreitende Wirklichkeit geworden [war]. Allenortes sah es aus wie Lauern und schien sich in sonst so sanfter Luft anzuhören wie Gebrüll von Tigern«.40 Mit der unheimlichen Figur nun, einem »sehr gebildeten Menschen«, dem das poetische Ich begegnet, wird im Mikrogrammtext Vor noch nicht allzu langer Zeit (die beiden Protagonisten sind »befeindete Freunde«, wie es weiter unten im Text heißen wird) ein »Literaturtee« eingenommen, bei dem es anlässlich der Erwähnung einer Frau zu folgendem Wortwechsel kommt: »Schönheit, führte ich the38 | Mikro, Bd. 4, S. 44. 39 | Ebd. 40 | SW 7/205f.
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oretisch und zugleich anscheinend praxiserprobt aus, führe in’s Unschöne, wie etwa reinlicher [Variante: peinlicher] Konservativismus in die Unterwühlung hineinleite.« Ein Wühlen in den Eingeweiden macht sich also wieder bemerkbar. Etwas scheint in sprichwörtlichem Sinne Bauchschmerzen zu bereiten. Und das Gegenüber des »sehr gebildeten Menschen« setzt nun zu einer Frage an, die eine Beantwortung erfährt: »Sie wagen, politisch zu reden?« »Meiner Ansicht nach gibt es überhaupt nichts Unpolitisches. Alles, vom Schäufelchen, das ich vom sorgsam polierten Fußboden aufhebe, angefangen, ist politisch. Jeder Schritt, jeder Kuß, jedes Geschenk, jedes Wort, jedes bißchen Essen, jeder Hut, jede Hose, jeder ixbelie[bi]ge Lungen-, Atemzug gehört mit zur Politik, an welcher Tatsache meiner Überzeugtheit nach nicht das Leiseste zu ändern ist.« 41
In dieser jede Taxonomie sprengenden Unterschiedlichkeit der alltäglichen und nicht ganz so alltäglichen ›Dinge‹ fallen zwei, welche die Schrift betreffen, kaum auf: Zum einen ist der ›x-beliebige‹ Atemzug nicht mit einem Bindestrich geschrieben, sondern als »ixbeliebig[ ]« amalgamiert – was das Beliebige gerade konterkariert. Zum anderen aber, und wichtiger noch, ist der Buchstabe oder besser das Zeichen ›x‹ ansatzweise in einer Lautschrift geschrieben, mit den zwei Buchstaben »ix«, und das wohl auch, weil es ja mit dem Pneuma, dem Atemholen zu tun hat. In dieser Schreibung aber hat das Zeichen auch mit der Sprache als gesprochener Sprache, mit dem Gespräch zu tun. Das ›x‹ ist gerade nicht das isolierte Todeszeichen im Todes- und Differenzprinzip der Schrift, sondern Zeichen des lebendigen Hauchs; es ist nicht Zeichen und Ausdruck einer anderen Auffassung von Politik, sondern Zeichen, das als solches und in seiner Schreibweise bereits diese andere Politik als eine Mikropolitik der Schrift bezeugt.
41 | Mikro, Bd. 4, S. 45f. [Hervorhebungen bezeichnen hier die wenigen von Bernhard Echte und Werner Morlang unsicher transkribierten Wörter des Textes.] Peter Rippmann: Robert Walsers politisches Schreiben, Bielefeld 2002, S. 8, zitiert diese Passage, um darin »Robert Walser als politischen oder doch als politisch motivierten Schriftsteller wahrzunehmen«, als einen »Mikrogrammatiker« (Ebd., S. 59). Zu den Eigenheiten der Rezeptionsgeschichte gehöre es, dass »selbst einer der politisch wachsten Germanisten, Walter Muschg (Tragische Literaturgeschichte), zwar Robert Walsers Rang als Schriftsteller schon 1927 erkannte, aber dessen gesellschaftskritische Neigung nicht zu beachten schien. Walser bezeichnet er als verborgenen Zauberer der zarten Worte und Dinge (Pamphlet und Bekenntnis, Olten 1968, S. 64).« Ebd., S. 31, Anm. 9.
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VIII.2 D ER M ORD AN DEN S ÖHNEN : S AUL UND D AVID Wie bei Paul Klee erscheint auch bei Robert Walser das Weltkriegsgeschehen indirekt, bei genauerem Hinsehen jedoch entzifferbar in der Produktion dieser Zeit. Robert Walsers winziges Dramolett mit dem Titel Saul und David, das 1913 zunächst unveröffentlicht geblieben war, bildet hierbei eine Ausnahme – und das, obgleich es bereits aus der Vorkriegszeit datiert. In seiner ersten Fassung ist es auf der Rückseite eines Blattes notiert, das zu jenen in der Zeitschrift März erhaltenen Fragmenten gehört. Umseitig findet sich auf demselben Blatt der Prosatext Die Stadt (I), dessen Vorabdruck in der Zeitschrift Die Weissen Blätter, die zu dieser Zeit noch von Franz Blei herausgegeben wurde, im Februar 1914 erfolgt war. Das Dramolett Saul und David ist, wie alle Fragmente auf den Rückseiten der Texte, die als Kleine Sachen im Januar 1914 in der Zeitschrift März abgedruckt waren, auf diesem Blatt durchgestrichen, entwertet. Fünf Jahre später aber, 1919, nach Kriegsende, als die europäische Welt sich grundlegend verändert hatte, kommt eine zweite, veränderte Fassung in der Zeitschrift Die Weissen Blätter zum Abdruck. Beide Fassungen von Saul und David beziehen sich auf die biblische Episode aus dem ersten Buch Samuel, das auch als Buch der Könige bezeichnet wird. Der Text lautet in seiner ersten Fassung: SAUL UND DAVID (I) Zimmer im Palast von Palästina. David steht vor Saul mit der Harfe in der Hand. Saul: Du fürchtest dich vor mir? David: Ich mich fürchten vor Ihnen? Ich mich fürchten vor einem – – Menschen? Ich mich fürchten vor dem Vater? Ich mich fürchten vor dem – König? Ich mich fürchten vor Ihrem Zorn, lieber Vater? Ich mich fürchten vor dem Gram, der in Ihrer Seele haust? Warum haben Sie dem Gram, dem Scheusal, Einlaß in Ihre Brust gewährt? Ist es königlich, sich zu grämen? Sie grämen sich, lieber Vater. Doch ich fürchte mich nicht davor. Ich bin Ihr Kind. Wessen Kind? Des Königs! Eines Königs Kind fürchtet sich vor keinem Menschen, auch nicht vor dem König. Meine Abstammung verbietet mir, mich zu fürchten, verbietet mir, zu verzagen. David kann sich nicht vor Saul fürchten, weil er sein Sohn ist, zwar sind Ihre Augen fürchterlich, lieber hoher Vater, und um Ihren zusammengebissenen Mund schäumt die Wut. Doch Ihr Haar ist weiß – – Saul (indem er den Speer ergreift): Ha! David (indem er in die Saiten greift): Sie sind alt. Saul: Du Verräter! (wirft den Speer nach ihm) David: Sie meinen, weil ich jung bin und weil ich sehe, daß Sie alt sind, trachte ich nach dem Throne? Sie irren sich. Weil ich jung bin, brauche ich nicht auf den Thron zu steigen, und ich habe weit und breit nicht nötig, König zu sein. Ich kann noch lang genug König sein, um den Unmenschen zu spielen, um das bepurpurte Ungeheuer zu sein. Sie wollten mich töten. Sehen Sie, Vater, was für Ungeheuer die Könige sind, was für Ungeheuer sie sein müssen. Glauben Sie denn, es gelüste mich
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M IKROPOETIK je, König zu werden? Den Thron besteige ich, sobald ich muß. Ich verachte den Thron. Ich hasse, wonach Sie glauben, daß ich begierig sei. Saul: Du lügst. David: Meine Seele weiß, daß ich die Wahrheit rede. Nur ein Untertan kann zum Thronhimmel emporstaunen. Nur ein Dummkopf kann wünschen, auf dem Thron zu stehen. Einen Prinzen schaudert es vor dem Thron. Saul (versinkt in schwermütiges Nachdenken) David: O mein Vater, weinen, weinen Sie. Ich möchte Sie so gern wie einen Menschen weinen sehen. Auch habe ich Sie noch niemals lachen hören. Können Sie lächeln, lieber Vater? Sind Sie keiner Träne fähig? Hat der König ganz den Menschen in Ihnen erwürgt? O was sind Könige für arme Menschen. Saul (weint) David: Jetzt wissen Sie, daß ich nie nach Ihrem Szepter und nach der jammervollen Hoheit trachte, die Sie verdammt sind darzustellen und die auch ich verdammt sein werde darzustellen. Ich sehne mich nicht nach etwas so Abscheulichem. Ich fürchte mich davor – das ist es, Vater, wovor ich mich fürchte. Das ist das einzige, wovor ich mich fürchte. 42
Das Dramolett figuriert einiges anders als die biblische Geschichte, weil diese aber für Robert Walsers Text ersichtlich als Folie dient, soll sie kurz rekapituliert werden: Saul ist – gemäß der Zeitrechnung heutiger Historiker – um die Mitte des 11. Jahrhunderts v. Chr. der erste König Israels, der jedoch dann von Gott durch dessen Propheten Samuel, der Saul einst selbst zum König gesalbt hatte, verworfen und abgesetzt wird, weil Saul Gottes Befehl, sich beim Kriegszug gegen die Amalektiter, ein Nachbarvolk Israels, nicht durch Gefangene oder andere Beute zu bereichern, missachtet hatte. Nachdem Saul von Gott verlassen ist, erhält der Prophet Samuel den Auftrag, nach Bethlehem aufzubrechen und dort einen der Söhne des Isai (›Jesse‹) zum König zu salben. Von nun an ist der Geist Gottes mit David, dem jüngsten Sohn Isais aus Bethlehem, der für die Überlieferung als Dichter der Psalmen gilt; Saul hingegen verfällt immer wieder in Schwermut, seit Gott von ihm gewichen ist. Deshalb schlagen seine Höflinge nun vor, einen Sohn Isais zu holen, der es verstehe, die Harfe zu spielen. Und so lässt Saul eben David an seinen Hof holen und gewinnt zunächst Gefallen an ihm. Nach Davids Sieg über den riesenhaften Philister Goliath aber, den er ungerüstet und lediglich mit Hilfe einer Steinschleuder vollbracht hatte, weswegen ihn Saul in sein Heer aufgenommen hatte, und nach weiteren Erfolgen in den gemeinsamen Schlachten erfasst Saul jedoch bald der Neid auf David, und er argwöhnt, dass dieser ihm nach der Krone oder, schlimmer noch, nach dem Leben trachten könnte. Als Saul wieder einmal schwermütig ist und David ihm auf der Harfe spielt, wirft Saul plötzlich den Speer, den er in der Hand hält, auf David. Doch David kann dem todbringenden Wurf ausweichen. Er überlebt – und wird bald nach Sauls Tod 42 | SW 16/223f.
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in der Schlacht gegen die Philister zum König von Juda, dann von ganz Israel, er erobert Jerusalem und macht es in der Folge zur Hauptstadt eines großen Reiches unter seiner Herrschaft.43 Robert Walsers Text macht David im Dramolett Saul und David zum Sohn Sauls, was nicht den in der Bibel erzählten Gegebenheiten entspricht, sondern höchstens der dynastischen Erbfolge, doch figuriert die Geschichte vor allem die Verkehrung eines anderen, insbesondere durch Sigmund Freud wirkmächtig gewordenen Mythologems: Nicht um die Verwerfung eines Vaters oder einer Vaterfigur im ödipal erwartbaren Sinne geht es hier, um das Trachten des Sohnes nach dem Status des Vaters. Der Sohn erstrebt den herausgehobenen, distinkten Status des Königsvaters vielmehr gar nicht. Und das wiederum erweist bereits die biblische Geschichte: Nicht von David, als der Inkarnation der Macht des Kleinen, geht die Aggression aus, sondern der Vater, die Vaterfigur bedroht vielmehr David mit dem Tod. Doch Robert Walsers Roman Jakob von Gunten hatte bereits das Verhältnis, was die sprechenden Namen betrifft, gegeneinander verkehrt. Der Name des rigide paternalistischen Bildungsinstituts »Institut Benjamenta«, von dem es gleich im ersten Satz des Romans heißt »Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein«,44 konnotiert das Kleine eben durchaus nicht nur positiv. Das »Institut Benjamenta« verweist in seinem Namen auf Benjamin, als jüngsten Sohn Jakobs, der dem kleinsten unter den zwölf Stämmen Israels seinen Namen gab. Die Genealogie zeigt sich aber in ihrer Richtung verkehrt, denn Jakob stammt hier von Benjamin bzw. Benjamenta, das heißt vom Kleinen ab. Und das bedeutet auch: Die biblische Genealogie sieht sich von einer institutionalisierten Bildungsgenealogie verworfen. Und so heißt es im Beginn des Romans auch signifikant: »Seit ich hier im Institut Benjamenta bin, habe ich es bereits fertiggebracht, mir zum Rätsel zu werden.«45 Anders relevant wird die Episode Saul und David dabei im Blick auf die Vorgeschichte Sauls, die der Handlung im Dramolett Robert Walsers vorangeht und die bei einiger Bibelkenntnis darin vorausgesetzt werden kann. Zwar ist in dieser Vorgeschichte Schrift nicht explizit thematisiert, Christoph Türcke aber interpretiert sie dennoch als den Umschwung, die Wende zu einer Profanierung der Schrift. Saul, der den Kriegsbann nicht gänzlich vollstreckt, sondern einige der Beutegüter, die allein Gott zustehen, für sich behalten hatte, begeht nach der immanenten Logik des biblischen Textes ein Sakrileg, er vollzieht exemplarisch: »jene erste große Umwertung des Eigen43 | Vgl. Heinrich Krauss/Eva Uthemann: Was Bilder erzählen. Die klassischen Geschichten aus Antike und Christentum in der abendländischen Malerei, München 1987, S. 223-230. 44 | SW 11/7. 45 | Ebd.
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tumsgedankens, die […] sich aber erst allmählich, mit Furcht und Zittern, durch Verstoß gegen die Übermacht des Opfer- und Kriegsbanns durchsetzte. Wo entdeckt wird, daß man Tiere nicht notwendig jagen muß, sondern einige zähmen, hegen, schonen, ihre Schlachtung aufschieben, auf diese Weise aber um so besser über sie verfügen kann, […] entsteht ein Brauch, der bis heute in Brandzeichen und Ohrmarken fortlebt«. Dieser Brauch besteht darin, Kreaturen »ein bleibendes Zeichen ihrer Herkunft oder Zugehörigkeit einzudrücken. Damit aber macht die Schrift den entscheidenden Schritt über das Kainszeichen hinaus. Vom Eigenzeichen, durch das man sich einer Gottheit zu eigen gibt, wird sie zum Eigenzeichen, durch das man selbst lebendige Wesen zu eigen nimmt. […] Zwar sind auch die Zeichen, mit denen man seine Sklaven und Herden beschriftet, Tabuzeichen, Schutzzeichen, aber in anderem Sinne als Kainszeichen: Sie sollen den Besitzer vor Übergriffen auf sein Eigentum schützen. Sicherheit bedeuten sie in erster Linie für ihn. Seine Tiere und Sklaven versichern ihn seiner Nahrung und seines Wohlergehens.«46 Neben dem Charakter der Schrift als einer Markierung von Eigentum ist aber vor allem eines signifkant, wodurch die Schrift nun doch explizit wird: Der Speer, hebräisch qajin, von dem auch der Name Kain abgeleitet scheint, der von einem solchen Speer sein Zeichen auf der Stirn, eben das Kainsmal erhält, ist Archetyp aller Schreibwerkzeuge.47 Auch die Geschichte des Brudermords von Kain an Abel steht hiermit in Beziehung: In der Schlusswendung des alttestamentarischen Textes bekommt Kain, der Mörder an seinem Bruder Abel, obgleich er der Strafe ausgesetzt ist, obgleich er den Tod verdient, ein Zeichen, das im Widerspruch hierzu auch ein schützendes Zeichen ist, das Kainsmal: »So ist das blutige Zeichen der Verbundenheit mit dem Toten zugleich ein Zeichen ersehnter Verschonung. […] Es besteht in einem Einschnitt am eigenen Körper, bedeutet Teilnahme am Geschick von Toten, stellt selbst die Miniatur eines Opfers dar«,48 schreibt Christoph Türcke. Das Zeichen, das »Miniatur« ist und nicht nur eine »Teilnahme am Geschick« der Toten bedeutet, sondern auch Zeichen einer Schuld ist, die eine unabsehbare Kette von Blutrache, Vergeltungs- und Wiederholungszwang ins Werk setzen kann, erhält seinen Namen von demjenigen Instrument her, mit dem die Tätowierung des Körpers ausgeführt ist, dessen Bezeichnung also auf das Zeichen, auf das Mal übergegangen ist. Instrument und Mal, Zeichnung und Gezeichnetheit korrespondieren hierin. Und genau dieser Speer ist es, der David treffen soll; doch er verfehlt ihn. David bleibt am Leben, er bleibt: »der unverstümmelte Körper!«49 – wie es signifikant in der zweiten Fassung von Robert Walsers Dramolett Saul und David heißen wird, die im März 1919 in den Weissen Blättern erscheint – und für dieses Mal nicht dort, wo sonst nahezu alle Beiträge Robert Walsers für diese 46 | Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 57. 47 | Ebd., S. 19f. und S. 243 [2 Sam 21,16]. 48 | Ebd., S. 22f. 49 | SW 16/224-228.
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Zeitschrift erschienen waren, nicht in jenem Glossenteil, in dem der Herausgeber René Schickele während des Krieges kritische Kommentare vor der politischen Zensur versteckt und ihrem Zugriff entzogen hatte. David bleibt ungezeichnet. Sein »unverstümmelte[r] Körper« weist dabei nicht etwa nur auf die nicht erfolgte (symbolische) Kastration, sondern auf die physischen Kriegsfolgen so vieler heimgekehrter Veteranen des Weltkriegs. Mit David leben nun »die weichen Stimmen«50, deren eine er ist, weiter. Die »weichen Stimmen« sind der Verfolgung durch den König als symbolischen Vater entgangen. In der historischen oder besser der vorhistorischen Tiefe des biblischen Textes versteckt, kommentiert Robert Walsers Dramolett Saul und David, und nicht erst in seiner zweiten Fassung im Nachkrieg, das Drama des Krieges, in dem Väter, Vaterfiguren ihre Söhne, als Söhne des Landes, geopfert hatten, und das in einem Bruderkrieg auch im Hinblick auf die miteinander verwandten europäischen Königshäuser bestanden hatte. Robert Walsers Rede von der »jammervollen Hoheit« gilt wohl eher einer ›jämmerlichen‹ Hoheit: Wilhelm II. Im Dezember 1928 wird in der Prager Presse Robert Walsers Text mit dem Titel Exposé erscheinen, in dem es über die Völker, in denen es zuweilen zittert »wie in einem epileptischen Körper«, wie in dem der sogenannte ›Kriegszitterer‹ heißen wird: »Politik fängt dort an, wo die Empfindlichkeit überwunden ist. Aber ist es denn gesagt, daß gute Politik getrieben werden muß? Schlechte Politik ist ja auch Politik, vor allen Dingen: Leben!«51
VIII.3 E LSE L ASKER -S CHÜLERS »H ARFENSCHRIF T« Mit der Figur des David verbindet sich in der Bibel, wie auch in Robert Walsers Text Saul und David, die Musik. David spielt meisterlich die Harfe, sein Instrument ist nicht das der Waffe wie bei Saul: »Wir haben einerseits einen mit krampfhaft geballter Hand umkrallten Speer und andrerseits eine Harfe.« Und: »Davids Harfenspiel scheint zu sprechen«, heißt es weiter in Robert Walsers Text, in dem nun auch referiert wird, was das Harfenspiel ›sagt‹, inwiefern das Instrument selbst ›spricht‹: »›Sei nicht traurig. Quäle Dich nicht nutzlos. Sei sanft und nicht zornig. Blicke nicht so wild, denn es steht kein Feind vor Dir. Die Welt ist gut. Irgendeinen Kummer haben wir alle. Diesem fehlt dieses, jenem jenes. Wir brauchen deswegen nicht zu zürnen. Weine lieber, statt zu grollen; das ist für Dich und alle anderen schöner.‹«52 50 | SW 16/227. Die »weiche Stimme« war im Übrigen, wie weiter oben bereits erwähnt, auch Teil jener engelsgleichen Erscheinung aus Jeremias Gotthelfs Erzählung Das Erdbeeri-Mareili aus dem Jahre 1851, die bereits in Robert Walsers Text Hans 1916 und auch im Text Die Zofe von 1931/32 noch in Erscheinung tritt. 51 | SW 18/161. 52 | SW 16/226.
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Es gilt, die »Empfindlichkeit«53, von der im Text mit dem Titel Exposé 1928 die Rede sein wird, nicht etwa zu überwinden. Die Ermahnung, diese »Empfindlichkeit«, Empfindsamkeit nicht abzustreifen, übernimmt im Text Saul und David dabei die Harfe selbst, als Symbol der Dichtung. Und: »Die Einwirkung der Literatur auf die Menschen zuzulassen, darin besteht vielleicht die letzte Weisheit des Abendlands, in der das Volk der Bibel sich wiedererkennen wird«, hat Emmanuel Lévinas geschrieben.54 Um eben diese Art des Wiedererkennens geht es auch der Dichterin Else Lasker-Schüler, bei der sich, über die gängige Metaphorik der Harfe hinaus, die sich über die mythologische Figur des Orpheus mit der Dichtung verbindet, in einer graphisch-graphemischen Metonymie der Verweis auf eine verlorene (Bedeutung der) Schrift findet. Auch bei Lasker-Schüler erweist sich dabei das Zeichnen als eng mit dem Schreiben verbunden, was sich schon im Motto zeigt, das ihrem Text mit dem Titel Handschrift vorangestellt ist: »Für den Künstler der Handschrift ist der Inhalt seines Schreibens nur ein Vorwand, wie für den Maler das Motiv seines Bildes.« Der Text, der die Faktur der Schrift in Analogie zur Hieroglyphe der Malerei betont, erscheint 1910 in der Zeitschrift Der Sturm, in der im Jahr darauf auch die ersten eigenen illustrativen Zeichnungen der Autorin zu ihren Texten veröffentlicht werden. Im Essay Handschrift, der den eigenen Zeichnungen demnach vorausgeht und 1920 bei Paul Cassirer wiederaufgelegt werden wird, dokumentiert die Dichterin, dass die Handschrift eines Menschen »ein Bild für sich« sei: »Für mich kommt kaum der Inhalt eines Briefes in Betracht; ich kann mich für den Schreiber nur seiner Buchstaben wegen interessieren. […] Die Schrift ist ein Bild für sich und hat nichts mit dem Inhalt zu tun.«55 Schriftzeichen erinnern nicht nur an etwas, sie sind nicht nur auslösendes Moment für poetische Bilder, sondern erscheinen sogar als deren Präfiguration: […] gerade bringt mir der Postbote so ein Sommerbildchen, Buchstaben: Mückenschwarm, der zerstreut in der Sonne tanzt. […] Meiner Mutter Briefe waren schwermütige Zypressenwälder, meines Vaters Schrift reizte zum Lachen, humoristische Zeichnungen aus dem Struwelpeter. Kohlrabenpechschwarze Mohren oder der böse Nikolaus steckt die Jungen ins Tintenfaß; gelungene, amüsante Überschwemmungen von Tinte. – Es gibt auch Schriftinspirationen, viele Menschen berauschen sich an ihrer Schrift, und der Inhalt, den sie aufschreiben, ist nur Vortäuschung. Ich schreibe oft, um mich durch meine Schrift zu erinnern […]. 56
53 | SW 18/161. 54 | Emmanuel Lévinas; zit.n. Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 171. 55 | Else Lasker-Schüler: Der Prinz von Theben und andere Prosa. Gesammelte Werke, Bd. 2/1, hg. v. Friedhelm Kemp, Frankfurt a.M. 1998, S. 154. 56 | Ebd., S. 155f.
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Die Handschrift ruft Bilder auf; diese Bilder, die im Doppelsinn des Wortes mit der Schrift assoziiert sind, materialisieren sich als ganz konkrete Bildzeichen dabei erstmals in einem Brief Lasker-Schülers aus dem Jahre 1906, in dem sich unten links neben der Unterschrift ein gezeichneter Komet findet.57 Und von nun an zeigen sich diese Bildzeichen, auch die des Orients, vermehrt: Sterne, Herzen und Kometen, ab 1909 Mondsicheln schmücken Initialen, illuminieren, ersetzen Worte. Die Substitution einzelner Worte durch Bildzeichen folgt dabei dem Prinzip des Rebus, des Bilderrätsels. In den Briefen kommt die Dichterin zum Zeichnen, bevor sie zur Illustratorin der eigenen Buchwerke wird.58 Die kleinen Signets aber werden später auch die Figurinen der illustrativen Zeichnungen zu den eigenen Büchern auf Stirn oder Wange tragen: Herzen, Sterne, Mondsicheln bilden eine besondere Tätowierung – ein ›Kainsmal‹, in dem sich der Prozess der Zeichenbildung in einer Umkehr am Werk zeigt: Denn nicht die Substitution eines Bildes oder einer Handlung durch das Wort oder das Zeichen findet hier statt, sondern das Bildzeichen hatte in den Briefen ja gerade das Wort ersetzt. Das Bildzeichen, das die Figurinen auf Stirn oder Wange tragen, ist dabei intern noch einmal dadurch differenziert und – unsichtbar – dadurch mitbezeichnet, dass es dem Kontext der Schrift entstammt. Das Zeichen trägt ein ebenso unsichtbares wie unlesbares Beizeichen darin, dass es dieser Art Transposition entstammt, vom Zeichensystem der Briefe in das der illustrativen Zeichnungen gelangt ist, als ternäres Zeichen, das den Zusammenhang der eigenen Herkunft kryptiert markiert. Und so heißt es im Essay Handschrift auch: Meine Handschrift hat als Hintergrund den Stern des Orients. Oft sagten mir Theologen, ich schreibe deutsch wie hebräisch oder arabisch. Ich denke an der späten Ägypter Fetischkultur; ihnen ging aus dem Buchstaben schon die Blüte auf, der Zwischenduft, der Handschrift mit Zeichenmalkunst verbindet. Mir fallen noch die Schriften der Chinesen und Japaner ein. – ›Die Mitternacht zog näher schon, in stummer Ruh‹ lag Babylon‹ – die plötzliche Geisterschrift an der Wand entsetzte die berauschten Gäste, nicht der Inhalt; das furchtbare Schriftbild war es. Sie erblickten den Inhalt des Fluches. Darum ist auch das Verständnis zur Kunst ein Seltenes und Erhabenes – es liegt uns im Gesicht und geht uns vom Gesicht aus. 59
Lasker-Schüler spielt auf die Flammenschrift Belsazars an, von der im fünften Kapitel im Buch Daniel berichtet wird. In der alttestamentarischen Erzählung erscheint ein von geheimnisvoller Hand gezeichneter Text auf ei57 | Vgl. Ulrike Marquardt: »Die Entwicklung der ›Zeichenmalkunst‹ in Else Lasker-Schülers Briefen von 1893 bis 1913. Eine chronologische Übersicht«, in: Else Lasker-Schüler: Schrift:Bild:Schrift, hg. v. Verein August Macke Haus e.V., Bonn 2000, S. 29-53, S. 32f. 58 | Vgl. ebd., S. 29. 59 | Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werke, Bd. 2/1, S. 155 (Hervorh. v. ELS).
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ner Mauer: »Mene mene tekel u-parsin«. Allein der Prophet Daniel vermag die Inschrift zu entziffern: »Gezählt hat Gott die Tage deiner Herrschaft – und ihr ein Ende gemacht. Gewogen hat er dich – und dich zu leicht gefunden. Zerteilt hat er dein Reich und es den Medern und Persern gegeben.«60 In Lasker-Schülers Text entsetzt aber nicht die Semantik des Fluchs, der erst entziffert werden muss; »das furchtbare Schriftbild war es«, das derart entsetzt hatte, dass es in der Stille der Nacht nur noch stiller zu werden schien. Der biblische Fluch wird im Text Handschrift ›erblickt‹, geschaut. Und das Verständnis ist nicht etwa ›für die Kunst‹ aufgebracht, wie ›für ein Kind‹, von einem erhabenen Standpunkt herab, sondern im Blick hinauf: »zur Kunst«. Das Verständnis liegt »uns« nicht etwa ›im Blut‹, sondern: »es geht uns vom Gesicht aus« und »es liegt uns im Gesicht«. Worauf hier angespielt ist, wird in dem im Jahre 1913 in der Erstausgabe des Buchs Gesichte auch enthaltenen Text Lasker-Schülers mit dem Titel Karl Kraus deutlich, auf den der Essay Handschrift explizit verweist: »Im Zimmer meiner Mutter hängt an der Wand ein Brief unter Glas im goldenen Rahmen. Oft stand ich als Kind vor den feinen pietätvollen Buchstaben wie vor Hieroglyphen und dachte mir ein Gesicht dazu, eine Hand, die diesen wertvollen Brief wohl geschrieben haben könnte.« Das Gesicht zur hieroglyphischen Schrift, der »Schreiber des Briefes« ist inzwischen bekannt: »Heute spricht er mit mir.«61 Die Anrufung aber, die sich einst aus dem Schriftbild vollzogen hatte, bleibt auch weiter bestehen – und ist mit dem ›Bild‹, dem Schriftbild verknüpft. Ein Gesicht blickt leibhaftig aus dieser Schrift heraus. Ähnliches findet sich im Buch Malik, das 1919 bei Paul Cassirer als ein bereits in der Widmung ausgewiesenes Gedenkbuch für den im Krieg gefallenen Malerfreund Franz Marc erscheint, wobei der Text in Teilen bereits zwischen 1913 und 1917 abgedruckt worden war. Lasker-Schüler fügt neben den illustrativen Zeichnungen hier gleichsam als weitere Illustration einen fiktiven Brief in hebräischer Schrift ein. Sie schreibt diesen Brief auf Deutsch, lässt ihn ins Hebräische übersetzen, um die hebräischen Lettern dann, mit kalligraphischem Bemühen, selbst zu kopieren. Übersetzt heißt es in diesem Brief Jussufs, als der an die alttestamentarische Figur des Traumdeuters Joseph aus dem ersten Buch Mose und Lieblingssohn Jakobs angelehnten Kunstfigur, welche die Autorin zeitlebens begleitete: »Ich der Königssohn von Theben schicke dir/ diesen Brief der mir abhanden gekommen/und in der erhabenen Harfenschrift geschrieben«.62 Der Brief, der gesandt wird, obwohl er doch abhanden gekommen sein soll, ist zweifach verschlossen oder besser versiegelt: 60 | Vgl. Dörte Zbikowski: Geheimnisvolle Zeichen. Fremde Schriften in der Malerei des 20. Jahrhunderts, Göttingen 1996, S. 11. 61 | Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werke, Bd. 2/1, S. 225 und S. 226. 62 | Else Lasker-Schüler: »Der Malik«; zit.n. Itta Shedletzky: »Bild als Text und Text als Bild. Hebräische Akzente bei Else Lasker-Schüler«, in: Else Lasker-Schüler: Schrift:Bild:Schrift, hg. v. Verein August Macke Haus e.V., Bonn 2000, S. 171184, S. 181.
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Jussuf schreibt den Brief in einer Sprache, die ihm abhanden gekommen sein soll, und er schreibt ihn an einen Adressaten, der diesen Brief nicht entziffern kann.63 Die »Harfenschrift« nun aber lässt sich entschlüsseln: »Wundervoll ist die Gestalt dieser alten Sprache, wie Harfen stehen die Schriftzeichen und etliche sind gebogen aus feinen Saiten«,64 heißt es bereits 1906 im Peter Hille-Buch, das 1919 ebenfalls bei Paul Cassirer wiederaufgelegt werden wird. Es ist die Rede von der hebräischen Schrift, die in besonderem Maße der Entzifferung bedarf, weil sie beim Lesen die Ergänzung nicht vorhandener Zeichen (der Vokale) erfordert, die durch Punkte über dem Mittelband ersetzt sind. Die Harfe jedoch, mit der sich die Schrift in Lasker-Schülers Kompositum der »Harfenschrift« verbunden zeigt, ist nicht nur poetisches Bild in Bezug auf die biblische Figur des David, sie weist nicht nur auf das erste Buch Samuel, wo durch Davids Harfenspiel die Geister, die Saul befallen haben, vertrieben werden (1 Sam 16,14ff.), auf jene biblische Geschichte, die auch in Robert Walsers oben erwähnten Textfassungen des Dramoletts mit dem Titel Saul und David figuriert ist. Die Grapheme des Hebräischen ähneln in ihren Bogenlinien vielmehr selbst Harfen. Und im Text Wie ich zum Zeichnen kam, der im Januar 1927 – im selben Jahr, in dem Robert Walser im Brief an Max Rychner sein »Bleistiftgebiet« erläutern wird – im Berliner Tageblatt (1932 im Sammelband Konzert) mit einer Zeichnung Lasker-Schülers zu Jussuf erscheint, lässt sich die »Harfenschrift« rekonstruieren. Bild und Text firmieren in der Tageszeitung unter der Überschrift: »Maler, die keine Maler sind«. Und die Poetologie des Textes entfaltet sich wie folgt: Wie ich zum Zeichnen kam Wahrscheinlich so: Meinen Buchstaben ging die Blüte auf – über Nacht; oder besser gesagt: über die Nacht der Hand. Man weiß eben nicht – in der Dunkelheit des Wunders. Blicke ich über einen Grasplatz wie über einen runden Bogen voll grüner Buchstaben oder über einen herbstlichen Garten, rauschendem Schreiben der Erdhand, der Urkunde Gottes, so löst sich das Rätsel. – Wie ich zum Zeichnen kam? Ganz genau wie das Laub sich nach der Blume sehnt, so zaubert die Sehnsucht meiner lebendigen Buchstaben das Bild in allen Farben hervor. Nicht zu erzwingen… Manch einer aber warte nur vertrauend auf den Mai seiner Schrift.65
Im Text lässt sich die hebräische Schrift aus einer poetischen Kryptierung gerade in der Semantik entziffern: In der poetischen Invention ›sehnen‹ sich das Laub, die Blätter, die Schreibblätter nach der Blume. Der Herbst 63 | Vgl. Itta Shedletzky: »Bild als Text und Text als Bild«, S. 183. 64 | Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werke, Bd. 2/1, S. 24. 65 | Else Lasker Schüler: Konzert. Prosa und Schauspiele. Gesammelte Werke, Bd. 2/2, hg. v. Friedhelm Kemp, Frankfurt a.M. 2000, S. 73f.
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weist auf den Frühling. Und doch bleibt unwägbar, ob der Herbst auf einen Frühling voraus- oder auf einen Frühling zurückweist. Auch geht die Blüte nicht bei Tag, sie geht über Nacht auf – unsichtbar, und in einem Antagonismus zu den Tagesverrichtungen der Hand, in dem sich auch die zeitliche Aufeinanderfolge verkehrt. Denn: Ist es wirklich die Blüte oder nicht eigentlich vielmehr die Blume, die im futurum exactum aufgegangen sein wird? Der Übergang von der Blüte zur Blume vollzieht sich im Dunkel – »über die Nacht der Hand«. Er bleibt undifferenzierbar: »Man weiß eben nicht – in der Dunkelheit des Wunders.« Im Umlaut nun, den indes nur die »Blüte« stellen kann, verbirgt sich der Hinweis auf die hebräische Schrift: Vokalzeichen sind in der hebräischen Schrift zuweilen durch kurze Striche mit den Buchstaben im Mittelband verbunden; und so entsteht eine Zeichnung, die derjenigen von Blüten und Blütenstempeln durchaus ähneln kann. Schweift also der Blick über einen »runden Bogen«, wie es im Text heißt, über die »Urkunde Gottes«, über die Thora-Rolle, »so löst sich das Rätsel«. Und der Charakter, den der Text Wie ich zum Zeichnen kam hat, erweist sich als nicht-metaphorisch. Der Text Wie ich zum Zeichnen kam ist vielmehr in der Tat Hieroglyphe: »Ich schreibe oft, um mich durch meine Schrift zu erinnern«, hatte es im frühen Essay mit dem Titel Handschrift geheißen, und auch: »Meine Handschrift hat als Hintergrund den Stern des Orients.« Der Orient ist synkretistisch gedacht, schließt andere Schriften, ideographische Schriftsysteme mit ein: »Ich denke an der späten Ägypter Fetischkultur; ihnen ging aus dem Buchstaben schon die Blüte auf, der Zwischenduft, der Handschrift mit Zeichenmalkunst verbindet. Mir fallen noch die Schriften der Chinesen und Japaner ein.«66 »Der Orient«, schreibt Markus Hallensleben, sollte aber »als Hintergrund der Handschrift […] bei Else Lasker-Schüler nicht allzu wortwörtlich genommen werden.« Silvia Henke habe bereits die Bedeutung dieses Hintergrunds relativiert. Wenn Lasker-Schüler, so Silvia Henke selbst, »etwa in ihren Handschriften die Buchstaben regelmäßig mit Sternen und Monden verziert, erinnert sie zwar an eine kabbalistische Buchstabenmystik, in der die Buchstaben der Thora mit Krönchen und Häkchen verziert werden, durch die Erweiterung zu einer kosmischen Emblematik fügt sie aber im gleichen Zug der Verbindung von Schrift und Bild einen Eigensinn bei, mit dem sie die alte Tradition selbst maskiert und also fremd macht.«67 Aber ist Maskierung Relativierung, wie Markus Hallensleben nahelegt? Die Maskierung folgt ebenfalls einer alten Tradition, der des Bilderverbots. Noch einmal ist an die Definition von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu erinnern: »Gerettet wird das Recht 66 | Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werke, Bd. 2/1, S. 155. 67 | Silvia Henke: »›Nicht eine Arche habe ich mir gezimmert …‹. Eine Erinnerung an Else Lasker-Schüler, die vor 50 Jahren in Jerusalem gestorben ist«, in: Basler Zeitung vom 20.1.1995 und Frankfurter Rundschau vom 21.1.1995; zit.n. Markus Hallensleben: »Von der Hieroglyphik zu einer Poetik der Handschrift: Lasker-Schülers Beitrag zur ›Primitivität‹ der Moderne«, S. 167 und Anm. 24.
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des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.«68 Bei Lasker-Schüler ist das Recht des Bildes im Schriftbild gerettet; die Dichterin enthebt das Bild in vielfältigen Transpositionen der Schrift. Auch Sigrid Bauschinger hat darauf hingewiesen, dass Else Lasker-Schüler ihre Briefe fast ausnahmslos mit der Hand verfasste und dass sie mit der Feder oder mit dem Bleistift sowohl zeichnete als auch schrieb: »Dabei ging ihren Buchstaben tatsächlich ›die Blüte auf‹. Kein Ornament ist häufiger zu finden als das einer Blüte oder einer Blume; auch Blütenketten werden unter dem Absender am Briefkopf oder auf einer Postkarte als Verzierung angebracht. Eine einzelne Blume, in vielen Fällen als Rose erkennbar, wird der Anrede oder den Grüßen am Briefschluß vorangestellt. Sogar auf die Adresse besonders geschätzter Briefpartner kann eine Rose gezeichnet werden. Oft wird einer Entschuldigung eine Blume beigefügt. Ein Tintenklecks wird, ebenfalls entschuldigend, in einen Blumenstrauß verwandelt.«69 Die Rose nun ist Symbol der Kabbala – und Titel des letzten von Robert Walser noch selbst herausgegebenen Sammelbandes mit seiner Kurzprosa; auch Der Blumenstrauss findet sich bei ihm in einem Texttitel – bei Lasker-Schüler ist die Rose, als dieses Symbol der Kabbala auch Symbol eines Verschlüsselungssystems, einer Begriffs- und Zahlenspielerei. Die Rose weist auf einen Prozess der Vertauschung, sie dokumentiert und symbolisiert diesen selbst noch einmal. Lasker-Schülers Substitutions- oder besser Transpositionsvorgang ersetzt dabei, wie erwähnt, Worte durch Bilder, was wiederum dem Bilderverbot gerade entgegensteht. Auch die in der Nachfolge des Essays Handschrift entstandenen Zeichnungen Lasker-Schülers illlustrieren nicht nur die Topoi der eigenen Texte, sondern die Transposition zwischen Schrift und Bild, auf die Silvia Henke hingewiesen hat. Der Handschrift im gleichnamigen Essay entspringen poetische Bilder und malerische Figurinen. Diese Figurinen tragen jene aus den Briefen als den ›Urschriften‹ bekannten Signets (Sterne, Mondsicheln usf.) auf Stirn oder Wange. Und in der Tat geht den Buchstaben in Gestalt der illustrativen Zeichnungen also »die Blüte« auf – als »Zwischenduft«, wie es im Essay Handschrift bezeichnenderweise auch geheißen hatte. Die Figurinen der illustrativen Zeichnungen tragen, der Schrift entstammend, ein anderes Zeichen – als das Kainsmal – auf der Stirn. Es deutet nicht nur auf Schuld oder Schutz, es erinnert nicht nur die jüdische Legende des Golem,70 die verfremdet in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann eingegangen ist, von der wie68 | Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1981, S. 24f.; zit.n. Micha Brumlik: Schrift, Wort und Ikone, S. 14 und S. 33. 69 | Sigrid Bauschinger: »Wortbilder und Bildworte in Else Lasker-Schülers Briefen 1925-1933«, in: Else Lasker-Schüler: Schrift:Bild:Schrift, hg. v. Verein August Macke Haus e.V., Bonn 2000, S. 55-68, S. 56. 70 | Der Golem als ein aus Lehm künstlich erzeugtes Geschöpf, welches die Gemeinschaft der Juden beschützen sollte, wird in der Legende durch seine ungeheure auch zerstörerische Kraft selbst zur Gefahr, die der Gemeinschaft aus ihrem eigenen Inneren erwächst. Nach einer Variante der Überlieferung trägt dieses künstliche Ge-
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derum Freuds Text über Das Unheimliche inspiriert wird. Die Bildzeichen deuten bei Else Lasker-Schüler auf den Zusammenhang der Transposition, der sich bis in die Semantik hinein fortgesetzt zeigt. Und der »Stern des Orients«, als Hintergrund der Schrift, ist so eben durchaus wortwörtlich zu verstehen, doch geht es nicht um den Orient selbst, sondern um den »Stern des Orients«, der anzeigt, wo der Orient zu finden ist; es geht um jenen Stern, der im wahren etymologischen Sinn des Wortes ›Orientierung‹ bietet – und zwar aus einer Gegend heraus, die fernab des Orients liegt. Es geht um eine Poetisierung der Schrift und um eine Poetisierung durch die Schrift: »es geht uns vom Gesicht aus« und »es liegt uns im Gesicht«,71 wie es im Essay Handschrift geheißen hatte. Else Lasker-Schüler hat in Gesprächen die Ansicht bekundet, sie habe ihre Gedichte auf Hebräisch geschrieben, wie der Dichter Uri Zwi Grünberg in einem Vortrag bezeugt hat: »Erwähnenswert ist, daß sie einmal in Berlin im Jahre 1921, als ich ihr sagte, man müßte ihre Gedichte ins Hebräische übersetzen, erbost antwortete: Was? Ich schreibe doch Hebräisch!«72 Und wirklich rekonstruiert die Dichterin in ihrem winzigen poetologischen Text Wie ich zum Zeichnen kam nicht nur die »Dunkelheit des Wunders« der Kreation als »rauschendem Schreiben der Erdhand«. In der Semantik des Textes findet sich auch das Schriftbild einer im Zuge der Assimilation verloren gegangenen, buchstäblich abhandengekommenen Schrift wieder,73 die weiter adressiert werden soll – kryptiert und zugleich bewahrt in der Literatur.
schöpf dabei ein Siegel auf der Stirn mit dem hebräischen Wort für ›Wahrheit‹ – fällt jedoch der erste Buchstabe weg, erscheint das hebräische Wort für ›Tod‹. 71 | Else Lasker-Schüler: Gesammelte Werke, Bd. 2/1, S. 155 (Hervorh. v. ELS). 72 | Uri Zwi Grünberg: Rede bei der Feier des Balik-Preises [1977]; zit.n. Itta Shedletzky: »Bild als Text und Text als Bild«, S. 171. 73 | Vgl. ebd., S. 183.
IX. Imprimatur der Bilder
Robert Walsers Text Saul und David beschwört, auf die genannte alttestamentarische Geschichte bezogen, in der eigenen Szene des Dramoletts ein Überleben der »weichen Stimmen«.1 Auch im Text Das Traumgesicht, bereits im Juni 1913 erschienen, klingen diese wiederkehrenden Motivierungen der Bieler Prosa an, sind sie wie zu einem surrealen Raum des Traums synästhetisch verbunden: »Bänder, rote, grüne und blaue, schlangen sich wie anmutreiche, harmlose Schlangen durch den milden Tumult des Lebens. Das Leben war mild und wild zugleich […].«2 Wo aber Bänder, »rote, grüne und blaue«, sich wie die Farbwörter selbst, wie solcherart »harmlose Schlangen« durch den wilden und zugleich »milden« Tumult des Lebens oder besser des Textes »schlangen«, erscheint weder der Tumult so harmlos, noch sind die Schlangen in ihren schwer fasslichen, gestaltlosen Schängelbewegungen so anheimelnd, wie der Text sie erscheinen lassen will. Denn natürlich weisen die Schlangen immer auch auf eine Vertreibung aus dem Paradies. Und noch vor jeder narrativen symbolischen Aufladung im Zusammenhang mit der biblischen Geschichte können Schlangen, so Florian Schneider, »als Affirmation einer Teilung gedeutet werden, als graphische Wiederholung der Teilung der Erde« innerhalb des Paradieses und als Repräsentation des darin ausgeschlossenen und abwesenden Außen, als Repräsentation des trennenden Ausschlusses im Inneren der idyllischen Einheit des Gartens selbst. Das Paradies bildet jenen ersten Garten: Das Wort ›Paradies‹ entstammt dem persischen Sprachraum und bedeutet selbst ›Garten‹, was, so Florian Schneider, »jedenfalls eine Vorstellung von Begrenzung – Einfriedung – einschließen dürfte. […] Begrenzung und erste Topographie, Markierung eines Innenraums, Teilung der Erde durch Einschreibung einer Grenze, einer einfachen Furche in den ›Ackerboden‹ […].«3 Die Schlange nun also bedeutet und wiederholt diese im Ackerboden gezogene Furche als »ursprüngliche Graphik der Gren-
1 | SW 16/227. 2 | SW 4/26. 3 | Florian Schneider: Im Brennpunkt der Schrift, S. 17.
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ze und Bezeichnung der Differenz«; sie stellt sie dar – und ist zugleich das erste ›tatsächliche‹ Schriftzeichen.4 Und zwar ist in Robert Walsers Text das Wilde – durch bloße Umkehrung des gezackten Anfangsbuchstabens – zum Milden des Lebens geworden. Die Schlangen scheinen in die Bänder der Schrift gebannt, sie »schlangen« sich aber – in der effektiven Wortwiederholung im Verb – eben doch auch wieder. In der jähen, blitzartigen Bewegung, die gerade dasjenige ist, was phobische Reaktionen auslösen kann, enthalten die Schlangen noch immer die lebendige Reminiszenz an den gebannten Schrecken, den sie andererseits allererst fassbar machen, indem sich der Blitz aus heiterem Himmel im Sprachbild des Tieres verdichtet.5 In Bezug auf die antike Skulpturengruppe »Laocoon«, die Lessings Schrift ihr Anschauungsmoment gab, beschreibt auch Novalis im Allgemeinen Brouillon die Schlange als »ein sichtbares (sinnliches) Gift. Schlangen müssen nicht fressen, nur stechen – Gift einflößen und saugen – nur tödten und Leben saugen.« Dieser Vorgang ist dem Kunstwerk bei Novalis dabei auch selbst inhärent; in einer Parenthese heißt es im 745. Fragment: »(Sollte der Bildhauer nicht immer den Moment der Petrefaction ergreifen – und aufsuchen – und darstellen – und auch nur diesen darstellen können?)«6 Schlangen stehen für das bildlich geronnene Grauen – und die Versteinerung darin. Anders die Farben in Robert Walsers Text, die sich wiederum in Joseph von Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts mit dem Lesen eines Liebesbriefes und mit den Blüten darin, mit den literarischen Tropen – und diese wieder mit den Buchstaben – verbunden zeigen. Und doch findet sich auch hier die Verbform ›schlangen‹ wieder: »ich […] las das Briefchen noch einmal, sagte die Worte auswendig für mich hin, und las dann wieder und immer wieder, und die Sonnenstrahlen tanzten zwischen den Blättern hindurch über den Buchstaben, daß sie sich wie goldene und hellgrüne und rothe Blüthen vor meinen Augen in einander schlangen.«7 Der Tanz der Sonnenstrahlen verlebendigt die Buchstaben, die sich wie »Blüthen« ineinander zu schlingen scheinen – zu einer Briefschrift, zu einem Liebesbrief. In Robert Walsers Mikrogrammtext Vorkommen kann, daß z.B. Pferde über Gebühr in Arbeitsanspruch genommen werden, der weiter oben bereits Erwähnung fand, wird es dagegen heißen: »Unter den Blumen lauern ja, wie es uns die Sage zu bedenken gibt, die Schlangen.«8 Der Reim nähert in Robert Walsers Text Das Traumgesicht die Gegensätze von »mild und wild« einander an, er setzt zugleich das Bild fort, das bereits in den Schlangen, die dieses Paradies bevölkern – und in der bib4 | Ebd., S. 20. 5 | Vgl. Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 140f. 6 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 412f. (Hervorh. v. N.). 7 | Joseph von Eichendorff: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 5.1, hg. v. Karl Konrad Polheim, Tübingen 1998, S. 144. 8 | Mikro, Bd. 4, S. 183.
IX. I MPRIMATUR DER B ILDER
lischen Geschichte die Menschen daraus austreiben – deutlich als das der Schrift selbst geschrieben ist. Was »mild und wild zugleich« ist, klingt oder ›tönt‹, wie es im schweizerischen Idiom heißt, nicht nur ähnlich, es bildet auch einen Augenreim, eine durch die buchstäbliche Umkehrung des Buchstabens ›m‹ zum ›w‹ nur leicht gestörte Homographie. Mit dem Wechsel des initialen Buchstabens aber droht der mit dem Wort eröffnete Raum eben immer auch bereits wieder zu verschwinden: Bald war der Raum, was er war, bald wieder war er ein Gedanke, so zart, daß der, der ihn dachte, fürchten mußte, er verliere ihn. Ist nicht immer der verlorengegangene Gedanke der schönste? 9
Das Vexierbild, mal Raum, mal Gedanke, mündet im Text Das Traumgesicht in einen »Kuss«, in dem der Mond im Wasser des Sees durch die eigene Spiegelung eben im See aufzugehen und zu verschwinden scheint. Die Spiegelfläche als Grenzfläche erodiert die Grenzen, doch gerade im beständig drohenden Verlust bildet das unfixierbare Vexierbild die Schönheit des durch Widerspiegelung aufgehobenen und zur Erinnerung gewordenen Bildes aus: »Bald war der Raum, was er war«, bald aber erweitert er sich auch zum Traum, wie in Tobold (II): »Wo bin ich denn jetzt eigentlich?« mußte ich mich mitunter plötzlich fragen, wenn sich meine Umgebung vor meinen Sinnen und Augen in einen Traum verwandeln zu wollen schien. […] »Wo war ich bis dahin, wo bin ich jetzt, und wo werde ich einstmals sein?« Solche und ähnliche Fragen kamen bisweilen dunkel und groß aus der Undeutlichkeit heraus zu mir heran.10
Das Traumgesicht weist am Ende des so betitelten Textes darauf hin, dass es sich bei dem, was »dunkel und groß aus der Undeutlichkeit« herannaht, ebenso gut um eine Schreibszene wie um eine Traumsequenz handeln kann, denn der Protagonist ist nicht ›ganz Ohr‹, sondern: »Schweigend, ganz nur Auge, saß ich da und hatte alle Wirklichkeit vergessen.«11 Der Traum (I) hingegen, im Mai 1913 erstmals veröffentlicht und damit mutmaßlich zu etwa derselben Zeit entstanden wie Das Traumgesicht, gibt dem aus einer homogenen Zeit herausfallenden Kontinuum gerade keine Ausrichtung. Die Dichotomie des Geschlechts und die Gattungsdisposition werden darin gleichermaßen verwirrt: »Ich war wie ein Traum mitten im Traum, wie ein Gedanke, gelegt in einen anderen. Ich war weder ein Mann […], noch ein Mensch, […].«12 In der ineinandergeschachtelten Abkunft des Traums – »Ich war wie ein Traum mitten im Traum« – oder der trauminternen Erinnerung an einen anderen Traum klingt in Robert Walsers Text Der Traum (I) ein Wort von 9 | SW 4/27. 10 | SW 5/252. 11 | SW 4/27. 12 | SW 4/38.
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William Shakespeare an, das im Drama Der Sturm in der ersten Szene des vierten Akts der Figur des Prospero in den Mund gelegt ist: »We are such stuff/As dreams are made on; and our little life/Is rounded with a sleep.«13 In der Übersetzung durch August Wilhelm Schlegel lauteten diese Verse: »Wir sind solcher Zeug/Wie der zu Träumen, und dies kleine Leben/Umfaßt ein Schlaf.«14 Das Unbewusste sei, so schreibt es Sigmund Freud in der Traumdeutung, und ebenfalls in einer Zitation des Shakespeare-Verses: »der größere Kreis, der den kleineren des Bewußten in sich einschließt«.15 Das Material aus dem Unbewussten bringt, wenn es in die Audienz des ›kleineren Kreises‹ gelangt, dabei bekanntlich seine eigenen Arbeitsweisen mit sich,16 es macht sich beispielsweise im Lapsus bemerkbar; doch das Unbewusste ist nicht etwa verborgene Präsenz, sondern in das Bewusstsein eingelassen wie der Text einer unbekannten Sprache. Und so ist die Differenz von Schlaf und Traum auch in Robert Walsers Text Der Traum (I) aufgehoben – in einen »Traum mitten im Traum«.17 Der Text Der Traum (I) verschiebt Differenzen, hin zu neuen Fragen: Was nämlich unterscheidet den Gedanken vom Traum, da doch beide darin parallelisiert sind, in einem anderen Traum, einem anderen Gedanken enthalten zu sein? Und ist das Ich Abkömmling eines Traums oder eines Gedankens? Der Text Reisebericht im Band Seeland, der das denkwürdige Motiv der im sprichwörtlichen Sinne immer kleiner werdenden Träume wieder aufnimmt, konterkariert dabei jede Art harmonischer Aufgehobenheit. 13 | William Shakespeare: »The Tempest«, in: ders.: The London Shakespeare. A new annotated and critical edition of the complete works in six volumes edited by the late John Munro, London 1958, Bd. 2, S. 1454. 14 | William Shakespeare: »Der Sturm«, in: ders.: Dramatische Werke, übers. v. August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck, Frankfurt a.M. o.J., Bd. 1, S. 56. 15 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 617. 16 | Vgl. ebd., Bd. XVII, S. 89. 17 | Ein solcher Traum im Traum wird im Buch Atempause von Primo Levi beschrieben: »Es ist ein Traum im Traum. […] Ich sitze am Familientisch, bin unter Freunden, bei der Arbeit oder in einer grünen Landschaft – die Umgebung jedenfalls ist friedlich, scheinbar gelöst und ohne Schmerz, dennoch erfüllt mich eine leise und tiefe Beklemmung, die deutliche Empfindung einer drohenden Gefahr. Und wirklich: Nach und nach, oder auch mit brutaler Plötzlichkeit, löst sich im Laufe des Traumes alles um mich herum auf; die Umgebung, die Wände, die Personen weichen zurück; die Beklemmung nimmt zu, wird drängender, deutlicher. Alles ringsum ist Chaos, ich allein im Zentrum eines grauen wirbelnden Nichts; und plötzlich weiß ich, was es zu bedeuten hat – habe es immer gewußt: ich bin wieder im Lager, nichts ist wirklich außer dem Lager, alles andere war kurze Atempause, Sinnestäuschung, Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause. Der innere Traum, der Traum vom Frieden, ist zu Ende, der äußere dagegen geht eisig weiter […].« Primo Levi: Atempause, München 1999, S. 201 (Hervorh. v. PL). Der äußere Traum ist die einstige Realität, der Albtraum des Konzentrationslagers, das Primo Levi überlebt hat.
IX. I MPRIMATUR DER B ILDER Vor die Augen trat mir dann ein Dorf, das in seinem Tale lag, ähnlich wie ein Traum, der im andern Traum, oder wie der Gedanke, der im andern Gedanken schlummert. Gibst du mir recht, wenn ich sage, dass etwas Schönes und Gutes nie allein sei, ebenso wenig wie etwas Schlechtes und Unheilvolles? Sind nicht alle Dinge ineinander verstrickt, verbunden, verworren? Was sind die Erscheinungen anderes als eine Kette, und was könnte die Welt anderes sein als ein Verhängnis?18
Und weiter heißt es im Reisebericht: »Sollte ich tatsächlich nötig haben, ins Ausland zu fahren und die Welt zu umreisen? Das allzeit lebhafte Spiel meiner Phantasie vermag mir weit mehr zu bieten. Einbildungskraft und unangekränkelter Gedanke scheinen mir größer als die Erde und führen viel weiter in alles Geheimnisvolle und Wundervolle hinaus als Eisenbahn und Luxusdampfer, […].«19 Wieder ist Shakespeare, nun Hamlets berühmter Monolog »To be, or not to be«, allerdings in einem gegenläufigen Sinn zitiert – und zwar als »unangekränkelter Gedanke«. Bei Shakespeare fühlt sich Hamlet in seinem Entschluss zur Blutrache gerade gehindert. In der ersten Szene des dritten Akts heißt es »And thus the native hue of resolution/Is sicklied o’er with the pale cast of thought«20 und »Der angebornen Farbe der Entschließung/Wird des Gedankens Blässe angekränkelt«, lauteten die Verse in der deutschen Übersetzung von August Wilhelm Schlegel.21 In Robert Walsers Reisebericht verbindet sich der »unangekränkelte[…] Gedanke« mit der »Einbildungskraft«, die Räume erweitert, neue Räume öffnet. Und das Prinzip der Insertion, der ineinandergelegten Texte, das dieser Semantik entspricht – und in der Tat handelt es sich bei Der Traum (I) um eine Einlage im Text Zwei Bilder meines Bruders, ist der Text Traum (I) in der Tat »gelegt in einen anderen« –, findet sich auch im Text Die Einladung, wo bereits im Incipit an einen verwunschenen Ort geführt wird: »Der Ort liegt ganz im stillen, bescheidenen, grünen Wald verborgen, wie
18 | SW 7/37. 19 | SW 7/40. 20 | William Shakespeare: »Hamlet«, in: ders.: The London Shakespeare, Bd. 5, S. 460. 21 | William Shakespeare: »Hamlet«, in: ders.: Dramatische Werke, Bd. 3, S. 522. Unfähig, seinen Vater zu rächen, das heißt durch Blutrache, durch Mord dessen Tod zu vergelten, bezichtigt sich Hamlet in einem vorangegangenen Monolog des Stücks der Schwäche, wobei in der deutschen Übersetzung ein Name erscheint, der einen bereits angeführten Text Robert Walsers überschreibt, und zwar Hans: »Und ich,/Ein blöder, schwachgemuter Schurke, schleiche/Wie Hans der Träumer, meiner Sache fremd,/Und kann nichts sagen, nicht für einen König,/An dessen Eigentum und teurem Leben/Verdammter Raub geschah. Bin ich ’ne Memme?« Ebd., S. 518. Nach D.W. Winnicott sucht Shakespeares Figur Hamlet »nach einer Alternative zur Vorstellung des ›Seins‹«, welche die Spaltung zwischen männlichen und weiblichen Anteilen der eigenen Person begreift und vermittelt. Vgl. D.W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, S. 98.
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ein Gedanke in einem Gedanken.«22 Ein Text, der »wie ein Traum, mitten im Traum, wie ein Gedanke, gelegt in einen anderen« ist, ist in Tobold (II) auch der Textteil mit dem eigenen Titel Studie über den Adel. Und die Distanziertheit, die in der Trennung der beiden Textteile liegt, findet sich hier in einem übertragenen und durchaus politischen Sinne in der Semantik wieder, denn gegenüber dem Adel oder vielmehr gegenüber dem »Bild des Adels«, das hier gezeichnet wird, empfiehlt sich eine Segregation, eine Art elitärer Absonderung, wie der Adel sie im Übrigen auch selbst betreibt; es empfiehlt sich ein Abseits-Stehen: Gibt es doch Menschen, die das helle Licht für ihre Person weniger lieben als den dämmernden Schatten, den sie als äußerst wohlwollend empfinden, und in welchem sie sich auf Grund einer tiefen Neigung, die zurück in die schon vor der Geburt für uns existierenden Länder führt, aufs beste aufgehoben und treulichste beschützt fühlen. 23
Der anthropomorph ›wohlwollende‹, wie selbsttätige und gleichzeitig vor sich hin ›dämmernde‹ Schatten ist ohne Bewusstsein der verschatteten Lichtquellen und jener Schirme, die, indem sie sich dem Licht in den Weg stellen, Schatten werfen. Die Regression selbst ist verschattet, die »in die schon vor der Geburt für uns existierenden Länder« führt, nicht in die von Geburts wegen bestehende Zugehörigkeit zu einer Klasse, einer Nation. Neben die Verschränkung von Natalität und Territorialität, die mit der Entbindung von der Mutter und dem Schnitt durch die Nabelschnur vollzogen ist und die instantan – ›ein für alle Mal‹ – verortet, tritt hierbei eine »tiefe« Neigung, die »zurück in die schon vor der Geburt für uns existierenden Länder führt«. Aus einer Ordnung heraus, die mit dem Namen des Vaters oder besser mit den verschiedenen Namen des Vaters als institutionellen Geburtsmalen oder besser Geburtsstempeln verbunden ist und die eine symbolische und zugleich topologische Ordnung ist, eine des Schriftsinns und der Entzifferung, führt diese »tiefe« Neigung in andere Länder, in ein unmögliches ›vor‹, in eine Präsymbolik, Pränatalität, eine Ordnung, die vor der des Buchstabens und der verordneten Landessprache liegt. Und doch ist diese Ordnung mit dem schon vor der Geburt existierenden Ort der Mutter eben auch eine Ordnung der Sprache, der Muttersprache, des Dialekts. Die Bieler Prosa rekonstruiert und rekonstituiert diesen Ort als den eines Dazwischen. Fiktionale Unwahrscheinlichkeiten, über die, wie es im Text Tobold (II) heißt, »aus Platzmangel und aus Papiermangel«24 nicht viele Worte gemacht werden dürfen, figurieren im Widerspruch zu dieser Art Restriktion dabei in längerer Aufzählung als:
22 | SW 4/79. 23 | SW 5/248. 24 | SW 5/246f.
IX. I MPRIMATUR DER B ILDER sonstige Gespenster, […], Nebenpersonen und Nebelgestalten in Hülle und Fülle: möchten hier in Erwähnung treten und umständlich beschrieben, gepriesen und abgebildet sein, aber ich bin das nicht imstande, weil ich mich durch fernere Erläuterung vom Fortschreiten und Weitergehen in dieser, vielleicht etwas tollen und wunderlichen Erzählung nicht abhalten lassen darf, sondern vielmehr über alle diese sonst sicher ganz netten Dinge wie über Schutt, Geschmäus, Geröll und Trümmerhaufen energisch hinwegfegen und -fahren muß, um fortzukommen. Ich merkte, daß mir der Dienst von Tag zu Tag leichter wurde, denn ich eignete mir von Tag zu Tag mehr Geschicklichkeit und Besonnenheit an, und an Gewandtheit ließ ich es mit der Zeit keineswegs fehlen. Hier wie dort macht ja bekanntlich fleißige Übung den Meister. Alle Arbeit, der ich mich zu unterwerfen hatte, lief mir wie träumend und spielend aus der Hand. 25
Der Dienst als Diener geht immer leicht und immer leichter von der Hand. Mäuse, der Schmaus und das Privileg, »Schmausenden bloß teilnehmend zuzuschauen« und dabei »mäuschenstill« zu sein, geraten jedoch in eins mit dem, worüber Mäuse hinweghuschen – über Schutt usf. –, und mit dem, was sie selbst sind oder besser mit dem, als was sie angesehen werden – nämlich als Geschmeiß. Sie werden darin zur Wortkontamination »Geschmäus«. Und wie über »Geschmäus« ist über die »Nebelgestalten« hinwegzugehen – um einer genormten ›Ökonomie‹ der Erzählung willen. Der Passus aus Robert Walsers Text Tobold (II) lässt sich mit einer vielzitierten Stelle aus Clemens Brentanos Briefen in Zusammenhang bringen, in der es um ein unwillkürliches Entlaufen von Wort-Bildern geht. Es handelt sich um die vermutlich 1817 von Brentano in einem Brief an E.T.A. Hoffmann geäußerte Klage über eine besondere Form von Inkontinenz: »Daß ich unmittelbar an Sie schreibe, ist erstens, weil ich Sie nicht gleich da habe, und gewissermaßen immer niemand da habe; denn lieber Hofmann! Ich bin leider so alt, daß mir die Worte nicht als rechtmäßige Bewohner, sondern als Mäuße, Raubthiere, Diebe, Buhler, Flüchtende und d.[er]gl.[eichen] mit meinen Empfindungen aus dem Maule laufen, Gott erhalte sie in seinem Schutz«26, heißt es hier. Worte figurieren »als« Mäuse und werden anamorphotisch-metonymisch zugleich von der Maus zum Raubtier, vom Raubtier zum Dieb – und so zu dem, was im Schatten der Nacht, am Rande der Gesellschaft ›verhuscht‹ dahinvegetiert und sich jedenfalls nicht in den gesetzten Formen einer durch Identitätspapiere ausgewiesenen, sesshaften Bürgerlichkeit bewegt. Nicht etwa »rechtmäßige Bewohner« sind diese Geschöpfe, sondern nichts als immerzu »Flüchtende«. Worte sind Flüchtende, die gemeinsam mit den Empfindungen ›durchbrennen‹ – in der Sukzession des Brieftextes und den metamorphotischen Kipp-Bildern einer Schrift der Unwillkürlichkeit, des Traums. 25 | SW 5/251. 26 | Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hg. v. Konrad Feilchenfeldt et al., Bd. 33, hg. v. Sabine Oehring, Stuttgart u.a. 2000, S. 283f.
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Auch das Schloss, das in Robert Walsers Text Tobold (II) als Raumgefüge ebenso groß und weitläufig – wie in sich differenziert – ist, gleicht einem Traum, und die Irrealität des Traums gleicht wieder der Fiktionalität des Erzählens, das auf diese Weise selbst zur topographischen Ordnung wird, über die es an anderer Stelle, im Text mit dem ganz ähnlichen Titel Aus Tobolds Leben, heißt: »Du liebe Zeit, was ich bisher gesehen hatte, waren mehr oder minder schöne Stuben; jetzt warf ich meine Blicke in Säle, und in was für hohe und prächtige./Ein schönes Gemach reihte sich an das andere. Es gab sozusagen innere sowohl wie äußere Gemächer.«27 Wo sich hier ein »Gemach« in schöner Kontiguität an das andere reiht, figuriert der Text Reisebericht dagegen die negative Verkehrung und Verkettung, das Ungemach, das es eben auch gibt: »Was sind die Erscheinungen anderes als eine Kette, und was könnte die Welt anderes sein als ein Verhängnis?«28 Eine sprichwörtliche Kette von Ereignissen ist zur Kette von »Erscheinungen« geworden, »Gespenster« und »Nebelgestalten« inbegriffen. Es gibt Raum, der birgt, aber auch solchen, der verbirgt. Und diese Kontiguität mit der ›Materialität‹ der Mikrogramme, mit dem Prinzip der Insertion, bei dem Text »gelegt in einen anderen« erscheint, sich in diesem »verborgen fühlen« kann, wird im Text Frau Wilke deutlich, der im Band Poetenleben erscheint: »Dieser bildhübsche Raum«, sagte ich, indem ich mein Selbstgespräch fortsetzte, »besitzt ohne Frage einen hohen Vorzug: er ist sehr abgelegen. Still ist es hier wie in einer Höhle. In der Tat: hier kann ich mich verborgen fühlen. Mein inniger Wunsch scheint in Erfüllung gegangen zu sein. Das Zimmer ist, wie ich sehe oder zu sehen glaube, sozusagen halb dunkel. Dunkle Helligkeit und helle Dunkelheit schwimmen hier herum. Das finde ich höchst liebenswürdig. Laß sehen!« 29
IX.1 G ENER ATIVITÄT UND G ENE ALOGIE Der embryonale »Traum, mitten im Traum« aus dem Text Der Traum (I) verbindet sich in dem im Juni 1914 erstmals erschienenen Text Der Heidenstein mit Generativität und Genealogie. Der Heidenstein weist dabei bereits im Namen auf die Heiden, die vor den Christen gelebt hatten, vor einer Lehre der Transsubstantiation – und das heißt im Sinne einer neueren Auffassung der Theologie vor der Transsignifikation, vor dem wesentlichen Bedeutungswandel von Brot und Wein im Abendmahl, der durch die Wandlungsworte ›Dies ist mein Leib‹ bewirkt ist. Der Heidenstein ist aber auch volkstümliche Bezeichnung für vorgeschichtliche Steinsetzungen, die teils dazu gedient hatten, Gräber zu markieren. Zuweilen handelt es sich um eine Stele, die eine Figur vorstellt, ei27 | SW 6/84. 28 | SW 7/37. 29 | SW 6/99.
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nen Ahnen. Robert Walsers Text Der Heidenstein hingegen bezeichnet eine Genealogie, die weniger deutliche Spuren im Sinne einer Repräsentativität der Generationen hinterlässt. In »leise für mich hingemurmelte[n] Worte[n]« heißt es hier: »Wie schwach und weich und leichtverletzlich ist doch das Menschenleben, verglichen mit deinem Leben, du alter, unzerstörbarer Stein, der du lebst vom Beginn der Welt an bis heute, der du leben und stehen wirst bis an das fragwürdige Ende alles Lebens. […] Rings in der Gegend sterben die empfindlichen Menschen. Geschlechter folgen auf Geschlechter, die, Träumen ähnlich, und dem bloßen, zarten Hauch verwandt, auftauchen und verschwinden.« 30
Die Traumähnlichkeit des Lebens, in William Shakespeares Der Sturm, wie erwähnt, der Figur des Prospero in den Mund gelegt, ist bei Robert Walser die der vergänglichen, sterblichen Generation. Im Text Der Felsen, dessen Titel eine gewisse Verwandtschaft zum Heidenstein vermuten lässt, ist angesichts des Felsmassivs, dieser nicht von Menschenhand geschaffenen und ehern unvergänglichen Landmarke, dieses phallisch konnotierten Felsens, der im Barock ein emblematisches Bild ist, eine pictura, jedoch vielmehr das Maternale figuriert. Das Bild ist das einer Individuation, bei der der Felsen gerade keine Rolle zu spielen scheint: Das warme grüne Ufer hielt den silbernen, goldenen Abendsee wie mit zarten, liebenden Mutterhänden und -armen umschlossen, als sei das Ufer die zärtliche, wachsame Mutter und der See, der einem Traum an Schönheit glich, das unschuldige Kind, an Süße und an Liebreiz mit nichts als allein nur mit ihm selbst zu vergleichen. Alles so weit, still und warm. 31
Der Modus bleibt der des Als-ob, obgleich nur der Anschein des Metaphorischen gewahrt ist, die Beziehung als solche unwägbar bleibt. Das Kind aber ist jedem Vergleich entzogen, einzigartig und nicht zu substituieren: der See. Im Text Hans im Band Seeland heißt es – und wieder über einen Felsen, nun einen »hohe[n] Berg«: Von zärtlichen Gewaltsamkeiten herabgezogen, sank der hohe Berg milde und unter wundervoller Gebärde in die Tiefe, wo er sich im blanken Wasser anmutig spiegelte. Der weite See glich einem Kinde, das völlig still ist, weil es schläft und träumt. Ringsherum herrschende allgemeine Ruhe wurde durch das feine Geräusch des Regens noch verstärkt, vergrößert; die Stille, die gleich einem Abendvogel lautlos hin und her rauschte, erfuhr […] keinerlei Verminderung. 32
30 | SW 4/148f. 31 | SW 4/155. 32 | SW 7/174.
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Der Berg ist auf sein Spiegelbild im See heruntergebrochen; er ist in einem Bild versunken, das seine eigene fortgesetzte Existenz aber andersherum natürlich voraussetzt. Der Berg ist nicht verschwunden. Der See dagegen ist tautologisch schön und zugleich nur Reminiszenz an eine traumgleiche Schönheit – wie sich im Text Etwas über den Soldaten zeigt, der im Juli 1915 erscheint. Dort heißt es, Schönheit sei »jene Geschmeidigkeit, die an die seltsame Maschinerie und Technik eines Traumes mahnt«.33 Szenen gehen, obgleich auch der Schnürboden spürbar ist, geschmeidig ineinander über: An den See heften sich, im Text Der Felsen wie in den anderen Texten der Bieler Prosa, immer neue Gedanken. Und mit dem Wechsel in die Nacht, in dem »die Tageshelle sich in dem dunklen Golde verlor« und »das Dunkel nach und nach zunahm«, entsteht dabei zuweilen ein durch den Vergleich mit dem künstlerischen Artefakt pointierter Widerstreit. So heißt es in Der Felsen auch: »Wie ein Gedanke sich verliert in einen anderen, schwand der reiche, stolze Sommertag dahin. Zweierlei Gemälde kämpften miteinander.«34 Das Verhältnis von Rahmen und Bild, Figur und Grund, vor allem das Verschwinden der Konturierung zwischen beidem erscheint konstant maternal geprägt, während das Bild des Sees sich in der manichäischen Differenz von Tag und Nacht verändert und die Entscheidung in diesem Kampf, im Wechsel von Dunkelheit und Licht, Opazität und Evidenz, mittels eines fraternal bestimmten Medialen ausgetragen wird: durch »Zweierlei Gemälde«, das heißt durch Malerei und Dichtung. Und allein das (Halb-)Dunkel ist dabei anheimelnd – wie im Text Abend, der im April 1914 erscheint und das »Bild des Abends« schreibt: »Die Leute standen so schön undeutlich da und gingen im Dunkel so schön warm und sanft dahin. Es war mir, als gehe und trete ich im Land der Poesie selber, […]. Die großen Wolken sanken hinab in das stille, fließende Wasser und die Sterne zitterten von unten aus dem Fluß herauf, […]. Unten und oben, das Vordere und das Zurückgesunkene! […] Ich trank am Bild und hing am Bild des Abends.«35 Das »Bild des Abends« verbindet sich im Text mit den mütterlichen Brüsten, einem nur scheinbar vorambivalenten Bild. Das Stillen als »Akt der Einverleibung«, durch den die Teilung in zwei Einzelwesen zwar rückgängig zu machen versucht wird, »durch welchen aber die Existenz der nährenden Person nicht aufgehoben wird«,36 ist auch in Robert Walsers Text durch die Kopula ›und‹ mit einem zweiten Akt verbunden. Die Symbiose 33 | SW 16/335. 34 | SW 4/155. 35 | SW 4/170. 36 | Karl Abraham: »Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen« [1924], in: ders.: Psychoanalytische Studien zur Charakterbildung, Frankfurt a.M. 1969, S. 140; zit.n. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 58. Vgl. auch Christoph Türcke: Philosophie des Traums, S. 155: »Der Säugling versucht, sich in den Mutterleib und den Mutterleib in sich hineinzusaugen.«
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ist innerhalb des einen einzigen Satzes durch Polysemie zu einem zweiten »Bild« dupliziert: »Ich trank am Bild und hing am Bild des Abends.« Nahezu übersehen werden kann dabei, dass dies kein Bild der Einverleibung ist, sondern das einer Trennung. Das Partialobjekt ist zwar mit den Eigenschaften einer Person ausgestattet.37 Am »Bild des Abends« zu ›hängen‹ – wie das Kind an der mütterlichen Brust – impliziert aber sentimentale Anhänglichkeit, eine Anhänglichkeit, bei der das Objekt bereits verloren ist. Und so gehen die Leute im Text Abend auch nicht etwa ›umher‹, sondern sie »gingen […] dahin«38 – wie bei ihrem Ableben. Mit dem von B.D. Lewin eingeführten Begriff des Traumhintergrunds wird das »Bild des Abends« in Robert Walsers Text jedoch noch komplexer: »Danach wird jeder Traum auf einen leeren, im allgemeinen vom Träumer nicht bemerkten Schirm projiziert, der die Mutterbrust symbolisiert, so wie das Kind sie in dem Schlaf, der auf seine Fütterung folgt, halluziniert; der Hintergrund befriedigt den Schlafwunsch. In gewissen Träumen (leere Träume) erscheint er allein und ermöglicht so die Regression […].«39 Ist also das ja lediglich in der Assoziation des Lesenden entstehende Bild der Mutterbrust im Text Robert Walsers Symbol oder vielmehr nur Symbol des Symbols, der ›Traum‹ im Grunde leer? Das »Bild des Abends« hängt mit der Mutterbrust zusammen, zum anderen aber vertritt es als Substitut lediglich einen leeren Schirm, einen Hintergrund, auf den alles projiziert werden kann. Und dasselbe gilt dabei für das Bild des Felsens. Im Text Leben eines Malers im Band Seeland ist es die Kunst, die dieser »schwindelnd hohe[ ] Felsen«40 ist; im Text Reisebericht heißt es: »Die Felsen, mein Lieber, schimmerten […] oftmals wie weißes Papier.«41 Der hoch aufragende Felsen der Kunst ist mit dem Weiß des leeren Blattes, mit der Horizontale des Schreibens in Verbindung gebracht, wo er wie das Papier »schimmert[ ]«, changiert.
37 | Nach Melanie Klein werden Partialobjekte, zwischen denen sich, wie Freud in seinem Text Über Triebumsetzungen von 1917 herausgearbeitet hat, Äquivalenzen und Beziehungen ergeben, mit Eigenschaften begabt, die denen einer Person ähnlich sind. Vgl. Artikel »Partialobjekt« in: Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 371ff. 38 | SW 4/169. 39 | Vgl. Artikel »Traumhintergrund« in: Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 525. 40 | SW 7/8. 41 | SW 7/32.
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IX.2 F AMILIÄRE E MBLEMATIKEN Robert Walser wird, den Band Seeland betreffend, 1918 im Brief an den Verlag Huber, wie zitiert, schreiben: »Was ich irgendwie tun konnte, um ein schönes, wohlgeformtes Buch herzustellen, habe ich getan. Mit der Reihenfolge der Stücke darf ich Sie wohl einverstanden hoffen.«42 Das Augenmerk auf der Anordnung der Texte findet sich jedoch schon etwas früher. So scheint der Text Abend – und das darin geschilderte äußerst komplexe »Bild des Abends« – in emblematischer Anordnung zum Ende der Buchausgabe Kleine Dichtungen hin in gewissem Sinne zu einer pictura zu werden: den beiden Texten Die Vaterstadt und Das Grab der Mutter folgt der Text Abend und, die Sammlung beschließend, der deutlich an die Briefform sowie an das gleichnamige Gedicht Joseph von Eichendorffs angelehnte, emphatisch adressierte Text mit dem Titel An den Bruder!43 Das Vaterhaus, »das angeschmiegt am Felsen lag« und in dessen Garten alles »zu lächeln, zu lispeln und zu zwitschern«44 scheint, das Grab der Mutter unter dem reichen »Grün eines Akazienbaumes«, wo alles »zu flüstern und zu lispeln, zu reden und zu deuten«45 scheint, führen als zweifache inscriptio im Band Kleine Dichtungen »das Land der Poesie selber« an, das in der subscriptio, die der Text An den Bruder! bildet, zuletzt im Band ein »gesprächiges Land«46 ist. Im Text, der mit dem Bild des Vaters verbunden ist, bilden das Lächeln, Lispeln und Zwitschern, die gestörte Artikulation und die vielstimmige Vogelsprache eine Reihung aus; auf Seiten der Mutter stehen dem Flüstern als stimmlosem Sprechen und dem Lispeln auch die diskursiven Verfahren des Redens und Deutens zur Verfügung. Und das Lispeln verbindet sich mit dem Rauschen des Blätterwaldes, das in der Bieler Prosa jedoch nicht mehr das des berlinischen oder besser das des europäischen Feuilletons ist. Das Berauschende am »Buch der Natur«47, wie es im Text Die Gedichte (II) in einer »Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit«48 heißt, wird im Lispeln gerade durch ein Hemmnis der Artikulation provoziert, mit dem auf das Organ der Artikulation selbst verwiesen ist: auf die Zunge als das Weiche, Warme, das sich beim Lispeln, zum Nachteil der klaren, 42 | Brief vom 1. Februar 1918 an den Verlag Huber & Co., in: Br, S. 119. 43 | Erik Granly Jensen hat in seinem Beitrag »Politisch? Robert Walsers Kleine Prosa (1917)« in: Text & Kontext. Jahrbuch für germanistische Literaturforschung in Skandinavien, Sonderreihe Bd. 54, München 2007, S. 54-78, S. 58, auch in Bezug auf Robert Walsers Band Kleine Prosa (1917) »eine eigentümliche autobiographische Einrahmung« erkannt, die durch den ersten Text der Sammlung Leben eines Dichters und den letzten Text Tobold (II) etabliert wird. 44 | SW 4/168. 45 | SW 4/169. 46 | SW 4/171. 47 | SW 16/255. 48 | Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M. 1986, S. 9f.
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scharfen, konsonantischen Artikulation, unbeabsichtigt zwischen die ›Felsen‹ der Zähne geschoben hat. Wer lispelt, und im Allgemeinen sind dies vor allem Kinder, kann den Buchstaben ›S‹ – dessen schlangenähnliche Graphik geradezu emblematisch die Wellenlinien der Schrift abbildet – nicht korrekt, und das heißt in der gebotenen, ›züngelnden‹ Schärfe artikulieren. Der Laut klingt vielmehr weich. Im »Lispeln« der Blätter finden sich so auch jene »weichen Stimmen«49 beschworen, von denen in Robert Walsers Dramolett Saul und David die Rede war. Und auch im Text Die Brüder, 1917 im Band mit dem Titel Prosastücke erschienen, in einem Band, in dem erklärtermaßen Stücke zusammengestellt sind, die nicht vorab in Zeitungen und Zeitschriften gedruckt worden waren,50 ist das Lispeln familial, ist es brüderlich konnotiert: Lebten wir zwei Jünger und Brüder, Neulinge, Anfänglinge und Novizen [der Künste; Anm. d. Verf., KS] nicht wie auf einer reizenden Freundschafts- und Verbrüderungsinsel, […], wo in ununterbrochenem freundlichem Gelispel und Gesäusel […] Himmel und Erde und Kreatur zusammengewachsen sind, und wo der Mensch so harmlos und gutherzig wächst und hinlebt vom Tag in die Nacht und von der Nacht in den Tag hinein […]. 51
Im Prosatext Die Gedichte (II) heißt es: »Ich brauchte nichts Gegenständliches zur Entzücktheit. Das einfache Daseinsbewusstsein entzückte mich und grub tief in mir nach Liebe, die durch Wände und Mauern überall ins Ungemessene und ins Nächstbeste flog.«52 Das »Nächstbeste« verbindet sich bereits zuvor im Text mit der Nacht: »[…], wobei die Nacht selber zu musizieren begann und ich in sie überging, wie das Empfinden ins befreundete Nächste, wie das Wesen in seine Begründung.«53 Das poetische Ich geht in die Nacht über, wie »das Empfinden ins befreundete Nächste«. Und in der Tat geht das Buchstabenmaterial der »Nacht« ins »Nächste« über – »wie das Wesen in seine Begründung«. Und der Rück(be)zug auf etwas zuvor Verlorenes, das Universum des Leisen, Weichen, Milden und Stillen als ein Universum des Genesenden, wie Walter Benjamin es in seinem Text zu Robert Walser vermutlich auch im Rekurs auf Nietzsches Kapitel Der Genesende in Also sprach Zarathustra formuliert hat,54 ist in der Bieler Prosa in der Tat durch unaufhörlich 49 | SW 16/227. 50 | Vgl. Nachwort des Herausgebers in: SW 5/267-272, S. 269. 51 | SW 5/103. 52 | SW 16/256f. 53 | SW 16/256. 54 | Vgl. Walter Benjamin: »Robert Walser«, in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 126-129. Im Kapitel Der Genesende aus Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra heißt es, in einer Wechselrede zwischen Zarathustra und den Tieren, fast im Märchenton – und jedenfalls in einem
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geknüpfte Ähnlichkeitsbeziehungen hergestellt, in denen auch Antonyme aufeinander abgebildet und ineinander nivelliert sind. Kaleidoskopisch konfigurieren sich die Elemente dabei immer wieder neu. Am Ende gleicht dieses Universum selbst einer Traumerscheinung, deren Idyllik sich jedoch auch durch eine Resistenz bestimmt zeigt, die, nun im Text Der Mond, textimmanent einen Abgrund verhüllt: »[…], und oben angekommen, schaute ich hinunter in die weiche, schleierhafte, milde Tiefe, die einer Traumerscheinung glich. Ich ging noch weiter hinauf, durch den Wald, der ganz weiß war.«55 Die irreal farblose Überformtheit der Szenerie, in der – mondbeschienen – alles bleich, wie von einem Blitz erhellt, und zugleich bereits wie verblichen erscheint, bewirkt »ein unnennbar zartes, weiblich-banges, zaghaftes Empfinden«, das den familiären imagines, den Bildern des Vaters, der Mutter zugewandt ist. Im derart rückwärts gewandten Blick verkehren sich auch Oben und Unten zur Projektion einer bukolischen Szenerie auf das Firmament: Salomon Gessners Idyllen,56 die Tradition der Anakreontik, findet sich in einer verkehrten Welt zitiert, buchstäblich auf den Kopf gestellt: »Der dunkelhelle Himmel mit seinen weißlich-wolligen Wolken erschien mir wie eine schöne, liebe üppige Wiese. Der Mond glich dem träumerischen Schäfer, das weiche Gewölk den Schäfchen, und die Sterne, die ab und zu daraus hervorblinzelten, waren wie die Blumen.« Wie in der Überbelichtung einer Bühnenausleuchtung konturiert die irreale Weiße das andere Wesen oder das Wesen des Anderen: »Es kam mir vor, als sei die ganze weitausgedehnte stille Nacht Anklang an den Text mit dem Titel Monolog des Novalis: »Alle Dinge wollen deine Ärzte sein! […] – Oh meine Tiere, antwortete Zarathustra, schwätzt also weiter und lasst mich zuhören! Es erquickt mich so, dass ihr schwätzt: wo geschwätzt wird, da liegt mir schon die Welt wie ein Garten./Wie lieblich ist es, dass Worte und Töne da sind: sind nicht Worte und Töne Regenbogen und Schein-Brücken zwischen EwigGeschiedenem?/Zu jeder Seele gehört eine andre Welt; für jede Seele ist jede andre Seele eine Hinterwelt./Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken./Für mich – wie gäbe es ein Ausser-mir? Es giebt kein Aussen! Aber das vergessen wir bei allen Tönen; wie lieblich ist es, dass wir vergessen!/Sind nicht den Dingen Namen und Töne geschenkt, dass der Mensch sich an den Dingen erquicke? Es ist eine schöne Narrethei, das Sprechen: damit tanzt der Mensch über alle Dinge./Wie lieblich ist alles Reden und alle Lüge der Töne!« Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 4, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York 1999, S. 270-277, S. 272. 55 | SW 4/88. 56 | Robert Walsers Prosatexte zeigen, so Renate Böschenstein-Schäfer in ihrer bereits angeführten Studie Idylle, S. 148ff., neben ihren durchaus vorhandenen Anklängen an Salomon Gessners paradigmatische Idyllen vor allem eine »neue Form der Idylle« in Gestalt einer »ambivalenten Idyllik«: das heißt sie zeigen eine »intensive Durchdringung einzelner Stücke Welt, die durch die stete Präsenz des Bewusstseins vor allen ontologisierenden Illusionen« gewahrt bleibt.
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ein körperartiges Wesen, und der Mond sei seine Seele.«57 Der Mond, die Seele der Nacht, die wiederum selbst »ein körperartiges Wesen« ist, bildet den »graziösen Herrscher« dieser Szenerie. Im Text Spaziergang (I) ist dieser Mond in »ein scharfes, eisigkaltes Silbergrün«58 getaucht: »Es war Abend geworden, das Grün sprach eine herrliche abendliche Sprache. Farben sind wie Sprachen«, heißt es hier.59 Das Grün spricht als dieses »Silbergrün« allerdings gerade eine Sprache, indem es Farbe verliert, es wird gewissermaßen weiß – wie der Mond – oder der »glänzendweiße Silberschnee«60, der im Text Ein Nachmittag aus dem Band Kleine Dichtungen geradezu doppelt funkelt. Der Blick fällt hier auf »die alten Gräber mit ihren Inschriften«, doch dann folgt der Aufstieg auf einen Berg, wo »die Schneefläche so silbern« auf der Bergweide liegt »und unten in der Tiefe […] das weite, grau-grüne Land«: Es war mir, als wolle meine Seele in die Seele der Landschaft […] hineintauchen. Ein Abendrot […] kam nun noch über die Welt und machte sie zur bezaubernden Rätselerscheinung. Die Welt war ein Gedicht, und der Abend war ein Traum. Der kalte, glänzendweiße Silberschnee und das glühende Rot befreundeten sich miteinander […] Herrlich standen auf der Winterweide die großen, kahlen Buchen, einst so grün, so grün im vergangenen heißen Sommer.61
Zum Grauen und Grünen gesellt sich das Rot hinzu. Und Farben sind in das Universum Robert Walsers aus dem brüderlichen Zeichensystem transponiert, aus der – mit dem Widerstreit der Künste zu sprechen – stummen Dichtung Malerei, zu der, etwa im Text mit dem Titel Marie, Übergänge gesucht werden: »Alle hör- und sichtbaren Töne und Farben gingen ineinander über. […] Alle guten Dinge schienen einander nah verwandt; alles war angenehm erregt, beseelt, belebt. Alles Verschiedene, Zerstreute hing zu einem wohlwollenden, glücklichen Ganzen zusammen.«62 Signifikant fehlen im Text Naturstudie aus dem Band Seeland, dessen erste Fassung als Naturschilderung im Jahre 1916 in den Deutschen Monatsheften (Die Rheinlande) erschienen war, dagegen die Farben nun ganz. Namentlich kam mir stets der Wald seltsam schön und reich und voll Phantasie vor. Immer meinte ich, dass es von irgendwoher eigentümlich töne und dufte, dass beides leise durcheinanderfließe, indem nun der Klang einen sichtbaren Glanz und die Düfte einen bestimmten Ton angenommen hätten. Geheimnisvoll stand ein altes Landhaus wie in sich selbst versteckt, dicht am dunklen, lieben Wald-
57 | SW 4/87f. 58 | SW 4/133. 59 | SW 4/133. 60 | SW 4/89. 61 | SW 4/89. 62 | SW 6/66.
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M IKROPOETIK rand. Seinen hübschen Platz schien sich das nette gute Gebäude nach eigenem Wunsch gewählt zu haben.63
Das Haus, das immer auch Metapher der Memoria ist,64 ist hier die Immobilie, es kann nicht, wie die Menschen im gerade wütenden Krieg, mobilisiert werden. Der ›angestammte‹ Platz des Hauses kommt vielmehr dem einer freien Wahl gleich und kann nicht durch Intervention verändert werden.65 Und doch erinnert das Haus im Text Naturstudie an das konträre Schicksal von Hans, den wir aus der eingangs erwähnten Erzählung zum Kriegsausbruch 1914 kennen und der am Ende des gleichnamigen Textes der Mobilmachung Folge leisten muss. Die Grapheme haben sich nur gegeneinander verkehrt. Der Name Hans wird, in der Umkehr von nur einem einzigen Buchstaben – das kleine ›n‹ wird zum kleinen ›u‹, dem es im Übrigen handschriftlich ohnehin zum Verwechseln ähneln kann, weshalb zur Unterscheidung auch gern ein Bogen über dem ›u‹ geschrieben wird – zum Haus66 der Naturstudie. Ein Haus differenziert den inneren vom äußeren Raum und schafft in einer solchen Differenzierung eine Beziehung zwischen Innerem und Äu63 | SW 7/64f. 64 | »Die technische Memoria-Metapher vom Haus ist aber auch eine Metapher für die Memoria-Lehre selbst«, schreibt Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik, S. 111ff: »Das Haus wird aber auch zur Metapher der ›Wachstafel‹ als dem Schreibgerät des Rhetors, die aber selbst wieder eine alte platonische Gedächtnismetapher ist.« In Freuds Notiz über den Wunderblock werde das Schreibgerät, so Groddeck, »zu einer didaktischen Allegorie des Unbewußten, die aber wiederum als (bewußte oder unbewußte) Weiterführung oder ›Überschreibung‹ jener alten Memoria-Metapher von der Wachstafel lesbar wird.« Die Wachstafel entspricht nicht dem Stilus, sondern dem Beschreibstoff, der mit dem Stilus traktiert wird. Und so würde das Haus in Robert Walsers Text Naturstudie auf das Papier weisen, es würde das Blatt ›erinnern‹. 65 | Die Immobilisierung gilt im Text Naturstudie für die Bäume; so ist von »freiwillig wachsenden Dingen« (SW 7/67) die Rede. »Rein und unbenommen stand der Baum als solcher da, diente nicht irgendeinem Park oder sonstigen Zweck, war niemandem als wieder nur sich selbst unterworfen. Ähnlich war es mit allen übrigen Dingen.« SW 7/66. 66 | Renate Böschenstein-Schäfer schreibt zum Idyllischen in den Erzählungen Robert Walsers [in ihrer Literaturliste erscheinen die Bände Kleine Dichtungen, Prosastücke und Kleine Prosa], dass der Held im Roman Der Gehülfe »das zerrüttete ›Haus‹, in das er eintritt, bis zum äußersten als bergende Idylle zu erleben gewillt ist. Die Subtilität, mit der Entwurf und Zerstörung einer solchen vom Subjekt getragenen Idylle deren Darstellung bis ins Detail des Textes gemeinsam bestimmen, würde vielleicht noch deutlicher bei einem Vergleich mit den Erzählungen und Romanen H. Hesses, in denen das Idyllische gleichfalls weithin bestimmendes Strukturmoment ist, aber nicht in gleichem Maße durch Reflexion relativiert wird […].« Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle, S. 148ff.
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ßerem, in der sich beides gegenseitig durchdringt.67 Im Text Naturstudie ist das Haus »wie in sich selbst versteckt«; es schließt nicht nur das, was innerhalb, sondern auch das, was außerhalb seiner Mauern liegt, gleichsam doppelt, dreifach, bis ins n-te Glied mit ein; es ist Haus im Haus im Haus usf. – bis in das unendlich miniaturisierte Haus. Ein Haus bewahrt nicht nur, es speichert auch zu neuem Gebrauch, ist Ort des Widerhalls; Töne vervielfachen sich darin, kurz: Das Haus ist eine Metapher der Schrift. Was sich jedoch mit dem Haus in der Moderne vollzieht, wofür es steht oder eben nicht mehr steht, wird Rainer Maria Rilke im Brief an einen seiner Verleger im November 1925 in Bezug auf den eigenen Gedichtzyklus der Duineser Elegien formulieren: Noch für unsere Großeltern war ein »Haus« […] ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertraulicher; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden […] Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung, nicht allein ihr Andenken zu erhalten, […] sondern ihren humanen und larischen Wert. (»Larisch«, im Sinne der Haus-Gottheiten.) Die Erde hat keine andere Ausflucht, als unsichtbar zu werden: in uns, die wir mit einem Teile unseres Wesens am Unsichtbaren beteiligt sind […] in uns allein kann sich diese intime und dauernde Umwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares […] vollziehen, wie unser eigenes Schicksal in uns fortwährend zugleich vorhandener und unsichtbar wird. 68
Und in der Tat ist auch das Haus in Robert Walsers Text Naturstudie durch seine Potenzierung zwar »vorhandener«, zugleich aber auch »unsichtbar« geworden: Geheimnisvoll stand ein altes Landhaus wie in sich selbst versteckt, dicht am dunklen, lieben Waldrand. Seinen hübschen Platz schien sich das nette gute Gebäude nach eigenem Wunsch gewählt zu haben. Mit entzückendem, urwelthaften Schmelz sangen hie und da die Waldvögel. Bald tönte es wie Weh, bald wie Spott, bald wie Jubel, bald wieder wie übervolle, üppig-langgezogene Klage. […] Das mit so schweren Ketten umklammerte, anmutige, reizgefüllte, schmerzgeschmückte Dasein war zum Gesang geworden, und alles Menschlich-Irrende kam zu wesentlichem Ausdruck. […] Ganz nur noch Lauschen war ich, und indem ich lauschte, fiel von oben wundervolles Meeresrauschen in die Stille herab, die mich umgab. Die Bäume wollten bald drolligen, bald feierlichen Traumfiguren ähnlich sein. […] Obwohl alles ruhig war, schien sich mir dennoch alles rundherum zu regen, hin und her zu schweben, auf und ab zu gleiten, in die Höhe zu steigen und in unausmeßbare Tiefe hinabzusinken.
67 | Vgl. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 69. 68 | Rainer Maria Rilke: Briefe, Bd. 2, 1914-1926, Wiesbaden 1950, S. 483f.; zit.n. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 83f.
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M IKROPOETIK Von außen schaute ein Haus mit drei Fensterläden, wie mit klugem Gesicht ruhig in den Wald hinein.69
Wo am Ende ein Haus Erwähnung findet, das »[v]on außen« in eben denselben Wald hinein schaut, in dem ein altes Landhaus »wie in sich selbst versteckt« erscheint, wird der anthropomorphe Charakter des ersteren deutlich, das, »wie mit klugem Gesicht«, in den Wald blickt, wo aus einem »urwelthaften Schmelz« bereits im folgenden Satz der Schmerz, die »übervolle üppiglanggezogene Klage« geworden ist. Das ›Urwelthafte‹ aus dem vorangegangenen Satz speist diese archaische, rituelle Klage. Eine Klage aber setzt eine Wunde voraus. Und der bereits angeführte Text Das Seestück, der die 1917 erschienenen Prosastücke als erster Text im Band anführt, schneidet eben den Mond, als die Seele der Nacht, die im Bild des Abends maternales Bild ist, im doppelten Sinne des Wortes buchstäblich an. In Das Seestück heißt es: Der Halbmond in der Höhe glich, wie soll ich sagen, einer Wunde, woraus ich folgere, daß der schöne Körper der Nacht verwundet war, ähnlich wie eine schöne edle Seele verletzt und verwundet sein kann, und darum ihre Hoheit und Schönheit noch deutlicher offenbart. Im Leben, das roh und unedel ist, macht sich mitunter die verletzte edle Seele lächerlich, nicht aber in der Dichtkunst, und der Dichter lacht niemals über empfindlicher Seelen Verletzbarkeit.70
Der Halbmond, maternal geprägt und zugleich Symbol des Orients, gleicht einer Wunde, ohne dass von Blut oder von dessen Farbe die Rede wäre.71 Im betonten Manierismus mimetisiert die Inversion des Genitivobjekts – in »empfindlicher Seelen Verletzbarkeit« – dabei die dem Blick der anderen unverständlich erscheinende Umständlichkeit empfindlicher Seelen; die Inversion antizipiert das von außen her besehen unsichtbare Innenleben des jeweils anderen. Und »[ j]eder ist für den anderen unsichtbar. Erfahrung ist die Unsichtbarkeit des Menschen für den Menschen«, schreibt Ronald D. Laing insistent: »Erfahrung nannte man früher ›Seele‹. Erfahrung als Unsichtbarkeit des Menschen für den Menschen ist gleichzeitig evidenter als irgend etwas sonst. Einzig Erfahrung ist evident. Erfahrung ist die einzige Evidenz.«72 69 | SW 7/65. 70 | SW 5/81f. 71 | Im Text Leben eines Malers gehört der Halbmond dem Gemälde des Malers mit dem Titel ›Der Wald‹ an und deutet auch auf die dem Rot komplementäre Farbe Grün: »Über ruhigen, von Silberlicht umleuchteten Tannenspitzen glänzt ein merkwürdig fraghafter, ernster Halbmond.« (SW 7/29.) Hingegen findet sich das (rote) Blut im Text Hölderlin in übertragenem Sinne wieder: »Indem der Mensch in ihm verzweifelte, sein Wesen aus vielen elenden Wunden blutete, stieg sein Künstlertum gleich reichgekleidetem Tänzer hoch empor, […].« SW 6/118. 72 | Ronald D. Laing: Phänomenologie der Erfahrung, Frankfurt a.M. 1969, S. 12 (Hervorh. v. RDL).
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In Robert Walsers Texten taucht der Mond, der in romantischer Emblematik der Seele gleicht, oder der Halbmond, der einer Wunde gleicht, alles in eine irreale Weiße. Und das Weiß ist imago agens, von dem die gesamte Bieler Prosa durchzogen ist – und zwar unterhalb der Schwelle eines Motivs, insofern Farbe kein Gegenstand ist, sondern diesem nur eignen kann. Ausgerechnet im Text mit dem fast heilig konnotierten Titel Marie findet sich der entscheidende Hinweis auf dieses Weiß. Urplötzlich und völlig unvermittelt gehört es einer menschlichen Gestalt an: Tiefsinn und Wehmut hielten mich auf eigentümliche Art gefangen, den ganzen Tag kam ich von vielerlei Gedanken nicht recht los, sah mich von den eigenen Einfällen gefesselt. Ich war gewissermaßen Gefangener und zugleich Gefängnis, fühlte mich durch mich selber eingeengt, gehemmt, eingekerkert. Ich war frei, war es aber plötzlich wieder nicht im mindesten. Das weiße Haar meines Vaters machte mir einen tiefen Eindruck.73
Diese Farbe Weiß, die erst im Laufe eines langen Lebens zu dem geworden ist, was sie ›ist‹ und die auch im weißen Haar des Saul in Robert Walsers Dramolett Saul und David begegnet, überlagert sich im Prozessualen – das in diesem Fall das tertium bildet – mit der homonymen Weisheit, die dem Alter zugesprochen wird. Das weiße Haar des Vaters aber ist das, was das poetische Ich, was die Erzählung im Text Marie geradezu schockartig stillstellt, arretiert. Denn der Vater ist tot.
IX.3 D AS B ILD DES VATERS Ein Toter ist nur anderen sichtbar, nicht mehr sich selbst. Robert Walsers Text Das Bild des Vaters, der die Geschwister am Totenbett des Vaters versammelt, konturiert die Gestalt, das »Bild« des Vaters, noch nicht aber als imago (bei den Römern bezeichnete dieses Wort auch die Totenmaske des Vorfahren). Gerade der Vorgang der rituellen Scheidung ist vielmehr Gegenstand des Textes. Es gilt, einen Nexus zu entflechten, das Bild des Verstorbenen vom Leichnam zu trennen und beides in diskrete Einheiten zu separieren, um das Bild dann einem imaginären Nachleben anheimgeben zu können. Der Unterschied zwischen einem Toten und einem Untoten besteht dabei darin, dass sich dieser Ritus bei Letzterem nicht vollziehen, dass der Nexus nicht aufgetrennt werden kann. In Robert Walsers Text Das Bild des Vaters geht es darum, das Unbegreifliche zu begreifen, denn den Geschwisterkindern, die im Text versammelt sind, um den toten Vater »zum letztenmal zu umgeben«, wollte »es beinahe unmöglich dünken, dass nun das väterliche Dasein abgelaufen und die noch immer sichtbare Gestalt erloschen wäre«.74 Das Verschwinden im Tod 73 | SW 6/72f. 74 | SW 7/152.
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findet gerade erst statt. Die Szene figuriert einen Übergang; der Vergangenheit gehört das Leben des Vaters endgültig erst mit der Bestattung an. Das Bild wird erst noch entstehen. Ein Bild ist in einem ganz wesentlichen Sinn immer Bild eines Toten, wenngleich es, wie ein Traumbild schattenhaft sein kann oder aber ein literarisches »Bild des Vaters«. Und der Unterschied, der in der Literatur zwischen den Lebenden und den Toten gemacht werden kann, ist rein ›fiktional‹,75 denn alle dramatis personae, tote wie lebende, haben in einer Erzählung denselben imaginären Status. Ein Leichnam personifiziert den Verlust; er ist in dieser Hinsicht »eine der ursprünglichsten menschlichen Institutionen«, wie Robert Harrison schreibt: »Der Leichnam ist die Stätte von etwas, das verschwunden ist, das die Sphäre der Gegenwart verlassen hat, das aus dem Körper übergegangen ist in … in was?«76 Das Beunruhigende dabei ist die ›Anwesenheit‹ von Leere an einer Stelle, an der einst die Person war. In dieser Leere kommen Vergangenheit und Zukunft in den Blick; der Leichnam ist der Ort zeitlicher Ekstasen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), die alle im toten Körper konvergieren; er ist das Ereignis eines Übergangs, der sich vor unseren Augen abspielt77 – eines Übergangs im Übrigen, der sich nach Art einer metabasis eis allo genos auch im Lesen vollzieht, und zwar wörtlich: als ›Übergang in eine andere Art‹. Wer liest, lässt sich von etwas, das sichtbar ist, von den Schriftzeichen nämlich, über deren eigene Sphäre hinausweisen.78 Der Text Das Bild des Vaters spricht in diesem Sinne auch über die Schrift selbst – oder besser: Der Text spricht über die Lektüre, die über die Schrift in eine andere Sphäre, in die des Imaginären, hinausweist. Im Text versammeln sich die Kinder, und zwar im »Nebenzimmer« des Raumes, in dem der tote Vater aufgebahrt ist, und sprechen nun der Reihe nach – als ein Chor von Stimmen, der im Text jedoch ohne formale Anführung bleibt –, die Kinder sprechen »eins ums andere« noch einmal ein Urteil über den Vater, mit dem sich die Generationenfolge zugleich geradezu verkehrt hatte, denn: Einem guten Kind glich er darin, daß er des Mutigen Mut, des Tüchtigen Tüchtigkeit, des Gewandten Gewandtheit, des Geschickten Geschicklichkeit ehrlich zugab und aufrichtig lobte. War nicht sein Lebenswandel wie ein sanfter Schlaf oder ungestörter Halbschlummer? Blieb sein Herz nicht frisch und gesund? Anspruchslosigkeit und Neidlosigkeit sind süß wie Liebkosungen und gute Trostworte von lieben Pflegerinnen.79
75 | Vgl. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 218ff. 76 | Ebd., S. 141. 77 | Vg. ebd., S. 142. 78 | Vgl. Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 51. 79 | SW 7/159.
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Das Balsamische der »Trostworte von lieben Pflegerinnen« lässt das Universum des Genesenden aufscheinen. Und nun kommentiert das sechste und zweitjüngste der Geschwisterkinder das Urteilen als solches: Gerechtigkeithalber ist nötig, daß, wer Gegenstände oder Menschen beurteilen will, nicht sogleich auch schon in ein Vorurteil sinke, sondern womöglich jeder Einseitigkeit fleißig ausweiche, Bevorzugung redlich bekämpfe, um im hellstrahlenden Lichte vorsichtig abwägenden, teilnehmend-schwebenden, ehrfurchtsvoll schwankenden, Ehrlichkeit liebenden, echten Urteiles unerschrocken und unermüdlich zu verharren. Vorurteil und Vorliebe scheinen mir hart, dick und schwerfällig, dagegen echtes Urteil und echte Liebe weich, reinlich, klaräugig, zart und federleicht zu sein. Unter Voreingenommenheit muß stets entweder ein Mensch oder eine Sache leiden, was unmöglich recht sein kann. Heute fühlen und sehen wir deutlich, daß alle guten Eigenschaften des Vaters vom Unholden, das er erlebte, verdunkelt oder völlig unsichtbar gemacht worden sind. 80
Die Stimme, die in der paradoxen Gegenwart des Leichnams des Vaters vom Kind gefunden wird und die den Toten anruft, ohne darin Antwort zu erhalten, die zu sagen versucht, was vom Vater nicht mehr gehört werden kann,81 fährt fort: Die Folgen seines Falles aus dem Ansehen trug er demütig oder, um es genauer zu sagen, mit freundlichem Lächeln; starb deswegen noch lange nicht, lebte noch gern weiter, tat durchaus nicht, wie Bankdiktatoren und -direktoren, verfehlte, gewagte Herren Spekulanten, Börsianer und sonstige Finanzindianer allfällig tun, die sich, weil sie verschmähen, geduldig am Leben zu bleiben, sondern vorzuziehen scheinen, anmaßlich umzukommen, eine stolze, impertinente, hochvornehme, dumme, daneben freilich absolut nicht spaßhafte, vielmehr todverursachende, äußerst ernsthafte Kugel à la Trauerspiel von Kotzebue und Compagnie durch den hilflosen Kopf jagen, wofür ich merci beaucoup sage.82
Der reimende Parallelismus – in »Kotzebue« und »merci beaucoup« – eint zwar den deutschen Literaturnamen und das Französische. Der Theaterautor August von Kotzebue aber, der für seine forcierten theatralischen Effekte ebenso berühmt wie berüchtigt war, hat in einem Text Robert Walsers mit dem Titel Kotzebue »zahlreiche Lustspiele geschrieben, die mit glänzendem Kassensturzerfolg während der Zeit, da Kleist verzweifelte, auf80 | SW 7/165f. In den Worten »Vorurteil und Vorliebe« scheint der Text den Titel des Romans von Jane Austen Pride and Prejudice zu zitieren, in dem dünkelhafter, persönlicher Stolz und gesellschaftlich geprägtes Vorurteil die eigene Urteilskraft und damit auch das eigene Lebensglück zu verstellen drohen. 81 | Vgl. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 103. 82 | SW 7/165.
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geführt worden sind«.83 Im Kassenerfolg von Kotzebue ist dabei auch der Sturz, der Blutsturz im Selbstmord von Kleist, der eben durch eine Kugel gestorben war, die er sich selbst in den »hilflosen Kopf« gejagt hatte, diskret untergebracht. Der Vater hingegen war »gänzlich untheatralisch« und ein »weitaus besserer Philosoph«84 als … – der Komparativ bezieht sich hier auf Nietzsche, auf den im Text bereits angespielt worden ist. Statt »schwierige, dicke Bücher« zu lesen oder, wie der Philosoph es tat, selbst zu verfassen, haben sich die Eltern, im Text Das Bild des Vaters, jedoch vielmehr ein »unzerstörbares Denkmal«85 in den »Gemütern« ihrer Kinder gesetzt. In ganz anderem Sinne als in Kotzebues Schauspiel Menschenhass und Reue eint die Eltern so am Ende ihr Blick auf die Kinder. Und da die Seele des Vaters nun, wie es in Robert Walsers Text Das Bild des Vaters heißt, »zu den Unbekanntheiten gegangen« ist – »So dürfen denn eines Tages auch wir Kinder sterben dürfen.«86 Die Erlaubnis ist in der Doppelung des Verbums »dürfen« ganz ausdrücklich. Und das ist der Coup, für den zu danken ist: Der Tod des Vaters macht auch die Kinder zu Sterblichen; in der Trennung liegt eine andere tiefere Gemeinschaft87 in der Sterblichkeit selbst begründet – als einer Gnade, die vom Tod des Vaters gütigst zugewiesen ist. Und dies bedeutet, als Sterblicher eine Stimme zu haben, denn, wie Robert Harrison ausführt: »In dem Augenblick, in dem ich aufhöre, zu dem anderen als zu einem zu sprechen, der als Sterblicher mit mir verwandt ist, werde ich zu einer sprachlichen Waise.«88 In diesem Sinne resümiert der Text Das Bild des Vaters am Ende auch eine Reihe von Konjunktionen: in der Verbindung zwischen den Eltern, in der Verbundenheit des Vaters mit dem Vaterland, das sich als »Ursprungsland« wiederum mit dem »Bilde der Mutter« verbunden zeigt: Am Ursprungsland […] und am Bilde der Mutter hing er treu. Nun soll sich keins von uns länger um ihn zu kümmern, nach ihm umzusehen haben. Vieles ist verloren! Unwichtig, belanglos kommen wir uns vor. Mehr als je ist uns lediglich der Staub sichtbar, während das Feste verschwindet. Da es doch wohl aber schon ziemlich spät ist, so wollen wir jedes seine Schlafstätte und seinen Schlaf aufsuchen. 89
Die große Disjunktion durch den Tod allerdings macht, mehr als je zuvor, den »Staub sichtbar, während das Feste verschwindet«: Mit dem Tod scheint sichtbarer denn je seine Spur, der Staub, zu dem alles Irdische dereinst wird. Alles eilt zum Tode hin, ist Entropie und bereits auf dem Wege 83 | SW 3/105. 84 | SW 7/166. 85 | SW 7/170. 86 | SW 7/170. 87 | Vgl. Robert Harrison: Die Herrschaft des Todes, S. 110. 88 | Ebd., S. 111f. 89 | SW 7/171.
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zur Grabstätte. Oder aber vorerst noch auf dem Wege zur »Schlafstätte« – und das heißt zurück in den Traum. Was dagegen den Vater betrifft, und dessen ökonomisches Unglück zu Lebzeiten, heißt es: »Derartigen Mannes Lebensweg verdunkelt sich wie von selbst. In eine vom Glück verratene Familie schleicht sich, einem Gesellen ähnlich, der sich auf keinerlei Art abweisen lassen will, dichte Unheimlichkeit ein, als wenn es beständig Nacht sei.«90 Und hier erhellt wieder, warum beständig der Abend, als Antizipation der Nacht, nie die Nacht selbst in der Bieler Prosa figuriert ist – jedenfalls nicht, solange diese Nacht nicht durch »helle[ ] Stellen«91 illuminiert ist, wie etwa im Text Die Indianerin, solange sie nicht venezianische, künstlich illuminierte Nacht ist oder eine Mondnacht, deren irreale Weiße das Haar des Vaters assoziieren lässt, der vom ältesten Geschwisterkind im Text Das Bild des Vaters auch erinnert wird als »einer, der die Zeit verkörperte, die im Dahinschwinden begriffen sein mag«.92 Und dieser Satz ist durchaus doppelt lesbar: Zum einen verkörpert der Vater – und in diesem, vom Text festgehaltenen Moment ist das selbstredend – Vergänglichkeit. Zum anderen aber markiert der Text Das Bild des Vaters, dessen erster Abdruck in der Zeitschrift Schweizerland vom August 1916 datiert, wörtlich auch ein Theorem, mit dem sich das Zeitgenössische verbunden zeigt. Der Vater hatte dieser Zeit als Zeitgenosse in gewisser Weise nicht angehört, entweder, weil er ihr nicht anzugehören vermochte, oder aber, weil er ihr nicht angehören wollte, denn soviel Besseres, als was mancher gewalttätige Mann durch den sogenannten Willen zur Macht leisten mag, verrichtete er durch die Kraft, nachgiebig und geduldig zu sein, sowie durch die stille Gabe der Ironie. Da er mehr treuherzig und sanftmütig als energisch und unternehmerisch war, so gehörte er keinesfalls zu denen, die das Schicksal unterjochen wollen. Gutwillig warf er sich selbst, indem er bescheiden den Weg ging, der ihm vom Geschick vorgeschrieben wurde. Dafür aber durfte er manche Qual, manchen üblen Gedanken eben diesem Höheren überantworten, weshalb er nie der Quälgeist seiner selber zu sein brauchte. Verluste und Niederlagen vermochte er zu vergessen. Die Folgen von erlittenen Unfreundlichkeiten trug er der Welt in keiner Hinsicht nach. Zu hassen verstand er absolut nicht. Um so mehr zeigte es sich, daß er auf liebende Manier zu leiden, 90 | SW 7/164. 91 | SW 6/52. 92 | SW 7/153. Eine Ausnahme hiervon findet sich im Text Leben eines Malers, wo die Nacht schlussendlich jedoch nur in die besondere Affinität für den Abend eingeschlossen zu sein scheint: »Die Abende liebte er, deren Licht, indem es zu sterben scheint, immer schöner wird, bis es zuletzt ins Dunkel fällt und verschwindet. Ihm schienen die Abende in ihrer Schönheit verwandt mit ihm zu sein; sie schienen es mit ihrem Glanz und Geisterwesen besonders gut mit ihm zu meinen, es war ihm, als litten oder klagten sie mit ihm und lebten in ähnlichem Schmerz und ähnlicher Freude, wie in einem geheimen Einverständnis mit ihm. Die Nächte waren ihm wie gute, liebe Freunde.« SW 7/28.
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M IKROPOETIK Schicksalsschläge heiter hinzunehmen wusste. Sollte derlei Kunst nicht um vieles bedeutender und schöner sein als manche sonstige Künste? 93
Die Formel »Wille zur Macht« taucht im veröffentlichten Werk Nietzsches zum ersten Mal im Buch Also sprach Zarathustra auf; die erste vollständige Ausgabe des Buches war 1892 erschienen. In einem für die ›Heimatfront‹ bestimmten, jedoch nicht mehr zur Veröffentlichung gelangten Aufsatz wird der bald darauf gefallene Maler Franz Marc zu Beginn des zweiten Kriegsjahres 1915 über die Nachwirkung Nietzsches schreiben: »Nietzsche hat seine gewaltige Mine gelegt, den Gedanken vom Willen zur Macht. Sie zündete furchtbar im großen Kriege. […] Aus dem Willen zur Macht wird der Wille zur Form entspringen. […] Er [Nietzsche] brach die Brücken einer wohligen Zeit hinter uns und warf uns an den kalten, harten Strand einer neuen Zeit. Viele haben ihm darob geflucht. Wir Jüngeren aber, wir Krieger danken ihm alles, unsre Aufgabe, unsre Begeisterung, unsre Freiheit zum Handeln.«94 Robert Walsers Abwendung vom wirkmächtigen Theorem des Willens zur Macht in der anachronistisch gezeichneten Figur des Vaters im Text Das Bild des Vaters ist hingegen subtil. Distanziert ist die Rede vom »sogenannten Willen zur Macht«. Und das stellt nicht nur das tatsächliche Vorhandensein eines solchen Willens in Abrede, verdeutlicht wird auch, »was mancher gewalttätige Mann durch den sogenannten Willen zur Macht leisten mag« und was nichts anderes sein wird als – Gewalt. Im Text mit dem Titel Kleine Komödie, einem unveröffentlichten Manuskript der Jahre 1927/28, in dem eine Bühnenhandlung wiedergegeben scheint, ist – mit weniger positiver Konnotation – wieder die Rede von jenem großgeöffneten Mund,95 der im Text Das Theater, ein Traum (I) bereits die Bühne war: »Das Leben hatte sozusagen ein großes Maul aufgesperrt, und das vielleicht ein wenig unvorsichtige gute Papachen war in den Rachen hineingelaufen. Mit andern Worten verarmte er […].« Im Text Kleine Komödie heißt es zuletzt über diesen Vater: »Der von weither gekommene Vater stand wie ein Hebräer, aus eines jeden Kindheitstagen abstammend, da.«96 Die Kindheit, welcher der Vater entstammt, ist die des jüdisch-christlichen Abendlandes. Der Vater ist ein Hebräer, seine Kultur der Duldung, der Milde, des Eingedenkens der eigenen Sterblichkeit aber verschüttet.
93 | SW 7/154. 94 | Franz Marc: »Die 100 Aphorismen« [1915], in: ders.: Schriften, hg. v. Klaus Lankheit, Köln 1978, S. 193f.; zit.n. Hansdieter Erbsmehl: »Der Erste Weltkrieg. Erwartung – Realität – Reaktion«, in: Der Traum von einer neuen Welt. Berlin 19101933, Ausstellungskatalog Museum Altes Rathaus Ingelheim am Rhein, Mainz 1989, S. 55-63, S. 59 (Hervorh. v. FM). 95 | Vgl. SW 15/8. 96 | SW 19/293, 295.
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IX.4 D ER »N IMBUS « DER S CHRIF T UND DAS » LEBENDIGE B ILD « DER M UT TER In der fünften der Hymnen an die Nacht des Novalis hatte es geheißen: »Doch unenträthselt blieb die ewge Nacht,/Das ernste Zeichen einer fernen Macht.«97 Wo beständig der Abend, als Antizipation der Nacht, nie die Nacht selbst in Robert Walsers Bieler Prosa figuriert, wird deutlich, dass eben der Tod die unenträtselte Macht ist. Der Tod ist »das opake, undurchdringliche Phänomen schlechthin«, schreibt Thomas Macho; die Leiche bringt dagegen – wie in Robert Walsers Text Das Bild des Vaters – noch ein Rätsel zur Anschauung: »Was sich zeigt, ist ein Mensch und doch kein Mensch, ein Gesicht und doch kein Gesicht. […] Jeder Tote ist ein Double. Er unterscheidet sich von seinem lebendigen Zwilling, ohne ein anderer zu werden.«98 Hans Belting hat diesen paradoxen Status des Toten, diese Anwesenheit des Abwesenden oder Abwesenheit des Anwesenden, mit der Frage nach dem Bild verknüpft. Das Bild »bringt zur Erscheinung, was nicht im Bild ist, sondern im Bild nur erscheinen kann. Das Bild eines Toten ist so […] geradezu der Ursinn dessen, was ein Bild ohnehin ist.« Der Tod tritt gleichsam im Bild auf, weil auch der Leichnam bereits zu einem Bild geworden ist, das dem Körper des Lebenden nur noch ähnelt: »Der Schrecken des Todes liegt darin, daß sich vor aller Augen und mit einem Schlage in ein stummes Bild verwandelt, was gerade noch ein sprechender, atmender Körper gewesen ist.«99 Sterben bedeutet also, in sein eigenes ›Abbild‹ transformiert zu werden, und erst diese Erfahrung einer kontingenten ›Bildwerdung‹ von Lebewesen hat Menschen, so Belting, dazu bewogen, Bilder zu erstellen, Bilder, die sich dann ebenso an dem Umstand orientiert zeigen, dass der Tote ›fortgeht‹, wie dass er – als Leichnam – ›bleibt‹: »Das Problem der Repräsentation drängt sich demnach auf als elementare Widersprüchlichkeit des ›Bleibenden‹: Fleisch verwest, die Knochen dauern, Haut läßt sich konservieren, die Eingeweide hingegen nicht. Diesen Widersprüchen korrespondieren die Eigenschaften verschiedener Stoffe: Stein, Metall, Holz, Ton, Gips oder Wachs; und von diesen Qualitäten hängt ab, wie und in welcher Weise die Materialität des ersten Bildes (nämlich der Leiche) in die Gestalt des zweiten Bildes oder einer Statue verwandelt werden kann.«100 97 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 143. 98 | Thomas Macho: »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich«, in: Jan Assmann: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten (mit einem Beitrag von Thomas Macho), Frankfurt a.M. 2000, S. 89-120, S. 91, 100. 99 | Hans Belting: »Aus dem Schatten des Todes. Bild und Körper in den Anfängen«, in: Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, hg. v. Constantin von Barloewen, München 1996, S. 94f.; zit.n. Thomas Macho: »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich«, S. 100f. (Hervorh. TM). 100 | Thomas Macho: »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich«, S. 103f. (Hervorh. TM).
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Die Transformation ins Bild vollzieht sich dabei in einem geschichtlichen Wandel. Einen historischen Paradigmenwechsel, der sich von der mimetischen Repräsentation, wie im Falle der erhaltenen spätmittelalterlichen effigies, also jener lebensgroßen Puppen aus Wachs, Leder oder Holz, die bei Trauerfeiern die Stelle des Toten einnahmen und sogar mit dessen Kleidern angetan waren, zu einer symbolischen Substitution vollzieht, »die noch den Akt der Stellvertretung leugnet«, in der christlichen Transsubstantiationslehre also, bei der die Hostie die Präsenz Christi nicht nur anzeigt, sondern ist, illustriert Macho nun auch an einem noch älteren Vollzug historischen Wandels: »Die Abwertung der Bilder und Statuen im griechischen oder jüdischen Totenkult [die Macho als Kulturen einer »Todeshinnahme« interpretiert; Anm. d. Verf., KS] begann nicht zuletzt mit der Durchsetzung des Schriftalphabets; fortan übernahmen Inschriften auf Ossuarien [das sind Gebeinhäuser auf Friedhöfen, antike Gebeinurnen; Anm. d. Verf., KS] oder Grabsteinen die Funktion der Repräsentation der Gestorbenen. Die Materialität der Knochen und Bilder wurde gleichsam in die Materialität der Buchstaben übersetzt.«101 Und hier erhellt die ›weiche‹ Materialität der Schrift in den Mikrogrammen Robert Walsers. Sie verbindet sich mit dem Bild des Vaters – und dem der Mutter. Sie korrespondiert darüber hinaus dem Versuch, sich – wie Platon es im Phaidros102 gefordert hatte – ›innerlich‹ und nicht vermittels frem101 | Ebd., S. 105. 102 | Wer das Schreiben lernt, dem, so heißt es in Platons Phaidros (im Folgenden zitiert nach Platon: Phaidros oder Vom Schönen, übersetzt und eingeleitet von Kurt Hildebrandt, Stuttgart 1998, S. 86-89) »pflanzt es durch Vernachlässigung des Gedächtnisses Vergeßlichkeit in die Seele, weil er im Vertrauen auf die Schrift von außen her durch fremde Zeichen, nicht von innen her aus sich selbst die Erinnerung schöpft.« [274C.] Pharmakon, in der Bedeutung von Gift und Arznei gleichermaßen, ist das griechische Wort, mit dem Platon die Schrift belegt. Im Phaidros ist die Schrift eine Mnemotechnik; doch stützt sie nicht nur das Gedächtnis, sondern auch das Vergessen: »Im Gegensatz von Mündlichkeit und Schriftlichkeit deutet Platon die Minderwertigkeit des Schriftlichen als Makel des Ursprungsverlusts. Kritisiert wird die Schrift – analog anderen Entfremdungsfiguren – als Verfallsform der lebendigen Sprache, als eine Vergegenständlichung, die zugleich Entäußerung und Ablösung vom Ursprung ist; der Gegensatz von toter Äußerlichkeit und lebendiger Innerlichkeit, totem Buchstaben und lebendigem Wort, ist Resultat einer falschen Verselbständigung. Der schriftlich fixierte Text muß, um über sich Aufschluß zu geben und Verständlichkeit zu erzeugen, auf die ›Hilfe des Vaters‹ zurückgreifen: auf das lebendige Wort, dessen fremdgewordener Abkömmling – Waisenkind – die Schrift ist.« Emil Angehrn: »Schrift und Spuren bei Derrida«, S. 348. Die Schrift ist aber auch und vor allem ihrer Ähnlichkeit zur Malerei wegen beunruhigend. So spricht Sokrates im Phaidros: »Wer also glaubt, seine Kunst in Buchstaben zu hinterlassen, und wer sie wieder aufnimmt, als ob etwas Klares und Festes aus Buchstaben zu gewinnen sei, der strotzte von Einfalt […], da er sich einbildete, die geschriebenen Reden bedeuteten noch irgend etwas mehr, als den schon
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der Zeichen der Toten zu erinnern. In Robert Walsers Text Das Bild des Vaters weist bereits der Titel auf den beschriebenen Prozess der Bildwerdung hin. Die Mikrogramme in ihrem Grau-in-Grau der Schrift repräsentieren das Schattenhafte, von dem Freud auch angesichts der ersten Bindungen gesprochen hat. Alles auf dem Gebiet der ersten Bindung, der Mutterbindung, erscheine ihm »so altersgrau, schattenhaft, kaum wiederbelebbar, als ob es einer besonders unerbittlichen Verdrängung erlegen wäre«, es sei nicht analytisch zu fassen, schreibt Freud selbst.103 In Robert Walsers Text Das Grab der Mutter lebt die tote Mutter als das »lebendige Bild«104 weiter, in Das Bild des Vaters lebt der Vater in den »Gemütern« seiner Kinder weiter. Und das bedeutet, er lebt in einem lebendigen Prozess von Fortpflanzung und Fortsetzung weiter, der einen Ursprungspunkt nicht zerstört, der vielmehr weiterhin in ihm aufgehoben ist. Auch das führt auf die Mikrographie, denn nichts weist darauf hin, dass Robert Walser das Archiv seines »Bleistiftgebiets« aufgehoben oder zerstört hätte, sobald Abschriften daraus vorlagen oder versandt waren. Im Text Das Grab der Mutter nun steigt das »lebendige Bild« der Mutter schattenhaft und mit einem Schweigen verbunden auf: »Das lebendige Bild der Lieben und der Verehrten stieg mit seinem Gesicht und mit des Gesichtes edlem Ausdruck sanft und schleierhaft hinauf aus des grünen, stillen Grabes unfassbarer Tiefe. Lange stand ich da. Doch nicht traurig. Auch ich und du, wir, wir alle kommen einst dahin, wo alles, alles still ist und beschlossen ist und alles aufhört und alles sich auflösen muß zu einem Schweigen.«105 Das Gesicht der Mutter steigt »sanft und schleierhaft« auf. Es erinnert als Paradox eines lebendigen memento mori daran, wie »alles sich auflösen muß zu einem Schweigen«. Dieses lebendige Gesicht der Mutter, vor seinem Eingang ins Grab, aus welchem es als sanftes und schleierhaftes Bild wieder aufsteigt, findet sich, wie das Schweigen, wie der Tod, an den es erinnert, und in den sich alles auflöst, auch im Text Mutter und Kind wieder, der im Sonderheft Die Welt des Kindes erscheinen wird, ein Sonderheft der anthroposophisch orientierten, über drei Jahrgänge zwischen 1926 und 1928/29 erschienenen Zeitschrift IndividuaWissenden an das zu erinnern, wovon das Geschriebene handelt. […] Denn dies Bedenkliche, Phaidros, haftet doch an der Schrift, und darin gleicht sie in Wahrheit der Malerei. Auch deren Werke stehen doch da wie lebendige, wenn du sie aber etwas fragst, so schweigen sie stolz. Ebenso auch die geschriebenen Reden. Du könntest glauben, sie sprächen, als ob sie etwas verstünden, wenn du sie aber fragst, um das Gesagte zu begreifen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht paßt; und sie selber weiß nicht, zu wem sie reden soll, zu wem nicht. Gekränkt aber und unrecht getadelt, bedarf sie immer der Hilfe des Vaters, denn selbst vermag sie sich weder zu wehren noch zu helfen.« [275A/275D.] 103 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 19, S. 519. 104 | SW 4/169. 105 | Ebd.
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lität. – Der Text Mutter und Kind beginnt rätselhaft: »Dieses Geschichtchen wird nur ein geringfügiger Beitrag sein. Vom Geben oder Inaussichtstellen ist darin die Rede. Ein Kind, das eine Hoffnung vergegenwärtigte, nahm sich eines Tages heraus, sich zu verstecken.« Das Versteckspiel aber erfährt nun im Folgenden eine Begründung, indem das Kind sich sagt: »wenn es sich verstecke, mache es sich vorübergehenderweise wertvoll, umkleide es sich für die Zeit von seinem Sichentfernen an bis zum Ausfindiggemachthaben seines Sichunsichtbarmachens mit einer Art von Nimbus.«106 In der mimetisch ungelenken Formulierung ist das Kind selbst in Aussicht gestellt oder besser sein stillschweigendes, heimliches Wiedererscheinen, das auch von der Mutter mit einem Schweigen quittiert werden wird: Es schwieg, und die Mutter schwieg ebenfalls, was das Geeignetste war, was beide tun konnten. Das Einandernichtssagen wurde als sprechend von ihnen empfunden. In bezug auf die Sprache gehört es mit zu ihrer Schönheit, daß sie sich, wenn sie versagt, wirksam zeigt, im Verstummen zu verstehen zu geben fähig sei, sie sei da.107
Das Einvernehmen im Schweigen zwischen Mutter und Kind, in dem die Sprache (demnach als etwas Drittes) anwesend scheint, ist von einem Blick akkordiert, der nicht eindeutig ist, denn die Strafe seitens der Mutter für das Verschwinden des Kindes besteht ja gerade in einem »halb vorwurfsvollen, halb freudigen Blick«. Und um diesen ambivalenten Blick auf ein wiedergefundenes, reuevolles Kind geht es auch in Robert Walsers Text Der verlorene Sohn. Im September 1928 – also etwa zur selben Zeit wie Mutter und Kind – im Berliner Tageblatt publiziert, gibt es zu diesem Text eine erste Fassung mit dem Titel Die Geschichte vom verlorenen Sohn. Das Incipit im Text Die Geschichte vom verlorenen Sohn, der auf das Gleichnis Jesu aus dem Lukas-Evangelium zurückgeht und erstmals im November 1917 in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint, kehrt dabei, wie Hans Dieter Zimmermann dargelegt hat, das Verhältnis von wörtlicher und sinnbildlicher Bedeutung um: Weil es einen Vater mit zwei Söhnen gegeben habe, die »glücklicherweise vollständig voneinander abstachen«, habe eine »lehrreiche Geschichte« zustandekommen können, so vermittelt es Robert Walsers Text.108 Die unmittelbare Bedeutung bildet den Ausgangspunkt, während es sich im religiösen Kontext, und darauf weist Hans Dieter Zimmermann hin, gerade andersherum verhält. Die sinnbildliche Bedeutung steht hier von vornherein fest, und, so Zimmermann: »Das ist ein gewichtiger Unterschied: in der Bibel steht die Glaubenslehre fest; alles, was erzählt wird, dient ihr, führt zu ihr hin. Wenn diese Lehre entfällt, die eine Deutung präsentiert, bleibt die simple Geschichte übrig, über deren Deutung wir uns erst verständigen müssen.«109 Auf der Suche nach einer Deutung ist das Parabel106 | SW 20/136f. 107 | SW 20/138f. 108 | SW 16/204. 109 | Hans Dieter Zimmermann: Der babylonische Dolmetscher, S. 29.
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hafte der Erzählung dabei möglicherweise in einem unscheinbaren Bezug auf eine andere biblische Geschichte zu finden, denn hier, in der zweiten Fassung des Textes mit dem biblischen Stoff vom verlorenen Sohn, ist wieder auch auf die Geschichte von Saul und David Bezug genommen – wie bereits im gleichnamigen, weiter oben zitierten Dramolett. In Der verlorene Sohn heißt es: »Saul, nicht faul, sondern gewerbig, angriffig, warf seinen Speer gegen den Seelenwecker und -necker. In der Tat weckte, neckte er mit seiner künstlerischen Kultur Erstarrtheiten.«110 Um das Necken geht es demnach auch hier – wie schon im Text Mutter und Kind. Worauf die »Erstarrtheiten« sich aber beziehen, wird am Ende des etwas zeitgleich entstandenen Textes Der verlorene Sohn deutlich, wo es heißt: »Das Unheimliche unserer Zeit scheint mir möglicherweise darin bestehen zu können, daß keiner mehr etwas bereuen will, daß wir zu schwächlich sind, Schwächlichkeiten zu offenbaren.« Nur der Schwache ist, weil er nicht erstarrt ist, biegsam, flexibel genug, die eigene Schwäche einzugestehen. Indem er nicht vor seinem eigenen Unvermögen flieht, sich dieses Unvermögens auch nicht mehr als einer Waffe gegen andere bedient, fehlt ihm die bösartige Fähigkeit, jene zu unterdrücken, die selbst Schwäche zeigen.111 Auf diesen David, als die Inkarnation des Schwachen, Ungerüsteten, der »die Potenz zur Impotenz hat, sein eigenes Unvermögen vermag«,112 wirft der nur scheinbar übermächtige Saul seinen Speer. Und verfehlt ihn. David ist der »Seelenwecker«, der mit seiner »künstlerischen Kultur« jedoch nicht etwa ›erweckt‹, als eine Art Wortführer, der mit einem Heilsanspruch auftritt, sondern er ist derjenige, der zur Insistenz auf dieser Art Schwäche verführt. Diese Insistenz allerdings stellt bereits eine Widersetzungsleistung dar, denn nur der »Wind verhält sich still; die Menschen schauen mich an, als erwarteten sie etwas von mir, und ich lasse mich aufs gelassenste von den Augen anschauen, deren Stahl mich poliert, hobelt, abrundet, glättet. Meiner Meinung nach gehört es mit zur Annehmlichkeit des Lebens, die Gegenwart als das Auge Gottes zu empfinden, wobei ich ihnen die Versicherung vor die Füße lege, daß mich eine gewisse Religiosität so sprechen läßt.«113 Nur der Wind verhält sich still; er allein ist unschuldig, er 110 | SW 19/107. 111 | SW 19/108; vgl. Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, S. 35. 112 | Ebd., S. 37. »Mithin ist nur diejenige Potenz, die zu Potenz und Impotenz gleichermaßen fähig ist, höchste Potenz. Wenn jede Potenz gleichermaßen Potenz-zusein wie Potenz-nicht-zu-sein ist, kann sich der Übergang zum Akt nur vollziehen, indem die eigentliche Potenz nicht zu sein in den Akt überführt (Aristoteles sagt ›gerettet‹) wird. […] Der vollkommene Schreibakt geht nicht aus dem Vermögen zu schreiben hervor, sondern aus einem Unvermögen, das sich auf sich selbst richtet und so als ein reiner Akt zu sich kommt (den Aristoteles wirkenden oder poetischen Intellekt nennt). Deshalb hat der wirkende Intellekt in der arabischen Tradition die Gestalt eines Engels, dessen Name Qalam, Feder, lautet, und dessen Ort eine unergründliche Potenz ist.« Ebd., S. 38ff. 113 | SW 19/105.
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allein greift nicht an. Der »Stahl« der Augen dagegen, der in Robert Walsers Text Freiburg der Stahl der ›scharfen Stahlfeder‹114 ist, dieser stählerne Blick ›veredelt‹: Er poliert, hobelt, rundet ab, glättet. Anders und weniger euphemistisch gesagt: Er richtet zu. Zur »Annehmlichkeit des Lebens« mag das kaum gehören; und die mystische Schau, die in der Gelassenheit der Hinnahme liegt, die darin liegt, diese Art »Gegenwart als das Auge Gottes zu empfinden«, ist zudem dadurch ironisiert, dass der Text selbst bereits eine Art Bekenntnis, eine »Versicherung« darstellt, dass er wie als Opfergabe »vor die Füße« der Lesenden (der Gottheit) gelegt ist. Am Ende des Textes Mutter und Kind nun findet sich das einvernehmliche Schweigen zwischen beiden von einem Blick akkordiert, der zwar uneindeutig ist, der jedoch einem Gesicht entstammt, das im Text Das Grab der Mutter bereits eingehender beschrieben worden ist – und zwar nicht als Gesicht der toten Mutter, sondern als das »lebendige Bild«, das dem Grab entsteigt. In diesem lebendigen Bild eines Gesichts ist dabei nicht etwa ein zweiter Körper hervorgebracht, wie in der Geste des Pygmalion,115 sondern eben nur das verschwommen erscheinende, unbestimmt konturierte, vergangen-vergängliche Bild der geliebten Mutter. Auch im Text Das Grab der Mutter steht am Ende das Schweigen. Der uneindeutige Blick, das beredte Schweigen, das »lebendige Bild« – alles das weist dabei auf das Komplement im ›Kind‹. Und das heißt auch: Es weist auf den eigenen Text, auf die Mikrogramme, die – wie das Gesicht der Mutter im Text Das Grab der Mutter – in ihrem nahezu nicht entzifferbaren Textsinn buchstäblich »schleierhaft« erscheinen. Die Schrift der Mikrogramme ist klein – wie das Kind. Die geringe räumliche Ausdehnung ist dabei auch ironisch antizipierte Bedeutungsgröße der eigenen Schrift, die im Blick der anderen nur ein unmaßgeblicher, »geringfügiger Beitrag« zu sein scheint – wie es im Incipit des Textes Mutter und Kind über den zu schreibenden Text geheißen hatte. Der Text ist in den Mikrogrammen zu lesen wie das Kind, dessen Wiedererscheinen im Text Mutter und Kind in Aussicht gestellt ist. Auch die Mikrogramme stellen als verlorener Text-Sohn das Lesen in Aussicht, geben den Textsinn jedoch nicht ohne Weiteres preis. Noch im Versteck befindlich, das seinen »Nimbus«, den Nimbus der Schrift erhält, sucht die Mutter das Kind vergeblich, und dem »Stahl« der Augen steht eine blickdichte Schrift entgegen, die opak ist wie der Körper. Auch hierin vertauschen sich, wie Hans Dieter Zimmermann es für Robert Walsers Text Die Geschichte vom verlorenen Sohn dargelegt hat, wörtliche und sinnbildliche Bedeutung, und zwar über die Semantik der Texte hinaus und auf eine ›Materialität‹ der Schrift hin bezogen, wie sie sich erst in den Mikrogrammen als solche darstellen wird.
114 | Vgl. SW 16/310. 115 | Vgl. Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, S. 48.
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IX.5 O RDNUNGEN DES G ESPENSTISCHEN Schweigen ist beredt – und es kann viele Formen haben. Auch der Traum, der im Text Der Kuss (I), im April 1913 erschienen, den Rahmen abgibt, zeichnet sich durch eine wortlose Oralität aus, die nicht die der Klage ist. Es geht um einen Kuss, »den niegesehenen, nieerlebten Kuß, der mit Worten nicht zu beschreiben ist, ganz [so] wie mit Worten, die die Sprache enthält, nicht das Grausen und das Freuen zu beschreiben ist«. Der Text in »Worten, die die Sprache enthält«, als gäbe es noch andere Worte, beginnt dabei mit einer ganzen Reihe verwunderter Fragen: Was habe ich Merkwürdiges geträumt? Was widerfuhr mir? Welch eine seltsame Heimsuchung ist gestern nacht, als ich im Schlafe dalag, urplötzlich, wie aus einem hohen Himmel herab, dem fürchterlichen Blitz ähnlich, über mich gekommen? Ahnungslos und willenlos und gänzlich bewußtlos […] lag ich da, ohne Wehr und ohne Waffen, ohne Voraussetzung und ohne Verantwortung (denn im Schlaf ist man unverantwortlich), […].116
»Grausen« und »Freuen« – beides treibt den Träumer hier um, dem ein Kuss vorgegaukelt ist, der Entsetzen provoziert, denn: Der Kuß in Träumen hat nichts gemein mit dem zarten, sanften, beidseitig gewollten und gewünschten Kuß in der Wirklichkeit. Es war nicht ein Mund, der mich küßte, nein, es war ein Kuß in der Alleinigkeit und Einzigkeit. Es war ein Kuß, der völlig und einzig nur Kuß war und weiter nichts. Etwas Unabhängiges, Seelenähnliches, Gespenstisches war’s, […].117
Zuvor aber ist bereits lokalisiert worden, woher das Bild stammt: »Der Schlaf hat innere Augen, und so muß ich denn gestehen, daß ich mit einer Art von zweiten und anderen Augen dasjenige sah, was auf mich zustürzte.«118 Nicht nur ist der Mund durch den Kuss versiegelt und dadurch zum Schweigen gebracht; auch die Augen sind, ganz im Sinne der Mystik, solche, die sich öffnen, sobald die ›ersten und eigentlichen‹ Augen im Schlaf geschlossen sind. Die Bedeutung des griechischen Wortes ›myein‹, von dem das Wort Mystik abstammt, ist dabei in den Worten von Hans Dieter Zimmermann folgende: »›myein‹ heißt ›die Augen verschließen‹, aber auch ›den Mund verschließen‹. ›Die Augen verschließen‹ meint, daß man die Wahrnehmung der äußeren Realität einstellen muß, um sich ganz auf die ›innere Wahrnehmung‹ zu richten. ›Den Mund verschließen‹ meint, daß man über das, was man dann wahrnimmt, nicht sprechen kann oder soll.«119
116 | SW 4/24. 117 | SW 4/25. 118 | Ebd. 119 | Hans Dieter Zimmermann: Der babylonische Dolmetscher, S. 288f.
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Das Sprachverbot scheint in Robert Walsers Text allerdings noch anders begründet, es hat mit der Sexualisierung durch den Kuss zu tun, denn »als ich getroffen worden war von dem Verständlichen und wieder höchst Unverständlichen, zerfloß ich auch schon in solchen gliederstürmenden, ich möchte sagen, grandiosen Wonnen, wie ich mir verbiete, es näher zu sagen.«120 Die Diskretionspflicht gebietet hier also Einhalt. Die Wahrnehmungen jedoch, und zwar beide Wahrnehmungen, die darin bestehen, dass es sich entweder um ein mystisches oder aber um ein stark erotisierendes Erlebnis gehandelt haben soll, verschieben sich dort noch einmal weiter, wo der Kuss in noch ganz anderer Weise ein auswegloses Geschehen, wo er ein unweigerlich nahendes Geschoss zu sein scheint: Ich sah es, wie es mit Windes- und Blitzesgeschwindigkeit, den unendlichen Raum zerschneidend, aus der unermeßlichen, gigantenartigen Höhe herabschoß auf meinen Mund. Ich sah’s, und ich war entsetzt, und ich war doch nicht imstande, mich zu bewegen und mich zu wehren. Auch hörte ich sein Nahen. Ich hörte es.121
Das nahende ›Geschoss‹ ist unüberhörbar. Mit dem Erwachen aber, das sich »gleichzeitig mit dem Empfang des Kusses und mit seiner himmlischen und höllischen Wirkung« vollzieht, stellen sich in Der Kuss (I) existentielle Fragen. Sie sind allerdings lediglich durch Fragewort und Satzstellung und nicht durch das entsprechende Satzzeichen, nicht durch das Fragezeichen markiert. Die Fragen haben darin das Gewicht einer Aussage – und zwar gerade in ihrer Denk- und Fragwürdigkeit: Was ist der Mann, der Mensch. Was ist der Kuß, den ich freundlich gebe, am hellen Tag oder bei Mondschein, in der friedlich-glücklichen Liebesnacht, unter einem Baum oder sonstwo, verglichen mit der Raserei des eingebildet-aufgezwungenen Kusses, geküßt von den Dämonen.122
Dieselben existentiellen Fragen nach dem Mann, nach dem Menschen stellen sich im Text Der Traum (I), der im Mai 1913 und damit einen Monat später als Der Kuss (I) erscheint. Hier heißt es in einer Negationswendung – und zwar definitiv und in einfacher Prädikation: »Ich war weder ein Mann […], noch ein Mensch, […].«123 Weiter unten im Text ist jedoch alles schon nicht mehr so klar: »Einen Körper hatte ich nicht oder kaum.«124 Was also von beidem? Hat das poetische Ich nun einen Körper »nicht oder kaum«? Das Gespenstische, das im Text Der Kuss (I) in der Enthobenheit aus dem Körperlichen liegt, das aber von einer Überwältigung durch das im Gegenteil doch besonders starke Empfinden des Körperlichen im Traum 120 | SW 4/25. 121 | Ebd. 122 | SW 4/25f. 123 | SW 4/38. 124 | SW 4/39.
IX. I MPRIMATUR DER B ILDER
konterkariert ist, ist im Text Der Traum (I) als Bildbeschreibung zu identifizieren: Eine große Frau führt einen bereits vom Incipit des Textes als Traumbild eingeführten und winzig kleinen Burschen an der Hand; spätestens, wo im Text der Weg »über eine graziös geschweifte und gebogene Brücke« führt, ist mit Blick auf Karl Walsers Ölgemälde von 1903 mit dem gleichlautenden Titel ›Der Traum‹ der Bezug nicht zu übersehen.125 Auch der kleine Knabe, der in diesem Gemälde auf einer Brücke eher schwebt, denn dass er geht, den Boden kaum berührend, und der im weißen Gewand des Pierrot der Commedia dell’arte steckt, ist von einer überdimensional großen Frau an der Hand geführt. Der Übergang in die Illusion des Gemäldes zeichnet sich in der Semantik des Textes von Robert Walser nicht explizit, wohl aber metaphorisch ab: »Da ging ich also. Ging ich? Nein, ich ging nicht: ich spazierte in der leeren Luft, ich brauchte, um zu gehen, keinen Boden; höchstens berührte ich den Boden leise mit den Fußspitzen, als sei ich ein talentreicher, von den Göttern mit allen Gaben begnadeter Tänzer. Mein Kleid war weiß wie Schnee […].«126 Die Melancholie des Pierrot, der sprichwörtlich in der Luft hängt, das heißt im Illusionsraum der Kunst, verbindet sich mit einem Gewand, das weiß ist – wie Schnee. Die weiße Kunstfigur ist dabei ephemer, »wie ein Duft«: Ich war wie ein Traum mitten im Traum, wie ein Gedanke, gelegt in einen anderen. Ich war weder ein Mann, der sich je nach dem Weibe sehnte, noch ein Mensch, der sich jemals Mensch unter Menschen fühlte. Ich war wie ein Duft, wie ein Gefühl im Herzen der Dame, die an mich dachte. […] Einen Körper hatte ich nicht oder kaum. Aus meinen blauen Augen schaute die Unschuld. Ein schönes Lächeln hätte ich gar zu gern gelächelt; doch es war zu zart; es war so zart, daß ich es nicht zu lächeln, sondern nur zu denken und zu fühlen vermochte. […] Unsagbar zärtlich schaute mich die Frau an: ich war bald ihr Kind, bald ihr Mäuschen, bald ihr Mann. Und immer war ich ihr alles. Sie war das überragend gewaltige und große Wesen, ich das kleine. Kahle Äste stachen hoch oben in die Luft. So wurde ich weiter, immer weiter weggeführt als eine Art von niedlichem Besitz, den der Eigentümer ruhig mit sich nimmt. Ich dachte nichts und wollte und durfte auch von Denken nichts wissen. Alles war weich und wie verloren. Hatte mich die Macht des Weibes zum Knirps gemacht? Die Macht des Weibes: wo, wann und wie regiert sie? In der Männer Augen? Wenn wir träumen? Mit Gedanken?127
Die »Macht des Weibes«, die von Friedrich Nietzsche bekanntlich misogyn benannt worden ist, scheint ubiquitär – oder aber gar nicht vorhanden; und jedenfalls sind die Koordinaten dieser vermeintlichen, weiblichen Macht im Text Robert Walsers nicht auszumachen.
125 | Vgl. Abb. in: Die Brüder Karl und Robert Walser, S. 51. 126 | SW 4/39. 127 | SW 4/38ff.
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Wo der Schauplatz des Textes der Schauplatz der Traumes (der Kunst) ist, überträgt sich etwas in einer wie immer gearteten, rebusartigen Abbildung vielmehr in sein nicht-identisches Doppel, überträgt es sich nicht in eine Idealität (und eben auch nicht in eine Fatalität). Die rebusartige Repräsentation konstituiert vielmehr immer schon etwas anderes als das, was sie verdoppelt oder repräsentiert; hier beginnt immer schon eine Allegorisierung.128 Genau dies reflektiert Robert Walsers Text Der Traum (I). Auch Walter Benjamin vergegenwärtigt dieses gespenstische Doppel, das nicht auf die Eins bezogen werden kann – und zwar zu eben dieser Zeit. Am 17. Juni 1918 wird er Gershom Scholem des Nachts eine Notiz über »Traum und Hellsicht« vorlesen. Unter dem Titel Bemerkungen über die Zeit im Judentum sind diese Überlegungen Benjamins, die schriftlich nicht erhalten sind, in Scholems Tagebuch eingegangen. In einer elliptischen Wiedergabe des Gesprächs heißt es in Scholems Aufzeichnung: Der Schlaf ist ein in sich geschlossener Zustand. Traum und Wachen sind Extreme eines Spektralmediums, in deren Mitte Leben und Tod stehen. »Im Schlaf ist der Leib dunkel.« Er erklärt das Gesetz der Traumdeutung. Die Notiz über Hellsicht enthält das Gesetz des Gespenstischen: Wenn ein Wesen (das immer mann-weiblich ist) verlorengeht, entsteht in einem Parallelprozeß das Doppel seines Weiblichen. Das Doppel, das nicht auf die Eins bezogen werden kann, ist das Kennzeichen des Gespenstischen.129
128 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 500. 129 | Gershom Scholem: Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923; 2. Halbband 1917-1923, hg. v. Karlfried Gründer et al., Frankfur t a.M. 2000, S. 238.
X. Die Signatur des Pazifismus
Der Traum ist Übersetzung vor einem Original.1 In diesem Sinne ist er die einzig existente Utopie einer anderen Darstellung oder Darstellung des Anderen, wie sie auch Walter Benjamin in seinen oben zitierten Überlegungen, und zwar ebenso schemenhaft-undeutlich wie luzide-hellsichtig, in einer gespenstischen Erscheinungsform, als »Doppel, das nicht auf die Eins bezogen werden kann«, vorgeschwebt hatte. Die anheimelnd schöne Ordnung eines Ineinandergeschachteltseins aber, die sich in Robert Walsers Text Der Traum (I) als »Traum mitten im Traum« dargestellt hatte (»Alles war weich und wie verloren«2), wird sich in der zweiten Fassung des Textes, Der Traum (II), die im Februar 1914 erscheint, zu einer albtraumhaften Szenerie verkehren, die Franz Kafkas Romankonvolut Der Process geradezu vorwegzunehmen scheint. Das TraumIch irrt hier, in »eine Art von Anstalt und Institut hineingekommen«, in einen »Sonderbund, in eine verriegelte, unnatürliche Absonderung, welche von höchst kalten und höchst eigentümlichen Verordnungen regiert wurde«, und es spricht, angesichts der »ringsum herrschenden Ordnung« von Grauen erfüllt, »bald zu diesem, bald zu jenem Beamten«: Meine Angst vor der ringsum herrschenden Ordnung, deren Wesen mich mit Grauen erfüllte, wurde von Minute zu Minute größer, und mit ihr vergrößerte sich die Unfähigkeit, die ich offenbarte, mich in die seltsamen, absonderlichen Verhältnisse zu schicken. […] Augenscheinlich paßte, paßte ich gar nicht zu ihnen. Warum denn nun war ich zu ihnen hineingekommen in diese enge und kalte Umgrenzung? Durch viele Zimmer und Nebenzimmer tastete ich mich; […]. Mir war, als sei ich im Begriff, in dem Meer der Befremdung zu ertrinken. 3
Jede Art von »Mitempfinden scheint gestorben seit tausend Jahren« oder »in unendliche Entfernungen gestoßen. Eine Klage wagte ich nicht zu äu1 | Vgl. Andreas Kilcher: »Der Sprachmythos der Kabbala und die ästhetische Moderne«, S. 254. 2 | SW 4/40. 3 | SW 4/106f.
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ßern. Ich hatte zu keinem, zu keinem dieser unverständlichen Menschen ein Vertrauen.« Denn: »Ohne Erbarmen mit sich selber kannten sie auch kein Erbarmen mit einem andern. Tot, wie sie waren, setzten sie nur Tote voraus.«4 Das Tödliche in der als identisch vorausgesetzten Selbst- und Fremdidentität, diese tödliche Logik ist mit dem Erwachen, das mit dem Ende des Textes einhergeht, aufgehoben. Der Alb hat ein Ende. Anders als das Aufwachen aus einem Traum, das im Text Hans, wie gezeigt, als Beginn des Ersten Weltkriegs beschrieben ist. Dieses albtraumhafte Erwachen setzt sich fort. So wird es mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs – und all seiner Toten – 1921 in einem Brief Robert Walsers an Efraim Frisch, den verantwortlichen Redakteur des Neuen Merkur, einer Monatsschrift für geistiges Leben, die zwischen 1914 und 1925 in Deutschland erscheint, heißen: Mit solchen schlechten Aufsätzen, wie dem Courtius’schen, schadet man den Menschen, schadet man seinem Land und den übrigen Ländern. Sie müssen von Selbsttäuschung tief befleckt, durchdrungen sein, wenn Sie dies vielleicht nicht einmal – merken. Wissen Sie, daß der Herr, der dies schrieb, sich über sich selbst vollkommen täuscht, daß er grollender Nationalist ist, wo er glaubt, er sei was ganz anderes. Und dieser übrigens geschickte Otto Flacke, wie er auf Frankreich schadenfröhlich blickt. Auch er ist ein Nationalist und will doch womöglich etwas anderes sein. Seine Artikel machen Haß-Propaganda. Der Neue Merkur dient, ohne daß er’s zu beabsichtigen scheint, der Revanche-Politik. Mir wollen Sie keine Hefte mehr zusenden, denn mir sind sie nicht willkommen. Ich bin Neutraler, und die Gefühlsduseleien von Artikelschreibern, die sich vom Gedanken nicht zu befreien vermögen, daß sie die Geschlagenen sind (wie klein!) interessieren mich nicht.5
Die Geschlagenen sind nach diesem Krieg im Grunde alle, so ließe sich der Brief zuletzt verstehen.6 Mit einem Gedankenstrich nur schreibt Ro4 | SW 4/107. 5 | Brief von Ende Juni 1921 an Efraim Frisch, in: Br, S. 190ff., Zitat S. 192. 6 | Im Text Theorien des Deutschen Faschismus wird Walter Benjamin schreiben: »Was heißt, einen Krieg gewinnen oder verlieren? Wie auffallend in beiden Worten der Doppelsinn. Der erste, manifeste meint gewiß den Ausgang, der zweite aber, der den eigentümlichen Hohlraum, Resonanzboden in ihnen schafft, meint ihn ganz, spricht aus, wie sein Ausgang für uns seinen Bestand für uns ändert. Er sagt: der Sieger behält den Krieg, dem Geschlagenen kommt er abhanden; er sagt: der Sieger schlägt ihn zum Seinigen, macht ihn zu seiner Habe, der Geschlagene besitzt ihn nicht mehr, muß ohne ihn leben. […] Einen Krieg gewinnen oder verlieren, das greift, wenn wir der Sprache folgen, so tief in das Gefüge unseres Daseins ein, daß wir damit auf Lebenszeit an Malen, Bildern, Funden reicher oder ärmer geworden sind.« Walter Benjamin: Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 242. Inka Mülder-Bach schreibt hierzu: »Benjamin zufolge markiert der Verlust des Krieges nicht nur eine traumatische Zäsur, die die Nachkriegsgeschichte von der Geschichte des Krieges trennt, sondern einen diskontinuierlichen Anfang, von dem her das, was dem kulturellen Bewußtsein nicht integriert werden kann, in traumatischen Sequenzen sich fortsetzt. Da-
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bert Walsers Brief dabei jene Distanzierung, das Innehalten, den Vorgang der Reflexion, der, so der Vorwurf, nicht stattgefunden hat: »wenn Sie dies vielleicht nicht einmal – merken.« Überdies aber schreibt der Brief in den Namen des Leitartiklers Ernst Robert Curtius, durch Hinzufügung eines einzigen Buchstabens nur, das französische Wort ›court‹ ein, dass in Bezug auf die Ansichten eines Menschen so viel wie ›beschränkt, unzureichend, zu kurz gedacht‹ bedeutet. Und der Wortstamm findet sich noch in einer weiteren, für den Zusammenhang dieser versteckten Invektive aufschlussreichen Verbindung wieder, dem ›courtaud‹ (= eine stämmige Person oder aber ein Pferd mit gestutzten Ohren und gestutztem Schwanz); es klingt der ›courtisan‹ (= Höfling) an, wodurch der Angesprochene auch hinsichtlich einer möglicherweise fehlenden menschlichen Größe lesbar würde, statt nur vom Ort seines Wirkens aus (›la cour‹ = der Hof). Auch Otto Flake hat in der Schreibweise seines Namens »Flacke« eine Attacke zu gewärtigen. Doch lässt sich, was Curtius betrifft, noch eine andere, positiv konnotierte Bedeutung des Höfischen assoziieren, die ja auch das ›Höfliche‹ (›courtois‹) umfasst. Es kommt ganz darauf an, wer hier was ›heraushört‹. Robert Walser allerdings kündigt an, die nächste Ausgabe des Neuen Merkur ungeöffnet retournieren zu wollen, er unterzeichnet ungeachtet dessen den Brief aber: »Im Uebrigen mit bisheriger Freundlichkeit, da obiges lediglich prinzipiell ist.«7 Ernst Robert Curtius, dessen eben erst erschienene Publikation mit dem Titel Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus in der Ausgabe des Neuen Merkur aus dem Juni 1921 von Otto Flake rezensiert wird, kommt im selben Heft in seinem Text Deutsch-französische Kulturprobleme auf Paul Claudel und dessen jüngste Arbeit Saint-Martin in der Nouvelle Revue française vom Dezember 1920 zu sprechen. Curtius lässt hier, und ganz konträr zu der sonst von ihm eingenommenen Haltung, den eigenen Text in der deutlichen Empfehlung einer Abstinenz vom geistigen Leben Frankreichs kulminieren. Der Romanist Curtius, der während des Ersten Weltkriegs sein Buch Literarische Wegbereiter des neuen Frankreich (1919) verfasst hatte, das seinen Ruhm als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich begründen sollte, schreibt in einer Art Hilflosigkeit angesichts dieses Autors, Paul Claudel: »Wenn wir den Haß [der Franzosen gegen Deutschmit aber beginnt der Begriff des Traumas in den der Geschichte einzuwandern. Der traumatische Bruch wird zur Voraussetzung, um Geschichte in der Moderne überhaupt noch zu denken.« Inka Mülder-Bach (Hg.): Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkrieges, Wien 2000, S. 15 [Einl.]. In Walter Benjamins Text zu den Theorien des Deutschen Faschismus findet sich – in der Pluralform – das »Mal« aus dem in den Zeiten des Ersten Weltkrieges entstandenen, bereits erwähnten Aufsatz Über die Malerei oder Zeichen und Mal wieder. Das Wort ›mal‹ bezeichnet dabei im Französischen sowohl das Böse, das Übel, als auch den dadurch hervorgerufenen Schmerz, das Leiden. Auch das trägt sich hier ein. 7 | Brief von Ende Juni 1921 an Efraim Frisch, in: Br, S. 193.
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land; Anm. d. Verf., KS], ins Metaphysische gesteigert, bei einem Claudel antreffen, so gehört das zu den objektiv tragischen Tatbeständen, die man einmal ins Auge fassen muß, um dann weiterzugehen.«8 Otto Flake nun, dessen bevorzugte Publikationsorte um 1918 die Weltbühne und der Neue Merkur waren, der aber auch für die Neue Rundschau schrieb, hatte sich im Ersten Weltkrieg zwar kritisch zur Rolle Deutschlands geäußert; doch die »Ideen von 1914« waren auch zu Bestandteilen einer prekären Strategie geworden, die darauf abzielte, in der Funktion des Kritikers und Erziehers, in der er sich eben selbst sah, einem zu befördernden deutschen Nationalgefühl der Geschlossenheit entgegenzuarbeiten. Die Nation sollte darin, anders als zumal in der Schweiz, über die Staatsform gestellt sein. Otto Flake »griff eine Stimmung auf, ohne von ihr affiziert zu sein«, schreibt Sabine Graf. Und die dieser Strategie notwendig »innewohnende Gefahr des Umschlags ins Nationalistische und Chauvinistische«9 zeigte sich, wenn noch nicht für alle erkennbar, bereits in Flakes Text Von deutschen Erzählern, der 1919 erscheinen wird und in dem es heißt: »Geistige von 1919, eure größte Gefahr ist: aus Liebe zu eurem geschlagenen Volk mild und nachsichtig zu sein. Euch mit seinem Schicksal zu identifizieren, ihm den Zusammenbruch ersparen zu wollen, ihm zu erlauben, daß es sich an seine Kräfte von gestern anklammert. Liebe und Treue gehören in’s menschliche Gebiet, im Geistigen heißen sie Schärfe und Unbarm8 | Ernst Robert Curtius: »Deutsch-französische Kulturprobleme «, in: Der neue Merkur, hg. v. Efraim Frisch, Jg. 5, Heft Nr. 3 (Juni 1921), München, Berlin, S. 145155, S. 150. Nicht zufällig scheint sich die Abwehr dabei an Paul Claudel zu entzünden, der, wie weiter oben gezeigt, sein Interesse an der Motiviertheit von Schriftzeichen in den im Jahre 1926 erschienenen Idéogrammes occidentaux sichtbar bekunden wird. Der Text dürfte auch Frucht des Umstands sein, dass Claudel sich in den 1920er Jahren über längere Zeiten als Diplomat in China und Japan aufgehalten und dort die Schriftkulturen studiert hatte. Am 29. Juni 1917 hat Hugo v. Hofmannsthal in seinem Tagebuch ein Exzerpt aus Paul Claudels in jenen Jahren vielgelesener Ode Les Muses (Die Musen, in der Übersetzung von Franz Blei 1917 bei Kurt Wolff in Leipzig erschienen) vermerkt: »le poème n’est point fait de ces lettres que je plante comme des clous, mais du blanc qui reste sur le papier«. Hugo von Hofmannsthal setzt hinzu: »Hier ist jene Vorstellung des Leeren, die mich verfolgt.« Hugo von Hofmannsthal: Tagebuch 29. Juni 1917 (= Aufzeichnungen aus dem Nachlaß 1917. In: Reden und Aufsätze, Bd. III, S. 538); zit.n. Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit, S. 209, Anm. 48. Der horror vacui Hofmannsthals gilt, darauf ist zu achten, nicht der Leere, sondern einer »Vorstellung des Leeren«, wie sie von Paul Claudel zu Papier gebracht ist. Das Papier hat dabei, wie die Schrift, die Macht zur Evokation; es ist nicht etwa ›toter Fleck‹, wie der ›tote Buchstabe‹, sondern es scheint von Geistererscheinungen bevölkert, zu denen es kein Relat gibt. 9 | Sabine Graf: »Als Schriftsteller leben«. Das publizistische Werk Otto Flakes der Jahre 1900 bis 1933 zwischen Selbstverständigung und Selbstinszenierung, St. Ingbert 1992, S. 266.
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herzigkeit. Hütet Euch vor der Sentimentalität, Euch in’s seelische Weimar zu flüchten […]?«10 Flake geht es nicht darum, »den Schmerz auszuschließen, sondern so stark zu sein, daß man aus ihm heraustreten kann. Da Schmerz der Urzustand ist, handelt es sich geradezu darum, ihm, der Mutter, auf eine große und heitere Weise untreu zu werden.«11 In einem Vortrag anlässlich der ersten Ausstellung von abstrakten Künstlern – »ein Beitrag zum Problem der Ungegenständlichkeit« – im Züricher Kunsthaus hatte Flake formuliert, dass diese – abstrakte – Kunst »streng, männlich, asketisch, geistig geworden« sei.12 Was den abstrakten Künstler auszeichne, sei, so Flake, dass er »Gebilde von Linien und Farben, in denen nichts mehr von dem äußeren Anlaß der Erregung zu finden ist«, schaffe. Flake beschreibt diese Art Läuterung, die in der Abstraktion bestehen soll, dabei am Beispiel eines Sommerabends, wie wir ihn bei Robert Walser in ganz anderer Weise geschildert finden. Kehren wir zum Sommerabend zurück. Es geht ein lyrischer Dichter oder ein Musiker durch ihn. In ihrer Sensibilität empfinden sie die Schönheit und die tödlichen Hintergefühle des sterblichen Schönen mindestens so stark wie der Epiker und der Maler, diese Augenmenschen. Wie lösen sie ihre Erregung? Durch Gedicht und Musik, also bereits durch etwas ganz anderes als Beschreibung: bereits durch eine selbständige Zusammenstellung und Statik von Empfindungen, die nicht direkt, jedenfalls nicht konkret sichtbar real im Abend waren. Hier haben sie in reineren, unsinnlicheren Künsten bereits eine starke Abstraktion, deren Kern ist: Abwesenheit der Gewalttätigkeit, ein sehr starkes aber unheftiges Verständnis dafür, daß ein Phänomen der Existenz, hier also der Abend, nicht durch Anschaulichkeit, sondern nur durch Anschauung erfaßt werden kann. Und diese Anschauung ist so fern von Gewalttätigkeit, daß sie Friede ist: der Dichter und der Musiker sind in diesem Fall dem Glück, der Gelassenheit, der Demut näher als der Maler, der eher der Sinnlichkeit untertan bleibt, weil er die sinnliche Form nicht verläßt. Jener Dichter und zumal der Musiker gehen heim und gestalten den Eindruck des Sommerabends, indem sie mit ganz anderen Mitteln als den sichtbaren Bestandteilen des blühenden Abends eine Welt über der realen Welt errichten, die parallel, aber nicht kongruent ist. Sie geben in Ton und Wort gewissermaßen nur noch Kurven der Erregung – und das eben ist Abstraktion.13
10 | Otto Flake: »Von deutschen Erzählern«, in: Das Tribunal 1, Heft Nr. 5 (1919), S. 60; zit.n. Sabine Graf: »Als Schriftsteller leben«, S. 217. 11 | Otto Flake; zit.n. Michael Farin: »›Das Schiff darf sich im Strudel drehn …‹ Notizen zum Leben von Otto Flake«, in: Otto Flake. Die Unvollendbarkeit der Welt. Ein Symposium über Otto Flake, hg. v. Ferruccio Delle Cave (unter Mitwirkung von Inga Hosp), Bozen 1992, S. 24-28, S. 28. 12 | Otto Flake: »Über abstrakte Kunst«, in: Otto Flake. Die Unvollendbarkeit der Welt, S. 66-75, S. 67. 13 | Ebd., S. 72f.
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Auch Flake geht es um die Abstinenz von »Gewalttätigkeit«, doch Flakes Abstraktion ist dabei zugleich Distanzierung vom eigenen Sentiment. Seine Kritik, dass, wer dem Gefühl nachgebe, »ungeistig«14 sei, baut, so Sabine Graf, dem eigenen »Rückzug von der zeitgenössischen Gesellschaft vor« und stabilisiert zugleich »die restaurativen und reaktionären Strömungen in den späten zwanziger Jahren«.15 Und bereits im Jahre 1916 hatte Flake nun für die Neue Rundschau einen Bericht aus Brüssel geschrieben, in dem es heißt: »Einmal wird in Europa die Zeit kommen, wo Deutschland für alle die von ihm politisch getrennten und selbständig gewordenen germanischen Nationen kleineren Umfangs im Süden, Norden und Nordwesten etwas wie der große Bruder sein wird, der es in der Familie am weitesten gebracht hat und ihnen allen seine Hochschulen, sein Schrifttum, seine Wissenschaft und hoffentlich auch seine bis dahin ausgeglichene Kultur zum Gastgeschenk macht, der Bruder, den man besucht und dem man zu Dank verpflichtet ist, weil er sich nicht in die eigenen Angelegenheiten mischt.«16 Flake beschreibt hier den Raum und den Albtraum der kleinen Literaturen. Und wie groß Robert Walsers Gespür für jede Form des noch so versteckten Revanchismus und Chauvinismus war, den er selbst dort aufzudecken vermochte, wo Autoren der Ruf des Pazifismus vorauseilte, wo sich im näheren Hinsehen jedoch schon früh jene deutschen Großmachtsphantasien zeigen, die später bekanntermaßen gravierend in die »Angelegenheiten« umliegender kleiner Nationen eingegriffen haben – wie weitblickend Robert Walser bereits 1921 urteilt, zeigt sich spätestens, als Flake Ende der 1920er Jahre auch jene Stimmung eines erstarkenden Antisemitismus aufgreift, »ohne von ihr affiziert zu sein«. »Im Uebrigen mit bisheriger Freundlichkeit, da obiges lediglich prinzipiell ist«,17 hatte Robert Walser im Beschwerdebrief an den Neuen Merkur geschrieben. Und was diesen Schlussstrich unter die Auseinandersetzungen über Frankreich und Deutschland in der Zeitschrift Der Neue Merkur betrifft, ist dieser natürlich nicht im erwartbaren Sinne einer Prinzipientreue ›prinzipiell‹. Robert Walser verabschiedet sich aus den nationalistischen Disputen in die Signatur, und das heißt in denjenigen Teil der Schrift, der jederzeit wiederholbar ist. Denn das ist der Sinn der Unterschrift. Aber die Signatur ist auch, und das scheint das Entscheidende zu sein, in die alleinige Verantwortung des Autors gestellt, mit ihr verantwortet der Autor. Die Unterschrift ist als Authentifizierung eng an den Körper gebunden, macht aber selbst keine eigene semantische Aussage. Die Signatur hat keine Rhetorik. Und in einem weiteren Brief aus demselben Jahr 1921, wenige Monate spä14 | Vgl. ebd., S. 74. 15 | Sabine Graf: »Als Schriftsteller leben«, S. 275. 16 | Otto Flake: »In Brüssel«, in: Neue Rundschau 37 (1916); zit.n. Sabine Graf: »Als Schriftsteller leben«, S. 267f. 17 | Brief von Ende Juni 1921 an Efraim Frisch, in: Br, S. 193.
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ter entstanden und bezeichnenderweise in Französisch abgefasst, wird Robert Walser so auch schreiben: Ma langue française n’est pas très bonne, je suis, vous le savez, un maître de la langue boche et un peu aussi de la langue des animaux comme de celle des oiseaux. Ici à Berne on a des expositions de betail et des expositions de peinture. J’ai ue celle de Hodler, qui m’a interessé. J’ai toujours beaucoup de travail, en ecrivant une nouvelle raconte, une espèce d’un petit roman.18
Die Sprache der ›boche‹ zu sprechen heißt, zwischen den Fronten zu stehen, denn ›boche‹ ist der pejorative Ausdruck der Franzosen für die Deutschen.19 Die Sprache der Vögel, also eine Sprache »symbolischen
18 | Brief von September 1921 an Frieda Mermet, in: Br, S. 194f., S. 194. Das französische Wort für Vogel ›l’oiseau‹ zeichnet sich im Schriftbild durch eine verwirrende Vokalhäufung aus, in ihm ist auch das Wort ›eau‹ für Wasser, also das Fließen des epischen Textes, enthalten. Ende des Jahres 1927, Robert Walsers Polemiken gegen Verlagshäuser beginnen spitzer und verächtlicher zu werden, erklärt er sich die immer häufiger werdende Ablehnung seiner Arbeiten wie folgt: »Die Sache begründet sich vielleicht so: wer singt, hat einen Affen, da ›singe‹ im Französischen Affe heisst. Einen Affen haben, bedeutet besoffen sein. Nun sind ja Gedichtemacher in der Tat öfter begeisterungs- oder gefühlsbesoffen, was oft keineswegs comme il faut ist. Verse = des vers: das sind außerdem noch Würmer. Da könnte leicht pfui gerufen werden können!« Brief vom November 1927 an Dr. Max Brod, in: Br, S. 314. Man hört hierin noch einmal Christian Morgensterns Bedenken in einem bereits aus dem Jahr 1906 datierenden Brief gegenüber einer Art »Affenliebe« zum eigenen Text heraus. Diese gesteigerte Affinität zum eigenen Text wollte der damalige Lektor des Cassirer-Verlags dem Autor Robert Walser nicht durchgehen lassen: »Im Augenblick der Produktion darf einem alles gefallen, alles als die schönste und beste Lösung erscheinen. Im Augenblick des Hinschreibens mag man in jeden Satz verliebt sein, hinterher aber muß diese ›Affenliebe‹ des Verfassers der anspruchsvollen und verwöhnten Strenge des Lesers weichen.« Brief Christian Morgensterns an Robert Walser (Mitte 1906), in: Br, S. 42. 19 | Über die Deutschen schreibt Robert Walser, wiederum in einem Brief: »Ich stelle in diesem Locarno-Zeitalter die Artigkeit über die Gebildetheit, etwa sechs, sieben Meter darüber. Genau habe ich es noch nicht ausgemittelt. […] Nichts gefährdet den Bildungs- und Friedenszustand so sehr wie das eingerostete, -gefrorene Schulmeisterwesen, d.h. der Dünkel des Besserwissens, Besserseins. Die Deutschen sind übrigens von ganz Europa insofern auf’s Leichtsinnigste hintergangen, verraten worden, als man sie überall als die fleißigsten, brävsten, gebildetsten, brauchbarsten, zuverläßigsten Leute gepriesen hat. Dieses törichte, schwindelhafte, seichte Loben ist die Ursache einer ganz naturgemäßen ›Einkreisung‹ geworden. Aber warum glaubten Ihre werten Landsleute all diesem dummen Lobeserhebungswust? Man kann sich ja schmeicheln lassen, aber man wird immer gut
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Unvermögens«20 zu sprechen, bedeutet, Grenzen auf andere Weise überschreiten zu können. In der Erzählung Hans hatte es über den Zeitraum vor dem Kriegsausbruch geheißen: »Aus dem lieblichen Verborgenen heraus, wo sie eine ebenso unkriegerische wie unsichtbare Armee bildeten, gaben die Waldvögel ein Nachmittagskonzert zum besten, das die verwöhntesten Ohren hätte befriedigen können.«21 »Im Märchen kann das Kind die Sprache der Vögel verstehen«, schreibt Karl Riha, »eine Sprache voller Wunder und ungeahnter Geheimnisse, die innere Sprache der Natur. Hat es aber seine kindliche Unschuld verloren, verstummt ihm diese Sprache und wird ihm rätselhaft. Das hat – übers Märchen hinaus – einen gewissen Symptom- und Symbolwert!«22 Von diesem Wert einmal abgesehen, ist der Versuch, die Sprache der Vögel zu imitieren, für Riha vor allem eben bei den Dadaisten auszumachen, in deren Kreis sich in den 1910er Jahren auch Otto Flake noch bewegte. Die Vogelsprache wird bei den Dadaisten zum Lautgedicht.23 In seinem Tagebuch Die Flucht aus der Zeit beschreibt Hugo Ball am 23. Juni 1916 so auch das Vogelartige des Kostüms, das er bei der Rezitation seiner Lautgedichte getragen hatte, darunter das Gedicht Karawane, das in der Druckversion 1917 in unterschiedlichen Schrifttypen gesetzt sein wird, so dass sich die verschiedenen Klangfarben des Gedichts, die unterschiedlichen Stimmen der Vögel, auch graphisch widerspiegeln. Ball tun, ein lächelndes, innerliches Fragezeichen dazu zu setzen.« Brief von Ende Februar/März 1926 an Therese Breitbach, in: Br, S. 264f. 20 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 416. Die Tiersprache repräsentiert nach Derrida »den noch sehr lebendigen Mythos des Stillstands, des symbolischen Unvermögens, der Nicht-Supplementarität. Wenn wir den Begriff der Animalität nicht auf seinen Gehalt an Erkenntnis oder Verkennung hin, sondern in der ihm zugedachten Funktion betrachten, dann wird ersichtlich, daß er ein Moment des Lebens kennzeichnet, das noch nichts weiß von all dem, dessen Erscheinen und Spiel zu beschreiben beabsichtigt ist: das Symbol, die Substitution, den Mangel und die supplementäre Addition usw. Ein Leben, das noch nicht in das Spiel der Supplementarität eingetreten ist und gleichzeitig sich von ihm noch nicht hat angreifen lassen: ein Leben ohne Aufschub und ohne Artikulation.« (Hervorh. v. JD.) 21 | SW 7/195. 22 | Karl Riha: »Die Sprache der Vögel«, in: Der Alltag. Sensationsblatt des Gewöhnlichen (Schwerpunkt: Tiere), Nr. 3/86, Zürich 1986, S. 93-102, S. 93. 23 | In seinem Erinnerungsbuch mit dem Titel Am Anfang war Dada hat der Berliner Dadaist Raoul Hausmann zur Geschichte des Lautgedichts bemerkt, dass bereits vor dem Ersten Weltkrieg u.a. der russische Dichter Chlebnikov etwas dem Lautgedicht Vergleichbares vorweggenommen hatte und dass Hugo Ball, vermittelt durch den Maler Wassily Kandinsky, hiermit vertraut gewesen war; so wurden 1916 im Cabaret Voltaire in Zürich in Anwesenheit von Hugo Ball die Phoneme Chlebnikovs rezitiert. Hugo Ball hat die von Tristan Tzara in seiner eigenen Dada-Chronik als solche bezeichnete »Ästhetik der Tiere« lediglich aufgegriffen und weitergeführt. Vgl. Karl Riha: »Die Sprache der Vögel«, S. 98.
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war zu seiner Rezitation mit einem »Schamanenhut« angetan gewesen, und er schlug »fleißig mit den Flügeln« – dann aber befällt ihn eine gewisse Ratlosigkeit: Wie sollte ich’s aber zu Ende führen? Da bemerkte ich, daß meine Stimme, der kein anderer Weg mehr blieb, die uralte Kadenz der priesterlichen Lamentation annahm, jenen Stil des Meßgesangs, wie er durch die katholischen Kirchen des Morgen- und Abendlandes wehklagt. Ich weiß nicht, was mir diese Musik eingab. Aber ich begann meine Vokalreihen rezitativartig im Kirchenstile zu singen und versuchte es, nicht nur ernst zu bleiben, sondern mir auch den Ernst zu erzwingen. Einen Moment lang schien mir, als tauche in meiner kubistischen Maske ein bleiches, verstörtes Jungensgesicht auf, jenes halb erschrockene, halb neugierige Gesicht eines zehnjährigen Knaben, der in den Totenmessen und Hochämtern seiner Heimatspfarrei zitternd und gierig am Munde der Priester hängt. 24
Im Versuch, sich den eigenen Ernst im Vortrag urkomischer Lautgedichte zu erzwingen, verfällt der Rezitator in die Kadenz der Klage. Und unter der Maske des Kunstgedichts taucht nun, im ›Angesicht‹ der im Singsang miterinnerten kirchlichen Autoritäten, ein Kindergesicht auf – das eigene Gesicht vergangener Tage, bleich und verstört. In Balls Tagebucheintrag folgt nun der Satz: »Da erlosch, wie ich es bestellt hatte, das elektrische Licht, und ich wurde vom Podium herab schweißbedeckt als ein magischer Bischof in die Versenkung getragen.«25 In der – gerade im Abbruch des Traums der Kunst – anbrechenden Dunkelheit und Entborgenheit wechselt Ball auf die autoritäre andere Seite, wird in der Depersonalisation nun selbst zum Würdenträger, zum Hohepriester der Kunst. Tags darauf aber wird er das eigene Anliegen noch einmal rekapitulieren: Vor den Versen hatte ich einige programmatische Worte verlesen. Man verzichte mit dieser Art Klanggedicht in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchemie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk. 26
Das Lautgedicht ist Antwort auf »die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache«, es ist Antwort auf die Kriegspropaganda. Das Wort wird darin durch seine Preisgabe gerettet. Das Wort aber lässt sich in seine Phoneme zertrümmern, wie Hugo Ball dies tat, oder es lässt sich durch eine überbordende Vervielfachung in scheinbaren Synonymen anders relativieren. So wird Robert Walser kurze Zeit nach seinem in Französisch abgefassten Brief zur Sprache der Vögel den dort erwähnten 24 | Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 106. 25 | Ebd. 26 | Ebd.
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»petit roman« in einem Schreiben an den Schweizerischen Schriftstellerverein wie folgt erläutern: »Ich habe einen Roman oder längere ›Geschichte‹ vor. Der Plan besteht freilich erst vorläufig nur in Gedanken.«27 Die Vielzahl der relativierenden Füllwörter, es sind immerhin vier – »freilich erst vorläufig nur« –, lässt den Status des Romans Theodor denkbar vage. Und schon das Theodor-Fragment, das im Gegensatz zum Roman, der verschollen ist, erhalten geblieben ist, »substituiert sich selbst«, wie Susanne Andres in Anlehnung an eine Formulierung aus der Ästhetischen Theorie von Theodor W. Adorno schreibt. Das Fragment substituiert sich selbst »durch den Prozeß seiner eigenen Produktion«.28 Und das verhindert zwar eine Identifikation – aber auch den Umschlag in ihr Gegenteil. 27 | Brief an den Schweizerischen Schriftstellerverein vom 28. November 1921, in: Br, S. 196. 28 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 135 sowie Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1973, S. 46f. Adornos eigene Dialektik in dieser aus dem Nachlass herausgegebenen Schrift führt dabei noch weiter und in einen neuerlichen Umschlag: »In schroffem Gegensatz zur herkömmlichen kehrt die neue Kunst das einst versteckte Moment des Gemachten, Hergestellten selbst hervor. […] Daraus ist das Vergnügen geworden, Kunstwerke durch den Prozeß ihrer eigenen Hervorbringung zu substituieren. Virtuell ist jedes heute, als was Joyce Finnegans Wake deklarierte, ehe er das Ganze veröffentlichte, work in progress. Was aber der eigenen Komplexion nach nur als Entstehendes und Werdendes möglich ist, kann nicht ohne Lüge zugleich als Geschlossenes, ›Fertiges‹ sich setzen. Kunst vermag aus der Aporie nicht willentlich hinauszugelangen. Adolf Loos schrieb vor Dezennien, Ornamente ließen sich nicht erfinden; was er anmeldete, will sich aber expandieren. Je mehr in Kunst gemacht, gesucht, erfunden werden muß, desto ungewisser, ob es sich machen und erfinden läßt. Radikal gemachte Kunst terminiert im Problem ihrer Machbarkeit. Am Vergangenen fordert das gerade zum Protest heraus, was arrangiert, kalkuliert ist, nicht, wie man es um 1800 genannt hätte, wiederum Natur geworden. Der Fortschritt der Kunst als Machen und der Zweifel eben daran kontrapunktieren einander; tatsächlich wird jener Fortschritt begleitet von der Tendenz zur absoluten Unwillkürlichkeit von den automatischen Niederschriften vor bald fünfzig Jahren bis zu Tachismus und Zufallsmusik heute; mit Recht ist die Konvergenz des technisch integralen, vollends gemachten Kunstwerks mit dem absolut zufälligen konstatiert worden; allerdings ist das scheinbar überhaupt nicht Gemachte erst recht gemacht.« Adornos Gedanke findet sich bereits in Friedrich Schlegels 238. Athenäum-Fragment – allerdings mit einem signifikanten Unterschied: »So wie man aber wenig Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das Produzierende mit dem Produkt darstellte, und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie die in modernen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen Selbstbespiegelung, […], vereinigen, und
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X.1 U NDEUTLICHKEIT DES A NFANGS : »N EBELMEER « Aus den publizistischen Disputen zieht sich Robert Walser als »Neutraler«, wie er sich im Brief an den Neuen Merkur 1921 nun nennt, in das zwischen Deutschland und Frankreich vermittelnde »Brouillon« zurück. Mit diesem Synonym ist das Verfahren der Bleistiftschrift im Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 bezeichnet. Und in der Tat schreibt das zugehörige Verbum den Zustand einer Krisis: Etwas ist durcheinandergebracht, entzweit, gestört, überlagert, verwirrt. Die Wendung ›écrire au brouillon‹ bedeutet ›ins Unreine schreiben‹ und eine ›petite brouille familiale‹ ist ein kleiner Familienzwist. Nah verwandt sind die ›brouillars‹, die Kritzeleien, die bereits Montaignes Essays zugrundeliegen. Homophon – und vielleicht auch synonym – erscheint dabei auch das Wort ›brouillard‹: der Nebel, der Nebelrauch – die Umdüsterung der Melancholie. Und wirklich wie aus einem Schriftnebel heraus erscheint ja in der Entzifferung der Mikrogramme die Bedeutung der Zeichen aus der graphitgrauen verdunkelnden Schrift. Für das »Brouillon« lässt sich im Deutschen keine Übersetzung finden, es sei denn im poetischen Bildtitel des romantischen Malers Caspar David Friedrich: im »Nebelmeer«, das auch in einem Text Robert Walsers figuriert. Wo die Äste von Bäumen in den Texten der Bieler Prosa zumeist – als einladende Arme – mütterlich konnotiert sind, ist dies jedoch nun im Prosatext Die Gedichte (II), der 1919 in einem bibliophilen Druck erscheint, anders – und es wird stattdessen heißen: »Die Äste der Bäume verglich ich mit Kinderhänden, die sich ineinander krümmten, als sagten sie: bitte, bitte! Dann das Nebelmeer und ich und die Gedichte, die teils entstanden, teils erst im Werden waren, die ungebornen und die andern, die bereits aufgezeichnet worden.«29 Die Niederschrift der Gedichte verbindet sich mit einer Niederkunft, wobei die ›geborenen‹ Gedichte – »die bereits aufgezeichnet worden« waren – zugleich »die andern« bleiben, und das bedeutet auch: namenlos. Das Hilfsverb, das ihnen zum Sein verhelfen, und das Tempus, das sie datieren würde, fehlen. Elliptisch, wie von der Lyrik selbst affiziert, öffnet sich der fragmentarisierte Satz nach einer unerwarteten Richtung hin, erinnert er sich gleichsam mittels einer Assonanz, geht im Satz zurück und arretiert im »ungebornen«. Und in der Tat ist der Vers der Lyrik auf das lateinische versus zurückzuführen; der Vers ist das Umgewendete, das zum Fortschreiten, aber auch zur Vergangenheit hin Umgewandte: »Der Vers (versus, von verto, Wenden, Zurückkehren, im Gegensatz zu prorsus, dem geradlinigen Fortschreiten der Prosa) gibt mir nämlich zu verstehen«, schreibt Giorgio Agamben, in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.« Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 204. Kunstwerke werden bei Friedrich Schlegel nicht, wie viel später bei Adorno, durch den Prozess ihrer eigenen Hervorbringung substituiert. Nicht Ersetzung findet statt, sondern vielmehr Koexistenz. 29 | SW 16/259.
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»daß sich diese Worte je schon ereignet haben, wiederkehren werden und folglich die Instanz des Wortes, die in ihm stattfindet, unfaßbar ist. Mittels des musikalischen Elements gedenkt das dichterische Wort des eigenen unzugänglichen Ursprungsorts und sagt die Unsagbarkeit des Sprachereignisses (findet also das Unauffindbare).«30 Hermetisch und gleichermaßen offen, was seine graphische Form betrifft, als Klang offen, was die Öffnung des Mundes bei der Lautbildung betrifft, weist der Buchstabe ›o‹ in Robert Walsers Text Die Gedichte (II) in der Verbform ›worden‹ durch Assonanz auf das Wort »ungebornen« zurück, wodurch fast unmerklich markiert ist, dass auch diejenigen Gedichte, »die bereits aufgezeichnet worden« waren, ungeboren sind, was bedeutet, dass sie zur Welt erst noch kommen müssen. Und neben diesen ›Ungeborenen‹ stehen die ›Gewordenen‹, die allerdings ebenfalls nicht sind, die nie ausschließlich gegenwärtig existieren – die einen sind gleichsam noch, »die andern« schon tot. Nicht aber geht es dabei um jenes Land, dem ein Gedicht von Paul Klee den Namen Elend (etymologisch von alius = ›ein anderes Land‹) gegeben hat. Land ohne Band, neues Land, ohne Hauch der Erinnerung, mit dem Rauch von fremdem Herd. Zügellos! wo mich trug keiner Mutter Schoß. 31
Die Geographie und Politik eines Landes, »in dem der Mensch nicht durch Geburt auf die Welt kommt und in dem er die Gestalt des Sterblichen ablegt«32 entspricht nicht jener »tiefen Neigung«, die in Robert Walsers Text Tobold (II) »zurück in die schon vor der Geburt für uns existierenden Länder führt«.33 Es ist kein schmerzloses Land, das in Robert Walsers Text Die Gedichte (II) beschworen ist, wie jenes, das bei Paul Klee den Titel Elend trägt, der das Sehnsuchtsbild im Übrigen deutlich konterkariert. Mitten im »Nebelmeer« und, um ins Französische zu wechseln, in einem überdeterminierten ›mer/mère de la brouillard‹ der unendlichen Potentialität unentbundener Gedichte, sitzt im Text Die Gedichte (II) das verschwindend kleine poetische »ich« zwischen der einen und der anderen Kopula: »… das Nebelmeer und ich und die Gedichte …«.34 30 | Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod, S. 128f (Hervorh. v. GA). 31 | Paul Klee: »Elend«; zit.n. Giorgio Agamben: Die Sprache und der Tod, S. 159. 32 | Ebd. 33 | SW 5/248. 34 | SW 16/259 (Hervorh. d. Verf., KS).
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Der Satz zuvor adressiert dabei mit flehenden, betenden »Kinderhänden« Maternalität. Und doch ist die Überschwemmung, als Bild einer traumatischen Reizüberflutung und der Hilflosigkeit und Ohnmacht, die es bedeutet, ohne helfende Hand inmitten eines Meeres und damit inmitten eines wahrlich unwegsamen Gebietes zu sitzen, per se gleichermaßen nichtig. Das Bild löst sich auf wie der Nebel in dieser unklaren Demarkation eines Wasserspiegels, auf der Grenze zwischen den Elementen Wasser und Luft, in einem »Nebelmeer«, das beides zugleich ist: Wasser und Luft. Das »Nebelmeer« ist Reich, Gegenreich und überdies ein Zwischenreich, als die Grenze zwischen beidem. Und die Grenze selbst ist unklar, sie ist eine die Grenze opakisierende, ›vernebelnde‹ Nicht-Grenze. Ad infinitum. Und diese Art der unendlichen zerstäubenden Differenzierung oder besser der Indifferenzierung wiederholt sich im Text Die Gedichte (II) nun noch: Einmal stand nachts ein Mann am Weg, den ich für Jesus Christus hielt, obschon er sicher ein alltäglicher Mensch war. Für mich war er der Höhere. Ähnlich ging es mir mit vielen Erscheinungen. Alles war nah und vertraut und zugleich fremd. Ich war dieses Eigentümliche, Zwiefache und Übertragene selber. Ein Himmel war sowohl über wie in mir. 35
Wo hier »Jesus Christus« der »Höhere«, wo Transzendenz materialistisch, als ein Verhältnis der Subordination, der Unterordnung gedacht ist, heißt es im Text Robert Walsers mit dem Titel Maler, Poet und Dame dagegen: »Hier bin ich ich selbst und höher kann ich nirgends stehen.«36 Niemand – und sei es der ›Höhere‹ – kann hier noch höher stehen. Transzendenz wohnt dem doppelt figurierten poetischen ›ich‹ selbst inne. Im Prosatext Die Gedichte (II) aber heißt es: »Ich war zeitweise wie außer mir, flog um mich und über mir wie ein Adler.«37 Das poetische Ich betrachtet sich hier nicht nur, es wird von einer höheren Warte aus selbst betrachtet, aus der Perspektive des Raubvogels. Wo die Depersonalisation sich aber in der simultanen Bewegung des Aufsteigens über und des Hinabsehens auf sich selbst vollzieht, und wo letztere Bewegung sich in Gestalt des Adlers vollzieht, als dem Tier, das im Luftraum ja gerade seinen natürlichen Lebensraum hat, liegt keine Spaltung im erwartbaren Sinne vor. Und im frühen Text Ein Maler wird bereits deutlich, was es mit diesem Raubvogel auf sich hat: »Das Auge ist wie ein Raubvogel, es sieht die geringfügigste abweichende Bewegung. Die Hand fürchtet aber auch das Auge als ihren ewigen Quäler.«38 Es geht also um einen Kampf im Produktionsprozess; im Text heißt es: 35 | SW 16/258. 36 | SW 16/193. 37 | SW 16/259. 38 | SW 1/75.
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M IKROPOETIK Dort der gleichgültige, unbewegliche Gegenstand, sei es Natur oder Mensch oder Phantasie, hier die durcheinanderliegenden Farben, zwischen beiden die zitternde, fassende, unfaßliche Hand, das begehrende, sich bezwingende, mühsam sich haltende Auge: das ist das immer wiederkehrende Schicksal des Malers. Ein immer sich erneuernder Kampf. – 39
Der Gegenstand, der hier selbst Phantasie sein kann, was eher auf die Literatur als auf die bildende Kunst weist, soll mit Farben, die – durcheinanderliegend – nun wieder auf die Kunst weisen, auf Pinsel, Werkzeuge und Schreibwerkzeuge, zur Darstellung kommen. Im Gemenge finden sich dabei, beim Dichter wie beim Maler, die Hand, die ausführt, und das Auge, das überwacht: »Ein immer sich erneuernder Kampf. – «
39 | SW 1/80.
Relais: Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief
David Wellbery hat die Auffassung formuliert, dass »Gefühle, von denen die Stimmungen eine besonders strukturierte Schicht ausmachen, keine Ereignisse eines irgendwie konstituierten ›Inneren‹ sind, sondern Weisen des Außer-sich-Seins und also immer schon räumlich«.1 Und so wäre der Text Robert Walsers mit dem Titel Die Gedichte (II) gerade nicht Beschreibung einer Depersonalisation, sondern Beschreibung eines Gefühls, das sich nur in einer hierfür nicht besonders präparierten Umgebung artikuliert. ›Außer sich‹ wie das poetische Ich in Robert Walsers Text Die Gedichte (II) ist auch die Figur des Lord Chandos in Hugo von Hofmannsthals kanonischem Text mit dem lakonischen Titel Ein Brief, der an Walter Paters Band Imaginary Portraits (Imaginäre Portraits) denken lässt. Die deutsche Übersetzung von Paters Band war 1903 im Insel Verlag erschienen und bereits Ende November 1902 von Franz Blei rezensiert worden. Etwa zur selben Zeit entstand der Chandos-Text; sein Erstdruck in zwei Teilen erfolgte im Oktober des Jahres 1902 in der Berliner Tageszeitung Der Tag. Vom Autor ursprünglich als Teil einer Sammlung fiktiver Gespräche und Briefe geplant, die den Titel Das Buch der transparenten Schatten tragen sollte, bildet der Text von Hofmannsthal die fiktive Antwort des Lord Chandos auf einen fiktiven Brief des Francis Bacon, der Chandos an seine einstigen, hochfliegenden literarischen Pläne erinnern sollte. Nun aber starrt der Titel eines solchen geplanten Werks den Chandos aus Bacons Brief »fremd und kalt« an. Er kann »ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum erstenmale vors Auge«.2 Die Buchstaben sind erst zu synthetisieren – wie in Robert Walsers Mikrographie. Chandos rekapituliert im Brief an Ba1 | David Wellbery: Artikel »Stimmung«, S. 730. 2 | Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hg. v. Rudolf Hirsch et al., Bd. XXXI, hg. v. Ellen Ritter, Frankfurt a.M. 1991, S. 45-55, S. 46 [Varianten und Erläuterungen: S. 277-300].
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con nun die eigenen dichterischen Pläne, die mittlerweile obsolet erscheinen: »Ich wollte die Fabeln und mythischen Erzählungen, welche die Alten uns hinterlassen haben, und an denen die Maler und Bildhauer ein endloses und gedankenloses Gefallen finden, aufschließen als die Hieroglyphen einer geheimen, unerschöpflichen Weisheit, deren Anhauch ich manchmal, wie hinter einem Schleier, zu spüren meinte.« Chandos hatte dazu in den Figuren der griechischen Mythologie verschwinden wollen – »und aus ihnen heraus mit Zungen reden«.3 Und früher wurde ihm dabei auch »nie ein Scheinhaftes gewahr«; alles erschien ihm vielmehr als Gleichnis »und jede Kreatur ein Schlüssel der andern«. Und so sollte das ganze enzyklopädische Werk auch den Titel Nosce te ipsum führen. Nun aber ist alles anders, denn Chandos ist »völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen«.4 Die abstrakten Worte zerfallen ihm »im Munde wie modrige Pilze« und alle Urteile, im täglichen Gespräch leichtfertig abgegeben, erscheinen ihm bedenklich, »so unbeweisbar, so lügenhaft, so löchrig wie nur möglich«.5 Stattdessen heben sich alle »stummen und manchmal unbelebten Kreaturen« ihm »mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen«, dass sein »beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag«: Es erscheint mir alles, alles, was es gibt, alles, dessen ich mich entsinne, alles, was meine verworrensten Gedanken berühren, etwas zu sein. Auch die eigene Schwere, die sonstige Dumpfheit meines Hirnes erscheint mir als etwas; ich fühle ein entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel in mir und um mich, und es gibt unter den gegeneinanderspielenden Materien keine, in die ich nicht hinüberzufließen vermöchte. Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffren, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken.6
Bedeutsam ist der fiktive Adressat des Chandos-Briefes: Francis Bacon ist eine Figur, die in ihrer Referenz auf den realen Philosophen an der Wende zum 17. Jahrhundert den Text doppelbödig werden lässt. Zum Rahmen des Chandos-Briefes werden so auch die Schriften von Francis Bacon, zum Rahmen wird beispielsweise Bacons Unterscheidung zwischen einem kongruenten Zeichen (ex congruo) und einem willkürlichen Zeichen (ad placitum), die sich 1916 in Saussures These von der Arbitrarität des Zeichens wieder formuliert finden wird. In Hofmannsthals Text scheint gerade auch sie zur Disposition zu stehen. Weil es Chandos unmöglich geworden ist, Begriffe wie ›Geist‹, ›Seele‹ und ›Körper‹ als diskrete Einheiten zu artikulieren, weil es unmöglich geworden ist, ›Dinge‹ beim Namen zu nennen, sie zu objektivieren und 3 | Ebd., S. 46f. 4 | Ebd., S. 48. 5 | Ebd., S. 49. 6 | Ebd., S. 52.
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sich dadurch auf sprichwörtliche Art ›vom Leibe zu halten‹, vollzieht sich an den von Chandos ›in den Mund genommenen Worten‹ gleichsam eine ›Fleischwerdung der Schrift‹. Die Begriffe werden im literalen ›Zungenreden‹ zur somatisch erfahrenen Phänomenalität einer Entropie des Organischen: »die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze«.7 Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit einem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. 8
Der Begriff ist verloren. Und der modrige Pilz, zu dem das Wort geworden ist, enttäuscht den destruktiv-produktiven Wunsch nach einer Inkorporation und löst vielmehr eine ideosynkratische Wahrnehmung aus, bei der die »im Munde zuströmenden Begriffe plötzlich eine solche schillernde Färbung annahmen und so ineinander überflossen«,9 dass der Satz kaum beendet werden konnte. Auch die Syntax ist verloren. Das Farbschillern, das das des Regenbogens ist, der alle Farben enthält und damit im Gegensatz zum Schwarz-Weiß der Schrift steht und der im Text explizit eine »Allegorie« der Religiosität bildet, kehrt dabei auch im eigenen Körperbild wieder: »Es ist mir dann, als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkelte. Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte.«10 Um ein anderes Medium des Ausdrucks geht es also – und um Empathie, aber: »Es war viel mehr und viel weniger als Mitleid; ein ungeheures Anteilnehmen, ein Hinüberfließen in jene Geschöpfe oder ein Fühlen, daß ein Fluidum des Lebens und des Todes, des Traumes und Wachens für einen Augenblick in sie hinübergeflossen ist – von woher?«11 Der Blick richtet sich noch einmal auf den Adressaten des Briefes: Francis Bacon, auf den die wissenschaftlichen Methoden der Induktion, des Experiments, auf den das Epistem der Empirie zurückgeht, privilegiert diese Anschauungen selbst noch in der Koexistenz mit anderen Wissensformen, die erst in der Folge zurückgedrängt werden. Vieles entnimmt er der kryptologischen Literatur, die sich um eine Universalschrift, um eine stumme 7 | Ebd., S. 49. 8 | Ebd. 9 | Ebd. 10 | Ebd., S. 54. 11 | Ebd., S. 51.
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Sprache bemüht, die für alles Begriffe zu finden und zwischen Dialekten zu vermitteln sucht.12 In den Essays von Francis Bacon, die Hofmannsthal für seine Arbeit am Chandos-Brief konsultiert hatte, heißt es in der Einleitung zum Text mit dem Titel The Wisdom of the Ancients so auch: Men have proposed to answer two different and contrary ends by the use of parable: for parables serve as well to instruct or illustrate as to wrap up and envelop, so that though, for the present, we drop the concealed use, and suppose the ancient fables to be vague, indeterminate things, formed for amusement, still the other use must remain, and can never be given up. And every man, of any learning, must readily allow that this method of instructing is grave, sober, or exceedingly useful, and sometimes necessary in the sciences, as it opens an easy and familiar passage to the human understanding, in all new discoveries that are abstruse and out of the road of vulgar opinions. […] For as hieroglyphics were in use before writing, so were parables in use before arguments. And even to this day, if any man would let new light in upon the human understanding, and conquer prejudice, without raising contests, animosities, opposition, or disturbance, he must still go in the same path, and have recourse to the like method of allegory, metaphor and allusion.13
Francis Bacon leitet die Philosophie aus der Poesie ab: »as hieroglyphics were before letters, so parables were before arguments«. Lord Chandos, Hofmannsthals Figur im Text, ist es hingegen unmöglich geworden, »irgendwelches Urteil an den Tag zu geben«, weil er von seinem eigenen »Geist« gezwungen ist, »alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen«.14 Die Unheimlichkeit der Nähe, die sich durch die Polysemie des Wortes ›Geist‹ gespeist findet und spätestens im Plural der Geister gespenstisch wird, vergrößert sich offenkundig korrelativ zum Bewusstsein der »Leere«, die »hinter den Worten« steht, zu den Abstrakta einer Sprachoberfläche, die ohne Bilder ist – und in diesem Sinne ohne die Interiorität einer Seele auskommen muss. ›Geist‹ ist bereits bei den Brüdern Grimm: »(uns) schon ein ziemlich bildloser Begriff, so jung er ist«.15 Das Wörterbuch der Brüder Grimm verzettelt im umfangreichen Lemma zum ›Geist‹ dabei den im Barock noch immer merklichen Versuch, einen Unterschied zwischen ›Geist‹ und ›Seele‹ zwar schärfer fassen zu wollen, dabei aber zugleich »die 12 | Vgl. Michael Friedrich: »Chiffren oder Hieroglyphen?«, S. 104f. Hierin liegt ein Konnex zur Kabbala und zum Topos einer gestischen Universalsprache (Lavater). Über Wilhelm Wundt werden diese Auffassungen im 20. Jahrhundert auch zu Ernst Cassirer und Aby Warburg finden. 13 | Francis Bacon: Essays or Counsels, Civil & Moral with other Writings; zit.n. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, Bd. XXXI, S. 279. 14 | Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, S. 49. 15 | Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 5 (Gefoppe – getreibs), S. 2681.
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einheit nicht zu verlieren, wobei denn einmal der geist der seele, einmal diese jenem begrifflich untergeordnet oder eingefügt wird«. Im 16. Jahrhundert sind Geist und Seele noch als ein Wesen gedacht, »nur nach verschiedener Richtung wirkend«. Jakob Böhme, Hugo von Hofmannsthal aus eigenen Lektüren gut vertraut, vereint beides noch im Kompositum eines »seelen-geistes«. Und noch im 18. Jahrhundert firmiert der ›Geist‹ immer auch als Oberbegriff für die ›Seele‹.16 Erst die theoretische Sprache der Romantik privilegiert den ›Geist‹:17 »der geist der liebe muß in der romantischen poesie überall unsichtbar sichtbar schweben«,18 heißt es in Friedrich Schlegels Brief über den Roman aus dem Gespräch über die Poesie. In Robert Walsers Umschrift im Text Leben eines Malers aber liest sich dieselbe Sentenz – bald nach einer Erwähnung von Clemens Brentano, der zu jenen Dichtern gehöre, die, wie es im Text heißt, »innerhalb der Literatur absolute Schönheiten« seien – nun so: Man sollte niemals »literarisch« sagen und damit etwas Ungünstiges ausgesprochen zu haben meinen. […] Gewissen Leuten ist es glücklicherweise gänzlich unmöglich, die Dichter sowohl wie das, was sie gedichtet haben, unbeachtet zu lassen; vielmehr finden viele Menschen eine natürliche Erbauung in den Büchern, die, wie alle Kunst, erlebt werden können wie das Leben selber. Leben und Kunst spielen wie freie Wellen nebeneinander. Romantisch sein heißt vielleicht weiter nichts als die Fähigkeit haben, durch die Schönheiten des Lebens und die Größe der Welt bezaubert zu werden, Liebe für die Erscheinungen zu fühlen und neben dem Sichtbaren auch das Unsichtbare zu sehen.19
Natürlich ist im Grunde eher die Rede von jenen Leuten, denen es gänzlich unmöglich zu sein scheint, die Dichter und ihre Produktionen zu würdigen. Was einer Fähigkeit bedarf, ist nicht etwa immer schon vorhanden; es wird erst erwirtschaftet. Und Geist ist utilisierbar geworden; doch fährt der Text nun, in Bezug auf den Künstler, im Gegenteil fort: »Innig ist jedem Künstler ein Gefühl eingegraben, dass die Menschenstärke schwach und klein im Verhältnisse zur Größe der Welt sei.«20 Wieder, wie so oft bei Robert Walser, ist signifikant, was nicht geschrieben worden ist: Jedem Künstler ist nicht etwa ein Gefühl der Ohnmacht ›eingegeben‹, sondern »eingegraben« – wie als Krypte, die bereits im Buchstabenmaterial deutlich an das des Grabs angelehnt ist. Aus diesem Grab aber gibt es oder gibt es kein Entkommen? Das Modrige des Pilzes, des in den Mund genommenen Wortes in Hofmannsthals Chandos-Text, das mit dem englischen Wort mother etymolo16 | Vgl. ebd., S. 2662f. 17 | Vgl. ebd., S. 2674. 18 | Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 333f. 19 | SW 7/20. 20 | SW 7/20.
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gisch verwandt ist, ruft nicht nur das die Gebeine und Kadaver bergende Totenreich auf, sondern eine unumkehrbare Prozessualität, es verbindet sich mit der Hinfälligkeit, ist memento mori. Im Modrigen, Modernden findet sich aber auch der ›Mord‹, es findet sich das Moderne, es findet sich die Moderne als anagrammatisches Zerfallsprodukt wieder. Das Bild denkt den Durchbruch von Neuem und die Entropie als beständige Tendenz zum Verfall in einem: Die Gabe der Natur, der Pilz, als die im Übrigen einzige Frucht des mythischen deutschen Waldes, zerfällt. Und der Zerfall betrifft – im Kontrast zur althergebrachten Metaphorik der Dichtung mit ihren Blüten und Früchten – das literarische Bild selbst, den Verfall einer ›wie Pilze aus dem Boden‹ schießenden Einbildungskraft, der halluzinogenen Kraft des poetischen Bildes. Der Pilz ist ein Symbol unmöglich gewordener Symbolisierung, und die Wiederholung des Lexems in den »modrigen« Mauern deutet dabei auf einen Nexus zweier Bildkomplexe: Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgend einem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen. Ja, es kann auch die bestimmte Vorstellung eines abwesenden Gegenstandes sein, dem die unbegreifliche Auserwählung zuteil wird, mit jener sanft und jäh steigenden Flut göttlichen Gefühls bis an den Rand gefüllt zu werden. So hatte ich unlängst den Auftrag gegeben, den Ratten in den Milchkellern einer meiner Meierhöfe ausgiebig Gift zu streuen. Ich ritt gegen Abend aus und dachte, wie Sie vermuten können, nicht weiter an die Sache. Da, wie ich im tiefen, aufgeworfenen Ackerboden Schritt reite, nichts Schlimmeres in meiner Nähe als eine aufgescheuchte Wachtelbrut und in der Ferne über den welligen Feldern die große sinkende Sonne, tut sich mir im Innern plötzlich dieser Keller auf, erfüllt mit dem Todeskampf dieses Volks von Ratten. Alles war in mir: die mit dem süßlich scharfen Geruch des Giftes angefüllte kühldumpfe Kellerluft und das Gellen der Todesschreie, die sich an modrigen Mauern brachen; diese ineinander geknäulten Krämpfe der Ohnmacht, durcheinander hinjagenden Verzweiflungen; das wahnwitzige Suchen der Ausgänge; der kalte Blick der Wut, wenn zwei einander an der verstopften Ritze begegnen. Aber was versuche ich wiederum Worte, die ich verschworen habe!21
Wo die Mauer fällt, erscheinen Bilder, kehrt etwas Verdrängtes wieder. Etwas, das außerhalb des Gesichtskreises lag, wird urplötzlich zu Gesichten. Mit der Perforation des mit dem Mauerwerk symbolisierten Reizschutzes wird das Gekreisch der Tiere zur anthropomorph besetzten, akustischen Halluzination, zu den ›Stimmen‹ einer massenhaften Agonie. Nicht also schon angesichts des auf der Zunge zerfallenden, modrigen Pilzes als jener Metapher für die »im Munde zuströmenden Begriffe«, sondern erst im Blick auf die untergehende Sonne, im Beginn der Dämmerung, tut sich 21 | Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, S. 50f.
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Chandos »im Innern plötzlich dieser Keller auf«, differenziert sich diese Interiorität noch einmal durch den Einzug einer weiteren Ebene. In den Aufriss des Feldes, das in diesem Augenblick vor Augen steht, läuft das todgezeichnete Gewimmel der Ratten. Warum aber sollen die Ratten im Text eliminiert werden? Ratten verwirren die regelmäßigen Wellenlinien, zerstören die Furchen des aufgeworfenen, zur Aussaat bereiteten Ackerbodens; sie bringen einen Schauplatz durcheinander, über den »sonst ein Auge mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet«. Die Ratten sind das kreatürliche Unkraut des Feldes, Fährnis seiner Bestellung und Ernte. Die Ratte aber bezeichnet, und in diesem Sinne ist sie ein Synonym zur ›Grille‹, auch eine Einbildung, so dass die Vision, die Schreckensvision doppelbödig wird. Die »ineinander geknäulten Krämpfe der Ohnmacht« werden selbst zu einem Bild, zum ›Rattenkönig‹ – als dem Knäuel, das die Ratten bilden, deren Schwänze ineinander verwickelt sind. Im Wörterbuch der Brüder Grimm ist der Rattenkönig ein »bild für etwas unentwirrbares«.22 Die Ratte aber findet sich noch an anderer Stelle in Hofmannsthals Text wieder, in jener Sprache, in der zu Chandos die stummen Dinge sprechen und in der ein Heilungsprozess einzusetzen scheint – im neuen Blick auf die ›Dinge‹, die zu einem Gefäß der Offenbarung23 werden: »In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkümmerter Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr, als die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist«.24 Rainer Maria Rilke hatte in seinen Geschichten vom lieben Gott bereits im Jahre 1900 geschrieben: »Ein jedes Ding kann der liebe Gott sein, man muß es ihm nur sagen.«25 Die Aufzählung solcher ›Dinge‹, die an Hofmannsthals ChandosText denken lässt, findet sich auch in Robert Walsers Der Spaziergang, nun jedoch nicht als Epiphanie, sondern lediglich als Aufforderung zum empathischen Naturstudium: Höchst liebevoll und aufmerksam muß der, der spaziert, jedes kleinste lebendige Ding, sei es ein Kind, ein Hund, eine Mücke, ein Schmetterling, ein Spatz, ein Wurm, eine Blume, ein Mann, ein Haus, ein Baum, eine Hecke, eine Schnecke, eine Maus, eine Wolke, ein Berg, ein Blatt oder auch nur ein armes weggeworfenes Fetzchen
22 | Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 14 (R-Schiefe), S. 206. 23 | Vgl. Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, S. 50. 24 | Ebd., S. 52. 25 | Rainer Maria Rilke: »Wie der Fingerhut dazu kam, der liebe Gott zu sein«, in: Sämtliche Werke, hg. v. Ernst Zinn, Frankfurt a.M. 1961, Bd. 4, S. 355; zit.n. Gotthard Wunberg: Der frühe Hofmannsthal. Schizophrenie als dichterische Struktur, Stuttgart u.a. 1965, S. 117.
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M IKROPOETIK Schreibpapier, auf das vielleicht ein liebes gutes Schulkind seine ersten ungefügen Buchstaben geschrieben hat, studieren und betrachten. 26
Am Ende erscheint ein »Blatt«, das vielleicht nur ein »Fetzchen Schreibpapier« ist, auf das ein Kind ungefüge Buchstaben geschrieben hat, Buchstaben, die nur schwer zu entziffern sein werden. Alle Gegenstände sind, wie bei Hofmannsthal, isoliert betrachtet; auch die ungefügen Buchstaben fügen sich nicht zur entzifferbaren Schrift. Doch das Phänomen scheint lediglich auf den ersten Blick mit dem verwandt, was Michel Foucault als Symptom des psychotischen Wahns beschrieben hat, bei dem die Dinge insulär werden, und das heißt: sie »verlieren das Merkmal des Eingefügtseins, das auch die Möglichkeit bezeichnet, wie sie zu gebrauchen sind; sie bieten sich in einer seltsamen Erfülltheit dar, aus ihrer Umgebung herausgelöst, und behaupten sich in ihrer Isoliertheit, ohne reale oder virtuelle Verbindung mit anderen Gegenständen; die instrumentalen Beziehungen sind verschwunden«.27 Auch in Hofmannsthals Text sind die instrumentalen Beziehungen verschwunden. Lord Chandos ist alles zu einer unergründlichen Hieroglyphe geworden, und das heißt zugleich, ihm ist alles zu einem überaus bedeutsamen Zeichenverbund geworden, dessen Lektüre jedoch nicht umstandslos zu reproduzieren ist. Lord Chandos ist mit der eigenen alphabetischen Schrift, mit der er virtualiter über alles, was als Lesbares den eigenen Schriftstücken analog zu sein scheint, hätte verfügen können,28 auch die selbstverständliche Lesbarkeit der Welt, ihre Verfügbarkeit und Verwendbarkeit, abhandengekommen. Hugo von Hofmannsthal ist es mit dem Chandos-Brief nach eigenem Bekunden um die Darstellung einer »Geisterumwälzung«29 gegangen, die sich 26 | SW 5/51. 27 | Michel Foucault: Psychologie und Geisteskrankheit, S. 83. 28 | Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit, S. 194: »Da der Mensch über Schrift verfügt, verfügt er virtualiter über alles, was als Lesbares« zu den eigenen Schriftstücken analog ist (Hervorh. v. MSE). 29 | Im Jahre 1927 wird Hofmannsthal in seiner Rede mit dem Titel Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation einen Prozess bezeichnen, der als »konservative Revolution« eine »innere Gegenbewegung gegen jene Geisterumwälzung des sechzehnten Jahrhunderts« sei. Hugo von Hofmannsthal: »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation«, München 1927; zit.n. Max Rychner: »Hofmannsthal und diese Zeit« [1929], in: ders.: Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen, S. 69-98, S. 83. Und hier ist noch einmal auf den Adressaten des Chandos-Briefes hinzuweisen: Im Schluss dieses Briefes ergeht mit den letzten Worten dieses mutmaßlich letzten an Francis Bacon adressierten Briefes von Lord Chandos auch eine Absage an das von dem historischen Philosophen Francis Bacon gegenüber der Metaphysik der Scholastik vorgebrachte Epistem der Empirie, das bei Bacon selbst noch mit einer enzyklopädisch strukturierten, spekulativen Ästhetik einhergegangen war, wie sie sich auch in den Essays von Bacon zeigt, die Hofmannsthal
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seit dem 16. Jahrhundert, seit den Tagen von Francis Bacon also vollzogen habe. In jenem 16. Jahrhundert stellt sich für Foucault die Sprache noch als »Schrift der Dinge«, als eine »opake, mysteriöse, in sich selbst geschlossene Sache« dar, als ein enigmatisches Gebilde, das sich »hier und da mit den Figuren der Welt mischt und sich mit ihnen verflicht, und zwar so sehr und so gut, dass sie alle zusammen ein Zeichennetz bilden, in dem jedes Zeichen in Beziehung zu allen anderen die Rolle des Inhalts oder des Zeichens, des Geheimnisses oder des Hinweises spielen kann und tatsächlich spielt«.30 Wo jedoch »jedes Zeichen in Beziehung zu allen anderen« steht, ist es gerade nicht insulär. Im Chandos-Text werden die übersehenen, die blicklos kontingenten, armseligen Gegenstände und erbarmungswürdigen Kreaturen vielmehr für eine Art von melancholischem Begehren signifikant – im Blick zurück auf dieses verlorene Zeichennetz. Und was im ChandosText in einer Theologie der Abwesenheit Gottes zu enden scheint, erkennt die jüdische Mystik im Begriff der Schechina vielmehr als eine wenngleich zutiefst paradoxe ›Präsenz‹ Gottes an. Der Westen, als jene Himmelsrichtung, auf die im Text Hofmannsthals Bezug genommen ist (auf seinem abendlichen Ausritt sieht Chandos »in der Ferne über den welligen Feldern die große sinkende Sonne«31), bildet dabei die Sphäre dieser Schechina. Darauf deutet, Gershom Scholem zufolge, eine Stelle aus dem Buch Jesaja, in der Gott von der Erlösung spricht, die er seinem Volk verheißen will: »So fürchte dich nun nicht; denn ich bin bei dir. Ich will vom Morgen deinen Samen bringen und will dich vom Abend sammeln«. »Von Osten bringe ich deinen Samen, und von Westen sammle ich dich ein«, übersetzt Gershom Scholem.32 als Vorlage gedient hatten. So heißt es in Bacons Essay mit dem Titel »On Truth«: »A mixture of a Lie doth ever adde Pleasure. Doth any man doubt, that if there were taken out of Mens Mindes, Vaine Opinions, Flattering Hopes, False valuations, Imaginations as one would, and the like; but it would leave the Mindes, of a Number of Men, poore shrunken Things; full of Melancholy, and Indisposition, and unpleasing to themselves? One of the Fathers, in great Severity, called Poesie, Vinum Daemonum; because it filleth the Imagination, and yet it is, but with the shadow of a Lie. But it is not the Lie, that passeth through the Minde, but the Lie that sinketh in, and setleth in it, that doth the hurt, such as we spake of before.« Francis Bacon: »On Truth«, in: ders.: The Essayes or Counsels, Civill and Morall, edited with an introduction and commentary by Michael Kiernan, Oxford 1985, S. 7-9, S. 7 (Hervorh. v. FB) [Kommentar S. 179-180]. Das Imaginäre ist bei Francis Bacon dort legitim, wo dessen transitorischer Status aufrechterhalten bleibt. 30 | Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 66. 31 | Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief«, S. 51. 32 | Jes 43,5. Vgl. Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala, Frankfurt a.M. 1962, S. 200f. Scholem merkt an, die Stelle des Bahir, die sich hierauf bezieht (§104), nun anders als zuvor nicht mehr als Einsammeln auf den Tod, sondern als die nach Ablauf aller Tage, am Ende der Zeit durch die Schechina erlösten Seelen deuten zu wollen.
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Die Zunge, die Lord Chandos ohne sein eigenes Zutun ›redet‹, spricht eine Sprache, die ohne Alphabet auskommt: »Denn der mit Zungen redet, der redet nicht den Menschen, sondern Gott; denn ihm hört niemand zu, im Geist aber redet er die Geheimnisse.« (1 Kor 14,2) Dieser Sprache hört niemand zu; und sie enthüllt ihr Geheimnis lediglich »im Geist«, wie es in der Bibel heißt, abseits der gesprochenen Worte. Und ganz im Sinne dieser Sprache ist in Hofmannsthals Text etwas kryptiert, das, um entschlüsselt zu werden, eines Übersetzungsvorgangs bedarf.33 »Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffren, die mir alles aufschließen«, heißt es im Text. Und in der Tat gibt es im Textkörper selbst eine Chiffre, und 33 | Um 1917 hat Hofmannsthal unter dem Titel Ad me ipsum das Bild einer eigenen Präexistenz vor dem Chandos-Brief konstituiert. Dabei gibt er dem Text den Wert eines Schwellentextes und hebt das Kontinuum des eigenen Werks auf, das darin zu jenen Teilen zerfällt, von denen im Chandos-Brief die Rede ist. Werner Kraft hat aus einem Gespräch mit Martin Buber berichtet, dass: »Buber meint, […] seine (Hofmannsthals) Abwendung von der Sprache seiner Jugend komme wahrscheinlich von dem Geheim-Jüdischen in ihm«. Vgl. Werner Kraft: Gespräche mit Martin Buber, München 1966, S. 74; zit.n. Karl Pestalozzi: »Zur zeitgenössischen Rezeption des Chandos-Briefes«, in: ders./Martin Stern (Hg.): Basler Hofmannsthal- Beiträge, Würzburg 1991, S. 113-127, S. 123, Anm. 29. Die Abwendung vom Lyrischen, die ja im Übrigen die Hinwendung zum dramatischen Text ist, geschieht offensichtlich im Zuge einer Relektüre des eigenen Textes, die datiert werden kann: In einem Brief vom 4. August 1917 empfiehlt Hofmannsthal den eigenen Text Rudolf Pannwitz zur Lektüre. Hofmannsthal hat gerade die Arbeit an der Erzählung Die Frau ohne Schatten unterbrochen, als ihn eine literarische Novität erreicht: Die Krisis der europäischen Kultur von Rudolf Pannwitz veranlasst ihn zu einer Fortsetzung des in den Jahren 1907/08 schon einmal für kurze Zeit mit dem Autor Pannwitz geführten Briefwechsels. In einem eigenen Brief vom 31. August 1917 schreibt Hofmannsthal, von der Arbeit des Briefpartners tief beeindruckt: »dieses Buch berührt einen gleich beim Aufblättern blitzartig wie ein Gesicht, von dem man ja auch in einer Secunde einen sehr complexen aber ganz bestimmten Eindruck empfängt«. Insbesondere der »Abschnitt über Bacon« bewegt Hofmannsthal zur Reflexion der eigenen Beschäftigung mit dem Philosophen und Staatsmann Francis Bacon (1561-1626): »in der Folge lesend bin ich an den Abschnitt über Bacon gelangt, und habe innegehalten fasciniert von diesem Wunderphänomen und mich selbst mit einigem Erstaunen gefragt, wie es kommt, dass ich gerade an dieses Wesen – kaum etwas von ihm kennend als die Essays u. ein paar Bruchstücke, nicht ahnend u. doch ahnend was es mit ihm auf sich haben möchte – eine höchst subiective Arbeit eigentlich eine Confession (jenen imaginären Brief des Lord Chandos den Sie kennen oder vielleicht auch nicht kennen) angeknüpft habe.« Hugo von Hofmannsthal/Rudolf Pannwitz: Briefwechsel 1907-1926, in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv hg. v. Gerhard Schuster, Frankfurt a.M. 1993, S. 13 und S. 18f. (Hervorh. v. HvH). Hofmannsthal will nun die eigene literarische Physiognomie wiederum prägnant vermitteln und weist Pannwitz im Briefwechsel auf den ersten Band seiner Prosaischen Schriften hin, darin der Chandos-Brief.
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zwar im Bild des Feldes, das vom Bild der Ratten in ihrer Agonie überblendet und das zugleich ein Körperbild des Chandos ist: Das Stück Haut, das im Vergrößerungsglas wie ein »Blachfeld« mit »Furchen« und »Höhlen« erscheint, und in dem sich der Makrokosmos im Mikrokosmos spiegelt, weist nicht nur auf das archaische analogon der Zeilen, ist nicht nur Selbstreferenz der Schrift, sondern im Lateinischen zudem ein Name: Das lateinische Wort ›novalis‹ bedeutet ›Brachland‹, ›unbebauter Acker‹.34 Die neue Sprache, in der die ›Dinge‹ zu Chandos sprechen, ist keine Sprache, die die Dinge selbst sprechen könnten, und ebensowenig eine Sprache, die Chandos selbst zu sprechen vermag;35 sie entsteht im Text erst in einem »Widerspiel«. Wo Chandos aber über ein »entzückendes, schlechthin unendliches Widerspiel« spricht, bildet sich ein Palimpsest mit einem ganz anderen Text aus, als Fritz Mauthner angenommen hat, der den Chandos-Brief als Reflex auf seine eigene analytische Sprachkritik verstanden haben wollte.36 Das entzückende (im älteren Wortsinn bedeutet dies: das entrückende, exaltierende) »Widerspiel« Hofmannsthals ist vielmehr Umschrift des »Verhältnisspiel[s]« von Novalis, wie dieser es im weiter oben zitierten Text mit dem Titel Monolog geschrieben hatte.37 Aus dem »Verhältnisspiel« von Sprache und Welt bei Novalis ist das »Widerspiel« bei Hofmannsthal geworden; in das Spiel hat sich so auch etwas Widerstreitendes eingetragen. Novalis aber steht in der Tradition des metaphernmächtigen, nicht des wissenschaftsgläubigen Francis Bacon; für ihn ist die Entsprachlichung der Welt Phänomen der Entfremdung von einer Bedeutsamkeit aller Dinge.38 Und eben an eine neue Bedeutsamkeit sucht Hofmannsthal anzuknüpfen.
34 | Das ungewöhnliche Wort ›Blachfeld‹ wiederum erläutert das Grimmsche Wörterbuch durch die Übersetzung mit dem lateinischen Wort ›planities‹, ›Ebene‹. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 2 (Blachfeld – Blägen), S. 59-61. 35 | Vgl. Gotthard Wunberg: Der frühe Hofmannsthal, S. 115f. 36 | Vgl. Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, Bd. XXXI, S. 281 und S. 286f. 37 | Noch wo David Wellbery »den Grund für die enge Verbindung zwischen Stimmungspoetik und modernistischer Sprachauffassung bei Hofmannsthal« benennt, zeigt sich der Reflex des Textes mit dem Titel Monolog von Novalis bei Hofmannsthal, »denn Sprache ist gerade darin poetisch wirksam, daß sie nichts außerhalb ihrer darstellt, sondern als asemantisches Bezugsgeflecht, als Chiffre und Hieroglyphe, eine besondere Regungskonstellation erneut zum Erzittern bringt – erneut, aber in der je besonderen Konfiguration des Gedichts einmalig«. David Wellbery: Artikel »Stimmung«, S. 717. 38 | Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 233ff.
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XI. »Brouillon«
Der Brief Robert Walsers an Max Rychner vom 20. Juni 1927 wird zum ersten und einzigen Mal das »Bleistiftgebiet« beim Namen nennen. In diesem Brief wird das »Bleistiftgebiet« dabei zum Synonym eines anderen, der deutschen Sprache ›fremden‹, unübersetzbaren Wortes, das ein Solitär auch deshalb ist, weil mit ihm, so steht es im Brief zu lesen, bereits alles gesagt ist: Im »Brouillon« scheint sich zu komprimieren, was sich in den anderen, immer mit dem Bleistift gebildeten Komposita »Bleistiftweg«, »Bleistiftauftrag« usf. immer aufs Neue erzählt zeigt. Im »Brouillon« nun verdichtet sich alles zu einem einzigen wahrheitsfähigen Wort. Das französische »Brouillon«, das im Brief an Max Rychner »eine ganze Schaffens- und Lebensgeschichte« erzählt, scheint ›sprechend‹, und das heißt im Wortsinn, es ist von einer Bedeutung angereichert, die sich aus dem Buchstäblichen zu speisen scheint. Das Wort mit seiner verwirrenden Vielzahl von Vokalbuchstaben und dem Graphendickicht hoher, schlanker Stäbe (in den Buchstaben ›i‹ und ›l‹) kann nicht in derselben schnellen Weise wie sonst vom Auge erfasst werden.1 Das »Brouillon« macht also ebenso buchstäblich wie wortwörtlich eine Unordnung deutlich, eine Verstrickung; bezeichnenderweise steht das Wort gleichermaßen für die Lösung aus solcherart Verstrickung – durch Grenzüberschreitung in ein nicht allzu Fremdes, vielmehr in gewissem Sinne Altvertrautes. Und so formuliert Robert Walser in einem Brief vom 30. Mai 1927, wenige Wochen vor dem Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, und nun an eine weibliche Adressatin gerichtet: Als wenn noch heute Weltkriegsgeister unablässig kämpften, so sieht es mitunter aus, und es ist ja auch zu begreifen, da es viele humorlose, freudlose, verzagte, verbitterte, gewagte Existenzen in diesem Heute gibt, das sich vom Gestern, ich meine vom Geschehenen, von diesem so großen Unglück, das Europa erlebt hat, noch nicht loszulösen vermochte. Es gibt Freunde, die einen fragen, welcherlei Pläne man habe, und es gibt wieder Menschen, die einem mitten ins Gesicht sagen, sie hielten einen für ein lichtscheues Licht, und es werden Manuscripte 1 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 136.
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M IKROPOETIK kurzerhand abgelehnt, weil Farben, Blumensträuße usw. drin vorkommen. Wenn in einem Artikel oder in einer Erzählung eine unmögliche Magd vorkommt, die tragisch und zugleich lächerlich zum Zerplatzen ist, dann heißt es: ›Geben Sie’s her. Wir können so was brauchen.‹ Machen Sie sich wegen dieses Gesagten keine Gedanken. Wie Sie übrigens ›plötzlich‹ nur so mit Bleistift schrieben, statt mit Tinte!2
Die »Weltkriegsgeister« figurieren hier zehn Jahre nach dem Krieg im Subjektplural nicht als abstrakter Weltkriegsgeist, sondern als personale Wiedergänger, als Untote. Und in der Tat kehrt der Geist des Weltkrieges ab Mitte der 1920er Jahre ja – buchstäblich vervielfacht – in der Publizistik wieder und deutet auf einen neuen Krieg voraus. Das »große[ ] Unglück«, das Europa mit dem Weltkrieg erlebt hatte, lässt das sprichwörtliche kleine Glück, lässt »Blumensträuße« als skandalon erscheinen. Und als mögliche Zumutung findet sich der Blumenstrauß dabei bereits in der weiter oben erwähnten Anfrage beim Verlag in Bezug auf das vom Autor projektierte »Miniaturbuch« Liebe kleine Schwalbe, im Jahre 1919: »Also lesen Sie bitte das Manuscript, das ich mit Sorgfalt zusammengestellt habe und erwägen Sie, ob Sie neben einem Blumenstrauß auch noch diese Schwalbe im Verlag haben wollen.«3 Der Brief aus dem Jahre 1919 führt auf einen Text, der etwas mehr als ein Jahr zuvor, im Juli 1918, in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen war: Der Blumenstrauss wird hier hoch oben auf einer Bergwiese gesammelt sein, dort, »wo« im Incipit dieses Textes »Hölderlinsche Freiheit herrscht«.4
2 | Brief vom 30. Mai 1927 an Therese Breitbach, in: Br, S. 297. Auch in Robert Walsers Text ›spukt‹ noch immer der Weltkrieg. So heißt es in einem Brief Ende 1927: »Vom Purzelbaumverlag wurde mir ein Katalog zugesandt, worin von Verwurzeltheit umständlich die Rede ist. Lasen Sie auch schon den ›Olympischen Frühling‹ vom Dichter Karl [sic!] Spitteler? Über den Publizisten Maximilian Harden, der zur großen Armee abging, schrieb ich ein Gedicht, das die mir befreundete Prager Presse veröffentlichte. Harden besaß den Fehler, dass er es nicht fertig brachte, gleichzeitig an etwas zu denken und irgend etwas zu tun.« Brief vom 14. Dezember 1927 an Therese Breitbach, in: Br, S. 317f. Kurz zuvor, am 30. Oktober desselben Jahres, war Harden, von 1892 bis 1923 Herausgeber der Wochenzeitschrift Die Zukunft und vehementer Kritiker Wilhelms II., gestorben. Oder, wie Robert Walser in Abwandlung der biblischen Wendung von den ›himmlischen Heerscharen‹ formuliert: »zur großen Armee abgegangen«. Robert Walser liest die Metapher gleichsam rückwärtig und auf ihre Konkretion hin; zugleich macht er sie darin wieder als solche kenntlich. Im selben Brief heißt es dabei signifikant auch: »Aufgestappelte Manuscripte, die fertig, hübsch übereinandergelegt, vorliegen, bedeuten Hochstappelei.« Hier stapelt sich vor allem der Buchstabe ›p‹ als wiederholter Hinweis auch auf die eigene Ablehnung von Apologien. 3 | Brief vom 13. Dezember 1919 an den Hermann Meister Verlag, in: Br, S. 174. 4 | SW 16/33.
XI. »B ROUILLON «
»Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn«, heißt es in Hölderlins Elegie mit dem Titel Brot und Wein, in der die Nacht aufgezogen ist, als »Fremdlingin unter den Menschen«, die den Irrenden »geheiliget ist und den Toten,/Selber aber besteht, ewig, in freiestem Geist./Aber sie muß uns auch, daß in der zaudernden Weile,/Daß im Finstern für uns einiges Haltbare sei,/Uns die Vergessenheit und das Heiligtrunkene gönnen,/Gönnen das strömende Wort, das, wie die Liebenden sei,/[…]/Heilig Gedächtnis auch, wachend zu bleiben bei Nacht.«5 Der Konnex zwischen Blumen und Worten ist über das tertium der rhetorischen ›Blumen‹, der Tropen allfällig. Mehr Rätsel gibt dagegen das Wort von der »Freiheit« in Robert Walsers Text auf, gerade weil es zunächst eher an Friedrich Schiller als an Friedrich Hölderlin denken lässt. Worin aber sollte die Provokation liegen? Hölderlin, vom Wunsch nach politischer Freiheit beseelt, hatte seine Hoffnungen in die Französische Revolution gesetzt.6 5 | Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte, Bd. 1, S. 290-295. 6 | Vgl. Pierre Bertaux: Hölderlin und die Französische Revolution, Frankfurt a.M. 1969, passim und S. 11: »Die Zeit Hölderlins, das war die Zeit der Französischen Revolution. Als sie 1789 ausbrach, war er 19 Jahre alt und stand am Anfang seiner dichterischen Laufbahn. 1804, das Jahr des letzten von ihm selbst veröffentlichten Werks, ist das Jahr der Gründung des Napoleonischen Kaiserreichs. Also, vor Hölderlin das ancien régime, nach ihm das Reich Napoleons, die Restauration, Metternich und alles, was damit zusammenhängt. Hölderlins aktive Lebensphase deckt sich demnach genau mit den großen Ereignissen in Frankreich, die dem mittelalterlichen Heiligen Römischen Reich ein Ende setzten und die moderne Welt gründeten.« Bertaux sieht Hölderlin als ›deutschen Jakobiner‹. Von 1792 an wird das Wort ›Jakobiner‹ in Deutschland zu einem Schimpfwort, und schlimmer noch, zu einer Denunziation. Ein Jakobiner ist ein ›Roter‹, ein Umstürzler und Aufwiegler, dem das Handwerk gelegt werden muss. Und diese Bedeutung zeigt sich auch mehr als einhundert Jahre später noch virulent: »In Deutschland hat diese Bedeutung des Wortes die Zeit der effektiven polizeilichen Verfolgung überlebt und war noch um die Jahrhundertwende geläufig. In seinem Essay Mein Weg als Deutscher und Jude (1921) – also noch lange vor den methodischen Verfolgungen des Dritten Reichs – versucht Jakob Wassermann seinen Landsleuten klarzumachen, was das Leben eines Juden in Deutschland bedeutet. Er schreibt: ›Leider steht es so, daß der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch nicht im juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes […]. Juden sind die Jakobiner der Epoche.‹ Damit griff Wassermann zu einem Beispiel, das noch 1921 einer landläufigen Vorstellung entsprach. Sein Vergleich spricht für sich selbst.« (Ebd., S. 14.) Auch diese Konnotation des ›Vogelfreien‹ schwingt in Robert Walsers Text Der Blumenstrauss also mit, in dessen Incipit »Hölderlinsche Freiheit« herrscht. Und deshalb auch wird der ›Blumenstrauß‹ in der Korrespondenz implizit als skandalon bezeichnet. Freiheit ist ein Desiderat Hölderlins, für das er selbst teuer bezahlt. Das Zerbrechen des Menschen Hölderlin, das Ende seiner persönlichen Freiheit thematisiert Robert Walser im Dichterporträt Hölderlin, auf das noch einzugehen sein wird.
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Das Wort von der »Freiheit« findet sich dagegen in Hölderlins unvollendetem Entwurf mit dem Titel Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes, der um die Fragen kreist, wie die Einheit des Alls erkannt und ausgesprochen, wie die Einheit von poetischem Ich und Welt erkannt und wie die Spaltung zwischen beidem im Wege der Bildung überwunden werden kann. Alle drei Fragen erhalten dieselbe Antwort: im vollkommenen Gedicht. Woraus sich wiederum die durchgängige Frage ergibt: Wie muss ein Gedicht beschaffen sein, das die Funktion hat, diese Einheit zu verwirklichen?7 In Hölderlins poetologischem Text ist das Wort von der ›Freiheit‹ im Zusammenhang mit einer Erläuterung dessen, was als »poëtische Individualität« verstanden werden sollte, vom Autor eigens hervorgehoben: Sie [die »poëtische Individualität«] ist also nie blos Entgegensezung des Einigen, auch nie blos Beziehung Vereinigung des Entgegengesezten und Wechselnden, Entgegengeseztes und Einiges ist in ihr unzertrennlich. […], in diesem Acte kann und darf sie schlechterdings nicht durch sich selbst begriffen, sich selber zum Objecte werden, wenn sie nicht statt einer unendlich einigen und lebendigen Einheit, eine todte und tötende Einheit ein unendlich positives gewordenes seyn soll; […], sie kann also gar nicht erscheinen, oder nur im Karakter eines positiven Nichts, eines unendlichen Stillstands, und es ist die Hyperbel aller Hyperbeln der kühnste und letzte Versuch des poëtischen Geistes, wenn er in seiner Verfahrungsweise ihn je macht, die ursprüngliche poëtische Individualität, das poëtische Ich aufzufassen, ein Versuch, wodurch er diese Individualität […] aufhöbe, und doch muß er es, denn da er alles, was er in seinem Geschäffte ist, mit Freiheit seyn soll, […], so muß er auch dieser seiner Individualität sich versichern. 8
Es ist ein prekäres Unterfangen, dass und wenn der Dichter, wie Hölderlin in einem »Wink für die Darstellung« hier auch schreibt, »indem er sich verständlich und faßlich macht, von der leblosen, immateriellen, ebendeßwegen weniger entgegensezbaren und bewußtloseren Stimmung fortschreitet, ebendadurch, daß er sie erklärt.«9 In Robert Walsers Text Freiheitsaufsatz, im Juli 1918 im Berliner Tageblatt erschienen, ist Freiheit ein »schöner Wahn«, »der denkbar zarte Behandlung erfordert«, worauf gerade auch Träume aufmerksam machen würden: »Vielleicht wissen sehr viele mit der Freiheit deshalb nicht richtig umzugehen, weil sie ihre Leichtverletzlichkeit in Betracht zu ziehen sich nicht angewöhnen wollen. Schnell zerflattert ein Wahn; leicht bringen wir es fertig, daß uns die Illusion gleichsam haßt, weil wir ihr Wesen nicht fassen. Die Freiheit will sowohl verstan7 | Vgl. Michael Konrad: Hölderlins Philosophie im Grundriss. Analytisch-kritischer Kommentar zu Hölderlins Aufsatzfragment ›Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹, Bonn 1967, S. 206. 8 | Friedrich Hölderlin: »Über die Verfahrungsweise des poëtischen Geistes«, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. v. Friedrich Beissner, Bd. 4, Stuttgart 1961, S. 241265, S. 251f. (Hervorh. v. FH). 9 | Ebd., S. 264.
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den wie fortwährend unbegriffen sein; sie will gesehen sein und will wieder sein, als sei sie gar nicht da; sie ist zugleich wirklich und unwirklich, worüber sich allerlei hinzufügen ließe.«10 Freiheit verlangt nach einer Fragilität auch des Wissens. Und die Aporie, welche die Freiheit selbst darstellt, verlangt als das per se Unabschließbare immerfort nach Hinzufügung. Und gerade diesem Unabgeschlossenen entstammt Der Blumenstrauss, der sich im so betitelten Text Robert Walsers durch »friedliche Farben« auszeichnet, und nicht etwa durch sprichwörtlich ›schreiende‹, aufdringliche, kontrastierende Farben. Der Text zeigt eine »neutrale Verhaltungsweise«11 , wie es in deutlichem Anklang an die anachronistische Schreibweise der Wortwendung, der Wortendung bei Hölderlin in Robert Walsers Text Schweizeressay heißen wird. Die »Handvoll anmutiger Löckchen und Flöckchen« in Der Blumenstrauss (in den »Flöckchen« findet sich wieder der bei Robert Walser vielbeschworene Schnee, obgleich von Schnee hier keine Rede ist; in den »Löckchen« dagegen feiert man ein Wiedersehen mit dem »Schmachtlöckeler«, als den sich der Autor im Blick auf die Berliner Zeit in einem Brief an Max Rychner vom März 1926 auch bezeichnet12), dieser Blumenstrauss kann es dabei nicht nur in Bezug auf seine Extension oder besser seine Expansion mit einem »Kohlenbergwerk« oder einer »Massendemonstration«, mit »Flugmaschinen« oder »Riesenkanonen« aufnehmen. Der Blumenstrauss hat weder mit Revolution noch mit Krieg zu tun – und doch kann man die »zierlichen Geschöpfchen« und zwar »mit größter Leichtigkeit beim Schopf oder Kragen nehmen und ihnen den Garaus machen« – »falls man Lust dazu hat«, wie es im Text lapidar heißt. »Mannigfaltige kleine Figuren« bilden die sterblichen Blumen, die sich selbst nicht für »Herrschaften« halten, »die große breite langfädige Ansprüche machen«. Es gibt keinen langen (roten) Faden, keinen langen (epischen) Atem. Das Burkett, das Textbukett ist »in seiner Gesamtheit und in allen seinen Einzelheiten« vielmehr bald »ein Neues, bald ein Voriges und Altes«: Bald ist es etwas Glöckchen-, bald etwas Struwelpeterhaftes. Nie ist’s ein und dasselbe, doch auch nie ganz und gar ungleich. Alles hat von allem irgend ein gewisses seltsames Gemeinsames, und gerade dies scheint uns ja das Richtige bei der Sache zu sein.
10 | SW 19/200. 11 | SW 20/37. 12 | Vgl. Brief vom 18. März 1926 an Max Rychner, in: Br, S. 266, wo es mit Bezug auf die von Alfred Kerr publizistisch gestellte Frage nach einem zur »Gedichtfabrikation« nötigen »Grad von Verblödung« heißt: »Kerr äußert nach meinem Herausfühlen mit seiner Frage ganz einfach etwas wie eine persönliche Sehnsucht, und streng genommen, könnte man ihn als einen Schmachtlappen, Waschlappen, Schmachtlöckeler bezeichnen. Ich wurde einst an der Potsdamer Straße auch als solchen [sic!] anerkannt.«
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M IKROPOETIK Daß doch auch Menschen sich zu so friedfertiger wohlwollender Gesellschaft und zu so klugem, liebevollem Vertrag verbunden wissen möchten.13
Über die eigenen Texte und ihre Anordnung ist im Bild eines Bouquets gesprochen, eines Bouquets, das auch ein Modell für einen Gesellschaftsvertrag bilden soll, denn: »Zur Kriegsmunition zählt eben leider auch der Geifer.«14 So hatte Carl Spitteler 1914 in seiner Rede Unser Schweizer Standpunkt formuliert, deren besonderes Gewicht in dem Umstand deutlich wird, dass dieser Text als erste Schrift in der Literaturgeschichte der Schweiz überhaupt in allen vier Landessprachen der Schweiz erschienen war. Und so heißt es in Robert Walsers Text Der Blumenstrauss, vermutlich auch im Reflex hierauf: »Gegensätze herrschen keine; alles hängt schön warm in- und aneinander. Was schreien und keifen möchte, ist ausgeschlossen.«15 Das Glöckchenhafte des Bouquets lässt zudem an den Text Schneeglöckchen von 1919 denken, in dem es zuletzt beschwichtigend heißt: »Alles erinnert stets an sein Gegenteil.«16 Warum aber Heinrich Hoffmanns bekanntes Kinderbuch Struwwelpeter, erstmals im Jahre 1845 erschienen, mit seinem geradezu pittoresk-malerischen, graphisch-graphemisch abbildenden, unordentlich-struppeligen zweiten ›w‹ im Namen, der das krause Haar – insbesondere in einer Frakturschrift – mimetisch abzubilden vermag, in Robert Walsers Text Der Blumenstrauss einbezogen ist, kann bei Georg Groddeck deutlich werden. Georg Groddeck hat als Arzt, Autor und Begründer einer modernen Psychosomatik den Struwwelpeter als ein »Lehrbuch der Psychoanalyse« bezeichnet, weil er »eine Bereitschaft für das Doppelte aller Erscheinungen« zeige, so Georg Groddeck: »Leben heißt doppeltsein, in jedem Augenblick bereit sein für Ernst und gleichzeitig für Scherz.« Für Georg Groddeck gehört der Struwwelpeter »zu den seltenen Büchern, die hinter ihrem Scherz den Ernst verbergen«. Er schreibt: »Nietzsche erzählt einmal, ich denke, es muß im Zarathustra sein, davon, daß das Leben, sobald man mit ihm ernsthaft sprechen will, zu scherzen beginnt, aber tödlich ernst wird, wenn man mit ihm lacht. So ungefähr ist der Stuwwelpeter: er ist ambivalent.«17 Unter den Emblemen, die Georg Groddeck aus Hoffmanns Struwwelpeter psychoanalytisch entziffert, ist dabei auch das Tintenfass: »Im Tintenfaß werden die Knaben schwarz gefärbt. Ich habe früher schon einmal darauf 13 | SW 16/35f. 14 | Carl Spitteler: »Unser Schweizer Standpunkt« [Rede vom 14. Dezember 1914], in: ders.: Gesammelte Werke, hg. im Auftrag der Schweizerischen Eidgenossenschaft von Gottfried Bohnenblust, Wilhelm Altwegg und Robert Faesi, Bd. 8, hg. v. Werner Lauber, Zürich 1947, S. 579-594, S. 591. 15 | SW 16/35. 16 | SW 16/394. 17 | Georg Groddeck: »Struwwelpeter«, in: ders.: Psychoanalytische Schriften zur Literatur und Kunst, ausgewählt und hg. v. Egenolf Roeder von Diersburg, Wiesbaden 1964, S. 232-250, S. 233f.
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hingewiesen, daß der Schreibkrampf vielfach nur durch Benutzung des Tintenfasses zustande kommt. Menschen, die am Schreibkrampf leiden, können häufig leicht mit einem Bleistift, einer Füllfeder und der Schreibmaschine schreiben, aber die Benutzung des Tintenfasses wird ihnen schwer, weil ihnen dadurch die Symbolik des Schreibens klarer wird.«18 Im Brief vom 30. Mai 1927 hatte Robert Walser zuletzt an die Adressatin geschrieben: »Wie Sie übrigens ›plötzlich‹ nur so mit Bleistift schrieben, statt mit Tinte!«19 Die Anführung des ›Plötzlichen‹ illuminiert und ironisiert das Eruptive bereits, denn der Wechsel des Schreibwerkzeugs vollzieht sich nie plötzlich, auch bei Robert Walser nicht. Und wenig später wird in der Korrespondenz mit Max Rychner so auch die Vorgeschichte nachgetragen werden. Der Eintritt ins »Bleistiftgebiet« hat sich gerade nicht plötzlich, sondern sukzessive vollzogen – und er kann im Übrigen auch nur so erzählt werden; ›plötzlich‹ wird nur immer erst etwas sichtbar, als Bild. Im Brief an Max Rychner aber scheint mit einem Wort, und eben doch plötzlich, alles gesagt – mit der Sichtbarkeit eben dieses Wortes ›Brouillon‹: Ich erwähnte den Begriff Brouillon, womit ich Ihnen eigentlich eine ganze Schaffens- und Lebensgeschichte erzählt habe, denn Sie sollen erfahren, mein Herr, daß ich vor ungefähr zehn Jahren anfing, alles, was ich produziere, zuerst scheu und andächtig mit Bleistift hinzuskizzieren, wodurch der Prozeß der Schriftstellerei naturgemäß eine beinahe ins Kolossale gehende, schleppende Langsamkeit erfuhr. Ich verdanke dem Bleistiftsystem, das mit einem folgerichtigen, büreauhaften Abschreibesystem verquickt ist, wahre Qualen, aber diese Qual lehrte mich Geduld, derart, daß ich im Geduldhaben ein Künstler geworden bin. 20
Die Progression zum fertiggestellten Text nimmt den Charakter einer Prozession an, eines Rituals, das durch die Größe des erforderlichen Aufwands »ins Kolossale« geht. Die Langsamkeit verbindet sich dabei mit einer räumlichen Vorstellung: Als Kolosse erscheinen in der Bieler Prosa immer auch die heimatlichen Berge – das, worum man ihm sprichwörtlichen Sinne des Wortes nicht herumkommt.21 Mit dem Wort »Brouillon« aber ist eben plötzlich, eben mit einem Mal, alles gesagt. Und zwar noch bevor – mimetisch schleppend – erzählt worden ist, denn das »Heute« vermag sich auch hiern nicht vom »Gestern« zu lösen: Was für die Nachwirkungen des Krieges beschrieben wird, gilt auch für eine eigene Krisis, die in gewissem Sinne immer gegenwärtig war: »Momentan geht mir’s etwas mies, d.h. so so, la la, indem in meiner Schriftstellerei etwas wie eine Krisis eingetreten zu sein scheint, womit ich übrigens jederzeit rechnete.«22 Die Krisis ist in diesem Brief vom 30. Mai 1927 rezent; doch 18 | Ebd., S. 246. 19 | Brief vom 30. Mai 1927 an Therese Breitbach, in: Br, S. 297. 20 | Brief vom 20. Juni 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 300. 21 | SW 4/87. 22 | Brief vom 30. Mai 1927 an Therese Breitbach, in: Br, S. 296.
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Monate zuvor schreibt ein Briefkopf bereits den Wiedereintritt, die Wiederholung der Krisis: »Bern, fast hätte ich geschrieben, Berlin, Luisenstr. 14 III/den 19. 1. 1927«.23 In der kommentierten, eben noch abgewendeten und doch ›sichtbar‹ gemachten Fehlleistung kommt zum Vorschein, dass Gegenwart und Vergangenheit der Krisis nur durch die Differenz der Grapheme von Bern und Berlin, nur durch zwei verschwindend schmale hohe Buchstaben hauchfein voneinander getrennt sind. Und es sind genau jene zwei Buchstaben, die im »Brouillon« die ›Sichtbarkeit‹ des Wortes, die Unterscheidbarkeit der Buchstaben verwirren. Die unberechenbare, potentialisierte, jederzeit einsetzende Krisis des Schreibens ist – in jedem Sinne – durch Wiederholung hervorgerufen; so hatte Robert Walser gut zwei Wochen zuvor derselben Adressatin mitgeteilt: »[…], dass mir von Zürich aus verboten worden ist, viel zu sprechen oder zu plaudern. Man sagt zu dieser Unart an der Limmat: ›laferen‹. Ich soll immer eh[e]r Beiträge für diese neue Zürcher Zeitung usw. liefern als mich auf’s Laferen verlegen.«24 Die Beiträge sollten ›eherne‹ Texte sein, nicht bloße ›Plauderei‹. Der Brief vom 30. Mai 1927 bildet die Ablehnung von möglicherweise als redundant empfundenen Texten und die Wiederholung der Krisis nun ab, indem er in seiner Semantik auf die bloße Wiederholung von Silben, Monemen regrediert, die erst in ihrer Doppelung im Zungenschlag, das heißt mundartlich in einem ganz literalen Sinn Bedeutung ausbilden: »so so, la la«. Die Sprachfüllsel sind Pendant zum französischen »voilà« oder »c’est ça«, jenen Wörtern, die Gesprächspausen überbrücken helfen. Zugleich wiederholt die Doppelung die Echolalie von Frage und Antwort, sie bildet diese ab; und sie steht dabei so gut wie jedes andere Syntagma für den Hauptzweck der Sprache als emotiv wirksamer Verständigung, bei der die Semantik zuweilen sekundär sein kann. – Wie Heinrich von Kleist in seinem Essay Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden zeigt, muss eine Reaktion nicht unbedingt elaboriert, muss sie nicht einmal sprachlich verfasst sein, um große Wirkung zu zeitigen. Im Verfassen eines Textes wächst dem poetischen Ich durch die Gegenwart der Schwester vielmehr auch unverbalisiert etwas zu: »Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne sagte«. Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüth, während die Rede fortschreitet, in der Nothwendigkeit, dem Anfang nun auch – ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntniß, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist. Ich mische unartikulirte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche auch wohl eine Apposition, wo sie nicht nöthig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender, Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen. Dabei ist 23 | Brief vom 19. Januar 1927 an Frieda Mermet, in: Br, S. 291. 24 | Brief vom 3. Januar 1927 an Frieda Mermet, in: Br, S. 290.
XI. »B ROUILLON « mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes Gemüth wird durch diesen Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen, nur noch mehr erregt, und in seiner Fähigkeit, wie ein großer General, wenn die Umstände drängen, noch um einen Grad höher gespannt. 25
Der »Feldherr der Buchstaben« aus dem Text Die Glosse hat hier seinen Ursprung. Kleists Text, dessen Wort von der »Fabrikation« auch in Robert Walsers »Gedichtfabrikation«26 widerklingt, erinnert an die Rede des Adligen Mirabeau, mit der dieser als Wortführer des Dritten Standes die Auflösung der Versammlung der Generalstände durch den Zeremonienmeister des Königs verhindert hatte, er erinnert an jenen rhetorischen ›Donnerkeil‹ vom 23. Juni 1789 – doch weniger an dessen Semantik, denn: »Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.«27 Die glanzvolle Rhetorik Mirabeaus ist in Kleists Text möglicherweise Frucht einer unwillkürlichen Geste der Ungeduld anderer. Das »Zucken einer Oberlippe« oder ein anderes »zweideutiges Spiel«, ein Nesteln an der Kleidung hätte den Redner erst befeuert. Robert Walsers Text Das Parlament, 1926 im Berliner Tageblatt erschienen, nimmt auf Kleists Essay Bezug, wo es angesichts eines Parlamentsredners, der allerdings darauf »zu verzichten scheint, großen Eindruck zu machen«, heißt: »Unwillkürlich reiste ich gedanklich geschicht-rückwärts und stattete Rednern von Ruf und Begabung, wie z.B. Mirabeau, geistig einen kurzen Besuch ab.«28 In Kleists Text kommt es dabei, in Bezug auf Mirabeaus Rede, wie auch in Bezug auf die Schreibszene in Gegenwart der Schwester, auf die fast flehentlich gesuchte Möglichkeit zu einer Adressierung an: »Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand 25 | Heinrich von Kleist: »Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden«, in: ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Bd. II/9, Frankfurt a.M. 2007, S. 25-32, S. 27f. (Hervorh. V. HvK). 26 | SW 19/288; Brief vom 18. März 1926 an Max Rychner, in: Br, S. 266. 27 | Heinrich von Kleist: »Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden«, S. 29. 28 | SW 17/105. Einen ›kurzen Besuch‹ stattet Robert Walsers Text Das Parlament auch Gottfried Keller ab. »Ich habe vor allen Dingen zu bemerken, daß sich das Bundeshaus, dieses Repräsentationsgebäude, an gleichsam hervorragender Stelle erhebt. Übrigens hatte ich diesen Artikel längst vom Stapel laufen, das heißt aus meiner Schreibfeder herausfließen lassen wollen. Als ein Fremder eines Tages im Restaurant zum ›Pfauen‹ in Zürich den großen Dichter Keller mit den Worten beehrte: ›Sie haben Ihre Erzählungen mit Ihrem Herzblut geschrieben‹, soll er trocken erwidert haben: ›Nein, mit Tinte.‹ Indem ich diese Einflechtung dulde, womit ich sage, daß sie mir keineswegs wichtig vorkommt, kündige ich an, daß ich in einem großen Saal Platz genommen habe.« SW 17/105.
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unsrer, welcher weiß.«29 Der gewisse Zustand, der »weiß«, der den Geistesblitz ermöglicht, ist selbst vorsprachlich; es ist der Zustand eines wortlosen Einverständnisses, wie ihn auch Robert Walsers erster Roman Geschwister Tanner schreibt: Hier hatten sie sich auf die Matte geworfen, waren lange still, ohne ein Wort zu sprechen, geblieben, hatten mit den Augen an der weit sich ausbreitenden Landschaft und mit den Ohren an den Tönen der Glocken gehangen und hatten beide gefunden, daß immer irgendwie und wo Töne in allen Landschaften zu vernehmen seien, ohne gerade Glocken zu hören, und hatten dann eines jener stillen, mehr empfundenen als geradezu gesprochenen Gespräche miteinander geführt, die nicht aufgeschrieben werden können, die keinen weiteren Zweck als das Wohlwollen haben, die nichts sagen wollen, deren Duft nur und Ton und Absicht unvergeßlich bleiben. 30
XI.1 M A X R YCHNER ALS A DRESSAT Im Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 ist eine ganze Lebens- und Schaffensgeschichte mit einem Wort erzählt: »Brouillon«. Und doch entspinnt sich mit der Totalität des einen Wortes über das hochbedeutsame Wort hinaus ein Sprechen. Mit einem Wort: Es wird erzählt, was vieler Worte bedürfte. Das »Brouillon« selbst bleibt kryptisch, unantastbar, nicht auszudeuten. Anders verhält es sich dagegen mit dem »Bleistiftgebiet«, das als Wort dem »Bleistiftgebiet« selbst übrigens nicht angehört – und das nicht etwa, weil es eine Repräsentation darstellt, sondern seiner Genese oder Genealogie wegen: Das Wort »Bleistiftgebiet« entstammt dem Briefschreiben an Rychner, welches, wie die Reinschrift des Druckbeitrags, der im Brief zur Sprache kommt, der offiziell gewordenen Schrift angehört. Sie merkten dem vorliegenden Beitrag vielleicht nicht an, daß die vier oder fünf letzten Zeilen ausnahmsweise nicht aus dem Bleistiftgebiet stammen sondern bloß rasch noch, in der letzten Minute, angeflickt, beigefügt wurden. Lächerlich kommt Ihnen vielleicht ein derartiges Genaunehmen der Entstehungsweise eines Aufsatzes vor. Für mich jedoch hat die Bleistifterei eine Bedeutung. 31
In der mitgeschickten Reinschrift sind die Provenienzen des Textes eingeebnet. Der Brief jedoch geht der Genese des Textes nach, denn ohne die Erwähnung der »Bleistifterei« würde der Konnex von ›Materialität‹ der Schrift und Textsinn für den Redakteur nebulös bleiben. Die »Bleistifterei« ist eben auch Synonym der Akkuratesse, des nachgerade connaisseurhaf29 | Heinrich von Kleist: »Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden«, S. 31 (Hervorh. v. HvK). 30 | SW 9/304. 31 | Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 300f.
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ten Umgangs mit der eigenen Schrift, in dem auch die Provenienz solcher Zeilen aufgeklärt wird, die nur »ausnahmsweise nicht aus dem Bleistiftgebiet stammen«. Der Text stellt hier die Ausnahme dar, von der die Regel der »Bleistifterei« gestützt wird. Und obwohl oder gerade weil den hinzugefügten, angestückten Zeilen nicht anhaftet, was die »Bleistifterei« sonst ausmacht, entspinnt sich der Diskurs – in einem Postskriptum zu einem Postskriptum. Die Provenienzen der Schrift zu benennen, bedeutet dabei nicht, wie etwa in der bildenden Kunst, ›Hände‹ zu scheiden, das heißt diejenigen Künstler zu unterscheiden, die das Artefakt in der Koproduktion im Rahmen einer Werkstatt geschaffen hatten. Oder doch? Die Differenzierung, wo und vor allem wann der Autor Hand angelegt hat, versieht die Schrift mit einem Index. Darin fungiert die Schrift nicht mehr als ›Behältnis‹, dem ein ›Inhalt‹ gegenüberstünde, der vorgeblich von seinem ›Behältnis‹ unabhängig wäre; die im Brief ausgewiesenen Herkunftslinien lassen die Schrift vielmehr in einem konkreten Wortsinn als überaus ›kultiviert‹ erscheinen: Behältnis und Inhalt sind hier gleichursprünglich. Der Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 erläutert die zuvor versandten Texte dabei als eine Art Kolophon, das heißt als ein Schriftzusatz, der den Schluss eines Textes markiert und bei dieser Gelegenheit auch die Teile datiert. Die Prozessualität der Schrift, ihre Proliferation, ihre Stadien – die in ihr »gefrorene Zeit«32 – sind davon erneut in Bewegung gebracht. Und so ist der Zweidimensionalität der Schrift ihre dritte Dimension – als die im Drucktext verlorengegangene, nicht materialisierte Zeit des Schreibens – wieder hinzugefügt. Ohne diese Art Kolophon bliebe die Regularität der Bleistiftschrift im Verborgenen; Max Rychner aber soll um das, was es mit der »Bleistifterei« auf sich hat, wissen. Und noch dort, wo sich ihm die Bedeutung nicht erschließt, wird ihm die Bewandtnis bereits im Lesen aufgegangen sein. Was nämlich in Bezug auf den zuvor eingesandten Text Brief an ein Mitglied der Gesellschaft explizit veranschaulicht wird, dass ein ›Vorbild‹ als Adressatin eine Rolle gespielt hat, die als solche aber unmarkiert, unbenannt bleiben soll, ist mit dem Brief an Max Rychner per se implizit: der Umstand, dass diese wie jede andere Narration sich dem Vermögen verdankt, adressiert werden zu können. Der Brief an den Redakteur Rychner, der selbst Literat und Literaturvermittler ist, verlässt sich dabei auf ein Wissen oder besser ein empathisches Wähnen, das von Robert Walser bei Rychner genau dort bereits vorausgesetzt ist, wo er dessen Initiation in die Regularien seines »Bleistiftgebiets« gerade erst zu betreiben scheint. Und Rychner ist nicht zufällig Adressat des Briefes; er selbst wird später schreiben: »Die Literatur ist eine ›Welt der Bezüge‹, die umfassendste, die ich kenne; davon zu sprechen, war das Anliegen des Hineinverwobenen.«33 Text ist für Rychner »zwischen den Zeilen eine mit vielen Stimmen besetzte Partitur« und das Gewebe wie kein anderer Begriff Metapher für seine 32 | Almuth Grésillon: »Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben«, S. 15. 33 | Max Rychner: Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen, S. 25.
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Kunstauffassung und sein eigenes publizistisches Werk.34 Mit dem Wort von der »Welt der Bezüge« – das aus Hugo von Hofmannsthals Essay Der Dichter und diese Zeit stammt – hat Rychner wiederholt die von ihm favorisierte Rolle des ›Mittlers‹ bezeichnet. In Rychners Nachruf auf Hofmannsthal wird es 1929 heißen: »Hofmannsthal hat eine Ordnung verkörpert: indem er alles zu allem in Beziehung wusste. ›Die Welt der Bezüge‹ – wie oft begegnen wir bei ihm diesem Wort!«35 Literaturkritik ist für Rychner ›intellektuelle Mittlerschaft‹. Auch der Mittler ist dabei Reminiszenz, in diesem Falle an die Figur des Mittler[s] in Goethes Bildungsroman Wilhelm Meisters Lehrjahre, einem der Initialtexte der Frühromantik, vor allem auch für Novalis. Für Rychner ist der Mittler die Gegenfigur zum ›Suchenden‹ – dies ein Wort von Nietzsche. Der ›Suchende‹ ist für ihn der monologisierende, der die geistige »Urbanität« (Friedrich Schlegels) verweigernde Literat, der ihm, bei stärkerer Konturierung der Negativa, auch als der ›Schwierige‹ dies wiederum die Titelfigur bei Hugo von Hofmannsthal par excellence gilt. Und der ›Schwierige‹ ist kein Wahngebilde, sondern eine Wirklichkeit unserer Literatur. Er ist Figur Hugo von Hofmannsthals, wie Claudio aus Der Tor und der Tod – der wiederum selbst ein Werther seiner Zeit ist. In diesem kurzen Abriss zeigt sich bereits, dass Rychner mit literarischen Figuren in besonderer Weise ›lebt‹; noch in der Diktion der eigenen Literaturkritik als Literaturvermittlung führen sie ein Eigenleben, bevölkern sie seine Texte. Und so zeigt sich auch, warum gerade Rychner der Adressat des so ungewöhnlich expliziten Briefes von Robert Walser, das »Bleistiftgebiet« betreffend, wird: »Der Stil ist nicht der Mensch, sondern der Mensch, zu dem man spricht.«36 In seinem Essay mit dem Titel Lesen als Begegnung wird Max Rychner, der Robert Walser wohl allerdings nie begegnet ist, zum »Elementaren der Sympathie« selbst schreiben: Die Briefwechsel von Partnern, die sich persönlich kannten, müssen auf andere Weise gelesen werden als die zwischen Unbekannten, da in ihnen etwas mitschwingt von der nur traumhaft vernehmlichen unendlichen Melodie, deren erstes Motiv beim ersten gegenseitig erkennenden Blick und Händedruck erklang und seine nicht abzusehende Folge schon forderte. Alle Schrift zwischen Freunden, die gelernt haben, einander in den Augen zu lesen, ist auf die so erworbene Bildung bezogen, noch im Unpersönlichsten, das durch sie aus diesem Limbus-Dasein erlöst wird. 37
34 | Roman Bucheli im Nachwort zur Ausgabe von Max Rychner: Bei mir laufen Fäden zusammen. Literarische Aufsätze. Kritiken. Briefe, hg. v. Roman Bucheli, Göttingen 1998, S. 409-420, S. 419. 35 | Max Rychner: »Hofmannsthal und diese Zeit« [1929], S. 69-98, S. 92. 36 | Friedrich A. Kittler: »Das Phantom unseres Ichs«, S. 166. Kittler paraphrasiert hier Lacan, der mit diesem Wort wiederum Buffon – dem Sinn nach gegenläufig – paraphrasiert hat. 37 | Max Rychner: »Lesen als Begegnung«, in: ders.: Arachne. Aufsätze zur Literatur, Zürich 1957, S. 311-332, S. 324.
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Im Schriftgespräch mit Max Rychner wird Robert Walser das bis dato geheimgehaltene Verfahren der Mikrographie aus dem »Limbus-Dasein«38 ins Wort erlösen, und das auch deshalb, weil Lesen für Rychner nicht nur eine Begegnung mit den Geistesgrößen aller Zeiten, Bewegung in einem Hallraum ist, sondern Initiation. Aber – und gerade das muss Robert Walser imponiert haben: Lesen ist für Rychner Initiation ohne Einweihung, Eingang in ein Rätsel. So schreibt Max Rychner selbst in Bezug auf ein Wort des Novalis (wonach Dichten ›in [den] Geheimnisstand erheben‹ sei): »Ist nicht, wer liest, in [den] Geheimnisstand erhoben, so wie das Gedicht?«39
38 | Giorgio Agamben hat Robert Walsers Erzählwelt mit der Theologie des Limbus in Zusammenhang gebracht. In den Limbus kommen ungetaufte Kinder, die – von der Erbsünde abgesehen – ohne Schuld gestorben sind und insofern nicht in die Hölle kommen können. Sie erleiden lediglich einen Ausschluss, der in der Vorenthaltung der Anschauung Gottes besteht: »Doch bereitet dieser Entzug den Bewohnern des Limbus – im Unterschied zu den Verdammten – keinerlei Schmerz: da sie nur über eine natürliche und nicht über eine übernatürliche Erkenntnis, mit der uns die Taufe begabt, verfügen, wissen sie nicht, dass sie des höchsten Gutes beraubt sind. Und selbst wenn sie es (wie eine andere Lehrmeinung behauptet) wüssten, könnten sie darüber nicht betrübter sein als ein vernünftiger Mensch über sein Unvermögen, zu fliegen. […] Die schlimmste Strafe – der Entzug der Anschauung Gottes – verkehrt sich so für die Bewohner der Vorhölle in einen Zustand natürlicher Fröhlichkeit: Auf immer verloren verweilen sie schmerzlos in ihrer Gottverlassenheit: Es ist nicht Gott, der sie vergaß, sondern sie haben ihn je schon vergessen, und über dieses Vergessen hat die göttliche Vergesslichkeit keine Gewalt. Wie Briefe, die ohne Empfänger blieben, sind diese Auferstandenen ohne Schicksal geblieben. Weder selig wie die Erwählten noch verzweifelt wie die Verdammten, sind sie von einer unauslöschlichen Freude erfüllt. Diese vorhöllische Natur ist das Geheimnis von Walsers Welt. Zwar haben sich seine Geschöpfe unwiderbringlich verirrt, jedoch in Regionen, die jenseits von Verdammnis und Heil liegen: Ihre Nichtigkeit, die ihr ganzer Stolz ist, äußert sich vor allem in ihrer Neutralität gegenüber dem Heil. Sie ist der radikalste Einwand, der gegen die Idee der Erlösung erhoben werden kann.« Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, S. 11f. Dass die Figuren Robert Walsers in einer »Neutralität gegenüber dem Heil« verharren sollen, ist allerdings sicher ein radikales Missverständnis. Neutral sind sie höchstens gegen vermeintliche Erlöser. 39 | Max Rychner: »Lesen als Begegnung«, S. 314.
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XI.2 D AS A LLGEMEINE B ROUILLON DES N OVALIS Für Robert Walser ist das Wort vom »Brouillon« poetischer Solitär, es ist nicht nur Wort, sondern Interpretament. Das französische »Brouillon« ist im Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 Substitut einer ganzen Lebens- und Schaffensgeschichte. Es ist erratisch und hebt doch ein Schisma zwischen den Sprachen und Nationen auf; es erzählt, indem es Grenzen – als geographische und als literarische ›Grenzen‹ – frei passiert. Das Wort schreibt lexikalische Ambiguität. Es haben sich Schichten darin abgelagert, Lektürereste – wie Tagesreste im Traum entstammen sie einer imaginären, fiktionalen Welt. Diese Schichten speisen sich (und zwar wie die nahverwandte ›bouillon‹, die auch der »heiße Brei« ist, um den im gleichnamigen Text Robert Walsers herumzuschleichen ist wie um die literarische ›Ursuppe‹, wobei die Rede vom sich der Sprache entziehenden Signifikat eben explizit in einem Traumtext situiert ist40) dabei aus unterschiedlichen Gebieten. Im Deutschen findet sich, wie erwähnt, kein Äquivalent für das »Brouillon«, und zwar vor allem wegen des literarischen Registers, mit dem das Wort sich ausgezeichnet sieht. Andererseits ist dieses literarische Register gerade durch die deutsche Dichtung – Das Allgemeine Brouillon des Novalis – geprägt. Und nicht zuletzt in der Reminiszenz an Novalis enthält das Wort vom »Brouillon« im Schriftgespräch mit Rychner eine ganze Schaffensgeschichte. Das Allgemeine Brouillon des Novalis ist ein Kompendium von Fragmenten und Aphorismen, das selbst in Verbindung mit Lektüren entstanden ist; es stellt zwar einen in sich zusammenhängenden Handschriftenkomplex dar, ist aber nicht, wie im Falle von Blüthenstaub, Präfiguration41 späterer Dichtungen, sondern eine Sammlung von Exzerpten und Lektürenotizen. Es enthält keine poetisch durchgeformten Texte, sondern Aufzeichnungen, bei denen es um das Stiften von Beziehungen, um eine »Lust an der Produktivität der Interferenz« geht, die Hans Blumenberg dabei »an die Grenze des Beziehungswahns« getrieben sieht, jenes Wahns,
40 | Vgl. Dieter Roser: Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift, S. 34, der sich auf Robert Walser, SW 19/90f., bezieht, wo es heißt: »Mit stürzenden Sätzen käme man kaum weit, wo es sich um Portraitierung von etwas im Schlaf Erlebtem handelt.« Und dann, weiter unten im Text, und vielzitiert: »Besteht nicht Schriftstellern vielleicht vorwiegend darin, daß der Schreibende beständig um die Hauptsächlichkeit herumgeht oder -irrt, als sei es etwas Köstliches, um eine Art heißen Brei herumzugehen? Man schiebt schreibend immer irgend etwas Wichtiges, etwas, was man unbedingt betont haben will, auf, spricht oder schreibt vorläufig in einem fort über etwas anderes, das durchaus nebensächlich ist.« 41 | Das Fragment ist bei Novalis nicht nur eines im Sinne von ›Bruchstück‹ oder ›Splitter‹, sondern von ›Figur‹ und ›Präfiguration‹. Vgl. Jurij Striedter: Die Fragmente des Novalis als ›Präfigurationen‹ seiner Dichtung, München 1985, S. 241.
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den Freud als Zwang beschreibt, alles Unverbundene miteinander in Beziehung zu sehen und zu setzen. Der Universalitätsanspruch der Romantik lässt sich, so Blumenberg, im Bild zusammenfassen: »Alles spricht von sich aus, wenn ihm nur das Gehör nicht verweigert wird.«42 Und in der Tat schreibt Das Allgemeine Brouillon den Versuch, über neue Sinne und deren mögliche Einrichtung, in Hypothesen über diese neuen Sinne ein Geschehen zu initiieren, das die transzendentalen Bedingungen der Vernunft mit dem Vermögen einer »zwischen allen Gestalten und Sphären schwebenden poetischen Einbildungskraft« belehnt: »Die Welt wird zum Plural.«43 So entwirft Das Allgemeine Brouillon in elliptischen Notizen eine Theorie der Berührung, des Übergangs, der »Transsubstantiation« als den Akt einer – poetisierenden – Hinwendung zum Gegenwärtigen, der sich durch eine doppelte zeitliche Ekstase bestimmt sieht, wie sie in den Blüthenstaub-Fragmenten zu lesen ist: Nichts ist poëtischer, als Errinnerung und Ahndung, oder Vorstellung der Zukunft. Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft beyde durch Beschränckung – Es entsteht Contiguitaet, durch Erstarrung – Crystallisation. Es giebt aber eine geistige Gegenwart – die beyde durch Auflösung identificirt – und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters. Nicht Geist ist Stoff.44
Die Einbildungskraft der Blüthenstaub-Fragmente, der ersten größeren veröffentlichten Arbeit des Dichters Novalis, erhält ihre Kontur vom Tode her oder besser von einer Antinomie zwischen Leben und Tod; diese Antinomie erzeugt gerade in der Anerkennung ihrer unmöglichen Intelligibilität, in ihrer Unerfahrbarkeit, eine Indifferenzierung, sie erzeugt den Differenzpunkt eines mittels Einbildung indizierten Todes, einer Interferenz von Leben und Tod oder – sprachlich gefasst – von Idiom und Kategorie.45 Als Antizipation des Endes und als dessen Verwandlung in einen Übergang, den Novalis in Anlehnung an die spekulative Physik von Johann Wilhelm Ritter »Transsubstantiation« nennen wird,46 setzt sich Novalis’ Konzept der Einbildungskraft dabei von Johann Gottlieb Fichtes Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre in deren erster Fassung von 1794/95 und dem ›absoluten Ich‹ gerade ab; in seinen 1795 begonnenen Fichte-Studien schreibt Novalis selbst:
42 | Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 234. 43 | Gert Hofmann: Schweigende Tropen, S. 96 (Hervorh. v. GH); vgl. zur »Tropologie des Staubes« bei Novalis ebd., S. 95-118. 44 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 468. 45 | Vgl. Gert Hofmann: Schweigende Tropen, S. 100. 46 | Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 237, 258ff.
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M IKROPOETIK [5.] Was verstehn wir unter Ich? Hat Fichte nicht zu willkührlich alles ins Ich hineingelegt? Mit welchem Befugniß? Kann ein Ich sich als Ich setzen, ohne ein anderes Ich oder Nichtich – /Wie sind Ich und Nichtich gegensetzbar/ 6. Das Ich hat eine hieroglyphystische Kraft. 47
Und an anderer Stelle heißt es bei Novalis: Frey seyn ist die Tendenz des Ich – das Vermögen frey zu seyn ist die productive Imagination – Harmonie ist die Bedingung ihrer Thätigkeit – des Schwebens, zwischen Entgegengesezten [sic!]. Sey einig mit dir selbst ist also Bedingungsgrundsatz des obersten Zwecks – zu Seyn oder Frey zu seyn. Alles Seyn, Seyn überhaupt ist nichts als Freyseyn – Schweben zwischen Extremen, die nothwendig zu vereinigen und nothwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus – in ihm ist alles enthalten – Obj[ect] und Subject sind durch ihn, nicht er d[urch] sie. Ichheit oder productive Imaginationskraft, das Schweben – bestimmt, producirt die Extreme, das wozwischen geschwebt wird – Dieses ist eine Täuschung, aber nur im Gebiete des gemeinen Verstandes. Sonst ist es etwas durchaus Reales, denn das Schweben, seine Ursache, ist der Quell, die Mater aller Realität, die Realität selbst.48
Das Absolute ist nur zu sehen, nur zu schauen im Schweben der Einbildungskraft, in dem alle Realität erzeugt wird und enthalten ist.49 Walter Benjamin hat dies in seiner in den Jahren des Ersten Weltkriegs entstandenen Dissertation zur romantischen Kunstkritik signifikant paraphrasiert, das heißt im Sinne einer literarischen Moderne umgeschrieben: »Die Reflexion konstituiert das Absolute, und sie konstituiert es als ein Medium.«50 Zwar verflüchtigt die Einbildungskraft die Male, Grabmale, durch welche die Grenzen markiert sind; aber gerade darin, dass sie diese nicht etwa miteinander vermittelt, synthetisiert oder identifiziert, offenbart sie zugleich ihre eigene Abgründigkeit.51 Anders gesagt: Die Reflexion kann die absolute Einheit oder die Einheit des Absoluten weder in sich darstellen noch zugleich entbehren.52 In den Fichte-Studien schreibt Novalis: »Das Wesen der Identität läßt sich nur in einem Scheinsatz aufstellen. Wir verlassen das Identische um es darzustellen […] Oder wir stellen es durch sein Nicht-
47 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 107 (Hervorh. v. N.). 48 | Ebd., S. 266 (Hervorh. v. N.). 49 | Vgl. Herbert Uerlings: »Darstellen. Zu einem Problemzusammenhang bei Novalis«, S. 381. 50 | Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. I.1, S. 37. 51 | Vgl. Gert Hofmann: Schweigende Tropen, S. 99. 52 | Vgl. Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung, Stuttgart 1991, S. 139.
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seyn, durch ein Nichtidentisches vor – Zeichen […].«53 Die Reflexionstheorie der Romantik ist so auch »eine Theorie des differentiellen sprachlichen Zeichens«.54 Und das gilt für Friedrich Schlegel wie für Novalis, der im Allgemeinen Brouillon auch schreibt: Auf Verwechslung des Symbols mit dem Symbolisirten – auf ihre Identisirung – auf den Glauben an wahrhafte, vollst[ändige] Repraesentation – und Relation des Bildes und des Originals – der Erscheinung und Substanz – auf der Folgerung von äußerer Aehnlichkeit – auf durchgängige innre Übereinstimmung und Zusammenhang – kurz auf Verwechselungen von Subj[ect] und Obj[ect] beruht der ganze Aberglaube und Irrthum aller Zeiten, und Völker und Individuen. 55
Das Moment der Täuschung ist wesentlicher Bestandteil von Wahrheit; und bei jeder Darstellung muss diese unvermeidliche Täuschung mit dargestellt werden, um die Illusion der Transparenz der Zeichen und der Präsenz des Dargestellten zu zerstören, um Zeichen und Bezeichnetes nicht zu verwechseln und die unhintergehbare Gegenständlichkeit des Zeichens nicht zu leugnen. Und auch damit wird noch immer keine Wahrheit erreicht, sondern nur die Fortführung eines Wechsels von Setzung und Aufhebung der Setzung – als romantischer Ironie.56 Die Verschiebung von der Repräsentation zur Darstellung und der unendliche Verweisungszusammenhang, der darin entsteht, machen dabei auch vor dem Lesen nicht Halt: Die meisten Schriftsteller sind zugleich ihre Leser – indem sie schreiben – und daher entstehn in den Werken so viele Spuren des Lesers – so viele kritische Rücksichten – so manches, was dem Leser zukömmt und nicht dem Schriftsteller. Gedankenstriche – großgedruckte Worte – herausgehobne Stellen – alles dies gehört in das Gebiet des Lesers. Der Leser sezt den Accent willkührlich – er macht eigentlich aus einem Buche, was er will. (Schleg[els] Behandl[ung] Meisters.) /Ist nicht jeder Leser ein Philolog?/
53 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 104. 54 | Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung, S. 91. 55 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 397. 56 | Herbert Uerlings schreibt in »Darstellen. Zu einem Problemzusammenhang bei Novalis«, S. 379f.: »Nicht von ungefähr stellt sich bei der Lektüre seiner Werke immer wieder der Eindruck eines Auf- und Abwogens von Bildern und einer besonderen Leichtigkeit und Transparenz des Erzählens ein. Der Dreh- und Angelpunkt romantischer Darstellung ist das Bewußtwerden ihres Schein-Charakters und – wie das Bild vom sich selbst malenden Maler sehr anschaulich macht – die Struktur der nochmaligen Verkehrung ihrer Verkehrungen. Damit wird keine Wahrheit erreicht, sondern eine Fortführung des Wechsels von Setzung und Aufhebung der Setzung – romantische Ironie.«
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M IKROPOETIK Es giebt kein allgemeingeltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn. Lesen ist eine freye Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben. 57
Diese Freiheit des Lesens verändert auch die Bedeutung der Einbildungskraft. Als Sphäre erscheint die Einbildungskraft selbst nicht; durch sie aber entsteht erst Realität. Und so schreibt Novalis auch: Die Zirkellinie kann überall unterbrochen – die Pole der Ansch[auung] und Vorstellung überall ge- und versezt werden. Die Einbild[ungs]K[raft] äußert sich, als Einfalls oder Hemmkraft. A[nschauung] und V[orstellung] sind, für sich genommen, stätig. Ihre Unterbrechung giebt ihnen erst Realität – insofern nemlich Realität aus der identischen Mischung von Ansch[auung] und Vorstell[ung] besteht. […] Sie müssen aber unterbrochen seyn, sonst sind sie nicht. 58
Der Wechsel, der die Realität selbst ist, gerade indem er Antinomien hervorbringt, ist gleichzeitig: Täuschung. Und die Kunst, die ein Bewusstsein von dieser Täuschung hat, sensibilisiert zwar für das Ganze, für die Totalität, objektiviert diese aber nicht. Die Kunst ist immer auch Ausdruck einer Distanz zum ›Seyn‹, insofern sie angesichts der ans Ende aller Zeiten projizierten Aufhebung von Antinomien ein Bewusstsein ihrer eigenen Vorläufigkeit hat. Und so ist bei Novalis »eine selten bemerkte Selbstbegrenzung des Ästhetischen, durch die das Kunstwerk auf die Offenheit der Geschichte verweist«59 zu bemerken, wie Herbert Uerlings schreibt. Singularität wahrzunehmen – oder in den Worten der Zeit gesprochen: Individualität wahrzunehmen, bedeutet, das intrinsische Vermögen zur Wandlung wahrzunehmen: als ein Gleiten, als ein Schweben zwischen Präsenz und ›geheimer‹ Transzendenz. Auf dieser Schwelle wird das Denken zur Zwiesprache mit sich selbst und eröffnet den indefiniten Raum für die Sympathie der Einbildungskraft, und das heißt für die im Allgemeinen Brouillon des Novalis bekundete »Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten« – unter dem Vorzeichen gemeinsamer Vergänglichkeit. Für Novalis ist Erinnerung im weitesten Sinne »Vordichtung«, die der Dichter durch ›Inzitamente‹ nur noch zu entfalten braucht.60 Der Dichter schließt, wie er den Zug beginnt. Wenn der Philosoph nur alles ordnet, alles stellt, so lößte der Dichter alle Bande auf. Seine Worte sind nicht allgemeine Zeichen – Töne sind es – Zauberworte, die schöne Gruppen um sich her bewegen. Wie Kleider der Heiligen noch wunderbare Kräfte behalten, so ist manches Wort durch irgendein herrliches Andenken, geheiligt und fast allein schon ein Gedicht 57 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 609. Novalis spricht über Friedrich Schlegels Text »Über Goethes Meister«, in: ders.: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 126-146. 58 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 190 (Hervorh. v. N.). 59 | Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 146. 60 | Vgl. Jurij Striedter: Die Fragmente des Novalis als ›Präfigurationen‹ seiner Dichtung, S. 233.
XI. »B ROUILLON « geworden. Dem Dichter ist die Sprache nie zu arm, aber immer zu allgemein. Er bedarf oft wiederkehrender, durch den Gebrauch ausgespielter Worte. Seine Welt ist einfach, wie sein Instrument – aber ebenso unerschöpflich an Melodien.61
XI.3 D OKTOR F RANZ B LEI »Melodien« figurieren bei Novalis nicht nur in den theoretischen Schriften, sondern auch im Roman Heinrich von Ofterdingen: »Er [d.i. Heinrich] sah die Welt in ihren großen und abwechselnden Verhältnissen vor sich liegen. Noch war sie aber stumm, und ihre Seele, das Gespräch, noch nicht erwacht. […], um durch Laute der Muttersprache und durch Berührung eines süßen zärtlichen Mundes, die blöden Lippen aufzuschließen, und den einfachen Accord in unendliche Melodien zu entfalten.«62 Das Wort von den ›Melodien‹ aber wird, wie bereits erwähnt, zwischen der ersten und der zweiten Fassung von Robert Walsers Text Hans verlorengegangen sein.63 Es entfällt. Und meist gehen die »häufig Satz für Satz neufassenden Überarbeitungen, denen Robert Walser nach 1915 die meisten Texte unterwarf, die er aus einem Vorabdruck in eine Buchausgabe übernahm«,64 so weit, dass nur noch der gemeinsame Titel auf den Umstand der Bearbeitung überhaupt hinweist. Jedoch gibt es einen Text, bei dem sich auch der Titel signifikant verändert hat. Gegenüber dem früheren Text Der Doktor, im März 1914 in den Deutschen Monatsheften (Die Rheinlande) erschienen, macht erst die zweite Fassung mit dem Titel Doktor Franz Blei den Namen prominent sichtbar. Die Bekanntschaft mit Franz Blei zeigt sich in diesem Text dabei durch einen Brief angebahnt: Eines Abends, um die Zeit, wo ich gewöhnlich von der Arbeitsstätte oder vom Arbeitsfeld nach Hause zurückkehrte, sah ich auf dem Tisch, im Dämmerlicht der schon dunklen Stube etwas Kleines, blitzend Weißes und Feines liegen. Es war ein Brief, ich öffnete ihn, trat ans Fenster, das noch einige undeutliche und schwache Tageshelligkeit gewährte, und las, was mir Doktor Franz Blei schrieb, der mich bat, ihn besuchen zu wollen, da er mich gerne kennenlernen möchte. Ich ging andern Tages, nachmittags sechs Uhr, zu ihm hin, um dem Manne, den meine Gedichte interessiert zu haben schienen, meine Aufwartung zu machen, wobei es, wie ich mich erinnere, und zwar so deutlich erinnere, wie wenn es sich um eine Erscheinung von gestern oder vorgestern handeln sollte, aus grauem, weichem Himmel
61 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 533. 62 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 268. 63 | Vgl. Robert Walser: Hans, in: Die Schweiz, Jg. XX, Heft Nr. 8 (1916), S. 450 und SW 7/205. 64 | Vgl. Nachwort des Herausgebers in: SW 16/418-424, S. 422.
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M IKROPOETIK sanft auf einen wie mit Teppichen belegten Weg herabregnete, als weine es in leisen süßen Strömen aus tränenangefüllten Augen. 65
In Doktor Franz Blei wird nun weiter berichtet, wie Blei noch zweimal in diesem Sommer vom jungen Dichter auf der Straße gesehen wird, und davon »einmal aus einiger kleinen Entfernung«, also sowohl aus »einiger« Entfernung als auch – und im Widerspruch hierzu – aus einer »kleinen« Entfernung. Aus dieser unwägbaren Entfernung heraus erscheint Bleis Ausstattung dem Betrachter als eine bemerkenswerte Agglomeration von Verschiedenem; sie hat eine verwirrende indexikalische Qualität: Soviel ich weiß, trug er einen zierlichen Spazierstock überaus gravitätisch, wobei er wie ein Abenteurer aussah, der sich aus Gründen des guten Tones so genau wie möglich nach den Vorschriften der Mode richtet, weshalb er, obgleich originell gekleidet, durchaus unauffällig blieb, indem er Eigenheit mit Unscheinbarkeit auf die schönste Art in Einklang oder in Zusammenhang brachte. Obwohl er also durchweg modern und zeitgemäß, d.h. wie ein Mensch daherkam, der mit der Zeit rechnet, in der er lebt, so machte er mir dennoch den Eindruck des Sonderbaren und Ungewöhnlichen, den Eindruck sozusagen des Fremdartigen, und ich glaubte nicht im geringsten zögern zu müssen, seine Figur in Gedanken in die Städte Mailand, Venedig, London oder Paris vom Jahre 1800 hinüber zu versetzen, indem ich mich von der merkwürdigen Empfindung betroffen fühlte, daß er besser zu den menschlichen Erscheinungen einer vorbeigegangenen als zu den Leuten der gegenwärtigen Epoche passe. Freilich muß ich gestehen, daß sich diese Beobachtung immerhin nur auf eine flüchtige Anwandlung von Empfindsamkeit, demnach auf etwas Unbestimmtes stützte. 66
Wie im Heinrich von Ofterdingen des Novalis scheint die Kleidung verändert und »aus einer andern Zeit« zu stammen.67 Der Erzähler sieht sich mit dem Anblick von Franz Blei aber nicht etwa selbst in die Städte »vom Jahre 1800« versetzt, sondern glaubt nicht im geringsten zögern zu müssen, dessen »Figur in Gedanken« in die ästhetischen Hauptstädte Europas »hinüber zu versetzen«, von der merkwürdigen Empfindung nicht etwa getroffen, sondern betroffen, dass Blei nicht zu den Erscheinungen einer vorüber-, sondern eher zu denen einer (wie der Mensch in der Masse) vorbeigegangenen Epoche »passe«. Blei ist also nicht etwa auf distinguierte Weise passé, obgleich die Verbform (d.i.«passe«) bereits ganz danach aussieht. Der Akzent liegt vielmehr darauf, dass Blei nicht etwa als, sondern wie ein Mensch daherkommt, »der mit der Zeit rechnet«; und demnach ist er nicht derjenige, mit dem seine Zeit, mit dem seine Zeitgenossen rech-
65 | SW 5/214. 66 | SW 5/217f. 67 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 264f.
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nen, auf den sie zählen könnten. – Es findet sich durchaus auch eine leise Invektive in diesem Porträt.68 Die Figur des Doktor Franz Blei ist anachronistisch gezeichnet, in einer Anachronie, in der selbst die Transposition transitorisch wird: Doktor Franz Blei ist einesteils in die Vergangenheit versetzt, kommt aus der Geschichte als revenant aber zugleich auch wieder hervor. Im Unbestimmten, eben in der »Anwandlung«, ist er daneben auch in seiner Zeitgenossenschaft bestätigt. Und doch haftet Blei die Allusion zeitlicher und räumlicher Exterritorialität an, ein sonderbarer Einklang von »Eigenheit mit Unscheinbarkeit«. Aber geht es in der »Anwandlung von Empfindsamkeit« nun um einen landläufigen Begriff, um die Rührung, um ein Überwältigtsein, das nicht als Schmerz empfunden wird, sondern lediglich als überflutender ozeanischer Weltschmerz, als Erleichterung, die auf eine überstandene innere Not hindeutet, kurz: um die Berührung einer ›weichen Stelle‹? Von anderer Seite, von einer anderen Instanz im Text, ist dies durchaus kritisch beobachtet oder sogar als unhaltbar durchschaut, was im Begriff der »Empfindsamkeit« selbstbelächelnd ironisch bereits mitgeschrieben ist. Die Beobachtung – »immerhin« und zugleich »nur auf eine flüchtige Anwandlung von Empfindsamkeit« gestützt – bezieht sich nicht nur auf das (Baudelairesche) Moment des ›Instantané‹, sondern verknüpft die »Anwandlung« mit einem Epochenbegriff, der vor die Moderne zurückgeht. »Empfindsamkeit« als jene Epoche, die der bereits von Gotthold Ephraim Lessing geprägte Neologismus ›empfindsam‹ umschreiben wird, fällt in der Geschichtsschreibung der Ästhetik mit dem Rokoko zusammen. Und um diese Epoche hatte sich eben Franz Blei mit seinen eigenen Schriften verdient gemacht. Die Empfindsamkeit wird Inspiration für die literarische Romantik, sie wertet wie diese den Roman gegenüber dem Drama auf. Und das Geständnis, das Bekenntnis – »Freilich muß ich gestehen, daß sich diese Beobachtung immerhin nur auf eine flüchtige Anwandlung von Empfindsamkeit, demnach auf etwas Unbestimmtes stützte«69 – in Robert Walsers Text Doktor Franz Blei lässt in der Tat an die Confessions von Jean-Jacques Rousseau
68 | In einem Brief vom 16. November 1926 an Max Brod (Prager Tagblatt), in: Br, S. 287, wird Robert Walser schreiben: »Was Sie nicht haben wollen, d.h. was Ihnen für eine Veröffentlichung bei Ihnen nicht tauglich scheint, sind Sie höflich gebeten, mir wieder zurückzugeben, es nicht etwa machend wie unser begabter, aber eigenmächtiger Freund François Blei von Gottesgnaden, der mit Freunden und Kollegen umgeht wie mit Lakaien, d.h. Minderwertigen u.s.w. Er behält ganz urgemütlich Manuscripte und hüllt sich in einen Nebel von hoheitvollem, patriarchalischem Schweigen, wenn man fragt, was die Manuscripte machen.« Das patriarchalische Schweigen weist auf die Vaterfigur, die »François Blei« auch ist, und auf die Manuskripte, die bei diesem Stifter der Publizität, der sich wie ein Gebieter vielleicht nicht einmal aufzuführen, aber doch anzufühlen scheint, stiften gehen. 69 | SW 5/217f.
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denken, die wie die Rêveries du promeneur solitaire erst nach Rousseaus Tod erschienen waren. Jean Starobinski hat Rousseaus empfindsame Texte dadurch charakterisiert gesehen, dass darin »das Zeitgefühl in weite Ferne rückt« und eine »Ekstase aus der hauchzarten Wahrnehmung« erwacht, »die sich allein auf das Daseinsgefühl beschränkt«.70 Diese hauchzarte Wahrnehmung betrifft in Robert Walsers Text Doktor Franz Blei nun eine individuelle ›Epoche‹ der Empfindsamkeit, einen Augenblick, kurz wie ein Wimpernschlag, in dem die Wahrnehmung, »immerhin« und »nur« auf die ›Erscheinung‹ einer Person oder fiktiven persona gestützt, unbestimmt und unbestimmbar wird – eben poetisch. Die Transposition von Blei in die anderen Städte und Zeiten zeigt dabei aber eine Form der Selbstreflexivität mit im Spiel, die »vom Jahre 1800« datiert. Und diese romantische Reflexivität stellt den Gehalt der doch andererseits im Text gewissermaßen als empirisch ausgewiesenen »Beobachtung« in Frage, wenn auch wiederum nicht gänzlich, denn die »Empfindsamkeit« im geläufigen Sinne der momentweisen Anwandlung, der Affiziertheit, ist in ihrer Authentizität ja gerade auch bezweifelbar geworden. Der Text wiederholt en miniature den Übergang von der Empfindsamkeit als der mit Jean-Jacques Rousseau verbundenen literarischen Epoche, hin zu einer Reflexionstheorie, die sich mit den deutschen Romantikern, mit Novalis, verbunden zeigt, und für diesen gilt: »Der Geist erscheint immer nur in fremder, luftiger Gestalt.«71 Die exakte, das heißt die phantasmatisch-authentische Transposition von Welt in Sprache gibt es hier nicht mehr; die literarische Romantik hat das Phantasma ihrer wiederzugewinnenden Einheit durchkreuzt: Sprache ist im Text des Novalis mit dem sprechenden Titel Monolog, wie zitiert, »eine Welt für sich«.72 In Robert Walsers Doktor Franz Blei ist dergestalt sowohl das Epistem der »Empfindsamkeit« als auch das der »Beobachtung«, der Empirie, in Frage gestellt; die Transposition von Blei greift auf eine Zeit vor 1800 über – und auf die Moderne. Am Ende privilegiert sie den Eindruck »vom Jahre 1800«, den gerade Blei zu verkörpern scheint. Und die syntaktische Reihung der Einzellexeme »immerhin«/»nur« äquilibriert dabei ein unwägbares Geschehen: die anamnesis (das heißt im ursprünglichen Wortsinn die ›Erinnerung an‹). Die Anamnese, die Bestandsaufnahme, die Erinnerung gilt dabei einem geliebten – oder auch gefürchteten – Wesen, das uns verlassen hat.
70 | Jean Starobinski im Nachwort zu Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse, München 1981, S. 915; zit.n. Kerstin Gräfin von Schwerin: Minima Aesthetica, S. 198f. 71 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 429. 72 | Ebd., S. 672f.
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XI.4 » IM L AND DER P OESIE SELBER « In Robert Walsers Text mit dem Titel Doktor Franz Blei lädt im beschriebenen Sommer die Figur Blei zu einigen literarischen Soireen in seinem Hause ein, deren Glanz im Text allerdings kontrastiert wird: »Fabelhafte, glänzend schwarze Nächte, und der Morgen dann so hell und freundlich, mit so guten, lieben, blauen Augen! Das Bleiche und das Rosige, das Nebelhafte und das Klare – – «73 Das Nebelhafte, Bleiche, mit dem sich die Abende in Franz Bleis Haus verbunden zeigen, enthält im Wortmaterial auch die Leiche, das Rosige hingegen enthält selbstredend die Rose, kabbalistisches Sinnbild des Lebens. Und zusammen genommen entspricht dies der bereits weiter oben erwähnten Beschreibung der deutschen Sprache in Robert Walsers Text Die deutsche Sprache: »Einige dachten, daß sie dem Tode nahe sei, und sie hatten recht. Sie starb, d.h. sie schlich hin wie eine Tote. Niemand glaubte, daß sie je wieder zu Kräften käme. Sie verlor all ihren Liebreiz, klang trocken, hart und albern und diente fast ausschließlich zu Barschheits- und Schneidigkeitszwecken. Ihre verdorbene Stimme war das denkbar Misslichste, den meisten grauste es vor ihr. Ja, sie war krank und liegt nun zertreten, doch es leben Leute, die sie lieben wie immer, und ihr treu bleiben wollen, denn sie denken, sie sei unausrottbar und werde ihre Schönheit wiedergewinnen. Ganz im stillen, wo es unscheinbar und dunkel ist, pflegen sie sie, damit sie gesunde. Sicher wird sie wieder aufstehen und duften und blühen und ihren Frühling haben und tönen wie Vögleinstimmen.«74 »Fabelhafte, glänzend schwarze Nächte« in der Gesellschaft, das Bleiche, Nebelhafte und der helle, freundliche, einsame Morgen, das menschliche Antlitz mit blauen Augen, das Rosige, das Klare – diese Entgegensetzung im Text Doktor Franz Blei wird sich anders in der zweiten Fassung des Dichterporträts Brentano (II) finden: »O, wie war’s an schönen Tagen groß und heiter, wundersam hell um ihn gewesen, die leuchtenden, frohen Morgen und die Abende mit den süßen Farben! Nach und nach fragte er dem allen nichts mehr nach; […], aber der Fehler war in ihm; Leben bleibt immer dasselbe, er schaute es nur nicht mehr liebend an. Was wir nicht achten, wird für uns wertlos; doch wir sind selber dran schuld.«75 Die Figur Brentano sagt hier »allem Leben lebewohl«, geht »dorthin, wo viele, viele Stufen abwärts ins Abgeschlossene« führen, und trifft auf jemanden, der ihn, den Dichter, »aufforderte, für immer Verzicht abzulegen«. Das Buchstabenmaterial doppelt sich darin (»allem Leben lebewohl« zu sagen) zu einem inhärenten Paradox. Und auch das Präfix der geschilderten Bewegung, »abwärts ins Abgeschlossene«, wiederholt sich und schreibt doch eine Differenz, denn mit dem zweiten Präfix ›ab-‹ ist eine Bewegung gerade ausgeschlossen. Robert Walsers Text Brentano (II) 73 | SW 5/221. 74 | SW 16/395. 75 | SW 16/237.
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schreibt den halb willentlichen Gang zum Tod, als jene geistige Entropie, die Freud mit seinem Begriff des Todestriebs zu fassen versucht hatte; der Text schreibt einen Tod im Leben, in dem der Verzicht ›abgelegt‹ wird – in »viele[n], viele[n] Stufen«, schleichend und kaum merklich. Der Verzicht ist, wie das weltliche Gewand vor einer Einkleidung ins Priesterornat, ›abgelegt‹ und in der Entsagung nicht etwa, wie in konventioneller Rhetorik zu erwarten wäre, ›angenommen‹. Auf den ›Verzicht‹, und das heißt auf das Ausbleiben der Erfüllung von Wünschen, wird in dem Gelöbnis, »nie mehr wieder etwas zu wünschen«, vielmehr selbst verzichtet. Dies aber ist Abschied von einem Mangel, der auch im Wort vom ›Verzicht‹ bereits euphemisiert ist, insofern der Mangel darin bewusst gewollt erscheint. Der Text entlarvt die Lebenslüge im »Verzicht« auf einen ›Verzicht‹, der keiner ist, wo es sich nur um einen unumgänglichen Mangel handelt, dessen Akzeptanz nur eben schwer, zu schwer fällt. Und der letzte Satz des Textes leuchtet indirekt aus, woher der ganze Zusammenhang rühren mag: »und seither hörte niemand etwas von ihm«.76 Das Verstummen, das von der Seite der Rezipienten aus gedacht ist, es »hörte niemand etwas von ihm«, und das mit dem ›Verzicht‹ auf den unumgänglichen Mangel im Ausbleiben der Wunscherfüllung einsetzt, hat – der Text benennt es selbst – etwas damit zu tun, inwiefern etwas oder auch jemand »liebend« angesehen worden ist. Und so weisen die kindlichen, »guten, lieben blauen Augen« im Text Doktor Franz Blei auch auf eine Kindheit. Im Text Am See, der im Januar 1915 in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint, heißt es über die Wechselwirkung dieses Blicks, der hier nicht intentional, sondern fast schon vegetativ ist und der in diesem Falle so auch konsequent von einem See (!) ausgeht: Mit dem weiten See, der mich anschaute wie ich ihn, sah ich die Kindheit, die auch mich anschaute wie mit klaren schönen guten Augen. Bald vergaß ich ganz, wo ich war; bald wußte ich es wieder. […], und im Wasser draußen, im lieben See draußen, wo das holde, heitere Weinen sanft sich verbreitete, fuhren in Booten oder Nachen noch Liebhaber der Schiffahrt, Regenschirme über den Köpfen aufgespannt, ein Anblick, der mich phantasieren ließ, ich sei in China oder in Japan oder sonst in einem träumerischen, poetischen Land. Es regnete so süß, so weich auf das Wasser und es war so dunkel. Alle Gedanken schlummerten, und wieder waren alle Gedanken wach.77 76 | SW 16/238. 77 | SW 16/15. Im Text Hans im Band Seeland heißt es: »Doch auch sonst sah er manches, wessen er sich später auf gute Art entsann./So zum Beispiel sah er, wenn er abends bei Regenwetter etwa am See stand, Leute mit Regenschirmen, die sie über ihren Köpfen und Kleidern aufgespannt hielten, bis in alle Nacht hinein behaglich im See hin und her gondeln, was eine Art Schiffahrt war, die ihn lebhaft an die Sitten und Bräuche in China oder Japan mahnte, obwohl er weder ersteres noch letzteres fremdartige Land je im Leben mit Füßen und Schuhen betreten oder mit eigenen Augen gesehen hatte. Hingegen wurde ihm von einem Ka-
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Am See zu sein – das erinnert auch an China oder Japan; im Text Leben eines Malers ist der See sogar eine als solche reflektierte, exotistische Chinoiserie: »In einiger Entfernung liegt ein rundlicher See, der blau wie Porzellan ist.«78 In vielen Texten der Bieler Prosa ist der See Intarsie, in den Text eingelassen wie als etwas besonders Kostbares. Der See beerbt darin Goethes Gedicht mit dem Titel Auf dem See, in dem es gleich eingangs heißt: »Und frische Nahrung, neues Blut/Saug’ ich aus freier Welt;/Wie ist Natur so hold und gut,/Die mich am Busen hält!« Die zweite Strophe lautet: »Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder?/Goldne Träume, kommt ihr wieder?/Weg, du Traum! so Gold du bist;/Hier auch Lieb’ und Leben ist.« Und die dritte Strophe lautet: »Auf der Welle blinken/Tausend schwebende Sterne,/Weiche Nebel trinken/Rings die thürmende Ferne;/Morgenwind umflügelt/ Die beschattete Bucht,/Und im See bespiegelt/Sich die reifende Frucht.«79 Im See »bespiegelt/Sich die reifende Frucht« – in Goethes Gedicht. In Robert Walsers weiter oben bereits zitiertem Text Abend hingegen spiegeln sich Himmel und See infinit ineinander: »Es war mir, als gehe und trete ich im Land der Poesie selber, […]. Die großen Wolken sanken hinab in das stille, fließende Wasser und die Sterne zitterten von unten aus dem Fluß herauf, […]. Unten und oben, das Vordere und das Zurückgesunkene!«80 Im Text Abend sinken nicht nur Himmel und Erde, Oben und Unten auf der zerteilten Oberfläche des Sees/Schreibpapiers ineinander, sondern das »Vordere und das Zurückgesunkene« treten zum Palimpsest von Rezentem und Verschüttetem zusammen. Und darin bespiegelt sich nicht etwa die »reifende Frucht«, wie noch bei Goethe, sondern signifikant das Reifen der Frucht: »im Land der Poesie selber«.
XI.5 » GANZ IN GR AU « Im Herbst ist der junge Dichter im Text Doktor Franz Blei aus seiner Stellung ausgetreten, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können (»ganze Tage und eine volle Unabgeschnittenheit. Raum und Zeit spielen da eine bedeutende Rolle«81); er sitzt nun in seiner kleinen Schreibstube. Die Stille und die Sonderbarkeiten taten es mir an, und ich fühlte mich unwiderstehlich von der Macht des Düsteren und Einsilbigen angezogen. Das Nichts riß meraden, der dort gewesen war, viel davon erzählt.« (SW 7/188.) Die »zweiten und anderen Augen«, von denen im Text Der Kuss (I) (vgl. SW 4/25) auch die Rede ist, sind also durchaus in einem wörtlichen Sinne auch die des »Kameraden, der dort gewesen war«. 78 | SW 7/22. 79 | Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen [Weimarer Ausgabe], Abt. 1, Bd. 1, Weimar 1887, S. 78. 80 | SW 4/170. 81 | SW 5/220.
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M IKROPOETIK mich mit seinem wunderbaren Gehalt hin. Die Beschäftigungslosigkeit beschäftigte mich im höchsten Grad, und ich trank in vollen Zügen den melancholischen Reiz der Leere. Unangetastet und unzerstreut wollte ich sein, und ich war es. Von Zeit zu Zeit sprang die Türe auf, und ein übermütiger Tänzer tanzte unter wunderlichen, drolligen Bewegungen zu mir herein. Auch besuchten mich bisweilen Reue, Wehmut und Trauer. 82
Trotz der »wunderlichen« Erscheinungen eines »Tänzers« stört nichts den jungen Dichter, und er stört niemanden. Kein Mensch weiß, wo er sich aufhält, aber es braucht auch niemand zu wissen. Kein Mensch kommt, und auch er geht zu niemandem hin. Nur einmal klopfte es eines Abends plötzlich an meiner Türe. Ich dachte zuerst eine kleine Weile darüber nach, wer das wohl sein könne, und dann rief ich »Herein!«, worauf groß und schlank Herr Doktor Franz Blei hereintrat. »Also hier sitzen Sie, und auf solche Art und Weise verbringen Sie Ihre Jugend«, sagte er mit merkwürdig dunkler Stimme und verschwand wieder. Es war nämlich gar nicht er selber sondern ein Spuk, eine Truggestalt, eine geisterhafte Einbildung, wobei zu bemerken ist, daß er ganz in grau erschien, was schon an und für sich auf Spuk und Unwirklichkeit schließen ließ. 83
Ob Doktor Franz Blei an jenem Abend »ganz in grau« eintrat, bleibt im Dunkel der Fiktion – obwohl gerade die Farbe der Kleidung, trotz des unwägbaren Geschehens, Indiz für das fiktionale ›Ereignis‹ ist. Der Raum aber ist im Text Doktor Franz Blei, wie gezeigt, nicht stabil, macht Blei doch »den Eindruck des Sonderbaren und Ungewöhnlichen, den Eindruck sozusagen des Fremdartigen, und ich glaubte nicht im geringsten zögern zu müssen, seine Figur in Gedanken in die Städte Mailand, Venedig, London oder Paris vom Jahre 1800 hinüber zu versetzen, indem ich mich von der merkwürdigen Empfindung betroffen fühlte, daß er besser zu den menschlichen Erscheinungen einer vorbeigegangenen als zu den Leuten der gegenwärtigen Epoche passe. Freilich muß ich gestehen, daß sich diese Beobachtung immerhin nur auf eine flüchtige Anwandlung von Empfindsamkeit, demnach auf etwas Unbestimmtes stützte«.84 Was aber ist unbestimmt? Die Figur Blei ist Wiedergänger nicht nur einer vergangenen Epoche, er ist auch Wiedergänger seiner selbst im Sinne einer durch ihn eingesetzten Lektüre, die jedesmal anders ausfallen kann. In der Fiktion des Textes bildet sich der ›kleine Wahn‹ des Lesens ab, in dem man ja auch etwas ›sieht‹, das nicht da ist. Die Figur des Franz Blei ist in ihrem Doppelgängertum als revenant aus der Vergangenheit gleichermaßen ›real‹ wie ›imaginär‹. Der Text lässt das Doppelgängertum aber überdies motivisch werden, benennt Blei ausdrücklich als möglichen »Spuk«. Und dergestalt 82 | SW 5/222. 83 | SW 5/223. 84 | SW 5/217f.
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greift der »Spuk« nun auf das poetische Ich über, die Erscheinung ist gleichermaßen Eingebung, deren Gehalt nicht nur vom Anderen her kommt oder zu kommen scheint. Dies aber kann wiederum nur aufgefasst werden, weil der Andere Ähnlichkeiten zum eigenen (poetischen) ›Ich‹ aufweist, weil er der Ähnliche ist. Und eben diesem »Moment der Wiederholung des Gleichartigen«,85 der Differenz im Ähnlichen,86 entstammt der Charakter des Unheimlichen: Der Doppelgänger Blei wird zum Doppelgänger des poetischen Ichs. Und dabei ist, wie Sigmund Freud in seinem Text Das Unheimliche in einer Zitation aus der 1914 erschienenen Arbeit von Otto Rank mit dem Titel Der Doppelgänger schreibt, der Doppelgänger »ursprünglich eine Versicherung gegen den Untergang des Ichs, eine ›energische Dementierung der Macht des Todes‹ (Otto Rank), und wahrscheinlich war die ›unsterbliche‹ Seele der erste Doppelgänger des Leibes«. Mit der Überwindung des Seelenlebens des Kindes verändert sich, so Freud, jedoch das »Vorzeichen« des Doppelgängers: »aus einer Versicherung des Fortlebens wird er zum unheimlichen Vorboten des Todes«. Aus der Unwägbarkeit der eigenen Existenz, aus der sich am Ende jede Art Unwägbarkeit in Bezug auf die ›Vorzeichen‹ eines Begriffs gespeist findet, geht der Doppelgänger als deren Gestalt, als Gestalt dieser Unwägbarkeit hervor, und das heißt als Schreckbild oder aber als Projektionsfläche – denn auch die alte, gutwillige Gestalt des Doppelgängers kann sich mit neuem Gehalt anfüllen. Und der Umstand, dass das Ich eine Instanz ausbildet, die der Selbstbeobachtung dient, kann dann auch bedeuten, dass »alle unterbliebe85 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 249. 86 | Der Term »der Ähnliche« (semblable) spielt im Werk von Jacques Lacan seit den 1930er Jahren eine Rolle und bezeichnet diejenigen Menschen, in denen das Subjekt eine Ähnlichkeit zu sich selbst findet (hauptsächlich eine optische Ähnlichkeit), was vor allem für die Geschwister gilt. Diese Identifikation lässt eine »Imago des Ähnlichen« entstehen, die mit dem Bild des eigenen Körpers, dem Spiegelbild, mit dem sich das Subjekt im Spiegelstadium identifiziert, austauschbar wird. Man wird sich nur insofern mit dem Bild des Körpers einer anderen Person identifizieren, wie dieses als dem eigenen Körper ähnlich erkannt wird; auf der anderen Seite ist der Ähnliche nur als einzelnes, identifizierbares Ich zu erkennen, wenn das eigene Ich darauf projiziert erscheint. Später hat Lacan eine weitere Unterscheidung eingeführt. Danach ist der »große Andere« radikale Alterität, der »kleine andere« (oder auch »imaginäre andere«) hingegen nicht diese radikale Alterität, insofern er dem Ich ähnlich ist. (Vgl. Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, S. 34f.) Friedrich A. Kittler schreibt hierzu: »Ähnliche, zumal Geschwister, verschmelzen dem Kind mit seinem Spiegelbild. Sie sind darum Objekte sowohl einer Liebe, die Ich und andere (mit kleinem a) verwechselt und im anderen das Ideal liebt, als auch eines Hasses, der den Anderen um seine Ganzheit beneidet. Die Beziehung zwischen Ich und Seinesgleichen ist erotische Aggressivität, die in ihrem Transitivismus und ihrer Instabilität jeder Regelung spottet.« Friedrich A. Kittler: »Das Phantom unseres Ichs«, S. 152f.
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nen Möglichkeiten der Geschicksgestaltung, an denen die Phantasie noch festhalten will, und alle Ich-Strebungen, die sich infolge äußerer Ungunst nicht durchsetzen konnten«, nun dem Doppelgänger »einverleibt werden«.87 In Robert Walsers Text Doktor Franz Blei zeigen sich diese Vorgänge in einer umfassenden Ambiguisierung am Werk. Die Erscheinung des revenant Doktor Franz Blei ist nicht ›objektiviert‹. Das Halbdunkel, in dem alles bleibt, negiert jede Festlegung – aber eben nicht völlig. Franz Blei kann an dem Abend »eingetreten« sein, vielleicht aber handelt es sich auch nur um eine Phantasie, ein Phantasma oder gar eine Halluzination. Der Status des Ereignisses bleibt unklar. Auch fiktional. Die Figur Franz Blei wird zur Erscheinung, im Doppelsinn des Wortes, aber, wie Max Kommerell bemerkt, ist ein »Mensch, der Geist wird, [eben] zugleich ein Geist, der Körper wird«.88 Mit Blei ist die Lektüre selbst allegorisiert – und die Schrift, insofern Sprache sich ›verdoppelt‹ zeigt, sobald sie geschrieben ist.89 Und der revenant Blei ist weder tot wie der Buchstabe noch lebendig wie das gesprochene Wort – oder das Lesen. Oder aber er ist beides zugleich. Im Text gibt es kein Realitätszeichen, das erlauben würde, die ›Wahrheit‹ von der Imagination zu unterscheiden – es sei denn, man ließe die Farbbestimmung von Bleis Aufzug – »ganz in grau« – als solches Zeichen gelten. Aber in der Farbe Grau dokumentiert sich eben auch der »Spuk«. Und nichts findet sich in der Einsinnigkeit einer Gegenwart wieder.90 Alles vermittelt vielmehr die Fragilität einer Erinnerung, die es ›als solche‹, und das heißt abgesehen von ihrem jeweiligen verschwommen bildhaften Gehalt und entkleidet von ihrem ungestalten Modus, nicht gibt. Die Figur Blei steht für etwas, für das es keinen Begriff gibt. Im Sinne der Traumdeutung Freuds bildet sie eine Einheit mit »widerspruchsvollen Zügen«.91 Sie bildet jene Art Sammelperson, die sich in der »Traumarbeit«, wie im Witz, durch den Vorgang der Verdichtung ausbildet. Am Ende vertritt Blei, gleichsam in der manifesten Traumerzählung, als diese einzelne Vorstellung dabei gleich mehrere, unterschiedliche Assoziationsketten, an deren Kreuzungspunkten er sich als »Knotenpunkt« etabliert. In der Figur Blei häuft sich Verschiedenes an, nicht jedoch im Sinne einer Zusammenfassung, denn die Verdichtung ist lakonisch, sie stellt sich, wie im Traum, als eine abgekürzte Übersetzung der Traumgedanken dar, indes: »Wenn jedes manifeste Element durch mehrere latente Bedeutungen determiniert ist, so kann umgekehrt jede dieser Bedeutungen sich in mehreren Elementen wiederfinden; andererseits gibt es keinen gemeinsamen Bezugspunkt für das ma87 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XII, S. 247f. 88 | Max Kommerell: »Novalis. Hymnen an die Nacht«, in: Gedicht und Gedanke, hg v. H.O. Burger, Halle 1942; zit.n. Gert Hofmann: Schweigende Tropen, S. 115, Anm. 42. 89 | Vgl. Helmut Glück: Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie, Stuttgart 1987, S. 1. 90 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 113. 91 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. II/III, S. 299f.
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nifeste Element und jede seiner Bedeutungen, die es repräsentiert: es faßt sie folglich nicht zusammen, wie das ein Begriff tun würde.«92 Die Sammelperson Blei fasst Bedeutungen nicht in derselben Weise zusammen, wie dies ein Begriff tun würde. Und wirklich gleicht die Figur Blei in Robert Walsers Text Doktor Franz Blei eher einer Grisaille. In der Kunstform der Grisaille sind – ausschließlich in fein abgestuften Grautönen – nicht etwa Lebewesen gezeichnet oder gemalt, sondern bildhauerische Plastiken. Die Repräsentation der in der Skulptur bereits geronnenen Bewegung dient dabei der Verhüllung einer Bildbotschaft. In der italienischen Renaissance war die Grisaille Schmuggelpfad für die Wiedergeburt der antiken Kultur.93 Auch mit der Figur Blei in Robert Walsers Text, die »ganz in grau« aus dem Schattenreich der revenants zu kommen scheint, geht einher, was Dominik Müller für die Graumalerei oder Grisaille beschrieben hat: »In der Grisaillemalerei werden die Farben nicht gegeben, sondern lediglich suggeriert, um von der Phantasie des Betrachters aufgerufen werden zu können, ein Vorgang, der sich schon einen Schritt in die Richtung der Rezeption von sprachlichen Zeichen zu bewegen scheint.«94 Eine Vorliebe für dieses ebenso zeichenhafte wie suggestive Grau findet sich dabei bereits in Robert Walsers frühem Text mit dem Titel Ein Maler, wo es von einer Beschreibung des Nebels abgeleitet ist: »Ich liebe den Nebel, so wie ich alles liebe, was feucht, kalt und farblos ist. Ich habe nie Ursache gehabt, mich nach mehr Farben zu sehnen, denn ich habe immer, 92 | Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 580f. Die Verdichtung kann also andererseits auch dazu führen, dass Züge, die nicht koinzidieren, ausgelöscht werden, um einen gemeinsamen Zug oder gar mehrere solcher gemeinsamen Züge verstärken zu können. 93 | Der Kunsthistoriker Aby Warburg, der sich auch mit der Kunstform der Grisaille befasst hat, wird sich während der Jahre des Ersten Weltkriegs einem Projekt zuwenden, das solche Verhüllungsformen zu dokumentieren sucht. Der Plan zu einem Bilderatlas, der die in der bildenden Kunst tradierten Pathosformeln – bezeichnenderweise schriftlos, in photographischen Bilderreihen – aufzeichnen sollte, als die »Bildzeichen psycho-physischer Urerfahrungen des Menschen in ihrer medialen Verkehrsform«, wie Gert Mattenklott schreibt, setzt voraus, »daß menschliche Erfahrungen in das soziale Gedächtnis nur verkappt eingehen« – und vielleicht überhaupt nur auf diese Weise darin eingehen können. Das Vorhaben zur Archivierung der Pathosformeln opponiert dabei, so Mattenklott, »gegen die lückenlose Positivität einer verendlichten Welt«, und zwar »durch festgehaltene Negativität«, denn die photographisch festgehaltenen Pathosformeln fungieren auch als »Vorwegnahmen des Todes im Leben«. Und wo »die Trostbilder positiver Religiosität unrevidierbar ferngerückt sind, bedürfen solche Antizipationen wegen ihres bedrohlichen, latent zerstörerischen Charakters offensichtlich einer sozialen bzw. ästhetischen Verkleidung«. Gert Mattenklott: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 236f. 94 | Dominik Müller: »Künstlerbrüder – Schwesterkünste. Robert und Karl Walser«, S. 389.
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von frühester Jugend auf, da Farbe gesehen, wo beinahe keine war.«95 Der Blick ergänzt etwas, das nicht vorhanden ist, und im Text Leben eines Malers, der 1916 in der Neuen Rundschau erscheint und später im Band Seeland, wird dies in der Beschreibung eines Werks des Maler-Bruders noch komplexer ausgeformt sein. Es geht um eine geistvolle und eigentümliche Arbeit voll einer schimmernden Blässe, derart, als wenn die Farben durch einen edlen Geist gesättigt seien, und so, als sei nicht so sehr der Gegenstand wie vielmehr die Seele desselben gemalt, nämlich sozusagen der Eindruck oder das dichtende, erzählende Element, wie wenn sich hinter dem Bilde irgend etwas Bedeutsames zutrüge, oder so, als führe der gemalte Gegenstand im Bilde ein durchaus selbständiges, sinnreiches, fühlendes, ereignismäßiges Leben. Die gemalten Dinge können in der Tat träumen, vor sich hin lächeln, für sich selber sprechen oder trauern. 96
Der »gemalte Gegenstand«, das im Bild geronnene Leben hat ein Eigenleben, und zwar »so, als sei nicht so sehr der Gegenstand«, sondern »vielmehr die Seele desselben gemalt«. Diese Seele ist dabei das »dichtende, erzählende Element«. Wollte man hierbei den Aufbau eines Emblems zugrundelegen, so ergäbe sich folgende Anordnung: Der gemalte Gegenstand im Bild, die pictura, die in der Emblematik als Leib verstanden worden ist, ist hinterfangen von der Literatur, die das Bild belebt und beseelt, und zwar so, »wie wenn sich hinter dem Bilde irgendetwas Bedeutsames zutrüge«. Es entstehen Doppelungen. Das Bild haucht dem Gegenstand Leben ein, ganz so, wie die Literatur dies tut, aber zugleich ist die Seele des Bildes hier eben die Literatur selbst: »Es gibt ja Künste in der Kunst«,97 hatte es im früheren Text Ein Maler geheißen, in dem die Vorliebe für die Farbe Grau dem Maler zugesprochen ist, der wiederholt auch durchblicken lässt, wie Dominik Müller anführt, dass ihm eine Darstellung durch Nichtdarstellung vorschwebt. Im Ineinandergeschachteltsein der »Künste in der Kunst«, mit dem eben nicht nur auf die notwendigen handwerklichen Fertigkeiten angespielt ist, ergibt sich eine undeutliche, durch Überlagerung und nicht etwa durch Konturierung oder gar Abgrenzung definierte Verbindung beider Künste. Und für die Überlagerung der beiden Künste, so Dominik Müller, steht die Farbe Grau. Das Grau ist »Moment der medialen Übergänglichkeit.«98 Und gerade als dieses Moment, nicht nur einer »medialen Übergänglichkeit«, findet sich das Grau im Text mit dem Titel Grün (II), der als undatierter Zeitungsabdruck erhalten und mutmaßlich im Frühjahr des Jahres 1919 erschienen ist. Hier ist das Grau per se in beständiger Wandlung begriffen, denn es tritt unter dem Titelwort »Grün« hervor. In der ersten 95 | SW 1/67. 96 | SW 7/19. 97 | SW 1/89. 98 | Dominik Müller: »Künstlerbrüder – Schwesterkünste. Robert und Karl Walser«, S. 389.
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Fassung des Textes Grün (I) aber ist, was später hervortreten wird, noch antizipiert, »wie wenn sich hinter dem Bilde irgendetwas Bedeutsames zutrüge«, wie es im Text Leben eines Malers heißt. Und wirklich ist im Text Grün (I) etwas »Bedeutsames«, etwas Existentielles vorweggenommen. Man begreift es nicht, man vermag es kaum zu fassen, es ist erschreckend, es ist etwas Unheimliches, etwas beinahe Überwältigendes. »Hat es einen Sinn?« fragt man sich. Beinahe sinnlos ist es. Es betäubt, es macht den Verstand schwindeln. Es tut den Augen, dem Herzen weh, es beklemmt und bestürzt die Seele. […] Die Gesichter sind beinahe grün. Es hat etwas Rätselhaftes, Aufregendes, Grauenhaftes. Nein, nein, es ist nicht so einfach; um den modernen Menschen herum ist überhaupt nichts mehr so einfach. Täuschen wir uns nicht, gehen wir nicht mit bleichen, kranken Scherzen über Dinge hinweg, die uns erschüttern, die uns die Ohnmacht, in welcher wir immer, immer leben, eindringlicher fühlen machen. Grün, grün. Aus dem Boden hervorquillt es dick. Es ist geradezu entsetzlich. […] Es brennt. Grün: das brennt. Die Welt im Frühling ist ein Brand in grün. Grün ist eine Raserei von Farbe. Hochauf bäumt es sich, lang streckt es sich aus. Man ist kein Mensch mehr. Man weiß nicht mehr, was und wer man ist. […] Grün kriecht über Nacht aus dem Innern der Erde, schlägt überall, überall, einer dunklen Ahnung ähnlich, hervor. Wie ist Grün gebieterisch. 99
Die Semantik lässt sich umstandslos auf etwas beziehen, das hier, im Naturgeschehen kryptiert, buchstäblich vorweggenommen scheint: Das Grün des Frühjahrs bricht im Text Grün (I), der bereits im April 1911 in der Zeitschrift Kunst und Künstler erscheint, in einem »Irrsinn« aus, der einen anderen Irrsinn bereits erahnen lässt, den Krieg, den Weltenbrand. Nirgends ist im Text zwar die Rede von Krieg, doch das tertium liegt im Ausschlagen der Bäume, im Aufbrechen des Grüns, eben im Ausbruch des Grüns wie des Krieges: »alle Menschbeschäftigungen kommen einem so sonderbar vor, beinahe wie ein klarübersichtlicher Irrsinn. Es ist ja in der Tat auch etwas Irrsinniges am Grün; und Blühen: was ist es anderes als eine Art Irrsinn?«100, heißt es im Text so auch. Und in der zweiten Fassung des Textes, in Grün (II), weist nun eben das Grau auf den inzwischen manifest gewordenen Krieg, der zuvor lange befürchtet worden war: Grau ist ziemlich verworren. Es verschwindet leicht. Asche ist grau; man bläst sie weg. Husch, und fort! Das fliegt hin, als sei’s nie dagewesen. Grau sind Mäuse, die in Löchern leben. Grau sind feldgraue Feldherren, die im Feld regieren und Schlachten lenken. Keiner weiß, wo sie sind. So ein grauer Herr redet bloß ein leises Wort, worauf Tausende in seltsame Bewegung geraten. Still hievon! Wir alle wollen von solchen Dingen lieber nie wieder etwas hören, geschweige erleben. Grau sind Schatten. Übrigens ist Grau eine recht sehr vornehme, distinguierte Farbe. Kein Zweifel.101 99 | SW 15/114f. 100 | SW 15/116. 101 | SW 16/366f.
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Das Grau ist »verworren«, ambivalent, es hat verwirrende Konnotationen. Zum einen weist es auf die ›Feldgrauen‹ (als Bezeichnung der deutschen Truppen im Ersten Weltkrieg); es weist auf die Asche als Relikt eines Feuers, Artilleriefeuers. Aber zudem besteht kein Zweifel, dass das Grau im Text Grün (II) von 1919 auch auf die »recht« vornehme oder auch »sehr vornehme, distinguierte« Erscheinung von Doktor Franz Blei »ganz in grau« hinweist, ganz so, wie sie im Text Doktor Franz Blei beschrieben ist. Beide Farben – das Grün wie das Grau – verhüllen also Bildbotschaften. Die Verhüllung der Bildbotschaft in der ›Grisaille‹ betrifft im Text Doktor Franz Blei dabei ein ›Vorbild‹ aus einer grauen Vorzeit der eigenen Schreibbiographie. Welche Bildbotschaft aber verbindet sich mit dieser Figur? Und wie genau wird die Bildbotschaft transportiert oder besser verhüllt? Das Medium der im Text Doktor Franz Blei an Jean-Jacques Rousseau anschließenden Semantik der »Empfindsamkeit«, die sich übrigens auch in Robert Walsers Text Brief an ein Mitglied der Gesellschaft im dort beschworenen »Still-Sein[ ]«102 findet, ist, in Abkehr von der gesellschaftlichen Konversation, wie sie für das 18. Jahrhundert prägend war, vom Salongespräch, und andererseits in Anlehnung an die andere Form der Konversation, die dort geübt wurde, der Brief. In der Briefschrift werden Menschen, die eigentlich abwesend sind, füreinander ›sichtbar‹. Und so lässt sich der Titel in Robert Walsers Text Doktor Franz Blei auch als diese Apostrophe, Anrede, Anrufung von Franz Blei lesen, die dem Angesprochenen im Gegenzug die Macht der Rede verleiht. Mit dem Doktortitel, der dem bürgerlichen Namen in der Fassung Doktor Franz Blei hinzugefügt wird, bekommt das Ganze überdies den Charakter einer ärztlichen Medikation (obgleich Franz Blei in der Nationalökonomie promoviert wurde). Was aber ist mit der Figur des Franz Blei an- und aufgerufen? Der Name Franz Blei zeigt sich mit dem von Charles Dickens verbunden, dessen Texte Blei für den Kurt Wolff Verlag übersetzt hatte, intensiv aber vor allem mit Novalis,103 dessen Lyrik Blei bereits 1897/98 ediert und zu dem er 1904 eine 102 | SW 18/147. 103 | Dass der Autorname Franz Blei zeitgenössisch mit Novalis verbunden wurde, zeigt sich bei Emil Szittya. In dessen Text »Herbst und ein Gespräch mit Novalis« heißt es: »Franz Blei hochstapelt mit den blauen Blumen.« Emil Szittya: Ein Spaziergang mit manchmal Unnützigem. Prosa 1916-1920, hg. von Walter Fähnders, Siegen 1994, S. 15. Neben Charles Dickens, dessen Texte Franz Blei, Kasimir Edschmid zufolge, im Auftrag von Kurt Wolff übersetzt und herausgegeben hat, übersetzte Blei auch Paul Claudel (u.a. Die Musen 1917 ebenfalls bei Kurt Wolff erschienen) und Nathaniel Hawthorne (u.a. Der scharlachrote Buchstabe) und gab seit 1909 eine Kritische Gesamtausgabe der Schriften von Jakob Michael Reinhold Lenz heraus. Bleis eigenen Angaben zufolge, die von Max Brod bestätigt wurden (vgl. Detlev Steffen: Franz Blei (1871-1942) als Literat und Kritiker der Zeit, Diss. an der Georg-August-Universität zu Göttingen, 1966, S. 491), war er zudem wesentlich beteiligt an der Propyläen-Ausgabe von Goethes Werken bei Georg Müller 1909ff. Dazu heißt es gut sechzig Jahre nach Bleis Tod: »Bis dato völlig unbekannt ist dagegen, dass Blei auch die Propyläen-Ausgabe der Werke Goethes und die Ho-
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eigene Monographie vorgelegt hatte. In die Fragmente des Novalis zur Enzyklopädistik, in Das Allgemeine Brouillon ist, wie erwähnt, die paracelsische Signaturenlehre eingegangen, und den Bezug hierauf formuliert Novalis auch in seinen Notizen zur Fortsetzung des Heinrich von Ofterdingen. In der Signaturenlehre ist alles »wechselseitig ineinander überführbar und miteinander konfigurierbar«.104 Kraft der »Sympathie« zwischen Zeichen und Bezeichnetem, so Paracelsus selbst, in der als »natürlich Arzney der Nam wie ein Kraut, das Kraut wie ein Nam wirkt«,105 wird die Poesie dabei zu einer Medizin, und: »Der Poët ist also der transscendentale Arzt«,106 wie es bei Novalis heißen wird. Der Poet nämlich kann mit Worten wirken, und: »Jedes Wort ist ein Wort der Beschwörung. Welcher Geist ruft – ein solcher erscheint.«107 Eben dem folgt Robert Walser in der Anrufung von Franz Blei, und auch die ›Materialität‹ der Mikrogramme besteht – in Verantwortung gegenüber jener geisterhaften Untoten, als die im Text Die deutsche Sprache die von Militarismus und Chauvinismus, die vom Krieg gezeichnete Sprache erschienen war – in einer Anverwandlung an das Graue/n. Aus diesem Graue/n heraus lässt sich nun der Text in der Tat nur noch entziffern. Auf der Ebene der Semantik ist der Wandel der Schrift, die Hinwendung zur Bleistiftschrift, dabei in der Abwandlung der Farbwörter nachzuvollziehen. So hatte es im Text Der Doktor, der aus dem Frühjahr 1914 datiert und die Figur des Dr. Franz Blei bereits eingeführt hatte, noch geheißen: Eines Tages, in der heißen Mittagssonne, schon viele inhaltreiche Jahre sind seither vergangen, sah ich, noch erinnere ich mich dessen deutlich, auf dem menschenbelebten Platz, auf dem ich stand, aus der Masse von vielerlei unbedeutenden Leuten, welche er gewissermaßen mit seiner sonderbaren Erscheinung überragte, einen Mann auftauchen, der ganz in edles, schönes, feierliches Schwarz gekleidet war, eine Art Doktorhut auf dem Kopfe hatte, und einen eleganten Spazierstock beinahe gravitätisch in der Hand trug. […] Mit meinen Augen verfolgte ich den seltsamen und in gewissem Sinne abenteuerlichen Mann, der einem Geistlichen oder
ren-Ausgabe Schillers initiiert, konzipiert und deren jeweils erste Bände herausgegeben hat. Der Schwerpunkt seines Blicks in die Vergangenheit liegt eindeutig im 18. Jahrhundert, das für ihn den Beginn der ›Moderne‹ markiert und in dem er zahlreiche Denkfiguren vorgegeben sieht, die um die Jahrhundertwende zentrale Relevanz erlangen.« Helga Mitterbauer: Die Netzwerke des Franz Blei. Kulturvermittlung im frühen 20. Jahrhundert, Tübingen/Basel 2003, S. 111. 104 | Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, S. 283. 105 | Paracelsus: »De Characteribus«, in: ders.: Bücher und Schriften, Bd. IX, S. 309; zit.n. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, S. 300. 106 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 535. 107 | Ebd., S. 523.
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M IKROPOETIK fast besser noch einem vermummten Fürsten glich in der Lässigkeit, mit welcher er seines Weges ging.108
Der »abenteuerliche[] Mann«, der zugleich und gerade seiner »Lässigkeit« wegen einem Würdenträger gleicht, erscheint in der Erstfassung mit dem Titel Der Doktor noch ganz in Schwarz, und darin zeigt er sich noch anderem verbunden. So heißt es im Text Leben eines Malers auch über den Maler-Bruder: »Meist ging er schwarz und ernst gekleidet wie der ›düstere Brentano‹, eine Bemerkung, die Verwunderung erregt, da sie ganz und gar nicht hierher paßt. Am Maler war absolut nichts Düsteres, im Gegenteil, […].«109 Aus dem ebenso ›fabelhaften‹, glänzenden, schwarzen Federstrich nun – auf dem bleichen, weißen Papier – aus dieser distinkten Schrift, die der Text Doktor Franz Blei zwar noch immer heraufbeschwört, wird im »Bleistiftgebiet« das nebelhafte »Brouillon«: »ganz in grau«, wie Franz Blei. Aus den Farben, dem Farbkontrast werden in den Mikrogrammen Schriftfelder voller silbergrauer Bleistiftstriche im Grauschleier vorbenutzten Papiers werden. Bernhard Echte, der die Mikrogramme gemeinsam mit Werner Morlang entziffert hat, beschreibt in Anspielung auf das »Genaunehmen«110, das Robert Walser im Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 für sich selbst reklamiert, die Manuskripte folgendermaßen: »Das Genaunehmen ist zunächst jedoch gar nicht so einfach, da sich die Einzelheiten des Manuskripts der spontanen Erkennbarkeit völlig entziehen. Vorherrschend ist vielmehr der Gesamteindruck des Blattes oder des jeweiligen Schriftblocks: sein völlig homogen wirkender Grauwert.«111 Das Grau also dominiert die Mikrogramme. Im Text Doktor Franz Blei findet sich das Grau dabei nicht nur in der Ausstattung der Figur Blei, sondern bereits in zwei unscheinbaren Schriftzeichen: Wie die Nicht-Farben Schwarz und Weiß in ihrer Mischung Grau ergeben, wird der im Text beschworene Manichäismus, und eben nicht nur derjenige von Tag und Nacht, in zwei Gedankenstrichen am Ende des Textes – der Roman Geschwister Tanner hatte noch mit einem Gedankenstrich geendet – repräsentiert und zugleich aufgehoben: in zwei gleichschwebenden Graphen, die nicht etwa Buchstaben, die nicht diakritische Zeichen sind, sondern das Simile einer äquilibristischen Geste. Mit einem schweizerischen Idiom gesprochen, ist hier etwas wieder ›im Blei‹, im Gleichgewicht. Die Schrift findet sich, mit denkbar größter Konsequenz, wie im Text Schweizeressay postuliert, in einer »neutralen Verhaltungsweise«.112
108 | SW 4/114f. 109 | SW 7/25. 110 | Vgl. Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 301. 111 | Bernhard Echte: »Nie eine Zeile verbessert?«, S. 64 (Hervorh. v. BE). 112 | SW 20/37.
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XI.6 » FAST ALLEIN SCHON EIN G EDICHT« Die Figur Blei steht im Text Doktor Franz Blei für die der Bleistiftschrift eingeschriebene Signatur des Anderen. Sie ist dabei nicht ausschließlich Zeichen für, sondern auch Zeugnis von etwas. Blei ist darin in jedem Sinne des Wortes anachronistisch; er entsteigt, als die sprichwörtlich ›literarische Gestalt‹, »einem wahren Geisterheer von Adressaten«, an die Robert Walsers Texte sich richten, »die es mit monologischen Formen zuletzt halten«.113 Werner Morlang schreibt: »Bisweilen hat es geradezu etwas Gespenstisches, wie in den Bleistiftentwürfen fortwährend Adressaten heraufbeschworen werden, die es im Skizzenzustand der Texte noch gar nicht geben kann. Man könnte meinen, Walser habe sich sogar vor sich selber gescheut, an das Tabu der feinen Gespinste zu rühren. Das gesamte Erscheinungsbild der Entwürfe unterliegt einer streng eingehaltenen Geheimnispflicht.«114 Das »Geisterheer der Adressaten«, von dem Morlang spricht, lässt sich zwar auf bestimmte Adressaten zurückführen, und doch gilt die »Geheimnispflicht« auch für diese Adressierungen und jedenfalls für die Kryptierung von Blei: Das Schreiben der Mikrogramme, das von der Lautlosigkeit des Bleistifts bestimmt sein wird, huldigt auch diesem Repräsentanten der literarischen Welt, dessen lebenslanges Engagement für die Literatur und ihre Produzenten Max Rychner im Nachruf auf den 1942 im New Yorker Exil Verstorbenen als eine Art publizistischer Grandezza schildern wird, die noch in die Eleganz und den Witz der Formulierung Rychners hinein spürbar wird: »Er [Franz Blei; Anm. d. Verf., KS] hatte die vornehme Passion, Zeitschriften herauszugeben, die den ersten Jahrgang selten überlebten, […]«.115 113 | Werner Morlang: »Trascrittore – Traditore?«, S. 76. 114 | Werner Morlang: »Melusines Hinterlassenschaft«, S. 93. 115 | Max Rychner: »Franz Blei † (1942)« [Nachruf], in: ders.: Bei mir laufen Fäden zusammen. Literarische Aufsätze, Kritiken, Briefe, S. 305-306, S. 305. Franz Blei fungierte als Herausgeber bei folgenden Zeitschriften: Der Amethyst (1906), Die Opale (1907), Hyperion (1908/09/10), Der Zwiebelfisch (1909), Der Lose Vogel (1912/13), Summa (1917/18), Die Rettung. Blätter zur Erkenntnis der Zeit (1918/19), Roland [Wochenmagazin] (1925), als Redakteur für Die Weissen Blätter (1913/14), als Autor und Rezensent u.a. für: Die Revolution, Die Aktion, Die Schaubühne, Die Weltbühne, Die Literarische Welt, Berliner Tageblatt, Neue Zürcher Zeitung, Die Neue Rundschau, Die Zeit, Die Nation, Pan, Das Tagebuch, Querschnitt, Simplicissimus, Neue Revue. (Vgl. die Bibliographie in Detlev Steffen: Franz Blei (1871-1942) als Literat und Kritiker der Zeit, S. 480-519.) Die besondere konstellative Anordnung in Bleis bekanntestem Werk, dem Bestiarium Literaricum. Das ist: genaue Beschreibung derer Tiere des literarischen Deutschlands, verfertigt von Dr. Peregrin Steinhövel, zuerst erschienen bei Georg Müller, München 1920, in den jeweils beträchtlich erweiterten Auflagen von 1922 und 1924 dann bei Rowohlt unter dem Titel Das große Bestiarium der modernen Literatur, das auf die allegorischen Tierbücher des Mittelalters zurückgeht, pointiert Steffen ebd., S. 337:
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Und Franz Blei war es denn auch gewesen, der dem Erscheinen des ersten Buches von Robert Walser, als der Transposition von Handschrift in den Bleisatz, einst dienlich gewesen war, wobei der Name ›Blei‹ naturgemäß ebenso eskamotiert wurde wie die Handschrift des Autors.116 Blei hatte die Schrift Robert Walsers in den Blick gerückt, und im Text Doktor Franz Blei von 1917 schildert der Autor seinen Mann – »meinen Mann«, wie es hier im Text heißt – mit dem »berühmten Namen« so auch als jemanden, dem nicht nur das zeitgenössische, geistige Leben »hunderterlei Anregungen« verdankte, sondern der Autor selbst. Und die Dankbarkeit dafür ist ubiquitär: »[…] wo ich mich auch aufhalten und unter was für Umständen ich auch leben mochte, immer dachte ich mit dem lebhaftesten Vergnügen und mit der besten Gesinnung an ihn.«117 Wo aber Robert Walser mit »Das notwendig lexikographische Prinzip, das die Autoren noch einmal in den Käfig ihrer Partikularität verweist, ist zugleich Ausdruck der Bestandsaufnahme einer Zeit, der, was selbstverständlich schien, fragwürdig wurde.« Das Bestiarium ist ausdrücklich als Nachkriegswerk bestimmt. 116 | Andererseits findet sich Franz Blei vielleicht im Verhältnis von Titel und Untertitel des ersten Buches wieder, worin der Autor verwirrend firmiert: Fritz Kochers Aufsätze – mitgeteilt von Robert Walser. Der »Kocher« hat (den heißen Brei, so der Titel eines späten Textes von Robert Walser) nur angerührt; serviert wird er durch andere, unter anderem durch Blei. 117 | SW 5/223. In diesen Schlusssätzen des Textes Doktor Franz Blei wird transparent, dass die Erinnerung an Blei, unabhängig von Zeit und Raum, immer wieder eintritt und damit möglicherweise mit demjenigen Eintretenden ›identisch‹ ist, der in einer vom Rychner-Brief (20. Juni 1927) erwähnten hinzugefügten Passage im Text Brief an ein Mitglied der Gesellschaft – mit deren Erwähnung sich der gesamte Diskurs zum »Bleistiftgebiet« im Brief an Rychner entspinnen wird – auch derjenige ist, der den jungen Dichter in diesem Text Brief an ein Mitglied der Gesellschaft an seine »Jugendlichkeiten« erinnert. Die kryptierte Figur Blei wäre damit das, was den vorläufigen Abschluss und das Postskriptum, die Unterbrechung und die Fortsetzung des Schreibens motiviert. Der Brief an ein Mitglied der Gesellschaft spricht der adressierten Person die Kenntnis einer eigentlichen, eigentümlich konnotierten »Stille« ab und macht sie in der Folge: »darauf aufmerksam, daß weil Sie das Leben meiden, die Stille Sie flieht, aber soeben erhalte ich Besuch, ein scheinbar durchaus nicht unbedeutender Draufgänger unterbricht mich, indem er ernsthaft zu mir hereintritt, was mich veranlaßt, aufzustehen, um ihm entgegenzutreten. Entschuldigen Sie, wenn ich hoffe, Sie nähmen mit wenigem gern vorlieb. Der Eingetretene wünscht nämlich von mir eine Erklärung. Er sieht sichtlich gespannt aus. Er spielt den Erschrockenen. Möglich, daß er wirklich konsterniert ist. Ich bin bereits vorbereitet, einige überzeugende Worte zu sagen. Er sagte mir, ich führte mich unglaublich jung auf, woraufhin ich mir Jugendlichkeiten ihm gegenüber herausnahm, über die ich ihm nun Auskunft schuldig zu sein scheine.« (SW 18/148f.) Hier endet der Text in der endgültigen Fassung. Im Zusammenhang des Textes ist die Rede davon, jemand sei eingetreten. Im Schreibzusammenhang jedoch war etwas anderes eingetreten, nämlich der Wechsel auf ein anderes
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der »besten Gesinnung« an Franz Blei denkt, bekennt er sich implizit teils auch als Gesinnungsgenosse. Franz Bleis »programmatisch vertretene Allianz von Kommunismus und Katholizismus« sollte im November 1918 in der geistigen Vaterschaft an der Wiener Roten Garde kulminieren.118 Aber noch um anderes als das geht es. Während der unzähligen Zwischenstationen seines Exils nach 1933 wird Franz Blei seine eigene Poetik in deutlicher Anlehnung an Novalis formulieren: Dichtung ist der Ausgleich im Geiste zwischen den Gegensätzen der nichts als sinnlichen diesseitigen Welt und der nichts als jenseitigen, geahnten, geglaubten und gefühlten Welt. Dem Sinnlichen durch ihre Materie, dem Übersinnlichen durch ihr Menschentum verhaftet ist die Dichtung nicht die Überwindung dieser Gegensätze durch ein Drittes, sondern die transzendierende Bindung dieser Gegensätze durch ein Drittes, das vom Geiste ist.119
Die Grundlage dieser Bewegung ist nicht Einheit, sondern Differenz, die Vielfalt der Stimmen.120 Doktor Franz Blei, der von Robert Walsers Text in die Gegenwart kollationiert ist und der doch einer Vergangenheit angehörig bleibt, ist im Sinne dessen auch eine Allegorie der eigenen Schrift als Versammlung anderer literarischer Stimmen. Die Figur des Doktor Franz Blei ist zudem die Allegorie der Mikrographie, deren ›Sichtbarkeit‹ und annähernde Unlesbarkeit gleichermaßen repräsentiert scheint – als diese eigentümliche Mischung von »Eigenheit mit Unscheinbarkeit«121, durch die sich die Gestalt von Franz Blei im Text selbst ausgezeichnet sieht. Die ›Wahrheit‹ über den Status der Fiktion enthüllt sich im Text Doktor Franz Blei nicht; dennoch und gerade deswegen wird die Figur Blei in ihrem Doppel- und Wiedergängertum des Franz Blei eben zur Allegorie einer Dearbitrarisierung und Poetisierung der Schrift,
Blatt. Die Figur Blei wäre demnach auch Allegorie für den fluiden Wechsel – von einem Blatt zum anderen – im »Bleistiftgebiet«. Und schließlich heißt es im Brief an ein Mitglied der Gesellschaft weiter oben auch: »Ich bin nicht Ihr Weg, sondern ich bin bloß einer, der Sie daran zu erinnern wagen muß, daß Sie sich selber nicht nur ein Weg, sondern zahlreiche Wege sind. Sie dürfen mich meiner Ansicht nach deshalb nicht als Ihren Weg betrachten, weil Ihnen die vielleicht für Sie freilich zu schwierige Aufgabe auferlegt ist, einen Weg mitten durch Ihr Noch-nicht-Erlöstsein zu bahnen.« (SW 18/148.) 118 | An der Wiener Roten Garde beteiligt waren außerdem Egon Erwin Kisch, Franz Werfel und Bleis enger Freund Albert Paris Gütersloh. Vgl. Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, Berlin 2006, S. 283f. [zu Franz Blei: S. 274-388]. 119 | Franz Blei: »Marginalien zur Literatur« [1935-1937], S. 98; zit.n. Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne, S. 314. 120 | Vgl. ebd., S. 317. 121 | SW 5/217.
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bei der sich eine Scheintransparenz des Mediums Schrift durch die in den Vordergrund gerückte Figürlichkeit Bleis gerade aufhebt. Als Name ist ›Doktor Franz Blei‹ zugleich der Signifikant par excellence, »der keinen anderen Sinn machen muß als den, wie ein Buchstabe in einem einzigen Zug die Funktion des Subjekts in der Sprache zu markieren«. Und es gilt auch hier, was Jutta Prasse geschrieben hat, dass nämlich »jeder Menschenname heißt: ›Du wirst einmal sterben‹«.122 Und doch lässt sich in der mit Robert Walsers Text Doktor Franz Blei zeitgleich entstandenen avantgardistischen Kriegslyrik eine Restitution der Relevanz des Eigennamens beobachten.123 Auch für Robert Walser wird der Name Blei, ganz im Sinne von Novalis (und Paracelsus), und das heißt kraft der »Sympathie« zwischen Zeichen und »Bezeichnetem«, in der als »natürlich Arzney der Nam wie ein Kraut, das Kraut wie ein Nam wirkt«,124 »der transscendentale Arzt«125 werden. Und es gilt wohl vor allem für diesen Namen das Wort von Novalis: »Wie Kleider der Heiligen noch wunderbare Kräfte behalten, so ist manches Wort durch irgendein herrliches Andenken geheiligt und fast allein schon ein Gedicht geworden.«126
XI.7 B LEI UND DER B LEISTIF T Die Mikrogramme werden mit dem Bleistift geschrieben sein. Der Bleistift erzeugt Unschärfe, er umnebelt ein ›Bild‹, das in der Signifikanz des Buchstabens liegen sollte. Das Abschreiben der Mikrogramme, mit Feder und Tinte und zum Zweck der Veröffentlichung, zeigt sich im Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 von einer Weisung bestimmt, es folgt dem »Bleistiftauftrag«. Die Ausführung eines Auftrags durch den epischen Helden ist eine klassische Sequenz des Volksmärchens oder auch des Mythos.127 Im »Bleistiftauftrag«, bei dem sich eben für den Beschreibstoff, für die weiblich konnotierte Einschreibematerie, das Blatt wenden soll, finden sich auch die großen Genres des Erzählens wieder. In der Polysemie des ›Auftrags‹ aber kann der Auftrag auch Farbauftrag sein, und das mar122 | Jutta Prasse: Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze, hg. v. Claus-Dieter Rath, Bielefeld 2004, S. 81 und S. 82. 123 | Vgl. Georg Philipp Rehage: »Wo sind Worte für das Erleben«. Die lyrische Darstellung des Ersten Weltkrieges in der französischen und deutschen Avantgarde (G. Apollinaire, J. Cocteau, A. Stramm, W. Klemm), Heidelberg 2003, S. 20. 124 | Paracelsus: »De Characteribus«, in: ders.: Bücher und Schriften, Bd. IX, S. 309; zit.n. Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma, S. 300. 125 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 535. 126 | Ebd., S. 533. 127 | Vgl. Stéphane Mosès: Spuren der Schrift. Von Goethe bis Celan, Frankfurt a.M. 1987, S. 63.
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kiert durchaus eben die Marginalisierung, die üblicherweise der ›Materialität‹ der Schrift gilt. Und wer erteilt überhaupt den Auftrag? Die Kapitalisierung von Sinn begreift die ›Dinge‹ in Subordinationen. Wenn nun aber der sekundarisierte Bleistift selbst beseelt wäre? Wenn aus dem Ding der/ die Andere spräche? Und in der Tat gibt ja der Bleistift dem bedeutsamen Namen eine immer wieder rezente Gestalt. Franz Blei bildet, wie gezeigt, in Gestalt seines Wiedergängers im Text Doktor Franz Blei die Allegorie der »Bleistiftschrift« – als Geist, Abglanz und Vision einer Schrift. Noch 1939 erinnert sich Robert Walser in einem Brief an Carl Seelig an Franz Blei: »Entschuldigen Sie beiläufig die bequeme Bleistiftschrift, wobei man unwillkürlich an den Literaturnamen Franz Blei denkt. Wo mag er zur Zeit weilen?«128 Wie in einer Witztechnik, die darauf basiert, dass ein und dasselbe Wort zweifach vorkommt, als Ganzes und in seine Silben zerteilt, erhalten sich und erhalten sich – in der Aufgetrenntheit der Lexeme – nicht alle Wörter im Fluss der Bleistiftschrift. Um Blei isolieren zu können, gehen vielmehr der Stift und die Schrift ›stiften‹. Materialiter aber partizipieren beide weiter, denn ohne sie würde das Wort ›Blei‹ ja nicht auf dem Blatt erscheinen können. En passant, nicht aber zufällig kommt Robert Walser in diesem späten Brief auf Franz Blei zu sprechen. Der Konnex stellt sich her, indem die Konfiguration der Blei-Stift-Schrift in die drei beteiligten Lexeme zerfällt: Die Schrift stiftet die Assoziation zu Doktor Franz Blei. Was ›stiften‹ geht, ist eine Schrift, die sich als Synthese von Buchstaben darstellt. Und das weist auch auf die Mikrographie, die eine solche Synthese ja gerade erschwert. Die »bequeme Bleistiftschrift«, für die sich der Autor im Brief entschuldigt, als sei sie indiskret, als sei sie ein Privatissimum, erinnert – im Schreiben des Wortes ›Blei‹ – an die Zeit, in der Robert Walsers eigene Arbeiten aus dem Privatgebiet des Handschriftlichen in die Öffentlichkeit des Drucks, in der sie auf »die Bühne des Veröffentlichtwerdens«129 gehoben wurden –, und zwar auch durch Vermittlung von Franz Blei. Die Erinnerung an Blei nimmt im Schreiben des Wortes ›Blei‹ buchstäblich Gestalt an, anders allerdings als bei einer piktographischen Beschreibung, wo ein Totemzeichen den symbolischen Wert eines Eigennamens annehmen kann, von welchem Moment an diese Repräsentation in anderen Verknüpfungen auch mit einem phonetischen Wert auftreten kann. Vielmehr findet sich die Funktionsweise des Traums, des Rebus hierin wieder, bei dem beispielsweise ein Bild des Meeres für das Wort ›mehr‹ stehen kann.130 Und schließlich lesen wir, auch mit Ferdinand de Saussure, »auf zweierlei Weise: ein neues und unbekanntes Wort sucht man sich Buchstab für Buchstab zusammen; aber ein geläufiges und bekanntes Wort wird auf einen Blick erfaßt, unabhängig von den Buchstaben, aus denen es zusam128 | Brief vom 9. Mai 1939 an Carl Seelig, in: Br, S. 357. 129 | Brief vom 14. Dezember 1927 an Therese Breitbach, in: Br, S. 318. 130 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 89.
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mengesetzt ist. Das Bild des Wortes gewinnt für uns einen ideographischen Wert.«131 Eben diesen ideographischen Wert hat das Wort ›Blei‹. Und der Bleistift stiftet nun all jene poet(olog)ischen Verkettungen, in denen die Ambivalenz des Schreibprozesses zuweilen auch negativ durchscheinen kann, wie etwa in Robert Walsers Text Maler, Poet und Dame, der im April 1917 erschienen ist: »Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier mit einem angefangenen Stück Prosa. Von Zeit zu Zeit spazierte der Poet in seinem Kerker oder Bleikammer auf und ab, um sich einige Bewegung zu verschaffen, wobei er Verse von Heinrich Kleist leise oder laut rezitierte, eine Übung, die ihm neuen Mut einhauchte.«132 Wo der »Bleikammer« das Possessivpronomen oder mindestens ein Artikel fehlt, wird der Satz ungelenk, erinnert er nur noch wenig an die elegante Erscheinung von Franz Blei, sondern eher an einen Zustand, in dem jemand die sprichwörtlichen Bleifüße hat. Glieder können bleischwer, der Himmel kann bleigrau sein. Der Buchdruck ist Bleischrift, mit Bleibuchstaben, im Bleisatz. Kurzum: Blei setzt sich zu einigen im Zusammenhang mit dem Schreiben bedeutsamen Komposita zusammen. Aber er bleibt doch solitär, denn dem Wort haftet der Name, dem Namen die Erinnerung an. Die Buchstabenkonfiguration ›Blei‹ bezieht ihre Komplexität im Brief an Carl Seelig aus der Zweizeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, und in der Überschreitung des rezenten Bewusstseins »kann die Struktur dieses Signifikanten nicht nur an den Rändern des potentiellen Bewußtseins, sondern auch im Rahmen der Kausalitäten des Unbewußten tätig werden«.133 Die »Wahrheitswirkung«134 vollzieht sich buchstäblich ›unter der Hand‹. Alte Formen übertragen ihre Macht und ihre Autorität, werden zu Schutzzeichen. Blei ist ein solches Schutzzeichen der Schrift: Name, hinter dem eine ganze (verlorene) Welt steht. Anagrammatisch, also in einem Vertauschungsspiel, das ja gerade in der Schrift stattfindet und in der Schrift nachvollzogen werden kann, findet sich darin auch der Geburtsort Robert Walsers und sein Wohnort in den Jahren des Ersten Weltkriegs wieder: ›Biel‹. Auch das »Bleistiftgebiet« wird zwar extraterritorial sein, nicht aber extramundan. Es wird nicht von einer anderen Welt sein – es sei denn von einer anderen, einer verlorenen literarischen Welt, wofür der Bleistift selbst ›bürgt‹: Im Bleistift werden immer wieder auch Franz Blei und die Welt des europäischen Feuilletons neu aufleben. Oder ist vielleicht doch alles ganz anders zu verstehen? Als faux amis, ›falsche Freunde‹, werden im Französischen diejenigen Wörter zweier Sprachen bezeichnet, die durch ihre Homonymie bei einer Übersetzung zwi-
131 | Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 40. 132 | SW 16/190. 133 | Jacques Derrida: Grammatologie, S. 162. 134 | Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens«, S. 34.
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schen den Sprachen Irrtümer auslösen können.135 Auch als ein solcher ›falscher Freund‹ wäre Blei unter Umständen zu lesen. Hätte nicht Hermann Walthers graphologische Durchsicht der Briefe ergeben, dass Robert Walser gerade mit dem genannten Brief, in dem er nach dem Verbleib von Blei fragt (»Entschuldigen Sie beiläufig die bequeme Bleistiftschrift, wobei man unwillkürlich an den Literaturnamen Franz Blei denkt. Wo mag er zur Zeit weilen?«136), nochmals eine neue Schrift erfindet, die er dann in nahezu allen folgenden Briefen an Carl Seelig verwenden wird: Briefen, die er von nun an, und bis zum letzten erhaltenen Brief aus dem Jahre 1949, ausschließlich mit dem Bleistift schreiben wird. Hermann Walther, der diesen zum wiederholten Male erfolgten Durchbruch zu einer neuen Handschrift mit einem anderen Namen als dem von Franz Blei in Beziehung setzt, mit dem des Adressaten der Briefe nämlich: »Seelig kann Name sein und machen«, beschreibt seinen Eindruck folgendermaßen: Es ist ein schönes Hochformat in vornehmem blassviolettem Schreibpapier in einer mittelbandbetonten Kleinschrift von 5 mm Höhe, wollknäuelig daherkugelnd, steil in locker geraden Zeilen und in einem breiten, weichen Bleistiftstrich, wie eine gestaltete Buchseite, […].137
XI.8 »B LEISTIF TGEBIE T« Die Schrift gestaltet sich im Brief an Carl Seelig aus dem Jahre 1939, der die Erinnerung an Franz Blei heraufbeschworen hat, wie eine Buchseite. Und der Bleistift führt im Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, der die besondere Schreibpraxis der Mikrographie erläutern wird, zahlreiche Komposita an, in denen sich das Verfahren immer aufs Neue wie eine spektakuläre Novität präsentiert: vom »Bleistiftgebiet«, dem »Bleistiftauftrag«, dem »Bleistiftweg«, der »Bleistiftmethode«, dem »Bleistiftsystem« bis zur »Bleistifterei« bildet sich die Reihe der Synonyma aus, die allerdings nichts darüber aussagt, dass das Verfahren mit einer Miniaturisierung und Kryptierung einhergeht; dieser Umstand bleibt vielmehr selbst weiterhin kryptiert. Und die Schreibpraxis selbst bleibt unkommentiert, sie bleibt ›reine‹, deutungslose Performativität bis in das Jahr 1927, bis zu jenem Brief an Rychner. Das aber bedeutet, dass das Verhältnis, in dem das »Bleistiftgebiet« zu einer Art ›Urszene‹ steht, auch im Wort vom »Bleistiftgebiet« und in dessen verzögerter Artikulation zu sehen ist. Der Brief an Rychner nun
135 | Vgl. Jutta Prasse: Sprache und Fremdsprache, S. 83. 136 | Brief vom 9. Mai 1939 an Carl Seelig, in: Br, S. 357. 137 | Hermann Walther: »Robert Walsers Winzigschrift und Handschrift. 28 Jahre Anstalt und nicht schizophren«, in: Einspruch, Jg. 5, Heft Nr. 29 (Oktober 1991), S. 9-28, S. 10.
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erläutert zunächst die ursprüngliche Adressierung der ›Briefe‹, die der Autor als Textbeiträge zuvor an den Redakteur gesandt hatte.138 Die Sache mit diesem Brief an ein Mitglied der Gesellschaft ist die, daß er ursprünglich, d.h. auf dem Brouillon, an eine hiesige Dame gerichtet wurde, dass ich aber diskretionshalber fand, dieser besondere Umstand, weil er etwas zu pikant empfunden werden könnte, müsse verschleiert, verallgemeinert, vermännlicht, d.h. ganz einfach zu einer kulturellen Angelegenheit umgestempelt werden, indem ich mich zum Grundsatz bekenne, ein Schriftsteller habe dringend Modelle nötig, die ihn beleben, er sei aber verpflichtet, diese seine Modelle nach Möglichkeit zart anzufassen, will sagen, vollständig unangerührt, ungekennzeichnet zu lassen.139
Der originäre Brief wird in der Abschrift aus dem »Brouillon« zum literarischen Text mit dem Titel Brief an ein Mitglied der Gesellschaft geworden sein.140 Das ›Pikante‹ (mit dem das französische ›piquer‹ = ›stechen‹, aber auch die Figur des Pikaro aus dem Genre des spanischen Schelmenromans und Cervantes aufgerufen ist) an dieser Art von Deanonymisierung ließe das Modell nicht unangetastet; ihm stieße förmlich zu, in die Zirkulation der Zeichen eingegliedert, kein sprichwörtlich ›unbeschriebenes Blatt‹ mehr zu sein. Veröffentlichte Schrift lässt Diskretion, lässt Privatheit nicht zu;141 das Briefeschreiben aber soll etwas ganz anderes sein, wie Robert Walser in einem Brief – und wo sonst? – bekennt: »Wenn man sich schreibt, so ist es, als rühre man sich zart und sorgsam an.«142 Also muss – paradoxerweise – »vermännlicht« werden. Es braucht eine Umwidmung, um das »Modell[ ]« aus dem »Organon der Wiederholbarkeit«143, das die Schrift bildet, heraushalten und dessen inspiratorische Wirkung erhalten zu können. Das Modell, das Vorbild behält so aber auch einen konstitutierenden Anteil an der Schrift, obgleich (oder vielleicht gerade weil?) sein Name oder besser ihr Name eliminiert ist. Die Figur soll als Schöpfung des Autors nicht als Porträt ohne Modell zu denken sein, denn der Frau auf diese Weise nicht mehr zu bedürfen, würde bedeuten, Maternalität nicht nur in einem übertragenen Sinne und 138 | Die Übersendung der Beiträge an den Redakteur Max Rychner geschieht mit der Bemerkung, dasjenige, was Rychner gefalle, könne »unter dem Titel ›Briefe‹ marschieren, das Nichtpassende würde ich zurückerhalten«. Vgl. Brief an Max Rychner vom 31. Mai 1927, in: Br, S. 298f. 139 | Brief vom 20. Juni 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 300. 140 | Die Veröffentlichung des Textes Brief an ein Mitglied der Gesellschaft erfolgt im September 1927 in der Neuen Schweizer Rundschau, deren Redakteur Max Rychner ist. Und Robert Walser verwendet im Zeitraum zwischen 1926/27 bis 1928 noch einige Male den Begriff des Briefes für die Titel seiner Arbeiten. 141 | Vgl. Peter Fuchs: Die Umschrift, S. 110. 142 | Brief (vermutlich vom März 1914) an Frieda Mermet, in: Br, S. 74. 143 | Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie, S. 298.
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speziell für dieses literarische Bild zu leugnen, sondern das quasi-matrilineare ›Originalbild‹, ›Originalgesicht‹, das erste Gesicht, das dem Kind erscheint, zu eskamotieren, es verschwinden zu lassen. Und ebenso genau nimmt es der Brief an Rychner nun mit der eigenen Schrift. Mit vernehmlicher Insistenz erläutert der Autor die gestückelte Genese des an den Redakteur versandten Textes. Im Abdruck in der Zeitung wird der Text homogen erscheinen, doch der Text hat, und darauf weist Robert Walser hin, keinen einheitlichen Ursprung: »Sie merkten dem vorliegenden Beitrag vielleicht nicht an, daß die vier oder fünf letzten Zeilen ausnahmsweise nicht aus dem Bleistiftgebiet stammen sondern bloß rasch noch, in der letzten Minute, angeflickt, beigefügt wurden.«144 Der Apolog, der Abschluss des im Brief erwähnten Beitrags ist ein Nachtrag, ein Postskriptum, welches zum initium, zum auslösenden Moment für die Erwähnung der besonderen Schreibpraxis im Brief an Rychner wird – einem Brief, der selbst Postskriptum ist. Kurz: Es bleibt nicht bei ›letzten Zeilen‹, bei einem Vermächtnis. Text ist nicht apologetisch, sondern in der »letzten Minute« wird immer ein neuer Kommentar zu bereits vorhandenem Text daraus. Die Schrift zeichnet sich aber noch durch anderes als durch dieses Stückwerk aus. Und die Ausdifferenzierung, ob etwas aus dem »Bleistiftauftrag« abgeschrieben oder »in der letzten Minute«, wie vor einem tödlichen Imprimatur, noch hinzugefügt worden ist, trägt nun auch für die Erwähnung Sorge, dass diese Differenzierung für den Redakteur nichtssagend bleibt: »Lächerlich kommt Ihnen vielleicht ein derartiges Genaunehmen der Entstehungsweise eines Aufsatzes vor. Für mich jedoch hat die Bleistifterei eine Bedeutung.«145 Der Brief antizipiert die mögliche Verwunderung angesichts der Sorgfalt, mit der hier die Provenienzen eines Textes unterschieden werden. Genau in dieser Sorgfalt aber, im »Genaunehmen«, liegt das Geben, liegt die Gabe an Rychner. Sie liegt in einer Enthüllung: Für den Schreiber dieser Zeilen gab es nämlich einen Zeitpunkt, wo er die Feder schrecklich, fürchterlich haßte, wo er ihrer müde war, wie ich es Ihnen kaum zu schildern imstand bin, wo er ganz dumm wurde, so wie er sich ihrer nur ein bisschen zu bedienen begann, und um sich von diesem Schreibfederüberdruß zu befreien, fing er an, zu bleistifteln, zu zeichnelen, zu gfätterlen. Für mich ließ es sich mit Hülfe des Bleistiftes wieder besser spielen, dichten; es schien mir, die Schriftstellerlust lebe dadurch von neuem auf.146
Auf den ersten Blick sieht das Wort »zeichnelen« wie eine Verschreibung aus. Ähnlich aber wie bei der Übersprungshandlung der écriture automatique, bei welcher der Buchstabe ›L‹ dazu dienen soll, das Weiterschreiben unbedingt zu ermöglichen, sind die Verben wie vom Schreiben selbst angerührt. Das 144 | Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 300f. 145 | Ebd., S. 301. 146 | Ebd.
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Schreiben hat hier überall den Schwung des Buchstabens ›L‹ hineingleiten lassen: »zu bleistifteln, zu zeichnelen, zu gfätterlen«, das heißt mit dem Bleistift zu schreiben, zu zeichnen, zu spielen und Zeit zu vertun.147 Die Grade auf der Abstammungslinie zwischen dem Zeichnen und dem Schreiben bezeichnen dabei das Ende einer Krisis. Aus dem temporären Überdruss am Schreibwerkzeug wird im Brieftext narrativ ein »Zusammenbruch« der Hand, eine »Art Krampf«, und aus dieser Agraphie, als der Unfähigkeit zu schreiben, ist dann nur noch auf dem »Bleistiftweg«, im Kontext des Spiels, Befreiung zu erreichen. Im Spiel passt ein Kind die Aussprache oder die Schreibung eines Wortes dem Gefühl an, das es gegenüber dem Gegenstand hat, der bezeichnet werden soll. Das Spiel ist dabei nicht Teil einer inneren Welt und es ist nicht Teil der äußeren Welt; es konstituiert einen Bereich zwischen beidem: »Das Kind lebt mit bestimmten, aus dem Innern stammenden Traumpotentialen in einer selbst gewählten Szenerie von Fragmenten aus der äußeren Realität (ohne daß man dabei von Halluzination sprechen könnte). Beim Spielen bedient sich das Kind äußerer Phänomene im Dienste des Traumes und besetzt ausgewählte äußere Phänomene mit Traumbedeutung und Gefühl«, schreibt D.W. Winnicott.148 Woraus aber bezieht dieses ›Spiel‹ bei Robert Walser seine Dringlichkeit? Im Brief an Rychner heißt es dazu: Ich darf Sie versichern, daß ich (es begann dies schon in Berlin) mit der Feder einen wahren Zusammenbruch meiner Hand erlebte, eine Art Krampf, aus dessen Klammern ich mich auf dem Bleistiftweg mühsam, langsam befreite. Eine Ohnmacht, ein Krampf, eine Dumpfheit sind immer etwas körperliches und zugleich seelisches.149
Die Umklammerung, aus der es sich zu befreien galt, ist hier ganz ›buchstäblich‹ in zwei Graphen zu sehen, sie ist in den Klammern dokumentiert, die den Beginn des Geschehens in Berlin nicht nur vom Haupttext abheben und zur Nebenrede, zur Parenthese werden lassen, sondern die etwas auch unter Vorbehalt stellen. Der ›Ursprungsort‹ selbst ist eingeklammert. Der »Krampf« aber, der hier entsteht, begegnet in Robert Walsers Dichterporträt Hölderlin wieder – und dort als Folge von einem: »kolossalischen Stolz. Der harten [ökonomischen; Anm. d. Verf., KS] Notwendigkeit Folge war ein Krampf, eine gefährliche Erschütterung im Innern.«150 Im Text Hölderlin führt dieser »Krampf« in die »Geisteszerrüttung«, in »jenes langsame, weiche, entsetzliche Zerschellen aller Klarheit«, das wie ein »tonloses, stilles, träges Zertrümmern himmlisch heller 147 | Das Verb ›gfätterlen‹ ist ein schweizerdeutscher (pejorativer) Ausdruck für das Kinderspiel, für müßigen Zeitvertreib. Vgl. Anm. zum Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 420. 148 | D.W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität, S. 63. 149 | Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 301. 150 | SW 6/116.
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Welten« ist, wie es in diesem Text heißt.151 Robert Walsers Text Hölderlin legt dabei der »Frau« des Hauses eine Mahnung an den Dichter »Hölderlin« in den Mund: »[…] deine kühnen Einbildungen töten dich, und der Traum, den du dir vom Leben machst, raubt dir das Leben. Könnte: Auf-Größe-Verzichten nicht auch Größe sein? Schmerzlich ist ja alles.« So redete sie zu ihm.152
Als ›kolossal‹ langsam ist das Schreiben im »Bleistiftgebiet« beschrieben, »kolossalisch« jedoch, das heißt noch weiter ausgedehnt wird der »Stolz«, der doch im Gegenteil gedämpft werden sollte, nicht ohne dass er eine »gefährliche Erschütterung im Innern« zur Folge hat. Eine Erschütterung aber ist immer psychosomatisch zu denken, so hatte es der Brief an Rychner vom 20. Juni 1927 geschrieben: »Eine Ohnmacht, ein Krampf, eine Dumpfheit sind immer etwas körperliches und zugleich seelisches.«153 Das Postskriptum zu diesem Brief schreibt eine physiologische Erschütterung: »N.B. Ein Zürcher versetzte mir vor vierzehn Tagen einen Stoß in die Gegend oberhalb der Stelle, wo sich das Herz befindet.«154 Eigentlich jedoch scheint es um einen anderen Schlag zu gehen, der zu Herzen gegangen war und der bereits vor dem 31. Mai erfolgte, auf den ein weiterer Brief an Max Rychner datiert ist, der dem vom 20. Juni vorausgegangen war; und hier heißt es: »Ich bekam vom Berliner Tagblatt, nachdem ich siebenundzwanzig mal darin vertreten sein durfte, einen Klapf, daß ich hinausflog. In Deutschland scheinen keine Chancen mehr für mich zu blühen; […].«155 Der Schlag, der ›Klaps‹ ist metaphorisch, und der »Stolz« aus dem Hölderlin-Text, der im September 1915 in der Vossischen Zeitung erschienen war, figuriert nun im Prosatext Das stolze Schweigen, der – mit einigem Stolz – am 31. August 1927 in der Korrespondenz erwähnt werden wird, bis die Ablehnung des Textes im November desselben Jahres kolportiert wird: »Was jenes ›stolze Schweigen‹ betrifft, so werden Sie es nicht zu lesen bekommen, da es nicht hat veröffentlicht werden können, weil sein Inhalt doch gar zu bescheiden und gerade darum zu stolz anmutete. Heutzutage gilt Bescheidenheit als etwas Freches.«156 Noch anders ist die Konnotation desselben Wortes oder besser desselben Zusammenhangs dann 1932 in einem Brief an dieselbe Adressatin: »Die meisten meiner Kunden im armgewordenen Reich haben sich bereits von mir entfernt. Stolz und arm! Der seelische Zustand von Solchen, die besiegt wurden. Wer kann heute mit Deutschen noch gute Geschäfte ma-
151 | SW 6/117. 152 | SW 6/119f. 153 | Brief vom 20. Juni 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 301. 154 | Ebd. 155 | Brief vom 31. Mai 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 298. 156 | Brief vom 30. November 1927 an Frieda Mermet, in: Br, S. 316.
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chen? Doch man fügt sich in’s Unvermeidliche.«157 Und kurz zuvor, in einem Neujahrsbrief zum Jahr 1932, hatte es, wieder an dieselbe Adressatin, geheißen: »Nun stehen wir, ich hier, Sie dort, vor neuer Zeit.«158 Doch bereits Ende 1927 schreibt Robert Walser – ebenfalls an Frieda Mermet: Beim heutigen Schriftstellern muß man auf Mancherlei acht geben, beispielsweise darauf, daß man niemals schreibt: »Ich erinnere mich u.s.w.« was in der Gegenwartskultur als très mauvais ton gilt. Man muß sich zu merken imstand sein, was das Geltende ist und was nicht. Behandelt nun ein Schriftstellerlein eine Erinnerung, so steht er vor der Aufgabe, diese sogenannte Wahrheit, ich meine, diese Erinnerung in etwas Heutestattfindendes, Gegenwärtiges zu verwandeln, was sehr leicht zu bewerkstelligen ist. Dieses Neujahr rücken nun einige, im Übrigen vorzügliche Autoren mit Jugenderinnerungen auf den Büchermarkt, was eine Tatsache ist, die zu dem Ihnen soeben Gesagten in einem Wiederspruch steht.159
Mit den »Jugenderinnerungen« ist im Euphemismus nahezu unkenntlich gemacht, worum es geht, sollte es sich um die literarischen Kriegsberichte handeln, die zu dieser Zeit vermehrt veröffentlicht werden. Mit dieser Art Erinnerungsliteratur hätte sich dann in den ›Widerspruch‹ mit dem Buchstaben ›e‹ auch das Wiedergängerische des Krieges eingeschlichen, der Ende Mai 1927 in der Korrespondenz bereits als Heraufkunft der »Weltkriegsgeister«160 beschworen worden war. Im Jahr darauf wird Robert Walser an Otto Pick von der Prager Presse schreiben: Indem ich von Ihrem freundlichen Brief gebührend Notiz nahm, werde ich, wie bisher, bestrebt sein, Ihnen zukommen zu lassen, was sich an Aktuellem irgendwie durch mich und mein Individuelles, will sagen, von meiner Feder, die abhängig und unabhängig zugleich ist*, wird behandeln lassen können. *weil beispielsweise Nichtaktuelles für mich aktuell, manches Aktuelle dagegen nicht aktuell sein kann.161
Die »Feder« ist etwas »Individuelles«. In der »Feder«, das heißt im eigenen Schreiben, verbinden und vertauschen sich Aktuelles und weniger Aktuelles. Und so erklärt auch der Brief an Rychner vom 20. Juni 1927 das »Bleistiftgebiet« im Rückblick auf eine »Zeit der Zerrüttung, die sich gleichsam in der Handschrift, im Auflösen derselben, abspiegelte«.162 Der Brief ›liest‹ das Wesen einer Zeit aus einem »Krampf« der Hand; und ›dieselbe‹
157 | Brief vom 18. April 1932 an Frieda Mermet, in: Br, S. 348. 158 | Brief vom 4. Januar 1932 an Frieda Mermet, in: Br, S. 348. 159 | Brief vom 26. Dezember 1927 an Frieda Mermet, in: Br, S. 319 (Hervorh. v. RW). 160 | Brief vom 30. Mai 1927 an Therese Breitbach, in: Br, S. 297. 161 | Brief vom 31. Oktober 1928 an Otto Pick (Prager Presse), in: Br, S. 330f. 162 | Brief vom 20. Juni 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 301.
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Schreibhand hat dabei den Buchstaben ›r‹ – onomatopoetisch – an die Stelle eines sonst unartikuliert gebliebenen Rumorens gesetzt. Im Krampf, und das heißt mit der schmerzhaften Kontraktion von Muskeln, etwa nach einer ungewohnt hohen Beanspruchung, macht sich ein Gedächtnis der Physis, des Körpers geltend; der »Krampf« aber meidet zugleich ein anderes Lexem, das diese Zeit noch auf einem anderen Schauplatz als dem der eigenen Schrift bezeichnet hätte: im Kampf. Die Psychosomatik aber, die mit der Unentscheidbarkeit befasst ist, ob Einwirkungen von außen oder von innen her kommen, gilt nicht nur für diesen »Krampf«, sondern auch für ein Schreiben, bei dem unentscheidbar wird, was sich worin »abspiegelt[ ]«, was Semantik und was Graphemik, was semantische und was graphemische Metonymisierung ist. Und so heißt es im Brief an Rychner vom 20. Juni 1927 weiter: »Es gab also für mich eine Zeit der Zerrüttung, die sich gleichsam in der Handschrift, im Auflösen derselben, abspiegelte und beim Abschreiben aus dem Bleistiftauftrag lernte ich knabenhaft wieder – schreiben.«163 Nahezu unbemerkt wird die Aporie bleiben, dass das Schreiben aus dem Abschreiben eines doch bereits vorhandenen Textes – wieder – erlernt wird. Die Schrift folgt darin dem Gesetz einer eigenen Vorschrift im doppelten Sinne des Präfixes ›vor-‹. Sie folgt dieser Vorschrift zeitlich gesehen nach – und sie folgt ihr in einer gewissen ›büreauhaften‹ Folgsamkeit. Der Knabe aber ist nicht nur Bild des (noch) suspendierten Mannes, sondern auch ein Bild, das diese Suspension anzeigt.164 Und dieses doppelte Bild einer Suspension wird nun wiederum selbst suspendiert, insofern sich die metaphorische Substitution nicht restlos vollzieht. Im Suffix ›-haft‹ des Wortes »knabenhaft« ist vielmehr die Zuschreibung im Blick des Anderen mitgeschrieben. Androgyn, als Knabe erscheinen kann immer auch ein Mädchen, eine Frau. Der Index führt an einen ›Ursprung‹ von Differenz, an eine Perspektivierung, die durch das eigene Geschlecht instituiert ist. Und das Schreiben wird hier gerade nicht ›wie‹ oder ›als‹ ein Knabe wieder erlernt, die Wiederanknüpfung an das eigene Schreiben vollzieht sich nicht im Regress auf Früheres, auf eine Präexistenz. Vielmehr verhindert der dem eigenen Geschlecht gegenüber befremdete Blick gerade das Wiedereintreten in die Logik des Geschlechts im doppelten Sinne des Wortes genus, das Wiedereintreten in eine Genealogie, die immer auch Genealogie der Totschläger seit Kain ist. Und so schreibt sich der Briefschreiber im Brief an Rychner vom 20. Juni 1927 in die literarische Genealogie mittels einer fortgeführten Wiederholung von Präfigurationen (wieder) ein. So lernt er »knabenhaft wieder – schreiben«.
163 | Ebd. 164 | Vgl. Marianne Schuller: »Maskeraden. Schrift, Bild und die Frage des Geschlechts in der frühen Prosa Else Lasker-Schülers«, in: Zwischen Schrift und Bild. Entwürfe des Weiblichen in literarischer Verfahrensweise, hg. v. Christine Krause et al., Heidelberg 1994, S. 41-55, S. 55.
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Die Rekapitulation jener »Zeit der Zerrüttung« restituiert die Schrift nicht als Provisorium, nicht als ein ›Vorerst‹ gegenüber dem ›vollen‹ Bild; sondern es bleibt bei Anfängen. Andererseits wird das Schreiben im Abschreiben eines – bereits vorhandenen – Textes neu erlernt und: »Aller wircklicher Anfang ist ein 2ter Moment. Alles was da ist, erscheint, ist und erscheint nur unter einer Voraussetzung«,165 hatte Novalis geschrieben.
165 | Novalis: Schriften, Bd. 2, S. 591 (Hervorh. v. N.).
Relais: Trauma und Fetisch
Die Studie Sigmund Freuds mit dem Titel Fetischismus stammt wie Robert Walsers Brief an Max Rychner, der das »Bleistiftgebiet« explizieren wird, aus dem Sommer des Jahres 1927. In dieser Studie findet sich eine Vergegenständlichung ins Werk gesetzt. Die widerspenstige Frage nach dem Trauma, die sich seit dem Ersten Weltkrieg in Freuds Schriften als etwas Unerledigtes abgezeichnet hatte, wird nun buchstäblich zu etwas Kleinem, Dinghaftem, das handhabbar scheint. Es geht um die »Tendenz, ein Teil für das Ganze zu nehmen«.1 Woher aber rührt die Tendenz und wie lässt sie sich, einmal ungeachtet ihrer Ausformungen, beschreiben? Nach Freud wird in der ›Schöpfung‹, der Konstitution des Fetischs der einstige Kastrationsschreck beim Anblick des weiblichen Genitals abgewehrt, das gegenüber dem männlichen als ein Nichts, als ein Fehlendes erschienen war.2 Und es liegt nahe, so Freud weiter, zu erwarten, dass zum Substitut des mit dem weiblichen Geschlecht vermiss1 | Karl-Josef Pazzini: »Unheimliches in der Lehre. Fragen zur Lehre in Psychoanalyse und Kunst«, in: Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, hg. v. Martin Sturm, Georg Christoph Tholen und Rainer Zendron, Linz 1995, S. 49-59, S. 52. 2 | Die ›Kastration‹ beschreibt Georg Christoph Tholen folgendermaßen: Sie »bezeichnet den symbolischen Unter-Schied der Geschlechter, d.h. die verdrängte Wahrnehmung der anatomischen Geschlechtsdifferenz durch das Kind, das sich als solches nicht zu entscheiden vermag, ›Mann‹ oder ›Frau‹ zu sein, und doch von diesem unspiegelbaren, in sich haltlosen Unterschied subjektiviert wird. Der Geschlechtsunterschied wird erst als wahrgenommene anatomische Differenz, also nachträglich zur psychischen Realität. Bereits in der platonischen Bestimmung des Eros bestand dessen ›Urszene‹ ja darin, die Trennung (= Kastration) der Geschlechter imaginär zu überwinden, anders gesagt: eins zu werden. Der Bezug der Geschlechter – der Trennungsstrich gleichsam – setzt gleichsam [sic!] den Wunsch nach Anwesenheit und Einheit in Szene. Er re-präsentiert diesen Wunsch, ohne selbst präsent zu werden oder je gewesen zu sein.« Georg Christoph Tholen: »Der befremdliche Blick«, in: Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, S. 11-25, S. 15.
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ten, mangelnden Phallus dann solche Organe oder Objekte gewählt würden, die auch sonst üblicherweise den Phallus als Symbole vertreten, und: »Das mag oft genug stattfinden, ist aber gewiß nicht entscheidend. Bei der Einsetzung des Fetisch scheint vielmehr ein Vorgang eingehalten zu werden, der an das Haltmachen der Erinnerung bei traumatischer Amnesie gemahnt. Auch hier bleibt das Interesse wie unterwegs stehen, wird etwa der letzte Eindruck vor dem unheimlichen, traumatischen, als Fetisch festgehalten.«3 Das Erleben rastet gleichsam bei einem vorletzten Eindruck ein, vor dem Eindruck, der traumatisch werden wird, bei einem letzten Eindruck jedoch, insofern alle ›Eindrücke‹ hernach mehr oder weniger intensiv von diesem traumatischen Eindruck durchsetzt, durchzogen, determiniert sein werden. In der Anästhesie durch das Trauma konzentriert und kondensiert sich ein Begehren dann als Ästhetik des Fetischs, und das heißt auch: als Gebanntheit durch das Partikulare. Der Vorgang der Einsetzung des Fetischs scheint dabei dem des Gedächtnisverlusts verwandt. Und dabei bestehen zwei für die Bewältigung gleichermaßen unverträgliche Positionen, wovon die eine auf Verleugnung, das heißt auf das Ungeschehenmachen einer Wahrnehmung hinausläuft, die andere auf eine Anerkennung der weiblichen Kastration, im Fetischismus nebeneinander; und deshalb kann es bei der Fetischisierung auch nicht um eine Substitution gehen, mit der ja eine Einheit vorausgesetzt wäre, die substituiert werden könnte. In der weiter oben erwähnten Studie Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918) hatte es über den ›Wolfsmann‹ noch geheißen: »Am Ende bestanden bei ihm zwei gegensätzliche Strömungen nebeneinander, von denen die eine die Kastration verabscheute, die andere bereit war, sie anzunehmen und sich mit der Weiblichkeit als Ersatz zu trösten. Die dritte, älteste und tiefste, welche die Kastration einfach verworfen hatte, wobei das Urteil über ihre Realität noch nicht in Frage kam, war gewiß auch noch aktivierbar.«4 Aktivierbar in Form einer Halluzination. Aber nur in Form einer Halluzination? Es geht, wie Laplanche/Pontalis hervorgehoben haben, aus Freuds Arbeiten nicht klar hervor, was verworfen oder verleugnet wird, wenn die Kastration zurückgewiesen ist: Ist es die Kastration selbst, so wäre es die interpretative Theorie der Tatsachen, und nicht eine einfache Wahrnehmung, die verworfen würde. Wäre es das Fehlen des Phallus bei der Frau, so würde es schwierig, von einer verleugneten Wahrnehmung zu sprechen, »denn die Abwesenheit ist nur insoweit eine Sache der Wahrnehmung, als sie mit einer möglichen Präsenz in Beziehung gesetzt wird«.5 Die dritte Möglichkeit aber, bei der es um die Weigerung geht, dem Wahrgenommenen einen Sinn zu verleihen, also »um etwas, was man ei-
3 | Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XIV, S. 314. 4 | Ebd., Bd. XII, S. 117. 5 | Vgl. Artikel »Verwerfung« in: Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 608-612, S. 611 (Hervorh. v. L/P).
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nen Rückzug der Bedeutung nennen könnte«,6 einen »Rückzug der Bedeutung«, bei dem das Urteil suspendiert ist, scheint es – anders als in Freuds von 1918 datierendem Text über den ›Wolfsmann‹ – 1927 nun nicht mehr zu geben. Einst in Betracht gezogen, ist die Möglichkeit eines »Rückzugs der Bedeutung« offensichtlich nicht mehr aktivierbar. Und in der Tat hat Freud in seinen eigenen Denk- und Forschungslinien hier selbst etwas ›als Fetisch festgehalten‹, etwas, das ihm als traumatischer Einbruch der äußeren Realität in die Interiorität des Seelenlebens zuvor über lange Zeit Rätsel aufgegeben hatte. Das Trauma – des Ersten Weltkriegs – gerinnt nun in einer theoretischen Beschäftigung mit dem Fetisch, bleibt dabei aber im Bann des Bedrohlichen, denn der Fetisch steht zwar für den vergessenen, verdrängten Vorgang; doch sein anamnestischer Charakter, sein Bezug zum Geschehen bleibt verborgen. Die Erinnerung nimmt, gerade indem sie die Konturen eines Gegenstands annimmt, selbst nicht Gestalt an; sie bleibt Fixierung. In Robert Walsers Text Hölderlin findet sich das Trauma in einem ganz wörtlichen Sinn. Die »Frau des Hauses« sagt an »Hölderlin« adressiert: »alles, was du sprichst, zerreißt alles Erreichbare«.7 Die Worte des Dichters zerfetzen, und darin findet sich die ursprüngliche, etymologische Bedeutung des griechischen ›Trauma‹, als einer Wunde, bei der Gewebe durchtrennt, zerrissen ist.8 Hölderlins Sprache oder besser die Sprache der Figur des Hölderlin ist in Robert Walsers Text nicht nur traumatisiert, sie traumatisiert selbst – und verweist darin zugleich auf die eigene Traumatisierung zurück. »Es gab also«, so wird Robert Walsers Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 zusammenfassen, »eine Zeit der Zerrüttung, die sich gleichsam in der Handschrift, im Auflösen derselben, abspiegelte«, und wohlgemerkt ist es nicht allein ›Zerrüttung‹, die sich in der Erosion der Schrift »abspiegelt[ ]«, sondern eine »Zeit der Zerrüttung«. Und das Relativpronomen kann sich dabei sowohl auf die Zeit als auch auf die Zerrüttung beziehen. Es wird gerade nicht eine einzelne Ursache imaginiert, nachdem die Wirkung eingetreten ist; es wird gerade nicht im Sinne einer Metalepsis verfahren. Das Trauma ist nicht nur in seiner Nachträglichkeit – und erst im Brief an Rychner – semantisch-analytisch entfaltet. Mit der Alliteration in der Wendung von der »Zeit der Zerrüttung« steht es, im doppelten kapitalen ›Z‹, in der Wiederholung der Majuskel, vor Augen: Es hat eine Zeit gegeben, so ließe sich das Syntagma auch verstehen, die von der Zeit in einem anderen Sinne betroffen war, es hat eine biographische Zeit, eine Lebenszeit gegeben, die von der historischen Zeit affiziert war. Die Alliteration im Anlaut der Substantive wie die doppeldeutige Genitivform (partitivus oder possessivus) verwirren die Unterscheidbarkeit. Die »Zeit der Zerrüttung« bildet in dieser Doppeldeutigkeit – grammatikalisch und graphemisch – die Krise ab, die selbst die Zerrüttung ei6 | Ebd. 7 | SW 6/119. 8 | Vgl. Laplanche/Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 514.
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ner Unterscheidbarkeit ist. Die Krise verhindert markante Abbildbarkeit, weil das Trauma nicht etwa ein punktuelles Ereignis ist, sondern sich in Sequenzierungen erstreckt. Und so rückt der Gedankenstrich im Brief an Rychner das hochbedeutsame Wort ›schreiben‹ auch noch immer vom ›Rest‹ des Textes ab – ganz so wie eine Hand oder ein ausgestreckter Arm sich ›etwas‹ vom Leibe hält. »Es gab also«, so wird rekapituliert werden, »für mich eine Zeit der Zerrüttung, die sich gleichsam in der Handschrift, im Auflösen derselben, abspiegelte und beim Abschreiben aus dem Bleistiftauftrag lernte ich knabenhaft wieder – schreiben.«9 Das Schreiben ist hier noch immer nur mit erhöhten Vorkehrungen in den Brieftext zu integrieren.
9 | Brief vom 20. Juni 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 301.
XII. West-östliche Elemente
Robert Walsers Wort vom »Bleistiftgebiet« erweist sich als ein Knotenpunkt in der Überlagerung von historischer und biographischer Zeit. Es stellt der historischen Zeit ein Zeugnis aus, ist ein ›Gebiet‹, ein Territorium, das mit dem Synonym des »Brouillon« nicht nur literarische Reminiszenz ist, sondern das mit dem Ersten Weltkrieg deutlich zugespitzte Prekäre der Schweizer Sprachkarte kenntlich macht: »Was mich betrifft, so lerne ich tapfer französisch […]«,1 schreibt Robert Walser bereits 1898 an die Schwester, im Kriegsjahr 1917 dann an Hermann Hesse: »Wenn die Welt aus den Fugen ist, so nützt die Anstrengung von zwanzigtausend tollen Hamleten wenig oder nichts. Ich lese jeden Tag ein wenig französisch, weil das eine so hübsche Sprache ist. Bin ich etwa deswegen ein Schurke?«2 Das Französische stellt, wie die Äußerung zeigt, schon fast eine Häresie dar, in Anbetracht der Spannungen zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz während des Krieges, die dazu führten, dass die einzelnen Landesteile, in den jeweiligen größeren Sprachraum orientiert, auseinanderzudriften drohten. Das »Bleistiftgebiet« ist dabei eine Mediation – aber nicht nur zwischen den Kriegsparteien. Es vermittelt auch zwischen der dialektalen ›Muttersprache‹ und der schriftdeutschen, in der Schweiz immer auch als artifiziell empfundenen ›Vatersprache‹ – es vermittelt zwischen allem als plurales tertium der Geschwister. Im Text Heimkehr im Schnee, in einer Heimkehr, die es im Text Schneien, wie gezeigt, für den dort ›figurierten‹ Kriegstoten gerade nicht mehr geben konnte, lautet die Verheißung so auch: »Bald würde ich wieder die Eltern- und Geschwistersprache reden hören und den lieben Vaterlandsboden wieder betreten.«3 Das Paternale des Vaterlands ist dabei auch das Fraternale. Einflüsse sind buchstäblich Zuflüsse, wie im Text Büren, im Oktober 1917 erschienen, wo der Rhein »ein Vater oder Bruder der Aare ist«,4 wie auch der Rhein und die Rhone, und zwar gerade im Text mit dem Titel Schweizeressay, der 1 | Brief vom 5. Mai 1898 an die Schwester Lisa, in: Br, S. 9. 2 | Postkarte vom 15. November 1917 an Hermann Hesse, in: Br, S. 117. 3 | SW 16/305. 4 | SW 16/43.
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im August 1930 in der Zeitschrift Die literarische Welt erscheint, ausdrücklich fraternal bestimmt werden: »Rhein und Rhone entspringen in brüderlicher Nähe, an beinahe derselben bergigen Stelle, von wo aus sie munter fortsprudeln, um sich zu europäischen Strömen zu entwickeln.«5 Doch Bahnungen gibt es auch nach innen: »Die innere Welt ist gleichsam mehr Mein, als die Äußre. Sie ist so innig, so heimlich – Man möchte ganz in ihr leben – Sie ist so vaterländisch. Schade, daß sie so traumhaft, so ungewiß ist«, hatte Novalis im Allgemeinen Brouillon in einem Fragment zur »Cosmologie« geschrieben.6 Auch das »Bleistiftgebiet« ist topographisch gegenüber der explorierten, kartierten, kolonisierten Welt des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts selbst entlegen wie die alte Schreibtischschublade, die in der Kurzprosa mit dem Titel Geschwister Tanner gedankenreich zu sein scheint und aus welcher der Schriftzug mit dem Herausziehen der Schubladen bereits selbsttätig zu entspringen scheint, denn hier ist: »der dunkelfarbige Schreibtisch so altertümlich, als sei er ein alter Zauberer. Wenn ich seine feingearbeiteten, kleinen Schubladen aufzog, sprangen, so bildete ich mir ein, Sätze, Worte und Sprüche daraus hervor.«7 Die Einfälle »spielten« wie Kinder miteinander, die aus den »kleinen Schubladen« des dunklen Schreibtischs, »als sei er ein alter Zauberer«, wie selbsttätig hervorspringen; und doch sind sie – und darin liegt gerade das Zauberische – dem Schreibtisch nur durch Zug und Schub zu entnehmen oder auch wieder zum Verschwinden zu bringen. Und so zeigt sich der Charakter der ›Einbildung‹: Wirklicher Handlanger der Zauberei ist die Hand, die Schreibhand. Und das Wort vom »Bleistiftgebiet« topologisiert zwar; doch eher als einen Ort meint es eine durch Kontemplation qualifizierte Zeit. Im »Bleistiftgebiet« ist das Schreiben von einer Stimmung begleitet, die an ein zerstörtes Spiel wieder anknüpfen lässt: »Für mich ließ es sich mit Hülfe des Bleistiftes wieder besser spielen, dichten; […].«8 Der Bleistift ist Reminiszenz an den Kinderbleistift. Und statt dass Tinte zu versiegen droht, wird der Bleistift stumpf; mit der Zeit verschwindet er fast ganz, zerfällt beim Anspitzen in lautlos abfallende, papierdünne Spiralen. Das Schreiben mit dem Bleistift ist das lautlosere gegenüber dem Sich-im-Schreiben-Vernehmen9 der Feder; es gleicht dem im Text Brief an ein Mitglied der Gesellschaft beschworenen »Still-Sein[ ]«10, das wiederum präfiguriert scheint im Roman Heinrich von Ofterdingen des Novalis: in einem »leisen Bilden der inneren Kräfte« bei »jenen ruhigen, unbekannten Menschen, deren Welt ihr Gemüth, deren Thätigkeit die Betrachtung, deren Leben ein leises Bilden ihrer innern Kräfte ist« – den Dichtern.11 5 | SW 20/38. 6 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 376 (Hervorh. v. N.). 7 | SW 4/127f. 8 | Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927, in: Br, S. 301. 9 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 26. 10 | SW 18/147. 11 | Novalis: Schriften, Bd. 1, S. 266.
XII. W EST - ÖSTLICHE E LEMENTE
Das Bilden der Kräfte bringt dabei einen Geist der Poesie zur Entfaltung, den Geist eines romantischen Morgenlandes; und dieses romantische Morgenland hat Franz Blei 1926/27 mit einer Anthologie von Texten beschworen, die von Karl Walser illustriert wurde. Sie trägt den Titel Der persische Dekameron. Die persische Sprache, schreibt Blei im Vorwort zu diesem Buch, in dem englische, französische und italienische Übertragungen aus dem Persischen in einer Übersetzung ins Deutsche versammelt sind, »vermeidet, Gegensätzliches aufzurufen, so sehr, daß der Gegensatz sogar dem persischen Theater fehlt: es ist ganz lyrisch und bar jeden dramatischen Interesses«. Die Sammlung umfasst, so Blei, »Weitererzähltes seit Jahrhunderten, zuweilen Niedergeschriebenes, nicht eigentlich Verfaßtes«.12 Die Anthologie bildet also auch eine Mythographie ganz im Sinne Friedrich Schlegels aus, ein Gesamtgedicht von Werken, die im Gang der Zeit anonymisiert wurden. Auch das »Bleistiftgebiet« im Brief an Rychner vom 20. Juni 1927 erinnert an jene ›grauen‹ Vorzeiten, in denen das Schreib-Spiel gemeinsam mit dem Bruder Karl Walser so mühelos begonnen worden war und in denen die eigenen Texte, jedenfalls im Empfinden des Autors, eben ›nur‹ geschrieben und nicht eigentlich ›verfasst‹ worden waren. Und so setzt das bereits im Jahre 1914 erschienene Prosastück Geschwister Tanner, das die Entstehungszeit des ersten Romans von Robert Walser in der gemeinsamen Wohnung der Brüder in Berlin beschreibt, mit den schnellen Strichen kurzer Setzungen ein; in dem wie lose skizzierten und nicht mehr ganz zeitgemäß impressionistisch kolorierten Bild wirken die Glanzlichter der nächtlichen Hauptstadt dabei wie mit weißer Farbe gehöht: »Der hinreißende Glanz in den dunklen hauptstädtischen Straßen, die Lichter, die Menschen, der Bruder. Ich in der Wohnung meines Bruders. Ich werde diese schlichte Dreizimmerwohnung nie vergessen. Es war mir immer, als sei ein Himmel in dieser Wohnung mit Sternen, Mond und Wolken.«13 Der sprichwörtliche ›Himmel auf Erden‹ besteht in einer schlichten Dreizimmerwohnung. Glanz bezieht das Hauptstadtleben dabei aus einer Lichtquelle, die in der Wohnung des Bruders situiert ist – dem Mond. Unter diesem ›Zeichen‹ steht im Rückblick die Niederschrift der Geschwister Tanner in Berlin, zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder besser zum Ende des langen 19. Jahrhunderts hin, das erst mit dem Ersten Weltkrieg geendet hatte. Und in der Tat: Bereits im Debüt mit Fritz Kochers Aufsätze[n] nehmen die Bücher Robert Walsers nicht nur mit der Protektion durch Franz Blei, sondern in der Zusammenarbeit mit dem Bruder Karl Walser Gestalt an. Für das erste Buch gab es beim Autor jedoch noch eigene Vorstellungen von einem »Sammelband«, der – je umfangreicher, desto erfolgreicher – auf dem »Markt der Welt« erscheinen würde. An den Insel Verlag schreibt er 1904: 12 | Franz Blei: »Vorwort«, in: Der persische Dekameron. Zusammengestellt von Franz Blei, Wien, Leipzig 1926, S. 7-10, Zitate S. 7 und S. 10. 13 | SW 4/127f.
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M IKROPOETIK Abteilungen wünsche ich keine, sondern ich denke es mir am besten und schönsten, alles hintereinander zu drucken, als ein Ganzes, Einziges, Zusammengehöriges, denn so ist es in der Tat. Das Buch, hochgeehrter Herr v. Poellnitz, muss nun so gross, als irgend angeht, gemacht werden, d.h. in Bezug auf die Annahmezahl von Stücken.14
Der Wunsch ist hybrid, auch insofern sich seine Einheit aus Differenzen, aus Widersprüchen konstituiert zeigt: »Ganzes« wird schon bald »Einziges« sein – und ist doch »Zusammengehöriges«. Das Ganze steht dabei aber nicht allein, was sich schon darin zeigt, dass es sich als »Einziges« bestimmt, bestimmen muss. Und das Ganze erweist sich als nicht singulär, insofern es wiederum als etwas »Zusammengehöriges« erscheint, und das setzt etwas anderes in seiner Existenz voraus. Alles tritt in der Reihung zu einer Ambivalenz zusammen, bei der die Abstrakta Relationen eingehen, bei der sie mit anderer Bedeutung affiziert sind. Und der Satz zeigt sich dabei buchstäblich »in der Tat« davon bestimmt, »alles hintereinander« nicht etwa nur zu drucken, sondern linear bereits schreiben zu sollen. »Es mag im nächsten Moment schon ein anderes geworden sein und sich als höchst teilbar erwiesen haben«, für die Benennung muss ein »Ganzes« ebenso wie ein »Einziges« oder »Zusammengehöriges« dieses Eine sein, schreibt Christoph Türcke im Rekurs auf Aristoteles: »Denn nicht Eines bezeichnen heißt gar nichts bezeichnen. Wenn die Benennungen aber nichts bezeichnen, ist die Unterredung mit anderen aufgehoben, in Wahrheit sogar die mit sich selbst.«15 Genau dies aber stellt die widerspruchsvolle Reihung in Robert Walsers Brieftext in Abrede – oder mindestens in Frage. In Robert Walsers Brief an den Insel Verlag ist das Imaginäre (»ich denke es mir am besten und schönsten«) dabei durch zwei Pronomen, das »es« als Leerstelle der Prädikation und das Pronomen »mir« als Selbstaffektion, gespiegelt. Und die Gattung Brief macht zudem immer möglich, dass das Subjekt der Aussage nicht identisch ist mit dem Subjekt des Ausgesagten. Es kann vielmehr unterschieden werden »zwischen einem Subjekt der Aussage als Form des Ausdrucks, also einem ersten Subjekt, das die Briefe schreibt, und einem Subjekt des Ausgesagten als Form des Inhalts, also einem zweiten Subjekt, von dem der Brief spricht (auch wenn ich von mir spreche)«.16 Vor der Zeitstelle »nun« wird dagegen in unmittelbarer, ironischer Nachbarschaft zum Buch ein aristokratisch-erhabener Signifikant in seinem Hoheitsanspruch buchstäblich aufgerichtet: »hochgeehrter Herr v. Poellnitz«. Der eigene expansive Gestus aber – das Buch »muss nun so gross, als irgend angeht« gemacht werden – zeigt sich gerade darin über sich selbst als Phantasmagorie der Größe informiert, dass das ›Anecken‹ bereits anti14 | Brief vom 22. Mai 1904 an den Insel Verlag, in: Br, S. 28. 15 | Aristoteles: Metaphysik [1006b]; zit.n. Christoph Türcke: Vom Kainszeichen zum genetischen Code, S. 161f. 16 | Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur, S. 43 (Hervorh. v. GD/FG).
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zipiert ist (»so gross, als irgend angeht«). Die Edition ist bereits von einem »Bezug« her expliziert, bei dem die glanzvolle ›Größe‹ am Ende des Satzes nur noch passendes Quantum, nur noch »Annahmezahl von Stücken« geworden sein wird – und die Vision des Buches als ein »Ganzes, Einziges, Zusammengehöriges« zu einer dem Votum des Redakteurs sogar noch vorauseilenden Selbstredaktion. Kurz darauf wird Robert Walser dann auch alles ›Große‹ revidieren und Karl Walsers Konzept, das vorsah, Lyrik und Prosa in je getrennten Bänden und in kleinerem Format zu bringen, gegenüber dem Verlag kolportieren.17 Das Buch hatte vorher aber »so gross, als irgend angeht« vor allem deshalb werden sollen, um den Gedichten gegenüber den Prosastücken eine eigene Seite, einen eigenen Fond einräumen zu können, doch was sich hierin eben vor allem bereits abzeichnet, ist, dass Robert Walsers Präferenz in Bezug auf die Erscheinungsform seiner Texte sich vom Grund einer konstitutiven Unentscheidbarkeit der Gattung abhebt. Und zu den literarischen Gattungen wird sich der Autor weit später, in einem Brief an Otto Pick von der Prager Presse vom 17. Mai 1927, noch äußern: Was meine Pläne betrifft, so glaube ich die meiste Plänemacherei für seelenschädlich halten zu sollen. Mein Hauptplan ist, möglichst ehrlich in literarischen Angelegenheiten zu sein, daneben gibt es diese drei Gebiete, Lyrik, Epik, Dramatik, und wenn man lebe, lautet mein Grundsatz, und dies tut man ja unwillkürlich, so bilde, forme sich dann und wann ein Schaffensplan von selbst heraus.18
Die Gattungen sind hier topographisch bestimmt, sie sind »Gebiete« wie das »Bleistiftgebiet«. In Robert Walsers ureigener Taxonomie sind diese »Gebiete« dabei neben einem »Hauptplan« situiert und gegenüber diesem ›Haupt-‹ so lange subordiniert, bis aus dem ›-plan‹ am Ende der »Schaffensplan« geworden sein wird. Die Genese vollzieht sich dabei ebenso mittels wie abseits einer Gattungstriade, die in der Tat auf ein großes ›Haupt‹, nämlich auf Johann Wolfgang von Goethe zurückgeht, der eben diese drei »Naturformen« als überzeitlich und invariant gegenüber den »Dichtarten« als historischen Variablen konzipiert hatte, und zwar in der Einleitung zu seinem West-östlichen Divan. Goethe legt normativ fest, dass es »nur drei echte Naturformen der Poesie« gibt. Zwar werden unter dem Titel »Dichtarten« die folgenden »Rubriken« verzeichnet: »Allegorie, Ballade, Cantate, Drama, Elegie, Epigramm, Epistel, Epopöe, Erzählung, Fabel, Heroide, Idylle, Lehrgedicht, Ode, Parodie, Roman, Romanze, Satyre.« Und: Zu Vergnügen und Genuß möchte jede wohl für sich bestehen und wirken; wenn man aber, zu didaktischen und historischen Zwecken, einer rationelleren Ordnung bedürfte, so ist es wohl der Mühe wert, sich nach einer solchen umzusehen. Wir bringen daher Folgendes der Prüfung dar. 17 | Vgl. Brief vom 8./9. Juni 1904 an den Insel Verlag, in: Br, S. 29. 18 | Brief vom 17. Mai 1927 an Otto Pick (Prager Presse), in: Br, S. 296.
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M IKROPOETIK Naturformen der Dichtung Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, […].19
Die »drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken«. Und bei Robert Walser werden sie in der Tat zusammen wirken. Der Übergang von ungekannter Schaffenskraft zu einem ungeahnten Schaffensplan vollzieht sich dabei nicht im Rahmen einer spekulativen Poetik, sondern in einer halb-ironischen Kontrafaktur zu Goethes Gattungstriade, aus der Robert Walser, genau einen Tag nach jenem Brief an Therese Breitbach, der deren ›plötzliche‹ Bleistiftschrift bemerkt hatte, und bald nach dem Brief an Otto Pick vom 17. Mai 1927, nun eine Buchstabenrochade entspringen lassen wird. Das Gattungsgesetz Goethes, auf das Wochen zuvor im Brief an Otto Pick angespielt war, wirkt nun im Sinne der Genese eines neuerlichen Briefes weiter und bringt darin in der Tat »im engsten Raume« ein Gebilde hervor. ›Naturwüchsig‹ wie die gattungstheoretischen ›Naturformen‹ Goethes – wie ein ›Schreiben der Sprache‹ selbst – wird sich ein Gattungs›konzept‹, und zwar in Robert Walsers Brief an Max Rychner vom 31. Mai 1927 ausformen. Und das in Gestalt eines »kleinsten Gedicht[s]«, eines Wortes, eines Buchstabens nur, der sich in diesem wiederum nicht zufällig an den Goethe-Kenner Rychner adressierten Brief in den Satz gedrängt hat: Indem Sie mich Ihrerseits aufforderten, Ihnen etwas Neues anzubieten, unterbreite ich Ihnen einige Briefe, von denen ich übrigens gar keine sehr große Meinung habe, und die ich Sie bitten möchte, kühlabwägend zu prüfen. Mir entsteht ja immer irgend etwas, sei es Prosa oder etwas Versisches, das ja in seinem Element stets etwas Persisches ist. Seit ich das letzte Mal die Ehre hatte, in Ihrem geschätzten Blatt mit einem Beitrag vertreten zu sein, sind zirka 150 Prosastücke von mir durch’s lesende, nasenrümpfende Ausland geflogen. 20
Die »Briefe«, die vielmehr Textbeiträge sind, die in ihrer Qualität vom Autor hier marginalisiert werden, führen auf dessen Bemerkung hin: »Mir entsteht ja immer irgend etwas, sei es Prosa oder etwas Versisches, das ja in seinem Element stets etwas Persisches ist.« Goethe hatte als »klar erzählende« die epische Form angesehen, die »enthusiastisch aufgeregte« dagegen der Lyrik zugeordnet. Die Binarität von Prosa und Lyrik aber entsteht, so macht es die Wortkontamination Robert Walsers deutlich, indem das, was relational und darin weder dem einen noch dem anderen exakt zuzuordnen ist, buchstäblich übersehen worden ist: Das »Versische[ ]«, als die vom ›Persischen‹, vom poetischen, vom blumigen Stil der orienta19 | Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan, S. 190f. 20 | Brief vom 31. Mai 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 298.
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lischen Lyrik inspirierte Wortkontamination, bei der große Übereinstimmung des Buchstabenmaterials herrscht, geht dem, wovon es affiziert ist, im Satz voran; doch auch nach der anderen Seite hin ist »Versisches«, das affiziert ist von der Prosa, das heißt vom Buchstaben ›P‹, »in seinem Element«, dem Buchstaben, stets »etwas Persisches«, weil es mit der Prosa den initialen Buchstaben teilt. Ein Wort ergibt das andere, zeigt sich dabei aber eben nicht nur vom nächsten, sondern auch vom vorangegangenen, nachbarschaftlichen Wort inspiriert. Und die Homophonie oder besser die Homographie wird in Texten Robert Walsers, wie an vielen Stellen deutlich werden konnte, ja oft zum Anlass, eine semantische Beziehung anzubahnen, insbesondere um Gegensätze mittels des Buchstabenmaterials nivellieren und Antonyme in Reimpaaren pazifieren zu können. Hier aber handelt es sich auch um eine Anverwandlung an das mnemotechnische Spezifikum der persischen Lyrik, in der am Ende jedes zweiten Verses ein und dasselbe Suffix wiederholt wird, um so die Memorabilität, die Merkbarkeit des Poems zu erhöhen.21 Die Pointe des Ganzen liegt also ironischerweise darin, dass der Brieftext sich über das ›Fremde‹ hier gut informiert zeigt. Umgekehrt ist aber das, was hierin, wie in der okzidentalen Schrift überhaupt, zur Anwendung kommt, das griechische Verfahren des Alphabetisierens. Und es ist das lateinische Alphabet, von dem sich das Wort »Persisches« generiert zeigt. ›In seinem Element zu sein‹, bedeutet schließlich auch heimisch, angehörig, am richtigen Platz zu sein. Das »Element« aber hat, beginnend mit der frühesten Verwendung bei Aristophanes, auch eine lange sprachphilosophische Tradition, es entstammt – wie jeder Text – »den zahllosen Zentren der Kultur«, wie Roland Barthes schreibt.22 Das Element hat in dieser langen Herkunftslinie dabei unterschiedliche Bedeutungen angenommen, es ist je nach Ableitung ›das begangene, das in Füßen abgemessene, abgegangene Stück‹, ›die Wegstrecke‹, ›das Stück oder Glied in einer Reihe‹ und weist auf den Zusammen21 | Wolfram Groddeck erwähnt in Reden über Rhetorik, S. 165, Goethes Bezug auf das Ghasel im West-östlichen Divan und erläutert: »Das Ghasel ist eine orientalische Gedichtform, der Name bedeutet ›Gespinst‹ und ist abgeleitet vom arabischen ›gazal‹, was soviel wie ›verliebte Reden‹ bedeutet. Ein Ghasel baut sich aus gehäuften Zweizeilern auf, wobei der jeweils zweite Vers immer in den gleichen, oft identischen oder wenigstens gleitenden, also mehrsilbigen Reim mündet.« 22 | »Der Text ist ein Gewebe aus Zitaten aus den zahllosen Zentren der Kultur.« Das bedeutet für Roland Barthes: Der Text ist »ein vieldimensionaler Raum, in dem eine ganze Reihe von Schreibweisen (écritures), von denen keine ursprünglich ist, sich überschneiden und aufeinandertreffen«. Aber »es gibt einen Ort, an dem diese Vielheit in einem Fokus sich bündelt, und dieser Ort ist der Leser und nicht, wie man bisher sagte, der Autor. Der Leser ist der Raum, in den alle Zitate, die eine Schrift bilden, eingeschrieben sind … Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Bestimmungsort.« Roland Barthes: Image, Music, Text, New York 1977, S. 146 und S. 148; zit.n. Jonathan Culler: Dekonstruktion, S. 35.
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hang der Metrik. Es hat auch, worauf der Altphilologe Franz Dornseiff in seiner 1914 fertiggestellten und 1922 erstmals vollständig erschienenen Abhandlung über Das Alphabet in Mystik und Magie hinweist (aus dem Jahre 1916 datierte bereits Franz Dornseiffs Dissertation zur Buchstabenmystik), von Anfang an astronomische Konnotationen. Das Element steht mit den Himmelsabschnitten in Verbindung; und dieses Prinzip des Segments hat sich dann wiederum auf der Grammatik abgebildet, wo die Elemente die ›Teile, Bestandteile‹ der Schrift, die Buchstaben sind. Xenophon bestimmt die Elemente zur selben Zeit wie Platon als ›letzte grundlegende Einheit‹; doch dem Umstand, dass das Element sich auch der Architektur verbindet, dem Maßnehmen im Abschreiten eines Gebäudes, dem mit Häusern und Orten verbundenen Horizont, entstammt offenbar die Bedeutung, die das Wort im Neugriechischen auch hat: ›Geist‹, ›Gespenst‹. Und Dornseiff nennt für den Bedeutungshorizont des Elements noch ein anderes Synonym: das ›Mal‹ oder »spezieller, intensiver« und zugleich »begrenzter«, wie er schreibt, das Zeichen.23 Das Element ist nicht nur kleinste Schrifteinheit, sondern mikrokosmische Spiegelung eines Makrokosmos, bei der Analogisierung möglicherweise und bemerkenswerterweise nur daher rührte, dass der ›Buchstabe‹ und das ›Gestirn‹ einst durch dasselbe Wort bezeichnet worden waren – was erst dazu veranlasst hatte, nach Entsprechungen zwischen beidem zu suchen. Die Elemente sind die kleinsten Teile, durch deren Zusammenfügung oder Trennung Werden und Vergehen der Welt bedingt sind, und in diesem Denkbild ist immer wieder auch die Frage gestellt worden, was zuerst da war. In das Epische in Robert Walsers Brieftext, in die Beerbung des griechischen Epos ist etwas anderes, ›Fremdes‹ eingetragen, das aber gerade die eigene Geschichte erinnert: Das Element, der persische Elementenkult hat in die griechische Welt Eingang gefunden – wie das Persische in Robert Walsers Wort »Versisches«. Das Element eröffnet einen weitläufigen kulturgeschichtlichen Kontext. Seit dem 17. Jahrhundert setzt sich in der abendländischen Naturphilosophie dabei immer stärker die Auffassung durch, dass die Elemente nicht ineinander umwandelbar seien; das genau aber konterkariert Robert Walsers »Versisches«. Das Persische darin beschwichtigt die Antagonismen, ist pazifierend. Als Sprache vermeidet es, so hatte Franz Blei im Vorwort zu seiner Anthologie Der persische Dekameron geschrieben, »Gegensätzliches aufzurufen, […] es ist ganz lyrisch und bar jeden dramatischen Interesses«.24 Und auch andernorts setzt sich der Diskurs über die Elemente in der Moderne wieder fort. So heißt es etwa bei Ernst Mach: »Es gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und Draußen, keine Empfindung, der ein äußeres von ihr verschiedenes Ding entspräche. Es gibt nur
23 | Vgl. Franz Dornseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie, S. 14ff. 24 | Franz Blei: Der persische Dekameron, S. 27.
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einerlei Elemente […].«25 Psychisches und Physisches werden hier ununterscheidbar, weil sie aus denselben »Elementen« bestehen.26 Im Rahmen von Robert Walsers Syntagma im Brief an Rychner vom 31. Mai 1927 lässt sich das »Versische[ ]« als Struktur der Latenz, als Anagrammatik beschreiben. Gleichermaßen ließe sich aber auch sagen, dass das »Versische[ ]« sich als Ideogramm ausbildet, welches das ›Persische‹ und den ›Vers‹ zu einem neuen Kompositzeichen verschmelzen lässt. Auch poetologisch ließe sich dies auf Goethe beziehen, dessen West-östlicher Divan 1925 im S. Fischer Verlag von Oskar Loerke neu herausgegeben und mit einem Essay kommentiert worden war. Loerke weist in diesem Essay auf eine quasi-onomatopoetische Hybridisierung der Sprache in Goethes Werk hin: »Was drängt sich dann alles nebeneinander! […] wir finden ein dem Englischen des Shakespeare nachgebildetes Wort ›bewhelmen‹, das etwa ›überwölbend bedecken‹ ausdrückt, oder ein anderes anglisierend nachmalendes Wort ›Kriegesthunder‹. Wir sehen Goethe in ältere Zeiten, in entlegene Landschaften der Sprache zurückschweifen.«27 Goethes West-östlicher Divan spiegelt, so Loerke, die Form seiner Persönlichkeit und zugleich die Form einer dreitausendjährigen Welt. Während er spricht, sprechen alte Kulturen mit ihm, wie sie ihn gebildet, sich in ihm gemischt und geklärt haben. Natürlich ist hier das Gegenteil eines Vermittelns von Kulturinhalten gemeint: sonst würde ja nach ihrem Maße das durchaus Selbständige und Einmalige der Persönlichkeit verdrängt und aufgehoben sein. Auch sprachlich genommen, ist ein Griechenland, ein Morgenland, ein Welschland und ein Deutschland, das es nicht gab und gibt, durch Goethe dennoch da. Zu Sulpiz Boisserée [einem Freund auch von Friedrich Schlegel; Anm. d. Verf., KS] äußerte er am 3. August 1815: »Alles ist Metamorphose im Leben, bei den Pflanzen und bei den Tieren, bis zum Menschen, und bei diesem auch.« Ein anderes Mal bekennt er, 25 | Ernst Mach: »Antimetaphysische Bemerkungen« [1885], gekürzt aus Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1903, S. 1-30; zit.n. Gotthard Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1990, S. 137-145, S. 141. 26 | Die Einheit der Erscheinung ist nach Ernst Mach fiktiv: Gegenstände sind wie das Ich unfest, ihr scheinbar kontinuierliches Vorhandensein nur aus der Langsamkeit ihrer unmerklichen Veränderung heraus zu verstehen. Erst die Kette von Wahrnehmungen jeweils nur leicht variierter Zuständlichkeiten suggeriert Materie- oder Subjektkonsistenz. (Vgl. Christoph Asendorf: Ströme und Strahlen, S. 11.) »Und wenn ich mich heute meiner früheren Kindheit erinnerte«, schreibt Ernst Mach selbst, »so müßte ich den Knaben (einzelne wenige Punkte abgerechnet) für einen andern halten, wenn nicht die Kette der Erinnerungen vorläge. […] Das Ich ist so wenig absolut beständig als der Körper. Was wir am Tode so sehr fürchten, die Vernichtung der Beständigkeit, das tritt im Leben schon in reichlichem Maße ein.« Ernst Mach: »Antimetaphysische Bemerkungen«; zit.n. Gotthard Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne, S. 138. 27 | Oskar Loerke: »Der Goethe des ›West-östlichen Divans‹« [1925], in: Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan, hg. und erläutert von Hans-J. Weitz, Frankfurt a.M. 1977, S. 364-378, S. 375.
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M IKROPOETIK aus den Formeln, die seit Jahrtausenden das Tiefste in den Menschengeschlechtern sind und Zauberkraft über Kulturen und Einzelne ausgeübt haben, könne man eine Art Alphabet des Weltgeistes zusammensetzen. Mit diesem Alphabet schreibt er. Seine Buchstaben sind das, was die Metamorphose bewirkt. 28
Goethe streift dabei, so Loerke, nicht nur »die abstrahierende Selbstvergeßlichkeit der Sprache ab«,29 sondern es »entsteht im Divan aus den beiden urtümlich angeschauten Hälften Abendland und Morgenland die Welt. Das scheinbare Verhüllen mit Bild und Figur [das Goethe im Divan auch in einem autobiographisch relevanten und entzifferbaren Sinne betreibt; Anm. d. Verf., KS] ist in Wirklichkeit ein Demaskieren. Nur ist es nicht verstattet, die aus gewaltiger Natur aufgestiegene Einheit zu zersplittern, um sie sich zu eigen zu gewinnen. Der Divan ist nur als ›west-östlicher‹ Divan existent, oder er bleibt unsichtbar. Er lebt sein stolzes Wort vor: ›wer nicht von dreitausend Jahren,/Sich weiß Rechenschaft zu geben,/Bleib’ im Dunkeln unerfahren,/Mag von Tag zu Tage leben.‹«30 In den »Noten und Abhandlungen zum besseren Verständnis des West-östlichen Divans« bemerkt Goethe zu den Ur-Elementen orientalischer Poesie selbst auch: Schreitet man nun so fort und beachtet alles übrige Sichtbare [neben den von Goethe als Urtropen benannten allerersten Lebensbezügen der Araber in Gestalt von Kamel und Pferd; Anm. d. Verf., KS]: Berg und Wüste, Felsen und Ebene, Bäume, Kräuter, Blumen, Fluß und Meer und das vielgestirnte Firmament, so findet man, daß dem Orientalen bei allem alles einfällt, so daß er, übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung Widersprechendes aus einander herzuleiten kein Bedenken trägt. Hier sieht man, daß die Sprache schon an und für sich produktiv ist, und zwar, insofern sie dem Gedanken entgegen kommt, rednerisch, insofern sie der Einbildungskraft zusagt, poetisch.31
Die Einbildungskraft findet sich in Goethes Werk dabei auch in einer Textpartie mit dem Titel »Blumen- und Zeichenwechsel«.32 Im Diskurs zweier Liebender vollzieht sich hier der Austausch von Dingen und Worten in einem Sprachspiel, das Gaben und Worte in einem einzigen Zeichensystem vereint. Der Liebende übersendet einen Gegenstand, woraufhin die Geliebte das den Gegenstand bezeichnende Wort aussprechen und auf diese Weise herausfinden soll, was sich auf das Wort, das den empfangenen Gegenstand bezeichnet, reimt, um in diesem Reimwort dann auch die übermittelte Botschaft erraten zu können.33 28 | Ebd., S. 376 (Hervorh. d. Verf., KS). 29 | Ebd., S. 375. 30 | Ebd., S. 366f. 31 | Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan, S. 182. 32 | Ebd., S. 193-196. 33 | Vgl. Anke Bosse: »Magische Präsenz – zur Funktion von Schrift und Ornament in Goethes West-östlichem Divan«, in: Arcadia, Bd. 33, Heft Nr. 2 (1998), S. 314-336.
XII. W EST - ÖSTLICHE E LEMENTE Hierbei ist nun zu bemerken: wenn ein Liebendes dem Geliebten irgendeinen Gegenstand zusendet, so muß der Empfangende sich das Wort aussprechen, und suchen, was sich darauf reimt, sodann aber ausspähen, welcher unter vielen möglichen Reimen für den gegenwärtigen Zustand passen möchte? Daß hiebei eine leidenschaftliche Divination obwalten müsse, fällt sogleich in die Augen. Ein Beispiel kann die Sache deutlich machen, und so sei folgender kleine Roman in einer solchen Korrespondenz durchgeführt. 34
Der »kleine Roman«, von dem Goethe spricht, zieht sich im Druck nun über anderthalb Seiten hin; einige der nicht eben leicht zu entziffernden »Korrespondenz[en]« seien hier angeführt: »Feder vom Raben – Ich muß dich haben; Blei – Ich bin dabei; Seide – Ich leide; Feigen – Kannst du schweigen?; Papier – So bin ich dir.« Am Ende der Synopsis gibt Goethe eine Einschränkung zu bedenken: »Vorstehende seltsame Mitteilungsart wird sehr bald unter lebhaften, einander gewogenen Personen auszuüben sein. Sobald der Geist eine solche Richtung nimmt, tut er Wunder.«35 Der »Blumen- und Zeichenwechsel«, diese Ligaturen des Sinns stellen sich in der Gabe von Gegenstand und Wort immer erst her, und zwar nur unter einander gewogenen Menschen. Es gibt keine Garantie für das Gelingen. Und nicht der Gegenstand ist es, worauf die Adressatin sich buchstäblich einen Reim machen muss. Es geht um das Wort, das den Gegenstand bezeichnet. Und dabei scheinen die sprichwörtlich ›blumigen‹ Worte des ›orientalischen‹ Stils den Austausch zu erleichtern. Der Reim aber ermöglicht erst die Entschlüsselung eines Codes, der durch den Klang encodiert ist, aber erst von der ›Lektüre‹ generiert wird. Der Code im »Blumen- und Zeichenwechsel«, der immer gefährdet ist, kann nur entstehen, weil es die Gabe in Gestalt des überreichten Gegenstands gibt. Der gesprochene Satz, der den Code entschlüsselt, gilt, und das ist das Prekäre, nur ein einziges Mal etwas, er kann allein an eben dem Ort und in der Adressierung, nur in dem Rahmen bezeichnend bleiben und verstanden werden, in dem er gesprochen wird. In vergleichbarer Weise enthebt Robert Walser das Wortzeichen »Versisches« durch eine ureigene Motivation aus der Textumgebung und durch den ins Wort eingeschmuggelten Gegensinn in der Mikrogrammatik seines Briefes einer Arbitrarität des Zeichens im Sinne fest verabredeter, unwandelbarer Wortbedeutungen. Auch das »Versische[ ]«, das als deutsches Lexem nicht existiert, hat nur einen Ort, an dem es sich generiert zeigt, und an dem es sich im Lesen erschließen kann – den Brief an Max Rychner vom 31. Mai 1927.
34 | Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan, S. 194. 35 | Ebd., S. 196.
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XII.1 »V ERSISCHES « Der Neologismus »Versisches«, den Robert Walser im Brief an Max Rychner vom 31. Mai 1927 bildet, hat dabei auch eine graphische Referenz. Die Wortschöpfung weist auf das (arabische) Kalligramm als doppelt codierte Schrift, auf Interferenzen, Überlagerungen von Linien und allusiven Bedeutungen in arabesken Schriftzeichen, auf eine fremde Schrift – und auf den Ursprung aller Alphabete, der auch dann noch immer in der semitischen Schrift liegt, wenn die Gestalt der Buchstaben nicht mehr an diese erinnert.36 Im »Bleistiftgebiet«, das ja wenig später in der Korrespondenz mit Rychner Erwähnung finden wird und das sich exterritorial und mediatisierend gegenüber den »Weltkriegsgeister[n]«37 situiert, erschließt sich die rezente Krisis so auch als Umkehr, in Reminiszenzen an Verdrängtes und Verbanntes. In der durch den Parallelismus gebahnten Ähnlichkeit des »Versische[n]« mit dem »Persischen« wird etwas gleichsam verreimt; die Differenz von Orient und Okzident erscheint in diesem Kontiguum in jedem Sinn als Schreibweise. Die persische Sprache wird (obwohl sie sprachgeschichtlich andere Wurzeln hat) in arabischer Schrift geschrieben. In der arabischen Kalligraphie aber ist der Wortlaut – zumeist eine Sure aus dem Koran – nicht notwendig lesbar, da der Text meist auswendig gelernt und demnach bereits bekannt ist. Das Lesen und Erkennen ist so in gewisser Weise paradox, denn man liest, was man bereits kennt: Aber vielleicht ist das das Prinzip aller derartigen Lektüre. So daß ihre Bedeutung einer optischen Täuschung gleichkommt, wie sie aus einem im Sonnenlicht glitzernden Kristall entstehen kann. Ein solches Kalligramm gleicht einem Spiel aus Licht und Schatten, das je nach Drehung seine Effekte ändert und so die Sprache aller Schwere enthebt und den in ihr ruhenden Sinn in ein vibrierendes Licht rückt. Es berührt uns wie ein Echo aus der Ferne, das sich an niemanden wendet und doch für alle vernehmbar ist. 38
Kalligraphie bedeutet in der islamischen Kunst dabei auch, immer wieder neu zu gestalten, was bereits vorhanden ist. Der Künstler »erstellt ein geheimes Abbild der Seele in der Weise, in der er die Leere umhüllt und sie mit aus Sinnsprüchen bestehenden Zeichnungen füllt: absolute Kalligramme, symbolische Monogramme, Geometrie als göttliche Parabel«.39 Und zwar besitzt die islamische Kalligraphie »die plastische Autonomie einer extrem abstrakten Kunst, aus der man eine Geometrie oder sogar eine mathematische Formel des Zeichens ableiten kann. Der Punkt beispiels36 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 91. 37 | Brief vom 30. Mai 1927 an Therese Breitbach, in: Br, S. 297. 38 | Abdelkebir Khatibi/Mohamed Sijelmassi: Die Kunst der islamischen Kalligrafie, Köln 1995, S. 91. 39 | Ebd., S. 169.
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weise (.) bezeichnete ursprünglich eine Null«, in der islamischen Kalligraphie dient er als diakritischer Punkt der Unterscheidung von Buchstaben, welche die gleiche Form haben,40 doch dem Auge erschließt sich vor allem das Schriftbild, das die Umrisse einer Frucht oder eines Tieres annehmen kann.41 Die arabische Kalligraphie ist »belebt von der Differenz zwischen der Bedeutung eines Satzes und seiner Umsetzung in ein Kunstwerk, zwischen dem Hellen und dem Finsteren, dem Lesbaren und dem Unerhörten, den Spuren des Blickes und der Stimme«, sie gibt dem Text einen plastischen Hintergrund in Form des bildhaften Buchstabens.42 Und es ist »ein gängiger Irrtum anzunehmen, das entscheidende Merkmal arabischer Schriftkunst läge in ihrer strengen Abstraktion – im Gegensatz zur darstellenden, figurativen Kunst der westlichen Welt. Einmal verbietet der Koran nicht ausdrücklich die Wiedergabe der menschlichen Gestalt, kein einziger Vers befaßt sich damit. […] Überdies gibt es in der islamischen Kunst zahlreiche Beispiele figurativer Skulptur und der Darstellung von Menschen. […] Auch gibt es eine Anzahl berühmter Manuskripte (Erzählungen, medizinische Abhandlungen und so fort), die mit figurativen Miniaturen versehen sind.«43 Doch kommt die Figur, der Körper noch anders ins Spiel. Roland Barthes schreibt: »Die arabischen Gelehrten scheinen, wenn sie vom Text sprechen, den wunderbaren Ausdruck der gewisse Körper zu gebrauchen.«44 Und im arabischen Kalligramm ist die Schrift, so Barthes, nicht ›Transkription‹ der artikulierten Sprache und »Kette, in deren Verlauf der Körper verschwindet«, sondern Restitution der Geste, »die dem Ideogramm wie eine Art verflüchtigte gegenständliche Spur zugrundeliegt«, Restitution der Geste des Kalligraphen, »der den Pinsel in Entsprechung zu seinem Körper bewegt«.45 Auch in Robert Walsers Verständnis sind Gedichte »GedichtKörper«, wie in einem seiner Briefe, ebenfalls an Max Rychner adressiert, bereits 1926 zu lesen sein wird: Das schöne Gedicht hat meiner Ansicht nach ein schöner Leib zu sein, der aus den gemessenen, vergesslich, fast ideenlos auf’s Papier gesetzten Worten hervorzublühen habe. Die Worte bilden die Haut, die sich straff um den Inhalt, d.h. den Körper spannt. Die Kunst besteht darin, nicht Worte zu sagen sondern einen GedichtKörper zu formen, d.h. dafür zu sorgen, dass die Worte nur das Mittel bilden zur Gedichtkörperbildung, […]. 46 40 | Ebd., S. 7. 41 | Vgl. Jean G. Lapacherie: »Der Text als ein Gefüge aus Schrift«, S. 79. 42 | Vgl. Abdelkebir Khatibi/Mohamed Sijelmassi: Die Kunst der islamischen Kalligrafie, S. 6. 43 | Ebd., S. 128. 44 | Roland Barthes: Die Lust am Text, S. 25 (Hervorh. v. RB). 45 | Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M. 1990, S. 162. 46 | Brief vom 18. März 1926 an Max Rychner, in: Br, S. 266.
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Worte bilden auch die Haut für das leere, schutzlose Blatt, das heißt sie bilden eine »haltende, passiv sensible Oberfläche«, sie bilden jenen Mantel, der dem Menschen bereits vor der Geburt »eine reiche, vielgestaltige, wenn zunächst auch noch undifferenzierte Welt eröffnet«.47 Die Haut hat die Funktion, die Fülle der Empfindungen zu enthalten und festzuhalten.48 In Robert Walsers Brief bilden Worte die Haut; die Rede von der Körperlichkeit des Gedichts betont die Geltung der Schrift als »Gedichtkörperbildung«. Und fast lässt sich sagen, dass der Brief diese Geltung anti-platonisch betont, in den »ideenlos auf’s Papier gesetzten Worten«. Im Mai 1926, kurz nachdem im März desselben Jahres der »Gedicht-Körper« Erwähnung gefunden hatte, wird der Autor einen Text an die Prager Presse versenden, der den Titel Cézannegedanken trägt, und hier wird es, wie weiter oben bereits zitiert, heißen: »Wollte man, so ließe sich ein Mangel an Körperlichkeit konstatieren; es handelt sich aber um eine Umfassung, […].«49 In den Mikrogrammen Robert Walsers bildet die Lyrik eine Art »Umfassung« für die Prosa. Werner Morlang spricht von der Lyrik so auch als »der mikrographischen Gattung par excellence«.50 Die Gedichte auf den Mikrogrammblättern haben sich allerdings »in jene Lücken und Nischen hineinzuschmiegen«, welche nach der Niederschrift von Prosatexten und miniaturisierten Szenen noch freigelassen sind; und einen Eindruck hiervon schildert Morlang folgendermaßen: Gegenüber den sich über die halbe oder ganze Blattbreite ausladenden Textflächen kommt den Gedichten ästhetisch oft eine ornamentale Funktion zu. An den Rändern und Ecken oder in der Blattmitte behaupten sie gleichsam ihre Daseinsberechtigung gegen das feine, dichtgewobene Buchstabengespinst ihrer Umgebung, die sie von allen Seiten einfasst. Auffällig oft finden sich Gedichte in der linken oberen Ecke, sei es als schmückende Präambel zu den nachfolgenden Texten, vielleicht aber auch als zaghafter Auftakt, der die Angst vor dem leeren Blatt beschwichtigen sollte. Entsprechend häufig münden die Blätter in einen lyrischen Abschluß, wobei in solchen Fällen die längeren Gedichte kolumnenweise von links nach rechts zu wandern pflegen und zweimal sogar ein Gedicht quer in die Vertikale hineingeschrieben wurde. 51
Die Gedichte sind wie Ornamente. Morlangs Formulierung impliziert, dass sich die Gedichte dem Geschehen auf der Szene des Blattes wie Kör47 | Didier Anzieu: Das Haut-Ich, S. 24f. 48 | Vgl. ebd., S. 60. Didier Anzieu schreibt am Ende seiner psychoanalytischen Studie zum Haut-Ich: »Die gesprochenen und mehr noch die geschriebenen Worte erfüllen die Funktion einer Haut. Meine Patienten haben mich davon überzeugt, und die Beschäftigung mit einigen großen literarischen Werken hat es mir bestätigt.« Ebd. S. 297. 49 | SW 18/252. 50 | Werner Morlang: »Melusines Hinterlassenschaft«, S. 98. 51 | Werner Morlang: »Eine Art Tagebuch«, S. 58.
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per anpassen. Wie aber ist die mutmaßliche Aufeinanderfolge in der Genese zu verstehen? Wenn sich die Gedichte nachträglich hineingeschoben haben, können sie nicht den »Auftakt« gebildet haben. Und wie behaupten sie ihre »Daseinsberechtigung« gegenüber einem Buchstabengespinst aus Prosa und Drama, da sie sich als ebensolches Gespinst in nichts von den anderen Texten unterscheiden? Wie ist der Eindruck der »Selbstbehauptung« zu verstehen? Auffällig oft finden sich die Gedichte in der linken oberen Ecke, an eben jener Stelle, an der in den frühen, noch überaus säuberlich geschriebenen und leserlichen Manuskripten Robert Walsers der Name des Autors fand.52 An die Stelle der Signatur hat sich nun der »Gedicht-Körper« gesetzt. Aber die Gedichte ersetzen nicht nur die Signatur, sondern sie ersetzen noch etwas anderes, das nun fehlt. Als »Buchstabengespinst« sind die Gedichte auch Transposition des sonst in den Robert Walser-Editionen gebräuchlichen Buchschmucks. Die Graphik des Bruders Karl Walser, die den Einband, die illustrativen Zeichnungen, die gesamte Gestaltung eines Buches betroffen hatte, ist das geheime Wasserzeichen der mikrographischen Lyrik. In den Mikrogrammen bilden die Gedichte, als »Auftakt« des jeweiligen Blattes, von dem Morlang gesprochen hat, nun selbst die Initialen und Initialien des Textes, sie bilden, zwischen andere Textkolumnen auf demselben Blatt gesetzt, die illustrativen Beigaben des Textes – in Form ›zeichnerischer‹ Vignetten. Darin überlagern sich Schrift und Bild, nicht jedoch sichtbar, wie im Kalligramm. Das Kalligramm nähert Text und Zeichnung, nähert Schrift und Bild einander an, es verbindet Linien, welche die Form eines Gegenstandes begrenzen, mit Linien, die eine Abfolge von Buchstaben bilden. Das Kalligramm stellt einen Ort dar, an dem sich Schriften begegnen. Es alphabetisiert das Ideogramm, und es verteilt so, wie Foucault schreibt, umgekehrt »die Schrift in einem Raum, der nicht mehr die weiße Indifferenz und träge Offenheit des Papieres hat; es gliedert sie nach den Gesetzen einer räumlichen Form. Es macht die Laute für den Augenblick zu einem dumpfen Raunen […]«, zu einem Geflüster.53 In Foucaults Verständnis überspielt das Kalligramm den Antagonismus von Zeigen und 52 | Vgl. Bernhard Echte: »Die Datierung des Mundartstücks Der Teich. Zu Robert Walsers schriftstellerischen Anfängen«, in: »Immer dicht vor dem Sturze …«. Zum Werk Robert Walsers, hg. v. Paolo Chiarini und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt a.M. 1987, S. 297-320, S. 317, Anm. 16. 53 | Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife, S. 13. Die »träge Offenheit«, mit der Foucault hier das Papier anthropomorphisiert oder besser feminisiert – wie schon Freud dies getan hatte, vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. XI, S. 158 –, verdankt sich dabei der »applikativen Zugänglichkeit« des Papiers. Vgl. Konrad Ehlich: »Schrift, Schriftträger, Schriftform: Materialität und semiotische Struktur«, in: Materialität und Medialität von Schrift, hg. v. Erika Greber, Konrad Ehlich und Jan-Dirk Müller, Bielefeld 2002, S. 91-111, S. 96.
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Nennen, Abbilden und Sagen, Reproduzieren und Artikulieren, Nachahmen und Bezeichnen, Schauen und Lesen. Es stellt den Dingen die »Falle eines zweifachen Zeichensystems«. Um Antonyme allerdings in diese »Falle« hineingehen zu lassen, bedarf es gerade nicht der eingehenden Lektüre des Textes: Damit ein Text zu einer Zeichnung wird und alle seine aneinandergereihten Zeichen eine Taube bilden oder eine Blume oder einen Platzregen, muß sich der Blick über jede Entzifferung erheben, müssen die Buchstaben Punkte bleiben, die Sätze Linien, die Abschnitte Flächen oder Massen – Flügel, Stengel, Blütenblätter.54
Wo das Lesen sich auf das Entziffern zu verengen begonnen hat, löst sich die Form auf. Wo das Wort erkannt, der Satz verstanden ist, bleibt nur die lineare Abfolge von Sinn übrig, bilden die Schriftzeichen keine »Flügel, Stengel, Blütenblätter« mehr, ist die Schrift nicht mehr Gestöber oder Platzregen. Das Kalligramm ist zwar ›sprechend‹ und repräsentierend zugleich, niemals aber im selben Augenblick. Die Entzifferung ist nicht hintergehbar; das entzifferte Wort kann, vom Augenblick seiner Entzifferung an, nicht mehr verrätselt sein. Aber es gilt, dass »eine Sache, die gesehen und gelesen werden kann, […] beim Sehen verschwiegen und beim Lesen verschleiert« wird.55 Das Kalligramm stellt eine Kontiguität her: zwischen der bildlichen Darstellung, die Ähnlichkeit mimetisch herzustellen sucht, und der sprachlichen Referenz, in der nach Saussures Grundsatz von der Arbitrarität des Zeichens eine Ähnlichkeit, bis auf wenige zugestandene Reste in Form der Onomatopoetika, ausgeschlossen ist.56 Jede graphische Form aber kann diesen doppelten Wert haben: ideographisch und phonetisch zu sein.57 Die Schrift besteht aus Buchstaben, schön und gut. Aber woraus bestehen die Buchstaben? Man kann nach einer historischen Antwort suchen – die bezüglich unseres Alphabets unbekannt ist; aber man kann die Frage auch benutzen, um das Problem des Ursprungs zu verlagern, um eine fortschreitende Konzeptualisierung des Dazwischen herbeizuführen, der fluktuierenden Beziehung, deren Verankerung wir immer auf irreführende Weise festlegen. Im Orient, in dieser ideographischen Kultur, ist die Linie das, was zwischen Schrift und Malerei liegt, ohne daß sich das eine auf das andere beziehen ließe; dadurch kann jenes ruchlose Gesetz der Aufeinanderfolge durchkreuzt werden, das unser väterliches, sittliches, geistiges und wissenschaftliches Gesetz ist: ein absonderndes Gesetz, kraft dessen wir die Graphiker der einen Seite zuschieben und die Maler der anderen, der einen Seite die Romanciers und der anderen die Lyriker; aber die Schrift ist unteil-
54 | Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife, S. 16. 55 | Ebd., S. 17 (Hervorh. d. Verf., KS). 56 | Vgl. ebd., S. 25. 57 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 161.
XII. W EST - ÖSTLICHE E LEMENTE bar: Das Diskontinuierliche, auf dem sie überall beruht, macht aus allem, was wir schrei ben, malen und zeichnen, einen einzigen Text. 58
Die Linie ist das, was zwischen Schrift und Malerei liegt, sie verbindet beides so, dass es zu einer labilen Differenz kommt, zu einem Vexierbild; dadurch werden die Sukzession der Erzählung und die Simultaneität der Graphik gleichermaßen durchkreuzt. Narration gerät zum gleichschwebenden Bild, die Linien eines Bildes aber beginnen zu vibrieren, sie scheinen nicht länger unbewegt. Und so schreibt Robert Walser an Otto Pick im Oktober 1927 auch: […] und siehe, Herr Pick, auch ich beschwöre Gespenster, wie z.B. diesen erschreckenden Zauberer Van Gogh, über den ich ein Gedicht schrieb, worin ich die abstoßende und zugleich imponierende, die prachtvolle und zugleich schmerzliche Art des Mannes zu charakterisieren versuchte. Hier in Bern gibt es nämlich zur Zeit eine Ausstellung, die sich auf diesen gewaltigen Malernamen bezieht. Jeweilen, d.h. von Zeit zu Zeit werfe ich zerrissene Manuscripte in den Papierkorb, im Instinkt, daß es hübsch, fein, propper, nobel sei, stets irgend was aufzuopfern, und damit das Schaffen mäßig bleibe. 59
Die fast schon biblische Diktion – »und siehe« – beschwört das ›Gespenst‹ mit Namen Vincent van Gogh, das unmittelbar die Bemerkung zu den eigenen Manuskripten und deren Vernichtung aktiviert. Der »gewaltige[ ] Malername[ ]« führt auf ein gewalttätiges Verfahren hin, auf die Vernichtung der eigenen Schrift. Warum aber? Der gespenstische Name van Gogh findet sich auch in Robert Walsers Text Hans im Band Seeland, den der Bruder Karl Walser in einem expressiveren, deutlicher als zuvor gerade von van Gogh beeinflussten Zeichenstil illustrativ gestaltet hatte.60 Und hier 58 | Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 109 (Hervorh. v. RB). 59 | Brief vom 5. Oktober 1927 an Otto Pick (Prager Presse), in: Br, S. 311f. 60 | Vgl. Andreas Meier: »Karl und Robert Walsers frühes Interesse an der Kunst Van Goghs«, in: Vincent van Gogh und die Moderne. 1890-1914, Ausstellungskatalog des Museum Folkwang Essen/Van Gogh Museum Amsterdam, Freren 1990, S. 60-63, S. 63. »1906 erschien im Verlag Bruno Cassirer die erste deutschsprachige Buchausgabe mit Briefen Van Goghs, illustriert durch eine größere Zahl von Federzeichnungen. Es ist nicht auszuschließen, daß Karl Walser, der allmählich zum ersten Verlagsgraphiker von Bruno Cassirer avanciert war, auch diese Briefausgabe gestaltete. In dem als Almanach präsentierten Verlags-Katalog Cassirers von 1908, dem niemand anders als Karl Walser durch seine Vignetten und den Umschlagdeckel das Gepräge gegeben hat, findet sich auch eine Besprechung der Van-Gogh-Briefausgabe, illustriert mit zwei der Federzeichnungen […]. Genau in dieser Zeit entstanden auch die Illustrationen zur Ausgabe der ›Gedichte‹ von Robert Walser, noch bevor Karl Walser mit Bernhard Kellermann im April 1908 nach Japan reiste. Im Almanach wird der illustrierte Gedichtband bereits als ›in Vorbe-
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heißt es: »Beim Anblick eines wogenden, gelben Kornfeldes, durch das ein heißer, wonniger Sommerwind strich, der mit den Halmen anmutig spielte, mußte er unwillkürlich an Van Gogh denken, der solcherlei Dinge mit vielleicht schon fast erschreckendem, liebenden Eifer malte.« Bereits zuvor aber, 1912 in der Zeitschrift Kunst und Künstler im Text Zu der Arlesierin von van Gogh, hatte Robert Walser einen Eindruck von van Goghs Kunst geschildert: »So großartig wie schlicht; so ergreifend wie still; so bescheiden wie hinreißend schön ist das Bild der Frau aus Arles, der man, ohne viele Umstände, mit der Bitte und mit der Frage nahen möchte: ›Sage mir, hast du viel gelitten?‹ Bald ist es das Porträt einer Frau schlechtweg; bald aber ist es wieder das Bild von dem grausamen Rätsel des Lebens in der Gestalt der Frau, die dem Maler zum Modell, zum Vorbild gedient hat.«61 Noch einmal aufgenommen ist der Eindruck dieses Vexierbilds in einem Text mit dem Titel Das Van Gogh-Bild, der im Mai 1918 in der Neuen Zürcher Zeitung erscheint. Der ältere eigene Aufsatz sei, wie es am Ende dieses Textes heißt, in seinem Gehalt »entflogen, weshalb ich ihn zu erneuern wünsche, was hierdurch geschehen ist«.62 Das Ende bestätigt eine Erneuerung, ein Wiederaufleben der Erinnerung. Van Goghs Bild habe, so heißt es auch hier, als Bildnis einer »durchaus nicht hübschen, weil schon ältlichen Frau aus dem Volke«, dabei »mehr innere als äußere Schönheit«,63 und: »Gibt es nicht auch gewisse Bücher, die nicht leicht Anklang finden, weil sie spröde sind, d.h. weil es schwierig ist, ihnen einen Wert beizumessen? Schönreitung‹ angekündigt. Der Vergleich der in der Buchausgabe stark verkleinerten Federzeichnungen Van Goghs mit denen Karl Walsers zeigt den direkten Einfluß. Obwohl in anderer Technik ausgeführt, nähert sich der Strichduktus von Karl Walsers Radierungen der Zeichengestik Van Goghs, dessen Faszination auf den jüngeren Illustrator in einigen der Arbeiten unschwer auszumachen ist, aus dem Wechsel von Strich- und Punktmanier und der ähnlichen Landschaftsperspektive mit der hochliegenden Horizontlinie. Auch erinnern die Motive des von ›schwarzen Erinnerungen gequälten Dichters‹ […] oder die des einsamen durch die Schneelandschaft Wandernden sowohl in den Gedichten als auch in den Illustrationen an Van Gogh, der im Almanach mit jenem Briefsatz zitiert wurde, mit dem sich so viele junge Künstler und Schriftsteller damals identifizieren konnten: ›Ich arbeite in diesen Tagen mit vielem Vergnügen, obgleich ich hin und wieder die Nachwehen meiner Krankheit noch gründlich fühle. Was nun die Kaufwerte meiner Arbeit anbetrifft, so sollte es mich sehr wundern, wenn mit der Zeit meine Arbeiten nicht ebenso gut verkauft werden sollten, wie die der andern. Ob das jetzt geschieht oder später, ist mir ganz gleichgültig. Aber getreu und eifrig nach der Natur zu arbeiten, ist, wie mir scheint, ein sicherer Weg, der zum Ziele führen muß.‹« Ebd., S. 61. Der weiter oben erwähnte Bildbruch in Robert Walsers Text Hans, der in einer fleißigen Betrachtung – statt dem erwarteten fleißigen Schreiben – liegt, könnte hier sein Vorbild haben. Vgl. SW 7/206. 61 | SW 15/66f. 62 | SW 16/347. 63 | SW 16/344.
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heiten kommen bisweilen nur ungenügend zum Vorschein./Das Bild von Van Gogh wirkte wie eine ernste Erzählung auf mich.«64 Die Parallelisierung mit der eigenen Arbeit ist unverkennbar. In Das Van Gogh-Bild heißt es so: »Niemand konnte derlei Werke bestellt haben; vielmehr gab sich der Künstler offenbar den Auftrag selber, und hat dann gemalt, was vielleicht kein Mensch abgebildet haben will.«65 Einen Auftrag hat sich auch Robert Walser, in Gestalt des »Bleistiftauftrag[s]«, von dem im Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 die Rede ist, gegeben. Und auch dies ist ein Auftrag, mit dem der Autor einer Ambivalenz der modernen künstlerischen ›Autonomie‹ begegnet, die den Rahmen von Auftragsvergabe und Einflussnahme durch Potentaten (in der bildenden Kunst) zwar aufsprengt, damit aber eben auch den Rahmen der Existenzsicherung und der Legitimierung des eigenen Tuns durch den Auftraggeber. Gibt der Künstler sich selbst einen Auftrag, gibt es zudem keine selbstverständliche Adressierung mehr. Warum, nochmals gefragt, geht die Erwähnung van Goghs, die sich, bereits durch das Brüderpaar Vincent und Theo van Gogh präfiguriert, mit dem Bruder Karl Walser und dessen illustrativer Schwesterkunst verbunden zeigt, im Brief an Otto Pick vom Oktober 1927 ohne vermittelnden Übergang in die Erwähnung über, dass eigene Manuskripte vernichtet worden seien? Worin liegt das Schreckbild, das der Maler bildet? In einem Brief aus dem Mai 1916, der aus den Schützengräben vor Verdun geschrieben wurde, hat der Kunsthistoriker Fritz Burger bekannt, sich durch die Wirklichkeit der Kriegskämpfe an »van Gogh’sche« Phantasien erinnert zu fühlen.66 Das Explosive der Bilder kann jedoch nicht in den Motiven liegen, denn diese haben mit dem Ersten Weltkrieg, haben mit dem Krieg überhaupt bekanntlich nicht das Geringste zu tun. Worin aber liegt dann das Schreckbild? Was ist es, das in den Bildern van Goghs an einen Krieg, an einen Kampf denken lässt? Der Theaterregisseur und Autor Antonin Artaud wird aus den Bildern van Goghs schriftförmige Kräfte lesen, so jedenfalls fasst es Jacques Derrida; er wird darin »den furchtbaren elementaren Druck von Apostrophen, von Rillen, von Kommata, von Balken« spüren.67 Die Malerei van Goghs zeigt, in ihren rhythmisierten Strichen, dieselben Zeichen wie die Schrift. Ihr Antlitz scheint auf gespenstische Weise das der Schrift zu sein. Und für Robert Walser findet sich in der Malerei van Goghs so offenbar nicht nur die illustrative Handschrift des Bruders im Band Seeland, sondern auch die eigene Handschrift wieder. Die Bilder erinnern nicht nur an einen Kampf mit eigenen Texten, sie figurieren diesen Kampf in ihren mikrologischen Bildzeichen. 64 | SW 16/345. 65 | Ebd. 66 | Fritz Burger; zit.n. Hansdieter Erbsmehl: »Der Erste Weltkrieg. Erwartung – Realität – Reaktion«, S. 59. 67| Jacques Derrida: »Das Subjektil ent-sinnen«, in: Antonin Artaud. Zeichnungen und Porträts, hg. von Paule Thévenin und Jacques Derrida, München 1986, S. 51-109, S. 58.
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XIII. Das letzte Prosastück
Robert Walser geht es in der Bieler Prosa um das, was Friedrich Kittler für die gedruckte Schrift gerade ausgeschlossen hat, es geht ihm um die Klage, doch: »Gedruckte Klagen über den Tod von Mensch oder Subjekt kommen allemal zu spät.«1 Auch deshalb die Mikrographie, die in der Vorform verharrt. Das Projekt Robert Walsers in den mittleren 1910er Jahren stellt sich dabei wesentlich anders dar als das der literarischen Zeitgenossen. Marion Gees beschreibt es: Entgegen einer von Zeitgenossen zuweilen in schwülen Untergangsvisionen heraufbeschworenen Zeichenkrise oder einer für den Expressionismus typischen Kultivierung der Wahnsinnsthematik in voluptuösen Bildwelten schwingen sich die sprachlichen Gebärden Walsers aus Untergangs- oder tiefschürfenden Seelenszenarien heraus, […].
So wird die psychische Leiderfahrung nicht als großes, vermeintliche Innenräume auslotendes Seelenschauspiel inszeniert […], das auf eindeutige Wahrheiten setzt, sondern in plötzlich einbrechenden Bildwelten, die nicht selten aus übernommenen Zitaten komponiert werden. Diese Visionen offenbaren sich in der Verbindung von Melancholie und Ironie, in enigmatischen Anspielungen, die einen momenthaften Einblick in die Partikularität einer abgründigen Gegenseite der Vernunft ermöglichen, ohne sich zu eindimensional-konturierten Signaturen des Zerfalls oder apokalyptischen Phantasmen zu verfestigen. 2
Das diskrete Verfahren findet sich auch im Text Das letzte Prosastück. Hier vollziehen sich ganze Lebensläufe in ihrer publizistisch scheinbar unausweichlichen Konsequenz: »Was ich freudig schrieb und fortjagte, wurde in die Verborgenheit geworfen, wo es langsam zusammenschrumpfte. Zeilen, Sätze, Blätter gingen in der Schubladenluft jämmerlich zugrunde, indem sie eintrockneten und welkten. Was ich flott hervorgebracht, ließ ich alt, matt, blaß 1 | Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme. 1800·1900, München 1995, S. 520. 2 | Marion Gees: Schauspiel auf Papier, S. 176.
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und bleich werden.«3 Das Bild kaschiert die Vernachlässigung durch die Adressaten. Was verschwiegen oder besser verschoben wird, ist, dass es nicht der Schreiber selbst war, der die Manuskripte altern oder besser veralten ließ, denn darin liegt der implizite Vorwurf: Die Situation, der Kontext, in dem die Texte einst geschrieben worden sind, ist bei ihrem dann doch noch einmal erfolgten Erscheinen zu etwas anderem geworden: »Obwohl die Schrift sich also gleich bleibt, ist der Text, der gelesen wird, nicht der Text, der geschrieben wurde«, bemerkt Dieter Roser.4 Der Text kann nicht zeitgenössisch rezipiert werden. Und so ist das »Fortfliegenlassen von passenden Prosastücken«5, wie es im Text Das letzte Prosastück heißt, der im Oktober des Jahres 1919 erscheint, und das bekundet bereits der Titel, als Aussendung der Texte in die Welt, als Rhythmus und Metronom des Erzählens, wenn nicht verloren – denn dies wird dann doch nicht das letzte Prosastück Robert Walsers sein –, so doch aber gestört. Und im Kontrast zu dieser Art asynchronisiertem Alterungsprozess wird jene Frische der Kindheit stehen, die mit der Bleistiftschrift im Brief an Rychner vom 20. Juni 1927 beschworen wird, einer Schrift, bei der das Schreiben »knabenhaft« wieder erlernt wird.6 Die Bleistiftschrift ist dann spielend mit literarischen Reminiszenzen verbunden, die allerdings erst ein Blick auf das Dichterporträt Hölderlin offenlegen kann: Zurück nach der Kindheit sehnte er sich krankhaft, und, um von neuem auf die Welt zu kommen und wieder ein Knabe zu werden, wünschte er, daß er sterbe. ›Da ich ein Knabe war…‹, dichtete er. Man kennt das herrliche Lied.7
Das Knabenhafte, auch im Brief an Rychner, weist auf das Gedicht Hölderlins. Der erstmals in einer Ausgabe aus dem Jahre 1874 vollständig abgedruckte Text des überschriftslosen Hölderlin-Gedichts Da ich ein Knabe war beschreibt die Abkehr aus der geräuschvollen, gewalttätigen Welt der Menschen, in eine beseelte Natur, die eine verständlichere Sprache zu sprechen und ein besserer Resonanzboden zu sein scheint: Da ich ein Knabe war, Rettet’ ein Gott mich oft Vom Geschrei und der Rute der Menschen, Da spielt’ ich sicher und gut Mit den Blumen des Hains, Und die Blumen des Hains, Und die Lüftchen des Himmels Spielten mit mir. 3 | SW 16/322. 4 | Dieter Roser: Fingierte Mündlichkeit und reine Schrift, S. 101. 5 | SW 16/321. 6 | Vgl. Brief vom 20. Juni 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 301. 7 | SW 6/118.
XIII. D AS LETZTE P ROSASTÜCK […] O all ihr treuen Freundlichen Götter! Daß ihr wüßtet, Wie euch meine Seele geliebt! Zwar damals rief ich noch nicht Euch mit Nahmen, auch ihr Nanntet mich nie, wie die Menschen sich nennen Als kennten sie sich. Doch kannt’ ich euch besser, Als ich je die Menschen gekannt, Ich verstand die Stille des Aethers Der Menschen Worte verstand ich nie. Mich erzog der Wohllaut Des säuselnden Hains Und lieben lernt’ ich Unter den Blumen. Im Arme der Götter wuchs ich groß. 8
Nirgends in diesen Versen voller namenloser Anrufungen, in diesem Gedicht, dessen typograpische Anordnung bereits an Stéphane Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le hasard von 1897 denken lässt, findet sich der von Robert Walsers Prosatext Hölderlin beschworene Todeswunsch, »um von neuem auf die Welt zu kommen und wieder ein Knabe zu werden«; die Zyklizität, der Wunsch nach einem Neubeginn, kommt vielmehr erst in Robert Walsers Text hinein, wo es darum geht, knabenhaft wieder schreiben zu lernen – wie es der Brief an Max Rychner vom 20. Juni 1927 postulieren wird: als immer neuer Anfang. Auch der Text Das letzte Prosastück zeichnet sich, was seinen Titel betrifft, dabei durch eine publizistische Anachronizität aus; er ist vor dem bereits erwähnten Text Prosastück geschrieben. Das letzte Prosastück ist jedoch in der Tat das letzte Prosastück, das im Oktober 1919 in den Deutschen Monatsheften (Die Rheinlande) erschienen war. Von anderen Texten dieser Zeit unterscheidet es sich prägnant, weil hier die Frage nach dem Sinn des Schreibens, nach dem Wert von Autorschaft explizit gestellt ist: »Was tat ich zehn Jahre lang? Um diese Frage beantworten zu können, muß ich erstens seufzen, zweitens schluchzen und drittens ein neues Kapitel oder frischen 8 | Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte, Bd. 1, S. 184f.; vgl. auch Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 5 (Oden II), hg. v. D.E. Sattler und Michael Knaupp, Frankfurt a.M. 1984, S. 397.
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Abschnitt beginnen.«9 Erst weiter unten im Text erfolgt nun aber eine Antwort, eine Antwort, die nicht im eigenen neuerlichen Schreiben liegt: »Ich füllte anderer Leute Lücken mit Prosastücken. Der Verstand will mir stocken, wenn ich daran denke.«10 In der Tat füllen Robert Walsers Texte zuweilen Lücken. So findet sich etwa der bereits erwähnte Text Grün (I) in der Zeitschrift Kunst und Künstler 1911 im Anschluss an einen Artikel über den Maler Leopold Kalckreuth; die Illustrationen zu diesem Aufsatz enden mit Robert Walsers Text, der hier ganz offensichtlich Lücken füllt.11 Im Text Das letzte Prosastück ist es aber nicht etwa der vegetativ gesteuerte Atem, der im Entsetzen unwillkürlich stockt; vielmehr »will« der auch und gerade in diesem Verb intentional gelenkte »Verstand« stocken. Warum aber lässt der Umstand, der hier wieder mit Reimworten rhythmisiert wird, dieser Umstand, »anderer Leute Lücken mit Prosastücken« gefüllt zu haben, diese Art Verstocktheit aufkommen? Mit dem Auffüllen von Lücken würde das Phantasma vollständiger Lesbarkeit einhergehen.12 Die Prosastücke wären zu Phantomen geworden, insofern das Phantom eine Lücke vergegenständlicht, wie Nicolas Abraham dargelegt hat. Was bei Abraham für die Toten gilt, kann auch für die Lebenden Geltung beanspruchen: Das Phantom ist […] ein metapsychologisches Faktum. Das heißt, nicht die Gestorbenen sind es, die uns heimsuchen, sondern die Lücken, die aufgrund von Geheimnissen anderer in uns zurückgeblieben sind. Da das Phantom nicht mit dem Objektverlust zusammenhängt, kann es auch nicht das Ergebnis einer mißlungenen oder ausgebliebenen Trauer sein. Dies träfe vielmehr für den Fall des Melancholikers oder für all jene Personen zu, die ein Grab in sich verbergen. Ihren Kindern oder Nachkommen aber fällt das Schicksal anheim, solche verborgenen Gräber in der Gestalt des Phantoms zu vergegenständlichen. Diese Gräber der anderen sind es nämlich, die die Überlebenden in Form von Phantomen heimsuchen. Das Gespenst des Volksglaubens ist also nichts anderes als die Vergegenständlichung einer im Unbewußten wirkenden Metapher: das Begräbnis eines unaussprechlichen Vorfalls im Objekt.13
Auch Robert Walsers Text Das letzte Prosastück enthält ein Geheimnis, ist ein Begräbnis, in kryptierter Form. Denn der Text zeichnet sich durch eine Erzählung in der Erzählung aus, für die insofern eine eigene ›Lücke‹ auf9 | SW 16/321. 10 | SW 16/323f. 11 | Vgl. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur, S. 133. 12 | Vgl. Sigrid Weigel: »Das Phantom der Tradition«, in: Nationale Literaturen heute – ein Fantom? Die Imagination und Tradition des Schweizerischen als Problem, hg. v. Corina Caduff und Reto Sorg, München 2004, S. 35-45, S. 44f. 13 | Nicolas Abraham: »Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzung zu Freuds Metapsychologie«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Jg. XLV, Heft Nr. 8 (August 1991), S. 691-698, S. 692.
XIII. D AS LETZTE P ROSASTÜCK
gefüllt wird. Und zwar indem nun eines der Prosastücke, die »selten oder nie in den Rahmen«14 gepasst hatten, die nicht publiziert worden waren, in den fiktiven Rahmen eben dieses Textes Das letzte Prosastück eingefügt wird. Im Folgenden bildet der erste Satz dabei gleichsam die inscriptio der emblematischen Anordnung, der dann eingeschobene Text bildet die pictura: Ich bin ein armer, nicht mehr junger Mann, der gerade noch so viel Fähigkeit besitzt, wie nötig ist, um Prosastücke abzufassen, wie: »Trab, trab, trab. Was ist mit mir? Bin ich nicht gescheit? Was soll aus mir werden? Etwa Laufbursche? Ich ziehe eine derartige Notwendigkeit stark in Erwägung. Eins, zwei, drei und vier, fünf und sechs. Zwischen Schlafen und Wachen hörte ich es, als wenn es bis in alle Ewigkeit fortdauern wolle. O da stieß ich einen Schrei aus, und mehr wie je war ich mir der Summe meiner Kleinheit bewußt. Nein, der Mensch ist nicht groß, er ist hilflos und schwach. Schon gut.« 15
Der Text, der die Unumgänglichkeit des Sozialabstieges »stark in Erwägung« zieht, endet mit einer semantischen Formel der Selbstbeschwichtigung. Mit dem vorangesetzten Buchstaben ›O‹ jedoch mimetisiert er den Aufschrei. Der Buchstabe ›O‹ symbolisiert abstrakt-graphisch jenen offenen Mund, der Lessing in seiner Schrift zur Skulpturengruppe des Laokoon für die bildliche Darstellung so verwerflich erschienen war, als Zeichen eines auch in der Darstellung unbeherrschten Schmerzes. Der Buchstabe ›O‹ tritt auf »als ikonisches, symbolisches und indexikalisches Zeichen. Auf der metaphorischen Ebene hat das O einen ikonischen Charakter, wenn es mit einem offenen Mund oder mit leeren Augenhöhlen verbunden wird. So werden Buchstaben zu Bildern. Es hat aber auch einen sekundären symbolischen Charakter, wenn das O zur Null wird und eine Leerstelle bildet, die einen Ausfall im Text anzeigt. Schließlich hat der Buchstabe auch einen indexikalischen Charakter, wenn er gewissermaßen ein Loch auf der Seite anzeigt, an dem das Buchstabengewebe zerreißt und der Text sich selbst auflöst«, schreibt Aleida Assmann.16 Robert Walsers Text Das letzte Prosastück fährt nun in der subscriptio zum eingeschobenen Text im Weiteren fort: An einundzwanzig bis achtundreißig Redaktionen sandte ich »Trab, trab, trab« in der Hoffnung, daß es in den Rahmen passe; doch die Hoffnung erwies sich einundzwanzig bis achtundreißig mal als trügerisch, und das Schauerstück fand nirgends Anklang.
14 | SW 16/323. 15 | SW 16/326. 16 | Aleida Assmann: »Wie Buchstaben zu Bildern werden«, in: Die Sichtbarkeit der Schrift, hg. v. Susanne Strätling und Georg Witte, München 2006, S. 191202, S. 201f.
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M IKROPOETIK Dreißig bis vierzig Übermenschen weigerten sich, das zweifellos hervorragende Stück anzunehmen. Vielmehr lehnten sie es mit aller Entschiedenheit ab und sandten es mir flugs zurück. Einer der Diktatoren schrieb mir: »Mon dieu, was fällt Ihnen ein?« Ein anderer meinte: »Ach wollen Sie doch Ihr Zauberstück lieber der ›Venetianischen Nacht‹ überlassen, die sich sicher ungemein freuen wird. Uns jedoch bitten wir mit Trab, trab, Trabereien und Fünf- bis Sechserleien gütig verschonen zu wollen.« Ich sandte »Trab, trab, trab« an genannte Zeitung, die sich höflichst bedankte, indem sie sagte: »Ach möchten Sie doch eher glauben, das entzückende Stück eigne sich nicht recht für uns.« »Was dem einen mißfällt, schmeckt vielleicht dem andern«, dachte ich und sandte das Stück nach Kuba, das sich durchaus uninteressiert zeigte. Ich glaube, das beste wird sein, wenn ich mich in eine Ecke setze und still bin.17
Für den kleinen Text, der von der onomatopoetisch geprägten Wortwiederholung »trab, trab, trab« angeführt wird, als Erzählung in der Erzählung, dem Prinzip des Bildes im Bild folgend, ist vermutlich ein Gedicht von Clemens Brentano Vorbild, dessen erster Vers – »Trippel Trippel trap, trap, trap« – zitiert ist. Die ersten Strophen Brentanos, die im Zusammenhang von Robert Walsers Text das Inzitament bilden könnten, lauten: »Trippel Trippel trap, trap, trap/Heut schließ ich die Thür nicht ab/Wenn ich dich erst bei mir hab/Küß ich dich recht tüchtig ab.« Und: »Weck mir nicht die Mutter auf/Nur nicht hust, nicht nieß, nicht schnauf,/Nicht zu stolz renn mir herauf,/Wer hoffärtig fällt leicht drauf.«18 Würde Robert Walsers Text Das letzte Prosastück auf Brentano zurückgehen, enthielten die letztzitierten Verse den im eigenen Text Robert Walsers unkenntlich gemachten Selbstvorwurf. Ein Echo sind dabei sicher die Zahlwörter in Robert Walsers Text: »Eins, zwei, drei und vier, fünf und sechs.« Sie weisen auf den Charakter des Abzählreims, den Brentanos Gedicht hat. Und wenn die betont alberne Wort- oder besser Silbenfolge, die onomatopoetisch eine Schrittfolge wiederzugeben sucht, und die in Robert Walsers »trab, trab, trab« nun auch graphematisch und unrhythmisiert geworden ist, auf Brentano zurückge17 | SW 16/326f. 18 | Vgl. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe, Historisch-kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hg. v. Konrad Feilchenfeldt et al., Bd. 3.2 (Gedichte 1818-1819), Stuttgart, Berlin, Köln 2001, S. 46. Anregung zu Brentanos Gedicht ist vermutlich das Volkslied aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn mit dem Titel Säuberliches Mägdlein gewesen. Ebd., S. 198. Das Gedicht ist aber nicht gegen Ende des Jahres 1807, in der Arbeit am zweiten und dritten Band von Des Knaben Wunderhorn, sondern erst 1818 entstanden. Aus diesem Jahr hat sich auch ein geringfügig abweichender Entwurf auf einem Blatt mit Versen zum Monat Oktober aus dem Gedichtzyklus Die Monate erhalten. Dort folgt das Gedicht, als Lied der Winzerin betitelt, auf die moralische Schilderung eines gefährlichen Liebesabenteuers, für das der mythische Held Orion mit dem Tode bezahlt.
XIII. D AS LETZTE P ROSASTÜCK
hen würde, was nicht leicht zu vermuten ist, da hier nicht das hehre Dichterwort zitiert ist, hätte Robert Walsers Text dabei jedoch wesentliche Elemente des Vor-Bildes aufgenommen, denn auch Brentano selbst hat auf jede Weise versucht, »im Logos des Dichters die Erinnerung an das Lebendige wachzuhalten«, wie Gert Mattenklott schreibt: So hat er die Mimesis an die unwillkürliche Assoziation, an die Evokationskraft der Klänge und die Launen der Albernheit gelegentlich selbst auf Kosten jeglicher Bedeutung so weit getrieben wie kein anderer deutscher Autor vor ihm. Diesem Widerstreben des Schreibers gegen den autoritären Primat des Logos im Geschriebenen folgt auch der Wunsch, den Text gegen seine unlebendige, bloß logifizierende Lesart durch die Einbettung in Bilder und Klänge zu versichern. Bild und Ton, Illustration und Vertonung werden hier als Ersatz eines wirklichen Lebens der Kunst vorgestellt. Der Illustrator soll das Bildliche an der Schrift ausphantasieren. Illustration, ornamentaler Schmuck und Typographie absorbieren die Logik des Geschriebenen oder jedenfalls: sie lockern deren Bindungen.19
Dem »Widerstreben des Schreibers gegen den autoritären Primat des Logos im Geschriebenen« folgt Brentano auch, wo er den Künstler Philipp Otto Runge um Illustrationen für seine Romanzen vom Rosenkranz bittet. Aus Berlin schreibt er am 21. Januar 1810 an diesen: »die Geister welche durch Ihre Feder am Rande erscheinen werden, sollen die meinen erlösen, und die Grillen des Zeichners mein wunderliches Lied umgeben, als sey es ein Aschenhaufen (es ist eine Sage bey uns, wenn die Grillen unterm Feuerherde singen, es seyen die Seelen der Vögel, die einst auf den grünen Bäumen gesungen, welche heute auf dem Herde verbrannt werden).«20 Die Geister, die durch die Feder des Illustrators, als Zeichnungen am Rande des eigenen Textes, erscheinen werden, sollen die Geister der Dichtung, sollen die Schrift erlösen. Diese Art Illustration oder besser Illumination hat Robert Walser, wie ausgeführt, im Briefwechsel über den Band Seeland dabei als der eigenen Schrift inhärent dargestellt, wo er im Zusammenhang mit dem Erscheinungsbild des Buches an den Verlag schreibt, dass: »hier der Dichter schon selber mit der Schreibfeder, mit den sprachlichen Worten – malt und illustriert.«21 Die Erzählung in der Erzählung, das Bild im Bild in Robert Walsers Text Das letzte Prosastück weist kryptiert auf den Dichter der Romantik, Brentano, und zugleich auf die Bedeutung von Illustrationen, denn diese Bedeutung bleibt auch dann noch bestehen, wenn Illustrationen, wie im Briefwechsel
19 | Gert Mattenklott: »Schriftbilder«, S. 133f. 20 | Clemens Brentano – Philipp Otto Runge. Briefwechsel, hg. und kommentiert von Konrad Feilchenfeldt, Frankfurt a.M. 1974, S. 16; zit.n. Gert Mattenklott: »Schriftbilder«, S. 133. 21 | Brief vom 17. April 1918 an den Rascher Verlag, in: Br, S. 126f. (Hervorh. v. RW).
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zum Band Seeland, verworfen werden – weil sie der eigenen Schrift inhärent sind, die Schrift sich selbst ›erlöst‹, wie in den Mikrogrammen. Nicht nur der nahezu unkenntliche, ebenso parodierende wie fortschreibende Bezug auf Brentano, sondern auch die Antwort auf eine Anfrage von Carl Seelig wenig später, zu Beginn des Jahres 1922, lässt nun aber darauf schließen, dass eine Phase im Werk des Autors Robert Walser, vorerst, zu Ende gegangen sein wird: »Die Romantiker und zarten Schriftsteller sind von mir etwas bei Seite gelegt. Ich suche jetzt mein Wesen anderswo, bin also da nicht mehr sehr interessiert.«22 Aus der Tendenz zum Idyllischen wird in der Berner Prosa nun eine Tendenz zur Marginalisierung des Idyllischen; vielen Bildbeschreibungen steht nun die Marginalisierung des Bildlichen entgegen. In der Folge wird, so fasst es Annette Fuchs zusammen, »der gleichsam ins Bild gekippte Rahmen thematisiert«, es findet eine »Inversion von Bild und Rahmen« statt,23 die sich im Text Robert Walsers mit dem Titel Cézannegedanken, im März 1929 in der Prager Presse erschienen, in einem Neologismus als »Gebirgigmachung«, und das heißt auch, als Unübersehbarkeit des Rahmens, annoncieren wird. Der plane unbeachtete Rahmen soll nun reliefiert, er soll zu etwas Körperlichem werden: Sein ganzes stilles Leben lang kämpfte er den lautlosen, und, wie man versucht sein könnte, zu sagen, sehr vornehmen Kampf um die Gebirgigmachung, so dürfte vielleicht der umschreibende Ausdruck lauten, des Rahmens. […] Man muß schon fast glauben, er sei »Asiat« gewesen. Ist denn nicht Asien die Heimat der Kunst, der Geistigkeit, die der denkbar stärkste Luxus sind? […] es war ihm um […] den Geist des Geheimnisses am Unverstandenen des besonders Beschaffenen [zu tun]. 24
22 | Postkarte an Carl Seelig vom Februar 1922, in: Br, S. 200. 23 | Annette Fuchs: Dramaturgie des Narrentums. Das Komische in der Prosa Robert Walsers, München 1993, S. 76 und S. 99. 24 | SW 18/254f.
Nachwort: Die Stimmen des Imaginären
Nicht nur um das »Unverstandene[ ] des besonders Beschaffenen« ist es dem poetischen Ich in Robert Walsers Text Cézannegedanken von 1929 zu tun, um das Singuläre und dessen Würdigung, sondern, und ganz besonders verschachtelt, um »den Geist des Geheimnisses am Unverstandenen des besonders Beschaffenen«.1 Und das Geheimnis des Unverstanden-Singulären erscheint in gespenstischer Figur, im Geist. »Asien« ist hier im Text die »Heimat« poetischer »Geistigkeit«. Und so schreibt der Text Träumen, im Juli 1920 im Schweizerland erschienen, in seinem Incipit auch: »Ich stelle mir China als ein Liebes- und Friedensland vor, wo die Gesetze weich sind wie die Luft, die über den […] Gegenden säuselt. Städte und Länder sind wie Lieder, die von Dichtern gesungen werden, und der Himmel liegt näher bei der Erde als anderswo. Weshalb bild’ ich mir das ein?«2 – Wohl weil China das sprichwörtliche ›Reich der Mitte‹ ist, wäre dem poetischen Ich zu entgegnen. Und wie sich somit schon zeigt, gibt es noch andere Heimaten: Sprachheimaten, literarische Heimaten. Im Jahr 1908, im selben Jahr, in dem Karl Walser die Reise nach Asien, nach Japan unternommen hat, erscheint im Leipziger Insel Verlag in zwei winzigen, in Frakturschrift gedruckten Bänden der von Heinz Amelung nach den in der Königlichen Bibliothek zu Berlin befindlichen Handschriften erstmals vollständig herausgegebene Briefwechsel von Clemens Brentano und Sophie Mereau. 1909 wird Amelung auch den durch Bettine von Arnim nach Brentanos Tod zusammengestellten Briefwechsel beider mit dem Titel Frühlingskranz edieren. Im Briefwechsel Brentano/Mereau wird im Brief an die Braut vom 9. September 1803 Brentanos poetisches Lebensprojekt zu lesen sein: »Nun glaube ich aber kann man sehr leicht in der Liebe, da Alles doch nur aus zweien besteht die Eins sind, ein Leben hervorbringen, in welchem nur Poesie das Element ist, oder vielmehr in dem das Element Poetisch ist, […].«3 1 | SW 18/254f. 2 | SW 16/99. 3 | Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau, hg. v. Heinz Amelung, Leipzig 1908, Bd. 1, S. 148.
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Brentano selbst hat sich Zeit seines Lebens gegen eine Anthologie seiner Lyrik verwahrt, weil ihm die eigenen Gedichte nur in einem lyrischen Gespräch, mit der Geliebten, mit den Freunden, mit der Zeit, lebendig und mitteilenswert erschienen. Die Gedichte, die das dialogische Moment auch formal bergen, sollten nur für diejenigen zu hören sein, denen sie zugedacht waren; die meisten sind in Kontexte verflochten, aus denen sie nicht umstandslos autonomisiert werden konnten und sollten. Auch Brentanos Briefe an Sophie Mereau sind als Prosagedichte zu lesen. Und in verwandtem Sinne heißt es in Robert Walsers Text Der Spaziergang: »›Spazieren‹, gab ich zur Antwort, ›muß ich unbedingt, um mich zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuerhalten, ohne deren Empfinden ich keinen halben Buchstaben mehr schreiben und nicht das leiseste Gedicht in Vers oder Prosa mehr hervorbringen könnte.‹«4 In Robert Walsers erwähntem Dramolett mit dem Titel Saul und David, welches, wie alle Miniaturszenen des Autors, »vorläufige Stimmen«5 kurz anklingen und wieder verstummen lässt, geht es, daran ist noch einmal zu erinnern, um die »weichen Stimmen«6, um die lyrischen Stimmen – und um deren Überleben. »Sie schrieb weiblich, er männlich, doch das Schreiben tönt an und für sich weich, ist männlich und weiblich zugleich und stammt aus Seelen, die verklärt sind«,7 heißt es in Robert Walsers Text mit dem Titel Er und Sie über ein nicht genanntes, wohl aber romantisches Autorenpaar, vielleicht Brentano und Mereau. Der Text Er und Sie erscheint noch im Juni 1933 in der Neuen Zürcher Zeitung, in jenem Monat also, in dem Robert Walser, mit der Verlegung von der Anstalt Waldau nach Herisau, in die Psychiatrie fern der Heimat, endgültig zu schreiben aufgehört hat. Um etwas Lyrisches, das im Sinne Brentanos immer auch etwas Dialogisches ist, geht es Robert Walser. Und die Lyrik, für die das einzige epochenübergreifende Kriterium zur Abgrenzung gegenüber allen anderen Gattungen der Zeilenumbruch, das Enjambement, und das heißt vor allem ein schriftbildliches, graphisches Kriterium ist, das auch Rückwirkungen auf die Kolumne, die Textkolumne hatte, deren Breite ursprünglich an der Länge von Gedichtversen orientiert war, ist auch in jener Wortkontamination Robert Walsers in jenem anderen Brief an Rychner, der demjenigen zum »Bleistiftgebiet« vorausgegangen war, Paradigma der Prosa, als etwas »Versisches«.8 Die damit angespielte Lyrik hat jedoch nichts mit einer zeitgenössischen, preziösen Lyrik zu tun, die das Schreiben gerade vergessen machen will.9 4 | SW 7/50. 5 | Marion Gees: Schauspiel auf Papier, S. 60. 6 | SW 16/227. 7 | SW 20/183. 8 | Brief vom 31. Mai 1927 an Max Rychner, in: Br, S. 298. 9 | Vgl. Peter Gay: Die Republik der Außenseiter, S. 79, der die Gedenkrede von Stefan Zweig mit dem Titel »Abschied von Rilke« vom 20. Februar 1927 zitiert, in der Zweig von Rilke spricht als dem »Dichter, dies war er, Rainer Maria Rilke, ihm
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Schließlich ist das Wort ›Gedicht‹ selbst aus dem althochdeutschen tihton (schreiben) abzuleiten und bezeichnet ursprünglich alles schriftlich Niedergelegte.10 »Gedichte, so, wie sie dem Rezipienten seit mindestens zwei Jahrhunderten im dominanten Modus erscheinen, als gedruckter Text, sind weniger unter dem Aspekt der Verschriftlichung einer lyrischen Stimme zu lesen, sondern als Spur eines Schreibakts, Spur einer Spur«, schreibt Georg Witte.11 Im Blick der Lesenden verweisen sie auf diesen Schreibakt und zugleich auf die Trennung von diesem Schreibakt, der sich durch den Druck des Textes vollzogen hat, in dem homogene Buchstaben nun die heterogensten Texte codieren.12 In diesem Sinne oder besser gerade entgegen diesem drucktechnischen Sinn sind die Gedichte, die Robert Walser in den noch aus der psychiatrischen Anstalt Waldau bei Bern geschriebenen Briefen als »eine Art Tagebuch« bezeichnen wird, das er zu dieser Zeit eben noch immer führt, auch Kalligramme im Sinne des bereits im Jahre 1926 in der eigenen Korrespondenz konturierten »Gedicht-Körper[s]«. In dieses Kompositum einbeschlossen findet sich dabei auch das, woran es der Literatur, im Vergleich zur Malerei, notwendig mangelt: die Darstellung des Körpers.13 Diesen Körper stellt ziemt vollgültig dies Wort, dies uraltheilige, dies ehern gewichtige und anspruchsvolle, das unsere fragwürdige Zeit allzu leicht vermengt mit dem minderen und ungewissen Begriff des Schriftstellers, des bloß Schreibenden.« Peter Gay kommentiert, diese Ausführung sei lehrreich; sie repräsentiere mit ihrer ganzen wohlberechneten Ungenauigkeit eine Denkweise, »welche die Deutschen anerkannten, genossen und sogar, sprach man über Dichtung und Dichter, unentbehrlich fanden«. Diese Denkweise marginalisiert in der Differenzierung zwischen Schriftstellerei und Dichtung die ›Materialität‹ der Schrift. Und gegen diese Denkweise wendet sich Robert Walser. 10 | Vgl. Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, S. 2. Während Lyrik, so Burdorf, bis heute vor allem als Klangphänomen und teils sogar nur als Ableger des Liedes gewertet werde, sei demgegenüber die besondere Bedeutung von Schrift und Druck für die Entstehung, Verbreitung und Überlieferung von Gedichten hervorzuheben. Vgl. ebd., S. IX. 11 | Georg Witte: »Das Gesicht des Gedichts. Überlegungen zur Phänomenalität des poetischen Texts«, S. 186f. 12 | Vgl. Aleida Assmann: »Wie Buchstaben zu Bildern werden«, S. 196. 13 | Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, S. 207, zeigt, wie »Harsdörffers kritische Reflexion der überlieferten Gleichung von Malerei und Poesie zur Einsicht in die Entsprechung von Sinnbildkunst und Bühnenwerk« führt, »die allein das Postulat einer Verbindung von Bild- und Wortkunst im eigentlichen Sinne erfüllen. Die alte Ut pictura poesis-Formel gewinnt neue Bedeutung: sie definiert den emblematischen Charakter des Schauspiels, das Bild und Text des Sinnbildes in ein lebendig bewegtes Spiel überführt. So hat Harsdörffer im fünften Teil seiner GESPRECHSSPIELE erklärt: Das Trauer| und Freudenspiel ist ein wesentliches/lebendiges und selbstredendes Gemähl [d.i.Gemälde]/das der Poet ausbildet. Dem Gemähl ermangelt sonsten die Stimme/welche es begeistert
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dagegen das Theater in seinen Figuren, den dramatis personae, vor Augen; und darin bildet es im Wortsinn, darin dient es der Inspiration der eigenen Prosa, wie sich noch in einem späten Brief Robert Walsers zeigen wird: Meine Schriftstellerarbeit, falls mich Solche ans Pult ruft, besorge ich mit Vorliebe früh vormittags. Unter Anderm schrieb ich eine Art Tagebuch in Form von einzelnen, voneinander total unabhängigen, Gedichten. Naturgemäß kommt nun in den Anstaltsverhältnissen nicht mehr so viele Prosa zustande wie vorher in der Stadt, die ich übrigens nur noch selten zu sehen bekomme. Letzthin besuchte ich ausnahmsweise das Theater, ohne daß ich behaupten könnte, die Vorstellung hätte mir einen erheblichen Eindruck gemacht.14
Die Form des »Tagebuch[s]« setzt, als Nachahmung eines Selbstgesprächs, die konsequenteste Fiktion des Verfassers und Adressaten voraus.15 Bei Robert Walser scheint die Tagebuchform, die lediglich als »eine Art Tagebuch« firmiert, in Form »von einzelnen, voneinander total unabhängigen, Gedichten«, die in dieser Wendung durch besonders viele Kommata in der Tat voneinander getrennt sind, präfiguriert durch Brentanos momentanistisches und gleichermaßen an die zyklischen Wechsel der Tages- und Jahreszeiten gebundenes poetisches Kalendarium. Und so ist das »Versische[ ]« aus jenem Brief an Rychner auch dieses gleitende poetische Kontiguum: »Frühling, Sommer und Herbst waren hier schön, jetzt ist Winter, und immer lanciere ich bisweilen noch kleine Arbeiten in einige Blätter ihres Vaterlandes«,16 wird Robert Walser in einem seiner letzten ausführlicheren Briefe schreiben und noch einmal den Winter in eine Beziehung mit der Schrift setzen; es ist ein Winter, dem der in seinem Werk viel beschworene Schnee nun allerdings fehlt. Im Text Das letzte Prosastück hingegen hatte es, wenngleich in der Vergangenheitsform, noch geheißen: »Von selbst versteht sich, daß ich jeweilen auf lichte Frühlingszeit ein fröhliches Frühlings-, auf die Herbstsaison ein bräunliches Herbst- und auf Weihnachten ein Weihnachts- oder Schneegestöberstück schrieb.«17 Auch auf den Mikrogrammblättern werden Texte von derselben jahreszeitlichen Färbung imprägniert sein.18 Die Kontiguität von Motiven erweist sich in Robert Walsers Werk jedoch nicht nur als räumlich, wie in den Mikrogrammen, sondern es entstehen, wie gezeigt, auch Palimpsesund beseelet/dem Gedicht ermangelt die liebliche Figur/welche es für die Augen stellet: In dem Trauer| und Freudenspiel redet das Gemähl mit zimlichen Geberden/die sonsten noch die Figur noch die Schrift leisten kan/und wird alles viel beweglicher den Zuschaueren und Anhöreren beygebracht. Hierinnen bestehet das letzere Meisterstükk der Dichtkunst und die höchste Vollkommenheit.« 14 | Brief vom 23. Dezember 1929 an Frieda Mermet, in: Br, S. 341f. 15 | Vgl. Walter Ong: Oralität und Literalität, S. 103. 16 | Brief vom 23. Dezember 1929 an Therese Breitbach, in: Br, S. 342. 17 | SW 16/325. 18 | Vgl. Werner Morlang: »Eine Art Tagebuch«, S. 61.
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te in der zeitlichen Aufeinanderfolge der eigenen Texte. So hat Robert Walser drei Texte mit dem Titel Brentano versehen. Der letzte unter ihnen mutet beinahe surreal an; die Motive darin sind nicht zu dechiffrieren, ohne eine unmögliche Passage durch das gesamte Werk unternommen zu haben. Denn der Text Brentano (III) ist, ähnlich wie Lyrik, von einer Polyphonie lyrischer ›Stimmen‹ geprägt, denen über Jahre und Jahrzehnte hinweg zu folgen ist. Und ganz entgegen Robert Walsers Bekunden (in Bezug auf die Anfrage Carl Seeligs aus dem Jahre 1922), er selbst habe »die Romantiker und zarten Schriftsteller« jetzt »etwas bei Seite gelegt« [sic!], schlägt auch die dritte Fassung des Dichterporträts zu Brentano, im April 1926 in der Prager Presse erschienen, diese Seiten im Gegenteil wieder auf. Das Dichterporträt Brentano (III) ist zugleich ein Selbstporträt, insofern hierin auch eigener Text ›porträtiert‹ ist. Das Verfahren deutet sich bereits zuvor in der Bieler Prosa in einem Bild an. Das Bild der venezianischen Nacht, welches die Bieler Prosa wie auch Walter Benjamins Essay zu Robert Walser illuminiert hatte, ist auf eine in der literarischen Romantik symbolisch besetzte Szenerie zurückzulesen: auf die nächtliche Maskerade, aus der Robert Walsers Figuren in Benjamins Text zu kommen scheinen, dem »Wahnsinn« entronnen, wie es in deutlicher Reminiszenz an das bei Brentano privilegierte Wort vom »Wahnsinn« heißt. Mit dem Maskenfest19 als einem Theater ohne Darstellung, einer Szene ohne Schauspiel,20 bei der das Spektakel lediglich in der spektakulären Verkleidung besteht, mit der Nicht-Schauspieler zu Schauspielern werden, und nicht etwa in einer Fabel, in einer dramatischen Handlung – mit diesem Spiel von Transparenz und Opazität, auf das im Bild der venezianischen Nacht angespielt ist, setzt Karl Heinz Bohrer dabei in Beziehung, was er die »Verhüllungsrede« der Brentanoschen Briefsprache nennt: Das poetische Ich ist, hinter Masken verhüllt, mit eben diesen Masken eine unauflösliche Verbindung eingegangen, es ist ›identisch‹ geworden mit einer metaphorischen Verstellung in Worten – was eine vermeintlich in den Texten enthaltene ›Autobiographie‹ eben auch und gerade enigmatisch werden lässt. Brentanos Briefe zeigen für Bohrer die »Substituierung des Ichs durch Literatur«; Subjektivität wird zur literarischen Subjektivität und das heißt, dass »erst in der Erfindung des Wortes sein Sinn erscheint und nicht ein vorher gegebener autobiographischer Sinn abgebildet ist«.21 Die Identifizierung von Autor und poetischem Ich, wie sie bei Robert Walser immer wieder leicht geschieht, ist so obsolet. Für das poetische Wort gibt es in der autobiographischen Realität vielmehr kein Äquivalent, und genau diesen nicht-referentiellen Zusammenhang bildet, so Bohrer, Brentanos Wort vom »Wahnsinn« ab. Bezeichnenderweise speist es sich in den Jahren um 19 | Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief, S. 243f. 20 | Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, S. 524. 21 | Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief, S. 265ff.
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1800 dabei aus einer neuerlichen Anknüpfung an Platons Dialog Phaidros, die mit Friedrich Schleiermachers Übersetzung dieses schriftphilosophischen Textes initiiert war.22 Der Maskierung dienen auch die Mikrogramme Robert Walsers, und zwar in ihrer ›Materialität‹, bei der sich die Schrift so als Gespinsthaftes findet. Was aber in Robert Walsers Text Brentano (III) maskiert ›porträtiert‹ wird, ist eine ganze Reihe der in dieser Studie behandelten Topoi der Bieler Prosa, die sich nun wiederfinden lassen werden. In den »polyphonen Sätzen« insbesondere der Berner Prosa sind nicht nur, wie Valerie Heffernan schreibt, »komplexe, unstimmige, scheinbar disparate Töne sinnreich zusammen zum Singen gebracht«,23 es sind vor allem auch die eigenen ›Töne‹ angeschlagen und orchestriert – zu einer ›Musik‹, als der einzigen Form, in der das zeitgenössische Stimmengewirr, das die Texte Robert Walsers umfangreich kommentieren, einen Wohlklang ausbilden kann: Brentano schrieb: Ich und einige andere meines Schlages sind der Zeit, worin wir uns umhertreiben, wie Vögel im Käfig, die Flügel nervös an die Stäbe schlagend, vorausgeeilt. Meine schwarzen Locken lachen mich aus. Manchmal scheinen sie mich schwer wie Bleiplatten zu belasten. Gepanzerte Schiffe durchfurchen still und groß das Meer meiner vorausfliegenden Einbildungen, und jede Idee enthält Wahrheit, und jedes Gefühl verzehrt sich, und die Stube hier ist dunkel wie ein armes, kleines, schüchternes Herz, und meine Hände sind fröhliche, verzweifelte, in ihre Behendigkeit eingekerkerte Tänzerinnen, und hochstielige Blumen schauen wie mit großen Augen in diese Umnommenheit hinein, die ich mich angewöhnt habe, Zimmer zu nennen. […] Ich kann von Zeit zu Zeit das Leben deshalb unmöglich ernst nehmen, weil sich mir der heitere Glaube tief eindrängt, daß es bloß ein Kind sei, das in entzückender, mutteraugenbewachter Unbehilflichkeit im spielenden, grünenden, schmeichelnden Grase liege. Weiche Flammen wollen aus mir herauszüngeln, Herrschaft über mich ausüben, und mir ist, als sei ich mit dem Schwälbchen oder mit dem Schneeflöckchen verwandt, dann steht wieder die ganze, hochentwickelte Verantwortung vor mir. 22 | Vgl. Karl-Heinz Bohrer: Der romantische Brief, S. 110, Anm. 3. In Platons Text unterscheidet die Figur des Sokrates zwei Arten von Wahnsinn: »Einer entstammt den menschlichen Krankheiten, der andre dem göttlichen Heraustreten aus herkömmlicher Gewohnheit« [264D]. Dieses Heraustreten ist eine Gedächtnisleistung, die nur wenigen gelingt, denn zwar hat jede menschliche Seele »ihrer Natur nach das Seiende geschaut, weil sie sonst nicht in solches Geschöpf eingegangen wäre, doch fällt es nicht allen leicht, sich aus den irdischen Erscheinungen an das Seiende zu erinnern« [249C]. Und das liegt vor allem daran, dass alle behaftet sind, »mit dem, was wir jetzt Körper nennen, den wir festgeheftet mit uns herumtragen wie die Purpurschnecke ihr Haus« [250B]. Platon: Phaidros, S. 71, 48 f. 23 | Valerie Heffernan: »›Nicht wahr, es klingt so schön‹. Zur Musik des Walser-Textes«, in: Bildersprache. Klangfiguren. Spielformen der Intermedialität bei Robert Walser, hg. v. Anna Fattori und Margit Gigerl, München 2008, S. 219-225, S. 225.
N ACHWORT Bettina gleicht mir, aber sie besitzt den Vorzug, Mädchen zu sein und sich an gerechte und intelligente Männer anranken zu dürfen, wo sich der Mann in mir gegen seine Wesentlichkeiten erhebt, auf die er begreiflicherweise nicht gut zu sprechen ist. Sanftes und zorniges Instrument, das ich bin, und ich rede, und in allem Reden breitet sich eine Steppe der Stummheit aus, und ich kann schweigen, und es ruft in einem fort daraus auf. Ich liebe die Welt nicht und liebe sie dennoch. Wenn es nach mir ginge, wären alle Landstraßen mit Teppichen belegt, und jede Äußerung aus jedem Munde wäre eine Liebkosung. Meine in der Tat sehr schönen, feinen Hände lieben mich wie Schwärmerinnen, die vom Gegenstande ihres Verehrungseifers eine zu holde Auffassung haben. Ich verwende sie zum Gedichteschreiben, zum Anfassen von Türklinken, zum Ziehen an Glockensträngen, zum Waschen und Kämmen, und um jemand die Hand zu drücken, weil’s die Sitte so will. Wandere ich nachts durch die Gegend, so kommt mein Gesicht mit wirrherabhängendem Gezweig in Berührung. Leichtsinnige halten mich für leichtsinnig, Ernsthafte für ernst, aber überall geschieht nichts anderes, als daß ich Tiefsinnige erleichtere, dagegen Lustige zum Kopfhängenlassen veranlasse. Leidende geraten in Fröhlichkeit in meiner Gegenwart, Schuldige werden durch mich unschuldig, und um Unschuldige gleiten Schuldbewußtseinsschlangen; ich töte etwas in denen, die lebendig sind, und kräftige mit dem Musizieren und dem Labsal meines sich über sie ergießenden Interesses die Schwachen, und die Kränklichen werden schon beim Denken an meine Existenz tapfer, und die Gesunden mache ich mit meiner fraglichen Miene nachdenklich, die Wege, die durch die Schönheiten und Schändlichkeiten und Helligkeiten und Dunkelheiten und Freiheiten und Gefangenheiten des Daseins ziehen, erbleichen, wenn sie mich sehen, um gleich darauf vor Vergnügtheit zu glühen, und die Häuser stehen da, und in den Städten kommt es zum Ausdruck, wie sich die Menschen nach Liebe sehnen und wie schwierig dies gestern gewesen ist, wie auch noch heute. Verunmöglichungen weichen nie, haben eine Ausdauer, eine Gelenkigkeit. Den Möglichkeiten hängen Fetzen an wie Bettlern. Und dennoch sieht man sie gern. Mir scheint, daß ich mich zu schnell bildete, und daß ich mich nicht häufig genug vor Anlässe stellte, Gebrauch vom Erworbenen zu machen. Was Bildung betrifft, muß ich gestehen, daß ich glaube, sie gewinne durch Benutzung. Die Uhr tickt. Das Gärtchen ist wie ein Mensch, an den man denkt. Stimmen lassen sich vernehmen. Ob’s kalt oder warm ist, ob Tag oder Nacht, die Menschen regen sich immer, außer im Schlaf, aber da atmen sie doch. Morgen abend soll ich in einer Gesellschaft Verse vortragen; ich werde eine Unruhe zu bemeistern und eine Gewöhntheit zu beleben haben, und man wird zu sehr Ergreifendem lächeln und zu Übermütigkeiten die Miene ein bisschen zu verziehen für passend halten. 24
»Die Uhr tickt.« Das Leben ist vergänglich. Und im Augenblick, in dem ein Garten an einen Menschen erinnert, »an den man denkt«, ertönen Stimmen. Doch ertönen sie wirklich? Ist es das Geschehen des Umraums, und nicht das des Schreibraums, das hier wieder Bedeutung gewinnt? Sind die Stimmen solche, die von der Straße her ans Ohr dringen, von den Men24 | SW 17/163-166.
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schen, die sich immer regen, es sei denn, sie schliefen (konjunktivisch)? In der Konsekution des Textes knüpfen die Stimmen an den Garten an und zugleich an einen Menschen, »an den man denkt« – und doch bedeutet das auch, sie knüpfen an einen Menschen an, dessen Stimme man nur zu hören vermeint. Der Text thematisiert den quasi-halluzinatorischen Charakter der Stimmen, die überlagert sind vom Imaginären selbst, als das sich der Text konstituiert. Und das Imaginäre ist, was sich der Macht entzieht, ist das, was – wie die Stimmen – frei flottiert.25 – Wir »lesen diese Stückchen«, hatte Kurt Pinthus 1915 in einer Rezension zu Robert Walsers Buch Kleine Dichtungen geschrieben, »diese Briefchen, Lebensläufe, Begegnungen, Träumereien, Reminiszenzen, Naturstudien mit einer Anteilnahme, die eine melancholische Sehnsucht in sich birgt. Denn vielleicht hat so einst Gott die Welt geträumt.«26 Und im Vorwort der 1919, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg von Kurt Pinthus herausgegebenen kanonisch gewordenen Anthologie expressionistischer Dichtung mit dem Titel Menschheitsdämmerung, in der Texte von Robert Walser erwartungsgemäß nicht enthalten sind, wird es heißen: Die Geisteswissenschaften des ersterbenden 19. Jahrhunderts – verantwortungslos die Gesetze der Naturwissenschaften auf geistiges Geschehen übertragend – begnügten sich, in der Kunst nach entwicklungsgeschichtlichen Prinzipien und Beeinflussungen nur das Nacheinander, das Aufeinander schematisch zu konstatieren; man sah kausal, vertikal. Dieses Buch will auf andere Weise zur Sammlung kommen: Man horche in die Dichtung unserer Zeit …, man horche quer durch, man blicke rund herum, … nicht vertikal, nicht nacheinander, sondern horizontal; man scheide nicht das Aufeinanderfolgende auseinander, sondern man höre zusammen, zugleich, simultan. Man höre den Zusammenklang dichtender Stimmen: man höre symphonisch. Es ertönt die Musik unserer Zeit, […]. 27
Robert Walsers Text Brentano (III) nimmt in dieser Art Synchronizität, in der auch die Reproduktion eigener Texte enthalten ist, als eine Agglomeration von Digressionen,28 als eine Anhäufung von ›Zeichen‹ die Form einer schwer entzifferbaren Hieroglyphe an, in der sich gespenstischere ›Stimmen‹ im Text vernehmen lassen: Es sind poetische Bilder, Motive, Motivteile, die dem eigenen Werk entstammen und die in dieser Umschrift – wie Theaterfiguren, wie dramatis personae – zu neuem Leben erwachen. Sie begründen dabei neue eigene Traditionslinien. Die Texte Robert Walsers sind
25 | Vgl. Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 18. 26 | Kurt Pinthus: »Kleine Dichtungen« [1915], in: Über Robert Walser, hg. v. Katharina Kerr, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1978, S. 103-104, S. 103. 27 | Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus [1920], Hamburg 1959, S. 22. 28 | Vgl. Daniela Mohr: Das nomadische Subjekt, S. 27.
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so auch durchaus Erzählkontinuum,29 wenn auch nicht im Sinne einzelner, von einander unabhängiger, geschlossener Fiktionsräume, sondern eben als Palimpsest und als Konvolut aller Texte: Im Text Brentano (III) sind das Blei der »Bleiplatten«, die »Tänzerinnen«, die »Blumen«, die Augen der Blumen, die neologistische »Umnommenheit« als Kontamination aus ›Umfangenheit‹ und ›Benommenheit‹, das »Kind«, die »Flammen« des Feuers aus vielen weiteren in dieser Studie angeführten Texten bereits bekannt und zugleich von ihrer neuen Textumgebung wieder anders konnotiert. So schwebte das »Schwälbchen« dem Autor einst für jenes ›Miniaturbuch‹ vor, das den Titel Liebe kleine Schwalbe tragen sollte; hier ist es mit dem ebenfalls gut bekannten »Schneeflöckchen verwandt«. Doch dann, so fährt der Text fort, »steht wieder die ganze hochentwickelte Verantwortung vor mir. […] wo sich der Mann in mir gegen seine Wesentlichkeiten erhebt, auf die er begreiflicherweise nicht gut zu sprechen ist. Sanftes und zorniges Instrument, das ich bin, und ich rede, und in allem Reden breitet sich eine Steppe der Stummheit aus, und ich kann schweigen, und es ruft in einem fort daraus auf.« Es zeichnet sich keine lineare Rezessivität ab; »in allem Reden« breitet sich vielmehr »eine Steppe der Stummheit« aus, und während das poetische Ich schweigt, ruft es »in einem fort daraus auf«. Und die Aporien gehen noch weiter. In Robert Walsers Fiktionalisierung heilt der Brentanosche Text die Kranken nicht – wie Jesus es tat; die »Kränklichen«, und das sind bei Robert Walser immer auch die Sehnsüchtigen, werden lediglich tapfer, sie ertragen die Bürde; die Gesunden jedoch sind – in der Shakespeare-Zitation – ›von des Gedankens Blässe angekränkelt‹. Robert Walsers Text und der von ihm ›paraphrasierte‹ Brentanosche Text durchdringen sich unmarkiert. Was zu Verwirrung führt. »Brentano schrieb«, so steht es in Robert Walsers Text zu lesen – und nach einem Doppelpunkt, der den Satz nicht etwa abschließt, sondern auf einen neuen Satz hin öffnet, folgt ohne Anführung der folgende Text: »Ich und einige andere meines Schlages sind der Zeit, worin wir uns umhertreiben, wie Vögel im Käfig, die Flügel nervös an die Stäbe schlagend, vorausgeeilt.« Wie aber lässt sich einer Zeit, in die man eingeschlossen ist, wie die »Vögel im Käfig«, vorauseilen? Der Bruch mit der Logik lässt nur einen Schluss zu: Das nervöse, aussichtslose Flügelschlagen an die Stäbe des Käfigs, diese Bewegung auf kleinstem Raum und in der Berührung mit den Stäben, ist selbst das Vorauseilen. Die Gefangenen sind die aus der Zeit Entlassenen – und aus dem Raum als einem ›Außenraum‹.30 Die Begrenzung durch die 29 | Daniela Mohr dagegen hält, ebd., S. 46, dies Kontinuum auf der Ebene des Textes für obsolet: »Die im Text evozierte Wirklichkeit erscheint als Konglomerat bruchstückhafter und heterogener kleiner Inszenierungen, die beliebig kombinierbar sind und kein Erzählkontinuum konstituieren.« Und: »Die Erzählebenen sind allerdings so komplex verschachtelt und wirken zum Teil derart konstruiert, daß die Unterscheidung von Graden der Fiktionalität obsolet wird.« Ebd., S. 59. 30 | Und dabei scheint wesentlich, dass die Bedeutung von ›Außen‹ in zahlreichen europäischen Sprachen durch ein Wort ausgedrückt wird, das eigentlich einen Auf-
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Stäbe nun, die Buchstaben31, in einem Käfig, den die Schrift bildet – und hier ist auch an die bereits seit dem vierten Jahrhundert bekannten Gittergedichte zu denken – hindert den Flug nicht wirklich. Auch weil die ausgreifenden Bewegungen sich mit einer Revision verbinden, wo es im Text Brentano (III) heißt: »Was Bildung betrifft, muß ich gestehen, daß ich glaube, sie gewinne durch Benutzung.« Das Wort von der »Bildung«, die sich gerade in der »Benutzung« entfalten soll, ist, wie noch durch das utilitaristische Moment hindurch erkennbar bleibt, ein zentrales Motiv der Romantiker. Es geht um ein utopisches Moment, das im 222. Athenäum-Fragment von Friedrich Schlegel aufscheint: »Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte.«32 Und: »Wie wäre es möglich, die gegenwärtige Periode der Welt richtig zu verstehen und zu interpungieren, wenn man nicht wenigstens den allgemeinen Charakter der nächstfolgenden antizipieren dürfte?«33 Die Selbstauslegung der Moderne verdankt sich, so Peter Szondi, in ganz wesentlicher Weise diesem von Friedrich Schlegel beschriebenen Moment der Antizipation.34
enthalt ›in der Tür‹ bedeutet, ›auf der Grenze‹. Bei diesem Außen handelt es sich also nicht um einen Raum, der jenseits eines anderen gegebenen Raumes liegt, sondern um einen Durchgang, einen Zugang, der durch Äußerlichkeit gekennzeichnet ist. Mit einem Wort: Es handelt sich um ein Gesicht. Vgl. Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, S. 64. 31 | In seinen Arbeiten zur Anagrammatik weist Ferdinand de Saussure auf die Etymologie des Buchstabens hin, allerdings um sie abzuwehren: »So also kommt es, daß der Zusammenhang zwischen einem Stab oder stabo und dem PHONEM sich sogar a priori als vollkommen natürlich und klar darstellt, wenn die Poesie die Phoneme zählte; während ich hingegen nie irgendeinen Sinn in stab, stabo als alliterierender Buchstabe, als Buchstabe entdecken konnte, solange ich die übliche Vorstellung von der alliterierenden Dichtung hatte. Warum hätte ein Buchstabe durch ein Stäbchen bezeichnet werden sollen? Ein Geheimnis./Die ganze Frage des stab wäre viel klarer, wenn man sie nicht ärgerlicherweise mit der von buoch (die Buchenrinde, auf die man Schriftzeichen schreiben kann) vermischt hätte. Diese beiden Gegenstände aus dem Pflanzenreich sind in der Angelegenheit der germanischen Schrift vollkommen getrennt, und, wie aus meinen obigen Ausführungen hervorgeht, nehme ich an, daß stab = Phonem früher als jegliche Schrift ist; daß es absolut unabhängig von buoch ist, welches ihm in der heutigen deutschen Zusammensetzung Buchstabe (scheinbar ein ›Stab aus Buche‹) vorhergeht.« Ferdinand de Saussure, Ms. Fr. 3963; zit.n. Jean Starobinski: Wörter unter Wörtern. Die Anagramme von Ferdinand de Saussure, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980, S. 32. 32 | Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Bd. 2, S. 201. 33 | Ebd., S. 248. 34 | Vgl. Peter Szondi: »Friedrich Schlegel und die romantische Ironie«, S. 402.
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Wie aber soll antizipiert werden? Novalis antwortet: »Der Mensch ist gemeine Prosa – er soll höhere Prosa – allumfassende Prosa werden. Bildung des Geistes ist Mitbildung des Weltgeistes […]. Der Geist aber wird durch die Seele gebildet […] Bildung der Seele ist also Mitbildung der Weltseele«, heißt es im Allgemeinen Brouillon.35 Im Roman Heinrich von Ofterdingen wird Bildung zu einem Innewerden von etwas lang Vergessenem; noch der verworrenste Traum stellt sich dar als: »ein bedeutsamer Riß in den geheimnisvollen Vorhang […], der mit tausend Falten in unser Inneres hereinfällt«.36 Um einen Weg nach innen geht es; dass die volle Enträtselung des Traums nicht gelingen kann, ist dabei mitverstanden.37 Und so wird in Robert Walsers Text Der Spaziergang in der Erstfassung aus dem Jahre 1917 auch zu lesen sein: In der schönen Gegend stehend, dachte ich nur an diese selber; alles sonstige Denken sank dahin. Aufmerksam schaute ich auf das Geringste und Bescheidenste, indes der Himmel sich hoch empor und tief herab zu neigen schien. Die Erde wurde zum Traum; ich selbst war ein Inneres geworden und ging wie in einem Innern herum. Alles Äußere verlor sich und alles bisher Verstandene war unverständlich. An der Oberfläche herab stürzte ich in die Tiefe, die ich im Augenblick als das Gute erkannte. Was wir verstehen und lieben, versteht und liebt auch uns. Ich war nicht mehr ich selbst, sondern ein anderer, doch gerade darum erst recht wieder ich selbst. Im süßen Liebeslichte glaubte ich einsehen zu können oder fühlen zu sollen, daß der innerliche Mensch der einzige sei, der wahrhaft existiert. 38
So folgt auch dieser Text jenem Weg nach innen, den Novalis in all seinen Schriften zu bahnen sucht. Dieser Passus Robert Walsers ist von Susanne Andres auf Brentanos Roman Godwi oder das steinerne Bild der Mutter zurückgeführt worden, der in engem Bezug zu Friedrich Schlegels Poetik der Arabeske entstanden und 1801 erschienen ist;39 dort heißt es: Alles verlor seine Gestalt und sank in Einigkeit. Es gab nur einen Himmel und eine Erde, auf ihr wandelte ich, und mein Fuß rauschte im Laube, in des Himmels mildem Glanze ging mein Auge und trank große herrliche Ruhe. O! wem hätte ich sagen können, wie mein Herz war, wer hätte mich verstanden, und das elende Fragment meiner Sprache entziffert, […]?40
35 | Novalis: Schriften, Bd. 3, S. 317. 36 | Ebd., Bd. 1, S. 198f. 37 | Vgl. Marianne Schuller: Romanschlüsse in der Romantik, S. 90. 38 | SW 7/131. 39 | Vgl. Susanne Andres: Robert Walsers arabeskes Schreiben, S. 39. 40 | Clemens Brentano: »Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria«, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hg. v. Konrad Feilchenfeldt et al., Bd. 16, Prosa I, hg. v. Jürgen Behrens et al., Stuttgart u.a. 1978, S. 329.
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Es geht um das elende »Fragment« einer Sprache. Das Fragment aber hat Peter Szondi ganz wesentlich rehabiliert, denn: »Schlegels Erkenntnis: Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung (Athenäum-Fragment 24), wird versöhnlich, indem im Fragment das futurische Element entdeckt wird. Das Fragment wird als Projekt aufgefaßt, als der subjektive Keim eines werdenden Objekts, als Vorbereitung der ersehnten Synthese. Im Fragment wird nicht mehr das NichtErreichte, Bruchstück-Gebliebene gesehen, sondern das Antizipierte, das Versprechen.«41 Obgleich oder gerade weil das Fragment Unterbrechung des Unaufhörlichen ist.42 Mit einer ähnlich paradoxalen Verheißung, in der die Fähigkeit, sich utopisch zu verhalten,43 auf die Erfahrung der Fragilität der eigenen Existenz zurückgeht, hatte Franz Blei in seiner Monographie aus dem Jahre 1904 den Dichter Novalis mit einem Wort aus dem Februar 1797 zitiert: »Frühzeitig habe ich meine prekäre Existenz fühlen gelernt und vielleicht ist dies Gefühl das erste Lebensgefühl der zukünftigen Welt«.44 Der Satz ist doppelt lesbar. Er kann bedeuten, dass Novalis das Lebensgefühl einer zukünftigen Welt avantgardistisch antizipiert, aber auch, dass dieses Gefühl einer prekären Existenz dasjenige ist, was eine zukünftige Welt, was Zukunft überhaupt erst begründen wird. Und diesen »wesentlich utopischen Charakter der Sensibilität der Moderne« hat zuletzt nur noch der Surrealismus herausgestellt, so wird es Giorgio Agamben, wie eingangs dieser Studie zitiert, in den 1980er Jahren, in einer ähnlich changierenden Deutbarkeit, die aus der Genitivform (der deutschen Übersetzung) resultiert, formulieren.45 Wieder ist jene von den Romantikern postulierte Relevanz des Utopischen aufgerufen, die auch Robert Walser aufgespannt hat, nicht nur in seiner rätselhaften Annahme, dass Novalis der zukünftigste Schriftsteller sei, sondern in eigenen Worten: »Ich bin erklärter Freund des Ungewissen.«46
41 | Peter Szondi: »Friedrich Schlegel und die romantische Ironie«, S. 403. 42 | Vgl. Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters, S. 33. 43 | In Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus, schreibt Wolfgang Müller-Funk, S. 9: »Nicht mehr kommt es so sehr darauf an, eine Utopie zu haben als auf die Fähigkeit, sich utopisch verhalten zu können.« 44 | Franz Blei: Novalis, Berlin 1904, S. 27. 45 | Giorgio Agamben: Idee der Prosa, S. 67ff. 46 | SW 7/60.
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Danksagung
Dr. Veit Becker, Heiner Blumenthal, Tanja Dammann, Oliver Dammann, Felix Dammann, Louisa Dammann, Dr. Uta Degner, Dr. Dagmar Deuring, Bernhard Echte, Dr. Marion Gees, Prof. Dr. Wolfram Groddeck, Yvonne Hagen, Wolfgang Haumersen, Dr. Kathrin Hoffmann-Curtius, Dr. Esther Kilchmann, Susanne Klockmann, Gitta Köpke, Paul Köpke, Nora Köpke, Lutz Mathesdorf, Wiebke Mauss, Johannes Ottmar, Prof. Dr. Karl-Josef Pazzini, Inken Reuser, Rasmus Reuser, Kilian Reuser, Dr. Christine Rospert, Barbara Scheffler, Jens-Uwe Scheffler, Heidi Scheffler, Nikolaus G. Schneider, Dr. Dieter Scholz, Margarete Scholz, Prof. Dr. Marianne Schuller, Prof. Dr. Bernhard H.F. Taureck, Sven von der Ohe, Prof. Dr. Michael Wimmer, an Barbara Wolpert und Robert Walser.
Lettre Vittoria Borsò das andere denken, schreiben, sehen Schriften zur romanistischen Kulturwissenschaft (hg. von Heike Brohm, Vera Elisabeth Gerling, Björn Goldammer und Beatrice Schuchardt) 2008, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-821-6
Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Januar 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in Literatur und Film November 2010, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Lettre Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa Januar 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7
Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Literarische Epistemologie (1800-2000) Februar 2010, 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1272-1
Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 Februar 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3
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Lettre Christiane Arndt, Silke Brodersen (Hg.) Organismus und Gesellschaft Der Körper in der deutschsprachigen Literatur des Realismus und Naturalismus (1830-1930) Februar 2011, ca. 180 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1417-6
Anja K. Johannsen Kisten, Krypten, Labyrinthe Raumfigurationen in der Gegenwartsliteratur: W.G. Sebald, Anne Duden, Herta Müller 2008, 240 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-908-4
Manuela Günter Im Vorhof der Kunst Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert
Tom Karasek Generation Golf: Die Diagnose als Symptom Produktionsprinzipien und Plausibilitäten in der Populärliteratur
2008, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-824-7
2008, 308 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-880-3
Wolfgang Hallet, Birgit Neumann (Hg.) Raum und Bewegung in der Literatur Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn
Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit
2009, 414 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1136-6
Christof Hamann, Ute Gerhard, Walter Grünzweig (Hg.) Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848 Migration – kultureller Austausch – frühe Globalisierung 2008, 296 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-966-4
Fernand Hörner Die Behauptung des Dandys Eine Archäologie
Januar 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5
Monika Leipelt-Tsai Aggression in lyrischer Dichtung Georg Heym – Gottfried Benn – Else Lasker-Schüler 2008, 392 Seiten, kart., 37,80 €, ISBN 978-3-8376-1006-2
Elena Stepanova Den Krieg beschreiben Der Vernichtungskrieg im Osten in deutscher und russischer Gegenwartsprosa 2009, 342 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1105-2
2008, 356 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-913-8
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