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German Pages 233 [238] Year 2013
Migration im Gedächtnis
Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Band 16
Sammelbände – Bd. 2
Márta Fata (Hg.)
Migration im Gedächtnis Auswanderung und Ansiedlung im 18. Jahrhundert in der Identitätsbildung der Donauschwaben
Unter Mitarbeit von Katharina Drobac
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10329-9
INHALTSVERZEICHNIS Márta Fata Migration im Gedächtnis Auswanderung und Ansiedlung in der Identitätsbildung der Donauschwaben ..........................................................................................
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I. AUSWANDERUNG UND ANSIEDLUNG IM 18. JAHRHUNDERT János Barta „Pflüg’ mir den Boden, wackre Schwabenfaust“ Die deutsche Einwanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert und ihre Bedeutung für Staat und Gesellschaft........................................................
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Márta Fata „Kirchhof“ versus „Paradies“ Die Auswanderung in Selbstzeugnissen der Kolonisten zur Regierungszeit Josephs II. ..........................................................................
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II. GESCHICHTE – ERINNERUNG – IDENTITÄT Christian Glass Die inszenierte Einwanderung Stefan Jägers Triptychon „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“ und seine Wirkungsgeschichte ..........................................................................
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Ingomar Senz Ansiedlungsfeierlichkeiten in der Batschka Das Beispiel Filipowa 1938 ..............................................................................
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Ferenc Eiler Identität durch Geschichte Die Zeitschrift „Deutsch-Ungarische Heimatsblätter“ (1929–1943) ................
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Katharina Drobac Stefan Kircz, „Die Einwanderer von Tevel“ Ein Lehrstück in Sachen Identitätsbildung ....................................................... 101
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Inhaltsverzeichnis
Ágnes Klein Geschichtsunterricht und „Identitätspolitik“ Grundschulbücher der Deutschen in Ungarn von 1868 bis heute..................... 121 Katalin Orosz-Takács Zwischen Mythos und Realität Historische Kulminationspunkte in Heimatbüchern der ungarndeutschen Vertriebenen ................................................................... 135 III. ORTE DER ERINNERUNG Josef Schwing Ortsnamen als Identitätssymbole Das Beispiel der Schwäbischen Türkei (Ungarn) ............................................. 155 János Krähling Architektur und Gedächtnisgemeinschaft Die Kirchen der evangelisch-lutherischen Deutschen im Komitat Tolnau in Ungarn .......................................................................................................... 169 Márta Fata/Klaus J. Loderer Gedenkkreuz und Ulmer Schachtel Monumentalisierung der Auswanderung und Ansiedlung der Donauschwaben .......................................................................................... 187 Anhang Ortsverzeichnis ................................................................................................. 223 Personenverzeichnis .......................................................................................... 229 Autoren des Bandes .......................................................................................... 233
MIGRATION IM GEDÄCHTNIS
Auswanderung und Ansiedlung in der Identitätsbildung der Donauschwaben Márta Fata 1. MIGRATION, IDENTITÄT UND KULTURELLES GEDÄCHTNIS Im Fokus des vorliegenden Bandes stehen die Konstruktion und Inszenierung der eigenen Vergangenheit einer durch Migration entstandenen ethnischen Gruppe zum Zweck der kollektiven Identitätsbildung mit der Absicht, das gemeinsame Handeln zu fördern. Exemplarisch untersucht wird der Stellenwert der Auswanderung und Ansiedlung im Prozess der Identitätsbildung der sogenannten Donauschwaben. Die Begriffe „Migration“ und vor allem „Identität“, die im Zusammenhang mit den hier gestellten Fragen behandelt werden, haben schon seit Jahrzehnten Konjunktur, es sind, mit Uwe Pörksen gesprochen, „Plastik-Wörter“, deren „Bedeutung als konstant und vom Kontext unabhängig angenommen wird“1. Auch der Begriff „Gedächtnis“ steht seit Jahren nicht nur im Vordergrund kulturwissenschaftlicher Forschungen, sondern ist in aller Munde. Deshalb soll zunächst die Reichweite der drei Begriffe, auf die hier interessierenden Fragen bezogen, geklärt werden. Migration: Untersuchungen zur Demographie- und Sozialgeschichte haben ergeben, dass Wanderungsbewegungen in ihren vielfältigen Erscheinungsformen zu den wichtigsten strukturellen Faktoren der europäischen Entwicklung zu zählen sind.2 Migrationsbewegungen in und aus Europa erreichen zu Zeiten von großen Transformationsprozessen eine besondere Intensität, wie etwa die Massenauswanderung aus Europa nach Amerika im 18. und 19. Jahrhundert. Diese transkontinentale Wanderung lief zum Teil parallel zu einer zunehmenden kontinentalen Wanderung, in deren Rahmen Gebiete in Ostmittel- und Osteuropa einen in seinem Ausmaß bedeutenden Bevölkerungszustrom aus den mittel- und westeuropäischen Gebieten erhielten.3 Diese geplante und legale Immigration, die wiederum ihrem Ziel nach als Siedlungsmigration zu klassifizieren ist, stellte die Grundlage jener Reformprozesse im 18. 1
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Pörksen, Uwe: Sprachlabor. Plastikwörter oder die Mathematisierung der Umgangssprache. In: Fachzeitschrift. Technische Dokumentation 12 (2000), http://www.doku.net/artikel/plastikwoe.htm (15.08.2011); vgl. auch ders.: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur. Stuttgart 1988. Europeans on the Move. Studies on European Migration 1500–1800. Hg. v. Nicholas Canny. Oxford 1994. – Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000. Vgl. Lucassen, Jan/Lucassen, Leo: The mobility transition revisited, 1500–1900: What the case of Europe can offer to global history. In: Journal of Global History 4 (2009), 347–377.
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Jahrhundert dar, die in der östlichen Hälfte der Habsburgermonarchie, in Preußen und Russland im Sinne der kameralistischen Wirtschaftspolitik durchgeführt wurden, um der Gesellschaft durch Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen eine schnellere Entwicklung zu ermöglichen. Die Siedlungsmigration erwies sich als ein überaus erfolgreiches Mittel zum Zweck der Modernisierungsprozesse.4 So konnte die Ansiedlung von deren Akteuren – Regierung, Ständen und vor allem Kolonisten – in der historischen Erinnerung positiv verankert werden und sich mit der Zeit zu einem konstitutiven, Gruppenidentität konstruierenden Narrativ der Siedlergruppe, nicht selten auch der Aufnahmegruppe selbst entwickeln.5 Identität: Ein tragfähiges Konzept der kollektiven Identität liegt bis heute nicht vor.6 Während ein Ansatz die sich im Laufe der Zeit herausbildende und als konstitutiv oder zweckmäßig betrachtete Gleichheit unter den Personen betont, besagt ein anderer Ansatz, dass kollektive Identität multipel, instabil, konstruiert oder vereinbart sei. Auch nach Jan Assmanns weit verbreitetem Konzept ist kollektive Identität ein Konstrukt und eine variable Größe. Er schreibt dazu: „Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ‚an sich‘, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewußtsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.“7
In diesem Sinne ist kollektive Identität ein mehr oder weniger freiwilliges Bekenntnis zu einer ‚Wir-Gruppe‘. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern diese Definition auch etwa für Gruppen in ständischen oder diktatorischen Gesellschaften Geltung hat, wo doch Zugehörigkeit häufig eine ‚Hörigkeit‘, das heißt Abhängigkeit oder Ausgeliefertsein an eine höhere Instanz bedeutet.8 Ebenso ist danach zu fragen, ob die kollektive Identitätsbildung tatsächlich nur von den Wünschen der die Gruppe bildenden Individuen abhängt oder nicht auch durch gegebene Komponenten wie etwa Sprache, Ethnie oder geographische Grenzen und regionale Gege4 5
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Vgl. dazu Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen. Südosteuropa vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Hg. v. Karl-Peter Krauss. Stuttgart 2009. Ein Beispiel dafür ist die Aufnahme der Hugenotten in Preußen; vgl. dazu Schulze Wessel, Martin: Frühneuzeitliche Glaubensflucht: Grenzüberschreitende Zugehörigkeiten und die Mythen von Toleranz und Vertreibung. In: Europa der Zugehörigkeiten. Integrationswege zwischen Ein- und Auswanderung. Hg. v. Rudolf von Thadden, Steffen Kaudelka u. Thomas Serrier. Göttingen 2007 (Genshagener Gespräche 10), 17–32, hier 18 f. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Hamburg 2000. – Brubaker, Rogers: Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg 2007, 46–95. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, 132. Wismann, Heinz: Begriffe der Zugehörigkeit im europäischen Vergleich. In: Europa der Zugehörigkeiten (wie Anm. 5), 11–13. – Spiridon, Olivia: Herta Müllers „Atemschaukel“ im Kontext der literarischen Erinnerungen an die „Russlanddeportation“. In: Gedächtnis der Literatur. Erinnerungskulturen in den südosteuropäischen Ländern nach 1989. Hg. v. Edda BinderIilima, Romanita Constantinescu, Edgar Radtke u. Olivia Spiridon. Ludwigsburg 2010, 367–397.
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benheiten gewissermaßen vorprogrammiert ist.9 Der kleinste gemeinsame Nenner der Definitionsversuche scheint jedenfalls zu sein, dass es sich bei der kollektiven Identität um ein kulturelles Selbstverständnis oder -bild von sozialen Gruppen handelt. Das Selbstbild einer ‚Wir-Gruppe‘ entsteht infolge der ständig stattfindenden Interaktion mit der Umwelt, die Prozesse des Ein- und Ausschließens beinhaltet und wodurch die kollektive Identität in der Tat zu einem Konstrukt und einer variablen Größe wird. Besonders augenfällig sind Grenzziehungen und grenzüberschreitender Austausch im Fall von Einwanderergruppen, die im Spannungsfeld von Aus- und Einwanderung neue Zugehörigkeit(en) und Identität(en) entwickeln.10 Die Migration kann sich für die Einwanderer im Zielland entweder als integrierend in Form von Gruppenbildung oder aber als desintegrierend etwa in Form der Assimilation der Einwanderer auswirken. Die Ursachen für die eine oder die andere Entwicklung sind vielfältig und immer situationsbezogen hinsichtlich der Migranten und der Aufnahmegesellschaft. Die durch Siedlungsmigration entstandenen ethnischen Gruppen beispielsweise entwickelten eine eigene Identität vor allem dann, wenn ihnen ein rechtlicher Sonderstatus eingeräumt wurde wie beispielsweise im Banat. Diese Exklusivität, welche die Siedlergemeinschaften wenigstens anfangs von ihrer Umgebung abhob, konnte später von den Konstrukteuren der kollektiven Identität als Grundlage des eigenen Gründungsmythos hervorgehoben werden. Gedächtnis: Die Fähigkeit des Menschen, aufgenommene Informationen zu behalten, zu ordnen und wieder abzurufen, ist für die Identität des Menschen wie auch der menschlichen Kollektive grundlegend. Die Forschung zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie unterscheidet zwei Formen des kollektiven Gedächtnisses: das kommunikative und das kulturelle.11 Das kommunikative Gedächtnis fußt auf mündlicher Alltagskommunikation, hat eine Reichweite von höchstens drei Generationen und ist wenig strukturiert. Dagegen bedeutet kulturelles Gedächtnis einen qualitativen Sprung ausgewählter mündlicher Erinnerungen der Generationen in die kanonisierte Kultur einer ganzen Gruppe. Die Frage, was in der Vergangenheit so wichtig war, „dass es für alle Zeit im Gedächtnis bleiben muss“12, wird von Gruppe zu Gruppe unterschiedlich beantwortet. Auch Ereignisse einer Großgruppe können von deren Kleingruppen ganz unterschiedlich bewertet und gespeichert werden, das be9 10
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Hroch, Miroslav: Nationale Identität und nicht-nationale Zugehörigkeit. Historische Perspektiven. In: Europa der Zugehörigkeiten (wie Anm. 5), 33–48. Vgl. dazu Wolf, Josef: Donauschwäbische Heimatbücher. Entwicklungsphasen und Ausprägungen. In: Das Heimatbuch. Geschichte, Methodik, Wirkung. Hg. v. Mathias Beer. Göttingen 2010, 129–163. – Beer, Mathias: Kleiner Unterschied – große Wirkung: Der Stellenwert kultureller Differenz im Eingliederungsprozess koethnischer Migranten. In: Co-Ethnic Migrations Compared. Central and Eastern European Contexts. Hg. v. Jasna Čapo Žmegacˇ, Christian Voß u. Klaus Roth. München – Berlin 2010, 101–118. Kultur und Gedächtnis. Hg. v. Jan Assmann u. Tonio Hölscher. Frankfurt a. M. 1988 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 724). Bering, Dietz: Kulturelles Gedächtnis. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg 2001, 329–332, hier 330.
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weist in vielen Fällen die Situation ethnischer Minderheiten innerhalb einer multiethnischen Gesellschaft.13 Die gruppeneigenen Erinnerungen an die Vergangenheit legen das Fundament der Identität der ‚Wir-Gruppe‘. Das kulturelle Gedächtnis einer Gruppe ist immer rekonstruktiv, indem es „ausgehend vom aktuellen Identitätsbedürfnis die Vergangenheit nach Stabilisierendem“14 im Erinnerungsspeicher durchsucht. Dabei wird ein wirkliches historisches Faktum oder ein angenommenes zu einem Mythos konstruiert, der dann als verbindlich gilt. Eine besondere Rolle scheinen Schöpfungs- und Gründungsnarrative als Beginn der gemeinsamen Geschichte einer Gruppe zu spielen. Diese Narrative werden sowohl im kommunikativen Generationsgedächtnis in den Familien mündlich tradiert als auch im kulturellen Gedächtnis der ganzen Gemeinschaft für deren Mitglieder festgelegt, wodurch sie eine herausragende gruppenidentitätsstiftende Funktion erfüllen. Das kulturelle Gedächtnis ist schließlich organisiert, das heißt, es wird von zu dieser Aufgabe berufenen Personen und Institutionen entwickelt, dazu mit Hilfe einer Vielzahl von Methoden – Schriften, Bildern, Denkmälern, Festen – konstruiert und inszeniert und von den Kollektivmitgliedern durch ‚Training‘ – so etwa in Schulen und Vereinen – angeeignet.15 2. DIE DONAUSCHWABEN – ENTWICKLUNG EINER SIEDLER-IDENTITÄT VOM 18. JAHRHUNDERT BIS 1945 Die West-Ost-Wanderung im 18. Jahrhundert trug wesentlich zum Neuaufbau des Königreichs Ungarn nach der Türkenzeit und seiner allmählichen Modernisierung bei. Wichtige Akteure dabei waren die deutschen Siedler, die ihrer Herkunft nach ethnisch wie sprachlich heterogen, konfessionell gespalten und auch in ihrer sozialen Schichtung unterschiedlich waren, wobei sie mehrheitlich den bäuerlichen Unterschichten angehörten. Die von Krone und Ständen angeworbenen deutschen Siedler erhielten den Kolonistenstatus mit dem Recht auf Freizügigkeit und umfassende Gemeindeautonomie, was sie in der Regel von den einheimischen Bauern unterschied. Ansonsten war ihre Ansiedlung vom Ofner Bergland bis ins Banat16 regional unterschiedlichen Bedingungen unterworfen, weshalb die Kolonisten weder untereinander noch mit den Deutschen, die seit dem Mittelalter im Königreich ansässig waren, eine Gemeinschaft bildeten. Die Siedler waren sich zwar ihrer Migrationsgeschichte bewusst, doch das Bild der regionalen Urheimat und die Erinnerung an die genauen Wanderungsumstände verblassten schnell angesichts der Auf13 14 15 16
Vgl. dazu Heimatsachen. Donauschwäbische Grüße zum baden-württembergischen Geburtstag. Hg. v. Reinhard Johler, Josef Wolf u. Christian Glass. Tübingen 2012. Bering (wie Anm. 12). Ebd. Als Siedlungsgebiete sind im 18. Jahrhundert die Regionen Banat, Batschka, Sathmar, das südliche Transdanubien (Komitate Branau/Baranya, Tolnau/Tolna, Schomodei/Somogy, auch als Schwäbische Türkei bezeichnet), der Bakonyer Wald nördlich des Plattensees und das Bergland um Ofen/Buda entstanden. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstanden weitere Siedlungen mit Deutschen in Slawonien und Syrmien.
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gaben der Existenzgründung. So berichtete der Obmann der Banater Schwaben Kaspar Muth (1876–1966) in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Weder Großvater, noch Großmutter konnten mir sagen: von wo, aus welchem Dorfe Deutschlands ihr Großvater oder Urgroßvater ausgewandert sei. Und Großvater und Großmutter waren doch erst das dritte Geschlecht nach der Einwanderung. Dieses Dunkel fand ich beinahe bei allen Banater Schwabenfamilien.“17
Zur Lebensstrategie der Kolonisten und ihrer Nachkommenschaft gehörte das wirtschaftliche Fortkommen, dessen Grundlagen in der eigenen und der familiären Arbeitskraft erachtet wurden. Johann Eimann (1764–1847), Kolonist aus der Kurpfalz und ein geschulter Mann, schrieb 1822 aus der zeitlichen Distanz einer Generation über seine unter Joseph II. eingewanderten Landsleute in der Batschka: „Kaum waren […] die Frey-Jahre verschwunden und die Separation vollzogen, mithin das schwerfällige Deutschländische beseitiget, abgewöhnet und ein hoffnungsvollerer Wirkungskreis vor Augen gestellet, so erwachte der angeborene Fleiß – und von derselben Zeit fing Neu-Siwatz an zu blühen […].“18
Auch der Grundbesitzer und ungarische Dichter Dániel Berzsenyi (1776–1836) beobachtete bei den deutschen Kolonisten besondere Eigenschaften: „[I]ch gestehe, dass ich einige Barbarei darin sehe, wenn der Deutsche durch sein Weib und seine Tochter dreschen, mähen, ackern usw. lässt, obzwar ich andererseits auch das gestehen muss, dass einen großen Teil des deutschen Fleißes eben das ausmacht, dass an einer jeden Arbeit beide Geschlechter gleichmäßig teilnehmen, und während der Ungar den Winter hindurch nur raucht und pfeift, der Deutsche mit den Weibern spinnt, strickt, näht.“19
In der Petition der Banater Schwaben vom 2. Oktober 1849, die mithilfe des Bogaroscher katholischen Pfarrers Josef Novak verfasst wurde, definierten sich die Schwaben selbst durch Arbeit und Fleiß: „Arbeit war unser Element, das Stückchen Feld das wir bebauten unsere Welt, das einzige Ziel nach welchem wir gemeinschaftlich strebten, war: Fleißige Bauern und treugehorsame Untertanen zu sein.“20 Ebenso beschrieb 1844 der Pressburger Journalist Eduard Glatz (1812–1889) den deutschen Einwanderer als „arbeitsam, industriös, an rationelle Bewirthschaftung gewöhnt“, der „überhaupt auf einer höheren Culturstufe [steht], als unser übriges Landvolk; er ist friedlich und ordnungsliebend, akklimatisiert sich leicht und lebt sich schnell in fremde Sitten und Verfassungsformen ein“21. Glatz beobachtete zugleich auch den Willen der Siedler zur Integration und charakterisierte sie als 17 18 19 20 21
Muth, Kaspar: Auf der Ahnensuche. In: ders.: Deutsches Volkwerden im Banat. Reden und Aufsätze Dr. Kaspar Muth’s. Hg. v. Josef Riess. Timişoara 1935, 22–28, hier 22. Eimann, Johann: Der deutsche Kolonist oder die deutsche Ansiedlung im Bácser Komitat. Crvenka 1928, 76. Berzsenyi, Dániel: A magyarországi mezei szorgalom némely akadályairul. 1833 [Über die Hindernisse der Agrarwirtschaft 1833]. In: Berzsenyi Dániel összes művei. Hg. v. Oszkár Merényi. Budapest 1968, 329–357, hier 340. Hier zit. nach Seewann, Gerhard: Geschichte der Deutschen in Ungarn. Bd. 1: Vom Frühmittelalter bis 1860. Marburg 2012, 386. Glatz, Eduard: Portfolio oder Beiträge zur Beleuchtung ungarischer Zeitfragen. Leipzig 1844, 234.
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Vertreter des Typus der „Hungarus“-Identität, dessen Hauptmerkmale eine feste Verankerung im ungarischen Königreich und die Anerkennung gemeinsamer Interessen unabhängig von Sprache und Abstammung waren. Er schrieb dazu: „[Die Siedler] fühlen sich als Ungarn, wenn auch der gemeine Mann kaum dazu kommt, sich von diesem Gefühle Rechenschaft zu geben – sie verwachsen mit allen einheimischen Interessen, sie ungarisieren sich in staatsbürgerlicher Beziehung sowohl, als auch in socialer, Letzteres, in sofern sie mehr oder minder von der Landessitte annehmen; für sie ist längst das Mutterland zum Auslande geworden.“22
In diesen Selbst- und Fremdbeschreibungen erscheinen die Siedler als ein Kollektiv, das durch eine gemeinsame Lebens- und Zukunftsstrategie gekennzeichnet ist und als solches auch von seiner Umgebung wahrgenommen wird. Das friedliche Zusammenleben konfessionell wie ethnisch verschiedener Bevölkerungsgruppen in Ungarn – vom Polyhistor Johann von Csaplovics (1780– 1847) als „Europa im Kleinen“23 beschrieben – nahm infolge des Nationsbildungsprozesses ein Ende, der mit der Entstehung des ungarischen Nationalstaates 1867 abgeschlossen war. Die ungarische Nationalstaatselite strebte nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich immer stärker danach, alle Bereiche des öffentlichen Lebens mithilfe der Sprache zu nationalisieren. Damit forderte der ungarische Nationalismus die ethnischen Gruppen heraus, sich entweder zu assimilieren oder für eine eigene Identitätsbildung verstärkt einzutreten. Letzteres führte unausweichlich zu Gegensätzen und Separation. Der ungarische Sprachnationalismus erfasste zunächst die Städte, dann allmählich auch die Dörfer, und die Minderheitensprachen wurden bis 1910 aus der Verwaltung, dem kulturellen Leben und den Schulen zunehmend verdrängt. Gegen den Assimilationsdruck lehnten sich unter den Deutschen nur einige Intellektuelle auf, die damit jedoch bei den deutschen Bürgern der Städte kaum Resonanz fanden. Deshalb wandten sie sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verstärkt den schwäbischen Orten in Südungarn zu. In der Batschka und im Banat entstanden infolge der Agrarkonjunktur und der Urbanisierung im 19. Jahrhundert Ackerbürgerstädte mit eigener Intelligenzschicht aus den Reihen der ethnischen Minderheiten, vor allem der Serben und der Deutschen. Doch nur wenige von den Deutschen waren zunächst für deutschnationale und völkische Gedanken zu mobilisieren.24 Der programmatische Aufruf des Redakteurs und Inhabers der „Gross-Kikindaer Zeitung“ Arthur Korn (1860–1928) „Rüttle Dich! Recke Dich, schwäbischer Bauer!“25 führte 1906 zwar zur Gründung der „Ungarländischen Deutschen Volkspartei“ mit etwa 4.000 Unterschriften. Doch die Bauern in den Dörfern verzichteten weiterhin freiwillig auf ihre deutschen Gemeindeschulen, indem sie die Einführung 22 23 24 25
Ebd., 239 f. Csaplovics, Johann von: Das Königreich Ungern ist Europa im Kleinen. In: Erneuerte Vaterländische Blätter für den Österreichischen Kaiserstaat 13 (1820), 408–418. Steinacker, Edmund: Lebenserinnerungen. München 1937 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung des Deutschen Volkstums im Süden und Südosten in München 13), 137 f. Zit. nach Pukánszky, Béla: Német polgárság magyar földön [Das deutsche Bürgertum in Ungarn]. Budapest 2000, 167.
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staatlicher Schulen zuließen, um so Kosten einzusparen. Ein deutsches Bewusstsein war bei den Bauern latent vorhanden, davon war Edmund Steinacker (1839–1929) – Glatz’ Schwiegersohn, Parlamentsabgeordneter in Budapest und Organisator der völkischen Bewegung – überzeugt. Dies äußerte sich seiner Ansicht nach in dem „Stolz“ der schwäbischen Bauern „auf einen höheren Kulturgrad“.26 In der Tat war die Alphabetisierung bei den Deutschen in Ungarn neben den Juden am meisten verbreitet und selbst Bauern ließen gerne einen ihrer Söhne studieren mit dem Ziel, Pfarrer oder Lehrer zu werden. Doch die konstitutiven Elemente des Selbstbildes der Schwaben waren weiterhin Bauernfleiß und Arbeitsamkeit.27 Beide Bewegungen, deutschungarische und deutschnationale, appellierten deshalb weiterhin an dieses Selbstbild, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Die deutschungarische Richtung verband die alten Kolonistentugenden nach wie vor mit der Loyalität zum Staat. Stefan Augsburger (1840–1893) – aus Filipowa in der Batschka stammender Priester, zwischen 1875 und 1884 Abgeordneter des Hodschager Wahlbezirkes im ungarischen Parlament und zugleich Dichter, der sich nach seinem Theologiestudium unter dem Namen István Rónay magyarisieren ließ – kehrte die Bedeutung der deutschen Siedler für die Landesentwicklung hervor. Er setzte die Helden auf dem Schlachtfeld mit den Helden auf ihrem zu bestellenden Feld gleich und pries die Siedler als „Kinder des Friedens und Helden der Arbeit“, die das Land nicht mit Waffen, sondern mit Spaten und Pflugschar erobert hätten.28 Mit dieser Anspielung an die Aufbauarbeit nach der Osmanenzeit werden hier erstmals die bäuerlichen Ahnen zu Helden stilisiert. Auch Dompropst Franz Blaskovics (1864–1937) – Vizepräsident des „Südungarischen landwirtschaftlichen Bauernvereins“ und ebenfalls Abgeordneter in Budapest – lobte 1910 die Fähigkeit der Kolonisten, die wie einst „die Israeliten […] durch die Wüste in das gelobte Land zogen“29, zur Anpassung an die Wahlheimat durch Fleiß und Arbeit. Anlässlich der Enthüllungsfeier des Gemäldes „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“, einer Ikone der Identität der Banater Schwaben, erklärte er: „Die mehr als 100-jährige Geschichte lehrt es, daß sie mit ganzem Herz und ganzer Seele dem ungarischen Vaterlande angehören, und eben darum und nur darum, weil sie sich vollkommen akklimatisiert haben, ist ihr Stamm nicht ausgedörrt. […] Wir müssen unseren Söhnen nebst Übung der Gottestugenden, Festhalten an Redlichkeit, Bürgersinn, Fleiß und Mannesmuth, hauptsächlich aber Anhänglichkeit zum ungarischen Vaterland lehren.“30
Das bei Rónay und Blaskovics zum Ausdruck kommende Identitätsverständnis bezieht sich auf das traditionelle Bild der Schwaben. Die völkische Bewegung ver26 27 28 29 30
Ebd., 138. Vgl. u. a. Deutsches Bauernleben im Banat. Hausbuch des Mathias Siebold aus Neubeschenowa, Banat 1842–1878. Hg. v. Hans Diplich. München 1957 (Veröffentlichungen des Südostdeutschen Kulturwerks, Reihe B, 6). Batschsentiwan. Kirchenchronik St. Johannes der Täufer. 1788–1988. O. O. 1989, 163. Dold, Stefan: Die Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen in Südungarn. Kurzgefasste Gelegenheitsbroschüre zur Bildenthüllung in Gyertyámos am 15. Mai 1910. Temesvár o. J., 2. Aufl. [11910], 21. Ebd., 22 f.
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suchte dagegen, die alten Kolonistentugenden als spezifisch deutsche Eigenschaften zu verklären, und machte damit die Abstammung zum Kriterium der Gruppenzugehörigkeit der Schwaben. Der aus dem Banat stammende, aber in Wien lebende Journalist und Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn (1852–1923) beschrieb in seinem 1909 entstandenen, als „Nationallied“31 der Schwaben konzipierten „Banater Schwabenlied“ die Kolonistennachfahren als deutschen Neustamm in der Ferne: „Es brennt ein Weh, wie Kindertränen brennen, / Wenn Elternherzen hart und stiefgesinnt. / O, daß vom Mutterland uns Welten trennen / Und wir dem Vaterland nur Fremde sind. […] / Von deutscher Erde sind wir abgeglitten / Auf diese Insel weit im Völkermeer. / Doch wo des Schwaben Pflug das Land durchschnitten, / Wird deutsch die Erde, und er weicht nicht mehr. / […] Sein eigner König rief ihn einst in Ehren: / ‚Pflüg’ mir den Boden, wackre Schwabenfaust!‘ / Aus einer Wüste ward ein blühend Eden, / Aus Sümpfen hob sich eine neue Welt. / Von diesem Land laßt deutsch und treu uns reden, / Verachten den, der’s nicht in Ehren hält. / O Heimat, deutschen Schweißes stolze Blüte, / Du Zeugin mancher herben Väternot, / Wir segnen dich, auf daß dich Gott behüte, / Wir stehn getreu zu dir in Not und Tod!“32
Der schwäbische Bauer wird in dem bald vom „Wiener Schwabenverein“ nachgedruckten und verbreiteten Gedicht zum Kulturträger schlechthin stilisiert, der allein berufen sei, aus der angeblich menschenleeren und versumpften Wüste eine blühende Landschaft zu schaffen. Müller-Guttenbrunn konstruiert hier den Schöpfungsmythos einer Creatio ex nihilo, der die Kulturträger-Mission der deutschen Kolonisten mit dem Sendungsbewusstsein der Deutschen verbindet und der – wie der Historiker Gerhard Seewann für den völkischen Identitätstypus feststellt – „auf dem rassistisch begründeten Axiom von der Herrenmenschen-Überlegenheit der eigenen und der Minderwertigkeit der fremden Kultur beruht“33. Das unter dem Assimilationsdruck entwickelte Identitätskonzept, wie es etwa Müller-Guttenbrunn vertritt, gründet sich in der gemeinsamen Abstammung, Herkunft, Blutsverwandtschaft und historischen Mission der schwäbischen Gemeinschaften mit dem Ziel der kulturellen ‚Ethnifizierung‘. Bis 1918 wurde das deutschungarische Selbstverständnis der Schwaben durch ein auf völkischen Ideen beruhendes Selbstbild jedoch nicht abgelöst, weil für die Gruppe zunächst noch keine Notwendigkeit bestand, eine neue Orientierung zu suchen.34 Erst nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich die Einstellung der Schwaben zur eigenen ethnischen Zugehörigkeit infolge der staatlichen Neuordnung in Ostmittelund Südosteuropa, welche die Schwaben vor neue Herausforderungen stellte. Als 1918 die Donaumonarchie zerbrach und die deutschen Siedlungsgebiete durch die 31 32 33
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Müller-Guttenbrunn, Adam: Der Roman meines Lebens. Aus dem Nachlaß zusammengestellt von seinem Sohne. Leipzig 1927, 274. Ders.: Das „Banater Schwabenlied“. In: ders.: Die Glocken der Heimat. Leipzig 1910, 146 f. Seewann, Gerhard: Siebenbürger Sachse, Ungarndeutscher, Donauschwabe? Überlegungen zur Identitätsproblematik des Deutschtums in Südosteuropa. In: Siedler-Identität. Neun Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Christof Dipper u. Rudolf Hiestand. Frankfurt a. M. u. a. 1995, 181–195, hier 185. Schödl, Günter: Alldeutscher Verband und deutsche Minderheitenpolitik in Ungarn 1890– 1914. Zur Geschichte des deutschen „Extremen Nationalismus“. Frankfurt a. M. 1978 (Erlanger historische Studien 3), 14 f.
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Grenzen der Nachfolgestaaten zerschnitten wurden, erwuchs in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien erstmals ein die Siedlungsregionen übergreifendes Gruppenbewusstsein, das sich an der Idee der deutschen Volksgemeinschaft orientierte. Zu dem bis zur Jahrhundertwende dominierenden Identitätstypus des Deutschungarn mit seinem staatspatriotischen Bewusstsein trat nunmehr der Typus der deutsch-völkischen Identität, der auf die Vorstellung einer mythischen Creatio ex nihilo zurückgriff. Kaspar Muth, Obmann der Banater Schwaben, erklärte 1928 die Ansiedlung der deutschen Kolonisten als ein von Gott gewolltes, unvermeidbares Schicksal: „Der Allmächtige hat uns hierher verpflanzt, um ein lebendes, webendes Glied in der großen germanischen Kultursendung zu sein.“35 Sein Nachfolger Josef Rieß (1895–1943) wiederum hielt 1935 fest, die Türken seien „im Südosten mit deutschem Schwert […] vertrieben und der menschenleere Karpathenraum lechzte nach Besiedlung und nach politischer Neugestaltung“36. Dass solche Vorstellungen nach 1918 auch auf den Dörfern schnell rezipiert wurden, belegen unter anderem die Aufzeichnungen des Schmiedemeisters Peter Treffil (1858–1935) im Banater Dorf Triebswetter. Treffil verfasste in der Zwischenkriegszeit die Chronik seiner Gemeinde und im Zusammenhang mit dem dort 1872 gefeierten Ansiedlungsfest notierte er retrospektiv: „Sie [i. e. die Kolonisten; Anm. d. Verf.] haben gekämpft in trüben und heiteren Tagen, mit Mühen und Plagen, und ließen uns nach schwerer 100jähriger Arbeit das einst gar nichts gewesen als Sumpf und Gestrüpp, das blühende Triebswetter zum Erbgut.“37 In die Banater Dörfer wurde dieses Geschichtsbild gerade mithilfe der Siedlungsromane von Adam Müller-Guttenbrunn transportiert,38 der für die Banater mehr als ein Heimatdichter war; er war, wie Kaspar Muth schrieb, „für alle Zeiten der Priester, der große nationale Seelsorger und Prediger“39. Ein Meistererzähler also, dessen Geschichten die Volksgemeinschaft schmiedeten und der als solcher selbst sakralisiert wurde.40 Die Konkurrenz beider Identitätskonzepte – des traditionellen, das heißt zur jeweiligen Staatsnation loyalen, einerseits und des radikalisierten, also ausschließlich zum eigenen Volkstum treue, andererseits – spaltete im Verlauf der 1930er Jahre die deutschen Dorfgemeinschaften in allen drei Staaten und führte zu Auseinandersetzungen innerhalb der eigenen Gruppe wie auch mit den andersethnischen Gruppen. Ein dritter Weg, der beide Loyalitäten miteinander zu verbinden suchte, musste nach Hitlers Machtergreifung 1933 zwangsläufig scheitern, wie etwa das 35 36 37 38
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Muth, Kaspar: Die deutsche Sendung. In: ders. (wie Anm. 17), 79. Riess, Josef: Zum Geleit. In: Muth (wie Anm. 17), 3. Das Treffil Buch. Hg. v. Heinz Vogel. Temesvar 1999, 563 W. Seine Bücher wurden auch in den Dörfern gelesen, beispielsweise war die Novelle „Der kleine Schwab‘“, ein donauschwäbischer Schelmenroman, in der Zwischenkriegszeit Schulbuchlektüre; vgl. dazu Fassel, Horst: Adam Müller-Guttenbrunn. In: Ostdeutsche Gedenktage 1998. Persönlichkeiten und historische Ereignisse (1997), 21–25, hier 23. Muth, Kaspar: Rede, gehalten bei der Enthüllung des Grabdenkmales Adam MüllerGuttenbrunn’s in Wien am 15. Mai 1927. In: ders. (wie Anm. 17), 97. Als 1921 am Geburtshaus von Müller-Guttenbrunn in Guttenbrunn eine Gedenktafel zu Ehren des Schriftstellers eingeweiht wurde, schrieb er selbst am 22. Mai 1921: „Ich wurde zum Dorfheiligen (so eine Art St. Nepomuk) von Guttenbrunn ernannt, und man behauptete, dieses Dorf sei fortan ein Gnadeort der Schwaben.“ Zit. nach Müller-Guttenbrunn (wie Anm. 31), 308.
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Beispiel von Jakob Bleyer (1874–1933), dem Vertreter der Deutschen in Ungarn, zeigte.41 Der aus einer schwäbischen Bauernfamilie in der Batschka stammende Germanist, Minister für nationale Minderheiten und Abgeordnete im Budapester Parlament war von der Vereinbarkeit einer doppelten Loyalität zum ungarischen Staat und zur deutschen Muttersprache und ethnischen Identität fest überzeugt. Als Abgeordneter kämpfte er für die Rechte der ethnischen Minderheiten wie den Muttersprachenunterricht und die kulturelle Organisation der Ungarndeutschen. 1921 gründete er die Wochenzeitung „Sonntagsblatt für das deutsche Volk in Ungarn“, 1923 den „Ungarländischen Deutschen Volksbildungsverein“ sowie 1929 die „Deutsch-Ungarischen Heimatsblätter“. Doch sein Programm, die kulturelle Identität der Ungarndeutschen zu bewahren und die Legitimität dieses Programms durch die ungarische Regierung und Gesellschaft anerkennen zu lassen, wurde im Trianon-Ungarn als Zeichen einer staatsbürgerlichen Illoyalität gewertet. Die auf Diskriminierung und Unterdrückung ausgerichtete Nationalitätenpolitik der Regierungen vor allem in Ungarn und Jugoslawien42, aber zum Teil auch in Rumänien führte zur politischen Radikalisierung der deutschen Minderheiten, wobei sie von Deutschland unterstützt wurden. Dadurch wurden jedoch die gerade gewünschten Kompromisse mit den selbst zunehmend autoritären Regimes kaum mehr möglich, deshalb suchten die deutschen Politiker aus ihrer festgefahrenen Lage heraus einen Ausweg durch eine noch stärkere Anbindung ihrer Politik an das Deutsche Reich. Sie übernahmen dabei die Leitideen und Rhetorik des „Dritten Reichs“ wie die „Blut-und-Boden“- oder die „Lebensraum“-Ideologie und prägten dadurch das Geschichts- und Selbstbild der Schwaben. Auch ein den neuen Vorstellungen angepasster Schöpfungsmythos entstand. So wurde etwa von den Anführern der Banater Volksgruppe, die dem Nationalsozialismus anhingen, behauptet, dass die Vertreibung der Türken aus dem Karpatenraum „die äußeren Voraussetzungen [geschaffen hatte], nicht nur zur großzügigen deutschen Kolonisation, sondern auch zur nationalen Durchdringung und politischen Eingliederung des Karpathenraumes in den deutschen Lebensraum“43. Die Weiterentwicklung der Identität der Donauschwaben in allen drei Staaten erfolgte nach 1933 – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – im Sinne „der
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Vgl. dazu die Ausführungen von Gustav Gratz in: Augenzeuge dreier Epochen. Die Memoiren des ungarischen Außenministers Gustav Gratz 1875–1945. Hg. v. Vince Paál u. Gerhard Seewann. München 2009 (Südosteuropäische Arbeiten 137), 489–497. – Auch Bleyer verfasste 1922 ein „Schwabenlied“ als Ausdruck des Selbstbildes der Deutschen in Ungarn, worin es u. a. heißt: „Dem Ahnenerbe bleib’ der Enkel treu, / Der Schwabenart, dem deutschem Wort; / Treu auch in jeder Not, von Arglist frei, / Dem Bruder Ungar immerfort!“ Zit. nach Fittbogen, Gottfried: Stammeslieder deutscher Volksgruppen im Südosten. In: Südostdeutsche Forschungen 1 (1936), 173–193, hier 186. Bethke, Carl: Die Deutschen der Vojvodina, 1918 bis 1941. In: Daheim an der Donau. Zusammenleben von Deutschen und Serben in der Vojvodina. Ausstellungskatalog, Muzej Vojvodine, Novi Sad, und Donauschwäbisches Zentralmuseum, Ulm. Hg. v. Muzej Vojvodine und Stiftung Donauschwäbisches Zentralmuseum. Novi Sad 2009, 196–208. Riess (wie Anm. 36), 3 f.
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importierten, aggressiven Volksgemeinschaftsideologie in Richtung Segregation“44, was die traditionell auf friedliches Zusammenleben bedachte Siedlergemeinschaft 1945 in die Katastrophe führte. Die Segregation wirkte auch innerhalb der dreigeteilten Gemeinschaft der Donauschwaben, weshalb der Begriff „Donauschwabe“ – in den frühen 1920er Jahren von dem Grazer Geographen Robert Sieger geprägt und vom Geographen Hermann Rüdiger, seit 1923 Mitarbeiter des Stuttgarter Ausland-Instituts, verbreitet45 – eine politische Behelfsbezeichnung für die deutsche Außenpolitik, aber keine Eigenbezeichnung der Ungarndeutschen, Batschkaer, Sathmarer und Banater Schwaben darstellte. Erst die Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland übernahmen ihn als Eigenbezeichnung unter Beibehaltung ihrer alten Benennungen als Ausdruck der weiterhin existierenden und bewusst gepflegten spezifischen Identitäten. 3. MITTEL DER IDENTITÄTSBILDUNG – ZU DEN THEMEN DES BANDES Die Donauschwaben stellen eine ethnische Gruppe dar, die sich durch ihre Genese – die freiwillige Auswanderung und Ansiedlung im 18. Jahrhundert – definiert. Diese ging in das kollektive Bewusstsein der ‚Wir-Gruppe‘ als Erfolgsgeschichte ein. Umso erstaunlicher ist es, dass die historische Forschung diesen signifikanten identitätsstiftenden Faktor bisher nicht systematisch analysiert hat. Der vorliegende Band, der aus der 2008 veranstalteten Jahrestagung des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde hervorging, setzt sich deshalb zum Ziel, den Stellenwert des Migrationsprozesses im kollektiven Gedächtnis der Donauschwaben an ausgewählten Beispielen zu untersuchen. Die Grundidee beruht auf der Prämisse, dass Identität über einschneidende historische Ereignisse, kulturelle Symbole und diskursive Formationen bestimmt und gefestigt wird. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie der Entstehungsmoment der ‚Wir-Gruppe‘ im kollektiven Gedächtnis gespeichert wurde und welche Formen und Wege der Konstruktion und Inszenierung dieses identitätsstiftenden Elements aufzuzeigen sind. Entsprechend dem transdisziplinären Begriff „Identität“ erfolgt die Herangehensweise an die Fragen multidisziplinär. Im ersten Teil des Bandes werden Einwanderung und Ansiedlung der deutschen Kolonisten in Ungarn im 18. Jahrhundert sowohl aus der Perspektive des Staates als auch der Kolonisten selbst dargestellt. János Barta zeigt in seinem Beitrag Ziele und Ergebnisse der von Krone und Ständen planmäßig durchgeführten Ansiedlung im 18. Jahrhundert auf. Márta Fata weist in ihrem Beitrag nach, dass die gewährten Begünstigungen zur Lebensstrategie der Kolonisten in der Ferne gehörten. Nicht Propagandaschriften, sondern die besseren Angebote für Kolonisten waren bei der Wahl der Auswanderungsrichtung einzig entscheidend. Hatten sich die Auswanderer für ein Einwanderungsgebiet entschieden, so sahen sie sich nicht 44 45
Seewann (wie Anm. 33), 187. Ebd., 183.
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als Kulturpioniere, sondern als Vertragspartner der Organisatoren der Ansiedlung mit allen Rechten und Pflichten. Im zweiten Teil des Bandes werden Mittel und Methoden der Identitätsbildung an ausgewählten Beispielen dargestellt. Der zeitliche Schwerpunkt der Analysen liegt zwischen dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 und 1945, als neben der traditionellen Siedleridentität ein neues Identitätskonzept erschien und beide Konzepte – das alte, staatspatriotische und das neue, völkische – konkurrierend zueinander auftraten. Christian Glass stellt in seinem Beitrag die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des 1910 von Stefan Jäger gemalten Einwanderungsbilds mit dem Titel „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“ dar, mit welchem sich ursprünglich die deutschungarischen Staatspatrioten sehr stark identifiziert hatten, das jedoch nach 1920 im Sinne der völkischen Identität umgedeutet und zur Ikone der Banater Schwaben schlechthin wurde. Wie das Einwanderungsbild so waren auch die Ansiedlungsfeierlichkeiten im Banat und in der Batschka in der Zwischenkriegszeit Mittel, mit deren Hilfe das Zusammengehörigkeitsgefühl der schwäbischen Gemeinschaft gestaltet und gefestigt werden konnte. Das von Ingomar Senz vorgestellte Fest in Filipowa von 1938 zeigt außerdem, das es auch innerhalb beider Identitätskonzepte unterschiedliche Ansätze gab. So bedeutete ethnische Identität nach 1933 nicht automatisch eine Identifikation mit der importierten nationalsozialistischen Ideologie. Geschichte wird zumeist in der Absicht konstruiert, ausgewählte Ereignisse ins Bewusstsein einer Gruppe zu rücken und zu einem bestimmten Zweck umzudeuten. Diese Umdeutung der Geschichte wurde nach 1920 von Intellektuellen der nunmehr dreigeteilten schwäbischen Gruppe vorgenommen. Die unterschiedlichen Voraussetzungen in den drei Staaten brachten voneinander abweichende Identifikationsangebote hervor und verschiedene Mittel zum Einsatz. Ferenc Eiler zeigt in seinem Beitrag die Bemühungen des Universitätsprofessors Jakob Bleyer in Ungarn, wo das traditionelle Selbstbild nach wie vor stark wirkte. Bleyer versuchte mit Hilfe der von ihm gegründeten interdisziplinären Zeitschrift „Deutsch-Ungarische Heimatsblätter“ und der darin behandelten, scheinbar unpolitischen Ansiedlungsgeschichte den Gruppenbildungsprozess der Ungarndeutschen zu fördern. Katharina Drobac widmet sich in ihrem Beitrag literarischen Identitätskonstruktionen und untersucht das Theaterstück „Die Einwanderer von Tevel“ des Dorfschullehrers Stefan Kircz in Ungarn sowie in einem vergleichenden Exkurs den Einakter „Schwaben“ von Karl von Möller in Rumänien. Die unterschiedlichen Intentionen in Bezug auf Identität und Geschichte der deutschen Bevölkerungsgruppe werden aufgezeigt und Vergleiche mit aktuellen Diskursen vorgenommen. Im Beitrag von Ágnes Klein geht es um die normativen Fragen der Bildungspolitik anhand des durch die Schule vermittelten Wissens über die Ansiedlungsgeschichte und darüber hinaus um das durch den Unterricht transportierte Selbstbild der Ungarndeutschen. Die von der Autorin festgestellten restriktiven Maßnahmen und Mängel im staatlichen Unterrichtswesen ergaben für die Ungarndeutschen ein diffuses und unvollständiges Geschichtsbild, das für die Identitätsbildung keine gute Voraussetzung sicherte. Katalin Orosz-Takács untersucht in ihrem Beitrag die Heimatbücher der ungarndeutschen Vertriebenen. Das Heimatbuch wird in Anbe-
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tracht des mitgebrachten selektiven Geschichtswissens der Autoren – etwa über die Anfänge der Geschichte der deutschen Kolonisten in Ungarn – und des erfahrenen Heimatverlustes – in den Augen der Autoren das Ende donauschwäbischer Geschichte – zu einem Erinnerungsort, in dem Ansiedlung und Vertreibung eine Einheit bilden und sich aufeinander beziehen. Im dritten Teil des Bandes werden ausgewählte Orte dargestellt, welche als symbolische Zeichen in der Landschaft die Identität der deutschen Siedler markier(t) en und damit festig(t)en und an welchen sich zugleich das kollektive Gedächtnis der Ungarndeutschen anhand der Siedlungsgeschichte kristallisiert(e). Josef Schwing zeigt anhand der mundartlichen Benennungen der von den Deutschen im 18. Jahrhundert besiedelten Ortschaften auf, wie die Ortsnamen die Erinnerung an die Herkunftsregion der Siedler bewahren. János Krähling stellt anhand der lutherischen Kirchen der Deutschen im Komitat Tolnau dar, wie Architektur das Selbstbild in einem konfessionell und ethnisch heterogenen Gebiet gefestigt und bewahrt hat. Die einst lebendigen Orte von Gedächtnisgemeinschaften sind allerdings heute teilweise verlassen und stellen somit gewissermaßen negative Erinnerungsorte der Siedlungsgeschichte der Deutschen dar. Im letzten Beitrag stellen Márta Fata und Klaus J. Loderer historische und neuere Aus- und Einwanderungsdenkmäler der Donauschwaben im internationalen Vergleich vor. Dabei ist es eine umgekehrte Entwicklung festzustellen: Während in der Zwischenkriegszeit in der jugoslawischen Batschka Einwanderungsdenkmäler errichtet wurden, werden neuerdings in Ungarn Denkmäler zur Erinnerung der Einwanderung und Ansiedlung aufgestellt. Waren in der Batschka die Ansiedlungsdenkmäler Ausdruck der politischen Selbstbehauptung, so dienen die Denkmäler in Ungarn der ethnischen Gemeinschaftsbildung in einer transformierenden Gesellschaft. Die Beiträge des Bandes belegen, dass Einwanderung und Ansiedlung, diese grundlegenden Ereignisse donauschwäbischer Geschichte, im kollektiven Gedächtnis bewahrt und von kulturell und politisch aktiven Repräsentanten der Gruppe zu einer Art Ursprungsmythos der Donauschwaben verdichtet wurden. So wurden beide Ereignisse zu grundlegenden Bausteinen des Selbstbildes der Donauschwaben, wobei die traditionelle, sich stark am historischen Faktum orientierende Interpretation der Ereignisse so lange dominierte, bis die herkömmliche Lebenswelt der Siedler nicht gefährdet war. Das Auftreten des ungarischen Nationalismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und die politischen Veränderungen nach 1920 und vor allem nach 1933 führten zu einem verengten ethnozentrischen Selbstbild, welches die beiden historischen Ereignisse in diesem Sinne zur Meistererzählung der Donauschwaben erhob, deren Hauptmerkmale Ausgrenzung und Ablehnung waren. Nach 1945 zeigte sich eklatant, dass dieser mehr oder weniger zwangsweise gewählte Weg der Vergewisserung der Vergangenheit für identifikatorische Zwecke nicht nur falsch, sondern unter dem Aspekt der Existenz der donauschwäbischen Gruppe zugleich verheerend war. In den späten vierziger Jahren und den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts erodierte die donauschwäbische Gruppe durch Flucht, Vertreibung, Deportation und Diskriminierung in ihren Heimatländern. Wie die Beiträge über die Heimatbücher und Denkmäler zeigen, wurde diese neue, unter Zwang erfolgte Migration zu einem zweiten Kristallisationspunkt und zugleich
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zum neuen Bezugspunkt der nun doppelten donauschwäbischen Geschichte in den Heimatländern einerseits und in der Bundesrepublik Deutschland andererseits. Die Einwanderung und Ansiedlung im 18. Jahrhundert erhielt durch die Vertreibung im 20. Jahrhundert bei den Donauschwaben in der Bundesrepublik Deutschland eine Aufwertung, indem die eigene Schuld an der Vertreibung mit der Betonung der Pionierleistung der Kolonisten überspielt und verklärt wurde.46 Bei den Donauschwaben in Rumänien, wo es keine Vertreibung gab, lebte und lebt das von Adam Müller-Guttenbrunn in seinen großen Siedlerromanen geschaffene doppelte Narrativ über Pionierleistung und Magyarisierung scheinbar weiter, auch wenn bereits eine Neudefinierung der ethnisch-kulturellen Identität stattfindet. Eine Neuorientierung ist auch bei den durch Vertreibung dezimierten Donauschwaben in Ungarn festzustellen. Dort war der sprachlich-kulturelle Bewegungsraum der Deutschen von 1945 bis zum Systemwechsel 1990 sehr begrenzt. In den letzten Jahren erfolgt allerdings eine immer stärker werdende Rückbesinnung auf Einwanderung und Ansiedlung, wobei die Neudefinierung der ethnisch-kulturellen Identität zugleich die gemeinschaftsbildende Kraft der ungarndeutschen Gemeinden und Gemeinschaften verstärkt. Welche weiteren Differenzen zwischen den einzelnen donauschwäbischen Gruppen in der Erinnerung an die Einwanderung und Ansiedlung früher bestanden und in der Gegenwart noch bestehen, müssen zukünftige Untersuchungen herausarbeiten. In diesem Band werden Themen und Methoden dazu aufgezeigt. Der Fall der Donauschwaben zeigt allerdings insgesamt, dass die Erinnerung an die Vergangenheit stets in der Gegenwart mit Blick auf die Zukunft erfolgt. Deshalb kann die Erinnerung keinen stabilen Punkt darstellen, sie ist vielmehr durch eine ständige Veränderung im Sinne des Nachdenkens über Vergangenheit und Zukunft zu charakterisieren. Aus Sicht der Zukunft ist allerdings nicht gleichgültig, mit welchem Inhalt die Erinnerung gefüllt wird und welche Funktion sie bei der Selbstdefinierung von Gruppen erfüllt. Für die Entwicklung und Ausprägung von deren Identität ist sie daher von zentraler Bedeutung.
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Ein besonders bezeichnendes Beispiel dafür sind die historischen Darstellungen des Gymnasiallehrers Johann Weidlein. Vgl. u. a. Weidlein, Johann: Pannonica. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze zur Sprach- und Geschichtsforschung der Donauschwaben und der Madjaren. Schorndorf 1979; ders.: Hungaro-Suebica. Gesammelte Beiträge zur Geschichte der Ungarndeutschen und der Madjaren. Schorndorf 1981.
I. AUSWANDERUNG UND ANSIEDLUNG IM 18. JAHRHUNDERT
„PFLÜG’ MIR DEN BODEN, WACKRE SCHWABENFAUST“ Die deutsche Einwanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert und ihre Bedeutung für Staat und Gesellschaft János Barta „Seine Hochgeheiligte Majestät wird gütig erlauben, daß freie Personen jeder Art ins Land gerufen werden, diese von jeder öffentlichen Steuer für sechs Jahre zu befreien sind und, daß diese Freiheit im ganzen Land verkündet werden kann. § 1 Damit aber Patente im Heiligen Römischen Reich und auch in den benachbarten Ländern und Provinzen Seiner Hochgeheiligten Majestät in diesem Sinne bekannt gegeben werden können, möge Seine Majestät zusammen mit den Ständen besagten Heiligen Römischen Reiches, der benachbarten Länder und Provinzen in Erwägung ziehen.“1
Der hier zitierte Gesetzesartikel 103 des ungarischen Landtags von 1722/1723 wurde vom ungarischen König Karl III. (als römisch-deutscher Kaiser Karl VI., 1711–1740) erlassen. Dieser Artikel ermöglichte einerseits die Werbung um Siedler für Ungarn im Ausland, andererseits gestattete er Siedlern einzuwandern und sicherte ihnen eine zeitlich befristete Befreiung von staatlichen Abgaben zu. Das Gesetz bekräftigte eine sich bereits seit dem Ende des 17. Jahrhunderts anbahnende Entwicklung. Schon unmittelbar nach dem Sieg über die Osmanen im Königreich Ungarn zwischen 1683 und 1699 setzte eine Wanderungsbewegung in die wiedereroberten ungarischen Gebiete ein. Nicht wenige Untertanen aus den meist überbevölkerten westlichen und nördlichen Randgebieten Ungarns suchten sich in jenen Landesteilen eine neue Existenz aufzubauen, die infolge der osmanischen Eroberung und der ständigen Kriege als unterbevölkert galten und in welchen den Bauern gerade deshalb von den Grundbesitzern größere Freiheiten eingeräumt worden waren. Diese spontane Migration wurde 1723 durch gezielte Ansiedlungsaktionen aus dem Ausland ergänzt, die von den ungarischen Grundbesitzern befürwortet wurden. Knapp ein Jahrzehnt nach dem Frieden von Sathmar 1711, der den antihabsburgischen Freiheitskampf Ferenc Rákóczis II. beendet und eine lang anhaltende Friedensperiode in Ungarn eingeleitet hatte, konvergierten im Gesetzesartikel 103 die Interessen der ungarischen Stände und des Wiener Hofes. Nach dem Gesetzeserlass wandte sich Kaiser Karl VI. mit einem Aufruf an die Fürsten im
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Corpus Juris Hungarici. Magyar Törvénytár. 1657–1740. évi törvénycikkek [Ungarische Gesetzessammlung. Gesetzesartikel 1657–1740]. Hg. v. Sándor Kolosvári u. Kelemen Óvári. Budapest 1900, 645.
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János Barta
römisch-deutschen Reich, ihre auswanderungswilligen Untertanen nach Ungarn zu entlassen.2 Im Folgenden soll ein Überblick über Ursachen, Umstände und Ergebnisse dieser Migrationsbewegung und Ansiedlungspolitik gegeben werden. 1. „UBI POPULUS, IBI OBOLUS“. URSACHEN DER DEUTSCHEN EINWANDERUNG IM 18. JAHRHUNDERT In der organisierten Ansiedlungspolitik des 18. Jahrhunderts kamen die kameralistische Wirtschaftstheorie, die sich in Österreich gerade im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts entfaltet hatte, zum Tragen sowie das reelle Bedürfnis, den Bevölkerungsrückgang in Ungarn aufzuhalten. Kameralisten wie Johann Joachim Becher, Philipp Wilhelm Hörnigk und Wilhelm Schröder hielten das Bevölkerungswachstum sowohl unter fiskalischem Gesichtspunkt als auch unter dem Aspekt des Gemeinwohls für wichtig.3 Becher, der dazu 1668 sein Hauptwerk „Politischer Diskurs […] in specie, wie ein Land volkreich und nahrhaft zu machen“ veröffentlichte, machte schon im Titel seiner Arbeit die große Relevanz der Bevölkerungsvermehrung deutlich. Hörnigk wiederum, der sein vielfach rezipiertes Werk 1684 unter dem Titel „Oesterreich über alles, wann es nur will“ erscheinen ließ, beschrieb die Grundlagen der Staatswirtschaft, darunter den Ackerbau. In diesem Zusammenhang sollte Ungarn als einem Lebensmittelversorger der Habsburgermonarchie eine besondere Rolle zukommen, die nach Hörnigks Ansicht durch die Zunahme der bäuerlichen Bevölkerung zu erreichen war. Die von den Kameralisten im 18. Jahrhundert befürwortete und ausgearbeitete Populationistik – die Wissenschaft von der Bevölkerungsvermehrung – machte den Spruch „ubi populus, ibi obolus“ zu einem geflügelten Wort, das sowohl von privaten Grundbesitzern als auch von staatlichen Stellen zum Motto erkoren wurde.4 Die Vermehrung der Bevölkerung bedeutete für die privaten Grundbesitzer mehr Steuereinnahmen, welche unter anderem die Einführung effizienterer Produktionsmethoden ermöglichten. Für den Staat wiederum wurde durch die so erreichte Erweiterung der Steuerbasis sowohl die Aufstellung einer Armee als auch die Sicherstellung einer ausreichenden Anzahl von Rekruten
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Mehrere Briefe Kaiser Karls VI. an die deutschen Fürsten mit der Bitte, die Auswanderung nach Ungarn zu erleichtern, sind abgedruckt in: Quellenbuch zur donauschwäbischen Geschichte. Hg. v. Anton Tafferner, 5 Bde. Stuttgart 1971–1995, hier Bd. 2, 77–85. Zur Tätigkeit der Kameralisten vgl. Sommer, Luise: Die österreichischen Kameralisten in dogmengeschichtlicher Darstellung, 2 Bde. Wien 1920–1925. Becher, Johann Joachim: Politischer Discurs: Von den eigentlichen Ursachen deß Auf- und Ablebens der Städt, Länder und Republicken in specie, wie ein Land volkreich und nahrhaft zu machen und in eine rechtliche Societatem zu bringen ist. Frankfurt a. M. 1668. – Hörnigk, Philipp Wilhelm von: Oesterreich über alles, wann es nur will. Das ist: wohlmeinender Fürschlag, wie mittelst einer wolbestellten Lands-Oeconomie, die Kayserl. Erbland in kurzem über alle andere Staat von Europa zu erheben, und mehr als einiger derselben von denen andern independent zu machen. Frankfurt a. M. 1684.
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möglich. Darüber hinaus konnten die wachsenden Staatsaufgaben mit Hilfe einer vermehrten Landesbevölkerung erfolgreicher in Angriff genommen werden. Nach dem österreichischen Erbfolgekrieg konnte Maria Theresia (1740–1780) zwar ihren Thron behalten, die Habsburgermonarchie verlor jedoch Schlesien an Preußen. Der Verlust der reichsten Provinz bei gleichzeitig leeren Staatskassen veranlasste den Wiener Hof zur Einleitung grundlegender Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen.5 Maria Theresia und ihr Nachfolger Joseph II. (1780–1790) waren entschlossen, in den westeuropäischen Monarchien bereits eingeführte fortschrittliche Maßnahmen in allen Bereichen, von der Bildung über die Verwaltung bis zur Wirtschaft, auch in den Ländern der Habsburgermonarchie zu übernehmen. Obwohl Maria Theresia den Aufklärungsgedanken im Grunde leugnete, unterstützte sie die Reformen in der Praxis und gab dem Reformprozess den eigentlichen Anstoß. Joseph II. versuchte die Reformpolitik ganz im Sinne der Aufklärung weiterzuführen und auszuweiten.6 Die Bevölkerungspolitik, gerade auch in ihrer direkten, die Einwanderung fördernden Form, sollte diesen Reformen dienen.7 Die Rolle Ungarns innerhalb der Habsburgermonarchie hatte sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert entscheidend verändert. Die im 16. und 17. Jahrhundert zur Verteidigung gegen die Osmanen aufgewendeten Militärausgaben brauchten nicht nur die Einkünfte auf, die aus dem unter habsburgischer Verwaltung stehenden sogenannten königlichen Ungarn kamen, sondern überstiegen diese bei Weitem und machten auch eine Finanzierung durch die österreichischen Erbländer und das römisch-deutsche Reich erforderlich. Der Wiener Hof nahm dieses Verlustgeschäft in Kauf, da dem habsburgischen Landesteil Ungarns die Rolle einer ‚Pufferzone‘ zwischen dem Osmanischen Reich und den Ländern der Habsburgermonarchie, nicht zuletzt der den östlichen Grenzen relativ nahe gelegenen Residenzstadt Wien, zukam. Es stand außer Frage, dass man die wirtschaftliche Rentabilität Ungarns, welches sich nach dem Sieg über die Osmanen durch die Wiedervereinigung der ungarischen Landesteile geographisch vergrößert hatte, wieder steigern musste.8 Das befreite Ungarn konnte zunächst jedoch nicht den erhofften Nutzen erbringen, denn es mangelte in den vormals von den Osmanen besetzten Gebieten sowohl an Arbeitskräften als auch an effizienten Wirtschaftsmethoden. Um beide Probleme zu beheben, bemühte sich der Wiener Hof darum, vor allem Ansiedler mit Kenntnissen in der Landwirtschaft zu gewinnen. Drei Jahre nach der Rückeroberung Ofens 1686 legte eine königliche Verordnung, das erste Impopulationspatent vom 11. August 1689, deshalb fest: 5 6 7 8
Walter, Friedrich: Die Theresianische Staatsreform von 1749. München 1958. Beales, Derek: Joseph II., 2 Bde. Cambridge 1987–2009. Barta, János: A felvilágosult abszolutizmus agrárpolitikája a Habsburg és a Hohenzollern monarchiában [Die Agrarpolitik des aufgeklärten Absolutismus in der Habsburger- und der Hohenzollernmonarchie]. Budapest 1982. Pálffy, Géza: Die Entstehung und Entwicklung der Türkenabwehr in Ungarn 1526–1699. In: Kaiser und König: 1526–1918, eine historische Reise. Österreich und Ungarn. Hg. v. István Fazekas. Wien 2001, 37–46. – Barta, János: A tizennyolcadik század története [Die Geschichte des 18. Jahrhunderts]. Budapest 2000.
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János Barta „Was gestalt höchstgedachte Kayserliche und Königliche Majestät zu besserer Aufhelffung, Wider Erhebung und Bevölckerung deroselben […] fast gäntzlich zu Grund gerichteten und abgeödeten Erb-Königreich Hungarn allergnädigst entschlossen, alle und jede, was Standts, Nation, und Religion, inn- oder ausser Landts die seynd, welche sich in gedachten Königreich Hungarn und demselben angehörigen Landen Häusslich nider zulassen Lust und Sinn haben, sowohl in Städten, als auf dem Landt, für freie Burger und Unterthanen, […] gegen Vorzaigung ordentlicher Loss-Brief gnädigst an- und einzunehmen […].“9
2. ETAPPEN, FORMEN UND TRÄGER DER ANSIEDLUNG Der wichtigste Träger der Ansiedlung war der Staat, der um Arbeitskräfte für jene Gebiete warb, die unter der staatlichen Oberhoheit – des Hofkriegsrats oder der Wiener beziehungsweise der Ungarischen Hofkammer – standen, wie das Militärgrenzgebiet, das Banat und die Batschka. Aber auch die Privatgrundbesitzer leiteten Siedlungsaktionen ein, meist ohne den theoretischen Hintergrund der Populationistik zu kennen. Zwar konnte sich die finanzielle Kraft der einzelnen Grundbesitzer in den meisten Fällen nicht mit derjenigen der staatlichen Behörden messen, so dass die privaten Grundbesitzer während des 18. Jahrhunderts als Träger der Einwanderung und Ansiedlung allmählich in den Hintergrund traten. Nichtsdestotrotz wurde die Ansiedlung von der Privatgrundherrschaft mit unterschiedlicher Intensität fast das ganze 18. Jahrhundert hindurch betrieben. Neben der organisierten Ansiedlungspolitik hielt auch die spontane Bevölkerungswanderung an. Aus den dicht besiedelten, doch wirtschaftlich wenig ergiebigen Randgebieten zogen viele in die weite Tiefebene, aber auch deutsche Auswanderungswillige brachen oft ohne Genehmigung ihrer Obrigkeit und ohne einen in Aussicht gestellten Ansiedlerplatz in Ungarn in die Ferne auf.10 Den staatlichen und den privaten Ansiedlungsvorstellungen war gemeinsam, dass man vor allem mit deutschen Einwanderern rechnete. Die im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation erlassenen Aufrufe zur Auswanderung nach Ungarn zeigen darüber hinaus deutlich, dass man am Wiener Hof in erster Linie Siedler aus den Territorialstaaten in Südwest- und Westdeutschland gewinnen wollte und die Umsiedlung aus den österreichischen Erbländern nicht unterstützte, da dies nach Ansicht der Regierung zu einer Dezimierung der dort lebenden arbeitsfähigen Bevölkerung geführt hätte. Auch bei der Binnenansiedlung wurde dieses Argument von den ungarischen Grundbesitzern in den dichter besiedelten Gebieten gegenüber den Grundbesitzern, die Bauern mit Begünstigungen gelockt hatten, vorgebracht, was schließlich zur gesetzlichen Unterbindung der Binnenmigration führte.11 9 10
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Das erste Habsburgische Impopulationspatent vom 11. August 1689. In: Quellenbuch (wie Anm. 2), Bd. 1, 53. Schünemann, Konrad: Österreichs Bevölkerungspolitik unter Maria Theresia. Berlin 1935 (Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung des Deutschen Volkstums im Süden und Südosten in München 6). – Wellmann, Imre: Die erste Epoche der Neubesiedlung Ungarns nach der Türkenzeit (1711–1761). In: Acta Historica. Zeitschrift der Ungarischen Akademie der Wissenschaften 26 (1980), 241–304. Ebd.
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Die Migration im 18. Jahrhundert, insbesondere die Einwanderung der Deutschen, ist ein relativ häufig, wenn auch eher schematisch erforschtes Thema in der ungarischen und deutschen Geschichtswissenschaft. Die bisherigen historischen Arbeiten beschäftigen sich mit den einzelnen Etappen, der Rolle der staatlichen Politik und der Partizipation der Grundbesitzer und gewähren einen guten Einblick in die Geschichte der neuen Siedlungen. Doch die Standpunkte der ungarischen und der deutschen Forschung stimmen nicht immer überein. Während die deutschen Arbeiten dazu neigen, die Wirkung der Einwanderung als hoch einzustufen, wird sie in den ungarischen Untersuchungen eher als niedrig bewertet. Auch in der Frage der Periodisierung gibt es Abweichungen. Während die ungarischen Autoren, mit der staatlichen und privaten Ansiedlung im Blick, zwei große Einwanderungswellen in den Jahren zwischen 1698 und 1740 sowie zwischen 1748 und 1786 ausmachen,12 gehen vor allem ältere deutsche Autoren von einer differenzierteren Periodisierung aus und sprechen für die Zeit von 1688 bis 1805 von sechs mit der Regierungszeit der Habsburger korrespondierenden Perioden: der leopoldinischen (1688–1692), der karolinischen (1712–1737), der früh- und spättheresianischen (1740–1762, 1763–1767), der josephinischen (1783–1787) und der franziszeischen Periode (1790–1805).13 Doch wie neuere Untersuchungen zur Privatansiedlung zeigen, ist eine so trennscharfe Periodisierung für mehrere Regionen kaum möglich.14 Diese Feststellung gilt vor allem für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts, als staatliche und private Grundbesitzer parallel oder in Konkurrenz zueinander auftraten. Für die Ansiedlungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als der Staat immer mehr die führende Rolle in der Ansiedlung übernahm, bildeten die Einwanderungspatente der Herrscher eine Zäsur in der Periodisierung. So initiierten die Patente Maria Theresias 1762 und 1763 sowie das – eigentlich für Galizien erlassene – Patent Josephs II. von 1783 eine neue Einwanderung nach Ungarn.15 Die ersten deutschen Siedler in Ungarn kamen in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts nach Ofen und in die jenseits der Donau liegenden Komitate Branau, Tolnau und Wesprim.16 Laut den Quellen aus der Zeit nach der Belagerung Ofens 1686 waren die ersten Bewohner der Stadt aus den österreichischen Erbländern
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Szabó, István: A magyarság életrajza [Die Geschichte des Ungarntums]. Budapest 1941, 151. Vgl. u. a. Scheuerbrandt, Arnold: Die Auswanderung aus dem heutigen Baden-Württemberg nach Preußen, in den habsburgischen Südosten, nach Rußland und Nordamerika zwischen 1683 und 1811. In: Historischer Atlas von Baden-Württemberg. Hg. v. d. Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Stuttgart 1972–1988, hier Erläuterungen, Beiwort zur Karte XII, 5, bes. 13–27. Krauss, Karl-Peter: Deutsche Auswanderer in Ungarn. Ansiedlung in der Herrschaft Bóly im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2003 (Schriftenreihe des Instituts für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 11), 83. Czoernig, Karl Freiherr von: Ethnographie der österreichischen Monarchie, 3 Bde. Wien 1855–1857, hier Bd. 3, 9–17. Eppel, Johann: Tevel. Zweieinhalb Jahrhunderte schwäbische Ortsgeschichte in Ungarn, 1701–1948. Eppingen – Budapest 1988, 27.
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stammende Maurer und Zimmerleute.17 In der Grundherrschaft der Benediktinerabtei Pécsvárad im Komitat Branau wurden dagegen im Jahre 1701 rund 100 deutsche Familien aus den bayerischen und oberschwäbischen Gebieten registriert.18 Während die Einwanderung in Ofen vor allem von den Kameralbehörden betrieben worden war, waren bei der ersten Einwanderungswelle auf dem Land hauptsächlich private weltliche wie geistliche Grundherren die Initiatoren. Der 1703 aufflammende Rákóczi-Freiheitskampf setzte nicht nur dieser ersten Einwanderung ein Ende, sondern vernichtete auch die Mehrheit der bereits bestehenden Siedlungen in den Komitaten Branau und Tolnau. Der Ablegat der Stadt Tolnau Sámuel Lévai beschrieb im März 1704 in seinem Brief an den Fürsten Ferenc II. Rákóczi die Lage: „Was für ein trauriges und elendes Los wird dem Gebiet jenseits der Donau, namentlich unserem armen Tolnauer Komitat beschieden sein, dessen große Teile Raizen, Deutsche und Bunjewazen bewohnen. Aber nachdem Gott Euer Gnaden Waffen gesegnet und wir unsere ergebene Treue Euer Gnaden erwiesen haben, sind jene aus unserer Mitte geflohen, viele von ihnen sind samt ihren Familien durch unsere Waffen umgekommen.“19
Die am Ende des 17. Jahrhunderts noch nicht ausreichend vorbereiteten und unkoordinierten privaten Maßnahmen der Grundherren wurden nach dem Frieden von Sathmar 1711 von besser organisierten Ansiedlungen abgelöst. Die Grundbesitzer versprachen ihren Siedlern im Allgemeinen drei Jahre Robot- und Abgabenfreiheit von den grundherrlichen Lasten. An der Ansiedlung waren vor allem die größten Grundbesitzer des Landes beteiligt: Palatin Pál Esterházy,20 der in ganz Ungarn große Ländereien besaß, Sándor Károlyi, der das gesamte Komitat Sathmar beherrschte, und Johann Georg Harruckern, der fast das ganze Komitat Békés als Donation erhalten hatte.21 Aber auch andere Feldherren und Armeelieferanten des Wiener Hofes aus den österreichischen Erbländern, aus dem römisch-deutschen Reich oder aber aus anderen mit den Habsburgern verbündeten europäischen Ländern, die in Ungarn Güter erworben hatten, förderten die Ansiedlung von deutschen Einwanderern. László Dőry, Grundbesitzer im Komitat Tolnau und ungarischer Agent beim Wiener Hofkriegsrat, schickte schon im Jahre 1712 einen Werbeagenten nach Oberschwaben, wo er – einem Brief nach – mit tausend Familien rechnete.22 17 18 19 20 21
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Gárdonyi, Albert: Die ersten Ansiedler der Stadt Ofen nach der Türkenherrschaft. In: DeutschUngarische Heimatsblätter 3 (1931), 32–39 u. 129–137. Kéri, Heinrich: Franken und Schwaben in Ungarn. Aufsätze zur Geschichte und Siedlungsgeschichte der Tolnau und der Oberen Baranya. Budapest 2002, 13. Eppel (wie Anm. 16), 28. Vgl. u. a. Spannenberger, Norbert: Zur Siedlungspolitik der Fürstenfamilie Esterházy im 18. Jahrhundert. In: Specimina nova dissertationum ex Instituto Historico Universitatis Quinqueecclesiensis 21 (2005), 121–142. Unter Harruckern gelangten sowohl deutsche als auch slowakische Siedler ins Komitat Békés. Vgl. dazu Ember, Győző: Az újratelepülő Békés megye első összeírásai 1715–1730 [Erste Konskriptionen des neuangesiedelten Komitats Békés 1715–1730]. Békéscsaba 1977, 43. Zur Ansiedlung anderer nationaler Minderheiten vgl. Czoernig (wie Anm. 15), 8. Eppel (wie Anm. 16), 79–94.
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Besonders erfolgreich war Sándor Károlyi, einer der größten Siedlungspolitiker dieser Zeit. Er formulierte im April und Juni 1712 in je einem Antrag an die Hofkanzlei und den Hofkriegsrat sein Ansinnen, auf seinen Besitzungen im Komitat Sathmar Schwaben anzusiedeln. Schon im gleichen Jahr konnte er 1.500 Einwanderer in Pressburg, wo er sich wegen der Landtagssitzungen aufhielt, empfangen.23 Die Kolonisten trafen mitten im Sommer an ihrem zukünftigen Wohnort in Sathmar ein, so dass sie sich an der landwirtschaftlichen Arbeit im laufenden Jahr nicht mehr wesentlich beteiligen konnten. Für ihre Versorgung musste der Grundherr – oder vielmehr seine zu Hause gebliebene Ehefrau – Sorge tragen. Károlyi war davon überzeugt, dass sich „in den nächsten zwei Jahrhunderten nicht noch einmal so eine günstige Gelegenheit bietet, Schwaben anzusiedeln“24. Die Unternehmungen brachten jedoch zunächst nur Teilerfolge. Eine Gruppe der Neuankömmlinge kehrte schon 1712 enttäuscht wieder in die Heimat zurück, andere zogen weiter nach Süden.25 Obwohl die erste Welle der Ansiedlungen mit Rückschlägen verbunden war, hoffte Károlyi, dass die Ansiedlung im Weiteren erfolgreich vorangehen werde. Im Mai 1726 schrieb er aus Pressburg an seine Frau: „Ich fand 107 Landwirte aus dem Schwabenland, die für mich die Donau abwärts kamen.“26 Am nächsten Tag schickte er sie über Ofen nach Großkarol. Im Mai 1727 sorgte er wieder für einen Transport von 259 Personen und im Dezember 1729 sandte er Kolonisten mit einem Werbeschreiben nach Oberschwaben, damit diese weitere Bauern und Handwerker für die Aussiedlung gewannen.27 Der Wiener Hof beteiligte sich unmittelbar nach dem Türkenkrieg von 1716 bis 1718 an der Ansiedlung. Die Regierung wollte das 1718 im Frieden von Passarowitz zurückeroberte, zuerst unter militärischer Leitung, dann unter Kameralverwaltung stehende Banat zu einem kameralistischen ‚Musterland‘ ausbauen mit dem Ziel, das entlang der Grenze zum Osmanischen Reich stationierte Militär besser versorgen zu können. Der erste Militärgouverneur und zugleich Präsident der Kameraladministration des Banats, General Graf Claudius Florimund Mercy, arbeitete 1718 den ersten Plan dazu aus. Sein „Einrichtungs-Entwurf“ zielte in erster Linie auf die Förderung der Landwirtschaft, berücksichtigte aber auch Bergbau und Manufakturen sowie den Ausbau von Verkehrswegen. Die von Mercy geplanten Kanäle sollten sowohl für günstige Handelsverbindungen sorgen als auch die Trockenlegung der ungesunden Sumpfgebiete fördern.28 Die Pläne konnten zu seiner Zeit 23 24 25 26 27 28
Vonház, István: A szatmár megyei német telepítés [Die deutsche Ansiedlung im Komitat Sathmar]. Pécs 1931, 6. Kovács, Ágnes: Károlyi Sándor. Budapest 1988, 181 f. Weidlein, Johann: A Tolna megyei német telepítések [Die Ansiedlung der Deutschen im Komitat Tolnau]. Pécs 1937, 18–20. Gróf Károlyi Sándor önéletírása és naplójegyzetei [Lebenslauf und Tagebuchnotizen des Grafen Sándor Károlyi]. Hg. v. László Szalay, 2 Bde. Pest 1865, hier Bd. 1, 214. Ebd., 346. Kalbrunner, Josef: Zur Geschichte der Wirtschaft im Temescher Banat bis zum Ausgang des Siebenjährigen Krieges. In: Südostdeutsche Forschungen 1 (1936), 46–60, hier 46. Graf Mercy hatte in Süd-Transdanubien eigene Güter, die bei den Ansiedlungen eine bedeutende Rolle spielten; vgl. Kéri (wie Anm. 18), 95.
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begonnen, aber zumeist erst später abgeschlossen werden, wie etwa die Entwässerung des Alibunár-Sumpfgebietes oder die Regulierung des Flusses Temes. Die sumpfige Landschaft, eine Brutstätte für Krankheiten, wurde vielen Kolonisten zum Verhängnis. Nichtsdestotrotz wurden bis zum Ausbruch des Türkenkrieges 1737 etwa 10.000 Menschen in 53 Dörfern des Banats sesshaft. Der Türkenkrieg von 1737 bis 1739 machte die Erfolge beinahe zunichte, und Maria Theresia gab die Besiedlung des Banats zunächst auf. Doch der Zustrom der deutschen Siedler hörte nicht auf; 1763 betrug ihre Zahl etwa 24.000.29 Zur Zeit der österreichischen Erbfolgekriege verlagerte sich die staatliche Ansiedlung auf die Batschka, die von der Ungarischen Hofkammer verwaltet wurde. Hauptinitiator war der 1748 zum Präsidenten der Ungarischen Hofkammer ernannte Antal Grassalkovich, der auch als Besitzer der Güter von Gödöllő und Hatvan deutsche Kolonisten ansiedelte.30 In den Ansiedlungsbedingungen des für die Batschka erlassenen Patents vom 21. Juni 1755 wurden den Einwanderern auf den großen Kameralgütern der Batschka eine sechsjährige Steuerfreiheit und eine dreijährige Befreiung von Zins und Abgaben sowie Freizügigkeit versprochen.31 1762 erließ Maria Theresia mehrere Patente zur Anwerbung der in der Zeit des Siebenjährigen Krieges verarmten Bewohner in den österreichischen Erbländern. Ihr Ansiedlungspatent vom 25. Februar 1763 brachte neben der Batschka vor allem ins Banat neue Ansiedler.32 Nach der königlichen Resolution vom 20. April 1763 wurden den Kolonisten nicht nur die Reisespesen bis zum Bestimmungsort erstattet, sondern es wurden auch Häuser und Arbeitsgeräte auf Staatskosten für sie beschafft, wobei diese Kosten von den Kolonisten später zurückerstattet werden mussten.33 Thronfolger Joseph II. erkannte während seiner Reisen durch die Länder der Habsburgermonarchie die Bedeutung der Ansiedlungen. Zur Ansiedlung im Banat bemerkte er, dass dadurch „über hundert schöne Orte angelegt und über 50.000 arbeitende Hände gewonnen waren, welche anfingen, die Steppen, Sumpf- und Sandstellen des Landes in dessen Kornkammer zu verwandeln“34. Als Alleinherrscher setzte er die Siedlungspolitik Maria Theresias fort; so kam es zu einer neuen Einwanderungswelle in erster Linie in die Kameralgüter des Banats und der Batschka. Anders als Maria Theresia förderte Joseph II. die Ansiedlung von Einwanderern mit nicht zurückzuerstattenden Beihilfen wie einem Kolonistenhaus, der Einrichtung von Haus und Hof und der Vergabe von Zugtieren.35 Allerdings schränkte er die 29 30 31 32 33 34 35
Jordan, Sonja: Die kaiserliche Wirtschaftspolitik im Banat im 18. Jahrhundert. München 1967 (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 17), 84. Szabó (wie Anm. 12), 151. Quellenbuch (wie Anm. 2), Bd. 1, 178–180. Krauss (wie Anm. 14), 32. Feldtänzer, Oskar: Joseph II. und die donauschwäbische Ansiedlung. Dokumentation der Kolonisation im Batscherland 1784–1787. Linz 1990 (Donauschwäbisches Archiv, Reihe 3: Beiträge zur donauschwäbischen Volks- und Heimatgeschichtsforschung 44), 13. Ebd., 2. Hutterer, Miklós: A magyarországi német népcsoport [Die deutsche Volksgruppe in Ungarn]. In: Népi kultúra, népi társadalom. Hg. v. Gyula Ortutay. Budapest 1973, 93–117, hier 98.
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großzügige Förderung der Kolonisten ein, indem eine zehnjährige Befreiung von Abgaben nur den Kolonisten gewährt wurde, die durch Rodungen oder die Bebauung brachliegender Felder das Land nutzbar machten.36 An diesen Ansiedlungen nahmen die Privatgrundbesitzer kaum oder gar nicht mehr teil. Die ersten Siedler in Ungarn waren vorwiegend ärmere Leute, die unter den vorgefundenen Bedingungen nur schwer Fuß fassen konnten. Um die Ansiedlung besser zu regeln, sandte Karl VI. (III.) 1724, kaum ein Jahr nach dem Erlass des Landtagsgesetzes von 1723, einen Brief an die Fürsten in den Gebieten am Rhein, in welchem er von den nach Ungarn kommenden Migranten einen regulären Entlassungsschein verlangte, um so Abenteurer und Vagabunden von den Menschen mit klarem Auswanderungswunsch unterscheiden zu können.37 Diejenigen, die legal auswanderten, mussten sich von nun an in ihrer Heimat gegen Geld ein Entlassungsschreiben ausstellen lassen und dieses in Ungarn vorweisen. Sowohl die Wiener Hofkammer als auch die ungarischen Grundbesitzer hätten die Aufnahme der Siedler gerne auch an finanzielle Auflagen geknüpft. In einem staatlichen Aufruf von 1720 hieß es deshalb, die Einwanderer müssten im Besitz von 200 Gulden Bargeld sein, um sich an ihrem neuen Ansiedlungsort Ausrüstung und Werkzeuge kaufen zu können. Allerdings konnte diese Auflage nicht konsequent durchgesetzt werden.38 Die Zahl der Betuchteren unter den Ansiedlern weist darauf hin, dass nicht oder nicht nur Verarmung zur Migration führte. Ein Auswanderungsgrund waren vor allem an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert die Kriege Ludwigs XIV. gegen das römisch-deutsche Reich, besonders in Südwest- und Süddeutschland. Im Laufe des 18. Jahrhunderts nahm aber die Zahl der kriegerischen Auseinandersetzungen ab und damit gingen auch die verheerenden Epidemien zurück. Unter anderem wegen der Verbesserung der Ernährung lebten die Menschen länger und in der Folge stieg auch die Bevölkerungszahl an. Doch die Bevölkerungszunahme konnte ab den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts nicht mehr durch die Ausweitung des Ackerbaus und die Vermehrung der landwirtschaftlichen Produktion aufgefangen werden. Viele Bauernsöhne blieben außerdem infolge der Erbschaftsregelungen ohne eigene Existenzgrundlage und mussten als Knechte auf den Bauerngehöften leben.39 Die beste Versorgung erhielten die Einwanderer unter Maria Theresia in der Krondomäne Banat. Die im Jahr 1772 zusammengestellte „Impopulations Haupt Instruktion“ sah für die Siedler geordnete Plandörfer vor. In den neuen Siedlungen 36
37 38 39
Wellmann, Imre: Népesség és mezőgazdaság a XVII. és a XVIII. század fordulóján [Bevölkerung und Landwirtschaft um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert]. In: Történelmi Szemle 18 (1975), 701–730. – Ders.: A magyar mezőgazdaság a XVIII. században [Die ungarische Landwirtschaft im 18. Jahrhundert]. Budapest 1979, 27. Eppel (wie Anm. 16), 126. Bellér, Béla: Kurze Geschichte der Deutschen in Ungarn. Budapest 1986, 77. Diemer, Kurt: Ursachen und Verlauf der Auswanderung aus Oberschwaben im 18. Jahrhundert. In: „Die Schiff’ stehn schon bereit“. Ulm und die Auswanderung nach Ungarn im 18. Jahrhundert. Hg. v. Márta Fata. Ulm 2009 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm, Reihe Dokumentation 13), 31–41.
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stellte man Pfarrer, Schulmeister und Handwerker auf Staatskosten an, in jedem zweiten Dorf gab es einen „Chirurgen“, also einen Arzt. Auf dem Hauptplatz des Dorfes musste sich vorschriftsmäßig die Kirche befinden, die Hauptstraße hatte 18 bis 20 Klafter40 breit zu sein und in jeder Straße musste es einen öffentlichen Brunnen geben. An vielen Orten wurden die Siedlerhäuser mit zwei Zimmern und einer Küche, manchmal auch die Schulen, bereits im Vorfeld errichtet. Die Bauern erhielten Samen, Zugvieh und Werkzeug als Vorschuss. Vereinheitlicht und verbessert wurden diese von Wolfgang von Kempelen ausgearbeiteten Methoden dann unter Joseph II.41 Denjenigen, die sich auf dem Besitz eines privaten Grundherrn niederließen, wurde neben der sechsjährigen Befreiung von staatlichen Steuern auch eine dreijährige Freiheit von grundherrlichen Steuern gewährt und nicht selten darüber hinaus eine Reihe von anderen Begünstigungen. In den wenig bevölkerten Gebieten erhielten die Ansiedler ein Grundstück von bis zu 30 Joch, außerdem Samen sowie Bau- und Brennholz. Ihrem rechtlichen Status nach blieben die Kolonisten auch auf den Privatgrundherrschaften frei; an ihren Grundherren band sie ein Vertrag.42 Häufig wurden auch sie in eigens errichteten Dörfern angesiedelt oder aber man schuf ihnen in bereits bestehenden Siedlungen eigene Straßenzüge, die sogenannten Deutschen- oder Neugassen. 3. DIE ANSIEDLUNG IN ZAHLEN Die Einwohnerzahl Ungarns verdoppelte sich im 18. Jahrhundert und stieg von etwa 4,5 Millionen auf 9 bis 9,5 Millionen an.43 Dies war nicht nur einem schnellen natürlichen Zuwachs zuzuschreiben, sondern auch der Immigration, wobei ebenso viele, wenn nicht noch mehr Rumänen und Serben ins Land einwanderten wie Deutsche. Für eine fundiertere Aussage über das numerische Verhältnis fehlen allerdings verlässliche Zahlen, da keine genauen statistischen Erhebungen vorliegen. Obwohl man über die deutschen Siedler mit die genauesten Daten besitzt, lässt sich ihre tatsächliche Zahl nur erahnen. Henrik Marczali zufolge, Historiker und Autor der Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen „Geschichte Ungarns“, wurden in Wien 1712 etwa 14.000 Siedler registriert.44 Der österreichische Statistiker Karl von Czoernig griff bei seiner Darstellung der Ansiedlung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Quellen der Kameraladministrationen zurück, doch konkrete 40 41 42 43 44
1 Klafter = 1,9 Meter. Busshoff, Lotte: Wandlungen im Landschafts- und Siedlungsbild der Banater Schwäbischen Heide. München 1938, 46 f. – Reininger, Alice: Wolfgang von Kempelen. Eine Biographie. Wien 2007. Wellmann 1979 (wie Anm. 36), 25. Ders.: Magyarország népességének fejlődése a 18. században [Die Entwicklung der Bevölkerung Ungarns im 18. Jahrhundert]. In: Magyarország története 1686–1790. Hg. v. Győző Ember u. Gusztáv Heckenast, 2 Bde. Budapest 1989, hier Bd. 1, 25–80. Marczali, Henrik: Magyarország története III. Károlytól a bécsi congresszusig [Die Geschichte Ungarns von Karl III. bis zum Wiener Kongress]. Budapest 1898, 103.
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Zahlen gab er nur im Fall der frühen Ansiedlungen zur Zeit Maria Theresias und Josephs II. an. Demzufolge kamen unter Maria Theresia mehr als 60.000 Siedler nach Ungarn, unter Joseph II. etwa 38.000.45 Andere Arbeiten begnügten sich mit regionalen statistischen Angaben. Nachdem infolge der Verwüstungen des Türkenkriegs von 1737 bis 1739 mit den Ansiedlungsarbeiten im Banat von vorn begonnen werden musste, wurden zwischen 1744 und 1752 mindestens 2.500 neue Zuwanderer – unter ihnen Deutsche, Italiener und viele Menschen aus Lothringen – registriert.46 Zwischen 1770 und 1775 rechnete man im Banat mit 450.000 Einwohnern. Von diesen waren allerdings nur etwa 9 % (43.000 Personen) Deutsche. Bei den übrigen handelte es sich um Rumänen, Serben, Bulgaren, Zigeuner (Roma), einige Italiener und Franzosen.47 In die Batschka kamen zwischen 1763 und 1771 nachweislich 2.548 deutsche Familien. Bei der Impopulation unter Joseph II. zwischen 1784 und 1786 kamen laut den Einwanderungsakten etwa 10.000 Familien ins Land. Diese entsprachen etwa 45.000 Personen.48 Der ungarische Demograph Zoltán Dávid schließlich schätzte die Zahl der eingewanderten Deutschen im 18. Jahrhundert auf 350.000 bis 400.000.49 Die zeitgenössischen Namenslisten geben manchmal auch das Alter der Ankömmlinge an, woraus man erkennen kann, dass es sich meist um junge Familien handelte, die eine neue Heimat suchten. Aus den Daten von sechs Dörfern im Komitat Komorn beispielsweise kann entnommen werden, dass von den 262 Familienoberhäuptern, die im 18. Jahrhundert einwanderten, 166 (64 %) zwischen 21 und 41 Jahre alt und 69 (26 %) zwischen 41 und 50 Jahre alt waren. 23 (9 %) waren über 51 Jahre alt.50 Infolge der gezielten Ansiedlungspolitik kamen in Ungarn von Deutschen bewohnte Siedlungsgebiete zustande: im Banat, in der Batschka, im Komitat Sathmar, Branau und Tolnau. Deutsche Siedlungen entstanden in der Umgebung von Ofen und Pest, in den Niederungen des Bakony- und des Vértes-Gebirges und anderswo im Lande. Viele der Siedler zogen auch in die Städte, womit die Zahl der bis dahin auf einige Regionen – etwa Siebenbürgen, die Zips, das Grenzgebiet zu Österreich – begrenzten deutschen Städte vergrößert wurde. Eine deutsche Mehrheit bildete sich unter anderem auch in Pest und in Fünfkirchen heraus. An der westlichen Grenze des Banats siedelte man deutsche Kolonisten zur Wiederbelebung des Bergbaus an. Nachdem Prinz Eugen von Savoyen, der Präsident des Hofkriegsrates, 45 46 47 48 49 50
Czoernig (wie Anm. 15), 9–33, hier 71. Aus den Zahlen bei Czoernig, welche die früheren privatgrundherrschaftlichen Ansiedlungen nicht beinhalten, ergeben sich zusammen fast 100.000 Personen. Mikoletzky, Hanns Leo: Österreich. Das große 18. Jahrhundert. Wien 1967, 238. Ebd., 239. Feldtänzer (wie Anm. 33), 39. Dávid, Zoltán: Az 1715–20. évi összeírás [Die Konskription 1715–1720]. In: A történeti statisztika forrásai. Hg. v. József Kovacsics. Budapest 1957, 145–199, hier 172. Bohony, Nándor: Német falvak Komárom megyében (1737–1828) [Deutsche Dörfer im Komitat Komárom (1737–1828)]. In: Agrárnépesség és agrártársadalom Magyarországon a Mária Terézia kori úrbérrendezés és 1945 között. Hg. v. Sándor Kávássy. Nyíregyháza 1987, 95–111.
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1718 verordnet hatte, dass die Festungsstadt Temeswar ausschließlich von Deutschen besiedelt werden sollte, blieb auch Temeswar lange Zeit eine hauptsächlich von Deutschen bewohnte Stadt. Die im 19. Jahrhundert einsetzende Assimilation betraf die deutsche Bevölkerung der Städte in weit höherem Maß als die in den oft abgeschiedenen Dörfern. Aus diesem Grund wird die Einwanderung von Deutschen in die Städte auch in der Literatur selten thematisiert, obwohl ihre Bedeutung bei der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert sowohl in wirtschaftlicher als auch in sozialer Hinsicht unbestreitbar ist.51 4. KOLONISTEN ZWISCHEN ERFOLG UND MISSERFOLG Die deutschen Einwanderer des 18. Jahrhunderts waren für die Entwicklung der Landwirtschaft in Ungarn von besonderer Bedeutung. Obgleich keine genauen Daten darüber existieren, wie groß die vormals brachliegenden Flächen waren, welche die Siedler zu bewirtschaften begannen, so ist doch sicher, dass sie nicht nur die an ihre Dörfer grenzenden Böden nutzbar machten, sondern auch die Flächen des Ackerlandes der älteren Siedlungen vergrößerten. In den von ihnen besiedelten Gebieten führten die Kolonisten die aus ihrer Heimat bekannten Wirtschaftstechniken ein. Wenn diese im 18. Jahrhundert auch nicht als sonderlich ‚modern‘ galten, so bedeuteten sie in jedem Fall einen Fortschritt im Vergleich zu der einer Nomadenwirtschaft gleichenden extensiven Wirtschaftsform in den von den Osmanen zurückeroberten Gebieten. Die Absicht des Wiener Hofes war es auch, durch das Vorbild der Deutschen die alteingesessene Bevölkerung zu einer besseren landwirtschaftlichen Produktion anzuspornen. Wenn dies auch nicht überall erreicht werden konnte, so ist den Kolonisten doch eine bedeutende Rolle etwa bei der Verbreitung von neuen Pflanzen wie der Kartoffel oder dem Tabak zuzuschreiben. Ferenc Pethe, ein im frühen 19. Jahrhundert bekannter Fachautor auf dem Gebiet der Agrarwissenschaften, versuchte die ungarische Bevölkerung mit folgender Bemerkung zum Anbau von Kartoffeln, die bei den Ungarn verpönt waren, zu animieren: „[D]ie Schwaben in Ungarn, diese fleißige Nation, leben ganz ordentlich damit […].“52 Die Ansiedlungen im 18. Jahrhundert hatten jedoch sowohl für die einheimische Bevölkerung als auch für die Ankömmlinge selbst nicht nur positive Folgen. Die den deutschen Siedlern gewährten Begünstigungen und ihre von denen der einheimischen Bevölkerung abweichenden Wirtschaftsmethoden sowie ihr in der Regel höherer Lebensstandard riefen auch Neid und Missgunst hervor. Die schnelle Bevölkerungszunahme bei gleichzeitig langsamer Entwicklung der Produktionsmethoden in der Landwirtschaft führte mancherorts sogar zu Überbevölkerung und sozialen Spannungen. Die Grundbesitzer im Komitat Tolnau beklagten sich bereits 1770, dass es keinen einzigen gebe, der freien Boden zur Aufnahme neuer Kolonis51 52
Pukánszky, Béla: Német polgárság magyar földön [Deutsches Bürgertum auf ungarischem Boden]. Budapest 1940, 5 f. Solymár, Imre: A dél-dunántúli németek mentalitása [Die Mentalität der Deutschen in Südtransdanubien]. Bonyhád 2003, 185.
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ten habe, und die Bevölkerung von Tag zu Tag derart wachse, dass keine Hoffnung auf Unterbringung ausländischer Kolonisten bestehe.53 Der Agrarfachmann und evangelisch-lutherische Pfarrer von Szarvas Sámuel Tessedik (Teschedik) vertrat die Ansicht, dass man die für die deutschen Siedler vorgesehenen bedeutenden Geldsummen sinnvoller für die Binnenansiedlung von Landesbewohnern und damit die Behebung ihres Bodenmangels hätte aufwenden müssen.54 Selbst im Banat begannen Grundherren und Kameralbehörden Ende des 18. Jahrhunderts die Ansiedlung zu kritisieren, da diese die Weidemöglichkeiten für das Vieh verringerte.55 Die Ansiedlung verlief auch nicht immer auf befriedigende Weise. So konnte es geschehen, dass ein Teil der Einwanderer, enttäuscht von den vorgefundenen Verhältnissen, nach Hause zurückkehrte. Das Ratsprotokoll der Stadt Ulm spricht in den Jahren 1712 und 1713 von etwa 1.500 zum Teil kranken Rückwanderern aus Ungarn.56 Anderen erging es noch schlimmer, denn sie überlebten die erste Zeit nicht. Sie kamen schon während der Reise um oder aufgrund der elenden Umstände und der ungewohnten Lebensbedingungen in Ungarn. So starben viele der Kolonisten beispielsweise im Komitat Sathmar infolge des schlechten Trinkwassers. Deshalb schrieb Graf Károlyi seiner Ehefrau: „Meine Liebe, wo die Schwaben sein werden, dort laßt Wein, Bier, Schnaps ausschenken, denn vom Wasser sterben sie alle, weil sie es nicht gewohnt sind.“57 Von den 1712 in Großkarol und Kappelau – zu dieser Zeit noch ein Sumpfgebiet – angesiedelten Kolonisten war zwei Jahre später keiner mehr anzutreffen, weil sie entweder die Flucht ergriffen hatten oder gestorben waren. Nach Ablauf der Vergünstigungen waren die deutschen Siedler von den im 18. Jahrhundert ansteigenden grundherrlichen Abgaben ebenso betroffen wie die ungarischen Bauern. Auch aus diesem Grund schlossen sie sich den Unmutsbekundungen der ungarischen Bauern an, die sich im Sommer 1765 in Transdanubien zu formieren begannen. Die Anführer der Bewegung – Michael Talkner von Rudersdorf und Johann Kramer aus Dobersdorf – gingen bis nach Wien, wo sie von hochrangigen Beamten empfangen wurden. Vielleicht spielte hierbei auch eine Rolle, dass man die Bittsteller am Hof wegen ihrer deutschen Nationalität eher anhörte, als dies bei ungarischen Leibeigenen der Fall gewesen wäre. Zu konstatieren ist dabei freilich, dass ihr Vorsprechen keine schnelle Veränderung ihres Schicksals herbeiführte, mittelbar spielte es jedoch bei der Einführung der Urbarialverordnung Maria Theresias 1767 eine Rolle.58 53 54 55 56 57 58
Eppel (wie Anm. 16), 257. Teschedik, Samuel: Der Landmann in Ungarn, was er ist, und was er seyn könnte. Pest 1784, 178–180. Vgl. zuletzt Fata, Márta: Migration zum Zweck der Agrarreformen im kameralistischen Staat. Theorie und Praxis der Ansiedlungspolitik Kaiser Josephs II. in Ungarn, Siebenbürgen, Galizien und der Bukowina von 1768 bis 1790. Habil. 2010, Manuskript. Dies.: Verlorene Heimat? Die Stellung der Stadt Ulm zur Rückwanderung der Schwaben aus Ungarn 1712/13. In: „Die Schiff’ stehn schon bereit“ (wie Anm. 39), 43–57. Szabó (wie Anm. 12), 149 f. – Kovács (wie Anm. 24), 181 f. Szabó, Dezső: A magyarországi úrbérrendezés története Mária Terézia korában [Die Geschichte der Urbarialregulierung zur Zeit Maria Theresias]. Budapest 1933.
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Die zugewanderten Deutschen, seit Anfang des 19. Jahrhunderts immer häufiger „Schwaben“ genannt,59 wurden im Königreich Ungarn nicht zu privilegierten Mitgliedern der ungarischen Gesellschaft. Nachdem sie keine Vergünstigungen mehr erhielten, mussten sie sich in die Sozialagrarstruktur der ungarischen Gesellschaft einfügen. Ihre soziale und ethnische Gruppenbildung war somit vielfach erschwert. Die Bedingungen dazu waren auch innerhalb des Kolonistenmilieus nicht günstig, denn nicht selten stammten die Siedler aus geographisch unterschiedlichen Gebieten mit jeweils verschiedenen Dialekten, Bräuchen und Traditionen. Wie der ungarische Historiker István Szabó zeigt, waren beispielsweise in Kimling im Komitat Tolnau 157 deutsche Kolonisten aus 104 verschiedenen Orten eingewandert.60 Zudem fanden die Neuankömmlinge auch in den im Mittelalter eingewanderten und privilegierten Gruppen der Siebenbürger und Zipser Sachsen keine Verbündeten, was nicht so sehr durch die geographische Entfernung der „schwäbischen“ Siedlungsgebiete von Siebenbürgen und der Zips zu erklären ist, sondern vielmehr durch die starre Struktur der feudalen Gesellschaft Ungarns. Dieser Umstand trennte die bäuerlichen Siedler auch von den deutschen Händlern und Handwerkern in den Städten. So vergrößerten die im 18. Jahrhundert eingewanderten Deutschen die Anzahl der sogenannten Teilgesellschaften der strukturell nicht ausdifferenzierten ethnischen Gruppen im Land.61 Die Schwaben in Ungarn konnten keine eigene adlige Grundbesitzerschicht ausbilden und waren mehrheitlich hörige Bauern, deren sozialer Aufstieg sich kaum als einfacher erwies als der der ungarischen Leibeigenen. Auch gegenüber den politischen Bewegungen des 18. Jahrhunderts verhielten sich die Schwaben indifferent, ganz anders als etwa die in die ständisch-feudale Gesellschaft eingegliederten Siebenbürger Sachsen.62 Die schwäbischen Dörfer in Ungarn führten ein von ihrer Umgebung eher abgewandtes, gesellschaftlich isoliertes Dasein. Die Grenzen ihrer Lebenswelt reichten höchstens bis zum benachbarten Ansiedlerdorf. Sie fühlten sich meist wohler, wenn auch in den Nachbarorten Deutsche wohnten, und obwohl diese in fast jedem Dorf einen anderen Dialekt sprachen, knüpften sie zueinander viel häufiger Kontakt als zu der für sie fremdsprachigen Umgebung.63 Der Grund für die Abgrenzung muss allerdings nicht nur in den sprachlichen Unterschieden gesucht werden. Neben dem Lob für die Wirtschaft der Deutschen wurde von den Ungarn auch auf ihre 59 60 61 62
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Zur Verbreitung der Bezeichnung vgl. Wolf, Josef: Gruppenbildungsprozesse im Banat des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Zum Sprach-, Kommunikations- und Migrationsverhalten deutscher Einwanderer. In: Danubiana Carpathica 3/4 (2009/2010), 263–326, hier bes. 280–288. Davon stammten 20 Einwohner aus Luxemburg, 20 aus Lothringen, 42 aus der Pfalz, 17 aus Baden und sieben aus der Umgebung von Mainz; vgl. Szabó (wie Anm. 12), 153. Bellér (wie Anm. 38), 136–138. Ein besseres Verhältnis der Ansiedler zu den in Ungarn lebenden Sachsen war auch deshalb schwierig, da politische Differenzen bestanden. Um ihre ständische Autonomie bewahren zu können, hatte sich bei den Siebenbürger Sachsen schon zur Zeit des selbstständigen Fürstentums eine gegen die Ungarn gerichtete Haltung entwickelt. Dagegen waren die in Oberungarn lebenden Zipser Sachsen bereit, sich den ungarischen Ständen anzuschließen. So unterstützten sie zum Beispiel den Freiheitskampf von Ferenc II. Rákóczi oder die 1848er Revolution. Eppel (wie Anm. 16), 521.
„Pflüg’ mir den Boden, wackre Schwabenfaust“
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Fremdheit und Zurückhaltung verwiesen. Auf eine solche Charakterisierung bezogen sich noch Anfang des 20. Jahrhunderts Autoren wie etwa der Kulturhistoriker János Sziklay, als er schrieb: „Die Deutschen sind gute, ausdauernde Arbeiter, aber unfreundlich; sie sind sparsame und gute Bauern, aber auch knauserig.“64 Die gesellschaftliche und politische Isolation der Schwaben in Ungarn trug dazu bei, dass sie ihre Sprache und Traditionen bewahren und in der neuen Heimat eine eigene Identität entfalten konnten. Das „Banater Schwabenlied“ des aus dem Banat stammenden und in Wien lebenden Autors Adam Müller-Guttenbrunn, aus dem das Zitat im Titel dieses Beitrags stammt, spiegelt diese vor allem in der Kultivierung des Landes verwurzelte Siedleridentität wider – wenn auch die Präsenz der Schwaben fälschlicherweise schon auf die Türkenzeit zurückprojiziert und ihnen ein Anteil an den Kriegen gegen die Osmanen zugesprochen wird: „Er hat geblutet in Prinz Eugens Heeren, / vertrieb den Feind, der hier im Land gehaust. / Dein eigner König rief ihn einst in Ehren: / ‚Pflüg’ mir den Boden, wackre Schwabenfaust!‘“65 Die ungarische Geschichtsschreibung wirft der habsburgischen Regierung oft eine einseitige Bevorzugung der deutschen Siedler und eine Vernachlässigung der landansässigen Bevölkerung vor. Das Beispiel des Banats wird hierbei häufig hervorgehoben.66 Auch wenn die Realisierung der Siedlungspolitik in vielerlei Hinsicht Mängel aufwies, war sie doch ein wichtiges und erfolgreiches Kapitel in der Geschichte Ungarns. Die deutsche Ansiedlung im 18. Jahrhundert erfüllte jene Aufgabe, die ihr von den Initiatoren – den Grundherren und der Wiener Regierung – zugedacht worden war: Ende des 18. Jahrhunderts war Ungarn wieder besiedelt, das Land zum Großteil kultiviert. Somit konnte die Zeit der Einwanderung und Ansiedlung in der historischen Erinnerung der Nachkommen der Kolonisten mit Recht als ein wichtiger Beitrag zum Wiederaufbau und zur Weiterentwicklung Ungarns im 18. Jahrhundert verankert werden.
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Sziklay, János: A magyar föld [Die ungarische Erde], 2 Bde. Budapest o. J., hier Bd. 1, 86. – Solymár (wie Anm. 52), 189. Aus „Banater Schwabenlied“. In: Müller-Guttenbrunn, Adam: Deutsche Sorgen in Ungarn. Studien und Bekenntnisse. Wien – Warnsdorf – Leipzig 1918, 131. SzekfŰ, Gyula: Az új népesség. Gazdasági és nemzetiségi viszonyok [Die neue Bevölkerung. Ökonomische und ethnische Verhältnisse]. In: Magyar Történet. Hg. v. Bálint Hómann u. Gyula SzekfŰ, 5 Bde. Budapest 1935, 2. Aufl., hier Bd. 5, 436.
„KIRCHHOF“ VERSUS „PARADIES“
Die Auswanderung in Selbstzeugnissen der Kolonisten zur Regierungszeit Josephs II. Márta Fata 1. DIE SELBSTZEUGNISSE DER KOLONISTEN Selbstzeugnisse sind Textdokumente, in denen – mit Benigna von Krusenstjern formuliert – die Person des Verfassers „selbst handelnd oder leidend in Erscheinung [tritt] oder […] explizit auf sich selbst Bezug [nimmt]“1. Solche Selbstzeugnisse sind beispielsweise Briefe und Bittschriften von Auswanderern, in denen sie über ihre Handlungsmotive, Weltbilder und Sehnsüchte, aber auch über andere sie beschäftigende Themen wie Ansiedlungsbedingungen oder Lebensverhältnisse in der neuen Heimat berichten. Briefe und Bittschriften in Ungarn sind außerdem die einzigen von den Kolonisten meist selbst verfassten und eigenhändig geschriebenen Dokumente,2 die in größerer Zahl in den Archiven erhalten geblieben und somit für die historische Forschung auswertbar sind. Auch wenn beide Textformen aus sehr unterschiedlichen Absichten heraus geschrieben wurden, ergänzen sie einander in der Aussage über Wahrnehmungen, Erfahrungen und Deutungen und geben einen Einblick in die kollektive Biographie der am Migrationsprozess Beteiligten.3 In diesem Beitrag soll den Fragen nachgegangen werden, wie in den amtlichen Schriften im Aus- und Einwanderungsland pro und contra Migration argumentiert wurde, wie das Einwanderungsgebiet oder die Ansiedlungsbedingungen von den 1
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Krusenstjern, Benigna von: Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994), 462–471, hier 463. Krusenstjern brachte eine konsensfähige Definition in die Diskussion über Selbstzeugnisse contra Ego-Dokumente und die Thesen von Winfried Schulze ein. Vgl. dazu Rutz, Andreas: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen. In: Zeitenblicke Nr. 2, 2002, http:// www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html (17.11.2008). Zum Problem der „schriftlichen Fremddiktion“ der bäuerlichen Selbstzeugnisse vgl. Peters, Jan: Zur Auskunftsfähigkeit von Selbstsichtzeugnissen schreibender Bauern. In: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. v. Winfried Schulze. Berlin 1996 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), 175–190, hier 175 f. Mesenhöller, Peter: Der Auswandererbrief. Bedingungen und Typik schriftlicher Kommunikation im Auswanderungsprozeß. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung NF 17 (1985), 111–123, hier 112. – Helbich, Wolfgang: Auswandererbriefe: Nutzen, Missbrauch, Möglichkeiten. In: Migration in Erinnerung. Reflexionen über Wanderungserfahrungen in Europa und Nordamerika. Hg. v. Christiane Harzig. Göttingen 2006 (Transkulturelle Perspektiven 4), 83–103.
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Kolonisten in ihren Briefen und Bittschriften thematisiert wurden und schließlich welche Wirkungen diese schriftlichen Dokumente der Kolonisten auf den Ansiedlungsprozess zeigten. 2. ARGUMENTE FÜR UND GEGEN DIE AUSWANDERUNG IN DEN AMTLICHEN SCHRIFTEN Nach dem Tod Maria Theresias am 29. November 1780 konnte Joseph II. mit der praktischen Umsetzung seines während der langen Mitregentschaft formulierten Regierungsziels, der Strukturreform der Habsburgermonarchie, beginnen. Im Agrarbereich wurde eine physiokratisch geprägte Steuer- und Agrarreform eingeleitet, als deren Grundsatz Joseph II. in einem Handbillet an den Obersten Kanzler Graf Leopold Kollowrat die Gleichheit der Belastung der Bevölkerung sowohl innerhalb der einzelnen Länder als auch innerhalb der Gesamtmonarchie bezeichnete. Um die Steuergrundlage für den Staat erweitern zu können, sollte die Reform mit einer Regulierung der Urbarialleistungen der untertänigen Bauern einhergehen, wobei zum Hauptziel die Aufhebung der Leibeigenschaft und des Robotsystems bei gleichzeitiger Einführung des bäuerlichen Eigentums und der bäuerlichen Eigenwirtschaft erklärt wurde.4 Joseph II. konnte hierbei an die bereits unter Maria Theresia eingeführte Parzellierung von Maierhöfen beispielsweise in den böhmischen und mährischen Kameralherrschaften anknüpfen und das neue System auf allen staatlichen Dominien, so auch in Galizien und Ungarn, weiterführen. An die Einbindung deutscher Einwanderer bei diesen Reformen dachte Joseph II. zunächst nicht. Erst auf Initiative des neuen galizischen Gouverneurs Graf Joseph Brigido, der aus dem Banat ausreichende Erfahrung mit der deutschen Impopulation mitbrachte, befasste sich das zentrale Beratungsorgan der Habsburgermonarchie, der Staatsrat, bei seiner Sitzung am 18. März 1781 mit den Fragen, wie die Zahl der „dem Lande Galizien […] noch so sehr ermangelnden nützlichen Professionisten“ zu erhöhen sei und ob „die auf den Kameralherrschaften zu verteilenden vielen Meierhofdomänengründe mit fremden arbeitsamen Menschen“ zu besetzen seien.5 In dem daran anschließenden Einwanderungspatent für Galizien6 vom 17. September 1781 wurde die Anwerbung deutscher Handwerker und Bauern zwar erwogen, doch gedacht war hauptsächlich nicht an Kolonisten aus dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, sondern an protestantische Handwerker aus Preußisch-Schlesien und dem Königreich Polen. Erst die vom Direktor der Kameralherrschaft Sendomir, Johann Hladky, eigenmächtig eingeleitete Werbung im 4 5 6
Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Kabinettsarchiv, Staatsratprotokolle 1781:2055. – Rumpel, Hubert: Die Reisen Kaiser Josephs II. nach Galizien. Diss. Erlangen 1946, 144, Fußnote 2. ÖStA (wie Anm. 4). – Rumpel (wie Anm. 4), 143. ÖStA, Finanz- und Hofkammerarchiv (FHKA), Galizische Domänen 1772–1800, rote Nr. 67, fol. 200r–207v: „Die Gestattung der freyen Religions-Exercitii, und die Begünstigungen für die herein wandernde fremde Professionisten, und Ackersleute betreffend.“
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Heiligen Römischen Reich deutscher Nation um Arbeitskräfte für die Trockenlegung der Moräste in seinem Kameralbezirk, die auf einen unerwartet großen Widerhall stieß, veranlasste die Wiener Regierung, selbst mit der Anwerbung bäuerlicher Kolonisten zu beginnen. Die günstigen Ansiedlungsbedingungen und die freie Religionsausübung, mit denen Wien den Wettbewerb mit Preußen – dem größten Konkurrenten und zugleich Vorbild der josephinischen Reformen – um Kolonisten aufnehmen wollte, ließen die Einwandererzahlen ansteigen. 1782 wanderten 1.752 Personen, ein Jahr später bereits 3.790 Personen legal nach Galizien ein.7 Die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zunehmende Auswanderungslust aus dem römisch-deutschen Reich nach Amerika und Ost- und Südosteuropa hatte die Beschränkung der Migration zur Folge: Im Schwäbischen Reichskreis wiederholten die beiden kreisausschreibenden Fürsten das Emigrationsedikt von 1768,8 in der Kurpfalz und in Pfalz-Zweibrücken9 wurde neben Verboten zugleich eine Propaganda gegen die Auswanderung und vor allem deren illegale Form eingeleitet. In Broschüren wie der 1784 veröffentlichten Flugschrift „Freundschaftliche Erinnerung und Warnung eines Pfälzers an die nach Pohlen ausziehenden Mitbürger“10 wurden die Untertanen an ihre staatsbürgerlichen Pflichten erinnert. Der anonyme Autor der „Freundschaftlichen Erinnerung“ berief sich auf den zwischen Herrscher und Untertanen bestehenden Gesellschaftsvertrag, der nach der naturrechtlichen Staatslehre die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens in den frühneuzeitlichen Monarchien bildete und beide Seiten zur Einhaltung des im Dienste des Staates gegebenen Wortes verpflichtete.11 Im Sinne dieses Gesellschaftsvertrags erklärte der Verfasser, dass die Vorteile, die der Staat seinen Untertanen gewährleiste, wie etwa die Lebens- und Besitzsicherheit nicht umsonst seien. Als Gegenleistung müssten die Untertanen ihrem Land den Dienst erweisen, es zu bevölkern, zu bewirtschaften und zu verteidigen. „Verlasset ihr es, so brechet ihr das Versprechen, […] ihr seyd Verräther an eurem Vaterlande, indem ihr ihm so viele Aerme entzieht […]“12, mahnte der Verfasser. Zugleich suchte er seine Leser mit dem Entwurf eines negativen Galizien-Bildes von der Auswanderung abzuhalten, wobei er in offensichtlicher Unkenntnis des Landes nicht auf die galizischen Verhältnisse eingehen konnte. Dagegen argumentierte er mit dem von den Kameralisten für agrartechnisch schwer erschließbare Gebiete häufig verwendeten Topos des „öden unbebauten Landes“, mit einer „rauen wilden Erde“, mit „ungesunder
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Lepucki, Henryk: Dzialalnosc kolonizacyjna Marii Teresy i Józefa II w Galicji 1772–1790. Lemberg 1938. Hier wurde das von der Publikationsstelle Berlin-Dahlem für den Dienstgebrauch ins Deutsche übersetzte Exemplar mit dem Titel „Die Kolonisationstätigkeit Maria Theresias und Josephs II. in Galizien in den Jahren 1772–1790“ aus dem Jahr 1939 verwendet, 76 f. Hauptstaatsarchiv Stuttgart, C 10, Nr. 467, Erlass vom 2. März 1782. Zu Hintergründen und Ausmaß der Auswanderung aus diesen Gebieten vgl. u. a. Hacker, Werner: Auswanderungen aus Rheinpfalz und Saarland im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1987, 146 u. 148. ÖStA FHKA, Galizische Domänen 1772–1800, rote Nr. 67, fol. 440r–449r. Zippelius, Reinhold: Geschichte der Staatsideen. München 1989, 6. Aufl. [11971], 132–136. ÖStA FHKA, Galizische Domänen 1772–1800, rote Nr. 69 A, fol. 442v.
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Luft“ und giftigem Wasser.13 Der in den deutschen Territorialstaaten bis dahin etwa auf das Banat angewendete Topos wurde jetzt auf Galizien übertragen. Das Land erscheint in der Flugschrift gewissermaßen als Sinnbild des irdischen Jammertals, wo „die Leute, besonders die Ausländer, wie Mücken hinweg[sterben]“14. Diesem „Kirchhof“ der Menschen stellt der Verfasser das eigene Vaterland gegenüber, wenn er seine Landsleute mahnt: „Ja ihr könnt stolz darauf seyn, dass man im übrigen Teutschland die Pfalz das Paradies selben nennet.“15 Das vom Verfasser gepriesene pfälzische Paradies mit ertragreichen Feldern, gut zu verkaufenden Früchten, Ersparnissen und geräumigen, sauberen Wohnungen sowie guten Kleidern blieb allerdings meist nur ein säkularer Ort der irdischen Sehnsüchte, die sich für die meisten Auswanderungswilligen nicht erfüllten. So konnten solche Argumente, wenn sie die unteren Bevölkerungsschichten überhaupt erreichten, diese von der Auswanderung nicht abhalten. Die Behörden in der Kurpfalz schätzten die Zahl der Auswanderer nach Galizien allein im Mai und Juni 1785 auf 9.625 Personen.16 In Galizien, wo die Verwaltung auf einen größeren Kolonistenstrom nicht eingestellt war, bereitete die angestiegene Zahl der Ansiedler schon 1783 wegen der fehlenden Bauernstellen Sorgen. Während seiner Reise durch Galizien im Frühjahr 1783 beschloss deshalb Joseph II., die Einwanderung auf weitere Länder der Habsburgermonarchie auszuweiten. Im Sinne der Zielsetzung einer forcierten Bevölkerungsvermehrung wurde nun im Plan der Österreichisch-Böhmischen Hofkanzlei zwischen dem primären Einwanderungsgebiet Galizien einerseits und Ungarn mit dem Banat als Ausweichgebiet andererseits unterschieden. Denn während auf Vorschlag der Hofkanzlei in Galizien „alle Ackersleute, wenn sie von mittleren Jahren, wohlbestellter Leibes Constitution und mit 100 fl. an Vermögen mit sich bringen, nicht minder auch alle Müller, Tischler, Zimmer-Leuth und Comercial Professionisten“17 angenommen werden sollten, waren die meist mittellosen Ansiedler nach Ungarn umzuleiten, um in Galizien Zeit für die Ansiedlung gewinnen zu können. Aber auch bis zur Einrichtung dieser neuen Bauernstellen und zur Fertigstellung der Unterkünfte in Galizien sollten die deutschen Auswanderer in der Habsburgermonarchie aufgenommen werden, um den Kolonistenzustrom weiterhin zu sichern. Nachdem sich die Ungarisch-Siebenbürgische Hofkanzlei am 23. April 1784 zur Aufnahme deutscher Einwanderer bereit erklärt hatte, konnte der Einwandererstrom auf die ungarischen Kameralherrschaften und bei Bedarf auf die Privatherrschaften umgeleitet werden. Die Einwanderer sollten noch in ihrer Heimat von den kaiserlichen Residenten in Frankfurt am Main, Koblenz und Rottenburg am Neckar, die mit Anwerbung, Aufklärung und Abfertigung der Auswanderer beauftragt waren, von den Vorteilen der ungarischen Ansiedlung überzeugt werden. Sollte dies nicht gelingen, waren die Einwanderer von den Ansiedlungskommissaren in Wien zur Ansiedlung in Un13 14 15 16 17
Ebd., fol. 447r–v. Ebd., fol. 448r–v. Ebd. Landesarchiv Speyer, A 6, Nr. 224/3. ÖStA FHKA, Galizische Domänen 1772–1800, rote Nr. 68, fol. 160r–v.
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garn zu bringen.18 Doch die Wiener Stellen hatten nicht mit dem großen Widerstand der Auswanderungswilligen gegenüber Ungarn gerechnet, worüber jedoch der kaiserliche Resident in Frankfurt am Main, Johann Franz Anton von Roethlein, schon im Vorfeld der Vorbereitungen am 13. März 1784 berichtet hatte. Er ließ die Hofkanzlei wissen, dass die deutschen Auswanderer keineswegs geneigt waren, nach Ungarn zu gehen, weil „die mehrste das Hungarische Clima und Luft nach dem allgemein verbreiteten Sprichwort im Reich: Hungarn ist deren Teutschen Kirchhof,19 nicht nur scheuen, sondern auch durch die aus Pohlen erhaltenen guten nachrichten angelockt ihre dasigen Anverwandten oder ehemaligen nachbarn im nemlichen orth oder ansiedlungs-bezirk beygesiedelt zu werden eintzig wünschen“20.
Vor allem die letzte Ansiedlungsperiode im Banat zwischen 1768 und 1771 war im kollektiven Gedächtnis der Deutschen negativ verankert, was jetzt abgerufen werden konnte, um anstelle des ungewollten Landes ins ‚Land der Verheißungen‘ zu gelangen. Bei dieser Gelegenheit zeigte sich, dass Propagandaschriften gegenüber authentischen oder als authentisch erscheinenden Berichten der Kolonistenbriefe über das Auswanderungsziel wirkungslos bleiben mussten. Der Verfasser der Flugschrift „Freundschaftliche Erinnerung“ behielt somit in einem Punkt Recht, dass nämlich die Schönfärberei der bereits ausgewanderten Verwandten und Freunde positive Phantasiebilder über die Zukunft entstehen ließen.21 Die Hofkanzlei erteilte dem Residenten auf die erhaltene Information hin den keineswegs leichten Auftrag, der allgemein verbreiteten Meinung über Ungarn mit der Erläuterung entgegenzuwirken, dass das Sprichwort von Ungarn als dem „Kirchhof“ der Deutschen „nur auf die Armeen bezug haben könne, die unter freyem Himmel […] campiren, und bey der schnell abwechselnden Hitz und Kälte vielen Krankheiten ausgesetzet sind […]“22. Doch die auf langer Erfahrung mit der ungarischen Ansiedlung beruhende Meinung der deutschen Migranten war mit solch billiger Propaganda nicht zu ändern. Erst mit Hilfe der – von der Hofkanzlei schon am 10. Juli 1783 vorgelegten23 und im nächsten Jahr in die Praxis umgesetzten – Vorschläge 18 19
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Ebd., fol. 771r–782r. Das Sprichwort nahm noch 1846 der Schriftsteller Karl Simrock in seine Sammlung „Die deutschen Sprichwörter“ auf; vgl. Die deutschen Sprichwörter. Hg. v. Karl Simrock. Frankfurt a. M. [1850], 578. Allerdings war die Metapher im 18. Jahrhundert nicht allein auf Ungarn gemünzt. Verbreitet war das Sprichwort „Lamparten ist der Deutschen und Franzosen Kirchhof“ im Zusammenhang mit den Kriegen der Schweizer und Franzosen in der Lombardei. Der Spruch „Den Eersten sein Dod, den Tweeten sein Not, den Drütten sein Brod“ galt auch in allen deutschen Moorgebieten, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts kolonisiert wurden. Die im Moor angesiedelten Bauern, meist Knechte und Mägde, die sich mit der Aussicht auf Eigentum sowie Befreiung von Steuern und Militärdienst bewarben, hatten es ebenso schwer wie die Bauern auf den seit anderthalb Jahrhunderten unbebauten Puszten im Banat. Clausen, Otto: Chronik der Heide- und Moorkolonisation im Herzogtum Schleswig (1760–1765). Husum 1981. ÖStA FHKA, Galizische Domänen 1772–1800, rote Nr. 68, fol. 361v. Harth, Dietrich: Gedächtnis und Erinnerung. In: Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie. Hg. v. Christoph Wulf. Weinheim – Basel 1997, 738–744. ÖStA FHKA, Galizische Domänen 1772–1800, rote Nr. 68, fol. 359v. Ebd., fol. 440r–444r.
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zum verbesserten Ansiedlungsgeschäft konnte auf die Verteilung der Einwanderer besser Einfluss genommen werden. Schließlich gab es in der Zeit zwischen 1784 und 1787 mindestens 9.812 Familien, die in das Königreich Ungarn auswanderten.24 3. DIE ANSIEDLUNG IM SPIEGEL VON BRIEFEN UND BITTSCHRIFTEN DER KOLONISTEN Vielen von den Auswanderern erging es so wie dem 40-jährigen Ackermann Nicolaus Kuhn, der mit seiner Frau und vier Kindern aus dem lothringischen Rimlingen nach Galizien auswandern wollte.25 Doch wie er in seinem Brief vom 13. September 1784 an seinen Gevatter schon aus Mercydorf im Banat berichtete: „[A]llein es ist daraus nichts geworden, denn durch die Hand des Allerhöchsten und aus kayserlichen königlichen Rath sind wir durch das Ungarn bis in das Banath geführet worden, welches ein sehr gutes Land ist […]“26. Kuhns knappe Anmerkung in seinem schon nach drei Wochen Aufenthalt im Land verfassten Brief, dass das Banat ein Land sei, in dem „an Früchten, Getreide und Vieh gar kein Mangel“27 herrsche, verweist auf die Tatsache, dass die meisten Auswanderer in einer langfristigen Dimension der Zukunft dachten, als sie das Land vom ersten Augenblick an unter dem Gesichtspunkt der vorhandenen natürlichen Ressourcen und als Ort ihres neuen bäuerlichen Lebens in Augenschein nahmen. Deshalb notierten die Kolonisten gleich in ihren ersten Briefen akkurat Preise für Lebensmittel und Güter und beschrieben ausführlich die Schönheit und Fruchtbarkeit des Landes. Der am 3. September 1784 in Wien registrierte, ebenfalls 40-jährige Ackermann Nikolaus Thibaut aus dem deutsch-lothringischen Lemberg28 pries schon kurz nach der Ankunft im Banat, am 25. September 1784, in einem Brief an seinen Vater das Land, das er bereits als die eigene Heimat ansah: „[Es] wachst alles bey uns [Hervorhebung von M. F.] was man einsähen thut als Weitzen, Korn, Gerst, Haber, Welschkorn, Grundbirnen, Bohnen, Erbsen, Linsen, Kraut, Rüben, Hanf, Flachs, Hirschen, Wein und Obst und alles in solche Menge […], das ein Bauer mit 20, 30, 40 Acker Land mehr Früchten macht als bey euch einer der 80, 90, 100 Acker Land besitzt.“29
Nach Aufbruch und Wanderung hatte man einen neuen Lebensraum gefunden, der die Erwartungen anscheinend weit übertraf. Aus den Auswandererbriefen sind ein 24 25 26 27 28 29
Feldtänzer, Oskar: Joseph II. und die donauschwäbische Ansiedlung. Dokumentation der Kolonisation im Batscherland 1784–1787. Linz 1990 (Donauschwäbisches Archiv, Reihe 3: Beiträge zur donauschwäbischen Volks- und Heimatgeschichtsforschung 44), 39. Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Staatsarchiv] (MOL), A 39, 1784:11251. Zit. nach Hiegel, Charles: Répression de l’émigration lorraine en Hongrie au XVIIIe siècle dans les bailliages de Bitche et de Sarreguemines. In: Annuaire de la Société d’Histoire et d’Archéologie de la Lorraine LXX (1970), 101–168, hier 154. Ebd. MOL A 39, 1784:11427. Adam, Gertrude/Petri, Anton Peter: Heimatbuch der Gemeinde Orczydorf im Banat. Marquartstein 1983, 44.
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Staunen und eine gleichzeitige Freude an der vorgefundenen fruchttragenden Erde und der das Gedeihen begünstigenden Natur im Einwanderungsgebiet herauszulesen. Adam Wegehenkel aus Tscherwenka berichtete am 17. Juli 1785 nach Hause: „Das Land ist so fett, daß Ihr solches nicht glaubet, wenn ich solches schreibe.“30 Am gleichen Tag schrieb Johann Georg Wittig ebenfalls aus Tscherwenka nach Weissenhasel in Hessen: „Die Gegend ist so schön und eben, daß auf Weit und Breit kein Berg zu sehen. Die Gegend ist so guter Grund, daß er nicht darf gedüngt werden und gibt die beste Frucht, dass sie sich vor Fettigkeit legt.“31 Der aus einer hügeligen Gegend stammende Auswanderer pries das ebene Land, weil er es als zur Landwirtschaft besonders geeignet ansah. Sogar ein gewisser bäuerlicher Stolz auf die Naturreichtümer des neuen Lebensorts ist in den Briefen dokumentiert, wenn beispielsweise Stephan Kaufmann aus Bukin nach Hause schreibt: „[D]er Mist, den wir Winterzeit machen, der ist uns nur zur Last. Wenn einer oder der andere ist, der ihn Frühjahrszeit holen will, ich will Ihm noch gerne helfen aufladen.“32 Für Kaufmann bedeuteten die neuen Gegebenheiten in der Fremde eine Befreiung vom Produktionssystem seiner alten Heimat. Dort hatte man das rechte Verhältnis zwischen Kornfrucht und Futter nicht herstellen, auch den Viehstand nicht heben, daher die Düngermasse nicht steigern und die Felder nicht verbessern können.33 Dagegen waren die Felder im Einwanderungsgebiet so fruchtbar, dass sie nicht einmal gedüngt werden mussten. Kaufmann bewertete deshalb seine Auswanderung als regelrechte Erlösung „aus dem Jammertal“ und „aus dem schweren Arbeitsjoch“, als er weiter berichtete: „Wir müssen in Ungarland auch arbeiten, aber was ich hier mit meinen Kindern einen Tag Heu mach da kann ein Mann in Hasel 12 Personen ins Heu schicken und machen ihm so viel nicht als hier 4 Personen. Und hier in Ungarland da hab ich das Jahr mehr Fett vom Maul gewischt als ich in Hasel in 2 Jahren nicht hab zu essen kriegt und mehr Wein vom Maul gewischt als ich in Hasel nicht hab Bier zu trinken kriegt.“34
In Kaufmanns Bild der Fremde als einem Schlaraffenland – eine in der Frühen Neuzeit populäre Gegenvorstellung zur ständischen Ordnung,35 hier eine Gegendarstellung zur alten Heimat mit der dortigen Nahrungsversorgung – kommt zum Ausdruck, dass die Auswanderer die zu Hause vermisste solide Lebensgrundlage in der Fremde gesucht und gefunden hatten. Selbst die Gründe für die zunächst abgelehnte Ansiedlung in Ungarn und im Banat – das Krankheit und Tod verursachende schlechte Trinkwasser und das unge30 31 32 33 34 35
Hefner, Angela: Tscherwenka – Cservenka – Crvenka, Batschka 1785–1944. Tscherwenkaer Familien. Karlsruhe 2002, CD-ROM, 2. verb. Aufl. [1ca. 1999], 439. Ebd., 445. Ebd., 441 f. Trossbach, Werner: Individuum und Gemeinde in der ländlichen Welt. In: Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Richard van Dülmen. Darmstadt 2001, 198. Hefner (wie Anm. 30), 441 f. Müller, Martin: Das Schlaraffenland. Der Traum von Faulheit und Müßiggang. Eine TextBild-Dokumentation. Wien 1984. – Richter, Dieter: Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie. Köln 1984.
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wohnte Klima, das weiterhin seinen Tribut verlangte – waren bald vergessen, obwohl nicht wenige Kolonisten auch jetzt mit diesen Schwierigkeiten konfrontiert wurden. Margaretha Ottilia Säcklerin berichtete am 18. Februar 1786 aus Kolut, dass sie und ihr Mann nach der Ankunft in Tscherwenka beide krank wurden; ihr Mann sei nach 14 Wochen am 1. Oktober 1785 auch gestorben. Obwohl die Familie eine volle Bauernstelle mit 30 Joch Acker, 14 Joch Wiesen, ein eingerichtetes Haus und Zugvieh erhalten hatte, konnte die Witwe mit ihrem noch minderjährigen Sohn den Bauernhof nicht allein führen und verzichtete auf die volle Bauernstelle. Ihr Leben als Achtelbäuerin mit einem eigenen Haus, einem Stück Feld und Garten änderte sich allerdings sehr bald durch ihre zweite Ehe mit dem ledigen Kolonisten Johann Friedrich Falckenstein von Ilbesheim in der Grafschaft Falkenstein.36 Zusammen mit ihrem zweiten Mann, der Bauer, Leinweber und Barchentmacher war, wollte sie in Kolut erneut eine volle Siedlerstelle beantragen, die den Einwandererfamilien vorschriftsmäßig zustand.37 Dankbar notierten viele der Briefschreiber, dass die Versprechungen, was Ackerfelder, Wohnhäuser und Einrichtungen betraf, eingehalten wurden. Der vermögenslose, 35 Jahre alte Ackermann und Müller Nikolaus Rabung aus Rubenheim in der Grafschaft Leyen, der mit seiner Frau am 19. August 1784 in Wien registriert wurde,38 schrieb aus Mercydorf, dass er alles bekommen habe, „was uns drausen ist versprochen worden, zum ersten ein neu erbaudes Haus vor zweyhundert und fünfzig Gulten, dabey zwei Pferdte und einen beschlagenen Wagen wie auch eine Kuhe mit einem Kalb, wie auch ein Bett und von Eisengeschier, was ein Bauersmann in seinem Hause brauchet […]. Landt bekommen wir so viel wir werarweiden können […]. Wovor wir unseren gnädigsten Kayser nicht genug danken können“39.
Adam Wegehenkel, wie auch andere, listete voller Dankbarkeit genau auf, was er neben Ackerfeld, Wiese und Zugtieren alles an Hausrat und Arbeitsgeräten erhalten hatte, von Sense und Pflug über Säge, Schnittmesser, Hacken, Schaufel, Sicheln, Beil, Mist- und Heugabel, Spinnrad bis zu Säcken und Tüchern. In Anbetracht der insgesamt 46 Stück Arbeitsgeräte und Hausratsgegenstände betonte er gegenüber den Daheimgebliebenen: „Ich schreibe Euch so gewiß keine Lüge, so gewiß als ich das Leben von Gott habe und erhalten habe. Glaubet Ihr solches nicht, so beschimpft Ihr nicht mich, sondern unseren gnädigen Kaiser, welcher diese Gnade an uns tut.“40 Die Chance, in der Fremde eine neue Existenz zu errichten, empfanden die Kolonisten als Gnade und Güte ihres „lieben Kaysers“41. Dieses große Vertrauen erlangte Joseph II. auch durch die Tatsache, dass er während seiner zahlreichen Reisen stets die Meinung seiner Untertanen zu erfahren suchte und ihre Bitt- und 36 37 38 39 40 41
MOL A 39, 1785:15591. Hefner (wie Anm. 30), 449–451. MOL A 39, 1784:11251. Klugesherz, Lorenz u. a.: Mercydorf. Die Geschichte einer deutschen Gemeinde im Banat. Seelbach 1987, 94. Hefner (wie Anm. 30), 439 f. Ottilia Säcklerin am 18. Februar 1786. Zit. nach ebd., 449.
„Kirchhof“ versus „Paradies“
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Klageschriften nicht nur aus ihrer Hand entgegennahm, sondern auch schnelle Abhilfe der Probleme veranlasste. Seine volksnahe Haltung, die vom Hof auch geschickt zu propagandistischen Zwecken genutzt wurde, trug wesentlich dazu bei, dass auch in der donauschwäbischen Volksüberlieferung ein Idealbild Josephs als guter und gerechter Kaiser entstehen konnte.42 Die unzähligen Schriften, in denen sich die deutschen Kolonisten persönlich an den Kaiser wandten, differenzieren allerdings notwendigerweise das positive Bild der deutschen Ansiedlung. Anschaulich bringen die Bittschriften aus Ruma die andere Seite zum Ausdruck. Als die Ungarisch-Siebenbürgische Hofkanzlei am 25. Juli 1783 das Hofreskript erhielt, den staatlichen und privaten Bedarf an Kolonisten in Ungarn unverzüglich zu melden, damit die deutschen Einwanderer von Galizien nach Ungarn umgeleitet werden konnten, meldeten sich nur einzelne Grundbesitzer, die bereit waren, Deutsche anzusiedeln. So wünschte Graf Joseph Sigismund Pejachevich 700 Bauernfamilien für seinen im Komitat Syrmien liegenden Marktflecken Ruma.43 Erst 1786, als auch auf den ungarischen Kameralgütern die Unterbringung der Einwanderer stockte, griff man auf die private Ansiedlung zurück und schickte Kolonisten nach Ruma ab. Die Lage eskalierte dort binnen weniger Wochen, weil die Grundherrschaft keinerlei Maßnahmen zur Ansiedlung der Familien getroffen hatte.44 Die Kolonisten beklagten, dass sie keine Hilfe bei der Ansiedlung erhielten und dass sie „zur großen Last der alten Bewohner, in deren Ställen und auf Böden wohnen müssen […] und an allen sehr großen Mangel leiden müssen“45. Die ihnen bei der Auswanderung versprochenen Begünstigungen würden nicht erfüllt; so wolle ihnen die Herrschaft 5¼ Joch Ackerland, den Hausgrund und die Hutweide inbegriffen, zuteilen, was zur Ernährung ihrer Familien jedoch nicht ausreiche. „Unsere Noth ist in einem so hohen Grade, daß wenn uns nicht bald geholfen wird, wir alle ein frühes Opfer des Todes seyn müssen“46, klagten sie. Mit ihrem Argument, dass sie unter solchen Bedingungen nicht „dem Staate nützlich seyn können“47, bezeugten sie zugleich, dass sie sich durchaus als Teil des großen Reformwerks des Kaisers verstanden, und machten deutlich, dass ihr persönliches Wohlergehen für den Staat – ganz im Sinne des naturrechtlichen Gesellschaftsvertrags – nicht gleichgültig sein könne. Joseph II. verstand die Botschaft der ihm während seiner Reise am 4. Juli 1786 überreichten Petitionen der Kolonisten. Er ordnete deshalb am 8. Juli 1786 sofortige Hilfsmaßnahmen für die Rumaer und die weiteren Kolonistengruppen an, die zur gleichen Zeit in der Herrschaft von Lucas Lazar und Isak Kiss angesiedelt wurden und ebenfalls nicht die versproche42
43 44 45 46 47
Magyar, Zoltán: A Habsburgok a magyar néphagyományban. Narratívtípusok és történelmi emlékezet [Die Habsburger in der ungarischen Volksüberlieferung. Narrativtypen und historische Erinnerung]. Budapest 2006, 51–81. – Donauschwaben erzählen. Hg. v. Alfred Cammann u. Alfred Karasek, 4 Bde. Marburg 1976–1979, hier Bd. 2, 121 f. u. 268. MOL A 39, 1784:4586. Zur Ansiedlung in Ruma vgl. Feldtänzer (wie Anm. 24), 137–164. – Bischof, Carl: Die Geschichte der Marktgemeinde Ruma. Freilassing 1958. MOL A 39, 1786:7558. Ebd. Ebd.
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nen Begünstigungen erhielten. Auch sie baten den Kaiser um das Rückwanderungsrecht, um die Ansiedlung auf ein Kameralgut oder wenigstens um „das nämliche an Unterhalt, Vorschub und Freiheit […], was die vorjährig hereingetretenen deutschen Reichseinwanderer in den Kameral-Dörfern dem allerhöchst im Reich uns kundgemachten Patent gemäß empfangen haben“48. Schließlich verfügte Joseph II. die Ansiedlung der Kolonisten auf den Kameralgütern.49 Sollte aus der Gegenüberstellung beider Textformen – Briefen und Bittschriften – die vorschnelle Schlussfolgerung gezogen werden, dass Briefe an die zuhause Verbliebenen natürlicherweise immer nur positive Bilder vermittelten, weil die Schilderung des schweren, mit zahlreichen Rückschlägen verbundenen Neuanfangs in der Ferne einem Eingeständnis des Misserfolgs der Auswanderung gleichgekommen wäre, dagegen die wahren Verhältnisse nur aus den Bittschriften herauszulesen seien, so wird die Annahme von jenen Briefen widerlegt, die gerade die Schwierigkeiten beschreiben. Der wahrscheinlich im Juni 1785 aus dem badischen Hofweyer mit Frau und vier Kindern in die Kameralherrschaft Dunaföldvár im Komitat Tolnau eingewanderte Georg Hermann50 wandte sich an seinen Vetter mit der Bitte, ihm die gedruckten und an die Auswanderungswilligen im römisch-deutschen Reich verteilten Auswanderungsbedingungen nachzuschicken, weil er anscheinend das Werbeblatt nicht mehr besaß und so nicht mehr genau wusste, was den Auswanderern an Begünstigungen versprochen worden waren. Der Grund der Bitte war seine Unzufriedenheit darüber, dass er noch keinen Ansiedlerplatz bekommen hatte und bei Einheimischen in Keer schlecht einquartiert war, wofür er aus eigenen Mitteln bezahlen musste: „Mein lieber Vetter, mir verzehre unser bissle gelt, wan mir noch lang hier misse liegen […] und das gleine wie dos grosse muss alle Nacht ein Kreizer Schlafgelt geben und mir missen auf den laten liegen und haben kein Stroh, dass mir nur darauf kinnen liegen […].“51 Unzufrieden war er auch mit der Tatsache, dass die Einwanderer ihre Verpflegung in Geld und Naturalien jedes Mal in der zwei Meilen entfernten Ortschaft Kimling abholen mussten. Es kam sogar vor, dass sie den langen Weg umsonst machten, weil sie weder Nahrungsmittel noch Geld erhielten. Hermann beschwerte sich außerdem, weil er von der Kammerverwaltung nur 20 Gulden für ein Pferd erhalten hatte, den Überpreis aber aus eigenen Mitteln bezahlen musste. Schließlich klagte er auch darüber, dass die Kolonistenhäuser nach ungarischer Art gebaut werden sollten. „So wertn wir für Narren gehalten. […] Wans nid anderst geht, so werden viele leit wieder nach Haus gehen, wie es bisher gangen ist“52, resümiert er seine Erfahrungen.
48 49 50 51 52
Zit. nach Rasimus, Hans: „… was mein einst war!“ Monographie der ehemaligen Banater Gemeinde Kathreinfeld (1794–1944). Reutlingen u. a. 1982 (Donauschwäbisches Archiv, Reihe IV, 20), 34. MOL A 39, 1786:10620. Schilling, Rogér: Dunakömlöd és Németkér telepítés- és népiségtörténete [Die Siedlungsund Volksgeschichte von Dunakömlöd und Németkér]. Budapest 1932, 30. Ebd., 28 f. Ebd.
„Kirchhof“ versus „Paradies“
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Der Brief erreichte den Adressaten nicht, sondern kam stattdessen wegen der Zensur in die Hände des ungarischen Statthaltereirats in Ofen. Dieser begnügte sich nicht mit der Konfiszierung des Briefes, der die Ansiedlung nicht gerade im besten Licht darstellte, sondern verordnete eine Untersuchung durch seinen Sekretär Graf Majláth.53 Die persönliche Anhörung des Kolonisten und des Kameralinspektors ergab, dass sich Hermann nie beim zuständigen Inspektor Krascsenics nach den Ansiedlungsbegünstigungen erkundigt hatte. Majláth ordnete dennoch an, auch in der Dunaföldvárer Kameralherrschaft das im Banat und in der Batschka übliche Anschreibebüchlein einzuführen, in dem alle zu gewährenden und bereits erhaltenen Begünstigungen der Kolonisten eingetragen werden sollten. Hermanns zweite Beschwerde, dass die Kolonisten aus eigenen Mitteln die Schlafkreuzer zu bezahlen hatten, erwies sich als Missverständnis. Hermann war nämlich der Meinung gewesen, dass die erhaltenen drei Kreuzer nur für die Verpflegung gezahlt würden. Tatsächlich erhielten die Kolonisten zwei Kreuzer für Verpflegung und einen Kreuzer für das Quartier. Die Untersuchung stellte fest, dass die Unterbringung der Kolonisten wegen Strohmangels in der Gegend in der Tat schlecht war, wobei nicht wenige Kolonisten von ihrem Gastgeber Stroh oder Decken erhielten. Im Fall der Abholung der Verpflegung in Geld und Naturalien ernannte Majláth zwei von den Kolonisten selbst gewählte Personen, die alle zwei Wochen die Frucht und das Geld für die Siedler abzuholen hatten. Was den Pferdekauf betraf, stellte sich heraus, dass die Kolonisten nicht abwarten konnten, bis die Kameralherrschaft für sie die Pferde kaufte, sondern in den umliegenden Dörfern selbst Tiere aussuchten und die Herrschaft drängten, ihnen die ausgewählten Pferde anzukaufen. Infolge der gestiegenen Nachfrage erhöhten die einheimischen Bauern die Preise, und so musste der Unterschied von den Kolonisten selbst bezahlt werden. Majláth wies das Inspektorat an, die Kolonisten zu mahnen, nicht eigenmächtig zu handeln, ließ allerdings die schon bezahlte Differenz für die Kolonisten aus der Herrschaftskasse begleichen. Zukünftig durften die Kolonisten das ausgesuchte Zugvieh nur nach Schätzung und Einwilligung des Hofrichters erwerben. Sollte der Preis für das Vieh mehr als 20 Gulden betragen und nach Meinung des Hofrichters den verlangten Preis wert sein, so sollte das Vieh auf Ärarkosten gekauft werden. Was die Häuser betraf, so war Majláth der Meinung, dass gerade dieser Beschwerde keine Abhilfe zu leisten sei, da die Kolonistenhäuser nach einheitlichem Plan gebaut werden sollten. Der Fall Hermann verweist darauf, welch große Bedeutung die versprochenen Begünstigungen für die Kolonisten gespielt hatten, die auf deren genaue Einhaltung schon deshalb pochten, weil sie den in der Regel ärmeren Ansiedlern in Ungarn oft als einzige Grundlage der neuen Existenz dienten. Joseph II. erkannte und schätzte die Publizität als politische Waffe. Er ließ nicht nur Flugschriften über sich und seine Reformen drucken, sondern setzte auch die Zensur sparsam, aber immer zielbewusst im Interesse der Reformen ein.54 Auch 53 54
MOL E 67, Bü 7, Majláth an Hofkammerrat Graf Zichy am 6. Dezember 1784. Sashegyi, Oskar: Zensur und Geistesfreiheit unter Joseph II. Budapest 1958 (Studia Historica Academiae Scientiarum Hungaricae 16); Wangermann, Ernst: Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II. Wien – München 2004.
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die Kolonistenbriefe wurden im Einwanderungs- und Ansiedlungsprozess als Forum der Öffentlichkeit interpretiert, weil sie stets Bestandteil eines viel breiteren Dialogs waren als nur des zwischen den ausgewanderten und zuhause verbliebenen Familienangehörigen oder Freunden geführten. Die Berichte wurden von mehreren Personen im Umkreis des Empfängers rezipiert. Nicht selten baten die Briefschreiber selbst darum, ihre Briefe als Beweis für die mitgeteilten Informationen auch von anderen Verwandten und Bekannten lesen zu lassen.55 Deshalb wurden Briefe der Auswanderer durch die Zensurbehörden aufmerksam wahrgenommen und, wenn sie der Intention und Politik der Obrigkeit nicht entsprachen, konfisziert. Gerade deshalb sind heute die allermeisten Kolonistenbriefe aus Ungarn in den Archivbeständen zu finden. Das Beispiel des Briefes von Hermann beleuchtet außerdem die Rolle der Auswandererbriefe für die Staatsverwaltung als Stimmungsmesser unter den Kolonisten und zum Zwecke der Bestandsaufnahme der Ansiedlung in den einzelnen Kameralherrschaften. Die Verwaltungsämter und Behörden waren gehalten, auf mehrfach auftretende und gravierende Probleme auch mit Untersuchungen zu reagieren, um so Abhilfe zu leisten und das Prestige des Ansiedlungswerks nicht zu gefährden. 4. VERTRAGSPARTNER IM REFORMWERK In den amtlichen Berichten und den von der Obrigkeit geförderten Flugschriften die Migration betreffend wurde die Bedeutung der Bevölkerung für den frühmodernen Staat hervorgekehrt. Die Autoren von Flugschriften und Berichten, vor allem wenn sie sich an die Auswanderungswilligen direkt wandten, argumentierten oft mit plakativen Bildern wie „Paradies“ oder „Kirchhof“, um die Auswanderungsbereitschaft der Menschen zu fördern beziehungsweise im Gegenteil zu bremsen. Doch die Auswanderungswilligen ließen sich bei der Auswanderung und bei der Wahl des Auswanderungsgebietes nicht von solchen Topoi, sondern von den Erfahrungsberichten der bereits Ausgewanderten leiten. Allerdings bedienten sie sich selbst der beiden aus dem Alten Testament bekannten Vorstellungsbilder Paradies und Jammertal, um ihre eigene Bewertung der Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen. In den Briefen und Bittschriften der Kolonisten finden sich die beiden genannten Topoi für das Einwanderungsland in vielfachen Variationen. Für die Ankunft im Land der Hoffnung und die vorgefundenen „paradiesischen“ Zustände stehen Formulierungen wie „ist alles sehr wohlfeil im Lande“ oder „Land bekommen wir so viel wir werarweiden können“. Diese Umschreibungen waren auf die neuen Lebensbedingungen gemünzt und dienten dem Ziel, dem Leser des Briefes ein klares Bild von den vorgefundenen Verhältnissen in der Ferne zu geben und eventuell die Entscheidung der Auswanderungswilligen in der alten Heimat zu erleichtern. Dagegen hatten die in den Bittschriften im Sinne des Topos „Kirchhof“ verwendeten Ausdrücke wie „Elend“, „kümmerliches Leben“ oder „Opfer des Todes“ den 55
Hefner (wie Anm. 30), 449.
„Kirchhof“ versus „Paradies“
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Zweck, der Enttäuschung über die versprochenen, aber nicht vorgefundenen Bedingungen und Begünstigungen Nachdruck zu verleihen. Die Kolonisten bestanden schon deswegen auf einer ganz genauen Einhaltung der ihnen versprochenen Begünstigungen, weil sie diese bereits zu Hause als zukünftige Lebensgrundlage, auf der die neue Existenz aufgebaut werden sollte, fest einkalkuliert hatten. Die Verheißungen wurden außerdem als Bestandteil jenes ‚Gesellschaftsvertrags‘ interpretiert, den die Auswanderer mit dem Kaiser abgeschlossen hatten. Dieser Vertrag trat in dem Moment in Kraft, als sich die Kolonisten bei einem der drei kaiserlichen Residenten in Frankfurt am Main, Koblenz oder Rottenburg am Neckar für die Auswanderung anmeldeten und die Ansiedlungsbedingungen annahmen. Die Kolonisten betrachteten sich selbst somit als Vertragspartner, die ihren Teil des Vertrags durch die Landeskultivierung, etwa durch die Bestellung von brachliegenden Feldern, erfüllen wollten. In diesem Sinne definierten sie sich nicht als Kulturpioniere, wie später von deutschnationalen und völkischen Autoren im 19. und 20. Jahrhundert propagiert wurde, sondern als Rädchen im Getriebe des großen Reformwerks des Kaisers. Diese Vorstellung prägte die kollektive Identität der schwäbischen Bauern in Ungarn grundlegend und förderte ihre Integration im Einwanderungsgebiet.
II. GESCHICHTE – ERINNERUNG – IDENTITÄT
DIE INSZENIERTE EINWANDERUNG Stefan Jägers Triptychon „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“ und seine Wirkungsgeschichte* Christian Glass 1. DAS EINWANDERUNGSTRIPTYCHON – IKONE DER BANATER SCHWABEN Die schwäbische Gemeinde Gertianosch im Banat, etwa 20 Kilometer westlich der Stadt Temeswar gelegen, veranstaltete zu Pfingsten des Jahres 1910 eine dreitägige „Gewerbe- und Bauernausstellung“. Die landwirtschaftliche Messe war eine Veranstaltung von überregionaler Bedeutung, zu der zeitgenössischen Berichten zufolge an die 5.000 auswärtige Gäste strömten.1 Einer der angekündigten Höhepunkte des Programms war die Enthüllung eines Gemäldes, das von den Gertianoscher und südungarischen Schwaben von Anfang an als ein Medium der kollektiven Erinnerung an die eigene Geschichte gedeutet wurde. Der Sekretär des „Südungarischen landwirtschaftlichen Bauernvereins“ und Redakteur der Zeitung „Der Freimütige“, Stefan Dold, führte in der anlässlich der Bildenthüllung herausgegebenen Festbroschüre aus: „Und heute am Enthüllungstage des Bildes stehen wir im Geiste vor den Ahnen. Wir wandern mit Weib und Kind zur Stätte hin, wo wir Dank und Ehre unseren Voreltern, den Bahnbrechern unseres heutigen Daseins darbringen und huldigen wollen. Ja, huldigen!“2 Auch der Festredner bei der Enthüllung des Bildes, Domherr Franz Blaskovics, stellvertretender Obmann des Bauernvereins, nahm Bezug auf die Kolonistenahnen und erinnerte mit einem biblischen Vergleich an ihre Aufbauleistung im Banat: „Und jetzt wollen wir einen Blick auf die Vergangenheit werfen, als unsere Ahnen, so wie einst die Israeliten, durch die Wüste zogen […]. Damals war Ungarn auch noch nicht mit Milch und Honig gesegnet, sondern es waren überall noch die Spuren des 200jährigen Türkenjoches, Verwüstung, bemerkbar. Wenn wir uns die damaligen armseligen Lehmhütten betrachten und
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1 2
Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1995 in Dresden; Glass, Christian: Stefan Jägers Einwandererbild und das Selbstverständnis der Banater Schwaben. In: Grenzen & Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen. Hg. v. Thomas Hengartner. Leipzig 2006, 753–762. Dold, Stefan: Die Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen in Südungarn. Kurzgefaßte Gelegenheits-Broschüre zur Bildenthüllung in Gyertyámos am 15. Mai 1910. Temesvár [1910], 4. Ebd., 18.
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Christian Glass heute die modernen Bauernhäuser, so wie auch unsre Ausstellung, so gibt dies alles redliches Zeugnis von dem Fleiße des eingewanderten Volkes.“3
Die effektvoll in Szene gesetzte Präsentation verfehlte ihre Wirkung nicht, denn auch das Publikum war allem Anschein nach von dem Monumentalkunstwerk des jungen Banater Künstlers Stefan Jäger begeistert. Auf das der Öffentlichkeit präsentierte Werk wurde ein eigenes Loblied in der örtlichen Mundart von dem Volksdichter Josef Gabriel verfasst, der die Ansichten der Dorfbewohner mit einfachen Worten zum Ausdruck brachte: „Es werd ja heut ein scheenes Bild / Von ihrer Ankunft feierlich enthüllt. / Zu schaffe sin se komm her in des Land / Un was die Ahne han b’gonn mit fleiß’ger Hand, / Des han die Enkel treulich weiterg’führt. / ‚Gesegnet sei ihr Staab, dem Ehr gebührt!‘“4 Knapp einhundert Jahre später ist der Beifall der Banater Schwaben für Stefan Jägers Einwanderungsbild ungebrochen: „Es ist unser Bild […], ein Stück von uns“ – mit diesem Bekenntnis beginnt der Redakteur und Heimatschriftsteller Franz Heinz seine Betrachtung des Bildes auf der 43. Kulturtagung der Banater Schwaben im baden-württembergischen Sindelfingen im November 2007.5 Der Autor verwahrt sich gegen eine politische und ideologische Ausdeutung des Bildinhaltes, wie das seiner Ansicht nach in Historikerkreisen gelegentlich getan werde. „Was uns“ – und damit meint Heinz die Gemeinschaft der Banater Schwaben – „bei aller Unterschiedlichkeit […] zusammenhält, sind die verlorene Banater Heimat und der damit verbundene Mythos, zusammengefasst in dem schönen Einwandererspruch: Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot. Etwas davon finden wir in Stefan Jägers Triptychon eingearbeitet: den Drang und die Bereitschaft, Heimat zu finden und ihr unser Gesicht zu geben.“6
Zwischen der Enthüllung auf der Bauernmesse in Gertianosch 1910 und den Ausführungen von Franz Heinz in Sindelfingen 2007 liegen vier Generationen, zwei Weltkriege, zwei Diktaturen und der Exodus der Schwaben aus dem Banat. Doch das Bild von Stefan Jäger, das übrigens in der Kunstgeschichtsschreibung keine Erwähnung findet, entfaltet über den gesamten Zeitraum bei den Banater Schwaben eine ungebrochene Wirkung. Es ist eine Ikone der Selbstvergewisserung. Die Frage stellt sich, woher diese epochenübergreifende Zustimmung, ja Begeisterung für ein Bild kommt, das nach kunstgeschichtlichen Kriterien zwar handwerklich sauber ausgeführt ist, in der Darstellung aber keineswegs innovativ, geschweige denn künstlerisch wegweisend genannt werden kann. Vermutlich sind es gerade die allgemeine Verständlichkeit der Ausführung und der traditionelle Gestus der Malerei, die dem Triptychon zu seinem Erfolg verhalfen. Wie die zitierte Rede von Franz Heinz zeigt, ist eine Kritik nicht erwünscht, weil sie vermeintlich am Selbstbild der Gruppe der Banater Schwaben rütteln könnte. Das sollte die Forschung trotzdem
3 4 5 6
Ebd., 21 f. Ebd., 4. Heinz, Franz: Ein Stück von uns. Stefan Jägers Einwanderungsbild und die Identität der Banater Schwaben. In: Heimatblatt Hatzfeld 15 (2008), 135–143. Ebd., 143.
Die inszenierte Einwanderung
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nicht von einem Versuch abhalten, die Bedeutung des Bildes und die Wirkmechanismen seiner Rezeption zu entschlüsseln. Ein geeignetes Werkzeug hierfür ist die von Erwin Panofsky beschriebene Methode der Ikonographie und der Ikonologie, die sich mit dem Verhältnis von Bildsujet und künstlerischer Ausdrucksform beschäftigt.7 Panofsky schlägt für die Analyse drei Ebenen vor, die aufeinander aufbauen und erst in der Summe eine sinnfällige Bild- und Bedeutungsinterpretation ergeben. Der erste Schritt besteht in einer vorikonographischen Beschreibung, die konstatiert, was und auf welche Weise etwas in einem Kunstwerk dargestellt wird. Darauf aufbauend ist die ikonographische Analyse der zweite Schritt, der das Kunstwerk unter Bezugnahme auf literarische Quellen einzuordnen vermag. Ikonographie meint also Kontextualisierung, indem die Motive eines Kunstwerks als Träger einer sekundären oder konventionalen Bedeutung erkannt und beschrieben werden. Voraussetzung für eine korrekte ikonographische Analyse ist die Identifizierung der Motive, ohne die jede Interpretation ins Leere läuft. Der dritte Schritt schließlich ist die Entschlüsselung der eigentlichen Bedeutung oder des Inhalts eines Kunstwerks, die ikonologische Interpretation. Es wird nach den immanenten, manchmal verborgenen Aussagen und Werten des Kunstwerks gesucht. Panofsky hält fest: „Die Entdeckung und die Interpretation dieser ‚symbolischen‘ Werte – die dem Künstler häufig unbekannt sind und die sogar entschieden von dem abweichen können, was er bewusst auszudrücken suchte – ist der Gegenstand dessen, was wir, im Gegensatz zur ‚Ikonographie‘, ‚Ikonologie‘ nennen können.“8
Das Einwanderungsbild des Malers Stefan Jäger soll nach diesen drei Gesichtspunkten untersucht werden, um die Frage beantworten zu können, welcher ikonologische Inhalt in Jägers Werk verborgen ist, der dieses über die künstlerische Absicht hinausgehend zur Ikone der gesamten Gruppe der Banater Schwaben aufwertet. 2. DAS SUJET DES GEMÄLDES Im Folgenden wird zunächst aufgezeigt, was Stefan Jäger auf seinem Gemälde dargestellt hat. Das Werk, auf Leinwand mit Öl gemalt, trägt den Titel „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“ und besteht aus drei Bildern, deren Leserichtung von links nach rechts verläuft. Das linke Bild heißt „Wanderung“, das Mittelbild trägt den Titel „Rast“ und das rechte Bild ist dem Thema „Ankunft“ gewidmet. Für das Gemälde hat Jäger die Form des Triptychons gewählt, die seit dem Mittelalter für Altar- und Andachtsbilder in der abendländischen Kunst von zentraler Bedeutung ist. Die äußere Form greift auf die Tradition des mittelalterlichen Flügelaltars zurück und stellt für den Betrachter schon allein dadurch den Kontext zum sakralen 7 8
Panofsky, Erwin: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance. In: ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst. Köln 1975, 36–67. Ebd., 41.
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Abb. 1: Stefan JÄGER: Die Einwanderung der Schwaben in das Banat, Teil 1: „Wanderung“, Foto: Christian GLASS.
Kunstwerk her. Während die beiden äußeren Bilder ein quadratisches Format mit einer Seitenlänge von 1,50 Meter haben, misst die „Rast“ bei ebenfalls 1,50 Meter Höhe in der Breite zwei Meter und ist damit der bestimmende Mittelpunkt des Ensembles. Das linke Bild (vgl. Abb. 1) stellt eine Menschengruppe dar, die aus einer ebenen Landschaft auf einem ausgefahrenen Karrenweg in einem Bogen aus dem Hintergrund in den Bildvordergrund wandert. Die Gruppe besteht aus Frauen, Kindern und Männern unterschiedlichen Alters, die sich in den Mittelpunkt des Bildes bewegen. Einige der Figuren tragen ein leichtes Bündel, manche haben einen Stock in der Hand, Kleinkinder werden von Frauen auf dem Rücken getragen. Links im Vordergrund stützt sich ein Mann auf einen knorrigen Baumstamm und bindet sich in gebückter Haltung den Schuh. Das mittlere Bild des Triptychons (vgl. Abb. 2)
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Abb. 2: Stefan JÄGER: Die Einwanderung der Schwaben in das Banat, Teil 2: „Rast“, Foto: Christian GLASS.
zeigt sich ausruhende Menschen, im Hintergrund sind Fuhrwerke zu sehen. Die Menschen stehen, sitzen oder liegen auf dem Boden, in der Bildmitte ist ein Lagerfeuer entfacht, im linken Bilddrittel grüßt ein Mann die ankommende Gruppe, indem er seinen Hut zieht, und im Vordergrund rechts stillt eine sitzende Mutter ihr Kind. Zwei weitere Mütter mit jeweils einem Säugling auf dem Arm stehen im Vordergrund. Im Mittelpunkt des dritten Bildes (vgl. Abb. 3) steht ein Ansiedlungskommissar, der einer dicht beisammen stehenden Gruppe von Männern die halbfertigen Kolonistenhäuser zeigt. In der einen Hand hält er ein Papier, vermutlich einen Ortsplan oder einen Ansiedlungsvertrag, auf jeden Fall unterscheidet er sich durch seine bürgerliche Kleidung von den in Trachten gekleideten Kolonisten, wie auch das Dokument in seiner Hand ihn als Vertreter der Staatsmacht kennzeichnet. Die ganze Szenerie des Triptychons spielt in einer sumpfigen, steppenartigen, flachen Landschaft. Der Himmel ist bedeckt, die weitgehend entlaubten Bäume lassen jahreszeitlich auf den späten Herbst oder das beginnende Frühjahr schließen. Während die karge Landschaft eine gewisse Trostlosigkeit ausstrahlt, entfalten die Menschen, selbst die sich ausruhenden, eine Dynamik, wodurch eine innere Spannung entsteht. Diese wird auch durch die braun-grün gehaltene Landschaft einerseits und die roten und blauen Farben sowie die Vielfalt der Trachten andererseits betont. Jäger hat die Bilder im Stil des Realismus komponiert: Figuren, Gegen-
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Abb. 3: Stefan JÄGER: Die Einwanderung der Schwaben in das Banat, Teil 3: „Ankunft“, Foto: Christian GLASS.
stände und Landschaft sind realistisch gemalt, auch Feinheiten wie etwa die Gesichtszüge sind klar zu erkennen, und die dargestellten Figuren lassen sich anhand der Kleidung als regionale Typen – Österreicher, Pfälzer, Hessen, Badener, Schwarzwälder etc. – identifizieren.9 Die Gemälde vermitteln den Eindruck, der Künstler habe sich um eine wahrheitsgetreue Wiedergabe der Szenen bemüht. Zeigt also das Bild die Einwanderung? Natürlich nicht, müsste man antworten, denn trotz allem Realismus ist die Darstellung in ihrer Gesamtheit höchst unrealistisch: Die Kolonisten werden mehr als ein Bündel dabei gehabt haben, sie sind sicher nicht in ihren Festtagstrachten gereist, und die Häuser waren bei ihrer Ankunft wohl nicht in einem bezugsfertigen Zustand. Diese Reihe der historisch falschen Darstellungen und Ungereimtheiten könnte noch weitergeführt werden. 9
Gross, Karl-Hans: Stefan Jäger. Maler seiner heimatlichen Gefilde. Sersheim 1991, 65–101.
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3. DIE ENTSTEHUNG DES TRIPTYCHONS Das Triptychon war eine Auftragsarbeit für den Gewerbeverein der schwäbischen Ortschaft Gertianosch. Die überwiegend von Deutschen bewohnte Gemeinde war ein von Landwirtschaft und Kleingewerbe geprägtes Großdorf im Banat. Im Jahr 1784 wurden 66 Siedlerfamilien aus verschiedenen Regionen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation hier angesiedelt. Im Jahr 1910 zählte das Dorf 2.775 Einwohner, von denen über 80 % Deutsche waren, den übrigen Teil machten die Ungarn aus.10 Die Schwaben hatten im Dorf großen Einfluss und besetzten dementsprechend die wirtschaftlich und politisch relevanten Funktionen. Einer ihrer Entscheidungsträger war Adam Röser (1838–1914), ein umtriebiger Kommunalpolitiker und erster Postmeister im Dorf, später Ziegeleibesitzer und Gründer der ersten Sparkassen-Aktiengesellschaft.11 Röser förderte die Kultur im Ort und gab auch den Anstoß zur Erstellung der ersten Monographie seiner Heimatgemeinde. Nach Stefan Dolds Broschüre befasste sich Adam Röser, „dem Gertianosch so manche Kulturinstitution zu verdanken hat, [Jahre hindurch] mit dem Gedanken, wie die jetzige Generation der einst eingewanderten Deutschen ihren Ahnen eine gebührende Ehre und Dankbarkeit am besten ausdrücken könnte. So kam […] Röser auf die Idee, ein Bild über die Einwanderung unserer Ahnen machen zu lassen.“12
Für die Anfertigung des Gemäldes begannen die Honoratioren der Gemeinde eine Sammelaktion und diesem Zweck widmeten sie auch die Einnahmen aus den zahlreichen im Dorf organisierten Kulturveranstaltungen. Zusammen mit dem Gewerbeverein beauftragte Röser 1906 den aus Tschene im Banat stammenden Künstler Stefan Jäger (1877–1962)13 mit der Anfertigung des Bildes. Für die Auftraggeber fiel die Wahl nicht nur wegen seiner Herkunft und damit seiner Vertrautheit mit den südungarischen Schwaben auf Jäger. Dieser war auch ein Absolvent der Modellzeichenschule und Zeichenlehrer-Bildungsanstalt in Budapest, wo er unter anderem von dem landesweit bekannten Historienmaler Bertalan Székely unterrichtet worden war. Nach seiner Ausbildung ließ sich Jäger zunächst in Budapest nieder und fertigte, den Bestellungen eines Kunsthändlers nachkommend, meist Heiligenbilder, Stillleben und Landschaftsbilder an, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. So entsprach er auch mit seinen Themen und seinem naturalistischen Malstil dem wohl eher konservativen Geschmack seiner Auftraggeber. Das von Jäger in einigen Monaten angefertigte Einwandererbild wurde im dörflichen Kasinoverein zur Besichtigung ausgestellt. Mit der ersten Fassung des Bildes waren die Auftraggeber allerdings nicht zufrieden. Sie beanstandeten, dass das 10 11 12 13
Hoffmann, Matz: 1785–1935. Hundertfünfzig Jahre deutsches Gertianosch, Banat-Rumänien. Timişoara [1935], 145. Gross (wie Anm. 9), 134. Dold (wie Anm. 1), 18. Zum künstlerischen Werk Stefan Jägers vgl. zuletzt Krier, Peter (Hg.): Hommage an Stefan Jäger. Katalog zur Ausstellung und zum Symposium anlässlich des 50. Todestages des Schwabenmalers. Ingolstadt 2012.
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drei Meter lange Bild zu klein sei und die Kolonisten nicht treffend gemalt seien. Vor allem vermissten sie die authentische Darstellung der Trachten der Einwanderergruppen, so dass sie dem Künstler das Bild zurückgaben und eine neue Fassung einforderten. Erneut eröffnete die Gemeinde eine Sammelaktion und brachte den stattlichen Betrag von 4.650 Kronen auf, um dem jungen Maler eine Studienreise nach Deutschland zu ermöglichen. Dort sollte er die typischen Trachten der Herkunftsregionen studieren. Vier Jahre später war das Werk vollendet und wurde auf der Gertianoscher Gewerbe- und Bauernausstellung am 15. Mai 1910 feierlich präsentiert. In einem zeitgenössischen Bericht hieß es, dass das Bild die Gefühle des Publikums uneingeschränkt widerspiegelte.14 Stefan Jäger hatte mit seiner Darstellung der Einwanderung nicht nur den Zeitgeschmack getroffen, sondern gleichzeitig eine Ikone schwäbischer Identität geschaffen, die ihre Wirkung sofort entfaltete und bis heute das Geschichtsverständnis der Banater Schwaben dominant prägt und visualisiert. In der Festbroschüre von 1910 schrieb Dold über das Gemälde: „Drei charakteristische Anschauungen lassen sich vom Bilde herunterschauen: Unsere Ahnen trugen weder Schnurr- noch Backenbart; sie rauchten nicht; sie liebten den Kindersegen.“15 Diese Aussage zeigt, dass das Bild gerade durch die realistisch ausgeführten Bildmotive, die von den Betrachtern von Anfang an als historische Wahrheit ausgedeutet wurden, seine große Wirkung entfalten konnte. Zeigt also das Bild die Einwanderung? Natürlich ja, müsste man nun antworten. Das Bild stellt die Einwanderung der Deutschen dar, es zeigt aber nicht eine bestimmte Ansiedlergruppe oder Ansiedlungsperiode, sondern vielmehr die Einwanderung ‚an sich‘. Stefan Jäger hat in seiner verdichteten Bildkomposition mit etwa 80 Figuren die Summe des gesamten Einwanderungsprozesses im 18. Jahrhundert zusammengefasst. Die drei Bilder geben eine idealisierte und idealtypische Darstellung der Einwanderung von Deutschen nach Ungarn wieder, deren Wahrheitsgehalt in jedem Einzelfall recht einfach zu widerlegen wäre, die in ihrer Gesamtheit aber die symbolisierte Form aller Immigration darstellt. Die große Wirkung des Gemäldes ist aber allein mit der bildlichen Darstellung der Immigration nicht erklärt. Offensichtlich teilte das Bild den Betrachtern etwas mit, was an bereits vorhandene Emotionen und Gedanken nicht nur bei den Auftraggebern rührte. Die Entstehung des Gemäldes fällt in eine Epoche, in der die lokalen Identitätsbezüge der Deutschen im Banat von einem langsam entstehenden Zugehörigkeitsbewusstsein zur deutschen Minderheit in Ungarn abgelöst wurden. Für die ländliche deutsche Bevölkerung im Banat hieß das konkret, dass um die Wende zum 20. Jahrhundert der dörfliche Bezugsrahmen als alleinige Grundlage der Identität nicht mehr ausreichte. Die Ursache hierfür lag in der Modernisierung der ungarischen Gesellschaft durch Industrialisierung, Urbanisierung und eine allgemeine Veränderung der Lebensverhältnisse auch auf dem Land. Das dörfliche Gefüge veränderte sich durch überregionale Marktbeziehungen, durch die Industrialisierung der Landwirtschaft und durch den Ausbau der Infrastruktur. Unter den 14 15
Gross (wie Anm. 9), 49. Dold (wie Anm. 1), 20.
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Nachfahren der deutschen Kolonisten war eine Bürgerschicht entstanden, die sich der Modernisierung und damit der Sprache und Kultur der als staatstragend geltenden Magyaren öffnete. Auch das Dorf Gertianosch war auf dem Weg der Modernisierung. Es entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Großgemeinde mit einer überdurchschnittlichen Infrastruktur. Seit 1857 war die Gemeinde durch die Eisenbahn mit den Wirtschafts- und Kulturzentren Szeged und Temeswar verbunden. Durch die Verkehrsverbindung stieg die Gemeinde selbst zu einem kleinregionalen Zentrum für Wirtschaft und Handel auf. Um 1900 gab es drei Ziegeleien, mehrere Großmühlen und andere Unternehmen im Dorf. Auch das kulturelle Leben blühte. Neben den verschiedenen Vereinen, dem Kindergarten und der Schule unterhielt die Gemeinde seit 1885 ein Schülerkonvikt in Szeged. Das Wohnheim für bis zu 160 Schüler aus Gertianosch wurde nicht in der hauptsächlich deutschsprachigen Stadt Temeswar, sondern in dem ungarischsprachigen Szeged eröffnet, um dadurch den begabten Schülern den Besuch eines der dortigen Gymnasien, das Erlernen der ungarischen Staatssprache, ein anschließendes Universitätsstudium und dadurch schließlich den sozialen Aufstieg zu ermöglichen.16 So konnte sich in Gertianosch eine ansehnliche Dorfintelligenz mit einer ungarisch-deutschen Doppelidentität etablieren. Lehrer, Pfarrer, Ärzte, Apotheker, Fabrikanten, Unternehmer und Beamten pflegten im Kasino- und Leseverein ein reges kulturelles Leben. Die Honoratioren von Gertianosch hatten bereits 1884 anlässlich des 100-jährigen Gründungsjubiläums der Gemeinde mit einer kleinen Monographie der Einwanderung ihrer Vorfahren gedacht.17 Beim Fest im Jahre 1910 stand ganz die Rückbesinnung auf die Anfänge der Gemeinde im Mittelpunkt. Die Dorfgemeinschaft bekannte sich zu ihren Kolonistenvorfahren, zeigte stolz den seit den Anfängen errungenen materiellen Reichtum im Rahmen einer Bauern- und Gewerbeausstellung und kehrte zugleich ihre Werte hervor. In der Festbroschüre hieß es: „Fragt man heute, wer ist wohl der fleißigste, sparsamste und biederste Volksstamm hier in Südungarn? So wird es heißen: der Schwabe! Ich gehe weiter und frage, welche ist die ruhigste, geduldigste und gefügsamste Nationalität hier in diesem polyglotten […] Landesteile? Wieder der Schwabe! Und wer ist einer der besten Patrioten? Zum drittenmal, nur wieder der Schwabe! Darum brauchen wir Schwaben uns unserer Abstammung und Herkunft gar nicht zu schämen; hingegen stolz sind wir darauf, denn unser geliebtes Vaterland kann in jeder Hinsicht stets auf uns bauen!“18
Nach der Intention der Gertianoscher Auftraggeber des Gemäldes sollte den Betrachtern des Bildes „lebhaft vor Augen“ geführt werden, „wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander greifen“.19 Die endgültig vergangene Zeit sollte somit beim Betrachten des Bildes in die Erinnerung zurückgerufen werden und als Orientierung für das Kommende dienen. Die Gertianoscher Honoratioren und auch ein Großteil der südungarischen Schwaben wollten als auf ihre Leistung stolze und 16 17 18 19
Hoffmann (wie Anm. 10), 186 f. Dold (wie Anm. 1), 21. Ebd., 4. Ebd., 22.
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zugleich zum Staat loyale Bürger in die Zukunft schauen. Es war deshalb sicherlich kein Zufall, dass die Auftraggeber des Gemäldes nicht die etwa in der deutschnationalen Literatur der Zeit allgemein verbreitete heroische Darstellung eines Wiederaufbaus und einer Kultivierung des Landes wünschten, sondern ein Bild, das die eingewanderten Vorfahren auf der Suche nach einer neuen Heimat zeigte. 4. DIE WIRKUNGSGESCHICHTE DES BILDES Stefan Jägers Einwanderungsbild durchlief bald nach seiner Enthüllung eine lang anhaltende und intensive Phase der Popularisierung. Adam Röser ließ bei der Budapester Verlagsgesellschaft Franklin gleich nach der Veranstaltung eine große Anzahl von Reproduktionen des Bildes drucken, die er durch Reisende in den deutschen Ortschaften vor allem in Südungarn verkaufen ließ.20 Als gedrucktes Bild oder als Illustration der Bauernkalender fand das Einwanderungsbild Eingang in Versammlungsräume, in Gastwirtschaften und in die „gute Stube“ von Bauern- und Handwerkerhäusern im Banat und darüber hinaus. Von Anfang an wurde die realistische Darstellung als allgemeingültige bildliche Chiffre für ‚die‘ Einwanderung angesehen. Unabhängig von der Herkunftsregion und wohl auch weitgehend unabhängig vom sozialen Status konnte sich jeder Nachkomme der Einwanderer in der Darstellung wiederfinden und sich darauf berufen. Die einfache und allgemein verständliche Darstellung des Gemäldes machte es möglich, dass das Bild über mehrere Generationen hinaus eine Ikone blieb, weil es stets Raum für neue Interpretationen und somit eine Neudefinierung der kollektiven Identität zuließ. Folgen wir dem vom Historiker Gerhard Seewann ausgearbeiteten Modell der Identitätsbildung der Gruppe der Donauschwaben von der Ansiedlung bis heute, dann können drei historische Identitätstypen ausgemacht werden. Der erste Typus, der als deutschungarisch oder auch als „Hungarus“ bezeichnet wird, entstand im Ansiedlungsjahrhundert und blieb bis zur Schwelle des 20. Jahrhunderts, ja vielfach bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Geltung.21 Der „Hungarus“-Typ zeichnet sich nach Seewann durch „subjektive Merkmale seines ethnischen Bekenntnisses“ aus, das heißt, „er pflegt ethnische Bräuche und Muttersprachenkultur aufgrund eigener Überzeugung [und] ist um Kulturaustausch und Interessenausgleich mit der Mehrheitsgesellschaft bemüht“.22 Der „Hungarus“ interpretiert sich im Sinne eines Staats- und Verfassungspatriotismus als Teil der ungarischen Nation mit deutscher Herkunft, der auf Ausgleich bedacht ist, so wie zum Beispiel der Verfasser der Gertianoscher Festbroschüre von 1910 Stefan Dold oder der Festredner Franz Blaskovics.
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Pink, Peter: Stefan Jäger, ein Banater schwäbischer Kunstmaler. O. O. 1962, 21. Seewann, Gerhard: Siebenbürger Sachse, Ungarndeutscher, Donauschwabe? Überlegungen zur Identitätsproblematik des Deutschtums in Südosteuropa. In: Minderheitenfragen in Südosteuropa. Hg. v. dems. München 1992, 139–156, hier 142. Ebd., 154.
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Die rasante Verbreitung und die breite Akzeptanz des Einwanderungsbildes unter den Banater Schwaben unterschiedlicher politischer Strömungen und vor allem auch unter der nicht politisch aktiven deutschen Minderheit sind ein Indiz dafür, dass das Bild bald zur identitätsstiftenden Visualisierung des Ansiedlungsmythos wurde, obwohl es nicht die von den Kolonisten verrichtete Kultivierung des Landes, sondern die in der neuen ungarischen Heimat ankommenden Kolonisten selbst zum Sujet hat. Doch das Triptychon entstand gerade zu einer Umbruchszeit, als die traditionellen Fundamente schwäbischen Selbstverständnisses mit einer deutschungarischen Doppelidentität immer mehr ins Wanken gerieten und die ethnopolitische Interessenvertretung an Bedeutung gewann. Historiker und Ethnologen sind sich heute weitgehend einig, dass Ethnizität ein von außen herangetragener Prozess der Bewusstwerdung einer ‚Wir-Gruppe‘ ist und dass Ethnisierung als ein Ergebnis von Marginalisierung zu betrachten ist.23 Die Schwaben in Ungarn wurden durch den Assimilationsdruck in ihrer kulturellen Doppelidentität immer mehr bedrängt, als die ungarische Reichshälfte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 innenpolitisch weitgehend selbständig wurde. Ungarn war von nun an bestrebt, aus dem Vielvölkerstaat, in dem die Magyaren nicht die Bevölkerungsmehrheit darstellten, zumindest einen ethnisch homogeneren Staat zu schaffen. Während sich weite Teile des städtischen deutschen Bürgertums freiwillig magyarisierten, indem sie ungarische Namen annahmen und im Alltag die ungarische Sprache gebrauchten, war der Widerstand bei den Schwaben auf dem Land größer.24 Als Reaktion auf den Assimilationsdruck wurden erstmals überregionale Interessenverbände gegründet, darunter 1906 die „Ungarländische Deutsche Volkspartei“.25 Diese Partei sollte das politische Sprachrohr einer deutschnationalen Minderheit werden und gerade in Südungarn die weitgehend unpolitische bäuerliche Bevölkerung für deutschnationale Interessen gewinnen. Der stellvertretende Parteivorsitzende und Landwirt Johann Röser (1870–1932), der ebenso wie der dreißig Jahre ältere Auftraggeber des Jäger-Bildes, Adam Röser, aus der Banater Gemeinde Gertianosch stammte, gründete 1913 in Werschetz den „Deutschen Bauernbund“ und das „Deutsche Bauernblatt“. Nach der Jahrhundertwende war Johann
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Puttkamer, Joachim: Schulalltag und nationale Integration in Ungarn. Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867– 1914. München 2003 (Südosteuropäische Arbeiten 115). – Röder, Annemarie: Deutsche, Schwaben, Donauschwaben. Ethnisierungsprozesse einer deutschen Minderheit in Südosteuropa. Marburg 1998 (Schriftenreihe der Kommission für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. 78), 27 u. 53. Schödl, Günter: Am Rande des Reiches, am Rande der Nation: Deutsche im Königreich Ungarn. In: Land an der Donau. Hg. v. dems. Berlin 1995, 349–454. Röder (wie Anm. 23), 69. – Senz, Ingomar: Die nationale Bewegung der ungarländischen Deutschen vor dem Ersten Weltkrieg. Eine Entwicklung im Spannungsfeld zwischen Alldeutschtum und ungarischer Innenpolitik. München 1977 (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 30), 98–115.
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Röser einer der „Schrittmacher deutscher Minderheitenpolitik“.26 Der im 19. Jahrhundert dominierende deutschungarische Identitätstyp wurde allmählich von einem deutschnationalen Identitätsschema abgelöst, das nach Seewann bis zum Zweiten Weltkrieg dominierend war. Deutschnationale Autoren propagierten ein neues Selbstbewusstsein und betrachteten die Geschichte der Deutschen in Ungarn aus einer völkischen Perspektive. In dieser Zeit entstanden etwa die überaus erfolgreichen Schwabenromane des in Wien lebenden Schriftstellers Adam Müller-Guttenbrunn wie „Der kleine Schwab’“, „Die Glocken der Heimat“ und „Der große Schwabenzug“, die alle die Einwanderungsgeschichte und das Dorfleben der Deutschen zum Gegenstand hatten. Müller-Guttenbrunn und andere zeitgenössische Autoren stellten das Einwanderungsthema in einen neuen Kontext, indem sie nicht mehr nur die erfolgreiche Ansiedlung der Einwanderer hervorkehrten, sondern der Einwanderung der deutschen Kolonisten als Kulturpioniere einen neuen Sinn gaben.27 Auch das Einwanderungsbild Jägers wurde von dieser völkischen Umdeutung instrumentalisiert, indem es von den deutschnational Gesinnten als Versinnbildlichung des Gründungsmythos eines ‚Neustammes‘ der Deutschen, der Donauschwaben, ausgelegt wurde. Nach dem Ende des historischen Ungarn 1920 fand sich ein Teil der Schwaben im neuen Staat Rumänien wieder. Das Einwanderungsbild diente nun der neuen Identitätssuche. Das noch 1910 von Karl Telbisz, dem Bürgermeister der Stadt Temeswar, für das dortige Stadtmuseum gekaufte Triptychon stand nach wie vor im Mittelpunkt des Interesses und wurde erneut vielfach reproduziert. Aufwendige Farbdrucke waren als gerahmte Bilder ein beliebter Wandschmuck in bürgerlichen Wohnungen, aber auch im ländlichen Bereich waren diese etwa als Hochzeitsgeschenke allgemein verbreitet. Darüber hinaus wurde das Jäger-Bild in Büchern, vor allem in deutschen Schul- und Lesebüchern, abgedruckt. Eine Schulwandtafel, „Schwäbische Bauern auf dem Zug ins Banat“,28 aus dem Jahr 1935 griff in Anlehnung an Jägers Bild das Thema Ansiedlung auf und stellte die Einwanderung im Stil der amerikanischen Siedlertrecks dar. Das Einwanderungsbild wurde in den schwäbischen Dörfern des Banats und der Batschka vielfältig rezipiert und nach wie vor als „historische Quelle“ verwendet, wie etwa die 1936 veranstaltete Ansiedlungsfeier der Gemeinde Brestowatz belegt, wo die historischen Kostüme der Teilnehmer am Festzug auf Grundlage der auf dem Einwanderungsbild abgebildeten Volkstrachten nachgeschneidert wurden.29 26
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Schödl (wie Anm. 24), 399. – Senz, Ingomar: Zwischen nationaler Entfremdung und Selbstbesinnung: Die ungarländischen Schwaben im dualistischen Zeitalter der Monarchie (1867– 1918). In: Donauschwäbische Geschichte, Bd. 2: Wirtschaftliche Autarkie und politische Entfremdung 1806 bis 1918. Hg. v. dems. München 1997 (Donauschwäbisches Archiv, Reihe 3: Beiträge zur donauschwäbischen Volks- und Heimatgeschichtsforschung 64), 251–416, hier 380 f. Vgl. dazu u. a. Senz, Josef Volkmar: Geschichte der Donauschwaben. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1993, 7. Aufl. [11940]. Die Tafel trägt die Signatur W. PL. Licht und Schatten. Über Brestowatz in der Batschka. Hg. v. Paul Schmidt. Königsbach-Stein 2006, 198.
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Um das Jahr 1940 wurde das Triptychon aus dem Banater Museum in die Räume der deutschen Volksgruppe in Temeswar gebracht und damit politisch instrumentalisiert. Das Kulturamt der inzwischen nationalsozialistisch dominierten deutschen Volksgruppe hatte das Jäger-Bild gegen zwei Bilder eines anderen Malers getauscht. Anlässlich einer Ausstellung zum 225. Jahrestag der Befreiung der Stadt Temeswar aus den Händen der Osmanen hieß es in einem Bericht, dass „das Bild von Stefan Jäger an der Stirnwand des großen Saales eine überragende Stellung“30 einnahm. In den 1940er Jahren überhöhte die völkische Gesinnung die eigene Gruppe, wodurch die deutsche Minderheit auch im Banat in ein potentielles Konfliktverhältnis zu der andersethnischen Mehrheitsbevölkerung geriet und sich in einem ständigen Abwehrkampf gegen fremde Einflüsse sah. Auch der Ansiedlungsmythos wurde mit völkischen Ideen beladen, wonach allein die Schwaben im Einwanderungsgebiet quasi aus dem Nichts blühende Landschaften geschaffen hätten. Diese Kulturschöpfung ex nihilo, die somit eine germanische Landnahme fremden Bodens legitimierte, wurde zum tragenden Element der neuen Gruppenidentität.31 Infolge der Begründung einer Kulturträger-Mission der Schwaben in Südosteuropa änderte sich auch die Interpretation des Einwanderungsbildes in diese Richtung. Für den in Seewanns Modell dritten, nach 1945 entstandenen Identitätstypus bedeutete das Einwanderungsbild nach wie vor eine Orientierung bei der Bestimmung der Rolle der Banater Schwaben. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, als Bombenangriffe drohten und die Rote Armee ins Banat vorrückte, wurde das Triptychon auf dem Dachboden eines Bauernhofes versteckt. Nach Kriegsende kam es wieder zurück ins Banater Museum, wurde aber nicht in der ständigen Sammlung ausgestellt, sondern verblieb im Depot. Erst anlässlich einer Stefan-Jäger-Gedenkausstellung 1967 in Temeswar wurde es erneut der Öffentlichkeit gezeigt und schließlich wurde das Gemälde 1969 als Leihgabe der Stefan-Jäger-Gedenkstätte in Hatzfeld übergeben. Obwohl das Originalbild in der Nachkriegszeit öffentlich kaum präsent war, behielt es im Bewusstsein der Banater Schwaben seine Wirkungskraft, was unter anderem darin deutlich wird, dass Stefan Jäger bis ins hohe Alter, teilweise auf Bestellung, zahlreiche Kopien und Neuschöpfungen seines Einwanderungsmotivs anfertigte. Seit mehr als hundert Jahren wird das Bild unter unterschiedlichen Titeln wie „Einwanderung der Deutschen in das Banat“, „Die Einwanderung der Donauschwaben im 18. Jahrhundert“ oder „Einwanderung der Deutschen nach Ungarn“ als Druck reproduziert und von Laienmalern kopiert. Das Triptychon fand auch als „Lebendes Bild“ Eingang in die Einwanderungsfeierlichkeiten wie etwa 1971 in Jahrmarkt, als die Dorfbewohner in einem „Tableau vivant“ die Szenen „Wanderung“, „Rast“ und „Ankunft“ auf der Bühne als Manifestation der kollektiven Erinnerung nachstellten. Diese seit der Goethezeit praktizierte künstlerische Ausdrucksform war ein Gesellschaftsspiel des Bürgertums, das ihm zugleich als
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Gross (wie Anm. 9), 136. Seewann (wie Anm. 21), 144.
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politische Manifestation diente.32 Als Schaubelustigung war das „Lebende Bild“ auch in bäuerlichen Gemeinschaften beliebt, wobei in dem Fall der Jahrmarkter ebenfalls der Manifestation, die der ethnischen Zugehörigkeit, diente. Als nach dem Sturz des Ceauçescu-Regimes in Temeswar das Adam-MüllerGuttenbrunn-Haus mit Fördermitteln der Bundesrepublik Deutschland gebaut wurde, platzierte man das Einwandererbild 1994 repräsentativ im Foyer der Einrichtung. Seitdem hat das Bild seinen Platz im Guttenbrunn-Haus, wo sich auch der Sitz des Demokratischen Forums der Deutschen im Banat befindet und das als zentraler Veranstaltungsort für die Banater deutsche Minderheit in Temeswar fungiert. Während man im kommunistischen Rumänien vorsichtig, aber kritiklos auf das Einwanderungsbild als Stütze des kulturellen Gedächtnisses der ethnischen Gruppe zurückgriff, knüpfte die Gruppe der Banater Schwaben in der Bundesrepublik Deutschland nach Seewann nahtlos an alte Denkmuster an.33 Das Einwanderungsbild gehörte nach wie vor zum festen Bestandteil des Selbstbildes der in der Landsmannschaft organisierten Banater Schwaben. Das Bild wird weiterhin häufig in Publikationen der Landsmannschaften in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in Österreich abgedruckt (vgl. Abb. 4). Der Schwabenverein in Wien bot etwa zu Weihnachten 2007 einen Druck als Weihnachtsgabe an, und auf Einladungskarten zu landsmannschaftlichen Treffen wird das Motiv gerne benutzt. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich allein in den Depots des Donauschwäbischen Zentralmuseums in Ulm zwei Ölgemälde finden, in denen Laien Stefan Jägers Bild, adaptiert auf bestimmte Regionen und Ortschaften, nachgemalt und neu interpretiert haben.34 Das Haus der Heimat in Stuttgart wiederum trug mit der Auflage eines Puzzles des Einwanderungsbildes im Ravensburger Spieleverlag im Jahr 1990 zu einer weitergehenden Popularisierung des Bildes bei. Auf die gemeinschaftsbildende Kraft des Einwanderungsbildes weist auch die Tatsache hin, dass es bis heute immer wieder auch nachgestellt wird. So gedachte die Heimatortsgemeinschaft Neupanat zu Pfingsten 2010 des 225. Jubiläums der Auswanderung ihrer Vorfahren mit einer historischen Donaufahrt. Die Teilnehmer hatten nach der Vorlage von Stefan Jägers Gemälde einige Trachten nachgeschneidert und erinnerten zugleich auch an das vor 100 Jahren entstandene Werk.35
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Zu den „Lebenden Bildern“ in der Habsburgermonarchie vgl. u. a. Krasa-Florian, Selma: Die Allegorie der Austria. Die Entstehung des Gesamtstaatsgedankens in der österreichischungarischen Monarchie und die bildende Kunst. Wien – Köln – Weimar 2007, bes. 87–102. Seewann (wie Anm. 21), 143 f. In seinen Untersuchungen der zahlreichen, in der Regel von Laien geschriebenen Heimatbücher kommt Seewann zu dem Schluss, dass bei den Vertriebenen ein völkisch geprägtes Selbstverständnis weitgehend erhalten geblieben sei. Jakob Rosenberger malte sein Einwandererbild unter dem Titel „Deutsche Ansiedler errichten den Ort Kudritz 1739“ im Jahr 1996 und brachte darauf, wie auf der Rückseite vermerkt ist, „150 Menschen, Tiere, Häuser“ – also mehr als Stefan Jäger auf seinem Bild – unter. Victor Penny aus Großkarol in Rumänien malte nach Jägers Motiv 1992 „Die Einwanderung der Schwaben nach Siebenbürgen“. Vgl. www.6packabsinsider.com/…/Neupanater-Auswanderer-1785-Teil-2-MP4.html (18.05.2011).
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Abb. 4: Einladungskarte der Landsmannschaft der Banater Schwaben mit einem Ausschnitt des Gemäldes „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“, 2002, Foto: Christian GLASS.
Immer häufiger wird die Darstellung auch als Chiffre für die Gesamtheit der Donauschwaben verwendet. Wirklich bemerkenswert an Jägers beschaulicher Darstellung ist, wie nachhaltig sich die drei in Öl gemalten Szenen über einhundert Jahre dem individuellen und kollektiven Gedächtnis einprägten, und zwar nicht nur bei den Banater Schwaben, sondern auch bei den Sathmarer Schwaben oder den Deutschen aus dem ehemaligen Jugoslawien36 und darüber hinaus auch bei den Ungarndeutschen.37 Obwohl die wiederholte Aufnahme des Bildmotivs insbesondere im landsmannschaftlichen Zusammenhang ungebrochen ist, so muss doch von einem Rezeptionswandel ausgegangen werden. Die Verwendung im privaten Bereich, die in der Zwischenkriegszeit noch weit verbreitet war, ist zurückgegangen. Die neue Ge36 37
Dies lässt sich anhand zahlreicher Bildbelege der letzten Jahrzehnte aus dem privaten sowie öffentlichen Raum zeigen. Eine kleine und ständig erweiterte Auswahl befindet sich in den Sammlungen und Fotodokumentationen des Donauschwäbischen Zentralmuseums in Ulm. So für einen Bucheinband einer Publikation des Germanistischen Institutes der Loránd Eötvös Universität in Budapest über die Trachten der Donauschwaben aus dem Jahr 2001; vgl. Manherz, Karl: Volkstrachten der Ungarndeutschen. Budapest 2000.
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neration der Donauschwaben sowohl in den Siedlungsgebieten als auch in Deutschland hat – so die Vermutung – heute andere ästhetische und thematische Kriterien für die Auswahl ihres Wandschmucks als ihre Eltern und Großeltern. Hinzu kommt außerdem, dass der Betonung der ethnischen ‚Wir-Gruppe‘ keine existentielle Bedeutung mehr zukommt und sie weder in der Außendarstellung noch in der privaten Repräsentation einer starken Bildsymbolik bedarf. Trotzdem hat das Jäger’sche Bildmotiv durch seine Verbreitung bei den Donauschwaben Zeichencharakter erhalten, so dass es – im Wesentlichen auf die Verbände beschränkt – als Symbol der donauschwäbischen Gruppe schlechthin wahrgenommen und weiter verwendet wird.
ANSIEDLUNGSFEIERLICHKEITEN IN DER BATSCHKA Das Beispiel Filipowa 1938 Ingomar Senz Ansiedlungsfeierlichkeiten stellen eine besondere Form der Erinnerung dar, in deren Rahmen sich Migrantengruppen an ein für ihre Existenz grundlegendes historisches Ereignis, nämlich den Beginn ihrer dauerhaften Ansiedlung, erinnern. Ansiedlungsfeierlichkeiten abzuhalten, bedeutet zugleich, aus der linearen Abfolge der Geschehnisse für eine kurze Zeit auszutreten und sich auf Vergangenes einzulassen. Die Beschwörung geschichtlicher Ereignisse innerhalb eines solchen Feierrituals baut Emotionen genauso ab wie sie sie weckt, schafft Distanz zum Vergangenen und ermöglicht so Bewertungen, setzt Energien für die Zukunftsgestaltung frei und wirkt auf diese Weise auf das reale Leben ein. All das – mögen es Gefühle oder Erkenntnisse sein – fließt zusammen zu einem starken Gemeinschaftserlebnis, das den Teilnehmern bewusst macht, woher sie kommen, was vom Erbe früherer Generationen weiterwirkt und wie dieses in der Regel günstig bewertete Erbe in Zukunft weitervermittelt werden kann. Es ist das Bewusstsein der eigenen Identität, das sich auf diese Weise entwickelt. Herkunfts- und Traditionsbewusstsein schafft einerseits ein Selbstwert-, andererseits ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Zusammengehörigkeit tritt allerdings nicht als konstante und dauerhaft präsente Empfindung auf, sondern, mit Rogers Brubaker gesprochen, als ein Ereignis, das durch „Momente intensiv empfundener kollektiver Solidarität geschieht“1. Wenn das ethnische Zusammengehörigkeitsgefühl eine dynamische Kategorie einer Gruppe ist, so muss auch nach dessen Ursachen, Zweck und Erfolg gefragt werden. Einer Untersuchung der Ansiedlungsfeierlichkeiten der Donauschwaben steht jedoch die nicht sehr ertragreiche Quellenlage entgegen, so dass weder Hintergründe noch Inhalte dieser Feier in einer zeitlichen Abfolge, geschweige denn in einem regionalen Vergleich eingehend untersucht werden können.2 Deshalb wird hier das 1938 begangene und gut dokumentierte Fest von Filipowa in der Batschka exemplarisch betrachtet. 1 2
Brubaker, Rogers: Ethnizität ohne Gruppen. Hamburg 2007, 23. Aus Ortsmonographien, die meist in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 herausgegeben wurden, ist retrospektiv von den Jubiläumsfeierlichkeiten zahlreicher Ortschaften des Banats und der Batschka während der 1920er und 1930er Jahre zu erfahren, Augenzeugenberichte und zeitgenössische Quellen zum Thema fehlen jedoch gänzlich. Sicherlich wäre eine systematische Erfassung von Archivquellen für das Thema weiterführend, doch diese erfordert in Anbetracht der Situation der Archive im heutigen Serbien und Rumänien einen großen zeitlichen Aufwand, der für vorliegenden Beitrag nicht erbracht werden konnte.
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1. ANSIEDLUNGSFEIERLICHKEITEN BIS 1938 Dorfjubiläen, vor allem anlässlich der jeweiligen Kirchengründung, wurden bei den deutschen Einwanderern in Ungarn schon im 19. Jahrhundert begangen. Nachdem die Anfangsschwierigkeiten der Ansiedlung überwunden waren, eine relativ einheitliche Dorfkultur ausgeformt war und sich die Akkulturation in der nichtdeutschen Umgebung angebahnt hatte, begann sich ein Eigenbewusstsein der Schwaben zu entfalten. Dies war eine Grundlage dafür, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Ansiedlung der Vorfahren, zumeist im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen, zu gedenken. Nachweislich feierte die Gemeinde Triebswetter im Banat schon im Jahre 1872 ein Ansiedlungsfest mit einem Hochamt in der katholischen Kirche und einem anschließenden Dorfumzug.3 Einen ersten Höhepunkt erreichten solche Ansiedlungsfeiern vor dem Ersten Weltkrieg.4 In der Banater Gemeinde Gertianosch wurde 1910 zur Erinnerung an die Ansiedlung das seither wohl bekannteste Gemälde der Donauschwaben, „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“ von Stefan Jäger, feierlich enthüllt.5 Es gab sogar während des Ersten Weltkriegs Erinnerungsfeste; dies belegt das 1916 begangene 150-jährige Gründungsfest der Gemeinde Hatzfeld im Banat.6 Erst nach der Aufteilung der schwäbischen Siedlungsgebiete Ungarns in Folge des Ersten Weltkriegs entstand in Jugoslawien und Rumänien ein starker Wunsch, Ansiedlungsfeierlichkeiten abzuhalten, welche als Demonstration der kollektiven Solidarität mit dem eigenen Volkstum und der Heimat und zugleich als Loyalitätsbekundungen zum neuen Staat veranstaltet wurden. Den Auftakt machte die Gemeinde Weißkirchen im jugoslawischen Banat. Dort fand am 25. und 26. August 1923 eine Ansiedlungsfeier in der Organisation des „Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes“ statt, um die Einheit der schwäbischen Gemeinden in Jugoslawien zu demonstrieren. Das 1920 in Neusatz gegründete Vertretungsorgan der Schwaben in Jugoslawien, das sich für kulturelle, wirtschaftliche und soziale Belange der Schwaben engagierte, wollte außerdem das Heimatrecht der Schwaben und damit ihre berechtigten Forderungen nach politischer und kultureller Selbstvertretung manifestieren. Stefan Kraft, Obmann der Partei der Deutschen im Belgrader Parlament, erklärte, dass der tiefe Sinn der 200-Jahr-Feier darin liege,
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Vogel, Heinz: Das Treffil Buch. Temesvar 1999, 563. In den 1880er Jahren gab es wohl 100-Jahr-Feiern der unter Joseph II. besiedelten Orte. Die Gemeinde Schowe feierte am 14. Juni 1886 das 100. Jubiläum ihrer Gründung. Aus diesem Anlass wurde auch eine Gedenktafel am Gemeindehaus angebracht. Vgl. dazu Heimatbuch der Gemeinde Schowe. Hg. v. Christian Ludwig Brücker. [Winnenden 1961], 43 f. Auch für Jarek in der Batschka ist ein ähnliches Fest belegt. Vgl. dazu Schmidt, Johann u. a.: Geschichte der letzten josephinischen Siedlung Batschka-Jarak, Jarek 1787–1937. Novi Vrbas 1937, 48, Abb. 2. Dold, Stefan: Die Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen in Südungarn. Kurzgefaßte Gelegenheits-Broschüre zur Bildenthüllung in Gyertyámos am 15. Mai 1910. Temesvár [1910], 18–20. Vgl. auch den Beitrag von Christian Glass in diesem Band. Unser Jubeljahr. Denkschrift anläßlich des 150-jährigen Bestandes der Großgemeinde Zsombolya (Hatzfeld) 1766–1916. [Zsombolya] 1916, 2.
Ansiedlungsfeierlichkeiten in der Batschka
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„daß das Deutschtum des gesamten Staates vor aller Öffentlichkeit, ja selbst über die Grenzen hinaus, ein Bekenntnis abgelegt habe, ein Bekenntnis, welches besagt, daß wir Deutsche hier auf diesem geweihten Boden Wurzeln geschlagen haben, dass wir Deutsche in diesem Lande nicht Fremdlinge, nicht Gäste sind, sondern dass wir diesen Boden mit Fug und Recht als unseren angestammten Heimatboden betrachten. Dieser Boden, der ohne die Arbeit, ohne den Schweiß, ohne die Opfer von sieben deutschen Einwanderergenerationen nicht das geworden wäre, was er heute ist, dieser Boden ist ein Ergebnis unseres Fleißes, unserer Treue und unserer Liebe zu diesem Lande.“7
Höhepunkt der Feierlichkeiten auch in Weißkirchen war ein Festumzug, der aus zwei Teilen bestand. Im historischen Teil wurden die alten schwäbischen Trachten und Nachbildungen der alten Fuhrwerke gezeigt, in einem zweiten Teil wurden die Ergebnisse der Gegenwart mit der Präsentation neuer Wagen und Traktoren zur Schau gestellt. Mit diesem Umzug sollten einerseits die Fortschritte für die Außenwelt demonstriert werden, die von den deutschen Kolonisten innerhalb von zwei Jahrhunderten auf verschiedenen Gebieten des materiellen und geistigen Lebens gemacht worden waren. Andererseits sollte der Umzug die eigenen Leistungen in Erinnerung rufen und das Selbstwertgefühl der Gruppe stärken.8 Im rumänischen Banat wurde die Reihe der Jubiläen mit der 200-Jahr-Feier der Ansiedlung deutscher Kolonisten zwischen dem 7. und 9. September 1923 in Temeswar begonnen.9 Da das Jubiläum stellvertretend für die sich zum 200. Mal jährende Besiedlung des gesamten Banats gefeiert wurde,10 nahmen alle um diese Zeit gegründeten deutschen Ortschaften der Region daran teil. An die 80.000 Menschen strömten zu den Feierlichkeiten zusammen und alle beteiligten Gemeinden leisteten beim Festumzug ihren Beitrag. Karl von Möller, Abgeordneter im Bukarester Parlament, schrieb auch das Theaterstück „Schwaben“ eigens für die Veranstaltung.11 Die zentrale Bedeutung der Temeswarer Feier über ihren regionalen Charakter hinaus liegt auch in der Tatsache begründet, dass sie die Initialzündung für alle weiteren Ansiedlungsfeste im Banat gab. Auch das Ziel des 1923 begangenen Ansiedlungsjubiläums, eine Kundgebung der kollektiven Solidarität zu sein,12 diente in der Zwischenkriegszeit als Vorbild für die anderen Feiern. 7 8
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Zit. nach Rasimus, Hans: Als Fremde im Vaterland. Der Schwäbisch-Deutsche Kulturbund und die ehemalige deutsche Volksgruppe in Jugoslawien im Spiegel der Presse. München 1989 (Donauschwäbisches Archiv 3, 39), 147. Kuhn, Peter: Festschrift zur 200-Jahrfeier der Stadt Weißkirchen am 25. und 26. August 1923. Weißkirchen 1923. – Bethke, Carl: Deutsche und ungarische Minderheiten in Kroatien und der Vojvodina 1918–1941. Identitätsentwürfe und ethnopolitische Mobilisierung. Wiesbaden 2009 (Balkanologische Veröffentlichungen 47), 469 f. Mayer, Hans: Die Zweihundertjahrfeier der Ansiedlung der Deutschen im Banat (1723–1923). In: Dr. Hans Weresch. Festschrift zum 80. Geburtstag. Hg. v. Nikolaus Hubert. Freiburg i. Br. 1982, 71–76. – Wolf, Josef: Die Zweihundertjahrfeier der Ansiedlung 1923 im Spannungsfeld zwischen Politik und Erinnerungskultur. In: Banatica Nr. 3, 12 (1995), 8–30. Dem Jubiläum wurde das 1723 auf dem ungarischen Landtag verabschiedete Gesetz über die Neubesiedlung zugrunde gelegt, obwohl in dem Ungarn nicht wieder eingegliederten Banat die ungarischen Landtagsgesetze bis 1778 keine Gültigkeit hatten. Mehr zu dem Theaterstück im Beitrag von Katharina Drobac in diesem Band. Zur Ansiedlungsfeier in Temeswar rief der 1920 gegründete „Deutsch-Schwäbische Volksrat“, das Interessenorgan der in Rumänien lebenden „Schwaben“, auf, um geschlossen gegen die
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Aus den wenigen Quellen zeichnet sich ab, dass gerade in der Zwischenkriegszeit ein regelrechter Wettstreit unter den schwäbischen Gemeinden sowohl im Banat als auch in der Batschka entstand, das schönste Fest abzuhalten. In der Batschka beispielsweise wetteiferten jene Gemeinden, die während der josephinischen Ansiedlungsperiode zwischen 1784 und 1788 angelegt wurden, darum, ihr 150-jähriges Gründungsfest in einem möglichst aufwendigen Rahmen zu begehen: Torschau und Novoselo im Jahre 1934; Neuwerbaß, Tscherwenka und Neu-Palanka 1935; Altschowe, Sekitsch und Parabutsch 1936; ferner gab es solche Feste in Jarek und Bulkes 1937.13 Lediglich die Gemeinde Filipowa, die nicht zu den josephinischen Gründungen gehörte, feierte als einzige Gemeinde ein ‚Zwischenjubiläum‘, nämlich ihre 175-Jahr-Feier im Jahre 1938, die allerdings in ihrem organisatorischen Aufwand alle anderen in der Batschka übertraf. Der Hintergrund für die Bereitschaft der Gemeinden, Ansiedlungs- und Gründungsfeste abzuhalten, ist nicht zuletzt auch in jenen Kontakten zu sehen, die sich zwischen den schwäbischen Gemeinden und den deutschen Auswanderergemeinden seit den 1920er Jahren intensivierten. Die Weimarer Republik übernahm bereits unter Außenminister Gustav Stresemann die Verpflichtung, sich um wirtschaftliche und kulturelle Belange des Auslandsdeutschtums zu kümmern, und förderte zu diesem Zweck die Aktivitäten des 1917 in Stuttgart gegründeten Ausland-Institutes. Dieses nahm alsbald Kontakt zu den deutschen Minderheitengruppen in Südosteuropa, so auch im Banat und in der Batschka, auf. Die zahlreichen Festveranstaltungen in der Batschka wurden in Zusammenarbeit zwischen dem Ausland-Institut in Stuttgart und der Kulturbund-Zentrale in Neusatz gefördert und die Durchführung der Feierlichkeiten wurde unterstützt. In diesem Zusammenhang entwickelten sich Verbindungen zu den Herkunftsgebieten der Batschka-Deutschen.14 Die Ansiedlungsfeier von Filipowa in der Batschka ist ein beredtes Beispiel dafür. Für die dortige Feier als Objekt einer Untersuchung schwäbischer Ansiedlungsfeiern spricht nicht nur die gute Quellenlage – keine Ortsjubiläumsfeier war so gründlich geplant und ist so ausführlich dokumentiert wie die Filipowaer15 –, sondern auch das reichhaltige Festprogramm. Weiterhin zog – abgesehen von Temeswar – kein Ansiedlungsfest so viele Gäste von außerhalb an, die nicht nur aus den Nachbardörfern und -regionen kamen, sondern auch aus Deutschland und sogar aus Übersee.
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minderheitenfeindliche Staatsverfassung Rumäniens zu protestieren; vgl. dazu ausführlich Wolf (wie Anm. 9), 10. Vgl. u. a. Negele, Josef: 200 Jahre Bačko Novoselo. Festschrift zur 200-jährigen Jubiläumsfeier der Gemeinde. Bačko Novoselo 1934. – 200 Jahre Parabutsch, Jubiläumsband. Hg. v. Heimatausschuss der Ortsgemeinde Parabutsch. Heppenheim 1986. 200 Jahre Parabutsch (wie Anm. 13), 182. Die ganze Dokumentation des Festes wurde im achten Band des Heimatbuches Filipowa veröffentlicht, worauf auch diese Darstellung zum Großteil basiert; vgl. Schreiber, Franz/Wildmann, Georg: Filipowa. Bild einer donauschwäbischen Gemeinde, 8 Bde. Wien 1978–1999, hier Bd. 8: Filipowa 1914–1944, 217–263.
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2. DIE 175-JAHR-FEIER DER GEMEINDE FILIPOWA 1938 Die Gründung des Ortes Filipowa erfolgte im Jahre 1763 auf dem Kameralgut Philipowa, als die Ungarische Hofkammer dort und auf anderen Gütern der Batschka katholische Deutsche ansiedelte. Damit fällt die Ortsgründung in die zweite große Ansiedlungsperiode zur Regierungszeit Maria Theresias. Die Regentin wollte für den Verlust Schlesiens im kurz zuvor beendeten Siebenjährigen Krieg einen Ausgleich schaffen und beschloss unter anderem die intensivere wirtschaftliche Nutzbarmachung der südungarischen Kameralgebiete. 1763 und 1764 wurden insgesamt 75 Familien auf dem Kameralgut Philipowa angesiedelt. 1801 befanden sich im Ort bereits 272 Häuser, zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrug ihre Zahl 535. Bei der ungarischen Volkszählung von 1910 wurden 3.881, bei der jugoslawischen Volkszählung von 1931 bereits 4.356 Einwohner, davon 4.244 deutsche, gezählt. Infolge der nach 1880 einsetzenden Industrialisierung in Ungarn, die auch im Agrarsektor mit einer Umgestaltung der Produktionsweise und der Sozialstruktur einherging, verstärkte sich in Filipowa der Anbau von Industriepflanzen wie Hanf. Die Hanfproduktion entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit so positiv, dass Hanf sogar erfolgreich exportiert werden konnte. Den Hanfbauern war so ein sicheres Einkommen gewährleistet. Auch der Gewerbesektor entfaltete sich nach 1880 rasant, so dass 1928 schon 233 Handwerker im Ort tätig waren.16 Dank einiger engagierter Lehrer und Pfarrer herrschte in Filipowa seit Ende des 19. Jahrhunderts auch ein kulturell reges Leben, was unter anderem auch bewirkte, dass viele junge Menschen eine weiterführende Schule besuchten. Bis 1910 legten allein am ungarischen Jesuitengymnasium in Kalocsa 22 Schüler das Abitur ab.17 Daher brachte das Dorf eine ganze Reihe von Pfarrern, Klosterschwestern, Künstlern, Ärzten und Lehrern hervor. Einige von ihnen begannen sich in den 1930er Jahren für die Gründungsgeschichte ihres Geburtsorts zu interessieren, wie etwa Sebastian Werni, der neben seinem Theologiestudium die Auswanderungsakten im Wiener Hofkammerarchiv erforschte, oder Jakob Leh, der ab 1933 an seinem Buch „Filipovo. Bilder aus meiner Heimat“ arbeitete.18 Philipp Teppert schrieb über die Filipowaer Tracht und der aus Apatin stammende Lehrer Josef Senz verfasste eine Schulgeschichte und sammelte Material für eine historische Darstellung der Schwaben. Karl Adalbert Gauß, ebenfalls ein Filipowaer, interessierte sich für Sprachen und Dialekt.19 Das Interesse an der eigenen Geschichte war in den politischen Ereignissen nach dem Ersten Weltkrieg begründet wie der Neugestaltung der politischen Landkarte des Donauraumes, die im Fall der Schwaben ohne das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung durchgesetzt wurde. Im Königreich der Serben, Kroaten und 16
Zur Geschichte des Dorfes vgl. Leh, Jakob: Filipovo. Bilder aus meiner Heimat. Novi Sad 1937. – Zollitsch, Anton: Filipowa. Entstehen, Wachsen und Vergehen einer donauschwäbischen Gemeinde in der Batschka. Freilassing 1957 (Donauschwäbische Beiträge 19). 17 Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 3, 67. 18 Das Buch erschien kurz vor dem Ansiedlungsfest im Jahre 1937; vgl. Leh (wie Anm. 16). 19 Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 8, 220.
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Slowenen waren sie nach wie vor jenem Entscheidungsdruck unterworfen, der auf sie vom Staat ausgeübt wurde. Der neue Staat forcierte eine Integration und Assimilation der ethnischen Minderheiten in die neue nationale Umgebung. Gleichzeitig gingen auch vom katholischen Klerus politische Vereinnahmungsbestrebungen aus, deren Vertreter in der Batschka – vor allem jene, die ihre Ausbildung noch in Ungarn erhalten hatten – nach wie vor magyarisch orientiert waren. Sie standen einer Betonung des deutschen Volkstums und der schleichenden Nazifizierung nach 1933 dementsprechend ablehnend gegenüber. Die Schwaben in Jugoslawien sahen sich vor eine Entscheidung für die Assimilation oder die Dissimilation gestellt.20 Der deutschnational orientierte „Schwäbisch-Deutsche Kulturbund“ entschied sich für die Bewahrung der Identität der Schwaben und unterstützte mit Zeitungen, Büchern oder Veranstaltungen zur Geschichte, Sprache und Volkskunde die Dissimilationstendenzen. So erscheint es nicht verwunderlich, dass führende Gemeindevertreter Filipowas darauf drängten, die historischen und gegenwärtigen Leistungen der Gemeinde auf einem Heimatfest zu präsentieren. Da das 150-jährige Jubiläum der Gemeindegründung bereits verstrichen war, sollte das 175-jährige begangen werden. Wer genau die Idee zum Fest entwickelte, ist heute nicht mehr zu ermitteln. Fest steht nur, dass der Wunsch nach einem großangelegten Fest vorhanden war. Zur Vorbereitung des Jubiläums wurde deshalb eine eigene Zeitschrift, „Filipowaer Heimatblätter. Vorbereitungs-Zeitschrift zur 175-Jahrfeier“, unter der Schriftleitung von Philipp Teppert und Sebastian Werni herausgegeben, um ein geeignetes Forum zur Veröffentlichung der historischen und sprachlichen Untersuchungen zu schaffen und somit die Vergangenheit der Gemeinde zu dokumentieren. Weiteres Ziel des Jubiläums war, eine Brücke zur alten Heimat zu schlagen, um so das Auswanderungsgebiet und die Auswanderungsumstände der Kolonisten zu ergründen. Die ersten Kontakte zu Herkunftsdörfern kamen, aus der Neugierde der Dorfelite auf den Auswanderungsort heraus, schon Jahre zuvor zustande. Die Familie Leh war im Besitz eines kostbaren alten Gebetbuches, worin sich die auf den ersten Besitzer des Buches verweisende Eintragung „Gabriel Rapp, Trillfingen“ fand. Als Franz Leh sich 1908 auf dem Heimweg von einer Lourdes-Wallfahrt befand, unternahm er einen Abstecher nach Trillfingen in Württemberg, um nach möglichen Verwandten zu suchen. Dort weckten seine Vorträge über Filipowa und die Batschkaer Deutschen allgemeines Interesse und bewegten den dortigen Pfarrer Hofer im Sommer 1909 zu einem Gegenbesuch in Filipowa, wo er nun seinerseits etliche Vorträge über Württemberg und die alte Heimat hielt. Bereits ein Jahr später zog es den aus Filipowa stammenden Prälaten Peter Zundl ebenfalls nach Trillfingen, um dort nach den Wurzeln seiner Familie zu suchen. In den 1930er Jahren gelangte dann der engagierte Familienforscher Otto Hienerwadel, Oberpostinspektor in Donaueschingen, auf nicht mehr zu klärende Weise nach Filipowa. Während seines längeren Aufenthalts im Herbst 1936 schloss er Freundschaft mit dem Ortsvorsteher Martin Pertschy. Die Frucht seines Besuches 20
Sundhaussen, Holm: Die Deutschen in Kroatien-Slawonien und Jugoslawien. In: Land an der Donau. Hg. v. Günter Schödl. Berlin 1995, 291–348, hier 320 f.
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war ein Artikel in den „Filipowaer Heimatblättern“ mit dem Titel „Möhringen in Baden – Filipowa in der Batschka“. Darin wies Hienerwadel nach, dass der Bauer und Stricker Andreas Bertsche – später in der Schreibform Pertschy – mit Frau und fünf von zwölf Kindern am 19. April 1769 von Möhringen aufgebrochen war, um sich schließlich in Filipowa anzusiedeln. Da der Name Pertschy in Filipowa der am meisten verbreitete Name war, rief diese Entdeckung ein freudiges Echo in der Gemeinde hervor. Ebenso ergiebig gestaltete sich der Gedankenaustausch mit dem Lehrer Josef Schäfer aus Stein bei Hechingen, dem Leiter der hohenzollerischen Auswanderungsstelle.21 Die Verbindung nach Hechingen führte schließlich zu einem Artikel in der „Hohenzollerischen Volkszeitung“ vom 1. September 1937 mit der Intention: „Wir wollen zu unseren Auslandsdeutschen stehen durch die Tat. Und wenn im Sommer 1938 drunten in Filipovo, wo zahlreiche Siedler aus Hohenzollern leben, 175-Jahrfeier gehalten wird, wollen wir heute schon aufrufen zur Teilnahme.“22 Als Ergebnis dieser ersten Nachforschungen führte die April-Nummer der „Filipowaer Heimatblätter“ die Namen der Filipowaer Familien an, die bis dahin Verbindungen zu dem Abstammungsort ihrer Voreltern hergestellt hatten: Familie Rack/Ragg zu Dürbheim, Leh zu Rittershofen, Pertschy/Bertsche zu Möhringen, Rapp zu Trillfingen und Werner zu Ruppertsberg. Allerdings erfuhr eine erheblich höhere Zahl von Filipowaern auch ohne Verbindung zu Gemeinden in Hohenzollern und Württemberg ihren Abstammungsort, nachdem Jakob Leh 1937 sein Buch „Filipovo. Bilder aus meiner Heimat“ mit zahlreichen Angaben zu den Auswanderern veröffentlichte.23 Am 11. Juli 1937 fand in Filipowa die Gründungsversammlung des Festausschusses zur Ansiedlungsfeier statt, an dem alle Filipowaer Gruppierungen teilnahmen. Der Ausschuss legte den Festtermin auf 30. Juli bis 1. August fest und beschloss, als bleibende Erinnerung an den Jubeltag ein Kolonistendenkmal zu errichten.24 Darüber hinaus wurde vereinbart, eine Ausstellung zu organisieren, die nicht nur eine Leistungsschau der Erzeugnisse der im Dorf lebenden Landwirte, Gärtner, Gewerbetreibenden und Handwerker darstellen, sondern zugleich Fotografien und wertvolle Gegenstände zur Geschichte der Gemeinde zeigen sollte. Aus dem Versand der „Filipowaer Heimatblätter“, die als offizielles Sprachrohr des Vorbereitungsausschusses fungieren sollte, ergaben sich nicht nur zu den deutschen Herkunftsgemeinden der Filipowaer fruchtbare Kontakte, die ihre Teilnahme an der Feier zusagten. Starkes Echo kam auch von Seiten der Filipowaer Auswanderer im In- und Ausland. In „Klein-Filipowa“, wie man die slawonischen Tochter21 22 23 24
Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 8, 223. Ebd. Leh (wie Anm. 16). Dieser Beschluss, dem Jubiläum, gleichzeitig aber auch der Ein- und Auswanderung ein bleibendes Zeichen zu setzen, stand im Gegensatz beispielsweise zum Tscherwenkaer Jubiläum, das als krönendes Ereignis die Errichtung eines Hauses für kulturelle Zwecke vorsah und deshalb bewusst auf ein Denkmal verzichtete; vgl. Vetter, Roland/Keiper, Hans: Unser Tscherwenka. Der Weg einer Batschkadeutschen Großgemeinde in 2 Jahrhunderten. Tuttlingen 1980, 399–404.
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gemeinden Tomaschanzi und Gorjani auch nannte, wo es 35 Abnehmer der „Filipowaer Heimatblätter“ gab, kündigte man an, mit einem eigenen Sonderzug zum Fest der Muttergemeinde anzureisen. Noch größer war die Reaktion auf die angekündigte Ansiedlungsfeier aus Übersee. In New York führte die Ankündigung am 7. Mai 1938 sogar zu einem eigenen Heimatfest der Filipowaer, die das Fest institutionalisierten, indem sie einen eigenen Club gründeten. Die in New York lebenden Filipowaer spendeten auch eine größere Summe für die „Filipowaer Heimatblätter“ und das geplante Denkmal. Ferner teilten sie mit, dass Josef Beiter beauftragt sei, über seinen geplanten Besuch in Filipowa einen Film zu drehen. Ähnlich reagierten die Filipowaer Landsleute in Philadelphia. Angeregt von den „Filipowaer Heimatblättern“ und dem bevorstehenden Ortsjubiläum gelang es dort, sämtliche Landsleute ausfindig zu machen und in zwei Versammlungen zusammenzuführen. Die Namen und Adressen aller 55 registrierten Filipowaer schickten sie zusammen mit einem gesammelten Geldbetrag in die alte Heimatgemeinde. Ferner kündigten sie die Teilnahme einer Gruppe aus Philadelphia an der Feier an. Bereits am Vorabend der Feier gestaltete sich das Eintreffen der Gäste aus den Nachbargemeinden und aus „Klein-Filipowa“ zu einem ersten Höhepunkt (vgl. Abb. 5). Während das halbe Dorf den Sonderzug aus Tomaschanzi erwartete, zogen die Teilnehmer aus den Nachbargemeinden unter den Klängen der Dorfmusik in Filipowa ein. Der erste Jubiläumstag am 30. Juli begann mit einem feierlichen Requiem für alle verstorbenen Filipowaer in der Kirche mit anschließender Totenehrung im angrenzenden Kirchhof. Ortsvorsteher Pertschy hielt die Ansprache, der Männergesangverein intonierte Lieder nach Filipowaer Tradition. Anschließend kam bereits der zweite Höhepunkt: die Enthüllung des Denkmals, für manche das zentrale Ereignis überhaupt. Ortsvorsteher Pertschy verlas die Abschrift der Urkunde, die in den Sockel des Denkmals eingemauert worden war. Josef Schäfer legte als Vorsitzender der Hohenzollerischen Auswandererforschungsstelle einen Tannenkranz mit Widmung nieder und verstreute symbolisch ein Säcklein Erde aus Wiese, Wald und Feld der Ursprungsheimat. Die am Kranz angebrachte Hakenkreuzschleife musste allerdings auf Anweisung der Filipowaer Ortsbehörde entfernt werden. Mit einer musikalischen Abendfeier und einem Bekanntschaftsabend endete der erste Jubeltag. Der Hauptfesttag, der 31. Juli, begann mit einem Festgottesdienst. Da die Kirche die Tausenden von Teilnehmern nicht fassen konnte, verfolgten die meisten das Geschehen per Lautsprecher. Der Kirchenchor erfreute dabei die Festgemeinde mit einer polyphonen lateinischen Messe. Als Chorleiter fungierte ein gebürtiger Filipowaer, Jakob Leh aus Neusatz, das Orgelspiel besorgte ebenfalls ein Sohn der Gemeinde, der Orgelvirtuose Franz Dickmann. Die Festpredigt übernahm der als glänzender Redner bekannte Franz Leh aus Neuwerbaß, der sich für diesen hohen Tag selbstverständlich seiner Heimatgemeinde zur Verfügung stellte. Der feierliche Gottesdienst endete mit der sogenannten Monatsprozession um das Gotteshaus, eine Filipowaer Besonderheit, bei der die katholische Kirche ihre Autorität und Pracht demonstrierte. Dem religiösen Teil folgte der weltliche Hauptakt, die Festversammlung in einem großen Pavillon vor dem Ort. Sie nahm den für solche Festversammlungen
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Abb. 5: Bilder des Ansiedlungsfestes in Filipowa/Bački Gračac (heute Serbien), 1938, Foto aus SCHREIBER, Franz/WILDMANN, Georg: Filipowa. Bild einer donauschwäbischen Gemeinde. Wien 1999, Bd. 8, 250, 254 u. 259.
üblichen Verlauf und begann mit dem Absingen der jugoslawischen Nationalhymne, der Begrüßung der Gäste, darunter Vertreter der jugoslawischen Regierung und Behörden. Die Festrede hielt Rechtsanwalt und Ehrenobmann Konrad Schmidt. Auf die Gründungszeit Bezug nehmend feierte er die Kolonisten mit den Worten des aus Filipowa stammenden katholischen Priesters, Abgeordneten im ungarischen Parlament und Dichters István Rónay (Stefan Augsburger) (1840–1893): Die Kolonisten hätten das Land nicht mit Waffen, sondern mit Spaten und Pflugschar erobert. Weiterhin hob Schmidt in Bezug auf das neu aufgestellte Denkmal besonders den sozialen Gemeinschaftssinn der Voreltern hervor: Die Bauernhöfe seien eine Kleinzelle der Gesellschaft auch aus Sicht der sozialen Fürsorge, denn alle Bediensteten am Bauernhof wurden selbst noch im hohen Alter als zur Familie gehörig betrachtet und versorgt. In der gesamten Geschichte Filipowas habe es deshalb nach Schmidt keine Arbeitslosen und keine Bettler gegeben. Solche Leistungen müssten auch in der durch Weltwirtschaftskrise und schlechte Ernten finanziell angeschlagenen gegenwärtigen Situation als beispielhaft gelten, in der sich viele Bauern verschuldeten und nicht wenige aus diesem Grund nach Übersee auswanderten. Schließlich mahnte Schmidt die Teilnehmer, ihre besondere Aufgabe als Mitglieder der deutschen Minderheit sowie die Pflege ihrer Muttersprache und Kultur nicht aus den Augen zu verlieren. Am Nachmittag folgte der Festaufmarsch, angeführt durch die Musikkapelle und die Kindergruppe in Alt-Filipowaer Volkstracht. Es schlossen sich die Jugend-
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gruppen des Filipowaer „Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes“ und vieler Nachbargemeinden an. Transparente mit der Aufschrift „staatstreu und volkstreu“ bekundeten die Loyalität zum jugoslawischen Staat und zur eigenen Ethnie. Im zweiten Teil des Umzugs wurde durch die Vorführung von historischen Arbeitsgeräten und modernen Maschinen sowohl von der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten hundert Jahre als auch von der Leistungskraft der Gegenwart Zeugnis abgelegt. In einer Ausstellung zeigte man zugleich ein Modell der Dorfgemeinde, eine voll eingerichtete Bauernstube und Küche aus den Anfangszeiten, alte Filipowaer Volkstrachten sowie einen aus der Einwanderungszeit stammenden Wanderstab. Darüber hinaus wurde der seit dem 19. Jahrhundert im Dorf bedeutendste Produktionszweig, die Hanfverarbeitung, in allen Stufen des Wachstums und der Verarbeitung der Pflanze dargestellt. Am Spätnachmittag erklang im Festzelt Volksmusik, deren Aufnahme durch den Belgrader Rundfunk die einzige deutschsprachige Sendung des Senders während der gesamten Zwischenkriegszeit darstellte. Zum Ausklang des Festes gab es nochmals einen großen Bekanntschaftsabend. Eingeleitet wurde er durch das von Friedrich Resch zum festlichen Anlass geschriebene Bühnenstück „Die Ansiedler“. 3. DIE AUSEINANDERSETZUNG UM DAS KOLONISTENDENKMAL Das vom Festausschuss erklärte Ziel eines Denkmals war neben der Versinnbildlichung der Aus- und Einwanderung die Demonstration der Treue der Dorfbewohner zu ihrer religiösen Gesinnung und ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Allerdings trafen bei der Konkretisierung des Plans die miteinander konkurrierenden unterschiedlichen politischen Orientierungen der Dorbewohner aufeinander, die zugleich die Spannungen und Gegensätze innerhalb der Gruppe der Batschka-Deutschen widerspiegelten. Anfang der 1930er Jahre gab es in Filipowa eine katholische und eine deutschnationale Fraktion, wobei um jene Zeit beide Parteiungen noch auf einer gemeinsamen Plattform zusammenfanden.25 Die katholische Fraktion war organisatorisch in der 1935 gegründeten Filiale der „Katholischen Aktion“ unter der Leitung des Ortspfarrers zusammengefasst. Die „Katholische Aktion“ wurde von den katholischen Bischöfen Jugoslawiens seit 1927 unterstützt und hatte die Entfaltung des religiössittlichen Lebens sowohl der Jugend als auch der Erwachsenen zum Ziel.26 Die deutschnationale Fraktion organisierte sich in der Ortsgruppe des 1920 gegründeten „Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes“. Der vom Staat 1924 aufgelöste und 1931 wieder genehmigte Kulturbund definierte sich Jugoslawien gegenüber als unbedingt staatstreu.27 Zugleich verpflichtete er sich jedoch ebenso bedingungslos zur Pflege der „schwäbischen“ Sprache und Kultur. Zum Hauptanliegen des Kulturbun25 26 27
Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 8, 156. Zollitsch, Anton: Die Katholische Aktion. In: Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 4, 158–162. Bethke (wie Anm. 8).
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des wurde deshalb das Schulwesen. Doch darüber hinaus sollten die Ortsgruppen des Kulturbundes, wie die bereits 1931 neu gegründete Gruppe in Filipowa, die lokalen Traditionen stärker pflegen.28 Ab 1933 erschien im Dorf schließlich eine dritte Gruppierung, die pronationalsozialistische „Erneuerungsbewegung“. Ihre Vertreter rekrutierten sich aus zumeist jungen Akademikern, die zum Teil während ihres kürzeren oder längeren Studienaufenthalts im „Dritten Reich“ das nationalsozialistische Gedankengut kennen gelernt und es sich kritiklos zu eigen gemacht hatten. Der Filipowaer Lehrer Josef Senz erinnerte Jahre später an die Gegensätze, die durch das Auftreten der „Erneuerungsbewegung“ entstanden: „Während sich die in den nationalen Verbänden organisierten […] Kreise auch um die Mitarbeit der Geistlichkeit bemühten und eine Synthese zwischen Glaube und Volkstum anstrebten, entwickelte sich die völkische Erneuerungsbewegung in ihrer nationalen Ausschließlichkeit immer mehr zu einer Gefährdung des religiös-kirchlichen Lebens in unseren Gemeinden. Nicht nur schonungslose Kritik an Priestern und kirchlichen Einrichtungen wurde geübt, man ergab sich andererseits kritiklos dem aus Deutschland unter nationalsozialistischem Deckmantel importierten Neuheidentum.“29
Zwar hieß es im Programm der „Erneuerungsbewegung“ vom 13. Juli 1935, dass die Bewegung sich zum Christentum bekenne und die ehrliche religiöse Haltung eines jeden achte, was aber an „neuheidnischem“ Gedankengut propagiert und an kirchenfeindlichen Aktionen geboten wurde, musste vor allem von der Kirche als Kampfansage aufgefasst werden.30 1935 kam der aus Apatin stammende Lehrer Martin Braun nach Filipowa, der als bewusster radikaler „Erneuerer“ für den Austritt aus der Kirche und das Unterlassen der Taufe warb. Anhänger konnte Braun im Dorf allerdings nur wenige gewinnen, denn die konservative Mehrheit der deutschnationalen Honoratioren und der Bevölkerung in Filipowa war gegen eine antichristliche Weltanschauung resistent. 1937 notierte Franz Leh über die starke Verwurzelung seiner Landsleute im christlichem Glauben: „Unsere Eltern lehrten uns schon als Kinder den Spruch: ‚Zwei Lebensstützen versagen nie: Gebet und Arbeit heißen sie!‘“31 Angesichts ihrer Erfahrungen im jugoslawischen Staat sahen sich die Dorfbewohner jedoch nicht in ihrer Religion, sondern in ihrer Selbstidentifikation als Schwaben bedroht. Dies führte dazu, dass nicht selten auch überzeugte Christen die Mahnworte ihres katholischen Pfarrers Peter Müller, sich nicht an den völkischen Gedanken zu orientieren, als Verrat am eigenen Volkstum empfanden.32 Zum Konzept des Kulturbundes, in dem auch Mitglieder der „Katholischen Aktion“ Aufnahme fanden, gehörte zwar von Anfang an „eine fast unhinterfragbare Identifikation mit dem als 28 29 30 31 32
Senz, Josef: Der Schwäbisch-Deutsche Kulturbund. In: Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 4, 166–175. Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 8, 155. Ebd. Leh (wie Anm. 16), 132. Haltmayer, Josef: Das deutsche Wochenblatt „Die Donau“ 1935–1944, in: Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 8, 165.
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solchen antizipierten ‚Mutterland‘ Deutschland“33, doch ganz sicher nicht die Hinwendung zu einer neuen, quasireligiösen Ideologie. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Auffassungen der einzelnen Gruppierungen spielte sich die Auseinandersetzung um das Kolonistendenkmal ab. Bis zur Vollversammlung des Festausschusses am 20. Oktober 1937 trafen die Entwürfe für das geplante Denkmal, darunter von einheimischen schwäbischen Künstlern wie auch von einigen Bildhauern aus Deutschland, ein. Während die Vertreter der Kirchengemeinde einen Entwurf ausschließlich religiösen Inhalts präferierten, favorisierten die im Kulturbund organisierten deutschnational gesinnten Ausschussmitglieder den vom Brestowatzer Künstler Sebastian Leicht eingereichten Plan, die schwäbische Familie zum zentralen Motiv zu nehmen und das Denkmal vor dem Gemeindehaus aufzustellen.34 Die Vertreter des Kulturbundes argumentierten damit, dass es im Zentrum des Dorfes in unmittelbarer Nähe der Kirche drei sakrale Denkmäler, eine Heilige-Dreifaltigkeits-Säule und zwei Kruzifixe, gebe und somit das Religiöse bei einer Entscheidung für den Entwurf der Kirchengemeinde überrepräsentiert wäre. Während sich auch der Mitbegründer der „Katholischen Aktion“ und Ehrenvorsitzende des Festes Konrad Schmidt auf die Seite des Kulturbundes schlug, hielten andere Vertreter der katholischen Fraktion mit dem Pfarrer an der Spitze dagegen, dass das Modell von Leicht zwar das Thema Volkstum und Familie, nicht aber das des Glaubens genügend zur Geltung bringe. Doch in einer anschließenden Abstimmung entschied sich die Mehrheit für den Entwurf von Leicht. Das Votum veranlasste den Pfarrer zu dem Hinweis, dass ein Ahnen- oder Familienbildnis von der katholischen Kirche nicht geweiht werden könne. Nur das diplomatische Geschick des Ehrenobmannes des Festausschusses verhinderte den völligen Rückzug der Kirchengemeindevertreter und der katholischen Fraktion aus der Sitzung der Planungskommission. Pfarrer Müller blieb jedoch fortan allen Sitzungen fern und lehnte bis zum Schluss die Weihung eines pseudosakralen Denkmals ab. Dass es zu keinem Bruch in der Gemeinde kam, war vor allem der Tatsache zu verdanken, dass die Mehrheit der Dorfbewohner die Aussage des Denkmals voll akzeptierte. Sebastian Leicht (1908–2002), der nach der Ausbildung an der Kunstschule in Belgrad zwischen 1927 und 1930 an der Akademie der Bildenden Künste in München studiert hatte und nach seiner Rückkehr zu der Gruppe „Belgrader Künstler“ gehörte, avancierte zu einem angesehenen Maler, der vor allem den konservativen bäuerlichen Realismus bevorzugte.35 Sein – nach 1945 zerstörtes und nur von Bildern bekanntes – Denkmal für Filipowa stellte eine vierköpfige Familie 33
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Bethke, Carl: Die Deutschen der Vojvodina, 1918 bis 1941. In: Daheim an der Donau. Zusammenleben von Deutschen und Serben in der Vojvodina. Ausstellungskatalog, Muzej Vojvodine, Novi Sad, und Donauschwäbisches Zentralmuseum, Ulm. Hg. v. Muzej Vojvodine u. Stiftung Donauschwäbisches Zentralmuseum. Novi Sad 2009, 196–208, 201. Leicht hatte bereits für seine Heimatgemeinde ein „Ahnendenkmal“, die lebensgroße Plastik „Der Sämann“, geschaffen, so war er für die Filipowaer kein Unbekannter; vgl. Schreiber/ Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 8, 229. Hartl, Christa: Sebastian Leicht. Malerei und Graphik. Passau 1994.
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dar. Der aufrecht stehende Mann auf der vom Betrachter aus gesehen linken Seite hält eine Schaufel in der Hand. Neben ihm sitzt seine Frau, ihre schweren Hände falten dem auf ihrem Schoß sitzenden Mädchen die Hände zum Gebet. Die schweren Hände der Mutterfigur weisen auf ein hartes, von Arbeit geprägtes Leben hin. Was sie an die nächste Generation, an ihr auf dem Schoß sitzendes Kind weitergibt, ist das Gebet. Zwischen Mann und Frau blickt ein kleiner Knabe diagonal in die Ferne. Bei der Vaterfigur erscheinen Schaufel und Erde aufeinander bezogen und symbolisieren die tiefe Verbundenheit der deutschen Siedler mit Grund und Boden. Nach der Intention des Künstlers sollte die Darstellung der Vaterfigur mit der Schaufel alle Landarbeiter ohne sozialen Unterschied versinnbildlichen, denn anders als im Fall des Pfluges, der nur von den grundbesitzenden Bauern genutzt wurde, hätten alle soziale Schichten der Bauern und Landarbeiter zur Schaufel greifen müssen. Mit diesen Darstellungen entstand ein Denkmal, das die schwäbische Familie in ihrer Arbeitswelt und Glaubenstradition schlechthin abbildete und das Selbstbild der Schwaben wiedergab. Das Denkmal als Symbol der Einheit von Familie, Glaube und Volkstum war Träger ideologischer und politischer Programme der Schwaben, was 1938 noch von der Mehrheit der Filipowaer trotz der vorhandenen unterschiedlichen Meinungen akzeptiert wurde. Dass das Denkmal die Dorfgemeinschaft trotz der Ablehnung des Pfarrers nicht grundlegend spaltete, war einzig der Kompromissbereitschaft der auf Einheit bedachten Dorfkommunität zu verdanken. An ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl prallten zunächst auch die von außen gezielt geplanten Störaktionen der „Erneuerungsbewegung“ ab. Die hauptsächlich von auswärts anreisenden „Erneuerer“ setzten sich bei der Festveranstaltung in Szene. Sie hatten ein Mitglied aus ihren Reihen, den aus Palanka stammenden und damals in Hodschag lebenden Juristen Franz Reith, als Redner auf die Bühne geschickt, obwohl dies im Programm gar nicht vorgesehen war. Dabei attackierte er Kirche und Klerus in gröbster Weise. Man nahm die Provokation indes nicht hin; nach scharfem Protest und „Raus!“-Rufen drängten die Ordner den Ruhestörer aus dem Festzelt. Der erste skandalöse Vorfall auf der Festveranstaltung wird bezeichnenderweise im Bericht der in Hodschag erschienenen Wochenzeitung der „Erneuerungsbewegung“, „Die Woche“, unterschlagen. Nicht nur, dass besagte Zeitung diesen Zwischenfall unerwähnt ließ, sondern sie interpretierte das zentrale Thema des Festes, die Familie, auch ganz im Sinne der „Erneuerer“: „[W]enn nun die Jubelgemeinde den Sinn des ganzen Lebens in eine Familiengruppe legt, so will sie damit sagen, daß der ganze Kampf um unsere Volksgruppe keinen Wert hat, wenn das Familienleben durch ständiges Abnehmen der Kinderzahl gedrosselt wird.“36
Nicht wahrheitsgemäß berichtete auch die in Apatin erscheinende „Batschkaer Zeitung“, als sie schrieb: „Wie begeistert waren die Massen, als Volksgenosse Reith aus Odžaci [Hodschag], um zu sprechen auf der Bühne erschien! Er warf alles bisherige Gerede über den Haufen. Da sprach 36
„Jubelgemeinde Filipovo“. In: „Die Woche“, 31. Juli 1938. Abgedruckt in Schreiber/Wildmann (wie Anm. 15), Bd. 8, 241.
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Ingomar Senz ein Mann, der in die Zukunft sieht! Immer wieder, als er klar sagte, daß wir Priester, aber keine Dunkelmänner des politischen Katholizismus haben wollen, unterbrach ihn die vor Begeisterung tobende Volksmenge.“37
Dem widersprach Pfarrvikar Adam Berenz aus Apatin, der ein heftiger Gegner des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland war und sich mit seiner Zeitung „Die Donau“ gegen die „Erneuerungsbewegung“ stellte. Berenz griff gegen die Zeitungskampagne der „Erneuerer“ zur Feder und stellte fest, dass es nicht die Gemeinde Filipowa war, die bei der Rede von Reith Beifall geklatscht hatte. Auch wenn eine Handvoll Filipowaer der Meinung des Redners war, so war die allergrößte Mehrheit der Gemeinde „tief entrüstet und ist heute noch erbittert über die unqualifizierbare Taktlosigkeit des Redners. Die geklatscht haben, waren Fremde und auch unter denen nur jene Elemente, deren Gesinnung überall sattsam bekannt ist […]“38. Die in Filipowa abgehaltene Ansiedlungsfeier und das Kolonistendenkmal waren Ausdruck der Zusammengehörigkeit der christlich konservativen und der auf ethnisches Selbstbewusstsein pochenden Schwaben im Kulturbund. Die Darlegung des jeweiligen Standpunkts in der Frage des Kolonistendenkmals führte dazu, die eigene Position zu untermauern und die Argumentation der katholischen Gegenseite zu tolerieren, auch wenn der Pfarrer jeden Kompromiss ablehnte. Insofern leistete das Denkmal einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt der Gemeinde. Unüberwindbar hingegen erschien die Kluft zu der kleinen Gruppe der pronationalsozialistischen „Erneuerer“. Ihre gezielte Störaktion rief 1938 noch fast einhellig eine entrüstete Ablehnung durch die Dorfgemeinde hervor. Damit wurde die Solidarität zwischen kirchlichen und gemäßigt nationalen Gruppen gefördert. 4. EIN FEST ALS HÖHEPUNKT DER ZUSAMMENGEHÖRIGKEIT Mit dem österreichischen Historiker Arnold Suppan lässt sich den Jubiläumsfeiern der von Schwaben bewohnten Orte und Gebiete Jugoslawiens zwischen den beiden Weltkriegen auch am Beispiel Filipowas eine dreifache Funktion zuschreiben: erstens die „historische Erinnerung an die Zeit der Ansiedlung und an die Kontinuität und Ergebnisse der körperlichen und geistigen Arbeit von Generationen“ in der neuen jugoslawischen Heimat, zweitens die „gegenwärtige Bestandsaufnahme der ethnischen Existenz unter Einbeziehung aller gesellschaftlichen Probleme und der Klärung der kulturpolitischen Zuordnung zum deutschen Volk“ und drittens die „politische Standortbestimmung im fremdnationalen Staat und der Formulierung entsprechender Loyalitätserklärungen“.39
37 38 39
Ebd., 244. Ebd., 244 f. Suppan, Arnold: Jugoslawien und Österreich 1918–1938. Bilaterale Außenpolitik im europäischen Umfeld. Wien – München 1996 (Veröffentlichungen des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 14), 964.
Ansiedlungsfeierlichkeiten in der Batschka
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Somit kommt den Jubiläumsfeiern deutscher Gemeinden in der Batschka im Prozess der Selbstfindung eine erhebliche Bedeutung zu. Die symbolträchtig organisierten Feiern – wie im Fall von Filipowa – waren Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls, um Einheit nach außen zu demonstrieren und zugleich nach innen zu schaffen.40 In Filipowa gelang es dem Vorbereitungsausschuss, über die „Filipowaer Heimatblätter“ so viel Werbung für sein Ansiedlungsfest zu machen, dass Besucher nicht nur aus den Nachbargemeinden, sondern auch aus anderen Regionen und sogar größere Gruppen aus Übersee an der Feier teilnahmen. Auf diese Weise kamen etwa 5.000 Besucher zusammen und verdoppelten die Bewohnerzahl der Ortschaft für die Dauer des Fests. Das Herkunftsbewusstsein der Versammelten wurde vertieft und trug so zur Ausformung eines Selbstwertgefühls bei. Ein wichtiger und vielleicht der wichtigste Effekt des Ansiedlungsfests war allerdings die Manifestierung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Filipowaer und aller eingeladenen Teilnehmer der Batschka-Deutschen auf der Grundlage einer gemeinsamen, politisch konservativen Plattform. Allerdings war mit diesem Fest der Höhepunkt der sich seit 1920 vollziehenden Gruppenentwicklung erreicht. Die konservativen Christen und Deutschnationalen und somit ihre Programme verloren nach 1938 an Einfluss, als die pronationalsozialistischen „Erneuerer“, die aus dem Fest ausgeschlossen werden sollten, im Kulturbund und in anderen Organen der Deutschen in Jugoslawien die Oberhand gewannen.
40
Aus der zeitlichen Distanz von über 15 Jahren schrieb die Zeitung „Neuland“ der vertriebenen Jugoslawiendeutschen: „Heute wissen wir es: diese Feiern waren aufleuchtende Bilder einer Gemeinschaft, die, bei näherem Zusehen, Kräfte aufzeigten, wie man sie heute im Streben nach der Gemeinschaft der Völker sucht.“ Neuland Nr. 8, 1955, 1.
IDENTITÄT DURCH GESCHICHTE
Die Zeitschrift „Deutsch-Ungarische Heimatsblätter“ (1929–1943) Ferenc Eiler 1. EINE ZEITSCHRIFT ZUR ERFORSCHUNG DEUTSCHER GESCHICHTE UND KULTUR IN UNGARN Bis 1929 gab es in Ungarn keine deutschsprachige Zeitschrift zur Erforschung der Geschichte und Kultur der im Land lebenden Deutschen. Die Forschungsergebnisse über die Deutschen in Ungarn konnten in dieser Zeit außer in den wissenschaftlichen Organen der verschiedenen Fachbereiche nur in der Schriftenreihe „Német Philologiai Dolgozatok“ (auf Deutsch: „Arbeiten zur deutschen Philologie“) veröffentlicht werden, die ein ungarischsprachiges Forum vor allem für die Doktoranden und Habilitanden der germanistischen Institute der drei Landesuniversitäten Budapest, Debrecen und Szeged darstellte. 1929 erschien die Zeitschrift „Deutsch-Ungarische Heimatsblätter“,1 die während ihres Bestehens bis 1943 zweimal umbenannt wurde: Ab 1935 erschien sie unter dem Titel „Neue Heimatblätter“ und ab 1939 als „Deutsche Forschungen in Ungarn“.2 Jakob Bleyer, Gründer und bis zu seinem Tod im Jahr 1933 Herausgeber der „Deutsch-Ungarischen Heimatsblätter“, gab im Vorwort der ersten Nummer zwei Aufgaben der Zeitschrift an: die Erforschung „der geschichtlichen und volklichen Wesensart des Deutschtums in Ungarn“ und des „ganzen geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang[s] zwischen Ungarntum und Deutschtum“.3 Die Forschung sollte nicht auf die deutsche Minderheit auf dem Gebiet von TrianonUngarn begrenzt werden, sondern sich im Sinne der ethnischen und historischen 1
2
3
Die Idee der Gründung einer Zeitschrift ging wahrscheinlich auf eine Besprechung der Vertreter der deutschen Minderheiten im Ausland in Regensburg 1927 zurück; vgl. dazu Maynen, Emil: Deutsche Volksforschung in den Donauländern. Tagung in Regensburg am 22./23. April 1927. In: Beiträge zur Kenntnis der Donauschwaben. Gedenkschrift für Friedrich Metz. Hg. v. Josef Schramm. Stuttgart 1972 (Donauschwäbisches Schrifttum 16), 150–175. Der Titel der Zeitschrift war zwischen 1929 und 1934 „Deutsch-Ungarische Heimatsblätter. Vierteljahrschrift für Kunde des Deutschtums in Ungarn und für deutsche und ungarische Beziehungen“ (DUHBl). Herausgeber war Jakob Bleyer, Schriftleiter Franz Basch. Von 1935 an hieß sie „Neue Heimatblätter. Vierteljahrschrift zur Erforschung des Deutschtums in Ungarn“ (NHBl). Herausgeber war Richard Huß, die Schriftleitung hatte Franz Basch. Nach 1939 änderte sich der Titel in „Deutsche Forschungen in Ungarn“ (DFU). Herausgeber war Franz Basch, nach 1942 unter Mitwirkung von Karl Kurt Klein, Heinrich Schmidt, Johann Weidlein, Schriftleiter Anton Tafferner. Bleyer, Jakob: Zur Einführung. In: DUHBl 1 (1929), 2 f.
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Zusammengehörigkeit auf alle Deutschen im Donau- und Karpatenraum beziehen, so auch auf die Deutschen in der nach 1920 zu Jugoslawien gehörenden Batschka und in dem zwischen Jugoslawien und Rumänien geteilten Banat. Das Profil der Zeitschrift war nicht auf einen einzigen Fachbereich beschränkt. Die Redaktion wollte Aufsätze, Mitteilungen und Rezensionen im Bereich der Volkskunde, Geschichte, Musik-, Sprach- und Literaturwissenschaft publizieren.4 Bleyer und der Schriftleiter, sein späterer Nachfolger Franz Basch, betrachteten die Zeitschrift als eine „Sammelstelle“5 für die in Ungarn und im Ausland laufenden Forschungen, die sich vor allem mit den Donauschwaben beschäftigten und die hier veröffentlicht werden konnten und sollten. Im Vorwort der ersten Nummer der Zeitschrift hieß es: „Unsere Zeitschrift will vorläufig […] eben nur ein Stelldichein sein, wo Gleichstrebende sich kennen lernen, von Zeit zu Zeit treffen, sich aussprechen und den Weg prüfen und überblicken, den sie zu gehen haben, um sich dem Ziele zu nähern.“6 Die nach wissenschaftlichen Kriterien redigierte Zeitschrift sollte etablierte Wissenschaftler im In- und Ausland zu Publikationen heranziehen und zugleich über deren Ergebnisse in Kurzmitteilungen und Rezensionen berichten. Zudem sollten Bleyers vielfältige Kontakte zu deutschen und österreichischen Wissenschaftlern genutzt werden, um Beiträge für die Zeitschrift zu erhalten. Nachweislich sandte Bleyer die Ausgaben der Heimatsblätter auch ins Ausland und erhielt von dort Neuerscheinungen ähnlicher Art.7 Einerseits sollten damit die Forschungsergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum in Ungarn bekannt gemacht werden, andererseits – und das war vielleicht das wichtigere Ziel – sollten auch die Berichte der ungarischen Forschung im Ausland erscheinen, um so das Thema der Deutschen in Ungarn in einen internationalen Kontext zu stellen. Aus den wenigen erhaltenen Quellen zur Geschichte der Zeitschrift geht hervor, dass sowohl Bleyer als auch Basch ausländischen Historikern und Volkskundlern bei ihren Recherchen über die Ungarndeutschen immer wieder behilflich waren,8 etwa indem sie Informationen über die Bestände ungarischer Archive weitergaben oder den nach Ungarn gereisten Wissenschaftlern, die dann in der Zeitschrift über ihre Forschungsergebnisse berichten sollten, ihre persönlichen Kontakte zur Verfügung stellten. Dies war nachweislich der Fall bei dem Historiker Konrad Schünemann aus Kiel oder dem Volkskundler Rudolf Hartmann aus Leipzig. Sowohl Bleyer als auch später Basch und Anton Tafferner, der Schriftleiter der letzten Jahre, wollten auch angehenden Wissenschaftlern und Studenten, die über 4 5 6 7
8
Bleyer kündigte Aufsätze an u. a. zur Siedlungs- und Kulturgeschichte, zur Sprache und Volkskunde usw. Bleyer (wie Anm. 3), 3. Ebd. Den Austausch wissenschaftlicher Publikationen erwähnt Fritz Valjavec in einem Brief an Alfred Krehl am 18. Oktober 1935; vgl. dazu Tilkovszky, Loránt: Fritz Valjavec és a magyarországi németség (1935–1944) [Fritz Valjavec und das Deutschtum in Ungarn (1935–1944)] In: Századok 127 (1993), 601–649, hier 606 u. 611 f. Archiv des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Nachlass Hienerwadel, Bleyers Brief an Otto Hienerwadel. Budapest, 18. November 1933.
Identität durch Geschichte
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die Deutschen in Ungarn oder die deutsch-ungarischen Beziehungen arbeiteten, eine Publikationsmöglichkeit bieten. Bleyer bezog konsequent begabte Studenten und Absolventen in die Arbeit der Zeitschrift mit ein. Um den Germanistikprofessor der Budapester Universität bildete sich schon in den 1910er Jahren ein Kreis deutschstämmiger Studenten, deren wissenschaftliches Interesse von Bleyer gezielt auf bestimmte Forschungsthemen, die auch mit dem thematischen Fokus der Zeitschrift übereinstimmten, gelenkt wurde. Darüber hinaus sollten auch Heimatforscher sowohl im In- als auch im Ausland angesprochen werden, die sich mit den Zielen der Zeitschrift einverstanden erklärten. Für besonders wichtig hielt Bleyer die Mitarbeit von Autoren aus der Batschka und dem Banat, um die Zusammengehörigkeit der Schwaben und die Verbundenheit in der Wissenschaft trotz neu gezogener Grenzen zu demonstrieren und am Leben zu erhalten. Die Zahl der Autoren aus Rumänien und Jugoslawien war trotz dieser Bemühungen zwar gering, weil in den beiden Ländern ab 1933 Zeitschriften mit ähnlichem Ziel und Inhalt publiziert wurden, doch Bleyers Heimatsblätter waren das einzige Organ, welches auch Autoren aus den Nachbarländern ein Forum gab und die Themen der Donauschwaben nicht in einem engen regionalen Rahmen betrachtete.9 Ein weiterer wichtiger Grundsatz der Bleyer’schen Zeitschrift war, dass nicht nur deutschstämmige Wissenschaftler in der Zeitschrift publizieren durften. Dies änderte sich allerdings spätestens nach 1939. Schon kurz nach Bleyers Tod 1933 begann der Kampf um die politische Führung der deutschen Minderheit zwischen der ‚staatstreuen‘ Gruppierung von Konservativen und Liberalen um Bleyers Weggefährten Gustav Gratz einerseits und den ‚radikalen‘, dem nationalsozialistischen Gedankengut anhängenden, zumeist jungen Ungarndeutschen um Franz Basch andererseits.10 Diese Auseinandersetzungen endeten 1939 mit dem Sieg der Letzteren. Die Zeitschrift geriet jedoch schon vorher unter der Leitung von Basch unter den Einfluss der Radikalen, in dessen Folge sich der Autorenkreis veränderte. Für die ungarischen und die ‚staatstreuen‘ ungarndeutschen Autoren waren die politische Gesinnung und Aktivität der Basch-Fraktion nicht akzeptabel. Aber auch Basch wollte mit den „vom deutschen Volkstum entfremdeten“ Wissenschaftlern – wie es in seinem Vorwort in der ersten Nummer der erneuerten Zeitschrift 1939 9
10
Folgende Autoren schickten Beiträge aus dem Banat oder der Batschka: Leo Hoffmann aus Werschetz, Adalbert Karl Gauß, Friedrich Lotz, J. Ladislaus Schmidt aus Neuwerbas, Emil Csallner aus Bistritz, Koloman Juhász aus Großsanktpeter. Alexander Krischan, Georg Reiser und Heinrich Réz lebten nicht mehr auf dem Gebiet ihrer ehemaligen Heimat. Die Rechte an der Zeitschrift gehörten Basch nicht – ein Problem, das er dadurch löste, dass er den Titel änderte. So gründete er rechtlich gesehen eine neue Zeitschrift, die bei der Kultúra Verlagsgesellschaft von Richard Huß herausgegeben wurde; vgl. dazu Tilkovszky (wie Anm. 7), 606. Auch das ungarische Ministerpräsidium verfolgte die Ereignisse mit Aufmerksamkeit. Es wurde sogar die Einstellung der Zeitschrift erwogen, was aufgrund der ungarischen Gesetze jedoch nicht möglich war, denn in Ungarn benötigten nur die Zeitungen und die Monatsblätter eine Genehmigung; vgl. dazu Magyar Országos Levéltár [Ungarisches Landesarchiv] (MOL), K 28-214-1935-c-16202, fol. 209. Aufzeichnung für Tibor Pataky, Leiter der Abteilung für ethnische Minderheiten und ungarische Minderheiten im Ausland. Budapest, 14. September 1935.
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hieß – nicht mehr kooperieren.11 Einige der damals führenden Germanisten, die bis 1933 mit Bleyer zusammengearbeitet hatten, wie Theodor Thienemann, Elmar Schwartz oder Béla Pukánszky blieben der Zeitschrift deshalb ganz fern. Infolgedessen ging nicht nur die Zahl der Autoren zurück,12 sondern auch die frühere Offenheit der Zeitschrift für verschiedene Ansichten und Richtungen war unwiederbringlich verloren. Zwischen 1929 und 1943 wurden in der Zeitschrift sowohl Aufsätze, zumeist mit wissenschaftlichem Apparat, als auch kleinere Beiträge, also kürzere Mitteilungen, abgedruckt. Während der 15 Jahre gab es insgesamt 411 Publikationen; 58 % dieser Veröffentlichungen waren Aufsätze. Tab. 1: Zahl der Aufsätze und Mitteilungen in den einzelnen Perioden der Zeitschrift
Deutsch-Ungarische Neue Heimatblätter Deutsche Forschungen Zusammen Heimatsblätter 1935–1938 in Ungarn 1929–1943 1929–1935 1939–1943 237
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93
411
Zwischen 1929 und 1943 veröffentlichten insgesamt 118 Autoren Aufsätze und kleinere Beiträge in der Zeitschrift, davon 66 aus Ungarn, 44 aus den deutschsprachigen Ländern und acht aus den Siedlungsgebieten in Rumänien und Jugoslawien. 2. ZWEI ZIELE DER ZEITSCHRIFT: EMANZIPATION UND IDENTITÄTSSTIFTUNG DER UNGARNDEUTSCHEN Die auf dem Gebiet von Trianon-Ungarn lebenden Deutschen bildeten auch am Anfang der 1920er Jahre noch keine in sich geschlossene Gesellschaft in der ungarischen Sozialstruktur; vor allem fehlten ihnen ein eigenes Bürgertum und Intellektuelle. Zwar gab es Leute mit höherer Bildung, die nicht mehr nur aus den Reihen der seit dem Mittelalter in Ungarn lebenden Deutschen kamen, denn auch die Söhne schwäbischer Bauern schafften immer häufiger den Sozialaufstieg. Diese wurden jedoch durch die höhere Schulbildung magyarisiert. Bleyers Hauptziel als ungarischer Parlamentsabgeordneter, Lehrstuhlinhaber für Germanistik an der Universität 11
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Basch unterschied vier Gruppen der Autoren, die früher in der Zeitschrift publiziert hatten, nach ihrer Einstellung zum Deutschtum und ihren politischen Motiven. Er benannte auch die in Zukunft abzulehnenden Autoren; vgl. dazu Basch, Franz: Deutsche Volksforschung in Ungarn. Entwicklung und Ziele. In: DFU 4 (1939), 181–186. Trotz der Titeländerung der „Neuen Heimatblätter“ in „Deutsche Forschungen in Ungarn“ wurde als Zeichen der Kontinuität die fortlaufende Jahrgangszählung beibehalten. Unter den Autoren der 15 Jahre lang bestehenden Zeitschrift waren nur sechs, die kontinuierlich von der Gründung bis zur Einstellung der Zeitschrift publizierten: Joseph Hässler, Julius Gréb, Johann Weidlein, Rudolf Hartmann, Eugen Bonomi und Franz Basch.
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Budapest und Herausgeber der Heimatsblätter sowie des einzigen Wochenblattes der Ungarndeutschen, des „Sonntagsblattes“, war es deshalb, die in dörflichen Gemeinschaften lebenden Schwaben politisch und kulturell zu emanzipieren. Dazu waren Grundfragen nach dem Verhältnis der deutschen Minderheit zur Mehrheitsgesellschaft einerseits sowie Wege und Formen der Selbstidentifikation der Angehörigen der deutschen Minderheit andererseits zu klären. Nach Bleyer gehörten die Deutschen in Ungarn zu der im Sinne der Staatsdoktrin als unteilbar und einheitlich geltenden politischen ungarischen Nation, womit er sich im Namen der Schwaben zum ungarischen Staat und zur ungarischen ‚Mehrheitsgesellschaft‘ bekannte. Im kulturellen und ethnischen Sinne waren die Deutschen in Ungarn jedoch ein Bestandteil der über die Grenzen hinausgehenden deutschen Sprach- und Kulturgemeinschaft. So wird verständlich, warum Bleyer den Begriff „Deutschungar“ zur Bezeichnung der Angehörigen der deutschen Minderheit verwendete und auch der Zeitschrift den Titel gab, der die doppelte Verpflichtung der Ungarndeutschen zum Ausdruck brachte.13 An der Idee der doppelten Identität hielt er bis zu seinem Tode fest, wenngleich sich das Zugehörigkeitsgefühl der deutschen Minderheit zu Deutschland schon um 1930 auch wegen der Intoleranz des ungarischen Staates und der ungarischen Gesellschaft gegenüber den Minderheiten verstärkte.14 Bleyer machte die „Deutsch-Ungarischen Heimatsblätter“ zu einem Organ der Erforschung von Geschichte, Kultur und Tradition der Deutschen,15 das vom Prinzip der „wissenschaftlich ergründeten Wahrheit und Wirklichkeit“16 geleitet werden sollte, wobei die Erkenntnisse „nicht im schweren Rüstzeug der Fachwissenschaft auftreten, sondern sich – unbeschadet der Wissenschaft – einfach, lebensnahe und auch Ungelehrten verständlich darbieten“17 sollten: „Unsere Zeitschrift soll also der Wissenschaft und gleichzeitig dem Leben in höherem Sinne dienen und das gegenseitige Verständnis zwischen dem Ungartum und Deutschtum, unabhängig von jeder Tagesströmung, historisch vertiefen und erläutern. Sie soll aber auch in den 13 14
15
16 17
Vgl. dazu Fata, Márta: Bleyer Jakab nemzetiségi koncepciója és politikája (1917–1933) [Die Nationalitätenkonzeption und Politik von Jakob Bleyer (1917–1933)]. In: Regio 5/1 (1995), 175–190. Bleyer bat zwar die deutschen Regierungen des Öfteren um diplomatische Hilfe und seine Aktivitäten im Interesse der Ungarndeutschen wurden von den deutschen Regierungen auch finanziell unterstützt, aber er stellte die Souveränität und Integrität des ungarischen Staates niemals in Frage. Im Rahmen dieses Aufsatzes untersuche ich nur die Veröffentlichungen über die Siedlungsgeschichte. Zur Frage der volkskundlichen Forschungen im Allgemeinen siehe die bisher beste Analyse des Themas durch Fata, Márta: Volkskundliche Forschungen über die Ungarndeutschen vor dem politisch-ideologischen Hintergrund der Zeit zwischen 1918–1945. In: dies.: Rudolf Hartmann – das Auge des Volkskundlers. Fotowanderfahrten in Ungarn im Spannungsfeld von Sprachinselforschung und Interethnik. Tübingen 1999, 23–41, sowie dies.: Die volkskundliche Erforschung der Ungarndeutschen vor dem politisch-ideologischen Hintergrund der Zeit zwischen 1918–1945. In: Deutsche in Ungarn – Ungarn und Deutsche. Interdisziplinäre Zugänge. Hg. v. Frank Almai u. Ulrich Fröschle. Dresden 2004 (Mitteleuropa-Studien 6), 107–133. Bleyer (wie Anm. 3), 3. Ebd., 3.
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Ferenc Eiler Kreisen unseres deutschungarischen Volkes belehrend, erhebend und geistig erneuernd wirken. Nicht durch vieldeutige Worte, besonders nicht durch Schlagworte, sondern durch einfache, eindringliche Wahrheiten. Sie soll mithelfen, das Deutschungartum in seiner Wesensart zu erhalten: in allem, wodurch es deutsch und ungarisch zugleich ist. Alles was sein Deutschtum in Sprache, Bildung und Gesittung ausmacht, soll in unserer Zeitschrift eine Pflegestätte finden, aber auch alles, wodurch es im Auf und Ab der Jahrhunderte in bodenständiger Entwicklung und schicksalhaft gegebener Gesinnung an Ungarn und Ungartum gebunden wurde.“18
Dieses Programm war neu und innovativ, denn einerseits trat er an die Erforschung der Geschichte und Kultur der schwäbischen Bauern mit wissenschaftlichen Ansprüchen heran, andererseits sollte die anspruchsvoll redigierte Zeitschrift im Sinne der Identitätsstiftung wirken. Die zu behandelnden Themen über die Geschichte und historische Rolle der Deutschen in Ungarn, über ihren Beitrag zu den deutschungarischen Beziehungen oder über die deutsche Sprache und Kultur in Ungarn in all ihren Facetten von der Elitenkultur bis zur Volkskultur sollten das Selbstbewusstsein der Deutschen in Ungarn wecken und stärken, damit sie sich als den Ungarn gleichrangige Staatsbürger betrachten konnten. Bleyer schwebte als Leserschaft die große Zahl von Lehrern, Pfarrern und gebildeten Landwirten in den schwäbischen Dörfern und Marktflecken sowie das deutschsprachige Bürgertum mit schwäbischen, das heißt dörflichen Wurzeln vor.19 Sie sollten sich ihrer Herkunft bewusst werden und zugleich als Multiplikatoren in ihren Wohn- und Wirkungsorten fungieren. Eine weitere Zielgruppe war die ungarische wissenschaftliche und politische Öffentlichkeit, die damals die deutsche Sprache noch als selbstverständlichen Teil der Bildung beherrschte. Für die ungarischen Leser hieß Bleyers Botschaft: Die jahrhundertelangen kulturellen und politischen Beziehungen von Ungarn und Deutschland sowie die Leistung der im Land lebenden Deutschen hatten zur Entwicklung des ungarischen Staates bedeutend beigetragen, deshalb sollten die in Ungarn lebenden Deutschen als Kulturvermittler und -akteure gefördert werden. Nach Bleyers Tod wurden die Leitprinzipien der Redaktion grundlegend verändert. Die neuen Vorstellungen über die Erforschung der Deutschen in Ungarn fasste Basch 1939 ganz im Sinne des nationalsozialistischen Forschungsansatzes zusammen: „1. Die volksdeutsche Forschung kann nur von bluts- und volksbewußten Forschern, die sich dem Schicksal der eigenen Volksgruppe bedingungslos verschreiben, betrieben werden. 2. Die Forschung der Volksgruppe steht im Zeichen der Synthese der Volks- und Staatstreue, darf sich aber durch keine Rücksichten auf abgelebte Traditionen vorangehender Geschlechter in der Forschungsarbeit hemmen oder gefährden lassen. 3. Die Volksforschung hat im Dienste des eigenen Volkes zu stehen und kann nicht Selbstzweck sein; sie steht also auch im Dienste des Volkstumskampfes der Volksgruppe. 4. Die Volksforschung steht ferner im lebendigsten Blutlauf mit der Forschung des Muttervolkes und hat die schicksalhaft ihr zugefallene Mission, Vermittler zwischen zwei Völkern zu sein, stets vor Augen zu halten. 5. Die Volksforschung
18 19
Ebd., 3 f. Welcher Leserkreis tatsächlich erreicht werden konnte, ist heute nicht mehr zu rekonstruieren, weil keine Abonnementlisten der Zeitschrift erhalten sind.
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steht im Zeichen der Pflicht und [des] Recht[s] zugleich, alle Gebiete des Lebens der Volksgruppe zu erforschen, also auch die politischen und völkischen Belange.“20
Basch strebte danach, der völkischen Forschung die Vormacht zu sichern, und ausgehend von der Überzeugung, dass nur die „Blut-und-Boden“-Ideologie über eine wirklich gemeinschaftsbildende Kraft verfüge, schloss er die als „volksfremd“ bezeichneten Autoren aus der Redaktion aus.21 Dagegen nahm die Zahl der Publikationen von Repräsentanten der jüngeren „volksbewussten“ Generation zu. Für Basch war die Doppelidentität im Bleyer’schen Sinne nur ein leerer Begriff und die Bezeichnung „Deutschungar“ war für ihn nicht mehr annehmbar. Er sprach dagegen von den „Deutschen in Ungarn“ und die erstrangige Frage für ihn war, wie man als dezidiert Deutscher in Ungarn leben könne.22 Das Mittel zur Verwirklichung einer gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Emanzipation und die Chance des Weiterbestehens der Deutschen in Ungarn sah er in der Dissimilation und in der Verwirklichung der autonomen Selbstverwaltung der Volksgruppe gewährleistet. Dabei rechnete er mit der Hilfe des „Dritten Reiches“ und wollte sich auf die dort ausgearbeiteten Richtlinien für die Auslandsdeutschen stützen.23 3. BEITRÄGE ZUR EINWANDERUNG UND ANSIEDLUNG In den Kirchenmatrikeln und Dorfakten der schwäbischen Gemeinden waren zahlreiche Hinweise auf Herkunft und Ansiedlung der ersten Einwohner aufbewahrt worden, Einzelheiten jedoch meist in Vergessenheit geraten, und außer einigen historisch interessierten Pfarrern befasste sich kaum jemand mit diesem Thema. Erst zur Zeit des Ersten Weltkriegs, als den schwäbischen Soldaten in den Schützengräben Gemeinsamkeiten in Sprache und Gebräuchen mit ihren deutschen und österreichischen Kameraden bewusst wurden, und als nach dem Krieg über ihre Köpfe hinweg neue Staaten entstanden, kam das Interesse nach der eigenen Identität und Herkunft verstärkt auf. Der Germanist Bleyer wandte sich 1916 Fragen der wissenschaftlichen Siedlungsgeschichte und Mundartforschung zu und in einer Rezension über eine Arbeit von Stephan (István) Vonház über die Siedlungsmundarten im Komitat Sathmar betonte er die Bedeutung der beiden Disziplinen für die künftige Erforschung der deutschen Minderheit: „Es wäre endlich an der Zeit, durch umfassende und metho20 21
22 23
Basch (wie Anm. 11), 187. Zum Auswahlkriterium schrieb Basch 1939: „Kann ein Wissenschaftler, wenn er nicht bedingungslos durch Gesinnung und Bekenntnis zu seinem Volke gehört und steht, in positivem Sinn überhaupt Volksforschung betreiben? Auf Grund jahrelanger Verfolgung fast aller Arbeiten auf dem Gebiete der sog. Deutschtumsforschung in Ungarn kann ich nicht anders, als diese Frage mit einem eindeutigen Nein zu beantworten.“ Ebd., 184 f. Akten des Volksgerichtsprozesses gegen Franz A. Basch. Hg. v. Gerhard Seewann u. Norbert Spannenberger. München 1999, XLVIII. Seewann, Gerhard: Das Ungarndeutschtum 1918–1988. In: ders.: Ungarndeutsche und Ethnopolitik. Ausgewählte Aufsätze. Budapest 2000 (Kisebbségek Kelet-Közép-Európában 4), 112 f.
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dische Einzelforschungen die vom kulturgeschichtlichen Standpunkt so wichtige Ansiedlungsgeschichte in jeder Hinsicht zu beleuchten.“24 Zugleich verwies er darauf, dass die Mundartforschung sowohl thematisch als auch methodisch auf die Siedlungsgeschichte angewiesen sei: „Die auf den Abstammungsort bezogenen und nur im Wege sprachwissenschaftlicher Forschung gewonnenen Feststellungen weichen nämlich von den historisch unbestreitbaren Tatsachen oft ab und somit ist es klar, daß nicht die Geschichtsforschung, sondern die Sprachforschung ihre Methode revidieren muß.“25
Zwei Jahre später, 1918, warf Bleyer die Frage der Ansiedlung schon im kulturpolitischen Zusammenhang auf: „Unsere Altvordern erhielten hier, in dem vom Türkenjoch befreiten Ungarn, Haus und Hof […] zu einer Kulturarbeit und schufen aus verpesteten Sumpfgebieten das ungarische Kanaan. So haben wir Schwaben uns im Schweiße unseres Angesichts, um den Preis der Gesundheit und des Lebens von Generationen eine neue Heimat erarbeitet, eine Heimat in Ungarn. Heimat, schwäbische Heimat!“26
Aufmerksamkeit verdient diese Aussage nicht nur wegen Bleyers Hinwendung zur Geschichte der schwäbischen Bauern, deren Milieu er selbst entstammte, sondern vor allem wegen der mythisierenden Betrachtungsweise der Ansiedlung. Diese Perspektive entsprach dem Zeitgeist, denkt man beispielsweise an die kurz vor 1914 erschienenen Arbeiten des in Wien lebenden Banater Schriftstellers Adam MüllerGuttenbrunn oder des in Graz wirkenden und aus der Bukowina stammenden Historikers Raimund Friedrich Kaindl über Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen in Ungarn. Sicherlich verstärkten die Erfahrungen des verlorenen Ersten Weltkriegs und infolgedessen der Aufteilung der schwäbischen Siedlungsgebiete unter den Nachfolgestaaten des Königreichs Ungarn das Bild heroischer schwäbischer Kolonisten und die Vorstellung der Ansiedlungszeit als einer heilen Welt, in der trotz großer Mühen und vieler Rückschläge eine erfolgreiche Aufbauarbeit geleistet wurde. Gerade diese Ergebnisse sollten nach dem Vertrag von Trianon von 1920 als lohnenswertes Vorbild für die Zukunft dienen. Nach 1920 rückte das Thema der deutschen Ansiedlung für den sich politisch engagierenden Bleyer auch aus einem anderen Grund in den Mittelpunkt des Interesses. Durch die Leistung der Kolonisten konnte nämlich die Schicksalsgemeinschaft von Ungarn und Deutschungarn besonders herausgestellt werden. Er schrieb dazu: „Vor zweihundert Jahren rangen sich unsere Kolonistenahnen mit blutenden, zuckenden Herzen von der alten Heimat los und wanderten über Berg und Tal, durch Dörfer, Städte und Länder, um eine neue Heimat zu suchen. Und sie fanden sie im verwüsteten Ungarland, bei dem edlen Ungarvolk, nicht als Schmarotzer, sondern als willkommene Kulturträger.“27 24 25 26 27
Bleyer, Jakob: A hazai német telepítés története és a nyelvtudomány [Die Geschichte der Ansiedlung der Deutschen und die Sprachwissenschaft]. In: Archivum Philologicum 40 (1916), 143 f. Ebd. Ders.: Wir Schwaben und der Krieg. In: Neue Post, 13. Februar 1918, 1. Ders.: Einleitung. In: Faul, Hans: Die neue Heimat. Roman aus der Siedlungszeit der Schwaben in den Ofner Bergen. Budapest 1922 (Volksbücherei des Sonntagsblatts 1), 1.
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Die Siedlungsgeschichte, die hier ähnlich der Wanderung der von Gott auserwählten Juden durch die Wüste nach Kanaan dargestellt wird, geriet bald ins Kreuzfeuer der kulturpolitischen Auseinandersetzungen. Den Anlass dazu gab der Roman „Die neue Heimat“ von Hans Faul, der als erster Band in der von Bleyer gegründeten Volksbücherei des Wochenblatts der Ungarndeutschen, des „Sonntagsblattes“, 1922 erschien.28 Der von der ungarischen Regierung für die deutsche Minderheit beauftragte Kommissar György Steuer setzte sich mit dem Roman ausführlich auseinander und zog das Fazit: „Wie alle deutschen Bücher, welche die Geschichte der deutschen Ansiedlung darlegen, so ist auch der Roman ‚Die neue Heimat‘ nicht objektiv, und enthält viele Unwahrheiten. Seine gering schätzende Darstellung der Ungarn als faules Volk, dient er keinesfalls der deutschungarischen Gemeinschaft.“29
Das Buch wurde nur deshalb nicht verboten, weil der Autor Schriftleiter des „Sonntagsblattes“ war und Bleyer selbst die Widmung zum Roman geschrieben hatte.30 Allerdings wurden Bücher etwa von Müller-Guttenbrunn gerade wegen ihrer antiungarischen Aussagen und alldeutschen Gesinnung verboten.31 Steuer hatte vor, diesen sich seiner Ansicht nach allgemein verbreitenden antiungarischen Ideen entgegenzuwirken und selbst eine Geschichte der Einwanderung und Ansiedlung streng auf Grundlage von Archivquellen zu schreiben. Der Plan wurde jedoch nicht umgesetzt. Die Siedlungsgeschichte der Schwaben – verbunden mit den Fragen nach Herkunft, Ansiedlung, Aufbau neuer Dörfer sowie Sprache und Gebräuche der Kolonisten – wurde zu einem der wichtigsten Forschungsthemen in der sich etablierenden ungarndeutschen Wissenschaft und somit auch in der Zeitschrift. Bleyer vergab solche und ähnliche Themen, die bisher nur selten das Forschungsinteresse geweckt hatten, an seine Schüler und Doktoranden zur Ausarbeitung und ließ ihre Ergebnisse auch in den Heimatsblättern drucken. Aufsätze und kleinere Mitteilungen zur Auswanderung und Ansiedlung der deutschen Kolonisten machten fast ein Drittel der gesamten Beiträge der Zeitschrift aus.
28
29 30 31
Vgl. dazu Fata, Márta: Jakob Bleyer und das „Sonntagsblatt“. Gründung und Entwicklung des Wochenblattes von 1921 bis 1933. In: Deutsche Literatur im Donau-Karpatenraum (1918– 1996). Regionale Modelle und Konzepte in Zeiten des politischen Wandels. Hg. v. Horst Fassel. Tübingen 1997 (Materialien des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 8), 9–21. MOL, K 28-214-1927 C-2607, fol. 88: Bericht von György Steuer an den Ministerpräsidenten Graf István Bethlen, 29. März 1927. Ebd., fol. 81: Anmerkung von Tibor Pataky. Die Werke von Adam Müller-Guttenbrunn wurden „wegen ihrer ungarnfeindlichen Einstellung“ 1926 auf dem Gebiet von Ungarn verboten; vgl. Tilkovszky, Loránt: A Bleyer-portré problematikus vonatkozásai [Problematische Aspekte des Bleyer-Porträts] In: Történelmi Szemle Nr. 3/4, 35 (1993), 259–276, hier 271.
96
Ferenc Eiler Tab. 2: Herkunft der Autoren von Beiträgen zur Auswanderung und Ansiedlung in den einzelnen Perioden der Zeitschrift32
alle Aufsätze und Mitteilungen zur Auswanderung und Ansiedlung von Autoren aus Ungarn
von Autoren aus Deutschland und Österreich
von Autoren aus Rumänien und Jugoslawien
DUHBl 1929–1935
NHBl DFU Insgesamt 1935–1938 1939–1943
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Aus der Vielzahl der Arbeiten – die meist genealogisch, familien- oder heimatgeschichtlich ausgerichtet waren, wobei die Autoren wertvolles Quellenmaterial wie Dokumente in den Pfarreien, in Familien- und Staatsarchiven aufarbeiteten – stechen die Aufsätze des Bleyer-Schülers Johann Weidlein hervor. Dieser wandte sich nach seiner Dissertation in Mundartkunde der Siedlungsgeschichte zu, musste jedoch auf der Suche nach geeigneten Quellen feststellen: „Bei der Ergründung der Geschichte des ungarländischen Deutschtums müssen wir vorläufig wegen Mangels an geschichtlichen Angaben in erster Linie die Mundarten in Betracht ziehen. Mit diesen können wir aber meistens nur das Herkunftsgebiet unserer deutschen Siedlungen feststellen, über ihr Schicksal, ihre Lebensverhältnisse hier in der neuen Heimat kann uns die Mundart mit ihren Laut- und Formenerscheinungen keine Aufschlüsse geben.“33
Weidlein wandte sich deshalb der etablierten Schule geschichtlicher Ortskunde, die sich um Rudolf Kötzschke in Leipzig gebildet hatte, und ihrer Methode der Flurnamenforschung zu. Durch zahlreiche Einzeluntersuchungen zur Geschichte der von Deutschen bewohnten Siedlungen im Komitat Tolnau konnte er anhand von Flurnamen die Bevölkerungsgeschichte und Sprachverschiebungen zwischen den Ethnien rekonstruieren. Seine Methode war so erfolgreich, dass der renommierte ungarische Historiker Gyula Szekfű bei der Abfassung seiner Geschichte Ungarns auf Weidleins Arbeiten zurückgriff.34
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Die Aufsätze sind jedoch nicht immer eindeutig dem einen oder dem anderen Thema zuzuordnen. Weidlein, Johann: Deutsche Flurnamen im südlichen Transdanubien. In: DUHBl 4 (1932), 33. Fata, Márta: Parallelen und Unterschiede zwischen der deutschen Landesgeschichte und der ungarischen Lokalgeschichte. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der ungarischen Lokalgeschichte. In: Landesgeschichte in Deutschland. Bestandsaufnahme – Analyse – Perspektiven. Hg. v. Werner Buchholz. Paderborn u. a. 1998, 416.
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Hervorzuheben sind auch die Arbeiten des deutschen Historikers Konrad Schünemann über die Ansiedlungsgeschichte,35 der ähnlich wie Weidlein einen gewissen Einfluss auf die ungarische Geschichtsforschung ausübte.36 Schünemann, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Kieler Universität, gehörte nicht nur zu den ausgewiesenen Kennern der südosteuropäischen Geschichte, sondern zugleich zu den wenigen, die eine gesonderte Erforschung der Auslandsdeutschen, die Sprachinselforschung, ablehnten.37 In den 1930er Jahren erweiterte Schünemann sein Interesse gerade auf Anregung Bleyers auf das 18. Jahrhundert, insbesondere auf die staatliche Ansiedlungspolitik. In dem Zusammenhang wollte er sich mit jenen nationalchauvinistischen Äußerungen in der ungarischen Öffentlichkeit auseinandersetzen, welche das Thema der Ansiedlungen in den politischen Kampf eingebracht hatten. Denn anhand seiner Quellenstudien des 18. Jahrhunderts kam er zu der Feststellung, dass die Impopulationspolitik in ihrer Zielsetzung ausschließlich durch die rationalistische Staatsraison des Gesamtstaats bestimmt war.38 Schünemann setzte sich deshalb auch mit Szekfű auseinander, der das 18. Jahrhundert und somit die Siedlungspolitik aus nationaler Sicht analysiert hatte.39 Schünemanns Methode der Quellenkritik folgten von den Ungarndeutschen Stefan Vonház mit seinen Arbeiten über die Einwanderung der Deutschen aus Oberschwaben und ihre Ansiedlung im Komitat Sathmar sowie Rogerius Schilling mit Beiträgen zur Ansiedlungsgeschichte von Kimling und Keer sowie der josephinischen Ansiedlung im Komitat Neutra. Beide Autoren gelangten durch die Mundartforschung in den ausgewählten Gebieten zu der Erkenntnis, dass über die genauen Herkunftsorte der Siedler nur die historischen Quellen Aufschluss geben könnten. So erschlossen sie in akribischen Quellenstudien die Auswanderungsgebiete samt Ursachen, Ablauf und Methoden der Ansiedlung sowie den Anpassungsschwierigkeiten und Lebensverhältnissen der Ansiedler in der neuen Heimat. Bleyer und später auch Basch betrachteten die Einwanderungs- und Ansiedlungsgeschichte in ihrer ganzen Komplexität und hatten deshalb die Absicht, ein Netzwerk der im Ausland und in Ungarn arbeitenden Wissenschaftler und Heimatforscher aufzubauen.40 Die Frage der Auswanderung sollte von Forschern in 35
Schünemann, Konrad: Zur Bevölkerungspolitik der ungarischen Stände. In: DUHBl 2 (1930), 115–120. – Ders.: Zur Geschichte der Deutschen in Szatmár. In: DUHBl 3 (1931), 5–12. – Ders.: Zur Beurteilung der Schwabensiedlungen in Ungarn. (Bemerkungen zur Darstellung des 18. Jahrhunderts in Szekfűs „Ungarischer Geschichte“). In: DUHBl 4 (1932), 281–297. 36 Zu Schünemanns Beziehung zu Bleyer und der Bewertung seiner Arbeiten vgl. Fata, Márta: Migration zum Zweck der Agrarreformen im kameralistischen Staat. Theorie und Praxis der Ansiedlungspolitik Kaiser Josephs II. in Ungarn, Siebenbürgen, Galizien und der Bukowina von 1768 bis 1790. Habil. 2010, Manuskript. 37 „Es kommt nicht darauf an“, schrieb Schünemann, „bestimmte Volksgruppen isoliert herauszugreifen und darzustellen, sondern darauf, daß die gesamte künftige Geschichtswissenschaft sich eine bevölkerungsgeschichtliche Betrachtungsweise zu eigen macht.“ Schünemann 1932 (wie Anm. 35), 283. 38 Fata (wie Anm. 36). 39 Schünemann 1932 (wie Anm. 35). 40 Von den wichtigsten Forschern der Auswanderung und Ansiedlung gibt Anton Tafferner einen kurzen Überblick; vgl. Tafferner, Anton: Donauschwäbische Wissenschaft. Versuch einer
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Deutschland bearbeitet werden, die besseren Zugang zu den Quellen in den deutschen und österreichischen Archiven hatten und wo das Interesse an den „Auslandsdeutschen“ und der „neueren Kolonisationsgeschichte des Ostens“ eine besondere Aufmerksamkeit in Politik und Wissenschaft erfuhr.41 Infolgedessen entstanden auf regionaler Ebene Orts- und Landesvereine zur Erforschung der Auswanderung und Sippenkunde, die auch Materialien zur Ungarnauswanderung zutage brachten.42 Nach der Gründung der Zeitschrift nahm Bleyer deshalb zu einigen Heimatforschern vor allem in Württemberg und Baden Kontakt auf (Otto Hienerwadel in Donaueschingen, Theodor Selig im württembergischen Uigendorf oder Jakob Ebner in Bruchsal) und bat sie um kleinere Beiträge über die deutsche Auswanderung nach Ungarn.43 Aus den erhalten gebliebenen Briefen Bleyers an Hienerwadel beispielsweise geht hervor, dass dieser von Bleyer am 13. März 1929 mit der Bitte angeschrieben worden war, über seine Forschungsergebnisse zur deutschen Auswanderung im 18. Jahrhundert zu berichten, nachdem Bleyer von diesen Recherchen durch seine Schüler erfahren hatte. Besonders interessiert war Bleyer an den Umständen, die zur Auswanderung geführt hatten, sowie an den Kolonisten selbst, denn wie er schrieb, steckte die diesbezügliche Forschung noch in den Kinderschuhen. Ebenfalls aus der Korrespondenz zwischen Bleyer und Hienerwadel geht hervor, dass Bleyer sehr viel Wert auf Quellen und präzise Aussagen auch im Fall der Beiträge von Heimatforschern legte. Trotz seiner zahlreichen Verpflichtungen korrigierte er selbst die zur Publizierung ausgewählten Beiträge. Hierbei spielten nicht nur wissenschaftliche Kriterien eine Rolle, sondern auch die von den Autoren vertretenen Ansichten. Bleyer war bis zu seinem Tode von der deutsch-ungarischen Schicksalsgemeinschaft überzeugt und ging in seinen politischen Bestrebungen von dieser Grundlage aus. Für die Zeitschrift bedeutete dies wiederum, dass einer deutschen „Blut-und-Boden“-Ideologie kein Raum gegeben wurde. Die Beiträge aus Deutschland sollten nach Bleyers Zielsetzung die verschiedenen Perioden, Formen und Ursachen der Auswanderung behandeln und auch Namenslisten der Auswanderer wie auch verschiedene Dokumente über die Entlassung der Landesuntertanen, Werbepatente, Kolonistenwerbungen, Ratsprotokolle etc. veröffentlichen. Die Dokumente, in denen individuelle Lebenswege und Geschichten Niederschlag fanden, waren nach Bleyers Ansicht besonders wichtig, da sie die Geschichte für den Leser konkretisierten. Auch in Bezug auf ihre eigene Familiengeschichte gab es Korrespondenz zwischen Hienerwadel und Bleyer: Während der Heimatforscher aus Donaueschingen auf der Suche nach seiner Verwandtschaft im Komitat Tolnau war, bat Bleyer um dessen Hilfe, seine eigenen Kolonistenvorfahren in
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geistigen Bestandsaufnahme und einer Standortbestimmung von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1974 (Donauschwäbisches Archiv 4), 90–97 u. 101–121. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA Nachlass Brackmann, Nr. 73. Vgl. u. a. Ritter, Ernst: Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart 1917–1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen. Wiesbaden 1976 (Frankfurter historische Abhandlungen 14). Besonders hervorzuheben sind Hienerwadel, Otto: Der Anteil der Baar am Schwabenzug nach Ungarn. In: DUHBl 1 (1929), 199–205; 2 (1930), 42–50, 147–153 u. 317–327; 3 (1931), 271–294. – Selig, Theodor: Schicksale der Auswandererfamilie Eisenbach. In: DUHBl 5 (1933), 108–110.
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Abb. 6: Das Haus der Vorfahren von Jakob Bleyer in Au im Murgtal; im Vordergrund der 1934 errichtete Gedenkstein für Bleyer, 1950, Foto: Sammlungen des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen.
Baden ausfindig zu machen. Dies ist schließlich Hienerwadel gelungen, so besuchte Bleyer während einer Deutschlandreise Au im Murgtal (vgl. Abb. 6). Die Ansiedlungsgeschichte sollte wiederum von Autoren aus Ungarn und den Nachfolgestaaten bearbeitet werden und dabei sollten Quellen der Landes-, Komitats- und Privatarchive sowie Bestände der kirchlichen Archive erschlossen werden. Bleyers Ziel war es, über die Auswanderung und Ansiedlung der Deutschen möglichst von allen schwäbischen Siedlungsgebieten ein Bild zu bekommen. Neben Bleyers Studenten zählten deshalb auch engagierte Heimatforscher aus Rumänien und Jugoslawien – wie der Religionslehrer Leo Hoffmann aus Werschetz und der Bürgerschuldirektor Friedrich Lotz aus Neuwerbaß – zum Mitarbeiterkreis. Auch nach 1933 sollten Ursachen, Ziele und Methoden der staatlichen und privaten Ansiedlung im 18. Jahrhundert herausgearbeitet werden. So schrieb Roge-
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rius Schilling über die Privatansiedlungen, Anton Tafferner über Pläne und Finanzierung der Ansiedlung, Heinrich Réz über die Ansiedlung in der Batschka und Georg Reiser über diejenige im Banat.44 4. ERKENNTNISSE Bleyer sprach der Stärkung der Identität der Ungarndeutschen und gleichzeitig der Schicksalsgemeinschaft der ungarischen Mehrheit und der deutschen Minderheit eine große Bedeutung zu. Dieser Standpunkt spiegelt sich in den von ihm redigierten Nummern der Zeitschrift von 1929 bis 1933 und im Kreis der zu Beiträgen gebetenen Autoren wider, die von Bleyer hauptsächlich nach wissenschaftlichen Kriterien ausgewählt wurden. Basch betrachtete dagegen die Zeitschrift als ein Mittel im Kampf um die Interessen der Ungarndeutschen. So wurde schon bei der Auswahl der Autoren viel Wert auf die ethnische Zugehörigkeit der ausgewählten Verfasser und deren politische und ideologische Ansichten gelegt. Damit erfüllten die Beiträge über Einwanderung und Ansiedlung bei Bleyer und seinen Nachfolgern unterschiedliche Funktionen. Zur Zeit Bleyers sollten die historischen Beiträge nicht nur das Selbstbewusstsein der ungarndeutschen Leser stärken. Auch die Kenntnisse über die von den Kolonisten geleistete Aufbauarbeit, die aus Sicht des Landes nützlich und sogar unerlässlich war, sollten mit dem Ziel verbreitet werden, Argumente für die Unterstützung der ungarndeutschen Minderheit in ihren kulturellen Bestrebungen zu liefern. Dagegen glaubte Basch weder an die Möglichkeit, die ungarische Mehrheit von den Interessen der deutschen Minderheit zu überzeugen, noch an die Wichtigkeit einer solchen Überzeugungsarbeit. Auch als Redakteur der Zeitschrift konzentrierte er sich deshalb auf die Stärkung des völkischen Selbstbewusstseins der Deutschen in Ungarn. Denn nach seiner Auffassung waren die deutschen Kolonisten Kulturpioniere, die für ihre kulturellen Leistungen vom ungarischen Staat niemals gebührend gewürdigt worden waren. In Ermangelung entsprechender Aufzeichnungen und Abonnementlisten ist es natürlich sehr schwer zu beurteilen, inwieweit die Beiträge über Auswanderung und Ansiedlung – und überhaupt die Zeitschrift – rezipiert wurden. Aber eines der Ziele konnte mit Sicherheit erreicht werden: Es etablierte sich ein historisch interessierter und engagierter Kreis (donau-)schwäbischer Lehrer, Pfarrer und Studenten, die als Multiplikatoren in Erscheinung treten und Kenntnisse über die eigene Geschichte, Kultur und Identität weitergeben konnten.
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Schilling, Rogerius: Die Privatansiedlungen unter Joseph II. In: DUHBl 5 (1933), 311–327. – Tafferner, Anton: Die Baukostenüberschläge und Baupläne aus der josephinischen Ansiedlungszeit. In: DFU 5 (1943), 11–31. – Réz, Heinrich: Beiträge zur josephinische Kolonisation in der Batschka 1784–86. In: DUHBl 6 (1934), 283–293. – Reiser, Georg: Die spät-theresianische Ansiedlung im Banat Gottlob, Triebswetter, Ostern I–II. In: NHBl 1 (1935/36), 268–280, u. NHBl 2 (1937), 84–114.
STEFAN KIRCZ, „DIE EINWANDERER VON TEVEL“ Ein Lehrstück in Sachen Identitätsbildung Katharina Drobac „Migration im Gedächtnis“1 zu behalten, den Menschen die eigene Geschichte bildlich, szenisch vor Augen zu führen, in der konstruktiven Absicht, das Selbstbild, die Identität als Volksgemeinschaft und in derselben in der Gegenwart zu gestalten – so lässt sich zusammenfassen, worauf Stefan Kircz mit seinem Stück „Die Einwanderer von Tevel“ abzielte. Im Folgenden soll gezeigt werden, vor welchem Hintergrund diese Intention zu verstehen ist und auf welche Weise sie im Stück realisiert wird. Kircz’ Verständnis von Identität, Geschichte und Kultur soll aufgezeigt werden. In einem Vergleich mit einem anderen Stück aus derselben Zeit – Karl von Möllers Einakter „Schwaben“ – kann gezeigt werden, wie diese Auffassungen aus heutiger Sicht durchaus ‚modern‘ erscheinen. Zu aktuellen Ansätzen der Gedächtnis-, Identitäts- und Migrationstheorie sollen Bezüge hergestellt werden. 1. ZEITGESCHICHTLICHER HINTERGRUND Stefan Kircz (1861–1931),2 geboren in der Gemeinde Tevel im Komitat Tolnau in der Schwäbischen Türkei, wirkte hier und in anderen Tolnauer Gemeinden von 1879 bis 1924 als Lehrer und Schuldirektor. Er publizierte zu Themen der Pädagogik, bekleidete mehrere Ämter und engagierte sich in anderen gesellschaftlichen Bereichen, die der Förderung der Gemeinde dienten. Zudem verfasste er ein Lehrbuch zur Geographie des Komitats sowie eine Dorfchronik der Gemeinde Tevel. Seine Heimatgemeinde und -region lagen ihm offensichtlich am Herzen und er betonte stets auch die Dringlichkeit, Kenntnisse der Lokalgeschichte zu bewahren und an die kommenden Generationen weiterzugeben.3 Sein Leben und Wirken fielen in eine Zeit der großen Veränderungen in Österreich-Ungarn, in eine Zeit des Zerfalls dieses Staatsgebildes. Im Europa des 19. Jahrhunderts gewannen das Thema der ‚Nation‘ und die Besinnung auf die eigene Nationalität allgemein an Bedeutung. Ungarn versuchte seine Rechte als Nation 1 2 3
So der Titel der Tagung und des vorliegenden Tagungsbands. Zu den biographischen Angaben über Stefan Kircz vgl. Fata, Márta: Die Laufbahn eines Dorfschullehrers in der Schwäbischen Türkei. Stefan Kircz (1861–1931). In: Banatica. Beiträge zur deutschen Kultur 3 (1993), 20–26. Vgl. z. B. das im Komitatsblatt veröffentlichte Schreiben Stefan Kircz’ in: Szauer, János: Fejezetek Tevel történetéből [Kapitel aus der Geschichte von Tevel]. Tevel 2003, 7.
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gegenüber Österreich durchzusetzen und verfolgte innerhalb seiner Grenzen mit der Magyarisierung eine Politik der sprachlichen und kulturellen Vereinheitlichung. Was die Entwicklung auf Seiten der deutschen Einwanderer anbelangt, so spielte die ethnische Zugehörigkeit im Bewusstsein der ersten Siedlergenerationen eine eher sekundäre Rolle. So stellt auch Seewann fest: „Die Entwicklung ihrer ethnischen Identität vollzog sich vielmehr aufgrund von Anpassung, Eingliederung und tiefgreifender Akkulturation an ihre Umgebung, in Kombination mit ihrem hohen, oftmals übersteigerten Arbeitsethos […].“4 Das vordringliche Ziel eines Siedlers war es, innerhalb der vorgegebenen Ordnungssysteme „ein ökonomisch möglichst erfolgreicher Bauer zu sein“5. Die Tatsache, einer anderen als der ursprünglich einheimischen Ethnie anzugehören, war dabei für die Identitätsentwicklung gar nicht so entscheidend; die eigene Lebenswelt war mit der ungarischen Umgebung eng verknüpft und von ihr geprägt.6 Man betrachtete sich als Ungarn – als Ungarn anderer, nämlich deutscher Herkunft.7 Im Zuge des allseitig um sich greifenden Nationalismus jedoch wandelte sich die mehr oder weniger selbstverständliche Identifikation der Deutschstämmigen mit dem Land, in dem sie lebten,8 und das Bewusstsein der eigenen Ethnie gewann an Relevanz. Das Nationalitätengesetz von 1868 sowie eine Reihe von Schulgesetzen in den folgenden Jahrzehnten9 regelten das Leben der zu assimilierenden Minderheiten unter der Dominanz der magyarischen Kultur insbesondere in Bezug auf Gebrauch und Pflege der jeweils eigenen Sprache. In von Minderheiten besiedelten Dörfern sollte Ungarisch als die Sprache des öffentlichen Bereichs, auch als Fachsprache im Schulunterricht, durchgesetzt werden; auch Personennamen sollten angeglichen werden. Diesbezügliche Aufrufe wurden, je nachdem, positiv oder negativ sanktioniert.10 Dies war die Situation, in der sich auch der Teveler Lehrer Stefan Kircz befand und die ihn wie viele andere in eine zwiespältige oder, anders gesehen, vermittelnde Rolle drängte: Einerseits musste er als Beamter des ungarischen Staates Kenntnisse der ungarischen Sprache sowie generell den Magyarisierungsgedanken an die 4
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Seewann, Gerhard: Siebenbürger Sachse, Ungarndeutscher, Donauschwabe? Überlegungen zur Identitätsproblematik des Deutschtums in Südosteuropa. In: Siedler-Identität. Neun Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Christof Dipper u. Rudolf Hiestand. Frankfurt a. M. u. a. 1995, 181–195, hier 186. Ebd. Vgl. Röder, Annemarie: Deutsche, Schwaben, Donauschwaben. Ethnisierungsprozesse einer deutschen Minderheit in Südosteuropa. Marburg 1998 (Schriftenreihe der Kommission für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde e. V. 78), 39 f. Vgl. Seewann (wie Anm. 4), 186. Vgl. z. B. Röder (wie Anm. 6), Kapitel IV. Ethnisierung: Zwischen staatlichem Agieren und gruppenspezifischem Reagieren, 53–100. Vgl. dazu Fata (wie Anm. 2), 23 f. – Puttkamer, Joachim von: Nationale Peripherien. Strukturen und Deutungsmuster im ungarischen Schulwesen 1867–1914. In: Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich-Ungarn. Hg. v. Endre Hárs u. a. Tübingen – Basel 2006, 97–110. Vgl. Fata (wie Anm. 2), 24.
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Schüler und die Dorfgemeinschaft herantragen, andererseits aber hatte er als Teil der deutschen Gemeinde auch gegenüber der eigenen Ethnie Verantwortung.11 Kircz selbst war ein dezidierter Befürworter der Magyarisierung; von der Komitatsverwaltung und den Zeitungen wurde er sogar als „der wahre Apostel der Magyarisierung“12 gepriesen. Auf eine Verordnung der Károlyi-Regierung aus dem Jahr 1918 hin – also kurz vor der Entstehung von Kircz’ Schauspiel 1922 –, nach der die Minderheitenschulen selbst über die Wahl der Unterrichtssprache entscheiden sollten, riet er als Schuldirektor dazu, den Großteil des Unterrichts auf Ungarisch abhalten zu lassen.13 Als Hintergrund für seine Unterstützung und aktive Förderung dieser Bestrebungen lässt sich zum einen ein ganz existenzieller Aspekt benennen: Kircz musste bei einer Verweigerung damit rechnen, aus dem Schuldienst entlassen zu werden. Zum anderen sah er jedoch auch selbst, etwa vor dem Hintergrund der fortschreitenden Modernisierung auch in Ungarn, die klare Notwendigkeit einer sprachlichen Assimilierung in dem Land, in dem man lebt.14 Nicht nur im Schulunterricht der Kinder, sondern auch in der Erwachsenenbildung15 förderte er daher die Beherrschung des Ungarischen. Einer Zweisprachigkeit im schulischen und öffentlichen Gebrauch stand er also ablehnend gegenüber, jedoch erachtete er die Pflege der deutschen Kultur und Sprache als durchaus wichtig; so sammelte er selbst etwa alte deutsche Volkslieder.16 Die Verwendung des Deutschen beziehungsweise des Dialekts wollte er jedoch auf den privaten Bereich eingeschränkt wissen. Einigen ging seine Haltung, die deutsche Sprache und Kultur in gewissen Grenzen weiter zu erhalten und zu fördern, dennoch zu weit. So war Kircz anlässlich seiner Pensionierung im Jahre 1924 vom Obergespan des Komitats für eine Auszeichnung vorgeschlagen worden, die seine Verdienste als Pädagoge ehren sollte. Dies wurde vom obersten Notar des Komitats jedoch abgelehnt. Man machte ihm seine geistige Nähe zu dem Germanisten und Politiker Jakob Bleyer und dessen politischer Gesinnung zum Vorwurf. Dieser war, sehr ähnlich wie Kircz, um eine Gratwanderung und den Versuch einer Harmonisierung bemüht zwischen dem Selbstverständnis der Ungarndeutschen als loyale ungarische Staatsbürger zum einen und zum anderen ihrem Bewusstsein, deutscher Abstammung zu sein.17
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Vgl. ebd. 24 f. Zitiert ebd. 24. Vgl. Eppel, Johann: Tevel. Zweieinhalb Jahrhunderte schwäbische Ortsgeschichte in Ungarn, 1701–1948. Eppingen – Budapest 1988, 401. Vgl. Fata (wie Anm. 2), 25. Ebd. Ebd. Vgl. Szauer (wie Anm. 3), 89. – Zu Jakob Bleyer vgl. auch: Jakob Bleyer, ein Leben für das Ungarndeutschtum (1874–1933). Hg. v. Wendelin Hambuch. Budapest 1994 (Schriftenreihe des St. Gerhards-Werkes Ungarn e. V. I), sowie den Beitrag von Ferenc Eiler in diesem Band.
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2. STEFAN KIRCZ, „DIE EINWANDERER VON TEVEL“ Kircz war bestrebt, zwischen der Tradition und Sprache in einer deutschen Gemeinde wie Tevel einerseits und der ungarischen Lebenswirklichkeit, der Sprache, Kultur und Staatsform, inmitten derer man lebt, andererseits zu vermitteln. Sein Versuch, eine ausgleichende, beide Seiten integrierende Lösung zu finden, kommt auch in seinem Stück „Die Einwanderer von Tevel“ zum Ausdruck. Kircz verfasste das „Schauspiel in 6 Bildern“18 1922 für seine Dorfgemeinde; verwendet hatte er eigene historische Forschungen über Auswanderung und Herkunft seiner seit 1712 mit Deutschen besiedelten Gemeinde sowie alte Kolonistenbriefe.19 Uraufgeführt wurde das Schauspiel 1925, in der Folge gab es fünf weitere Vorstellungen durch die Jugend des Vereins der Teveler Handwerker und Händler.20 Der eigentliche Plot des Stücks lässt sich in wenigen Sätzen umreißen: Wie der Titel schon zeigt, sind die Akteure die ersten Siedler des Dorfes Tevel; das Stück spielt Anfang des 18. Jahrhunderts und thematisiert die Gründung des Ortes. Im ersten „Auftritt“ und dem ersten „Bild“21 sind die Vertreter der – wenn man so will – intellektuellen Elite, also die typischen ‚Honoratioren‘ eines Dorfes miteinander im Gespräch. Pfarrer, Lehrer, Arzt und Richter unterhalten sich über die zwei Monate zuvor erfolgte Ankunft einer deutschen Dorfgemeinschaft in Ungarn, über die Aufgaben und Probleme des Neubeginns in Tevel sowie die historischen Hintergründe der „Kolonisierung“22, wie es im Stück heißt. Ihre Namen, wie sie im Personenregister des Manuskripts genannt werden, sind wie die übrigen Personennamen historisch, das heißt archivierten Einwohnerlisten Tevels entnommen.23 Die 18 19
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So der Untertitel des Stückes; vgl. Tolna Megyei Önkormányzat Levéltára [Archiv der Selbstverwaltung des Komitats Tolna] (TMÖL), Szekszárd. Tanfelügyelői iratok. 428/1931: Kircz, Stefan: Die Einwanderer von Tevel. Schauspiel in 6 Bildern. Tevel 1922, Manuskript, Titel. Der Verfasser des Heimatbuches von Tevel kritisiert allerdings die künstlerische Freiheit, die sich Kircz offenbar in der Darstellung der Ereignisse genommen hat, und bezeichnet das Schauspiel als „romantische Geschichte […], in der sich eine ganze Gemeinde in Deutschland aufmachte und samt Pfarrer und Lehrer sich in Tevel niederließ, wo recht günstige Verhältnisse herrschten“. „Wie ganz anders die Wirklichkeit aussah“, belegt er mit vier Kolonistenbriefen als Dokumente zur ersten Besiedlung Tevels; vgl. Eppel (wie Anm. 13), 32. Im Heimatbuch ist die Chronik der Besiedlung Tevels aufgezeichnet, Dokumente und viele Daten werden dazu angeführt. Vgl. Fata (wie Anm. 2), 26. Der Dialog zwischen Lehrer und Pfarrer sowie dem später hinzutretenden Arzt wird als „I. Auftritt“ betitelt und stellt so etwas wie einen Prolog zu den darauf folgenden „Bildern“ dar. Das „I. Bild“ beginnt mit dem Auftritt des Richters und der Fortsetzung des Gesprächs zwischen den nunmehr vier Personen. Die Bezeichnung der Akte als „Bilder“ soll auch in der weiteren Textanalyse verwendet werden. Z. B. TMÖL (wie Anm. 18), 1. Vgl. dazu TMÖL, Szekszárd. Tanfelügyelői iratok. 428/1931: Beitrage [sic!] zur Geschichte der Gemeinde von Tevel. Gesammelt von Stefan Kircz kat. Schuldirektor, 5. – Der Verfasser des Teveler Heimatbuches scheint jedoch über etwas andere, vielleicht genauere Quellen als Kircz verfügt zu haben. Laut diesen hieß etwa der erste Richter der Gemeinde nicht Martin Zolk wie in Kircz’ Schauspiel, sondern Johann Wamsler; vgl. Eppel (wie Anm. 13), 71. Der erste Pfarrer war tatsächlich Johann Heinrich Mack (vgl. ebd., 73), und darin, dass der erste
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Namensliste etwa, die im Stück in voller Länge verlesen wird, um die Anwesenheit aller Männer des Dorfes zu überprüfen, scheint, so legt es die übereinstimmende Reihenfolge der Personennamen nahe, auf im Komitatsarchiv von Szekszárd vorgefundene Konskriptionslisten aus den Jahren 1715 bis 1720, also der in Bezug auf Tevel frühesten Einwanderungszeit, zurückzugehen.24 Am Ende des ersten Bildes findet eine Versammlung der Dorfgemeinschaft statt; im zweiten Bild macht diese Dorfgemeinschaft der Grundherrin ihre Aufwartung. Im Stück wie in der Historie ist dies Frau von Dőry, die Witwe von László Dőry von Jobaháza, einem ungarischen Adligen und Grundherren des Besitzes um Tevel.25 Ab dem dritten Bild weicht die bisher eher tableauhafte Darstellung einem ‚richtigen‘ Plot. Es geht – typisch für jedes Volksstück – um Heiratspläne junger Leute und die denen zunächst entgegenstehenden Schwierigkeiten; natürlich löst sich schließlich alles in einem Happy End. 2.1. Ein Volksschauspiel im wahrsten Sinne Als ein Volksschauspiel im eigentlichen Sinne weist es zum einen eine Typisierung der Figuren und den Querschnitt durch eine ‚typische‘ Dorfstruktur auf: Es gibt die besagten heiratswilligen jungen Leute, die Grundherrin und die Bauern, Kinder und alte Leute, die Nachbarsfrauen und als Hauptfiguren Pfarrer, Lehrer, Arzt und Richter. Zum anderen wurde es für ‚das Volk‘, die eigene Gemeinde, verfasst und es ist zudem zugleich ein „Bild“ (so auch die Bezeichnung jedes einzelnen Akts) des Volkes selbst beziehungsweise seines Ursprungs. „Volksstück“ als Terminus technicus bezieht sich laut Definition auf „das regional begrenzte, dialektgebundene, […] ‚bloß‘ unterhaltende, ‚triviale‘ Lokalstück“, aber auch auf „eine Form der […] (Selbst-)Darstellung des Volkes“.26 Auf der Bühne wird also unter anderem die Identität ‚des Volkes‘, was immer dann im Einzelnen damit gemeint sein kann, verhandelt und reflektiert – oder eine solche überhaupt erst konstituiert. Dieser Identitätsaspekt ist für Kircz und sein Stück zentral. Die gewisse erzieherische Komponente, die in Volksstücken häufig mit dieser (Selbst-)Darstellung des Volkes einhergeht, findet sich ebenfalls im Schauspiel des Pädagogen Stefan Kircz. Ziel des Autors ist es, in erzieherischer Absicht die eigene Geschichte zu erinnern, die Migration der Vorfahren ins Gedächtnis zu rufen, um vor dem Hintergrund des aktuellen Zeitgeschehens auf das Selbstbild, auf Identität und Identitätsproble-
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Lehrer des Ortes „[a]llen Anzeichen nach“ tatsächlich ein Kleinhäusler namens Josef Sonthauser (in Kircz’ Stück: Sündhauser) war, stimmt der Verfasser des Heimatbuches Kircz zu; vgl. ebd., 77. Ein Arzt lässt sich unter den ersten Einwanderern nicht eindeutig nachweisen, und ein Einwohner des Namens Rabolt (oder, wie bei Kircz, Rapolt) findet sich erst 50 Jahre später und mit anderer Berufsbezeichnung; vgl. dazu ebd., 77. Vgl. die im Heimatbuch aufgeführten Listen ebd., 50–56. Zu den Grundbesitzverhältnissen vgl. ebd., 22–26. Hein, Jürgen: Das Volksstück. Entwicklungen und Tendenzen. In: Theater und Gesellschaft. Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. dems. Düsseldorf 1973 (Literatur in der Gesellschaft 12), 9–28, hier 9.
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matik seines Volkes, seines Dorfes Einfluss zu nehmen. Im Gegensatz zu einer Dorfchronik etwa, die Stefan Kircz ebenfalls verfasst hatte, oder einem literarischen Text anderer Gattung bietet ein Theaterstück zu einer solchen Art der Geschichtsvermittlung, als „Medium des kollektiven Gedächtnisses“27, weiter gehende Möglichkeiten.28 Das Theater kann unmittelbar zu einem Erinnerungsort werden, an dem die Menschen zusammenkommen und gewissermaßen Zeugen ihrer eigenen Geschichte und Herkunft werden; ein Ort, an dem sich die Dorfbewohner – wie ihre Vorfahren im Stück – versammeln und sich ihrer selbst, ihrer Situation und deren Hintergründe bewusst werden können. Das Stück selbst, das die Zeit unmittelbar nach der Ankunft der ersten Siedler Tevels, also der Urväter der Zuschauer, thematisiert, entwirft so eine Art Gründungsmythos. Der Moment des kollektiven „rite de passage“, des entscheidenden Neuanfangs im zu besiedelnden Land, wird heraufbeschworen und besonders im letzten Bild des Stücks mitsamt seinen Protagonisten stark glorifiziert. In kleinem Rahmen handelt es sich hier um Vorgänge, die sich auch auf höherer Ebene bei der Bildung kollektiver Identität beobachten lassen, etwa bei der Formung einheitlicher Nationalstaaten: „Zu den wichtigsten Maßnahmen dieser Homogenisierung und damit der Herstellung der Nation als ‚imagined community‘ gehörte die allgemeine Vermittlung eines nationalen historischen Narrativs, also eines als einheitlich aufgefassten kollektiven Gedächtnisses, durch das […] das Individuum angeleitet werden sollte, sich als Teil des Kollektivsingulars ‚Nation‘ zu begreifen. Durch die Generierung eines kollektiven Gedächtnisses (beispielsweise in Form eines nationalen ‚Gründungsmythos‘) sollten eine Integrationsleistung erzielt und konkurrierende partikulare Identitätskonzepte überformt und verdrängt werden.“29
Schule und Wissenschaften sowie die Künste als „besonders wirkungsmächtige Vermittlungsmedien“30 – eine Tatsache, derer sich auch Stefan Kircz offensichtlich bewusst war – hatten hierbei eine tragende Funktion. Zugleich wird der Teveler Bevölkerung diese Ursprungsgeschichte nicht nur präsentiert, sondern es sind Menschen aus ihrer Mitte, welche dieselbe selbst inszenieren und spielen (vgl. Abb. 7 und 8). Erinnerung wird so gewissermaßen performativ vollzogen – im Sinne einer das Vergangene aktualisierenden und Totes wie27 28
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Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hg. v. ders. u. Ansgar Nünning. Berlin – New York 2005 (Media and cultural memory 2), 249–276, hier 251. Zum Zusammenhang von literarischer Gattung und Gedächtnis vgl. die entsprechenden Beiträge in Gedächtniskonzepte (wie Anm. 27) sowie in Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien. Hg. v. Astrid Erll, Marion Gymnich u. Ansgar Nünning. Trier 2003 (ELCH 11). Hois, Eva Maria u. a.: Gedächtnis/Erinnerung und Identität – Konstruktionen kollektiver Identität in einer pluriethnischen Region. In: Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne. Hg. v. Moritz Csáky, Astrid Kury u. Ulrich Tragatschnig. Innsbruck u. a. 2004 (Gedächtnis – Erinnerung – Identität 4), 215–254, hier 222. Ebd. – Zur Bedeutung besonders literarischer Texte als „ein zentrales Medium der kulturellen Erinnerungsbildung sowie Identitätsstiftung“ vgl. Neumann, Birgit: Literatur als Medium kollektiver Erinnerungen und Identitäten. In: Literatur – Erinnerung – Identität (wie Anm. 28), 49–77, hier 50.
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Abb. 7: Die erste Aufführung des Schauspiels „Die Einwanderer von Tevel“, 1925. Das Schauspiel wurde verfasst von Lehrer Stefan Kircz, auf dem Bild der Zweite von links in der dritten Reihe, und inszeniert von Pfarrer Josef Kuhl, in der Mitte der Gruppe. Foto aus EPPEL, Johann: Tevel. Zweieinhalb Jahrhunderte schwäbische Ortsgeschichte in Ungarn, 1701–1948. Eppingen – Budapest 1988, Bildanhang.
derbeseelenden „‚performance of memory‘“31 – und sich nachahmend angeeignet. Um einen mimetischen Vorgang32 handelt es sich also nicht nur insofern, als der Theatertext die Historie der Gründung der Teveler Dorfgemeinschaft abzubilden beansprucht, sondern auch insofern, als die Einwohner Tevels, die auf der Bühne ihre Ureltern darstellen, die eigene Vorgeschichte nachspielen. Dies geschieht wiederum mit dem von Kircz intendierten pädagogischen Zweck einer weiteren mimetischen Ebene: Zuschauer wie Schauspieler – und bei diesen handelt es sich wohlbemerkt um sehr junge und also für Erziehung empfängliche Menschen – sollen die in Kircz’ literarisch gefasster „Vergangenheitsversion“ vermittelte Haltung und Einstellung selbst einnehmen.33 Kircz’ Theaterstück fungiert also zugleich „als ein 31 32 33
Dieser Begriff wird etwa verwendet in Hauthal, Janine: From Ghosts in Performance to the Ghostliness of Performance. Theater als Erinnerungsort und Gedächtnismedium. In: Literatur – Erinnerung – Identität (wie Anm. 28), 273–290. Zum Thema literarischer Mimesis und Erinnerung vgl. Erll, Astrid/Nünning, Ansgar: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Ein Überblick. In: Literatur – Erinnerung – Identität (wie Anm. 28), 3–27, hier 16–19. Neumann weist auf die allen Gedächtnistheorien gemeinsame Grundannahme einer „Perspektivität und Konstruktivität auch kollektiver Erinnerungen“, die „keine objektiven Abbilder vergangener Realität [seien], sondern eminent selektive und standortgebundene Vergangenheitsversionen, die – verschränkt mit ihrer Abrufsituation – die ‚Spuren der Zwecke‘ […] ihrer Rekonstruktion tragen“. Neumann (wie Anm. 30), 50. Die Grundannahme geht bereits auf Maurice Halbwachs’ 1925 veröffentlichte Schrift „Les cadres sociaux de la mémoire“ zurück, vgl. auf Deutsch: Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Berlin – Neuwied 1966.
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Abb. 8: Zweisprachige Einladung zur Aufführung des Schauspiels „Die Einwanderer von Tevel“, 1925, Foto aus SZAUER, János: Fejezetek Tevel történétéből. Tevel 2003, 161.
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Medium der Repräsentation von außerliterarischen Erinnerungen und Identitäten“ wie auch „[a]ls ein Medium der Konstruktion von Erinnerung und Identität“.34 Im Stück spielen also Fragen des Selbst- und Fremdbildes eine Rolle, Fragen der eigenen kollektiven Identität. Kircz will vor dem bereits skizzierten gesellschaftspolitischen Hintergrund der Magyarisierung, der zunehmenden Reflexion nationaler und kultureller Zugehörigkeit, einen Weg aufzeigen und eine Empfehlung abgeben, wie sich seine seit Generationen in Ungarn lebende deutschstämmige Gemeinde als „Erinnerungsgemeinschaft“35 positionieren und integrieren, wie sich auf dieser Basis die Gratwanderung zwischen den Identifikationsmöglichkeiten ‚deutsch‘ und ‚ungarisch‘ vollziehen sollte. Es handelt sich bei seinem Schauspiel auf einfachem, literarisch weniger anspruchsvollem Niveau also um ein Lehrstück in Sachen Identitätsbildung. In der ganz buchstäblichen „Praxis des gemeinsamen Erinnerns“, des gemeinsamen Rollenlernens für das Theater wie für die individuelle und kollektive Realität, soll auch hier der „‚Bodensatz‘ der Zusammengehörigkeit bzw. Ausgangspunkt der Entstehung“ und Befestigung „einer kollektiven Identität“ bereitet werden.36 Erinnerung und Stiftung von Kontinuität als notwendige Bedingung nicht nur einer individuellen, sondern auch einer kollektiven Identität betrachten neuere psychologische wie kulturwissenschaftliche Theorieansätze als eine wesentliche Grundannahme.37 2.2. Identität und Sprache Zentral ist in Fragen von Identität und Integration nicht nur bei Kircz der Aspekt der Sprache. Bereits im ersten Bild des Stückes, im Gespräch der Protagonisten über die eigene Geschichte und den Neuanfang wird die noch unvertraute Sprache der neuen Lebenswelt als besondere Hürde thematisiert. Besonders der Pfarrer und – gewissermaßen als Alter ego des Pädagogen Stefan Kircz – der Lehrer betonen aber auch die besondere Notwendigkeit, sie zu erlernen, um im neuen Vaterland leben und dieses auch als solches betrachten zu können. So formuliert der Pfarrer: „Das Kind muss sich nach den Eltern richten und deren Sprache erlernen. Oder habt ihr schon je gehört, dass die Eltern die Kindersprache sprechen und nicht die Kinder 34
35 36 37
Erll, Astrid/Gymnich, Marion/Nünning, Ansgar: Einleitung. Literatur als Medium der Repräsentation und Konstruktion von Erinnerung und Identität. In: Literatur – Erinnerung – Identität (wie Anm. 28), III–IX, hier V. – An Ricœurs Modell eines „Kreises der Mimesis“ und dessen drei Stufen Präfiguration, Konfiguration und Refiguration angelehnt, untersuchen die Beiträge in diesem Band die Leistung und Bedeutung literarischer Texte unter dem doppelten Aspekt von Repräsentation, Inszenierung sowie Konstruktion, Modellierung von Erinnerung; vgl. dazu besonders Neumann (wie Anm. 30), 66–73. Neumann (wie Anm. 30), 62; ähnlich auch der Begriff der „Gedächtnisgemeinschaft“, vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997, 2. durchges. Aufl. [11992], 30. Neumann (wie Anm. 30), 50. Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte (wie Anm. 27), 149–178. – Hois u. a. (wie Anm. 29), 215–221.
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die Sprache der Eltern erlernen.“38 Auf den Einwand des Richters, im Alter eigne man sich eine neue Sprache eben schwer an, verweist der Lehrer mit den Worten „Unsere Kinder werden es schon erlernen!“39 auf die nächste Generation als diejenige, für welche der neue Existenzort wirklich und auf einfachere Weise zum Vaterland werden könne. Diese Hoffnung kommt in einer Szene des vierten Bildes ebenfalls zum Ausdruck. Man sieht eine Gruppe von Kindern, die Krieg spielen. Die Kinder besprechen die Rollenverteilung beim Spiel; als ein Junge festlegt, wer der „Türk“ beim Türkenkriegspiel sei und wer der Deutsche, wenden „einige Stimmen“ ein: „Wir sind jetzt Ungr’a!“40 Der Junge fragt nach: „Also was wend ihr sei’? Ungr’a oder deutschi?“ und alle antworten: „Ungr’a!“41 Wenn die Kinder auch Dialekt sprechen – was im Stück öfter ausdrücklich in den Regieanweisungen vorgegeben wird –, so fühlt und definiert sich die nächste Generation doch schon weitaus selbstverständlicher als Ungarn. Kircz vertrat die Ansicht, dass die Mundart der ursprünglichen Heimat, das Deutsche beziehungsweise der Dialekt, keinesfalls vergessen werden, aber auf den engsten privaten, persönlichen, familiären Bereich und auf eine bewusste Pflege der dörflichen Kultur beschränkt bleiben sollte. Ansonsten jedoch sei, so argumentiert Kircz ganz im Sinne der Magyarisierung, die ungarische Sprache als die primäre und Ungarn als neues Vaterland zu betrachten.42 Dies unterscheidet seine Position, so sei am Rande angemerkt, von dem „Hungarus“-Bewusstsein meist bürgerlicher oder intellektueller deutschstämmiger Ungarn, die im 18. und 19. Jahrhundert das kulturelle Leben Ungarns in nicht geringer Weise mit prägten.43 Diese verwendeten und pflegten in ihren literarischen Werken und anderen Publikationen ganz selbstverständlich die deutsche Sprache, betrachteten sich also in sprachlich-kultureller Hinsicht als Deutsche, fühlten sich aber ebenso selbstverständlich als Ungarn, als zugehörig zur historisch-politischen Gemeinschaft des ungarischen Staates. Für den „Hungarus“ stellte die Sprache keineswegs den entscheidenden Faktor der Zugehörigkeit zur Nation dar und ein erklärter Monolinguismus beziehungsweise die Entscheidung für eine Sprache in allen Lebensbereichen stellte auch keine unabdingbare Voraussetzung einer Identitätsbildung dar. Ein deutliches Bekenntnis zu Ungarn formuliert, durchaus als Höhepunkt des ganzen Stückes, das letzte, das sechste Bild. Darin wird ein Zeitsprung vollzogen. „200 Jahre später“44, so gibt die Regieanweisung vor, sieht der Zuschauer Eppl Jakob in einem Zimmer sitzen, der, so teilt er selbst dem Zuschauer mit, gerade die Geschichte von Tevel, die Geschichte seines Heimatdorfes und die seiner Vorfah38 39 40 41 42 43 44
TMÖL (wie Anm. 18), 3. Ebd. Alle Zitate ebd., 17. Ebd. Vgl. Fata (wie Anm. 2), 25 f. Vgl. z. B. Balogh, András F.: Die deutschsprachige Literatur in Ungarn. Ein historischer Rückblick. In: Literatur – Literaturvermittlung – Identität. Budapest 2004 (VUdAK-Bücher, Reihe Literatur 10), 21. TMÖL (wie Anm. 18), 24.
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ren, gelesen habe. In seinem Monolog, der als eine Art Epilog den ganzen abschließenden Akt bildet, geht er auf diese Geschichte ein, er thematisiert die Situation der neuen Siedler damals, ihre Beweggründe, die „liebe Heimat“45 zu verlassen, und so weiter. Eppl spricht den Vorfahren seine dezidierte Anerkennung aus für den „eisenfesten Willen und Vorsatze, sich und ihren Nachkommen – uns – eine glückliche Heimat zu gründen“, „eine bessere Heimat“.46 Diese neue Heimat, „unser Vaterland, das liebe, teure Ungarnland“, wird gepriesen als ein Land, das „keinen seinen Kinder hungern“ lasse, weshalb man als Deutschstämmiger „das Loos unserer ungarischen Brüder teilen [solle] in Freud und Leid“.47 Die Einheit des ungarischen Volkes jenseits aller unterschiedlicher Herkunft wird ausdrücklich hervorgehoben: „Nichts soll und kann uns mehr von ihnen scheiden!“48, auch – und dies wohl vor dem Hintergrund des zum Zeitpunkt der Entstehung des Stücks unlängst vergangenen Ersten Weltkrieges – gegenüber gemeinsamen Feinden. Diese Einheitsbeschwörung und der nationale Gedanke werden am Ende des Stücks ins äußerst Pathetische überhöht: Eppl „kniet sich nieder, ein Engel49 hält die ungarische Nationalfahne über ihn“ und er betet zu Gott, dieser möge das „andächtige Gebet aller Ungarn“ erhören.50 Dann nimmt er „einen Zipfel der Fahne an sein Gesicht und singt, mit ihm das Publikum“, so sieht es die Regieanweisung bereits vor, die ungarische Nationalhymne, und zwar auf Ungarisch: „Isten áldd meg a magyart…“, Gott segne den Ungarn.51 Dieses unmissverständliche Bekenntnis zu Ungarn steht jedoch nicht einer Bewusstmachung dessen entgegen, was als das ‚Deutsche‘ angesehen wird. Die – wie gesagt auf das engste Umfeld beschränkte – Pflege der deutschen Sprache gehört dazu, aber auch die ‚typisch deutschen‘ Tugenden. Auf humoristischer Ebene rekurriert darauf die Figur des Michl im ersten Bild, eine Art Lustige Person des Stücks, die als solche oder auch in Anlehnung an die Figur des „deutschen Michel“52 laut Regieanweisung „in schwäbischem Dialekt“53 spricht und als typische Narrenfigur der europäischen Theatertradition und Volksliteratur54 die Wahrheit sagt. Auf 45 46 47 48 49
50 51 52 53 54
Ebd. Alle Zitate ebd.; Hervorhebung im Original unterstrichen. Ebd. – Hier und generell werden Schreibweisen, wie in Kircz’ Manuskript vorgefunden, beibehalten; auf orthographische oder grammatikalische Fehler wird nicht (etwa durch „sic!“) hingewiesen. Ebd. Die ungarische Stephanskrone wird häufig von einem oder zwei Engeln getragen, z. B. auf Darstellungen des ungarischen Wappens. Bis 1918 waren zwei das Wappen flankierende Engel auch Teil der Flagge des Königreichs Ungarn. Das Motiv des Engels im letzten Akt des Stücks lässt sich auf diese Bildtradition beziehen. Beide Zitate TMÖL (wie Anm. 18), 25. Beide Zitate ebd. Vgl. dazu etwa Szarota, Tomasz: Der deutsche Michel. Die Geschichte eines nationalen Symbols und Autostereotyps. Aus dem Poln. v. Kordula Zentgraf-Zubrzycka. Osnabrück 1998 (Klio in Polen 3). TMÖL (wie Anm. 18), 4. Auch in den Volkskalendern der Ungarndeutschen ist die Figur des „Michl Vetter“ zu finden und der Banater Schriftsteller Adam Müller-Guttenbrunn verwendete bei Veröffentlichungen
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die Frage, wie es denn gehe, gibt Michl die Antwort: „[W]ie es halt allen Armen geht. Zu Tod muss man sich arbeiten“, denn „der arme Mensch muss überall arbeiten“, sogar im Himmel werde er, Michl, dazu noch herangezogen werden, wie er auf spaßhafte Weise ausführt.55 Damit reflektiert er zum einen die harte Lebenswirklichkeit der Neuankommenden, zum anderen aber auch die als ‚typisch deutsch‘ angesehenen Tugenden des Fleißes und des Arbeitseifers auch unter schwersten Bedingungen, die im Selbst- wie im Fremdbild der Deutschen eine zentrale Rolle spielen und im Stück selbst mehrfach apostrophiert werden. 2.3. Kultur auf der Bühne Auf deutsche Tugenden nimmt auch der Anfangsdialog Bezug. Hier benennt der Lehrer in seinem Gespräch mit dem Pfarrer die Gründe für die Besiedlung des Habsburgerreiches mit deutschen Auswanderungswilligen. Einem beinahe ‚klassischen‘ Fremd- und Selbstbild der Deutschen und weitverbreiteten nationalen (Auto-)Stereotyp56 entsprechend werden hier Eigenschaften genannt wie Fleiß, Kompetenz und – als sehr allgemeiner Ausdruck, aber im Stück ganz wesentlich – Kultur; diese Eigenschaften seien den Deutschen auch in explizitem Gegensatz zu anderen Völkern, etwa den Serben, zu eigen.57 So führt der Pfarrer aus: „[D]eshalb hat diese Kolonisierung unserer Schwaben ein doppelten Zweck, und zwar: die Zahlenmässige Vermehrung der Völkerung einerseits, andererseits aber auch kulturellen Zweck. Da waren ja kurz vor uns und sind teilweise noch hier – die Serben –, oder sogenannte Ratzen, die die Herrschaft einfach hinaustrieben, weil sie eben keine Kultur haben und so der kulturellen Aufgabe nicht gewachsen waren.“58
Der Lehrer erwidert darauf: „Da werden unsere amaisenfleissigen Schwaben schon besser die Lücke ausfüllen, denn sie verstehen den Ackerbau und die Viehzucht schon vorzüglich und sind auch sonst schon kulturell etwas fortgeschritten.“59 Auch im zweiten Bild wird dieser Zusammenhang von den Deutschen zugeschriebenen Tugenden und „Kultur“ zum Ausdruck gebracht, als die Dorfgemeinschaft der Grundherrin ihre Aufwartung macht, um, wie es heißt, auf diese Weise zu demonstrieren, dass „wir ein Kulturvolk sind“60. Das Selbstbild der neuangekommenen Deutschen als „arme, aber ehrliche und strebsame Leute“, „treu“, „arbeitsam und sparsam […], so wie es die deutsche Seele verlangt und fordert“, entwirft auch die Rede des Pfarrers.61 Die Grundfrau möge doch die neuen Teveler annehmen u. a. diesen Namen als Pseudonym. 55 Beide Zitate TMÖL (wie Anm. 18), 5. 56 Vgl. dazu Balogh (wie Anm. 43), 10–44, hier 24 f. 57 Vgl. dazu z. B. Röder (wie Anm. 6), 40–42. 58 TMÖL (wie Anm. 18), 1. 59 Ebd. 60 Ebd., 4. 61 Alle Zitate ebd., 7 f.
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„als Ihre gehorsamen Untertanen […], die immer darnach streben und trachten werden, nicht nur die Pflichten ihrer hohen Herrschafft gegenüber zu vollbringen und zu tun, sondern wir werden auch alles daran gelegen sein lassen, den Wert und den Ruf der Wirtschaft so zu heben, wie es nur ein Kulturvolk heben kann […]“62.
Als wesentlichen Punkt in seiner Rede wie in der Intention des Stückes überhaupt wird der Wille betont, Ungarn nicht nur in ökonomischer Hinsicht dienlich zu sein, sondern das Land als Sprachgemeinschaft und in aller Loyalität als neues Heimatland anzunehmen: „Auch wollen wir unser Vaterland, das uns jetzt als seine Kinder angenommen, ebenso treu und innig lieben, mit der Zeit seine Sprache lernen und alles so zu seinem Wohle thun, wie wir es einst für unser deutsches Vaterland thaten.“63 Das neue Vaterland, „das schöne Ungarland“,64 lässt er mit den anderen Kolonisten gemeinsam hochleben. Die hier konsequenterweise sehr positiv gezeichnete Grundherrin Frau von Dőry, die ihrerseits ihren Untertanen das Versprechen einer „gerechte[n] und gütige[n]“65 Herrschaft gibt, lobt stellvertretend für alle Siedler den Pfarrer mit den Worten: „Es freut mich, […] das Sie alle Kulturfaktoren mit sich gebracht haben.“66 Mit diesem Begriff „Kulturfaktoren“ bezieht sie sich auf Personen wie die des Richters, des Lehrers und des Arztes und meint darin verkörperte kulturelle Bereiche wie Recht, Wissenschaft, „Religion und Patriotismus“67, Musik und Medizin, wie im Gespräch deutlich wird. Und sie empfiehlt: „Trachten Sie auch die mitgebrachte Kultur nicht nur zu bewahren, sondern dieselbe fernerhin zu heben und weiter zu bilden.“68 „Es ist unser innigster Wunsch“69, bestätigt der Arzt und besiegelt damit das enthusiastische Einvernehmen zwischen Herrin und Untertanen. Der Kultur-Begriff ist im Stück also von zentraler Bedeutung. Kultur meint besonders im ersten Bild die Kompetenz im je eigenen Bereich, in diesem Falle der Landwirtschaft, also das Wissen über die geeignetsten Formen der Bearbeitung des Landes. Der Terminus wird demnach zunächst in seinem ursprünglichsten Sinne, hergeleitet von lateinisch „cultura“, für Landbau und Bodenbewirtschaftung verwendet, dann aber auch in einer weiterentwickelten, von Samuel Pufendorf im 17. Jahrhundert eingebrachten Bedeutung als „normativer Gegenbegriff zu Naturzustand und Barbarei“, als „Seinsform, die sich über den Naturzustand erhebt“.70 Die besondere Qualifikation der deutschen Siedler und ihre Leistung, eine angeblich wüste und menschenleere Gegend in eine blühende Kulturlandschaft verwandelt zu haben, stellt einen zentralen Faktor in deren Selbstbild dar.71 Insbesondere in Quel62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Ebd. Ebd., 8. Ebd. Ebd. Ebd., 9. Ebd. Ebd. Ebd. Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften. Hg. v. Ansgar Nünning. Stuttgart – Weimar 2005 (Sammlung Metzler 351), 106. Vgl. dazu Seewann (wie Anm. 4), 184–186.
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len aus den dreißiger und vierziger Jahren findet sich diese Darstellung,72 sie geht aber, so Seewann, „auf eine ältere historiographische Tradition zurück“73. Neuere Forschungsbeiträge relativieren dieses Bild einer nach den Türkenkriegen erfolgten ‚Kulturschöpfung aus dem Nichts‘ und der „‚Kulturträger‘-Mission“74 der Deutschen und sehen deren „größte Leistung in der erfolgreichen ökonomischen und sozialen Anpassung an die für sie völlig neuen Verhältnisse“75. Die Formulierung des Lehrers „auch sonst schon kulturell etwas fortgeschritten“ verweist auf weitere Komponenten des Kulturbegriffs, der im ganzen Text immer wieder betont wird. So wird etwa der Plan, sich der Grundfrau vorzustellen, damit begründet, man müsse doch der neuen Herrschaft zeigen, das man ein „Kulturvolk“ sei. Kultiviertes Verhalten bedeutet hier also einerseits das Beherrschen bestimmter Umgangs- und Höflichkeitsformen, andererseits aber auch – und wichtiger – das Bekunden von Loyalität der neuen Herrschaft, dem neuen Staat, der neuen Heimat gegenüber. Dies ist es auch, was der Pfarrer in seiner Ansprache vor der Grundfrau verspricht. Der im Stück vertretene Kulturbegriff macht daher eine gewisse Gratwanderung der Identitätsfindung deutlich: Zunächst bezieht sich der Begriff auf die ‚eigene‘ ursprüngliche, also deutsche Kultur, der die verschiedenen genannten Aspekte wie Tugenden, Umgangsformen, Loyalität und Treue zugeordnet werden. Diese Kultur wird beibehalten beziehungsweise gerade dann explizit hervorgekehrt, wenn man seine ursprüngliche Heimat als das Territorium, von dem diese Kultur stammt, verlässt, wenn man also auswandert wie die Dorfgemeinschaft in dem Stück. Eine Kultur der Loyalität und Treue gegenüber der Herrschaft bedeutet dann aber auch, wie etwa der Pfarrer betont, eine Loyalität der neuen Herrschaft, dem neuen Land gegenüber. Die eigene Kultur und damit auch die eigene Identität, die mit dieser verbunden ist, bestehen also darin, sich den Gegebenheiten und Umständen möglichst sinnvoll anzupassen, sich in das Neue einzufügen, ohne jedoch das Eigene gänzlich zu vergessen. Was Kircz hier im Kleinen propagiert, ist also gewissermaßen eine ‚Kultur der Akkulturation‘. Das Eigene, die eigene Kultur und Identität erscheinen dabei vielleicht ein wenig paradox, es ist aber der Versuch, mit einer per definitionem paradoxen Situation und ‚Zumutung‘ umzugehen. Notwendig ist die Situation, das Eigene – den eigenen Raum, die Familie, die Sprache etc. – aufzugeben und in ein anderes, fremdes Land zu gehen, eine mit außerordentlichen Schwierigkeiten verbundene Gratwanderung zwischen dem Eigenen und dem Fremden und ein Balanceakt von Abgrenzung und Assimilation, in welchem eine neue Identität, ein neues Selbstbild entworfen werden muss. Kircz versucht mit seinem Identitätskonzept eine solche Gratwanderung zu schaffen unter der Prämisse, die den Deutschen eigene Kultur ermögliche es gerade, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Treue und Loyalität als Werte an sich, Fleiß und Wissen werden in seinem Stück als ‚deutsche‘ Werte postuliert, 72 73 74 75
Vgl. ebd., 185. Ebd., 192, Fußnote 6. Ebd., 185. Ebd., 186.
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die dem neuen Vaterland zur Verfügung gestellt werden. So können das Alte und das Neue miteinander vereinbart werden und zu der neuen Identität als ‚deutsche Ungarn‘ verschmelzen. Dieses Konzept und die Hoffnung auf dessen Gelingen hätten die ersten Einwanderer verkörpert, so legt es Kircz mit seinem GründermythosSchauspiel nahe, und er weckt damit bei seinen Zeitgenossen die aktive Erinnerung daran und idealiter den Willen, sich mit den Vorfahren und ihrer Haltung zu identifizieren, also die eigene Identität daran auszurichten. 3. IM VERGLEICH: KARL VON MÖLLER, „SCHWABEN“ Eine präzisere Einschätzung der Auffassung, die in Stefan Kircz’ Volksstück „Die Einwanderer von Tevel“ zum Ausdruck kommt, gewinnt man, wenn man einen anderen Text aus derselben Zeit und mit ähnlichem Thema vergleichend betrachtet. Hier bietet sich Karl von Möllers „Schwaben“ an. Wie Kircz’ Stück wurde es 1922 publiziert und wie dieses rekurriert das „Drama in einem Aufzuge aus der Deutschbanater Frühzeit“76 auf die Situation der ersten Einwanderer im Banat: Möller verfasste den Einakter anlässlich des 200. Jubiläums deutscher Ansiedlung in Temeswar. Die hier deutlich werdende Bewertung der deutschen Kolonisation, die Perspektive auf Geschichte und Identität der Ungarndeutschen bringt Möllers nationalistische Gesinnung zum Ausdruck, für die dieser nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Abgeordneter im ungarischen Parlament und als Journalist kämpfte.77 Seine Haltung und wie er diese in seinem Stück verarbeitet, steht der von Kircz deutlich entgegen, was im Folgenden gezeigt werden soll. Auch Möller bezieht sich zunächst auf das Klischee der deutschen Einwanderer als ‚Kulturträger‘; gleich die erste Regieanweisung zum „Ort der Handlung“ beschreibt diesen als „Wüstland, das unter deutscher Hand aufzublühen“ beginne und in welchem es außer den „kolonisierenden Schwaben […] nur aus der Türkenzeit zurückgebliebene tatarische Horden und Zigeuner“ gebe.78 Im zentralen Konflikt von Möllers Einakter stehen sich im Wesentlichen die Figur Schiller und sein Vater, der „alte Schiller“, gegenüber. Ersterer trägt sich mit dem Gedanken, das Banat wieder zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren. Die Gründe für diese Überlegungen liegen zum einen in den Konflikten und Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe der deutschen Siedler,79 zum anderen in den Problemen, denen die Siedler in der Anfangszeit im Land selbst begegneten. Schiller beschreibt das Banat mit folgenden Worten: „Des Teufels ist es! Fieber hockt auf dem Weidenstrauch! / Die Pest kauert im Moor! / Der Typhus am Tor. / […] / [U]nd die Tataren
76 77 78 79
Möller, Karl von: Schwaben. Drama in einem Aufzuge aus der Deutschbanater Frühzeit. Temesvar 1922, Titel. Zu Karl von Möller vgl. auch den Beitrag von Ingomar Senz in diesem Band; zu biographischen Angaben vgl. etwa http://www.deutsche-biographie.de/sfz63979.html (16.08.2011). Alle Zitate Möller (wie Anm. 76), 7. Vgl. z. B. ebd., 11.
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lauern auf der Heide.“80 Diesen todbringenden Umständen sind bereits drei Kinder zum Opfer gefallen, deren Grabkreuze auf der Bühne zu sehen sind,81 und Schiller fürchtet sowohl um sein jüngstes Kind, welches gerade zur Welt kommen soll, als auch um seine Frau. Schillers Vater wird ebenfalls Opfer der beschriebenen Widrigkeiten des Banats: Verwundet wird er von drei Bauern in die Stube getragen, die berichten, dass der alte Mann zunächst von einem Fieberanfall heimgesucht und dann von „tatarische[n] Hunde[n]“ überfallen worden sei, die den hilflos Daliegenden „nacktplündern“ wollten.82 Er, der am Ende des Stückes seinen Verletzungen erliegt, ist es jedoch, der seinen Sohn noch zu überzeugen versucht, seine Rückwanderungspläne aufzugeben und im Banat zu bleiben. Die Gründe, die er anführt, beziehen sich zunächst auf die Lebenssituation in der alten Heimat, in welcher man unter der Despotie der kleinstaatlichen Fürsten zu leiden hatte, von ihnen abhängig war und Hunger litt;83 im Banat dagegen sei man „Soldat der eigenen Scholle“84, also selbst Grundbesitzer. Auf den Ausruf seines Sohnes „In dieses Land da! Ist’s schön? / […] / Deutschland!“ antwortet der Vater energisch: „Da ist Deutschland! Ob schön, was tut’s?! / Gut ist das Feld! Und unser ist’s!“85 Bei seiner Argumentation für das Ausharren im Land ist neben der Betonung des eigenen und freien Grundbesitzes ein weiterer Aspekt bedeutsam, insbesondere im Vergleich zu dem Stück „Die Einwanderer von Tevel“: Für den alten Schiller ist das neu zu besiedelnde Land, das Banat, ganz selbstverständlich ein Teil Deutschlands. Der Name Ungarns findet anders als bei Kircz im ganzen Stück kein einziges Mal Erwähnung, ebenso wenig das Thema Sprache; bereits hier lebende Menschen werden etwa mit dem Ausdruck „Türkengelichter“86 oder „türkische[…] Schufte[… ]“87 gleichsam als verbrecherische Wilde ohne jedes Recht auf das Land abgetan. Die deutschen Siedler in Möllers Stück betrachten sich daher als ausschließlich dem Kaiser verpflichtet und untertan, auf dessen Ruf hin88 sie ins Land gekommen seien, sowie Gott gegenüber, der „das heilige Land ihres Fleißes / […] in treue, deutsche Hand / gegeben“89 habe, so die „alte Mutter“ in den Schlussworten des Stücks. Von einer Identifikation mit dem neuen Land, wie sie Kircz propagiert, kann hier nicht die Rede sein. Dies kommt besonders deutlich im Dialog des alten Schiller mit dem „Sensenmann“ zum Ausdruck. Auf die prüfenden Fragen des Letzteren hin betont der alte, sterbende Mann wiederum, dass es sich hier um „[d]eutsches Land“90 handle und er sich als Deutscher in seiner Haut, der er treu 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90
Ebd., 18. Vgl. ebd., 7. Beide Zitate ebd., 14. Vgl. ebd., 16 u. 18. Ebd., 18; Hervorhebungen hier und im Folgenden im Original gesperrt. Beide Zitate ebd., 17. Ebd., 11. Ebd., 18. „Als der Kaiser mich gerufen / hatte […]“, formuliert es der alte Schiller ebd., 16. Ebd., 29. Ebd., 22.
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bleibe, sehr wohl fühle.91 Gegen die nachbohrende Frage des Sensenmannes „Liebäugeltest nie mit fremden Metzchen?“ verwahrt er sich mit einem empörten „Pfui Teufel!“.92 Diese Haltung steht der in Kircz’ Stück zum Ausdruck gebrachten diametral gegenüber: In „Die Einwanderer von Tevel“ wird, wie gezeigt werden konnte, die Idee einer Identität aufgebracht, welche sich gerade nicht ausschließlich an einer ethnischen Zugehörigkeit und Herkunft orientiert, sondern auch die für die ersten Siedler neuen sprachlichen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu integrieren sucht. In Möllers „Schwaben“ dagegen wird eine nationalistische Haltung manifest: Im Stück wird das Banat sprachlich und faktisch schlichtweg ‚einverleibt‘, nichtdeutsche Identitäten werden, wenn sie überhaupt Erwähnung finden, abgewertet und eine andere Zugehörigkeit als die zu Deutschland wird für einen selbst geradezu als teuflische Sünde betrachtet. Bei Kircz bezieht sich der Begriff der Kultur zwar auch auf die agrarische Nutzbarmachung des Bodens in den Siedlungsgebieten, jedoch auch auf die Fähigkeit einer neuen und an die Umstände angepassten Identitätsfindung. ‚Deutsche‘ Kultur und Kultiviertheit hat also gerade zu tun mit Flexibilität und Modifikation. Genau das Gegenteil bei Möller: Ganz im Sinne der nationalistischen und nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie und deren romantisierender Verklärung alles Bäuerlichen ist das Verständnis des Deutschen hier sehr stark auf das zu besiedelnde Land bezogen. „Treu der Scholle sein, / ich mein, / das ist deutsch“,93 so formuliert es der sterbende Schiller dem Sensenmann gegenüber. Die Kultivierung des Landes – „Unterm Moore stund es. / Heut ist es festes Kornland!“94 – erfolge, so der alte Bauer, explizit für Deutschland: „Deutschland helfen, das sollen wir hier! / […] / Deutsche Tat / ist’s, an der auch die Heimat noch Freude hat!“95 Wie Kircz’ Stück so hat auch Möllers Einakter einen geradezu ‚visionären‘ Schluss. Der junge Schiller berichtet von einem Traum, in welchem er aus „hunderte[n] Menschenknochen“ einen Baum emporwachsen sieht, „der das Banater Land weit überschattete“ und „anfing, Männer und Frauen zu speien / und blondlockige Kinder. / Die hüpften ins goldene Land hinein. / Bald war es übersät von ihnen.“96 Und Schiller wird klar: „Deutsche hatte der Baum gezeugt –, / und viele hatten wir abgezweigt, mein Weib und ich: / sie trugen unsere Züge.“97 Gemäß dem bei Banater Schwaben überlieferten Sprichwort „Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot“ erkennt er, dessen Vater mittlerweile seinen Verletzungen erlegen, der jedoch auch wieder selbst Vater eines gesunden Sohnes geworden ist, seine Aufgabe, im Banat zu bleiben und dieses zum Lebensraum98 künftiger deutscher Generationen zu machen. 91 92 93 94 95 96 97 98
Vgl. ebd., 23. Beide Zitate ebd., 23. Ebd., 22. Ebd., 21. Ebd., 19. Alle Zitate ebd., 28. Ebd., 28 f. Auch dieser Begriff gewann im Kontext kolonialistischer, nationalistischer und nationalsozialistischer Diskurse an Bedeutung und wird daher hier ganz bewusst verwendet.
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Aus der literarischen Erinnerung an die erste Siedlungszeit und der dramatischen Vergegenwärtigung der eigenen Geschichte ziehen beide Autoren, wie deutlich wurde, in Bezug auf die Frage der Identität gegensätzliche Schlüsse: Dem bei Möller propagierten deutschnationalen Selbstverständnis, das mit einer gegenüber anderen Ethnien chauvinistischen Haltung verbunden ist, steht bei Kircz, mit seinen eigenen Worten gesprochen, ein aus heutiger Sicht „kulturell etwas fortgeschritteneres“ Identitätskonzept gegenüber. 4. POSTKOLONIALE FRAGEN AVANT LA LETTRE? Ein Verweis auf Postkolonialismus und die postkolonialen Literaturen kann bei der Analyse der vorliegenden Stücke zwar auch im Hinblick auf einen Kolonialisierungsvorgang und die erinnernde Bezugnahme darauf erfolgen, vor allem aber hinsichtlich ähnlicher Fragestellungen: „Postkoloniale Literaturen beschäftigen sich […] mit Aspekten wie […] Identitäten (dem prozessualen Charakter von Identität), Differenz und dislocation (dem Aspekt der Entwurzelung und dem Aufbrechen von Sicherheiten), Exil, Diaspora, Migrationsprozessen, Transformation, Hybridität, Inkommensurabilität, dem Recht zu politischer Autonomie, Nationalismus, Widerstand, Neu-Konstruktion, Subversion, Sprachvariation, der Frage nach Subjektivität (Prozess der Subjektformation), dem Zusammenprall von Kulturen, der Dekonstruktion von Binärismen […] und mit der Heterogenität des Kolonialismus […].“99
Der Diskurs über Entwürfe von doppelter, gespaltener, Mehrfach-Identität, über Assimilation und Abgrenzung sowie die Rolle der Sprache dabei sind von höchster Aktualität.100 Gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Diskurse etwa der Postcolonial Studies und der Kulturwissenschaften befassen sich heute und in den jüngst vergangenen Jahrzehnten mit den Themen Migration, Identität und Sprache. Das auch bei Kircz – natürlich in aller Schlichtheit – reflektierte Thema der Identität unter Migrationsbedingungen, der sich notwendig in einem „Dazwischen“ formierenden Identität, wird auch mit dem Thema der Identität des heutigen, des modernen beziehungsweise postmodernen Menschen generell in Bezug gesetzt. So formuliert Iain Chambers: „Das Gefühl des Migranten, wurzellos zu sein, zwischen Welten, zwischen einer verlorenen Vergangenheit und einer ausgegrenzten Gegenwart zu leben, ist möglicherweise die passendste Metapher für diesen (post)moder99 Sandten, Cecile: „How to talk ‚postcolonial‘“: Eine kritische Bestandsaufnahme der Leitbegriffe aus dem Feld der postkolonialen Theoriebildung. In: Zwischen Kontakt und Konflikt: Perspektiven der Postkolonialismus-Forschung. Hg. v. Gisela Febel u. a. Trier 2006, 19–37, hier 23; Hervorhebung im Original. 100 Auf die Bezüge und Parallelen zwischen Entwicklungen und Prozessen, die zur Ausprägung der als „Moderne“ bezeichneten Epoche führten, bzw. der Moderne um 1900 speziell in Zentraleuropa einerseits sowie gegenwärtigen Phänomenen einer „postmodernen“ Epoche andererseits verweisen die Beiträge des Sammelbandes Kultur – Identität – Differenz (wie Anm. 29). So stellen die Herausgeber in der Einleitung fest: „In der ‚hybriden Kultur‘ Wiens und im ‚komplexen kulturellen System‘ Zentraleuropas lassen sich in der Tat schon in den Jahrzehnten um 1900 Prozesse nachweisen, die um 2000 von globaler Relevanz geworden sind.“ Ebd., 8.
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nen Zustand.“101 Die „Analyse von Pluralitäten, von Heterogenitäten und Differenzen in der Vergangenheit“ sei damit „umso gerechtfertigter“, so Moritz Csáky unter anderem, weil „im jungen 21. Jahrhundert die Erfahrung einer pluralistischen Lebenswelt zu einem ‚performativen‘ Kriterium für die Ausbildung individueller und kollektiver Identitäten geworden ist: Migrationen, transnationale, verschränkte Identitäten, soziale und kulturelle Verflechtungen (Hybridität) und Abgrenzungen sind in einer globalisierten Lebenswelt unhintergehbare Tatsachen.“102
Die Erfahrung des Verlustes fester Orte und der prekären Existenz als Unterwegssein, zwischen Welten, ist einerseits – für den ‚echten‘ Migranten wie für den modernen und postmodernen Menschen – verunsichernd, eine Erschütterung der eigenen Identität, andererseits aber auch als Chance zu begreifen: für eine größere Offenheit, ein verändertes Wahrnehmen des Anderen, intensivere Reflexion über das Eigene und seine Grenzen. „In der postkolonialen Phase der Moderne“, schreibt Iain Chambers, „werden wir […] gleichzeitig auf unsere historische Besonderheit und mögliche Gemeinschaftlichkeit verwiesen.“103 Ein solcher doppelter Verweis findet sich auch bei Kircz. Dem Zuschauer wird die eigene „historische Besonderheit“, die eigene Geschichte und die von Familie und Gemeinschaft vor Augen geführt und die Besinnung darauf als wesentlich zur Stärkung der eigenen Identität gezeigt. Ihm wird aber zugleich auch die Gemeinschaftlichkeit mit dem scheinbar gänzlich ‚Anderen‘, dem Umgebenden, von dem man ja auch Teil ist, aufgezeigt sowie die Notwendigkeit einer Öffnung und eines Austauschs, insbesondere durch die mit dem Anderen geteilte und damit gemeinsame Sprache. Kircz geht es also hinsichtlich der kollektiven Identität „weniger um Ausschluß des nicht Dazugehörigen […], sondern vielmehr um die Produktivität interner Differenzen“104. In einem ganz bescheidenen Ansatz und trotz der auch bei ihm teils deutlich anklingenden höheren Bewertung der ‚deutschen Kultur‘ findet sich hier die postmoderne Idee einer „Hybridität“, die sich „entschieden gegen Vorstellungen einer autochthonen und homogenen nationalen Kultur“105 wendet. „Migration im Gedächtnis“ zu behalten kann also meinen: statt einer diffusen und konfliktträchtigen „Weder-noch-Identität“ zumindest den Versuch einer bewussten Doppel- (oder Mehrfach-) Identität.106 Es kann meinen: sich nach wie vor auf dem 101 Chambers, Iain: Migration, Kultur, Identität. Tübingen 1996 (Stauffenburg discussion 3), 35. 102 Csáky, Moritz u. a.: Pluralitäten, Heterogenitäten, Differenzen. Zentraleuropas Paradigmen für die Moderne. In: Kultur – Identität – Differenz (wie Anm. 29), 13–43, hier 24. 103 Chambers (wie Anm. 101), 18. 104 Bronfen, Elisabeth/Marius, Benjamin: Hybride Kulturen. Einleitung zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Hg. v. dens. u. Therese Steffen. Tübingen 1997 (Stauffenburg Discussion, Studien zur Inter- und Multikultur 4), 1–29, hier 3. 105 Ebd., 17; Hervorhebung im Original. Vgl. auch Sandten (wie Anm. 99), 19–37, hier 30–32. 106 Vgl. dazu Gerner, Zsuzsanna: Zu Identitätskonzepten der Ungarndeutschen um die Jahrhundertwende: Abstammung – Sprache – Kultur. In: Literatur – Literaturvermittlung – Identität (wie Anm. 43), 50–68, hier 66. – Eine sozialwissenschaftliche Analyse liefert Bindorffer, Györgyi: „Wir Schwaben waren immer gute Ungarn“. Budapest 2005 (Ungarndeutsches Ar-
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Weg zu befinden, auch nach Generationen noch in gewissem Sinne ‚Auswanderer‘ zu sein, aber dies auch als Chance für die eigene Identität zu begreifen. Um nochmals Iain Chambers zu zitieren: „So bildet sich Identität, während wir unterwegs sind.“107
chiv 8); am Beispiel des Dorfes Bogdan/Dunabogdány untersucht Bindorffer die Entwicklung und Formierung der kollektiven Identität der Ungarndeutschen. Die „Struktur der doppelten Identität“ (ebd., 142) spielt dabei eine zentrale Rolle. 107 Chambers (wie Anm. 101), 32.
GESCHICHTSUNTERRICHT UND „IDENTITÄTSPOLITIK“ Grundschulbücher der Deutschen in Ungarn von 1868 bis heute Ágnes Klein Der höchst mehrdeutige Begriff der Identität wird heute in der Forschung vielfach diskutiert und unterschiedlich definiert, so auch die ethnische Identität.1 Hier soll es allerdings nicht um einen Beitrag zu den Diskussionen gehen, sondern um die „Identitätspolitik“, das heißt die Bestrebung der Staaten seit dem 19. Jahrhundert, seine Bürger nach ethnischer Zugehörigkeit zu klassifizieren und vor allem zu einer einheitlichen Identität im Namen der Staatsloyalität zu bringen. Der moderne Staat entwickelte zur Erlangung dieses Ziels mehrere Methoden und Mittel. Eines der wichtigsten Mittel war die Schule. Bei der Einführung des für alle Kinder verpflichtenden Grundschulunterrichts wurden deshalb jene Fächer bestimmt, die aus Sicht des Nationalstaates grundlegend schienen. Das waren vor allem die Staatssprache sowie die Nationalliteratur und -geschichte, denn diese Fächer wurden schon im 19. Jahrhundert als zweckmäßig betrachtet, die Selbst- und Fremdbestimmungen zu schaffen, generationsübergreifende Verständigung zu ermöglichen2 und somit auch dazu beizutragen, nationale und ethnische Gruppen zu bilden und aufrecht zu erhalten.3 Seit Langem wird in der Forschung auch darüber kontrovers diskutiert, ob in der ethnischen Identität der Sprache die wichtigste Rolle zukommt oder nicht.4 Heute scheint ein Konsens darüber zu bestehen, dass die Sprache bei der Überlieferung kultureller Werte und des kulturellen Wissens nur ein Träger ist. Aus diesem Grund legte der Staat seit dem 19. Jahrhundert viel Wert darauf, die Sprache des Unterrichts vorzuschreiben, und andererseits versuchten ethnische Gruppen immer wieder hartnäckig, dagegen anzukämpfen. Ein weiteres wichtiges Element des kulturellen Wissens bildet die kollektive Erinnerung, ohne die auch keine nationale und ethnische Gruppe existieren kann, beinhaltet sie doch die gemeinsame historische Überlieferung und Tradition und das (von Historikern) kodifizierte kollektive 1 2 3 4
Barth, Fredrik: Ethnic groups and boundaries. In: Ethnicity. Hg. v. John Hutchinson u. Anthony D. Smith. Oxford 1996, 75–82. Berry, John W. u. a.: Cross-cultural psychology. Research and applications. Cambridge 1992, 30. Radó, Péter: A nemzeti kisebbségek nyilvános nyelvhasználata Magyarországon [Der öffentliche Sprachgebrauch der ethnischen Minderheiten in Ungarn]. In: Regio 2/2 (1992), 135–145. Language, ethnicity and intergroup relations. Hg. v. Giles Howard. London u. a. 1977 (European monographs in social psychology 13), 25.
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historische Wissen.5 Deshalb werden die Grundlagen historischen Wissens durch das staatlich kanonisierte Schullehrprogramm vermittelt und deshalb verlangen die ethnischen Gruppen, neben der Welt- und Nationalgeschichte auch die eigene Geschichte unterrichten zu dürfen.6 In diesem Beitrag soll die Entwicklung des Geschichtsunterrichts in der Grundschule (also 1. bis 8. Klasse) seit 1868 anhand der Geschichtsbücher der Deutschen auf dem Gebiet des heutigen Ungarn skizziert werden. Bei den Beispielen wird das Thema der Einwanderung und Ansiedlung der Kolonisten herausgegriffen, auf welchem das Selbstverständnis einer durch Migration entstandenen ethnischen Gruppe größtenteils basiert. 1. UNTERSUCHUNGSKRITERIEN DER SCHULBÜCHER Lehrbücher – „in sich geschlossene Druckwerke mit fest umrissenen didaktischen und methodischen Konzeptionen“7 – haben eine Mittlerrolle inne zwischen Lehrplan, Methode und Unterrichtspraxis8 und sind eingebunden in ein komplexes Beziehungsgefüge zwischen Gesellschaft, Institutionen, (Fach-)Pädagogik und Psychologie. Insofern sind Schulbücher auch immer Zeitdokumente eines politischen Kurses und einer Gesellschaft.9 Laut François Richaudeau sollten Lehrbücher immer auf Kommunikativität, Inhalt, die angewandten Methoden sowie Ökonomität geprüft werden.10 Bei Schulbüchern ethnischer Minderheiten müssen darüber hinaus weitere Gesichtspunkte berücksichtigt werden: Im Minderheitenunterricht kommt der Sprachpflege eine noch wichtigere Rolle zu als im allgemeinen Schulunterricht, denn Sprache dient auch immer dem Erwerb von spezifischen Kenntnissen, Fertigkeiten und Einstellungen.11 Für die Kinder einer Minderheit ist es wichtig, eine besondere 5
Vgl. aus der reichen Forschungsliteratur stellvertretend Assmann, Aleida: Das Gedächtnis der Orte. In: Orte der Erinnerung. Hg. v. Ulrich Borsdorf u. Heinrich Theodor Grutter. Frankfurt – New York 1999, 59–77. – Gyáni, Gábor: Az elveszíthető múlt. A tapasztalat mint emlékezet és történelem [Die verlierbare Vergangenheit. Die Erfahrung als Erinnerung und Geschichte]. Budapest 2010, 85–102. 6 Szabolcs, Ottó: A nemzeti tudat alakulása és az iskolai történelemtanítás [Die Entwicklung des Nationalbewusstseins und der Geschichtsunterricht]. In: Nemzeti – nemzetiségi tudat. Szigetvári konferenciák. 1984–1986. Hg. v. Imre Polányi. Pécs 1987, 57–68. 7 Neuner, Gerhard: Lehrwerke. In: Handbuch Fremdsprachenunterricht. Hg. v. Karl-Richard Bausch, Herbert Christ u. Hans-Jürgen Krumm. 3., überarb. u. erw. Aufl. [11989]. Tübingen – Basel 1995, 292. 8 Pelz, Manfred: Pragmatik und Lernzielbestimmung im Fremdsprachenunterricht. Heidelberg 1977. 9 Neuner (wie Anm. 7), 293. 10 Richaudeau, François: Conception et production des manuels scolaires. Guides pratiques. Paris 1979. 11 Vámos, Ágnes: Magyar és nemzetiségi tannyelvek. (XIX. század) [Ungarische und Nationalitätenlehrpläne]. In: Iskolakultúra 4 (1994), 2–7. – Szépe, György: Nyelvpolitika: múlt és jövő [Sprachpolitik: Vergangenheit und Zukunft]. Pécs 2001, 65.
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Haltung, wie beispielsweise die positive Einstellung gegenüber Mehrheit und Minderheit, zu entwickeln. Unerlässlich ist dabei die Förderung der Kommunikationsund Kooperationsfertigkeiten. Die Lehrbücher für Minderheiten sollten dementsprechend immer in der Sprache der jeweiligen Minorität geschrieben werden. Doch darüber hinaus sollten sie auch immer die wichtigsten Lerninhalte über die Minderheitengruppe vermitteln, um Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen entwickeln helfen zu können. Wie werden diese die Minderheit betreffenden Inhalte in den Lehrbüchern aber verarbeitet? Folgende Typen von Lehrbüchern für Minderheiten können unter dem Aspekt der Aufbereitung von minderheitenspezifischen Lehrstoffen benannt werden: Erstens, der minderheitenspezifische Unterrichtsstoff wird im Buch nicht behandelt und findet überhaupt keine Erwähnung; zweitens, der spezifische Unterrichtsstoff erscheint beiläufig, zentral behandelt werden Aspekte der dominanten Bevölkerungsgruppe; drittens, die minderheitenbezogenen Themen erscheinen nicht als integrierte Bestandteile, sondern als separate Einheiten im Lehrbuch; viertens, die Themen werden integriert behandelt; fünftens, die Schüler werden durch entsprechende Aufgabenstellung zur aktiven Mitwirkung bei der Aufbereitung des Lehrstoffes über die Minderheit angeregt, somit können entsprechende Kompetenzen und Haltungen entwickelt werden.12 Welcher Typus in den Lehrbüchern angewendet wird, sagt viel über die Einstellung einer Gesellschaft zu den Minderheiten aus. 2. GESCHICHTSLEHRBÜCHER FÜR DIE DEUTSCHEN IN UNGARN 2.1. In der Österreichisch-Ungarischen Monarchie Die Deutschen in Ungarn sind zu unterschiedlichen Zeiten aus verschiedenen Teilen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation eingewandert wie beispielsweise die Siebenbürger und Zipser Sachsen im Mittelalter oder die „Schwaben“ genannten Deutschen im 18. Jahrhundert. Diese Gruppen verfolgten in der neuen Heimat eigene, voneinander getrennte Wege auf der Grundlage unterschiedlicher Privilegien und entwickelten ein jeweils unterschiedliches historisches Bewusstsein mit eigenspezifischem dialektalem Sprachgebrauch. Gemeinsam war allerdings allen, dass sie die Aus- beziehungsweise Einwanderung und Ansiedlung in ihrer historischen Erinnerung bewahrten. Doch während vor allem die bis 1876 über Verwaltungsautonomie verfügenden Siebenbürger Sachsen ihre Gründungsgeschichte – die Einwanderung unter König Géza II. und die von König Andreas II. verliehenen Privilegien – und ihre historische Entwicklung auch in den Schulbüchern festhalten und weitergeben konnten, waren die mehrheitlich zum Bauern-
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Banks, James A.: Education and cultural diversity in the United States. In: Education for cultural diversity. Hg. v. Alec Fyfe u. Peter Figueroa. London – New York 1993, 49–68, hier 61.
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stand gehörenden Einwanderer des 18. Jahrhunderts zunächst vielfach auf das vorhandene Unterrichtssystem angewiesen.13 Allerdings schenkte man dem Volksunterricht im Königreich Ungarn im Allgemeinen nur wenig Aufmerksamkeit. So schrieb Kameralrat Anton von Cothmann über die Batschka 1763: „Ich habe den großen Mangel an Lehrern auch im Batscher Komitat beobachtet. Die Herren Pfarrer nehmen sich das Recht, die Lehrer anzustellen und verlangen von ihnen nur, daß sie etwas von Musik verstehen.“14 Trotz der verstärkten Hinwendung zum Volksunterricht durch Maria Theresia ab 177715 und den Plänen des ersten ungarischen Unterrichtsministeriums unter Baron József Eötvös16 1848/49 erfolgte der Durchbruch erst nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich mit dem Volksschulgesetz von 1868. Die Schulpflicht wurde für alle Kinder zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr in den Elementarschulen und zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr in den sogenannten Wiederholungsschulen17 eingeführt. Alle Schulen wurden außerdem unter staatliche Aufsicht gestellt, wobei sich der Einfluss des Staates nur auf die Kontrolle der allgemeinen Erfordernisse erstreckte, denn etwa 95 % der Schulen waren weiterhin in der Hand der Kirchen18 und Eötvös, zwischen 1868 und 1871 erneut Minister für Unterrichtswesen, setzte auf die konfessionellen Volksschulen.19 Den ethnischen Minderheiten wurde im neuen System kein Recht auf Einrichtung und Aufrechterhaltung eigener Schulen eingeräumt. In dem ebenfalls im Jahre 1868 erlassenen Minderheitengesetz wurde wiederum verordnet, dass allen Kindern der in Ungarn anerkannten Minderheiten der Schulunterricht in ihrer Muttersprache zu erteilen sei. In der Ausarbeitung des Unterrichtsgesetzes hatte Eötvös das Miteinander von Mehrheit und Minderheit als
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Kurucz, Rózsa: Német családok betelepülése és életvitele Tolna megyében a 18. században [Die Ansiedlung und Lebensweise deutscher Familien im Komitat Tolnau im 18. Jahrhundert]. In: Német nemzetiség Tolna megyében. Hg. v. ders. u. a. Szekszárd 2010 (Gyökerek és hatások 1), 43–63, hier 54. Zit. nach Berauer, Josef: Geschichte des Volksschulwesens der Erzdiözese Kalotscha-Batsch von den Anfängen bis 1896. München 1983, 14. – Zur Lage der Lehrer und zum Niveau des Unterrichts bei den „Schwaben“ vgl. auch Senz, Ingomar: Schule und Bildung bei den Donauschwaben von 1806 bis 1918. In: Südostdeutsches Archiv 40/41 (1997/1998), 58–78. Komlósi, Sándor: Schule und Erziehung in Ungarn (1750–1825). Zwischen Systemerhalt und Modernisierung. In: Revolution des Wissens? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (1750–1825). Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte. Hg. v. Wolfgang Schmale u. Nan L. Dodde. Bochum 1991, 255–293. Zu Eötvös’ Tätigkeit im Unterrichtswesen vgl. Felkai, László: Eötvös József közoktatásügyi tevékenysége [Volksbildungspolitische Tätigkeit von József Eötvös]. Budapest 1979. Auf die Wiederholungsschulen gingen jene Kinder, die keine weiterführenden Schulen mehr besuchten. Die meisten dieser Schulen, die eigentlich nur einzelne Klassen waren, befanden sich deshalb in den Dörfern und Marktflecken. Senz (wie Anm. 14), 71. Puttkamer, Joachim von: Schulalltag und nationale Integration in Ungarn. Slowaken, Rumänen und Siebenbürger Sachsen in der Auseinandersetzung mit der ungarischen Staatsidee 1867–1914. München 2003 (Südosteuropäische Arbeiten 115), 70–76.
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Ziel vor Augen.20 Im Reformprozess des Unterrichtswesens maß er nicht nur der guten Ausbildung von Lehrern eine herausragende Bedeutung bei, sondern auch den Lehrbüchern. Die Verfasser der Lehrbücher hatten in den fachlichen, pädagogischen und psychologischen Bereichen strengen Kriterien zu folgen. Die Vorschriften dienten einerseits der Qualität, andererseits sollten sie den Zielen des Staates dadurch Genüge tun, dass zum einen die Lehrbücher an staatliche Genehmigung gebunden waren und dass zum anderen die Lehrbücher für die ethnischen Minderheiten auf Ungarisch geschrieben und in die Sprache der Minderheiten übersetzt wurden. 1879 wurde mit dem neuen Lehrplan der Unterricht der ungarischen Sprache als Fach an allen Minderheitenschulen verbindlich eingeführt. Neben der Beherrschung der Staatssprache rückte die patriotische Erziehung und mit ihr die Ideologie des ungarischen Staates nach dem Prinzip „Ein Staat und eine unteilbare politische Nation“ in den Mittelpunkt. So war es nicht weiter verwunderlich, dass über den Geschichtsunterricht, der im Volksschulgesetz von 1868 zum ersten Mal als verbindlich vorgeschrieben wurde, und über die Festlegung und Auswahl der das nationale Bewusstsein beziehungsweise das der Nationalitäten stärkenden Narrative zwischen Mehrheit und Minderheit – vor allem von den rumänischen und serbischen Abgeordneten und Minderheitenvertretern – heftig debattiert wurde.21 In den Schulen wurden ausschließlich ungarische Geschichte und Themen der Weltgeschichte aus ungarischer Perspektive unterrichtet, unter anderem aus dem Lehrbuch von András Vargyas.22 Obwohl die Reformerlasse von Karl VI. (III.), Maria Theresia und Joseph II. in diesem Buch ausführlich erörtert werden, wird die Ansiedlung der Deutschen im 18. Jahrhundert mit keinem Wort erwähnt. Dagegen wird die Landnahme der Ungarn in dem Kapitel „Einwanderung unserer [Hervorhebung von Á. K.] Ahnen: Hunnen – Avaren – Ungarn“ ausführlich behandelt.23 Den ganzen Stoff des Geschichtsunterrichts beherrschten Persönlichkeiten und Ereignisse der ungarischen Geschichte, während die Geschichte der Minderheiten unberücksichtigt blieb.
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Ebd. – Eötvös legte seine Ansichten in einem auch in deutscher Sprache veröffentlichten Werk dar; vgl. Eötvös, József: Der Einfluß der herrschenden Ideen des 19. Jahrhunderts auf den Staat, 2 Bde. Leipzig 1854. Farkas, Mária: Történelemtanítás a népiskolákban a dualizmus kori Magyarországon [Geschichtsunterricht in den Volksschulen zur Zeit des Dualismus in Ungarn]. Budapest 2008, bes. 109–120. Vargyas, András: Geschichte der Ungarn im Zusammenhang mit den namhaften Ereignissen der Weltgeschichte in Zeitbildern. Budapest 1889. – Auch in katholischen Lehrbüchern war dies der Fall; so lasen deutsche Kinder etwa unter dem Titel „Die Vergangenheit unserer Nation“ den Text: „Unsere Vorfahren kamen aus Asien nach Europa, und in unser Vaterland wurden sie von Árpád geführt.“ Schulz, Emerich: Illustriertes Real-Lesebuch für die katholischen Volksschulen in Ungarn. Für den V. und VI. Jahrgang. Budapest 1904, 297. – Suppan, Wilhelm: Erster Unterricht in der ungarischen Geschichte mit der Berücksichtigung der wichtigsten Theile der Weltgeschichte für die V. und VI. Klasse der Volksschulen. Budapest o. J. Vargyas (wie Anm. 22), 22.
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Über den Geschichtsunterricht hinaus wurde im Fach Sprach- und Denkübungen in der 3. und 4. Klasse die Möglichkeit geboten, Gespräche in der Muttersprache über den eigenen Wohnort, die Dorfbewohner und die nähere Heimat zu führen. In den von bekannten Schulbuchautoren zusammengestellten Lesebüchern wurden auch Fragen zur Geschichte und Geographie des Landes behandelt. Lesebücher für die Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache in Ungarn wurden oft mit Bezug auf regionale Gegebenheiten zusammengestellt, wobei allerdings nicht auf Themen wie Ansiedlung und Geschichte der Deutschen in Ungarn eingegangen wurde. So verwendeten die Verfasser des Lesebuchs für die 3. Volksschulklasse auch Werke deutscher Autoren wie etwa Hebel, Schubart oder Hofmann von Fallersleben, doch die Texte, die das eigene Land zum Thema hatten, handelten von den Magyaren und ihren Sagen und Märchen.24 Auch im Lesebuch für das 4. Schuljahr findet sich nur ein kurzer Hinweis auf deutsche Einwanderer in einem Text über die Gründung von Steierdorf im Banat. Hier heißt es: „Da ließen sich denn im Jahre 1773 vierunddreißig aus Steiermark kommende Familien in dieser Wildnis nieder, in der Hoffnung, sich hier durch Holzschneiden und Kohlenbrennen das täglich Brot verdienen zu können.“25 Der neue Lehrplan im Jahr 1908 führte den zweisprachigen Unterricht an den Minderheitenschulen ein. Die Mehrheit der Fächer – Geschichte, Geographie, Mathematik, Staatbürgerliche Rechte und Pflichten – wurde demnach auf Ungarisch unterrichtet, in den übrigen Fächern wie Religion, Musik, Zeichnen, Handarbeit, Sport oder Haushaltsführung blieb die Minderheitensprache die Unterrichtssprache. In den Lehrbüchern, die weiterhin aus dem Ungarischen in die Minderheitensprachen übersetzt wurden, war der Gedanke des Hungarozentrismus leitend. 2.2. In Ungarn zwischen 1918 und 1945 Die Zahl der Deutschen in Ungarn wurde durch den Trianoner Vertrag von 1920 mehr als halbiert, da zuvor ungarische Gebiete nun den Nachbarstaaten zufielen. Die ungarische Regierung setzte ihre Magyarisierungspolitik unter dem TrianonTrauma unverändert fort. Auch die inhaltlichen, institutionellen und organisatorischen Veränderungen des Minderheitenschulsystems ließen die negativen Konsequenzen aus dem Trianoner Vertrag erkennen. So wurde 1923 ein neues System im Minderheitenunterricht eingeführt, dessen Struktur im Grunde genommen bis heute erhalten geblieben ist. Demnach unterschied man drei Schultypen: Beim Typus A, der Volksschule mit Minderheitensprachunterricht, war die Unterrichtssprache Deutsch; beim Typus B erfolgte der Unterricht zweisprachig; beim Typus C wurde die deutsche Muttersprache als ein Fach unterrichtet, und zwar sechs Stunden in der Woche, in den letzten beiden Schuljahren waren es wöchentlich lediglich drei Stun24 25
Szirmai, Josef/Klein, Leopold/Mayer, Adolf: Die Heimat. Deutsches Lesebuch für die Volksschulen Ungarns. Drittes Schuljahr. Budapest 1891. Dies.: Das Vaterland. Deutsches Lesebuch für die Volksschulen Ungarns. Das IV. Schuljahr. Budapest 1896, 100.
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den.26 Etwa 75 % der deutschen Minderheitenschulen gehörten in der Zwischenkriegszeit zum Typus C.27 Der Unterricht in den Volksschulen der deutschen Minderheit war darüber hinaus auch durch die Tatsache erschwert, dass die allermeisten Volksschulen nicht nach Klassen getrennte Dorfschulen waren.28 Gegen den Magyarisierungsdruck auf Staats- und Schulebene wehrte sich der vom einzigen Parlamentsabgeordneten der Minderheiten in Ungarn, Jakob Bleyer, 1924 gegründete „Ungarländische Deutsche Volksbildungsverein“. In seiner „Deklaration des ungarländischen Deutschtums“ prangerte er an, dass es kaum Volksschulen mit Unterrichtssprache Deutsch (Typus A) gebe, die Grundsätze des zweisprachigen Unterrichts nicht eingehalten würden und die Mehrheit der Schulen (Typus C) für den Unterricht der Sprache und der Kultur der deutschen Minderheit ungeeignet sei.29 1925 erschien eine neue Anordnung über den Volksschulunterricht für die Minderheiten,30 in welcher auf die im Friedensvertrag und im ungarischen Minderheitengesetz von 1919 zugesicherten Rechte der Minderheiten, etwa das Recht auf muttersprachlichen Unterricht, hingewiesen wurde. Bezüglich der als national bedeutsam bewerteten Fächer wie Geschichte und Geographie wurde hervorgehoben, dass die beiden Fächer die Geschichte und Kultur der ethnischen Minderheiten zu berücksichtigen hätten. Diese Anordnung bezog sich allerdings nur auf die Unterrichtstypen A und B, nicht aber auf den Typus C, der die Mehrheit der Volksschulen der deutschen Minderheit ausmachte. Dem Geschichtsunterricht kam allerdings auch in den anderen Schultypen eine eher untergeordnete Rolle zu, weil die ab der 5. Volksschulklasse eingeführten Fächer Geschichte und Staatbürgerliche Rechte und Pflichten in den nicht oder nur teilweise nach getrennten Klassen unterrichtenden Volksschulen nur ein bis drei Wochenstunden gelehrt wurden. Deshalb spielte nach wie vor das Fach Sprach- und Denkübungen eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von minderheitenspezifischen Themen. Auch mit der Anfertigung der deutschen Lehrbücher kam man nur langsam voran. Es wurden erst nach und nach neue Bücher für alle drei Schultypen verfasst, 26 27 28
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Klein, Ágnes: Kisebbségi tantervek az alapfokú oktatásban a magyar neveléstörténetben [Lehrpläne der Minderheiten im Elementarunterricht der ungarischen Erziehungsgeschichte]. Diss. Pécs 2003, 95. Tilkovszky, Lóránt: Nemzetiségi politika Magyarországon a 20. században [Nationalitätenpolitik in Ungarn im 20. Jahrhundert]. Debrecen 1998, 46. In ganz Ungarn waren 1925 über 50 % der Volksschulen nicht in Klassen aufgeteilt; vgl. dazu Farkas, Mária: Szemléletformálás és értékközvetítés a népiskolai történelemoktatásban a két világháború között. (Olvasókönyvek tükrében) [Weltanschauungs- und Wertevermittlung im Geschichtsunterricht in den Volksschulen zwischen den beiden Weltkriegen (im Spiegel der Lesebücher)]. In: Filozófia – Művelődés – Történet. Hg. v. Péter Donáth u. ders. Budapest 2001, 117–146, hier 117. Donáth, Péter: Iskola és politika. Az állami német nemzetiségi tanítóképzés magyarországi történetéhez 1919–1944 [Schule und Politik. Zur Geschichte der staatlichen deutschen Lehrerausbildung in Ungarn 1919–1944]. Budapest 1997, 25. – Seide, Gernot: Die Deutschen in Ungarn zwischen den beiden Weltkriegen. In: Ungarn-Jahrbuch 6 (1974/1975), 149–161, hier 152. Hivatalos Közlöny [Amtsblatt] 6 (1925), Verordnung Nr. 210.
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darunter deutsche ABC- und Lesebücher, Bücher für Natur- und Wirtschaftslehre und Bücher über die Geschichte der ungarischen Nation, Bürgerkunde und Geographie. In den ersten zwei Volksschulklassen der Schultypen A und B wurden den Schülern deutsche/schwäbische Spiele, Kinderreime oder Volksbräuche vermittelt, in den Klassen 3 und 4 wurde der Lehrstoff mit Themen wie Volkstracht und Bräuche oder Dialekte ergänzt. Besonders das 1930 erschienene „Deutsche Lesebuch“ für die 5. und 6. Klassen beinhaltete mit Fotografien illustrierte Texte über die einzelnen deutschen Siedlungsgebiete in Ungarn, die Volksbräuche und -trachten, das schwäbische Bauernhaus, über die Situation Ungarns nach der Türkenzeit und die Notwendigkeit der Ansiedlung von deutschen Einwanderern. So wird im „Deutschen Lesebuch für die V–VI. Klasse“ erklärt: „Die neuen Grundbesitzer standen aber alle ohne die notwendigen Arbeitskräfte und notwendigen Gerätschaften da. Für sie bedeutete das Besitztum nur ein totes Kapital. Und nun begann man verschiedene Pläne zu machen, wie man das wiedererworbene Gebiet neubesiedeln könnte. Die ungarische Einwohnerschaft erwies sich zur Bevölkerung dieser großen Gebiete als nicht ausreichend. Da nimmt es also nicht Wunder, wenn die Grundherren Angehörige einer anderen Nationalität, hauptsächlich Deutsche in die entvölkerten Ortschaften ansiedelten. Die ersten Ansiedlungen haben die Grundbesitzer vorgenommen. Später hat aber die großen Ansiedlungen die königliche Kammer geleitet.“31
Wie die hier zitierten Angaben über den Einwanderungsgrund der Deutschen nach Ungarn im 18. Jahrhundert waren auch die anderen Texte knapp und sehr neutral formuliert, aber nach dem neuesten Wissensstand abgefasst. Man liegt sicherlich mit der Vermutung nicht ganz falsch, dass die etwa in den „Deutsch-Ungarischen Heimatsblättern“ veröffentlichten Forschungsergebnisse in die Schulbuchtexte mit eingeflossen sind. In Folge der ständigen Kritik der Vertreter der deutschen Minderheit, aber vor allem der für die Ungarndeutschen in Budapest intervenierenden reichsdeutschen Regierung an dem in der Praxis gar nicht oder nur schlecht funktionierenden Schulsystem sowie in Anbetracht der gewünschten Gebietsrevision der Trianon-Grenzen Ungarns beschloss das Kultusministerium 1935, den Schultypus A abzuschaffen und stattdessen den Typus B, also die zweisprachige Unterrichtsform, auszubauen. Auch wurde versucht, den Schultypus C in den Typus B zu überführen, allerdings mit wenig Erfolg, weil die Träger der Volksschulen weiterhin die Kirchen waren, die wie der Staat selbst die Magyarisierung förderten.32 1939, nur ein Jahr nach dem Ersten Wiener Schiedsspruch von 1938, erschienen die ersten Lehrbücher, die auch die Geschichte, darunter die Ansiedlung der Ungarndeutschen als Unterrichtsthema behandelten und die eine Vertiefung dieses Stoffes nicht nur dem Lehrer überließen. Im Lehrbuch „Geschichte, Erdkunde, bürgerliche Rechte und Pflichten“ erschien folgender Text über die Ansiedlung:
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Deutsches Lesebuch für die V.–VI. Klasse der Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache. Budapest 1930, 93. Donáth (wie Anm. 29), 28 f.
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„Das Land und auch die übrigen von den Türken befreiten Gegenden waren immer noch sehr schwach oder gar nicht bevölkert. Johann Harucker, der Obergespan von Békés, siedelte in Csaba und Szarvas Slowaken an. Slowaken ließen sich auch in Nyíregyháza nieder. Die größten Verdienste um die Besiedlung hat sich aber General Graf Mercy erworben, der erster Militärstatthalter des Banats (Temesköz) war. Die Ansiedler erhielten 15 Jahre Steuerfreiheit, das nötige Saatgut und einen angemessenen Geldvorschuss. Auch Glaubensfreiheit wurde ihnen zugesichert. Infolge dieser Begünstigungen kamen viele tausende deutsche, ungarische, serbische, bulgarische, französische, rumänische, italienische und spanische Ansiedler in das Banat.“33
Der Sachtext enthält zwar äußerst knappe Informationen, doch werden die positiven Umstände über die Ansiedlung im Banat hervorgehoben, nicht zuletzt in Hinblick auf den Wunsch weiterer Gebietsrevisionen, die auch die Schwaben im Banat in Rumänien und in der Batschka in Jugoslawien betroffen hätten. Als nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch von 1940 und der Besetzung der Batschka 1941 Ungarn beachtliche Territorien mit selbstbewussten Minderheiten zurückbekam, die über ein intaktes Schulsystem verfügten, musste die ungarische Regierung ihre Schulpolitik überdenken. Mit dem Erlass 700/1941 wurde der Typus A wieder ins Leben gerufen. Für das Minderheitenschulwesen wichtige Veränderungen wurden vorgenommen und berechtigte Forderungen erfüllt wie die Einführung des muttersprachlichen Unterrichts, Schulinspektoren, die der deutschen Sprache mächtig waren, Fortbildungen für die Lehrer in den Minderheitenschulen sowie die Entwicklung neuer Lehrbücher.34 2.3. Von 1945 bis zum Systemwechsel Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden für die Minderheiten neue Schulen gegründet, doch die deutsche Minderheit, als „Fünfte Kolonne“ Hitler-Deutschlands betrachtet, bildete eine Ausnahme. Von einer halben Million Deutschen wurde nach 1945 etwa die Hälfte vertrieben und die in Ungarn verbliebenen Deutschen hatten zunächst keine Möglichkeit, ihre Sprache in den Schulen zu lernen. Erst im Schuljahr 1951/1952 wurde der Deutschunterricht wieder eingeführt, die Schulen gehörten ohne Ausnahme zum Schultypus C. Die geringe Aufmerksamkeit, die dem deutschen Minderheitenunterricht entgegengebracht wurde, beweist auch das Ergebnis der Ausschreibung des Bildungsministeriums für neue Minderheitenlehrbücher von 1958.35 Es gab kaum Bewerber und die erschienenen Bücher waren zum Großteil sowohl technisch als auch didaktisch von schlechter Qualität. Nur wenige Bücher
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Geschichte, Erdkunde, bürgerliche Rechte und Pflichten für die IV.–VI. Klassen der Volksschule. Budapest 1939, 40 f. So etwa der „Leitfaden zum Anschauungsunterricht“ oder die „Sprech- und Denkübungen“. – Klein, Ágnes: Nyelvhasználat a két világháború között a Tolna megyei németek körében [Sprachgebrauch zwischen den beiden Weltkriegen bei den Ungarndeutschen im Komitat Tolnau]. In: Kurucz (wie Anm. 13), 65–107, hier 93 f. Művelődési Közlöny [Amtsblatt für Kultur] 19 (1958), 337.
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hoben sich von der Masse ab, so etwa das „Deutsche Lehrbuch für die V. Klasse“36, das die Kinder mit der Mundart, mit Volksbräuchen und -liedern der deutschen Minderheit bekannt machte. Im „Deutschen Lehrbuch für die VI. Klasse“37 bekamen die Mundart und Literatur der Ungarndeutschen, darunter Sagen wie über den Freiheitskämpfer Lajos Kossuth und die Schwaben einen Platz, wobei über die Geschichte der Ungarndeutschen weiterhin nichts gelehrt wurde. 1964 wurden die Grundschulen, an denen bis dahin die Minderheitensprache als Unterrichtssprache diente, in zweisprachige Bildungsanstalten umgewandelt. Auch wenn diese Verordnung die ungarndeutschen Institutionen nicht direkt betraf, weil sie über den Schultypus A nicht verfügten, brach mit dieser Verordnung die Entwicklung der Minderheitenschulen in Ungarn für Jahrzehnte ab. Der zweisprachige Unterricht – auch für die deutsche Minderheit wurde dieser Schultypus B in den 1970er Jahren eingeführt – wurde dieser Bezeichnung keineswegs gerecht, denn für den Unterricht in der Muttersprache waren nur etwa ein Drittel der Unterrichtsstunden vorgesehen.38 Den muttersprachlichen Unterricht in den sogenannten sprachunterrichtenden Schultypen (Typus C) hielt man dagegen entweder vor oder nach dem eigentlichen Schulunterricht ab und die Schüler bekamen hier keine Noten für ihre Leistungen. Geschichte und Kultur der Ungarndeutschen gehörten in keinem Typus der Schulen zum Lehrstoff. Anfang der 1980er Jahre erfolgte in der ungarischen Minderheitenpolitik eine Wende. Bisher lange praktizierte Prinzipien in der Minderheitenpolitik wurden aufgegeben. Man rechnete nicht mehr mit der baldigen Assimilation der Minderheiten, doch Eigenrechte wurden ihnen weiterhin nicht eingeräumt. Die Schule war nach wie vor Monopol des Staates. Diese Auffassung spiegelte sich auch in den Lehrbüchern wider. Die durchgeführten Erhebungen unter den Minderheiten, vor allem unter den Ungarndeutschen, zeigten allerdings eine fortgeschrittene Assimilation.39 Eine der Ursachen sah man in der Tatsache, dass die Kinder an den Minderheitengrundschulen nur die ungarische Geschichte lernten, nicht jedoch auch die eigene. Im Pädagogischen Landesinstitut wurde deshalb eine Nationalitätensektion gegründet, deren Aufgabe unter anderem auch darin bestand, neue Lehrbücher für den Nationalitätenunterricht auszuarbeiten. Außerdem wurden zum ersten Mal spezifische Ziele und Aufgaben des Minderheitenunterrichts formuliert. Auch die Brückenfunktion der Minderheiten – etwa der Deutschen zwischen Ungarn und Deutschland – wurde als positiv hervorgehoben. Die Veränderungen betrafen die Intensivierung des deutschen Muttersprachenunterrichts und des Kenntniserwerbs über Geschichte und Kultur der eigenen Minderheit und Mutternation.40 36 37 38 39 40
Deutsches Lehrbuch für die V. Klasse. Budapest 1958. Deutsches Lehrbuch für die VI. Klasse. Budapest 1958. Klein (wie Anm. 26), 129. KŐvágó, László: Nemzetiségek a mai Magyarországon [Minderheiten im heutigen Ungarn]. Budapest 1981, 31 f. Fekete, Béla: A nemzetiségi oktatás-nevelés szervezeti és tartalmi korszerűsítésének kérdései [Fragen der organisatorischen und inhaltlichen Modernisierung des Unterrichts für Minderheiten]. In: Magyar Pedagógiai Társaság Nemzetiségi Pedagógiai Szakosztályának alakuló ülése. Hg. v. Magyar Pedagógiai Társaság. Budapest 1973, 8–15, hier 13 f.
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Doch mit diesen Neuerungen war das Problem der Geschichtsbücher für die deutsche Minderheit nicht gelöst. Es existierten viele Tabuthemen in der sozialistischen Gesellschaft, die vor allem die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs und danach betrafen, und so gab es auch aus diesem Grunde eine Art ‚stilles Abkommen‘, dass in den Lehrbüchern keine Informationen über die Geschichte der Ungarndeutschen vermittelt werden sollte.41 So wurden selbst Themen der Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen im 18. Jahrhundert nicht angesprochen. Es erschienen Sprach- und Lesebücher für die Kinder der deutschen Minderheit, welche lediglich die Volkstrachten, -tänze und -lieder sowie die Mundart behandelten. Immerhin wurden die deutsche Sprache und Kultur in zwei zweisprachigen und 158 sprachunterrichtenden Grundschulen vermittelt. Der Deutschunterricht wurde in den regulären Stundenplan aufgenommen und die erbrachten Leistungen der Schüler wurden benotet.42 2.4. Seit 1993 Einen Fortschritt bedeutete das nach dem Systemwechsel verabschiedete Minderheitengesetz von 1993, in dem verankert wurde, dass der Staat gemeinsam mit den aufgestellten Selbstverwaltungen der ethnischen Minderheiten für deren Schulunterricht Verantwortung tragen solle. Die Minderheitenselbstverwaltung erhielt auch in der Frage der Lehrbücher Mitspracherecht. 1995 erschienen der Nationale Grundlehrplan, auf dem die örtlichen Lehrpläne basieren sollten, dann die Richtlinien des Minderheitenunterrichts und schließlich der Rahmenplan. Trotz der 2003 und 2007 erfolgten Revidierung steht der Nationale Grundlehrplan nach wie vor im Dienste der „gemeinsamen nationalen Werte“ des Landes, wozu allerdings nicht nur etwa die Kenntnis der gemeinsamen Geschichte der ungarischen Nation, sondern auch die der in Ungarn lebenden Minderheiten gehört.43 Die im Nationalen Grundlehrplan bestimmten Ziele werden durch die örtlichen Lehrpläne weiter spezifiziert, indem diese die Kenntnisse der näheren Umgebung, so beispielsweise die Geschichte des Siedlungsgebietes und der einzelnen Dörfer, vorschreiben. Zu diesem Zweck sind im Lehrplan auch Publikationen wie Heimatbücher und Monographien der ungarndeutschen Dörfer integriert. Der Unterricht in den Schulen für die deutsche Minderheit muss sich allerdings nicht nur diesen neuen inhaltlichen Herausforderungen stellen, sondern auch der Tatsache, dass die Kenntnis der deutschen Muttersprache in den letzten Jahrzehnten stark zurückging. Nach einer Erhebung von 1999 beherrschten nur noch 0,7 % der
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Mündliche Mitteilung von Franz Heves, Lehrbuchautor und ehemaliger Mitarbeiter im Bildungsministerium, Abteilung für nationale Minderheiten. Kerner, Anna: A magyarországi kisebbségek 1945–2000 [Die Minderheiten in Ungarn 1945– 2000]. In: Barátság 5 (2000), 2945–2947. – KŐvágó (wie Anm. 39), 182–184. – Tilkovszky (wie Anm. 27), 148 f. Nemzeti Alaptanterv 2003 [Nationaler Grundlehrplan 2003]. Budapest 2004, 9–63.
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Schüler die Muttersprache.44 Infolgedessen erhöhte sich die Zahl der Schulen nicht zugunsten der muttersprachlichen, sondern zugunsten der sprachunterrichtenden Einrichtungen. Im Schuljahr 2007/2008 existierte keine einzige Schule des Schultypus A und auch vom Typus B, also von den zweisprachigen Schulen, gab es nur 28; dagegen gab es 252 sprachunterrichtende Schulen, also Schulen des Typus C. In den zweisprachigen Schulen wird die Geschichte der Ungarndeutschen in den Geschichtsunterricht integriert, in den sprachunterrichtenden Minderheitenschulen werden im Fach Volkskunde die wichtigsten Kenntnisse über die eigene Geschichte vermittelt. Entweder werden diese Stunden in den Deutschunterricht eingebaut oder als selbstständiger Unterricht abgehalten. Für das Fach Volkskunde – das in den Klassen 1 bis 8 der Grundschule unterrichtet wird – stehen gut aufbereitete Lehrbücher zur Verfügung, die unter anderem auch das Thema der Ansiedlung behandeln. So findet sich im Lehrbuch für die Klassen 1 bis 4 beispielsweise die Erzählung einer Schwäbin aus dem Dorf Kokrsch/Kokesch über die Namensgebung der Ortschaft: „In der Zeit der Kaiserin Maria Theresia kamen die ersten Deutschen hierher. Sie gingen auf einen Berg, da ruft die eine Frau: ‚Hört ihr, ein Kokesch (Hahn) kräht!‘ So erhielt das Dorf den Namen.“45 Auch mit Hilfe von Abbildungen etwa der „Ulmer Schachtel“ und von Kolonistenhäusern werden den Kindern die Umstände und auch die Schwierigkeiten der Ansiedlung veranschaulicht. Auch zwei weitere Unterrichtsfächer bieten reichlich Möglichkeit, die Geschichte der Ungarndeutschen kennen zu lernen: Das Fach Gesellschaftskunde in der 6. Klasse schreibt Kenntnisse über Ansiedlung und Geschichte der Schwaben in Ungarn, die Förderer der Ansiedlung wie Prinz Eugen von Savoyen oder Graf Claudius Florimund Mercy sowie die Anfertigung von Karten über die Siedlungsgebiete der Deutschen in Ungarn vor. Ebenso werden auch im Fach Heimatkunde in der 6. Klasse die Siedlungsgebiete und die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn behandelt. Die Geschichte der Ungarndeutschen wird auch in den sprachunterrichtenden Schulen auf zweierlei Weise aufbereitet: in den Volkskundelehrbüchern als Sachtext sowie in Sprachbüchern als Lesestück. Die meisten der Deutschbücher bieten ebenfalls minderheitenkundliche Themen an, auch aus der Geschichte der ungarndeutschen Minderheit, bevorzugt Sagen, Erzählungen, Beschreibungen und Gedichte, die sich mit der Ansiedlung der Deutschen beschäftigen. Das Fach Geschichte wird in Ungarn an den Grundschulen in der Oberstufe, von der 5. bis zur 8. Klasse, unterrichtet. Die entsprechenden ungarischen Lehrbücher werden für den zweisprachigen Unterricht ins Deutsche übersetzt. Dem Thema der Ansiedlung der Deutschen in Ungarn wird auch im allgemeinen Geschichtsunterricht an allen Grundschulen Raum geboten. So lernen alle Schüler in Ungarn aus dem Lehrbuch „Geschichte für die 7. Klasse“ über die Ansiedlung der Deutschen: 44
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Fakt ist, dass auch nicht ungarndeutsche Kinder häufig Einrichtungen der ungarndeutschen Minderheit wählen, um die Prestigesprache Deutsch zu lernen; vgl. Imre, Anna: Nyelv, nyelvhasználat, identitás – nemzetiségi tanulók körében [Sprache, Sprachgebrauch, Identität unter Schülern der Minderheiten]. In: Kisebbségkutatás 13 (2004), 17–35, hier 18, Tabelle 1. Donovald, Katharina: Ungarndeutsche Volkskunde für die 1.–4. Klasse der Grundschule. Budapest 2001, 81.
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„In vielen Ländern des Deutschen Reiches, vor allem in dem schwäbischen und bayrischen Raum an der Donau, warben Ausrufer mit kaiserlicher Erlaubnis die Leute nach Ungarn, ihnen verschiedene Begünstigungen und gute Lebensbedingungen versprechend. Da in diesen Gebieten die Bevölkerung dicht, der Boden aber nicht ausreichend war und die Ansiedler ihr Vermögen mit sich nehmen konnten, machte sich ein wahrer Menschenstrom auf den Weg. Die meisten sind mit Flößen die Donau heruntergefahren und haben sich an der Donau, hauptsächlich in den Komitaten Pest, Baranya (Branau), Tolna (Tolnau), niedergelassen. So sind sehr viele deutsche Siedler nach Ungarn gekommen, die sich größtenteils auf den Großgrundbesitzen, zum Teil aber in den, vom Hof errichteten Siedlungsdörfern des Banats niedergelassen haben.“46
Der Geschichtsunterricht an den zweisprachigen Schulen für die Deutschen wird auch aus eigens für die Kinder dieser Schulen verfassten Büchern ergänzt. Als Beispiel soll hier nur das Geschichtsbuch „Geschichte und Ich“ für die 5. Klasse von Christine Opfermann erwähnt werden. Die Ansiedlung wird hier sehr detailliert behandelt: von den Gründen der Ansiedlung über die Anwerbung von Kolonisten bis zur Darstellung der Siedlungsgebiete. Darüber hinaus werden den Schülern Aufgaben erteilt, die sich auf die Erkundung und das Kennenlernen ihrer Umgebung beziehen, etwa indem sie aufgefordert werden, in ihrem Wohnort nach Spuren der Geschichte der deutschen Einwanderung zu forschen oder einen Aufruf zur Ansiedlung, „Deutsche kommt nach Ungarn!“, zu formulieren.47 Heute, wo die Möglichkeiten im Unterricht zur Vermittlung der Geschichte der Deutschen in Ungarn vorhanden sind und gefördert werden, stellen die fehlenden sprachlichen Kenntnisse der Kinder ein großes Problem dar. Da an erster Stelle also der Spracherwerb stehen muss, sind die Lehrer gezwungen – das zeigen die Erhebungen48 –, den vorgeschriebenen Lehrstoff wesentlich vereinfacht und in Auszügen den Kindern zur Verfügung zu stellen. 3. EINE ENTWICKLUNG MIT VERLUST? Schul- und Lehrprogramme existieren nicht isoliert, sondern sind stets Abbild der jeweiligen Gesellschaft und reflektieren somit auch die Einstellung der Gesellschaft zur eigenen und zu anderen Kulturen. Im Fall einer multiethnischen Gesellschaft spiegeln sie auch das Verhältnis der Mehrheitsgesellschaft zu den ethnischen Minderheiten. Ein Rückblick auf die Schulbücher für die Ungarndeutschen macht die Veränderungen dieses Verhältnisses deutlich. Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als es im Königreich Ungarn noch eine zahlenmäßig starke deutsche Minderheit gab, die ihre Muttersprache und Kultur pflegte und intakt hielt, war dieser Minderheit die Möglichkeit nicht gegeben, im Schulunterricht etwas über die eigene Geschichte zu lernen. Das Ziel des ungarischen Nationalstaa46 47 48
Hier zitiert aus der deutschen Übersetzung des Lehrbuchs Helméczy, Mátyás: Történelem az általános iskola 7. osztály számára [Geschichte für Volksschulklasse 7]. Budapest 2005, 45 f. Opfermann, Christine: Geschichte und Ich. Ein geschichtliches Lehr- und Arbeitsbuch für die 5. Jahrgangsstufe an zweisprachigen Schulen in Ungarn. Pécs [1997], 59. Klein (wie Anm. 26).
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tes war, die Kinder zu guten, das heißt zu ungarischen Patrioten zu erziehen, was eine doppelte Sprach- und Kulturidentität nicht zuließ. Als ein Weg zum Ziel wurde das Fach Geschichte betrachtet, das als national bedeutsames Fach galt. Nach dem Deutschunterrichtsverbot der Nachkriegsjahre ließ die ungarische Regierung in den 1960er Jahren die Neugründung der Minderheitenschulen für die Ungarndeutschen zu, aber historische Themen wie zum Beispiel Einwanderung und Ansiedlung der Ungarndeutschen wurden im Geschichtsunterricht nicht besprochen. Erst der Systemwechsel 1990 eröffnete die Möglichkeit zum freien Umgang mit diesen Themen auch in den Schulbüchern, doch nun stellte die mangelnde Sprachkenntnis der Kinder das Haupthindernis dar. Ein weiteres Manko ist, dass trotz einiger Ansätze die ungarische Geschichtswissenschaft in Bezug auf Themen wie Einwanderung und Ansiedlung der deutschen Kolonisten nur wenig neue Ergebnisse erbracht hat, die in die Schulbücher Eingang finden könnten. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Deutschen in Ungarn im Allgemeinen über sehr schematische Kenntnisse der Siedlungsgeschichte verfügen.
ZWISCHEN MYTHOS UND REALITÄT
Historische Kulminationspunkte in Heimatbüchern der ungarndeutschen Vertriebenen Katalin Orosz-Takács 1. HEIMATBÜCHER – EINE SPEZIFISCHE FORM DER ERINNERUNGSKULTUR Die Heimatbücher der nach 1945 aus Ungarn vertriebenen Deutschen, in denen Heimat aus einer rückwärtsgewandten und retrospektiv-nostalgischen Perspektive erscheint, lassen sich gattungsmäßig der Postheimatliteratur zuordnen.1 Innerhalb der Gattung der Heimatliteratur schien uns die Einführung der Kategorie Postheimatliteratur sinnvoll, damit der besondere Charakter dieser Literatur schon in der Gattungsbezeichnung zum Ausdruck kommt: Die diesem Genre zugehörenden Texte thematisieren die verlorene Heimat, sind rückwärtsgewandt, retrospektivnostalgisch besetzt und gleichsam von der Heimatsuche beziehungsweise von der Suche nach einer neuen Heimat geprägt. Die Heimatbücher verkörpern somit eine spezifische Form der Erinnerungskultur der Vertriebenen mit dem Ziel der Vergangenheitsbewältigung, in der sich Entstehungsprozesse der raum- und zeitbedingten Gedächtnisorte im Verlauf der Identitätskonstruktion und -rekonstruktion abzeichnen.2 1 2
Der vorliegende Beitrag fasst die Ergebnisse meiner Dissertation zusammen: Orosz-Takács, Katalin: Die zur Erinnerung gewordene Heimat. Heimatbücher der vertriebenen Ungarndeutschen. Diss. Budapest 2007, Manuskript. Die Dissertation und somit auch dieser Beitrag basieren auf einer Quellenstudie von ungarndeutschen Heimatbüchern und Ortsbeschreibungen. Über ungarndeutsche Ortschaften konnten 128 Ortsbeschreibungen, Heimatbücher oder als solche ausgewiesene Werke aus den Jahren nach 1945 gefunden werden. So war zwecks wissenschaftlicher Handhabung des äußerst umfangreichen Materials und Schaffung eines geeigneten Untersuchungskorpus neben der zeitlichen auch eine geographische Eingrenzung vonnöten. Die zeitliche Grenze war auf 1945 festgelegt worden; das Interesse galt den in der Bundesrepublik Deutschland veröffentlichten Heimatbüchern der nach 1945 aus Ungarn vertriebenen Deutschen. Infolge der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg gelangten die Ungarndeutschen nicht nur in die westlichen Besatzungszonen, sondern – vor allem in der letzten Phase der Umsiedlungsaktionen – auch in die spätere DDR. Daten und Fakten über die in die SBZ gelangten Vertriebenen – seltener aber ihre Erinnerungen – flossen in die BRD-Heimatbücher ein, soweit sie den Autoren bekannt waren. Dagegen wurde das Thema des „deutschen Ostens“ in der DDR gemieden, wie Tadeusz Namowicz zeigt; vgl. Namowicz, Tadeusz: Zwischen Historizität und rückwärtsgewandter Utopie. Ostpreußen als „Heimat“ in der deutschen Literatur nach 1945. In: Heimat und Heimatliteratur in Vergangenheit und Gegenwart. Hg. v. Hubert Orłowski. Poznań 1993, 77–92. Gegenüber den Heimatbüchern, die auch die verlorene Heimat thematisierten, war die offizielle Haltung in
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Katalin Orosz-Takács
Durch das Heimatbuch wird das ehemalige Heimatdorf der Vertriebenen zum Anhaltspunkt ihrer Erinnerung und zum Symbol ihrer Identität. Die Landschaft, der Ort und die Gebäude, alles, was den Raum füllt, ist nicht an sich bedeutsam, vielmehr werden die einzelnen Orte selbst zu Trägern der Erinnerung und verfügen gewissermaßen über ein Gedächtnis.3 Sie erhalten Bedeutung erst dadurch, dass
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der DDR ähnlich ablehnend. Der von der Leitung der SED oktroyierten offiziellen Politik entsprach keine Darstellung der Ausweisung der deutschen Bevölkerung, in der jedoch schwierige, konfliktbeladene Momente hätten angesprochen werden können. Die rückwärtsgewandte Perspektive der Vertriebenen, die in der verlorenen Heimat zugleich das verlorene Paradies sahen, war in der politischen Öffentlichkeit der DDR unerwünscht. So wurden diese Themen ausgeblendet und tabuisiert. „Teilten andere Persönlichkeiten des politischen Lebens in der SBZ und in der DDR diesen Standpunkt nicht (z. B. Johannes R. Becher), so äußerten sie sich öffentlich nicht dazu. In der Literatur der DDR können nur wenige Autoren genannt werden, die sich – eher indirekt – dieser Problematik zuwandten: so Helga Schütz in ‚Polenreise‘ (1970), Christa Wolf in ‚Kindheitsmuster‘ (1976), Werner Heiduczek in ‚Der Tod am Meer‘ (1978).“ Ebd., 89. Ab Mitte der 1980er Jahre – gewiss nicht zufällig, wenn man die wachsenden sozialen Spannungen in der DDR und die ideologische Distanz zwischen der SED und der kommunistischen Machtelite in Polen berücksichtigt, fügt Namowicz hinzu (ebd.) – wurde versucht, dieses Tabu, für welche politischen Zwecke auch immer, abzubauen. – Der zeitlichen Grenze entsprechend fanden die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entstandenen Dorfmonographien, dialektologischen, volkskundlichen und geschichtlichen Arbeiten, auch wenn sie Ortschaften des Trianon-Ungarns behandelten (vgl. unten zu den geographischen Eingrenzung), keine Aufnahme in das vorliegende Korpus. Sie werden als Vorläufer bzw. als Quellen der Heimatbücher betrachtet. In geographischer Hinsicht sind die Trianon-Grenzen Ungarns orientierungsgebend. So sind die Heimatbücher der deutschen Siedlungen außerhalb dieser Grenzen – also auch auf dem Gebiet des historischen Großungarn wie z. B. Batschka, Banat oder Siebenbürgen – trotz unbestrittener Gemeinsamkeiten aus der Untersuchung ausgeklammert. Aus der großen Menge der Quellen sind aufgrund der Auswahlkriterien von Kessler (vgl. Kessler, Wolfgang: Ost- und südostdeutsche Heimatbücher und Ortsmonographien nach 1945. Eine Bibliographie zur historischen Landeskunde der Vertreibungsgebiete. München 1979, 16 f.), ergänzt durch vorliegende, aufgrund der gesichteten Heimatbücher gebildete Hypothese vom Idealtyp eines Heimatbuches, die Ortsbeschreibungen ausgewählt worden, die die folgenden Merkmale aufwiesen: Das Werk soll eine selbstständig erschienene monographische Veröffentlichung sein, in der subjektive Heimaterlebnisse (Erinnerungen) mit objektiven Ansätzen (Dokumentation) vermischt eine organische Einheit bilden, in der möglichst alle Teilaspekte sowohl thematisch als auch chronologisch aus der Sicht der Vertriebenen abgehandelt werden, um eine Brücke zwischen der alten und der neuen Heimat zu schlagen. Dementsprechend gehören nicht zum Untersuchungskorpus dieser Arbeit Werke, die, auf eine Komplexität verzichtend, nur bestimmte Teilaspekte bearbeiten oder ausschließlich Gedichte, Erzählungen und Erinnerungsschriften enthalten. Ebenso können – wie auch bei Kessler (ebd.) – keine speziellen Veröffentlichungen wie einzelne Schul- und Kirchengeschichten, Quelleneditionen und Abhandlungen über einzelne Geschichtsepochen, Bildbände, Familienchroniken und Ortssippenbücher berücksichtigt werden. Die Arbeiten, unter denen auch Sonderformen (mehrbändige Heimatbücher, Heimatbücher über denselben Ort von verschiedenen Autoren usw.) zu finden sind, haben einen Umfang, der zwischen 118 und 736 Seiten schwankt, sodass der Seitendurchschnitt bei 303 Seiten liegt. Damit entspricht die vorliegende Untersuchung auch den Erwartungen von Kessler (ebd.), der behauptet, dass eine Ortsmonographie mit weniger als hundert Druckseiten in der Regel nicht die gestellten Anforderungen erfülle. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, 298.
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sich in ihnen die Erinnerung in besonderem Maße kondensiert, verkörpert, kristallisiert und immer wieder aktiviert werden kann. Der Heimatort wird also als Gedächtnisort durch die Erinnerung konstruiert, um diese auch für die Zukunft aus dem kollektiven Gedächtnis abrufbar zu machen. Die Dorfgemeinschaft bildet mit dem imaginierten Raum eine symbolische Wesensgemeinschaft, an der sie auch dann festhält, wenn sie vom konkreten Raum getrennt ist.4 Demgemäß ist das Ziel der Heimatbücher, die dem Ort anhaftende Geschichte, seine Vergangenheit zu zeigen und sie dadurch von dem physischen Ort loszulösen, damit er im Weiteren als Gedächtnisort fungieren kann.5 Raum und Zeit sind auch in den Heimatbüchern nicht völlig voneinander zu trennen. Sie sind miteinander verwoben und sichern im Zeit und Raum durchdringenden Erinnerungsprozess die an einen Ort geknüpfte Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Das bedeutet, dass die zeitlichen Prozesse und die Geschichtlichkeit selbst im Raum projiziert erscheinen, sich entfalten und schließlich einen Sinn gewinnen. Raum und Zeit bedingen einander: Der Raum gewinnt durch die daran geknüpfte Zeit und Erinnerung eine Bedeutung, und umgekehrt erfährt die Zeit an den Ort gebunden eine Neuinterpretation. Das Dorf erscheint als Gedächtnisort, der in seiner Gesamtheit die Erinnerungen der Gemeinschaft konstituiert. Da die Widerspiegelung des Dorfes durch das Gedächtnis geschieht oder zumindest beeinflusst wird, entsteht eine fließende Grenze zwischen der objektiv vorhandenen realen Welt und der durch die Erinnerung hervorgerufenen imaginären 4 5
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1999 (Beck’sche Reihe 1307), 39. Unter Gedächtnisorten sollen materielle oder topographische und metaphorische bzw. symbolische und funktionale Orte verstanden werden, in denen die Gemeinschaft sich oder ihre Geschichte wiedererkennen kann; vgl. Gedächtnis und Erinnerung: ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg 2001 (Rowohlts Enzyklopädie 55636), 199, sowie Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990 (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 16), 26. Mit Gedächtnisort ist also nicht unbedingt immer ein räumlicher, materieller Ort gemeint, sondern „Orte“ – in allen Bedeutungen des Wortes (vgl. ebd., 7.) –, die die Erinnerungen organisieren. Auch ein historisches Ereignis kann zu einem metaphorischen Ort des Gedächtnisses werden. Moritz Csáky vertritt die Ansicht, dass sich bestimmte Ereignisse, obwohl sie vergangen sind, als von zeitübergreifender, kollektiver Wirkmächtigkeit erweisen, „was auch daraus ersichtlich wird, dass individuelle und kollektive Erinnerungsstrategien sich dieses ‚Ortes‘, in dem Gedächtnis lagert, immer wieder bemächtigen. Er erhält durch die Erinnerung einen gleichsam dynamischen Charakter und dient somit der jeweiligen Standortbestimmung in der eigenen Gegenwart. Das heißt aber: Ereignisse der Vergangenheit erlangen ihre Relevanz nicht erst dadurch, daß sie einmal geschehen […] sind; sondern sie erhalten Bedeutung erst dadurch, daß sie immer wieder aktiv erinnert werden können und tatsächlich auch erinnert werden. Durch den Akt der Erinnerung wird Vergangenes erst lebendig und in die jeweils eigene Gegenwart integriert.“ Csáky, Moritz: Geschichte und Gedächtnis. Erinnerungen und Erinnerungsstrategien im narrativen historischen Verfahren. Das Beispiel Zentraleuropas. In: Österreichische Osthefte 44 (2002), 61–79, hier 61. Obwohl Gedächtnisorte parallel materielle, funktionelle und symbolische Dimensionen haben, organisieren sie Erinnerung im Besonderen aufgrund ihrer Materialität, indem sie diese lokalisieren. Indem sich Gedächtnisorte in den Heimatbüchern manifestieren, werden diese selbst zu funktionalen Gedächtnisorten.
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Welt. Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Welten, zwischen dem äußeren und inneren Bild vom Dorf wird durch die Erinnerung überbrückt, indem die äußere Wirklichkeit eine Verinnerlichung durch die Erinnerung erfährt. Die Autoren von Heimatbüchern bemühen sich, möglichst alles, was mit der alten Heimat zusammenhängt – Geschichte, Geographie, Ortskunde, Sitten und Bräuche, Landwirtschaft, Literatur, Kunst ect. –, schriftlich festzuhalten. Wo aber ihr Erinnerungsvermögen und die Dokumente nicht mehr weiterhalfen, schöpften sie aus der „Oral history“ oder aus der eigenen Phantasie. Dabei geht es nicht unbedingt um Wertungen, sondern vielmehr um das Archivieren des erkundeten Materials. Bei diesem Prozess fällt den Autoren eine besondere Rolle zu, denn aus der Sicht der potenziellen Leserschaft könnte es zum Authentizitätsverlust des Heimatbuches führen, wenn der Autor nicht aus dem Kreise der Betroffenen käme und nicht als Schicksalsgefährte betrachtet werden könnte. Durch die Zugehörigkeit zur Dorfgemeinschaft wird der Autor zum authentischen Chronisten seiner Heimat, der im Auftrag der Gemeinschaft arbeitet. Im Falle eines Autorenkollektivs wird die Arbeit unter der Leitung einer ebenfalls als authentisch erachteten Persönlichkeit durchgeführt, deren Mitwirkung als Garantie für die Glaubwürdigkeit des Geschriebenen steht. Nur so ist gesichert, dass die Geschichte aus dem Blickwinkel der Vertriebenen, durch das Auge der Dorfbewohner gesehen wird. Die meisten Heimatbücher charakterisiert die kollektive Verfasserschaft, die sich zum Teil auch im Zur-Verfügung-Stellen privater Aufzeichnungen, Erinnerungen, Berichte und Fotos offenbart und die an die Volksdichtung erinnert, wo ein jeder seinen eigenen Beitrag zum Werk beisteuern kann, sodass das entstandene Werk schließlich als Gemeinschaftsleistung bewertbar wird. Die kollektive Arbeit am Heimatbuch, die Beteiligung der Landsleute deutet auf eine enge Beziehung zwischen Autor beziehungsweise Autoren und Leser hin. Daraus ergibt sich, dass die subjektive Perspektive der Vertriebenen in den Heimatbüchern nicht nur in den Erlebnisberichten und autobiographisch geprägten Erzählungen Raum gewinnt, sondern auch in den historischen Darstellungen, die – wie die Heimatbücher zu beweisen versuchen – in keinem Geschichtsbuch zu lesen seien. Auch wenn es geschichtswissenschaftliche Untersuchungen zum Dorf oder zu den einzelnen Themen gebe, könne keine dieser Arbeiten das Eigene, das Selbsterlebte authentisch widerspiegeln. Diese emotionale Grundhaltung legitimiert die Existenz aller Heimatbücher und hebt die Autoren mit der Losung „Das kann nur der wissen, der alles selbst miterlebt hat“ auf das Podest der Auserwählten. Und in gewisser Weise werden die Heimatbuchautoren von der Gemeinschaft wirklich für eine besondere Aufgabe auserwählt: Sie werden zum Verwalter des kollektiven Gedächtnisses der Gemeinschaft.6 Was sich im Gedächtnis der Vertriebenen noch bewahrt hatte und abgerufen werden konnte, wurde für die Heimatbücher aufgezeichnet. Für die Autoren dienten 6
Orosz-Takács, Katalin: Heimatbücher der vertriebenen Ungarndeutschen: Vergangenheitsbewältigung und das kulturelle Gedächtnis. In: Gröller, Harald D./Horváth, Andrea/Loosen, Gert: Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft: Disziplinäre Ansätze, theoretische Positionen und transdisziplinäre Perspektiven. Beiträge der 10. Tagung der Nachwuchsgermanisten und -niederlandisten. Debrecen 2007, 177–190.
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darüber hinaus als Quellen jene historischen und literarischen Werke, die sie entweder noch aus der eigenen Schul- oder Studienzeit kannten oder selbst in der privaten Hausbibliothek stehen hatten oder die ihnen im Deutschland der Nachkriegszeit zugänglich waren.7 Der Rückgriff auf frühere Forschungen aus der Zeit vor 1945 schlägt zwar die Brücke zwischen den Heimatbüchern vor 1945 und nach 1945, jedoch offenbart er das Problem, dass in den in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zustande gekommenen Sammlungen neben grundlegenden Werken eine fast unübersehbare Menge unbedeutender populärer oder schon in den 1960er und 1970er Jahren veralteter Arbeiten aufbewahrt wurde, sodass es nicht nur für LaienHeimatforscher fast unmöglich war, sich einen Überblick zu verschaffen und die adäquaten Arbeiten zu finden. Als dann nach dem politischen Systemwechsel 1990 der Zugang zu den Archivmaterialien und Quellen, die nur in der alten Heimat Ungarn zu erforschen waren, erleichtert wurde, entstanden schnell nacheinander mehrere Heimatbücher, die sich demnach nicht hauptsächlich auf mündliche Überlieferungen beriefen, sondern archivarische Dokumente, historische und andere wissenschaftliche Arbeiten verarbeiteten. Durch die zeitliche Distanz zur Vertreibung erweiterte sich die Palette der Materialien und Dokumente und es wurde möglich, auch früher als Tabu geltende Themen zu untersuchen. Die Heimatbücher setzten sich zum Ziel, das gesamte Leben im ehemaligen Heimatdorf aufzuzeichnen. Die Kulturwissenschaftlerin Jutta Faehndrich wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dieser Aufgabe im Fall der Vertriebenen eine geradezu existenzielle Bedeutung zukam: „Angesichts der langsam aussterbenden Erlebnisgeneration und abgeschnitten von den üblichen Quellen der Heimatforschung verstehen sie ihre Heimatbücher als einen Versuch, das überlebende Wissen über eine noch historische lokale Gemeinschaft zu sammeln und für die Nachwelt zu erhalten.“8
Deutlich wird der Motivationsgrund, nämlich die Angst der Autoren vor dem Vergessen und dem völligen Verlust dessen, was in ihrem Gedächtnis noch bewahrt und abgerufen werden konnte, wenn nicht ‚in letzter Minute‘, vor dem Aussterben 7
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Die Autoren der Heimatbücher waren bis zur Wende bzw. je nach Beziehungen und Kontakten bis zur Lockerung der politischen Verhältnisse Mitte der 1980er Jahre mit den Schwierigkeiten der Literatur- und Dokumentenbeschaffung konfrontiert, die sich nach dem Zusammenbruch von 1945 und der ideologischen Trennung Europas für die Erforschung von Geschichte und Kultur der Deutschen im ostmitteleuropäischen Raum ergaben. Zwar wurde versucht, dem Mangel an einschlägiger Literatur durch den Aufbau bedeutsamer Büchersammlungen und durch die Einrichtung von Sonderbibliotheken abzuhelfen, wodurch eine Besserung eintrat, aber auch durch diese Maßnahmen konnte das Verlorene nicht ersetzt werden. Nicht besser stand es mit der bibliographischen Verzeichnung der Literatur über die Ostgebiete überhaupt. Sie war in Bezug auf jede Landschaft uneinheitlich und lückenhaft und war zu Forschungszwecken nicht sehr nützlich; vgl. Bücherkunde Ostdeutschlands und des Deutschtums in Ostmitteleuropa. Hg. v. Heinrich Jilek, Herbert Rister u. Hellmuth Weiss. Köln – Graz 1963, XIX. Faehndrich, Jutta: Erinnerungskultur und Umgang mit Vertreibung in Heimatbüchern deutschsprachiger Vertriebener. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 52 (2003), 191– 229, hier 193. – Dies.: Eine endliche Geschichte. Die Heimatbücher der deutschen Vertriebenen. Köln – Weimar – Wien 2011 (Visuelle Geschichtskultur 12).
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der Erlebnisgeneration, ein solches Heimatbuch geschrieben würde. „Ich glaube“, heißt es im Vorwort des Heimatbuches von Harkau, „die Geschichte unseres Heimatdorfes muß spätestens von uns jetzt geschrieben werden, denn vielleicht sind wir die letzte Generation.“9 Man erkannte, dass das Bild von der Heimat umso verschwommener würde, je mehr Zeit verginge, seit die Vertriebenen diese Heimat verlassen mussten. Auch wenn man die Gelegenheit wahrnahm, der Heimat einen Besuch abzustatten, musste man feststellen, dass sie schon lange nicht mehr so war wie einst. Die Konfrontation mit der Fremdheit der ehemals vertrauten Heimat, die Diskrepanz zwischen der Realität und dem Bild von der Heimat, das sie mit auf den Weg genommen hatten, war ein erschütterndes Erlebnis für alle Betroffenen. Aus diesem Erlebnis und aus der Angst heraus, die eigene Vergangenheit verloren zu haben, entstanden die Heimatbücher der Nachkriegszeit. Hinzu kam noch der unaufhaltbare Prozess, dass der Kreis derer, die erzählen konnten, wie es einst war, immer kleiner wurde. Die fest eingeprägten Erinnerungen der Erlebnisgeneration bezeichnet der Religions- und Kulturwissenschaftler Jan Assmann als Generations-Gedächtnis: „Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörpern, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis.“10 Dieser Erinnerungsraum entspricht ungefähr 80 Jahren. Nach Assmanns Ansicht scheint die Hälfte dieses Wertes eine kritische Schwelle zu bilden: Nach 40 Jahren treten die Zeitzeugen, die schon als Erwachsene bewusst die Ereignisse miterlebt haben, in ein Alter ein, in dem der Wunsch nach Fixierung und Weitergabe immer dringender wird.11 Dieses kritische Alter scheint im Falle der Vertriebenen in den 1980er Jahren eingetreten zu sein. Ihnen kam die Erkenntnis, dass, was heute noch lebendige Erfahrung ist, morgen nur noch über Medien vermittelt werden kann. Dieser Übergang drückte sich schon in einem Schub schriftlicher Erinnerungsarbeit der Betroffenen sowie in einer intensivierten Sammelarbeit in Archiven aus.12 Nicht zufällig rief die Landsmannschaft der Ungarndeutschen in der Bundesrepublik Deutschland 1970 die Landsleute zur Gründung eines Archivs und Heimatmuseums auf.13 Ferner ist bezeichnend, dass unter den drei Initiatoren auch zwei Heimatbuchautoren zu finden sind. Als Ergebnis der fleißigen Sammelarbeit richtete man nicht nur Heimatmuseen und -stuben ein,14 sondern es entstanden nacheinander auch die Heimatbücher. Das folgende Diagramm zeigt die 9 10 11 12
13 14
Schindler, Andreas: Harkau, mein Heimatdorf. Die Geschichte eines deutschen Bauerndorfes in Westungarn. Sinsheim 1987, II. Assmann (wie Anm. 4), 50. Ebd., 51. Ebd. Assmann hebt die Bedeutung von jenen 40 Jahren als einen wichtigen Einschnitt hervor, indem er auf die von Richard von Weizsäcker genau 40 Jahre nach Kriegsende, am 8. Mai 1985, vor dem deutschen Bundestag gehaltene Gedenkrede hinweist, die einen Erinnerungsprozess in Gang gesetzt habe. Unsere Post, 6. Dezember 1970, 7. Vgl. dazu die Liste der Museen und Heimatstuben in: Ostdeutsche Museen und Sammlungen in Baden-Württemberg. Hg. v. Innenministerium Baden-Württemberg. Sigmaringen 1988. – Ost- und Südosteuropa-Sammlungen in Österreich. Verzeichnis der Bibliotheken, Institute,
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Ungarndeutsche Heimatbücher in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 2007 50 40 30 20
Zahl der erschienenen ungarndeutschen Heimatbücher
10 1945– 1960
1961– 1970
1971– 1980
1981– 1990
nach 1990
0
Anzahl publizierter Heimatbücher in bestimmten Zeiträumen. Aus den Daten ist ersichtlich, dass das Gros der Veröffentlichungen in die 1980er Jahre fällt. Die Erinnerung erscheint als Grundmotiv schon im Vorwort fast aller Heimatbücher und durchzieht diese wie ein roter Faden. Die folgenden Zitate belegen beispielhaft die Bedeutung dieses Motivs: „[Das Heimatbuch] soll keine wehmütige Heimatsehnsucht, sondern eine freudige und stolze Erinnerung an unser reiches Budaörser Volkstum wachrufen, […] das Bild der Heimat [soll] lebendig erstehen und sich unauslöschlich in unsere Herzen einprägen.“15 Im Turwaler Heimatbuch steht wiederum: „Über die kulturgeschichtliche Bedeutung hinaus ist es [i. e. das Heimatbuch; Anm. d. Verf.] aber für viele heimatvertriebene Turwaller eine Erinnerung an die verlorene Heimat.“16 Im Heimatbuch von Wigatsch heißt es schließlich: „[…] rufen wir unsere Erinnerungen und Erlebnisse wach.“17 Ein weiteres, damit zusammenhängendes Schlüsselwort ist das „Nichtvergessen“, das in unterschiedlichen Kontexten, aber in jedem Heimatbuch entweder als Zielsetzung der Arbeit – wie im 1988 erschienenen Heimatbuch von Tschawa: „[Ziel ist], daß die Vergangenheit auch bei der heutigen Generation nicht ganz in Vergessenheit gerät“18 – oder als immer wiederkehrendes Motiv parallel zu dem der Erinnerung auftaucht. In jedem Heimatbuch erscheint auf die eine oder andere Weise die Aussage, die im Heimatbuch von Straß-Sommerein 1968 so formuliert
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Archive und Museen. Hg. v. Walter Lukan u. Max Demeter Peyfuss. Wien – München 1990 (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 15), 2. erw. Aufl. [11982]. Riedl, Franz: Budaörser Heimatbuch. Stuttgart 1952, 5. Bruckner, Franz: Turwaller (Torbágyer) Heimatbuch. Geschichte einer schwäbischen Gemeinde im Ofener Bergland. Ulm 1984, 3. Schmausser, Mathias: Unsere Heimat Bikács (Wigatsch), 1736–1986. Chronik einer Gemeinde in der Tolnau. Ostelsheim [1985], 9. Hauck, Johann: Tschawa – Piliscsaba. Heimatbuch zur Geschichte des Dorfes Piliscsaba und seiner Bewohner, den Tschamern. Ettlingen 1988, 11 f.
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wird: „Es darf nicht vergessen werden, was unsere Vorfahren in den Jahren vor uns und was wir selbst erlebt und erarbeitet haben.“19 Jedes Heimatbuch will also eine Antwort geben auf die Frage: „Was dürfen wir nicht vergessen?“, eine Frage, von der Jan Assmann behauptet: „Wo sie zentral ist und Identität und Selbstverständnis der Gruppe bestimmt, dürfen wir von ‚Gedächtnisgemeinschaften‘20 sprechen. Erinnerungskultur hat es mit ‚Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet‘ zu tun.“21 In den einleitenden Kapiteln formulieren die Heimatbücher implizit das Anliegen, ein Bild davon zu zeichnen, wie sie sich selbst sehen und wie sie gesehen werden wollen. Es geht dabei nicht nur um eine Darstellung ethnischer Eigenart, sondern um Verständigung über die eigene Vergangenheit, sozusagen um eine retrospektive Deutung und einen Erklärungsversuch durch aktive Erinnerungsarbeit. Hier findet im eigentlichen Sinne Identitätskonstitution und -konstruktion statt. Ohne theoretische Bezugnahme bringen dies die Heimatbücher auch zum Ausdruck wie etwa im Heimatbuch von Turwall 1984: „[Ein] Heimatbuch erstellt man aus […] Suche nach unserer Identität und nach dem Sinn des Lebens.“22 Vergangenheit und Heimat wird dabei in eins gesetzt: „[Das Anliegen ist,] der Nachwelt, nämlich unseren Kindern und Kindeskindern, das zu erhalten, was uns einst gang und gäbe war, was einst unsere Heimat war.“23 Die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Identität fassen sie als einen Brückenschlag „zwischen Hier und Fern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart“24 auf. Jan Assmann ist der Ansicht, die Vergangenheit entstehe erst dadurch, dass man sich auf sie beziehe. Damit man sich auf sie beziehen könne, müsse die Vergangenheit als solche ins Bewusstsein treten.25 Dieser Prozess hat für die Vertriebenen eine besondere Bedeutung, denn er ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Vergangenheitsbewältigung. Obwohl die Heimatbuchautoren das nicht immer wahrhaben wollen, geht es in diesem Bewältigungsprozess darum, was der Autor
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24
25
Nitsch, Johann: Straß-Sommerein. Heimatbuch. Amberg 1968, 5. Den Begriff „Gedächtnisgemeinschaft“ übernahm Jan Assmann von Pierre Nora; vgl. Assmann (wie Anm. 4), 30, sowie Nora (wie Anm. 5). Assmann (wie Anm. 4), 30. Bruckner (wie Anm. 16), 7. Fritz, Johann: Kakasd. Geschichte und Brauchtum einer deutschen Gemeinde in der Schwäbischen Türkei. Langenau 1979, 1; vgl. dazu auch: „Möge das Buch die Heimat, die verlorene, neu erstehen lassen.“ Greszl, Franz: Groß-Kowatscher Heimatbuch. Geschichte und Schicksal einer ungarndeutschen Gemeinde. Lahr im Schwarzwald 1962, 9. Bruckner (wie Anm. 16), 171; vgl. dazu auch Zweites Bácsalmáser (Batschalmascher) Heimatbuch. Aufsätze und Photos zur Geschichte und Kulturgeschichte. Hg. v. Patenschaftsausschuss der Bácsalmáser. Backnang 1990, 5–7; hier fällt das Schlüsselwort „Brücke“ auch: „[Das Heimatbuch soll] Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart [sein].“ Das Bewusstwerden setzt zweierlei voraus: Erstens darf die Vergangenheit nicht völlig untergegangen sein, es muss Zeugnisse von ihr geben; zweitens müssen diese Zeugnisse eine charakteristische Differenz zum Heute aufweisen. Jeder tiefere Kontinuitäts- und Traditionsbruch kann Vergangenheit entstehen lassen, dann nämlich, wenn nach einem solchen Bruch ein Neuanfang versucht wird; vgl. Assmann (wie Anm. 4), 31 f.
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des Heimatbuches von Nadwar klar zum Ausdruck bringt: „[D]as Buch [ist] zugleich ein Abschied von der alten Heimat für immer.“26 Indem man sich erinnert, wird Rechenschaft gezogen und die Differenz zwischen dem Alten und dem Neuen erkannt. Der Kontinuitätsbruch führt zur Entstehung von Vergangenheit, da nach dem Bruch – sprich: der Vertreibung – ein Neuanfang versucht wird. Erst im Spiegel der veränderten Umstände kann das Leben in dem ehemaligen Heimatdorf als etwas Vergangenes betrachtet werden. Die Vergangenheit wird in der Erinnerung rekonstruiert,27 wobei die Erinnerungen in Form eines Heimatbuches schriftlich festgehalten werden, sodass dieses wie ein Meilenstein den Übergang vom mündlich bewahrten kommunikativen Gedächtnis zum kulturellen Gedächtnis markiert.28 Die Auseinandersetzung der Heimatbücher mit Tradition und Lebensform zeigt zugleich den Prozess auf, wie eine mündlich tradierte Kultur eine schriftlich fixierte Form erhält. Es lautet mit den einfachen Worten eines Heimatbuchautors folgendermaßen: „Bald schon wird die Geschichte das Wort haben, im besten Fall mit der leidenschaftlichen Stimme von Forschern […]. Aber solange wir leben, haben wir unseren Mitmenschen eine wichtige Aufgabe zu überliefern, eine heilige Pflicht.“29 Bei der Darstellung der Vergangenheit von Heimat wird eindeutig, dass sich die Gemeinschaft als Erinnerungsgemeinschaft konstituiert. Die Dorfgemeinschaft bewahrt ihre Vergangenheit vor allem unter zwei Gesichtspunkten: Eigenart und Dauer.30 Bei dem Selbstbild, das sie von sich erstellt, wird die Eigenart nach außen betont, die nach innen dagegen heruntergespielt, um die Erkennungszeichen und Merkmale der Gruppenzusammengehörigkeit aufzeigen zu können. Zudem bildet sie „ein Bewusstsein ihrer Identität durch die Zeit hindurch“31 aus, sodass die erinnerten Fakten stets in Bezug auf Entsprechungen, Ähnlichkeiten, Kontinuitäten hin ausgewählt werden. Da jede Gruppe nach Dauer strebt, tendiert sie dazu, Wandlungen nach Möglichkeit auszublenden und Geschichte als veränderungslose Dauer wahrzunehmen.32 Die sich in der Erinnerung konstituierende Verbundenheit mit dem Heimatdorf ist ein strukturbestimmendes Merkmal der Heimatbücher. „Zum Begriff Raum, Landschaft gesellt sich die Zeit, wodurch unsere Vorstellung von der Heimat in einer geschichtlichen Rückschau vertieft wird.“33 Die Geschichtlichkeit, die Zeit selbst in einem Raum, die zeitliche Verwurzelung in einem Ereignis- und Wirkungszusammenhang, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrifft, wird in 26 27 28 29 30 31 32 33
Richter, Georg: Geliebtes Nadwar. Erinnerungen an die verlorene Heimat H-6345 Nemesnádudvar. Horb am Neckar 1997, 9. Die Rekonstruktion der Vergangenheit erfolgt aber aus der Gegenwart heraus. Die Vergangenheitsdeutung bzw. -interpretation hat also einen starken Gegenwartsbezug. Assmann (wie Anm. 4), 51–56. Richter (wie Anm. 26), 10. Assmann (wie Anm. 4), 40. Ebd. Ebd. Heimatbuch von Pusztavám und Umgebung. Werden und Vergehen einer deutschen Siedlung in Ungarn. Hg. v. Anton Tafferner u. Franz Schell. Geretsried 1978, 17.
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Heimatbüchern nach subjektiven Gesichtspunkten geordnet. So kristallisieren sich durch die Heimatbücher Ansiedlung und Vertreibung, die zwei Kulminationspunkte der ungarndeutschen Geschichte, heraus. Beide wachsen zu Gedächtnisorten heran. Im Folgenden soll gezeigt werden, welche Bedeutung ihnen zugemessen wird und in welcher Relation die beiden historisch bedingten Gedächtnisorte zueinander stehen. 2. KULMINATIONSPUNKTE DER UNGARNDEUTSCHEN GESCHICHTE ALS BESTIMMENDE GEDÄCHTNISORTE Der Zeit vor der Ansiedlung der Deutschen in den Dörfern widmen die Heimatbücher geringe Aufmerksamkeit. Sie beginnen zumeist die geschichtliche Darstellung mit der Frühgeschichte der Siedlung,34 wobei sie bevorzugt entweder von der ungarischen Landnahme35 oder einfach von der ersten urkundlichen Erwähnung des Dorfes ausgehen.36 Die Behandlung dieser Epoche kann als eine Art Exposition angesehen werden, die bald zur ersten detailliert dargestellten Epoche, zur Ansiedlungszeit im 18. Jahrhundert, hinführt. Die Einführungs- oder Auftaktfunktion wird durch die Zeitraffung der Exposition eindeutig. Das Heimatbuch von Groß-Kowatsch (1962) fasst die Geschichte Ungarns von den Anfängen bis zur Befreiung des Landes von den Türken auf drei Seiten zusammen (1,44 % des Gesamtumfangs), das bedeutend später erschienene Heimatbuch von Tschawa (1988) behandelt auf zwölf Seiten die geschichtlichen Ereignisse bis zur Ansiedlung der Deutschen (2,75 % des Gesamtumfangs). Vergleichbare Beobachtungen können bei jedem Heimatbuch angestellt werden.37 Mit 66 Seiten beschäftigt sich das Heimatbuch von Waschkut (1983) am ausführlichsten mit der Vorkolonisationszeit, aber in 34
Bruckner (wie Anm. 16). – Fritz (wie Anm. 23). – Flach, Paul: Waschkut. Beiträge zur Geschichte einer überwiegend deutschen Gemeinde in der Batschka/Ungarn. München 1983 (Die Deutschen aus Ungarn 18). – Walter, Josef: Perbál – Perwall. Geschichte und Erinnerungen an unsere Heimatgemeinde in Ungarn. Hirschberg 1988. – Budakeszi/Wudigeß. Hg. v. Franz Follath. Heidelberg 1986. – Hauk (wie Anm. 18). 35 Heimatbuch von Pusztavám (wie Anm. 33). – Schmausser (wie Anm. 17). – Ginder, Paul/ Pfeil, Jakob/Rukatukl, August: Csávoly (1780–1980). Heimatbuch einer ungarndeutschen Gemeinde aus der Batschka. Waiblingen 1980. – März, Heinrich: Heimatbuch und Ortschronik von Majos/Majesch. Olching 1997. 36 Bácsalmás (Batschalmasch). Eine deutsche Marktgemeinde in Ungarn. Hg. v. Anton Tafferner. München 1965. – Stöckl, Johann/Brandt, Franz: Die Geschichte der Gemeinde Elek in Ungarn. Weinheim 1977. – Reppmann, Anton: Vaskut. Geschichte einer deutschen Gemeinde in der Nordbatschka. Freilassing 1971 (Donauschwäbische Beiträge 57). – Riedl (wie Anm. 15). 37 Heimatbuch von Pusztavám (wie Anm. 33): 1,25 %; Bruckner (wie Anm. 16): 2,94 %; Schmausser (wie Anm. 17): 2,34 %; Bácsalmás (wie Anm. 36): 4,06 %; Zweites Bácsalmáser Heimatbuch (wie Anm. 24): 1,68 %; Fritz (wie Anm. 23): 3,39 %; Ginder/Pfeil/Rukatukl (wie Anm. 35): 1,42 %; Stöckl/Brandt (wie Anm. 36): 1,65 %; Flach (wie Anm. 34): 0,8 %; Walter (wie Anm. 34): 3,07 %; März (wie Anm. 35): 3,66 %; Budakeszi/Wudigeß (wie Anm. 34): 7,14 %; Riedl (wie Anm. 15): 1,44 %.
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Bezug auf den Gesamtumfang sind dies auch nur 8,97 %. Interessant ist der als Dokumentarband konzipierte geschichtliche Teil des Heimatbuches von Schambek (1992), der nur kommentierte Archivmaterialien und Primärquellen enthält.38 Doch der Band widmet dieser Zeit ebenfalls nur 4,13 % des Gesamtumfanges. Einige Heimatbücher versuchen einen allgemeinen Überblick über die Geschichte Ungarns zu geben.39 Obwohl sich die Autoren auf historische Quellen berufen, können diese Versuche in den meisten Fällen keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben, da sie zu allgemein und oberflächlich gehalten sind. Bestenfalls werden die für die Gemeinde wichtigen Geschehnisse hervorgehoben. Sie können als ein informierender Bericht definiert werden. Die Heimatbücher charakterisiert der Versuch, vor der Ansiedlung deutsche Spuren im Karpatenbecken aufzuzeigen. Dabei gehen sie auf Schilderungen des Deutschtums vor dem 18. Jahrhundert – von Zipser oder Siebenbürger Sachsen, der städtischen Kultur des deutschen Bürgertums in Ofen und anderen Städten – ein.40 Nach der relativ kurzen Exposition beschäftigen sich die Heimatbücher mit der Ansiedlungszeit, der große Aufmerksamkeit gewidmet wird, denn die Existenz der ganzen Gemeinschaft basiert auf diesem historischen Zeitabschnitt, dessen Historizität auch mit Urkunden und Ansiedlerlisten sowie Verträgen ausführlich belegt wird. Die Heimatbücher heben die Schwierigkeiten der ersten Jahre nach der Ansiedlung hervor und verwenden häufig den Topos vom beispielhaften deutschen Fleiß und der harten Arbeit der Siedler, die sich aus dem Nichts eine Heimat geschaffen hätten. Dieser Topos vom deutschen Fleiß ist ein markantes Beispiel für Wechselbeziehungen zwischen Selbst- und Fremdinterpretationen. Fleiß als prägende Eigenschaft der Gruppe spielt als Unterscheidungsmerkmal sowohl innerhalb der Gruppe als auch aus der Sicht des beobachtenden Fremden eine Rolle. Über deutsche Siedler, die sich durch ihren Fleiß auszeichnen, berichten etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts Aufzeichnungen ungarischer wissenschaftlicher Autoren. Exemplarisch soll zunächst Ferenc Pethe erwähnt werden, der diese Tugend 1805 im Zusammenhang mit der landwirtschaftlichen Produktion der Schwaben hervorhob.41 Pál Magda schrieb 1819, dass sie nicht nur fleißiger als die Ungarn seien, sondern auch die Slowaken überträfen.42 Die Arbeit von Elek Fényes aus dem Jahr 1842 widmet dem Charakter der Deutschen ein ganzes Kapitel und charakterisiert sie als stille, 38
39 40 41
42
Schambek. Beiträge zur Geschichte und Volkskunde einer „schwäbischen“ (donauschwäbischen) Gemeinde im Ofner Bergland, Ungarn. Hg. v. Martin Anton Jelli, 3 Bde. Gerlingen – Nattheim 1988–1992, hier Bd. 3: Dokumente zur Geschichte einer „schwäbischen“ (donauschwäbischen) Gemeinde im Ofner Bergland/Ungarn. Z. B. Greszl (wie Anm. 23), 24–26. – Bruckner (wie Anm. 16), 15–18. Hauk (wie Anm. 18), 24–26. – Ginder/Pfeil/Rukatukl (wie Anm. 35), 13–18. Zitiert bei Solymár, Imre: A völgységi svábság értékorientációi, történeti életmódja és ennek néhány orvosi-egészségügyi vetülete [Lebensorientierungen und historische Lebensführung der Völgységer Schwaben sowie einige Bezüge zum Gesundheitswesen]. In: Orvostörténeti Közlemények. Communicationes de Historia Artis Medicinae 102–104 (1983), 137–156, hier 137. Zit. ebd., 139.
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arbeitsame Menschen, die in der Arbeit standhafter seien als die Ungarn.43 Die Selbstinterpretationen der Heimatbücher stehen im Einklang mit den erwähnten Feststellungen ungarischer Beobachter. In dieser Hinsicht gibt es zwischen den Heimatbüchern keinerlei Unterschied. Unabhängig von der Zusammensetzung der Dorfgemeinschaft oder Unterschieden innerhalb der Gruppe taucht dieser Topos auf. Dies ist kein Novum oder Spezifikum der Heimatbücher. Ihr besonderer Beitrag besteht darin, diesen zunächst kontextlosen Topos, der sich zu einem nationalen Stereotyp entwickelt hatte, in einen argumentativen Zusammenhang zu bringen, wobei gezeigt wird, wie der Fleiß der Ahnen in den schwierigen Jahren unmittelbar nach der Ansiedlung als Beispiel für die Vertriebenen in der hoffnungslosen Zeit nach der Vertreibung dienen und ihnen Kraft geben konnte. Es wird dabei direkt und indirekt parallelisiertEs lassen sich zahlreiche Belege dafür in den Heimatbüchern finden, wie beispielsweise in der Charakterisierung der Ungarndeutschen als „[e]in Volk, das sich bis zum heutigen Tag durch seinen Fleiß und Mut abhebt von seinen Nachbarn“44. Oder: „Sie kamen mit wenig Geld und Gepäck, aber mit großer Begeisterung in das gelobte Land […]. Um so schmerzlicher war für sie der Anfang, als sie an Ort und Stelle feststellen mußten, daß das erste Brot viel Arbeit und Schweiß kostete.“45 Im Wigatscher Heimatbuch ist zu lesen: „Die deutschen Siedler kamen also nicht, um zu zerstören und zu verwüsten oder um das verbliebene dezimierte ungarische Volk zu unterwerfen, sie kamen nicht zum Erobern, sondern um mit ihrem Fleiß, ihrer Kultur das Land neu zu beleben. Sie kamen, um auf den niedergebrannten Feldern Getreide und Obst anzubauen und in der neuen Heimat warme und friedliche Heime entstehen zu lassen.“46
Das Heimatbuch von Groß-Kowatsch schreibt: „Außer ihren landwirtschaftlichen Kenntnissen und ihrem Fleiß brachten sie auch Bargeld […]. Der Fleiß der Kowatscher Kolonisten wird in den alten Schriften sehr gerühmt.“47 Der Gründungsmythos beschreibt stets eine „Creatio ex nihilo“.48 In das Bild einer öden, leeren und 43 44 45 46 47
48
Zit. ebd., 75 f. Solymár weist auf den Seiten 138–142 auch auf weitere Quellen aus dem 19. und 20. Jahrhundert hin, die sich mit dem Fleiß und Arbeitsethos der Deutschen in Ungarn beschäftigen. März (wie Anm. 35), 7. Ebd., 60. – Ähnliche Äußerungen bei Ginder/Pfeil/Rukatukl (wie Anm. 35), 18. – Hauk (wie Anm. 18), 28 f. Schmausser (wie Anm. 17), 21. Greszl (wie Anm. 23), 39 u. 42. – In dem Heimatbuch wird auf die Kontinuität des deutschen Fleißes hingewiesen, die in der Gemeinschaft während ihrer ganzen Geschichte bestand. Sogar in den Jahren nach der Vertreibung wird dieser Tugend eine besondere verbindende Funktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit impliziten Zukunftshoffnungen zugeschrieben. Der Begriff in diesem Zusammenhang ist von Seewann übernommen worden; vgl. Seewann, Gerhard: Siebenbürger Sachse, Ungarndeutscher, Donauschwabe? Überlegungen zur Identitätsproblematik des Deutschtums in Südosteuropa. In: Siedler-Identität. Neun Fallstudien von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Christof Dipper u. Rudolf Hiestand. Frankfurt a. M. u. a. 1995, 181–195, hier 185. Gerhard Seewann betont, dass solche Genesis-Mythen – in denen das Ansiedlungsgebiet aus der Perspektive der Siedler ebenso wüst, öd und leer war wie die ganze Erde am Anfang der Schöpfungsgeschichte – in Abwandlung auch bei anderen Völkern vorzufinden sind; ebd. 193.
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verwüsteten Landschaft wird ein zweites Bild hineinprojiziert, nämlich als Allererste da gewesen zu sein und eine Pionierleistung vollbracht zu haben.49 Gern wiederholen die Heimatbücher in diesem Zusammenhang den überall in der Welt verbreiteten Kolonistenspruch: „Der ersten Generation der Tod, der zweiten die Not und […] der dritten das […] Brot.“50 Ein Gründungsmythos, einhergehend mit einer Heroisierung der Leistung in der Ansiedlungsepoche, wird hier schriftlich fixiert. Sowohl die schriftlichen als auch die mündlichen Überlieferungen fließen dabei in diesen Mythos mit ein: „Was ist im Volksmunde über die Zeit der Ansiedlung überliefert?“, fragt das Wuderscher Heimatbuch.51 „Nach mündlichen und schriftlichen Überlieferungen bestiegen die Familien mit ihrer Habe in Regensburg die bereitgestellten Schiffe oder besser gesagt, Transportkähne. […] Einer zweiten mündlichen Überlieferung zufolge trafen die Siedler mit dem Schiff in Ofen (Buda) ein […]“52, heißt es im Eleker Heimatbuch. Die Vorstellung verfallener, unbewohnter und verlassener Orte,53 unkultivierter Landschaft, in der alles „verwahrlost, verwurzelt, voller Sträucher, Unkraut und Gestrüpp“54 ist und ein „Gräuel der Verwüstung“55 herrschte, kehrt bei der Darstellung des Dorfes nach dem Verlassen der deutschen Bevölkerung nach 1945 wieder. Im Kokerscher Heimatbuch heißt es: „Was wir sahen, war nur noch das Äußere, die Schale dieser Heimat.“56 Ähnlich im Wudigeßer Heimatbuch: „Nun war unsere Gemeinde öde und verlassen.“57 Oder in Wudersch: „Daheim blieben Elend und Verwüstung. Das mit Schweiß und durch zähe Arbeit Errungene, durch Jahrzehnte Erschaffene ging in der Zeit einiger Wochen zugrunde. […] Mein Onkel erzählte, daß unser Dorf von den Zerstörungen des Krieges verschont geblieben ist. […] Von vielen Preßhäusern ragen nur noch die kahlen Wände empor. So manche Kellerhügel und Mauern sind eingestürzt, Dachziegel- und Glasscherben, altes Eisengerümpel von den frühen Kellereinrichtungen liegen auf den Gehwegen kreuz und quer herum. […] Da liegen nun die Mühe und Arbeit, die von Generationen unserer Vorfahren unter harten Entbehrungen mit blutigem Schweiß geschaffen wurde, in Trümmern.“58
Der inhaltliche Widerspruch im letzten Zitat lässt vermuten, dass die Dörfer doch nicht so verfallen und zerstört waren, aber das betrachtende Auge des ehemaligen Bewohners sieht nur die Trümmer der eigenen und kollektiven Vergangenheit. Die Bitterkeit und die Enttäuschung vermischen sich mit realen Eindrücken zu einem Bild des Verfalls, das sinnbildlich für den Abbruch der Kontinuität in diesem Raum 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58
Seewann (ebd.) hebt in diesem Zusammenhang als urmenschliches Bedürfnis hervor, aus der Tatsache einer solchen Pionierleistung immerwährende Besitzansprüche bzw. „historische Rechte“ auf das mit der ansiedelnden ethnischen Gruppe identifizierte Territorium abzuleiten. März (wie Anm. 35), 60. – Stöckl/Brandt (wie Anm. 36), 13. Riedl (wie Anm. 15), 14. Stöckl/Brandt (wie Anm. 36), 13. Greszl (wie Anm. 23), 27. Bácsalmás (wie Anm. 36), 132. Greszl (wie Anm. 23), 27. – Walter (wie Anm. 34), 11. Fritz (wie Anm. 23), 12. Budakeszi/Wudigeß (wie Anm. 34), 169. Riedl (wie Anm. 15), 117 u. 121.
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steht: „Wir hatten wohl alle, gleich ob jung oder alt, das Gefühl, als ginge eine Welt zugrunde, und als stünden wir vor deren Scherben […].“59 Die Kolonistenmentalität spiegelt sich in jeder geschichtlichen Phase der Gemeinschaft wider. Die Geschichte wird als ununterbrochene „250jährige harte und opfervolle Siedlungsarbeit“60 gedeutet, wobei „[d]er Schwabe, der im Ungarland einen harten Lebenskampf zu führen hatte“,61 eine starke Gemeinschaft hinter sich wissen sollte. Dieses Kolonistenbewusstsein hat sich bis in die Zeit nach der Vertreibung erhalten können. Die Heimatbücher zeigen ganz bewusst die Parallelen zwischen dem Schicksal der Kolonisten und dem der Vertriebenen, um bei einem erneuten Neubeginn Kraft zu geben: „Diese Fluktuation der ersten Siedler ist mit unserer Wohnortsuche der Anfangsjahre nach der Vertreibung in der Bundesrepublik zu vergleichen.“62 „Die von den Vorfahren ererbten Tugenden, wie Fleiß, Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit, sind beim Auf- und Ausbau unserer Stadt [i. e. Langenau/Deutschland; Anm. d. Verf.] sichtbar unter Beweis gestellt worden.“63 Auch das oben zitierte Kolonistensprichwort wurde auf die neuen Verhältnisse übertragen: „Die ältere Vertriebenengeneration nahm ihren Schmerz mit ins Grab, die zweite, jüngere Generation konnte sich schon eine stabile Existenz im Nachkriegsdeutschland aufbauen und die dritte Generation, unsere Enkel [hier wird klar, zu welcher Generation der Autor/die Autorengruppe gehört; Anm. d. Verf.], besuchen wohl die weiteren Verwandten in Torbágy und machen auch mal Urlaub am ungarischen Plattensee, aber leben wollen sie dort nicht mehr. Sie betrachten schon die Bundesrepublik als ihre Heimat.“64
Das von den Heimatbüchern vermittelte Geschichtsbild zeigt die Wiederholbarkeit von Ereignissen, womit die Wiederkehr von Konstellationen gemeint ist.65 Verhaltensmuster und Lösungsversuche sollten aus der früheren Zeit importiert werden, um die Schwierigkeiten der Gegenwart zu meistern. Die Schlüsselrolle wird in diesem Zusammenhang dem schon erwähnten Kolonistengeist, der dem Siedler eigenen Mentalität zugewiesen. Die Ähnlichkeit führt in manchen Heimatbüchern zur Gleichstellung der Kolonistenzeit mit der Vertreibungszeit. Es kommt das bemerkenswerte Phänomen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zustande.66 Im folgenden Zitat signalisiert das Personalpronomen „wir“ die völlige Identifizierung mit den Kolonistenvorfahren. Das Adverb „wieder“ impliziert die Wiederholung der geschichtlichen Entwicklung innerhalb eines Menschenlebens, trotz der tatsächlichen zeitlichen Distanz zwischen Ansiedlung und Vertreibung: „Mit neuem Mut, Fleiß und Gottvertrauen begann erneut die Aufbauarbeit in einer fremden Um59 60 61 62 63 64 65 66
Greszl (wie Anm. 23), 57. Ebd., 48; vgl. Budakeszi/Wudigeß (wie Anm. 34), 169. Reppmann (wie Anm. 36), 55; ähnliche Hinweise vgl. Budakeszi/Wudigeß (wie Anm. 34), 64 f. Bruckner (wie Anm. 16), 34. Fritz (wie Anm. 23), 7. – Riedl (wie Anm. 15), 34. Bruckner (wie Anm. 16), 182. Vgl. Koselleck, Reinhart: Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen. In: Geschichte, Ereignis und Erzählung. Hg. v. dems. u. Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik 5), 211–222, hier 213. Vgl. ebd.
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gebung. Wir fanden wieder ein Zuhause und auch eine neue Heimat.“67 Ebenso verschwindet die zeitliche Distanz zwischen der Ansiedlung und der Vertreibung, wenn beim Abschiednehmen von der Heimat der Autor seine Gefühle wie folgt ausdrückt: „Besonders schwer fiel es unseren Eltern und Großeltern, alles zurückzulassen. Sie wollten sich von ihrem Lebenswerk, das sie mit ihrem Fleiß und ihrer Ausdauer seit 250 Jahren mit aufgebaut hatten, nicht trennen.“68 Die zeitliche Struktur der Heimatbücher spiegelt die Erfahrung einer Wiederholbarkeit von Geschichte und die Exemplarität von Ereignissen wider, indem sie – auf den potenziellen Leser zielend – ermöglicht, das eigene Leben in einem größeren Zusammenhang zu sehen und sich dadurch mit Vergangenheit auszusöhnen. Das Gedächtnis betätigt sich rekonstruktiv.69 Die Vergangenheit vermag sich in ihm nicht als solche zu bewahren. Sie wird fortwährend von dem sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her organisiert. Das kollektive Gedächtnis bewegt sich daher in beide Richtungen: zurück und nach vorn. Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrungen der Gegenwart und Zukunft.70 Der französische Soziologe Maurice Halbwachs ist der Ansicht, dass eine Gruppe ihre Vergangenheit in einer Form präsentiert, aus der jeder Wandel ausgeschaltet ist. In der Tat spielt die Ausblendung von Veränderungen für Halbwachs’ Kollektivgedächtnis eine zentrale Rolle, sodass er ihm pauschal ‚die Geschichte‘ als Oppositionsbegriff gegenüberstellen kann. Die Geschichte verfährt nach Halbwachs genau umgekehrt wie das kollektive Gedächtnis,71 oder wie Assmann formuliert: „Schaut dieses nur auf die Ähnlichkeiten und Kontinuitäten, so nimmt jene nur Differenzen und Diskontinuitäten wahr. Während das kollektive Gedächtnis die Gruppe ‚von innen‘ sieht und bestrebt ist, ihr ein Bild ihrer Vergangenheit zu zeigen, in dem sie sich in allen Stadien wiedererkennen kann und das daher tiefgreifendere Veränderungen ausblendet, blendet die Geschichte wiederum solche wandlungslosen Zeiten als ‚leere‘ Intervalle aus ihrem Tableau aus und lässt nur das als historisches Faktum gelten, was als Prozess oder Ereignis Veränderung anzeigt.“72
Da die Heimatbücher aus einer spezifischen Gegenwart heraus geschrieben werden, werden Details hervorgehoben, die für diese Gegenwart und für die Zukunft eine Bedeutung besitzen können.73 So finden sich unschwer Hinweise auf die Parallelen zwischen der Kolonistenzeit und der Zeit nach der Vertreibung. Verständlicherweise erfährt die Zeit der ersten Generationen besondere Beachtung, denn der Lohn 67 68 69
70 71 72 73
Walter (wie Anm. 34), 11. Hauk (wie Anm. 18), 298. Mit Rekonstruktivität ist gemeint, dass in keinem Gedächtnis die Vergangenheit als Ganzes bewahrt werden kann, sondern nur das von ihr bleibt, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem jeweiligen Bezugsrahmen rekonstruieren kann“. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967, 390. Assmann (wie Anm. 4), 40–42. Vgl. ebd. Ebd., 42 f. Halbwachs (wie Anm. 69), 390 f.
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für die harte Arbeit der Kolonisten ist die Blüte ihrer Kultur im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit. Den zweiten Kulminationspunkt in der Geschichte des Dorfes bildet dann die Vertreibung. Diese beiden Kulminationspunkte wachsen zu Gedächtnisorten heran, die aufeinander beruhen, sodass die alte Heimat der Ahnen zur neuen Heimat der Vertriebenen werden kann und auch umgekehrt. Es entsteht ein Kreislauf, der das ganze Leben zwischen den beiden Gedächtnisorten, zwischen Ansiedlungszeit und Vertreibung einschließt. Was dazwischen liegt, wird überbrückt durch die Darstellung der Kirchen-, Schul- oder Verwaltungsgeschichte. Soweit Daten und Informationen ab der Anfangszeit vorhanden sind, setzen diese geschichtlichen Darstellungen unmittelbar bei der Ansiedlung an. Wichtiges Merkmal der Heimatbücher ist, dass sie ihre zumeist sehr lückenhafte Kirchen-, Schul- und Verwaltungsgeschichte – eventuell auch Haus- und Wirtschaftsgeschichte – nicht synchron behandeln, sondern mit jedem neuen Thema immer wieder bei der Ansiedlung anknüpfen. Es entstehen dadurch parallele und rückläufige Zeitsprünge, die immer wieder die Kolonistenmentalität in den Vordergrund rücken. Parallel zu diesen Kreisen der Zeitsprünge steht der zeitlose Kreislauf der Sitten und Bräuche, deren Entstehung und Herkunft überhaupt nicht erforscht wird. Es gibt nur Hinweise auf ein nicht näher bestimmtes Früher oder Immer. Die Wurzeln gehen in die mythische Vergangenheit zurück und bleiben unangetastet. Es erfolgt immer nur der Hinweis, dass eine Sache von den Ahnen ererbt und von einer Generation zur anderen weitergegeben wurde. Das Tradierte lebte im kommunikativen Gedächtnis der Gemeinschaft weiter, bis es schließlich Teil des kulturellen Gedächtnisses wurde. Im Zusammenhang mit Kriegsende und Vertreibung bekommt die Erlebnisgeneration als Träger des kommunikativen Gedächtnisses eine besondere Rolle zugewiesen. Ihre autobiographisch geprägten Berichte gehören zu den festen Bestandteilen der Heimatbücher. Dabei bekommen die persönlichen Erinnerungen der Einzelnen ebenso viel Gewicht wie das Historisch-Faktische, denn beide Elemente gelten als Teile des kollektiven beziehungsweise des kulturellen Gedächtnisses. Durch Augenzeugenberichte soll die Authentizität der Darstellung gestärkt werden. Was aber eindeutig zum Ausdruck kommt, ist die Subjektivität, sodass ein möglicher Untertitel der Heimatbücher „von Erinnerung zu Erinnerung“ sein könnte, da der Erinnerungswert meistens über den literarischen und faktischen dominiert. Dies gilt auch für Kapitel der Heimatbücher, die auf den ersten Blick rein faktisch zu sein scheinen. Wenn jedoch die – den Fluss der Erzählung unterbrechenden, nicht selten affektiv beladenen, die Ereignisse aus subjektiver Sicht kommentierenden – Halbsätze und Nebenbemerkungen der Autoren ins Auge fallen, trübt sich der Eindruck des rein Faktischen wesentlich.74 Die Beiträge markieren den in der Kette der Generationen eingenommenen Platz. Wo diese Kette abreißt, wo die Kontinuität in Raum und Zeit durch die Ver74
Vgl. dazu einige ausgewählte Beispiele: Bruckner (wie Anm. 16), 129 u. 152 sowie 158; März (wie Anm. 35), 149; Fritz (wie Anm. 23), 104; Riedl (wie Anm. 15), 165; Budakeszi/ Wudigeß (wie Anm. 34), 38.
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treibung unterbrochen wird, beginnt eine neue Zeitrechnung für die Dorfgemeinschaft und dies spiegelt sich auch in den Heimatbüchern wider. In der neuen Heimat müssen die Vertriebenen genauso wie ihre Vorfahren als Kolonisten neu anfangen. In diesem Zusammenhang wird gern auch darauf hingewiesen, dass man ins Land seiner Ahnen zurückkehrt. Dabei gehen das Vorher und das Nachher in der zirkulären Raum-Zeit-Konstellation ineinander auf.75 Im Turwaller Heimatbuch heißt es: „Von hier aus zogen deutsche Siedler im 18. Jahrhundert auf der Donau nach dem Südosten Europas. Ihre Nachfahren kehrten vom Schicksal nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben in das Land ihrer Väter zurück.“76 Es gibt auch Heimatbücher, die sich mit der Zeit nach der Vertreibung überhaupt nicht beschäftigen.77 Nach erfolgter Darstellung der Blüte in der Zwischenkriegszeit wirkt der plötzliche Abbruch der Geschichte noch dramatischer und die affektive Wirkung ist umso größer. Die Autoren verzichten bewusst auf die Schilderung der Zeit nach der Vertreibung, denn sie sehen keine Möglichkeit eines Fortbestandes der Gemeinschaft: „Das Ende einer 250jährigen Entwicklung einer gewachsenen Gemeinschaft in ihrer Zusammengehörigkeit mit der uns eigenen Kultur war damit besiegelt. Unsere Gemeinde war tot.“78 Der gewaltsame Abbruch der Geschichte bedeutet dann die Auflösung der Dorfgemeinschaft, die nur durch die Gedächtnisorte in einer imaginären Form im kollektiven Gedächtnis fortexistieren kann. Durch die rückwärtsgewandte Perspektive im Sinne einer Identitätskonstruktion und -rekonstruktion in der Semantisierung von Heimat wird die Asynchronie zwischen der Zeit der dargestellten Ereignisse und der subjektiven Eindrücke über die Ereignisse bewusst gemacht und durch den Akt der Erinnerung wird Vergangenes erst lebendig und in die eigene Gegenwart integriert. Es wird die in der Vernichtung der Dorfgemeinschaft sich manifestierende Wirkung der Geschichte erlebt, wodurch die Ereignisse aus einer neuen, subjektiven Perspektive erfahren und vermittelt werden. Ansiedlung und Vertreibung wachsen zu historischen Gedächtnisorten heran, beziehen sich sogar aufeinander. Der besondere Stellenwert der Heimatbücher besteht nicht nur darin, dass sie das kollektive Gedächtnis formen, schaffen und transferieren helfen, sondern dass sie Archiv, Geschichtsbuch und Regelkodex gleichsam ersetzen und selbst als funktionale Gedächtnisorte auftreten. Beim Lesen eines Heimatbuches entfaltet sich eine imaginäre Reise in die Vergangenheit eines Dorfes und einer Dorfgemeinschaft und es wird nicht nur der geographische Raum durchquert, sondern es handelt sich um eine Reise durch das gesamte kulturelle Gedächtnis der Gemeinschaft.
75 76 77 78
Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 757), 150 f. Bruckner (wie Anm. 16), 40. Z. B. Budakeszi/Wudigeß (wie Anm. 34); Reppmann (wie Anm. 36). Budakeszi/Wudigeß (wie Anm. 34), 169.
III. ORTE DER ERINNERUNG
ORTSNAMEN ALS IDENTITÄTSSYMBOLE Das Beispiel der Schwäbischen Türkei (Ungarn) Josef Schwing 1. DER ORTSNAME – DIE ORTSBEZOGENE IDENTITÄT Die Ortsnamen nehmen unter den geographischen Namen einen besonderen Stellenwert ein, denn sie sind Bewahrer einer zumeist längst verschütteten Geschichte, über die Jacob Grimm einst schrieb: „Nirgend wo europäische geschichte beginnt, hebt sie ganz von frischem an, sondern setzt immer lange, dunkle zeiten voraus, durch welche ihr eine frühere welt verknüpft wird.“1 So erinnert sich heute in der Tat keiner mehr an die slawische Herkunft und Bedeutung des Namens der deutschen Hauptstadt Berlin oder der ungarischen Doppelstadt Budapest. Ortsnamen sind heute längst Symbole. So können etwa die Namen von Hauptstädten ähnlich wie Flaggen, Wappen oder Hymnen stellvertretend für ganze Nationen stehen. Ortsnamen besitzen einen doppelten Symbolcharakter: Der Ortsname steht immer für eine Gemeinschaft, die den Ort bewohnt, und symbolisiert zugleich die emotionale Bindung der Menschen an den Ort, die ortsbezogene Identität schlechthin.2 Deshalb wird ein amtlich verordneter Namenswechsel von den Ortsbewohnern nicht angenommen, selbst dann nicht, wenn der neue Name wohlklingender oder prestigeträchtiger ist.3 Dass Ortsnamen sichtbare Zeichen einer unsichtbaren Wirklichkeit, so der identitätsbildenden Erinnerungen an Familie, Kindheit oder schulische Sozialisation, darstellen, zeigt sich besonders im Fall von freiwilligen oder erzwungenen Migrationen. Zahlreiche historische Beispiele beweisen, dass mit dem Verlassen 1 2
3
Bach, Adolf: Deutsche Namenskunde, 2 Bde. Heidelberg 1953–1954, hier Bd. II/2, 1. Vgl. u. a. Künzli, Arnold: Die Funktion des Symbols in der Politik. In: Welt der Symbole. Interdisziplinäre Aspekte des Symbolverständnisses. Hg. v. Gaetano Benedetti u. Udo Rauchfleisch. Göttingen 1989, 2. Auflage [11988], 234–246. – Hüppauf, Bernd: Heimat – die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung. In: Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Hg. v. Günther Gebhard, Oliver Geisler u. Steffen Schröter. Bielefeld 2007, 109–140. Der Ort Rózsafa („Rosenbaum“) im Komitat Baranya (Ungarn) hieß bis 1907 Büdösfalva (büdös, „stinkend“, eine auf lautlicher Ähnlichkeit beruhende volksetymologische Umdeutung des historischen Ortsnamens Vidusfalua). Der alte Name hält sich jedoch neben dem neuen hartnäckig, trotz seiner pejorativen Bedeutung. Vgl. dazu Baranya megye földrajzi nevei [Geographische Namen des Komitates Baranya]. Red. v. János Pesti, 2 Bde. Pécs 1982–1983, hier Bd. 1, 490. – Kiss, Lajos: Földrajzi nevek etimológiai szótára [Ethymologisches Wörterbuch der geografischen Namen], 2 Bde. Budapest 1988, 4. erw. u. verb. Auflage [11978], hier Bd. 2, 426.
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des Heimatortes durch Auswanderung oder ihrem Verlust durch Flucht der Ortsname zum Angelpunkt der gemeinsamen raumbezogenen Erinnerungen wurde, der die Migranten in der Fremde zusammenschweißte. Ihre neu gegründeten Siedlungen benannten sie oft nach dem Namen ihres verlassenen Heimatortes oder nach einer Stadt ihrer engeren alten Heimat. Ebenso blieb ihre gemeinsame Ortsmundart ein starkes Bindeglied in der Ferne. Schon während der deutschen Ostkolonisation im 13. Jahrhundert erhielten neu gegründete Siedlungen den aus der alten Heimat ‚mitgebrachten‘ Namen. In der Grafschaft Glatz in Schlesien beispielsweise finden wir gleich drei Ortsnamen: Reinerz, Roms, Rückers, die auf die drei hessischen Orte Reinhards, Rommerz, Rückers bei Fulda zurückzuführen sind.4 In der Neuzeit gab es vor allem in Amerika diese Benennungsart häufig, nicht nur bei den deutschen Einwanderern. Auf deutsche Siedlungsgründungen verweisen heute noch und oft mehrfach Namen wie Alzey, Bingen, Heidelberg und sogar Berlin. Oft erhielten diese Ortsnamen das Attribut Neu (New, Nouvel) wie etwa New Ulm oder New Mentz, die mundartliche Form von Mainz. Auch bei den im 18. Jahrhundert nach Russland ausgewanderten Deutschen gab es Ortschaften wie Speyer, Worms, Karlsruhe und Rastatt. In diesen Fällen handelt es sich vorwiegend um Siedlungen, die in unbewohnten Gebieten entstanden. Die Form, die neue Siedlung nach dem heimatlichen Ortsnamen zu benennen, setzt auch voraus, dass die Siedler eine zahlenmäßig starke, sprachlich homogene und vielleicht sogar in verwandtschaftlichen Beziehungen stehende Gruppe bildeten. 2. DIE BESONDERHEITEN DER ORTSNAMEN DER DEUTSCHEN KOLONISTEN IN UNGARN In Ungarn fehlen aus der alten Heimat der Kolonisten mitgebrachte Ortsnamen, doch es gab mehrere Siedlungen, besonders im Banat, mit originären deutschen Ortsnamen, beispielsweise Altringen, Bethausen, Charlottenburg, Engelsbrunn, Eugendorf, Franzfeld, Gottlob, Guttenbrunn, Hatzfeld, Josefsdorf, Liebling, Wetschehausen. Das Banat war von 1718 bis 1779 kaiserliches Kronland und wurde von Wien verwaltet. Im Rahmen der habsburgischen Kolonisation entstanden dort neue, oft auf dem Reißbrett geplante Kolonistendörfer. Einige Orte erhielten Namen von bekannten Kameralbeamten der Zeit. Das 1766 neu gegründete Hatzfeld beispielsweise wurde nach dem Wiener Hofkammerpräsidenten Karl Friedrich Anton von Hatzfeldt zu Gleichen benannt. Als das Banat an das Königreich Ungarn zurückfiel und im 19. Jahrhundert alle Orte amtliche ungarische Namen erhielten, wurde der Ort 1860 in das ungarische Zsombolya – nach der urkundlich überlieferten ersten ungarischen Benennung des Dorfes aus dem Mittelalter, Chumbul oder Zsomboly – umbenannt, wobei die deutschen Bewohner für ihren Ort nach wie vor den Namen Hatzfeld verwendeten. Auch Wetschehausen beispielsweise erhielt 1789 zuerst nach dem Kameraladministrator Freiherr Nikolaus von Vecsey den Na4
Deutsche Wortgeschichte, Teil 2. Hg. v. Friedrich Maurer u. Heinz Rupp. Berlin 1974 (Grundriß der germanischen Philologie 17, 2), 670.
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men Vecsey. 1809 wurde der Name zu Vecseyháza erweitert. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs lautete die offizielle ungarische Bezeichnung Vecseháza. Die Deutschen nennen ihr Heimatdorf in Ableitung von der ungarischen Fassung bis heute Wetschehausen. Demgegenüber gibt es in einem anderen, ebenfalls im 18. Jahrhundert entstandenen bedeutenden Siedlungsgebiet der Deutschen, in der Schwäbischen Türkei, von Einzelfällen abgesehen keinen Ort, der den Namen des Gründers erhalten hatte. Ebenso gab es nur in wenigen Ausnahmefällen deutsche Neubenennungen, die amtliche Gültigkeit erlangt hatten.5 In der Schwäbischen Türkei fehlten die Voraussetzungen für die vorgenannte Benennungsart. Die Siedler fanden dort bei ihrer Ankunft zwar dünn besiedelte, jedoch keine menschenleeren Orte vor. In allen den Siedlern von der Ungarischen Hofkammer oder von privaten Grundherren zugewiesenen Orten gab es zumindest einige ungarische oder südslawische Familien, die ihnen den Ortsnamen in ihrer ungarischen oder südslawischen mundartlichen Aussprache vermittelten. Fast sämtliche Ortschaften existierten schon im Mittelalter und ihre Namen überdauerten die Türkenherrschaft. So hatten sie Anfang des 18. Jahrhunderts, als die deutsche Siedlungskolonisation einsetzte, bereits amtliche Gültigkeit. Es gibt noch weitere Gründe für das Fehlen mitgebrachter Ortsnamen. Die deutschen Einwanderer waren in den Anfangsjahren in den ihnen zugewiesenen Siedlungen meist noch in der Minderheit. Außerdem wurden dort oft Familien aus verschiedenen Herkunftsorten, nicht selten auch aus verschiedenen Regionen untergebracht.6 Die Besiedlung mit den deutschen Kolonisten vollzog sich darüber hinaus etappenweise über Jahrzehnte und die ersten Siedlergruppen waren längst ‚Einheimische‘. Ihre Bindung und Erinnerung an den Ort ihrer Herkunft war schon verblasst, als noch weitere Siedler aus anderen Herkunftsgebieten hinzukamen, die Fremde waren und sich der Lebensweise der etablierten Bewohner anpassen muss5
6
Ausnahmen sind: Alt-Glashütte > ung. Óbánya, Neuglashütte > ung. Kisújbánya, Eugen(ius) dorf > Jenőfalva, Albertsdorf > Albertfalu. Vgl. dazu Weidlein, Johann: Mundartliche Ortsnamen in der Schwäbischen Türkei. In: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 3 (1939), 350. Die einzelnen Gruppen desselben Ortes kamen oft aus verschiedenen Regionen Mittel- und Süddeutschlands, sprachen unterschiedliche Mundartvarianten oder sogar verschiedene Stammesmundarten. Diese vermischten sich vielerorts in den Jahrzehnten nach der Ansiedlung und es entstanden neue unikale Mundartsysteme. Die meisten Siedler im Komitat Tolna sprechen mittelhessische Mundarten. In der östlichen Baranya zwischen Fünfkirchen und der Donauniederung gibt es wiederum einen relativ geschlossenen osthessischen (fuldischen) Mundartraum, dessen Siedler sich nach ihrer Herkunft „Stiffoller“ (Stift Fulda) nennen. In der westlichen Baranya, im Zselic, gibt es zwölf Orte mit rheinfränkisch-bairischer Mischmundart. In den anderen Gebieten der Schwäbischen Türkei werden vereinzelt bairische, schwäbische (alemannische), ostfränkische und moselfränkische Mundarten gesprochen. Bezeichnend für die Schwäbische Türkei ist die überörtliche Mundartheterogenität. Es sind hier alle mittel- und süddeutschen Mundarten vertreten, die von Ort zu Ort wechseln. Der Unterschied benachbarter Ortsmundarten führte in Einzelfällen sogar zu Verständigungsschwierigkeiten, etwa zwischen der schwäbischen Mundart von Tevel und der osthessischen Mundart von Mucsi, obwohl die beiden Orte nur vier Kilometer auseinanderliegen.
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ten. Es fehlte also die gemeinsame raumbezogene Erinnerung an die engere alte Heimat. Die deutschen Siedler schufen die Namen daher auf eigene Weise nach ihrer Mundart. Sie akzeptierten den gegebenen Ortsnamen, den sie jedoch nach den phonetischen und phonotaktischen Gesetzmäßigkeiten ihres eigenen Mundartsystems transformierten, ‚eindeutschten‘. Dieser Umgestaltungsprozess vollzog sich bereits direkt nach der Ansiedlung, als die Siedler die Sprache der ansässigen Bewohner noch nicht verstanden.7 Im Folgenden wird die Entstehung der mundartlichen Bezeichnungen der Orte der deutschen Kolonisten anhand von ausgewählten Beispielen dargestellt. Die mundartlichen Bezeichnungen der Orte in der Schwäbischen Türkei sind bei näherem Betrachten ‚Erinnerungsorte‘ der Migrationsgeschichte, die nicht nur von der regionalen Herkunft der Siedler, sondern zugleich von ihrer Integration in der neuen Heimat zeugen. Im weiteren Verlauf wurden auch die von den deutschen Siedlern bereits umgestalteten Namen der Orte der näheren Umgebung übernommen und in das eigene Mundartsystem integriert. Manche deutschen Nachbarmundarten hatten jedoch andere, von der eigenen Ortsmundart abweichende Lautsysteme, das heißt Laute, die in der eigenen Mundart nicht vorkamen. Diese wurden durch ähnliche Laute der eigenen Mundart ersetzt. So bildete sich in der Schwäbischen Türkei ein komplexes Namensgeflecht heraus, das seinesgleichen sucht.8 3. DIE INTEGRATION DER ENTLEHNTEN ORTSNAMEN IN DIE DEUTSCHEN MUNDARTEN Bei der Entlehnung von Ortsnamen standen sich zwei strukturell grundverschiedene Sprachsysteme gegenüber. Die gebende Sprache, in erster Linie die ungarische, die der finno-ugrischen Sprachfamilie angehört, besitzt ein phonologisches System, das im Phoneminventar und noch mehr in der Silben- und Wortstruktur 7
8
In die sich nach der Ansiedlung neu formierenden deutschen Mundartsysteme – Ausgleich ersten Grades – wurde auch das von der einheimischen Bevölkerung entlehnte Sprachgut miteinbezogen. Dass der sprachliche beziehungsweise mundartliche Angleichungsprozess der Lehnwörter, so der Ortsnamen, schon kurz nach der Ansiedlung einsetzte, ist aus der Beschreibung des Komitates Baranya aus dem Jahr 1785/86, die im Auftrag des königlichen Kommissars des Fünfkirchner Distrikts, Graf Ferenc Széchényi, verfasst wurde, bekannt. Vgl. dazu Országos Széchényi Könyvtár [Ungarische Nationalbibliothek], Handschriftenabteilung, fol. lat. 289. Beispiele: Babarc > Pavercz, Gerényes > Griensch, Nagyhajmás > Hejmasch, Palotabozsok > Puschok, Somberek > Samperg. Geht man der Frage nach, wie ein Ort von den Sprechern der umgebenden Orte benannt wird, erhält man eine überraschende, oft in den zweistelligen Zahlenbereich gehende Formenvielfalt. Wenn man alle Lautnuancen berücksichtigt, kommt man zum Beispiel für den in der ganzen Region bekannten standardsprachigen Namen der Stadt Fünfkirchen auf 28, für Baranyaszentgyörgy (Sendjärch) auf 19, für Nagynyárád (Großnarad) auf 15 Mundartvarianten. Die deutschen mundartlichen Ortsnamen sind auf 207 Karten dokumentiert in: Schwing, Josef: Die deutschen mundartlichen Ortsnamen Südtransdanubiens (Ungarn). Debrecen 2011.
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sowie in der Prosodie zum Teil grundlegende Andersartigkeit gegenüber den nehmenden Sprachen, den deutschen Mundarten, aufweist. 3.1. Lautersatzregeln bei der Entlehnung Grundsätzlich gilt, dass Laute in Lehnwörtern, die es in den eigenen Mundarten nicht gibt, durch ähnlich klingende (artikulatorisch oder auditiv verwandte) Laute ersetzt werden. Diese Regeln waren auch bei der Integration der entlehnten Ortsnamen in die eigene Mundart gültig. 3.1.1. Konsonanten Die deutschen Mundarten des Siedlungsgebiets kennen im Gegensatz zum Ungarischen im Wortan- und -auslaut keine stimmhaften Verschluss- und Reibelaute. Diese sind in den genannten Positionen immer stimmlos und unbehaucht. Als Beispiele seien genannt: ung.9 Bár [ba:r], dt. mda. [pa:r]; ung. Decs [dætʃ], dt. mda. [tætʃ]; ung. Geresd ['gæræd], dt. mda. ['kæræʃ]; ung. Závod ['za:vod], dt. mda. ['sa:vət, 'sabət]. Im Wortinnern (medial), in manchen Systemen auch zwischen Vokal und [l, r], ist in den rheinfränkischen Mundarten kein [b] zugelassen, dafür erscheint [v]. Wie im Herkunftsgebiet, wo den deutschen, schriftsprachlichen amtlichen Ortsnamen Ebertsheim, Oberndorf, Siebeldingen mda. Ewwertsem, Owwerdorf, Siwweldinge entsprechen, wurden im Siedlungsgebiet aus ung. Babarc, Ibafa, Köblény, Hercegszabar, Zsibrik dt. mda. ['pa:vats, 'ivəfa, 'kevlŋ, 'sa:vr, 'ʃivrεk]. In Ausnahmefällen finden wir für ung. [b] auch im Anlaut ein [v]: Vásárosbéc > [ve:ts], Bikács > ['vigatʃ].10 Selten, bei partieller Integration, erscheint ung. als [b, p]: Ibafa > ['ibəfa, 'ipəfa]. Die alemannischen (schwäbischen) Mundarten haben ihr intervokalisches [b] bewahrt: Tabód > ['tabət], Závod > ['sabət] (Kisdorog, Tevel, Zomba). Dt. mediales [d] erscheint in den rheinfränkischen Mundarten entweder als [d], als [r] (Rhotazismus), als [l] (Lambdazismus), vereinzelt als [ð] (wie engl. th) oder Ø (Schwund des Konsonanten; beispielsweise im Wort „Bruder“: Brudər ~ Brurər ~ Brulər ~ Bruðər ~ Bruər). In den Siedlungsmundarten sind nur [d, r, ð] vertreten. Das [d] der ung. Ortsnamen wurde meistens unverändert übernommen: Fazekasboda > ['poυdə], Püspöknádasd > ['na:daʃ], Bátaszék > ['pɒ:dəsek], Gadács > ['kɑdɑ:tʃ]. Ung. erscheint selten als [t]: Hidor > ['hitυ:ər], Kisbudmér
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Um Wiederholungen zu vermeiden, werden folgende Abkürzungen eingeführt: allg. = allgemein, amtl. = amtlich, dt. = deutsch, mda. = mundartlich, Mda. = Mundart, Mdaa. = Mundarten, rheinfrk. = rheinfränkisch, u. a. Var. = und andere Varianten, Umg. = Umgebung, ung. = ungarisch, Var. = Variante. In der ostniederösterreichischen Mundart von Bikács ist dieser Lautersatz die Regel.
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> ['klɑ:putmε:ər]. Ung. > [ð]11: Ladomány > ['la:ðəmə] (Szálka). Für die noch vorhandene Produktivität des sogenannten Rhotazismus: ung. Ortsnamen Medina > dt. mda. ['me:riŋə] und ['me:diŋə]12 (Felsőnána, Gyönk, Varsád). Ung. stimmloses unbehauchtes [t, t:] in medialer Position erscheint in den deutschen Mundarten nach langem Vokal meist als stimmhaftes [d]: Barátúr ['pra:dər], Bátaszék ['pɒ:dəsek], Töttös ['ti:dʃ]; nach kurzem Vokal ist ung. meist stimmlos, unbehaucht: Keszőhidegkút ['hitəku:t]. Ung. nach langem Vokal > [ð]: Báta ['pɔ:ðə], Bátaapáti [a'pɔ:ð]; ung. > [r] (Rhotazismus): Bátaszék ['pɒ:rəsæk] (Majos, Varsád). Das schriftsprachliche mediale stimmhafte [g] der ungarischen Ortsnamen wird in die deutschen Mundarten entweder als [g], seltener als [k] übernommen oder durch einen Frikativ [ç, γ] ersetzt: Liget > ['ligət], Mágocs > ['ma:gotʃ], Nágocs > ['na:kotʃ]; ung. Abaliget, ung. mda. Baliget > ['pɔ:ligεt] (Abaliget), Var. [pa'li:γət] (Nachbarorte von Abaliget), Jágónak > ['ja:γənak] (Jágónak und Nachbarorte) und ['ja:gənak] (andere Nachbarorte); ung. Liget > ['ligət] (Liget und Nachbarorte) und ['li:γət] (andere Nachbarorte); ung. Szigetvár > ['sigət] und ['siçət] ~ ['siγət] (Umgebung von Szigetvár). Ung. [k] wird meistens unverändert übernommen: Bikal > ['pikal], Tékes > ['te:kəʃ]; seltener erscheint es als [g]: Feked > ['fægədə] (Palotabozsok). Die palatalisierten Konsonanten des Ung. [ţ], [dj], [], [j], ung. mda. auch [l] sind größtenteils durch die entsprechenden nichtpalatalisierten Konsonanten [t] (stimmlos, unbehaucht), [d] (stimmhaft), [n] beziehungsweise [l] oder [lj] ersetzt worden. Als Beispiele seien genannt: Hásságy > ['haʃat], Szilágy > ['silat], Bonyhád > ['pon:hat], Harkány > ['harkan], Alsónyék > [ne:k], Nyomja > ['numjɒ], Palkonya > ['palgɑn], Pogány > ['pogɑ:n], Vokány > ['vakɑn], Bodolyabér > ['podola], Szakály > ['saka:l], Bellye (Kroatien) > ['pεljε]; Ausnahmen sind: Kéty [ki:k] (ty > [k]), Zengővárkony ['varkυm] (ny > [m]). In einigen Fällen blieb die Palatalisation erhalten: Györe > ['djærε:və] und ['jærε:və], Szágy > [sa:ţ], Hőgyész > ['hedjəs], Bonnya > ['pu:ə], Magyarbóly > ['maţpo]. Harkány > ['harka:]. Die ungarischen Ortsnamen auf -ény (beispielsweise Izmény, Köblény, Szederkény) sind zum Teil spätere amtliche Bildungen, die zur Zeit der deutschen Ansiedlung noch auf -i(n) lauteten und von denen einige vielleicht deutsche Mundartvarianten waren. Die Klärung steht noch aus.
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Der stimmhafte interdentale oder addentale Reibelaut [ð] war zur Zeit der Abwanderung im rheinfränkischen Sprachraum noch verbreitet, heute kommt er nur noch in einzelnen Mundarten vor. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die im binnendeutschen Raum vorkommenden Ortsnamen Mehringen und Medingen dabei Pate gestanden haben; ähnlich auch Wiesloch für Somogyviszló, Mehlingen für Kiskorpád, Dollingen für die ehemalige kleine Siedlung Dolina bei Bátaszék. Schomberg für Somberek erinnert an einen häufig vorkommenden Familiennamen. Zu beachten ist, dass die genannten Ortsnamen von den im Siedlungsgebiet vorgefundenen ähnlich klingenden ungarischen bzw. südslawischen Namen abgeleitet sind.
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3.1.2. Vokale Die Vokale der Haupttonsilben wurden, wenn sie im deutschen mundartlichen System vorhanden waren, in der Regel unverändert übernommen, andernfalls wurden sie dem eigenen mundartlichen Lautsystem angeglichen. In den rheinfränkischen Mundarten gibt es keine gerundeten Vorderzungenvokale (labiale palatale Vokale) ö [ø, œ] und ü [y, ], demzufolge werden diese Laute bei der Entlehnung durch e [e, ε, æ] bzw. i [i, ] ersetzt: Für dt. schriftsprachlich „böse“, „Hölle“, „süß“, „Mücke“ erscheinen rheinfränkisch [pe:s, hel:, si:s, mik]. Die amtlichen schriftsprachlichen Ortsnamen Gönnheim, Obersülzen in der Pfalz lauten mda. Gennem, Owwersilze. Nach der gleichen Regel wurden die ungarischen Ortsnamen im Siedlungsgebiet, in denen ung. oder vorkommen, durch die artikulatorisch nächstverwandten Laute [e(:), ε, æ] oder [i(:)] ersetzt: Kölked > ['kelkət], Gödre > ['ke:dr], Mözs > [mεʃ], Börzsöny > ['pærʃŋ], Györköny > ['jærkŋ], Orfű > ['orf], Tófű > ['tof], Szűr > [si:ər]. Es gibt auch Ausnahmen: Wenn etwa für den (heutigen) ung. Ortsnamen Szőkéd nicht *['se:kət], sondern ['sukt] steht, dann deshalb, weil der historische Vorläufer des ung. Ortsnamens noch im 18. Jahrhundert ein als Stammvokal hatte. Anders als das deutsche, wo in unbetonten Silben der Zentralvokal (Murmelvokal, Schwa) [ə] dominiert, besitzt das ungarische Lautsystem sowohl in den Hauptton- als auch in den unbetonten Nebensilben nur sogenannte Vollvokale (alle Vokale außer [ə, ɐ]). Bei Entlehnungen aus dem Ungarischen wurden die Vollvokale (ohne oder mit Akzentverschiebung) entweder unverändert übernommen oder durch andere Vollvokale des jeweiligen deutschen Mundartsystems oder (nur in unbetonten Silben) durch [ə] oder [ɐ] ersetzt (reduziert). Beispiele für den Ersatz eines Vollvokals sind: a) durch [ə]: Alsó-, Felsőnána > ['na:nə], Áta > ['a:tə], Barátúr > ['prɑ:dər], Belecska > ['pεlεtʃkə], Dunaszekcső > ['se:tʃə]; b) durch [ɐ]: Cece > ['tset:sɐ] (Bikács), Kára > ['ka:ravɐ] (Nágocs). Wesentlich komplizierter ist die Integration der Vollvokale der Nebensilben ungarischer Wörter (Zweit- oder Drittsilben) in die deutschen Mundarten, weil damit oft ein Akzentwechsel verbunden ist. Da im Deutschen die Anfangsbetonung die Regel ist und die Vollvokale hauptsächlich in der Haupttonsilbe, der Erstsilbe, erscheinen, sind diese mit dem Akzent assoziiert. Werden nun die Sprecher einer deutschen Mundart mit Wörtern konfrontiert, die auch in den Nebensilben (unbetonten Silben) einen oder mehrere Vollvokale aufweisen, kann der Hauptakzent der zweiten oder dritten Silbe zugewiesen werden.
3.2. Akzentuierung Das Ungarische kennt nur die Anfangsbetonung, der Wortakzent liegt also immer auf der ersten Silbe. Im Deutschen ist die Anfangsbetonung (mit Ausnahmen) dominierend. Obwohl der größte Teil der deutschen mundartlichen Ortsnamen, wie bereits erwähnt, anfangsbetont ist, kann der Hauptton der entlehnten Ortsnamen
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auch auf der zweiten oder dritten Silbe erscheinen, wenn der Silbengipfel ein Vollvokal ist.13 Beispiele: Hauptton auf der zweiten Silbe: Abaliget > [pa'li:γət] u. a. Var. und eine Vielzahl der Nachbarorte von Abaliget; Baranyaszentgyörgy > [send'jærgə] (einige Nachbarorte); Barátúr > [pa'ra:dər, pə'ra:dər] (einige Nachbarorte); Bátaapáti > [a'pɔ:ð] u. a. Var. (allg.); Csátalja > [tʃa'tal:jə] u. a. Var. (viele rechtsdanubische Orte); Cseledoboka > [tυ'vakə] (Nagypall, Pécsvárad); Gerényes > [jæ're:nʃ] (Belecska); Györe > [jæ'rε:və] u. a. Var. (Umg.); Hegyhátmaróc > [ma'ro:ts] (Gerényes); Kismányok > [klɔ'mɑ:nok] u. a. Var. (Umg.); Kisnyárád > [kʃ'narat] u. a. Var. (fast allg.); Kistormás > [klɑ:'tarmaʃ] u. a. Var. (Umg.); Lapáncsa > [la'pantʃə] u. a. Var. (nördliche Umg.); Liptód > [l'to:vər] u. a. Var. (Umg.); Lovászhetény > [la'sεtŋ] u. a. Var. (allg.); Maráza > [ma'ra:zə] u. a. Var. (allg.); Máriagyűd > [mar'ju:t] u. a. Var. (fast allg.); Mőcsény > [kla'mεtʃkə] u. a. Var. (Umg.); Mórágy > [ma'ra:ts] (Pusztakisfalu); Nagykanizsa > [ka'ni:] u. a. Var. (allg., viele Männer leisteten dort früher Militärdienst); Nagymányok > [kros'ma(:) – nok] (einige Nachbarorte); Nagynyárád > [kros'narat] (einige Orte); Nagyszékely > [kro:s'sεkl] (einige Nachbarorte); Pélmonostor (heute Kroatien) > [ma'nostər] (allg.); Szentlászló > [seŋ'lazl] u. a. Var. (einige Orte); Szakály > [sa'kɒ:l] (Szárazd, Varsád); Szalánta > [sa'lantə] u. a. Var. (fast allg.); Székesfehérvár > [ʃtul'vai:znburk] u. a. Var.; Szentlőrinc > [saŋkt'lorεnts] u. a. Var. (fast allg.); Tamási > [tɒ'ma:ʃ] u. a. Var. (allg.); Váralja > [va'rolə] (Kisvaszar, Kurd). Der Hauptakzent liegt auf der dritten Silbe bei: Sióagárd > [ʃioɒ'ga:r] (Györköny); Simontornya > [ʃmə'tɔrn] (Dúzs, Szakadát); Szentkatalin > [khata'ri:nə] u. a. Var. (fast allg.); Szabadi > [sɔvə'ti:n] (Belecska, Somogydöröcske). 3.3. Weiterbildung der Ortsnamen durch Affixation Der entlehnte Wortstamm wird in einigen Fällen neben lautlicher Anpassung mit einem Ortsnamen bildenden Suffix nach dem Muster der Ortsnamen der Herkunftslandschaft gebildet. Die Bildungssuffixe sind rein formal (Scheinsuffixe), sie sind eigentlich Endungen des Wortstammes, das heißt nicht segmentierbar. Nachstehend die einzelnen Suffixe: Die Suffixe -ing [-ŋ] und -ingen [-ŋə] sind hier, im Gegensatz zu den Ortsnamen der Ursprungslandschaft, nicht stammesmundartlich bedingt. In den rheinfränkischen und alemannischen Mundarten erscheint auch das bairische -ing, in den 13
Der Grund für die ursprüngliche Herausbildung der Assoziation Vollvokal = Hauptton könnte in den Lehnwörtern, deren fremdsprachliche („nichtdeutsche“) Nichtanfangsbetonung im Deutschen beibehalten wurde, zu suchen sein, beispielsweise schriftsprachlich „Karotte“, „Palette“, „Valuta“, „Visite“, „marode“, „Karambol“. Nach diesem Muster betraf die Akzentverschiebung im Deutschen auch Lehnwörter aus dem Ungarischen wie „Palatschinke“ [pala'tʃiŋkə] < ung. palacsinta (hier mit Anfangsbetonung), „Rapuse“ < ung. róvás „Kerbe“. Damit fände die relativ große Anzahl der nicht anfangsbetonten deutschen mundartlichen Ortsnamen eine plausible Erklärung.
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fuldischen Mundarten der östlichen Baranya überwiegt -ingen, in den ostfränkischen Mundarten um Mecseknádasd -ing. Beispiele (Benennung eines Ortes durch die eigenen Bewohner und/oder durch die Bewohner der Nachbarorte) für -ing: Baranyajenő > ['je:nŋ], Börzsöny > ['pærʃŋ], Csebény > ['tʃε:vŋ], Dunakömlőd > ['kimlŋ], Ecseny > ['εtʃŋ], Györköny > ['jærkŋ], Izmény > ['izmŋ], Köblény > ['kevlŋ], Kozármisleny > ['miʃlŋ], Mőcsény > ['me:tʃŋ], Versend > ['værʃŋ]; Beispiele für -ingen: Medina > ['me:diŋə ~ 'me:riŋə]; Beispiele für -ing und -ingen: Bőszénfa > ['pe:zŋ ~ 'pe:zŋə], Cselegörcsöny > ['kεtʃŋ ~ 'kεtʃŋə], Hosszúhetény > ['hεtŋ ~ 'hεtŋə], Lovászhetény > [la'sεtŋ ~ lo'sεtŋə], Mucsi > ['mutʃŋ ~ 'mutʃŋə], Őcsény > ['e:tʃŋ ~ 'e:tʃŋə], Szebény > ['sεvŋ ~ 'se:vŋə]. Es erscheinen nur wenige Ortsnamen mit der Endung -au [-aυ:] (in der Benennung durch die Bewohner des eigenen Ortes und/oder der umliegenden Orte): Dúzs > ['tuʃaυ:], Komló > ['kumlaυ:] (Szakadát), Kocsola > ['kutʃlaυ:] (Csibrák), Murga > ['murkaυ:] (Kisvejke, Szakadát), Tolna > [tolnaυ:, 'tulnaυ:] (die Stadt und das Komitat) sowie das linksdanubische Harta > ['hartaυ:] (Szakadát, Závod, Németkér). Relativ viele Ortsnamen haben die Endung -isch [-ʃ]. Ein Bezug zum formal gleichen deutschen Adjektivsuffix ist nicht feststellbar. Beispiele hierfür sind: Bános > ['pa:nʃ], Bükkösd > ['vikʃ], Csikóstőttős, Töttös > ['ti:dʃ], Gerényes > ['kærnʃ], Kakasd > ['kokʃ] (Umg.), Kékesd > ['kekʃ], Himesháza > ['himʃ], Majos und Majs > ['ma:jʃ], Mecsekjánosi > ['jɑ:nʃ], Mekényes > ['mεkənʃ ~ 'mεkəntʃ], Tékes > ['te:kʃ], Villánykövesd > ['ko:vʃ], Virágos > ['viragʃ]. Das Suffix -itz [-ts] dient der Integration von Ortsnamen meist slawischen Ursprungs nach dem Muster der Ortsnamen auf -itz im binnendeutschen Sprachraum. Beispiele sind: Grábóc ['kra:vts] (neben ['kra:vats]), zu slaw. Grabovac; Kislippó > ['lipəvts], zu Lypow; Sátorhely > ['ʃatrts], zu serb. Šatorištie; Tengelic > ['teŋəlts]. Relativ viele, auch von nicht auf -i endenden ungarischen Ortsnamen abgeleitete deutsche Ortsnamen enden auf -i [i, ] (Stammesendung). Eine naheliegende Erklärung wäre, dass das Adjektiv des betreffenden ung. Ortsnamens (mit dem Suffix -i [-i] gebildet) im Sinne von „(Bewohner, Sache) des (Ortes N)“, „zum (Ort N) gehörig“, von den dt. Mitbewohnern als unzerlegbares Substantiv aufgefasst, zum deutschen mundartlichen Ortsnamen wurde. Beispiele hierfür (Reihenfolge: ung. Ortsnamen > ung. Ortsnamen-Adjektiv > deutscher mundartlicher Ortsnamen): Almamellék (mda. Ómamellik) > ómamelliki > ['homεl]; Belvárdgyula, Ortsteil Kisgyula, mda. Gyula > gyulai > ['julva]; Csátalja > csátaljai > [tʃa'ta:l] (linksdanubisch); (Duna)szekcső, (Kapos)szekcső > szekcsői > ['sεk(t)ʃ]; Ecseny > ecsenyi > ['εtʃ]; Gödre > gödrei > ['ke:dr]; Kanizsa (Nagy-, Kis-) > kanizsai > ['ka'ni:]; Palé > paléi > ['pɒl]; Szellő > mda. szellőji > ['sεl]; Váralja > váralji > ['varol]; Tófű > tófűi > ['tof]; Sárbogárd > (sár)bogárdi > ['boga:rd, 'voga:rd] (Subst.!).
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3.4. Volksetymologie Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Bildungsarten wird mancher übernommene ungarische Ortsname im Zuge der Integration in das deutsche Mundartsystem mit einem Appellativ homophon. Der Ortsname lässt eine ‚Bedeutung‘ erkennen. Als Beispiele seien genannt: Börzsöny (Pärsching = mda. Pfirsich), Csonkamindszent (Schungemindsenz, Schunge = mda. Schinken), Felsőnána (Falschnane), Okorvölgy (Ackerweh, Ackerweg), Kozármisleny (Mischling), Pincehely (Binsenhelm), Somberek (Schomberg) etc. Bei den Komposita kann es auch nur ein Wortteil sein. Der Name wird oft humorvoll als Eigenschaft und Charakterzug der Bewohner des betreffenden Ortes gedeutet, beispielsweise Dombóvár (zu „dumm“), Várdomb (zu „war dumm“), Ellend (zu „Elend“). Nach den kroatischen Bewohnern von Nagyhajmás gibt es in Mekényes so viele Deutsche wie mëkinyë (serbokroat. mekinje, Pl. = Kleie), das heißt sehr viele.14 Um manche ungarische Ortsnamen ranken sich auf unterschiedliche Weise Mythen über die Ansiedlung der Deutschen. Die ungarischen Bewohner von Dunaföldvár beziehen Németkér auf ung. kér = „er verlangt“, „weil der Deutsche [= német] immer kér ‚verlangt‘, und das ist sogar glaubhaft, denn Dunaföldvár war das erste Dorf im Kreis, von dem man auch verlangen konnte“15. Die deutschen Bewohner dagegen leiten den Namen von „Geh her! Das heißt Da lass dich nieder!“16 ab. Cikó ist die Ableitung von „Zieg’ oo!“, also „Zieh an!“, nach dem Zuruf der Deutschen an die Pferde.17 Kán wird wie folgt gedeutet: [vi d 'tatʃə san 'ra:khumə, nɔ hon: sə ksakt, tɔ is 'kha:n, tɔ sεtsə mər uns 'ni:dər], schriftdeutsch: „Als die Deutschen hereingekommen sind, haben sie gesagt, da ist keiner (kaan), da lassen wir uns nieder.“18 Eine negative Deutungsvariante stellt das Beispiel aus Varsád dar, dessen Ortsname gedeutet wurde im Sinne von „Es war schad’, hierher zu kommen“19. Die unwillkommenen deutschen Einwanderer waren aufgerufen worden, das Dorf zu verlassen, denn man hatte vor, es in Brand zu setzen. Nachdem es abgebrannt war, kamen die Deutschen zurück und sagten: „Es war schad’.“20 In Závod wurde erzählt: „Als die Fuldaer Kolonisten in Závod [mundartlich sāvət] Häuser zu bauen begannen, kamen die Madjaren aus dem benachbarten Kisvejke und wollten sie vertreiben, indem sie sagten ‚nem szabad!‘ (man darf nicht). Darauf erwiderten die Deutschen, die sich mit der Grundherrschaft schon vereinbart hatten, ‚sawęt, sawęt‘ (das heißt ‚szabad, szabad‘, man darf).“21
14 15 16 17 18 19 20 21
Baranya megye (wie Anm. 3), 37. Hanák, Ottó: Németkér – Emlékkönyv [Németkér – Erinnerungsbuch]. Németkér 1985, 13. Weidlein (wie Anm. 5), 354. Ebd. Mündliche Mitteilung aus Kán. Weidlein (wie Anm. 5), 354. Mündliche Mitteilung aus Gyönk. Weidlein (wie Anm. 5), 354.
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Der deutsche, aus der Westpfalz mitgebrachte mundartliche Ortsname Maratz (ursprüngliche Bedeutung „Morast“, die später verblasst war)22 wurde volksetymologisch auf das ungarische Appellativ maradsz! („du bleibst!“) bezogen. „Die Siedler wollten wegen der sumpfigen, ungesunden Gegend weiterziehen, worauf der Grundherr sie mit dem Machtwort maradsz! zurückgehalten hat.“23 Die deutschen Siedler empfanden die von ihnen adaptierten und zum größten Teil in die Mundartsysteme integrierten Ortsnamen später nicht mehr als fremdes Sprachgut und die Ortsnamen wurden zu Symbolen ihrer eigenen Identität. In Sagen, humorvollen Geschichten und auf den Ort bezogenen, spaßhaften Anekdoten erfand man mythische Erklärungen für die mundartliche Benennung seiner Orte und machte sie sich dadurch zu Eigen. Aus diesem Grund sind spätere Umbenennungs- und Eindeutschungsversuche von den Deutschen nicht mitgetragen worden. 4. UMBENENNUNGS- UND STANDARDISIERUNGSVERSUCHE DEUTSCHER ORTSNAMEN IM 20. JAHRHUNDERT 1898 wurde im multiethnischen Königreich Ungarn der „Landesausschuss für Matrikelfragen der Gemeinden“ gegründet, der bis 1912 die amtlichen ungarischen Namen der Orte in Ungarn festschrieb. Wenn diese Arbeit sicherlich auch der Magyarisierungspolitik diente, war die Normsetzung doch ein wichtiger Schritt bei der genauen Identifizierung der oft gleichlautenden Ortsnamen in den einzelnen Landesteilen und bei der Festlegung der Kriterien bei den bis dahin willkürlich gehandhabten Ortsbenennungen. Diese Regelungen wurden in einem sich schnell modernisierenden Land mit einer rasch wachsenden Infrastruktur unerlässlich.24 Doch die Folge davon war, dass die minderheitensprachlichen und mundartlichen Varianten der Ortsnamen auf die gesprochene Sprache beschränkt blieben und ihre sprachliche Normregelung nicht erfolgte. Nach dem Untergang des historischen Königreichs Ungarn begann in den Nachfolgestaaten der Kampf um die historischen und staatlichen Vorrechte auch anhand der Ortsnamen: Die nicht normierten Ortsnamen der ethnischen Minderheiten wurden jetzt zu amtlichen Ortsnamen, die ungarischen dagegen getilgt oder in den von Magyaren bewohnten Gebieten in den inoffiziellen Bereich verdrängt. Auch in Ungarn kam es zur Änderung von Ortsnamen. So wurde auf dem Gebiet der Schwäbischen Türkei nach der Option der meisten Südslawen für den neu gegründeten Staat der Serben, Kroaten und Slowenen und ihrer Auswanderung dorthin das Bestimmungswort Rác- [rác = Serbe] durch ein anderes ersetzt: Ráckozár > Egyházaskozár, Rácmecske > Erdősmecske, Rácpetre > Újpetre. Diese Namensänderung hatte historische Vorläufer. In den seit der osmanischen Zeit von Serben 22 23 24
Den ungarischen Namen Mórágy deute ich als „Moorbett“. Beide Namen beziehen sich auf den gleichen topologischen Sachverhalt. Mündliche Mitteilung aus Mórágy. MezŐ, András: A magyar hivatalos helységnévadás [Die offizielle ungarische Ortsnamengebung]. Budapest 1982.
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bewohnten Orten auf dem Gebiet der Komitate Baranya und Tolna wurden vielerorts deutsche Kolonisten angesiedelt, nicht zuletzt mit der Absicht, die eine extensive Viehzucht betreibenden und an die Grundherrschaft keine Abgaben entrichtenden Serben zurückzudrängen. Die Orte, aus welchen die Serben im Laufe des 18. Jahrhunderts nach Süden weiterzogen, wurden umbenannt. So wurde aus Rácz Liptod (1696) Liptód, aus Racz Hajmas (1696) Nagyhajmás oder aus Rátz Görcsön (1799) Cselegörcsöny. Diese Änderung der Ortsnamen war die Folge der stattgefundenen Migrationsbewegung, weshalb sich auch die neuen Ortsnamen durchsetzen konnten. Anfang der 1940er Jahre wurde der Versuch unternommen, die Namen der von Deutschen bewohnten Orte ‚einzudeutschen‘. „Nach dem Muster madjarischer, südslawischer und rumänischer Namensschöpfer, die fremde Namen ‚nationalisierten‘, gruben ungarndeutsche Forscher, allen voran Anton Tafferner,25 urkundlich belegte alte deutsche oder deutschklingende Namen aus, übersetzten andere oder prägten neue, die selbst den Bewohnern der betroffenen Ortschaften bislang unbekannt waren.“26
Hier einige, typologisch geordnete Beispiele für die Namensänderung: Anknüpfung an historische Ortsnamen deutscher Herkunft: Kátoly > Kattlhof; Tab > Tabau; Tabód > Toboldsdorf. Heranziehung ähnlich klingender binnendeutscher Ortsnamen: Mohács > Moosach; Nagykozár > Großkoslar (vgl. Goslar); Mecseknádasd (ung. nád = Rohr, Schilf); > Rohrbach; Nagynyárád > Großmaineck (zu Maineck); Szőkéd > Söcking. Lehnübersetzung (ganz oder nur ein Wortteil): Ófalu > Altdorf (ung. ó = alt, falu = Dorf); Erdősmecske > Walddorf (ung. erdő = Wald); Hidor > Bruckenau (ung. híd = Brücke); Lánycsók > Mädelkuß (ung. lány = Mädchen, csók = Kuss); Palotabozsok > Pfalzborn (ung. palota = Palast); Püspöklak > Bischofsheim (ung. püspök = Bischof); Tormás > Krendorf (ung. torma = Kren, Meerrettich); Szentkatalin > St. Kathrein. Umformung des mda. Ortsnamens: Diósberény > Bering, Beringen (dt. mda. Berrien); Cikó > Zickau; Ibafa > Ibau; Kakasd > Kockers; Lippó > Lippau; Szőkéd > Söcking. ‚Erdachte‘ Ortsnamen (nach lautlicher Ähnlichkeit mit dem ungarischen Ortsnamen): Hetvehely > Heppenfeld; Liptód > Lichthof; Maráza > Marhausen. Man hätte erwartet, daß diese Ortsnamen in der Zeit der nationalen Hochstimmung dem Zeitgeist entsprechend von den Ungarndeutschen mit Begeisterung aufgenommen worden wären. Ganz im Gegenteil: Die Umbenennungsaktion war ein Fehlschlag. Die ‚neuen‘ Ortsnamen wurden in keinem einzigen Fall akzeptiert. Als einziger geographischer Name hat sich Branau für Baranya erst in der Nachkriegszeit in der ungarndeutschen Publizistik durchgesetzt. Es darf auch nicht übersehen 25 26
Vgl. Tafferner, Anton: Beiträge zur deutschen Ortsnamenforschung in Ungarn. In: Deutsche Forschungen in Ungarn 6 (1941) 234–246. Regényi, Isabella/Scherer, Anton: Donauschwäbisches Ortsnamenbuch für die ehemals und teilweise noch deutsch besiedelten Orte in Ungarn, Jugoslawien (ohne Slowenien) sowie WestRumänien (Banat und Sathmar). Schriesheim 1987 (Schriftenreihe zur donauschwäbischen Herkunftsforschung 14), 2. verb. Aufl. [11980].
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werden, dass die schriftsprachlichen Ortsnamen, wären sie akzeptiert worden, mit Sicherheit eine mundartliche Umformung erfahren hätten. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der kommunistischen Machtübernahme erfolgte 1950 in Ungarn eine neue Welle von Ortsumbenennungen. Das Bestimmungswort Német- („Deutsch-“) der meisten amtlichen Ortsnamen wurde ersatzlos gestrichen: Németbóly > Bóly, Németlad, mit Magyarlad vereinigt > Lad, Németmárok > Márok, Németpalkonya > Palkonya. Viele Deutsche waren zu dieser Zeit bereits aus ihren Heimatdörfern vertrieben oder vor den Repressalien in die größeren Städte gezogen. Ihre Stellen nahmen umgesiedelte Ungarn aus der Slowakei und die noch während des Zweiten Weltkriegs aus der Batschka umgesiedelten Szekler ein. Dieses historische Ereignis fand auch in den Ortsnamen seinen Niederschlag, etwa in: Hercegszabar > Székelyszabar. Als in den 1970er Jahren die deutsche Minderheit größere Freiheiten erhielt und es möglich wurde, zweisprachige Ortsschilder aufzustellen, begann man mit der Transposition der deutschen mundartlichen Ortsnamen in die deutsche Schriftsprache. Dies erwies sich allerdings als misslungene Aktion, weil sie ohne fundierte wissenschaftliche und mundartkundliche Kenntnisse erfolgte. Es wurden nicht selten die Lautwerte der ungarischen Orthographie für die Schreibung der deutschen Ortsnamen angewandt, grundlegende Ausspracheregeln des Deutschen missachtet, nichtexistente Ortsnamen-Varianten in die Welt gesetzt und eine völlige Unkenntnis der deutschen Ortsnamenforschung an den Tag gelegt. Die hierbei entstandenen Konstrukte wurden auf Tafeln unter den ungarischen Ortseingangsschildern angebracht und sollten die Ortschaft als von Deutschen bewohnt ausweisen. Zwischenzeitlich gab es nach Protesten der einheimischen deutschen Bewohner Korrekturen, auf den Schildern stehen jedoch meist immer noch die falschen Namen. Hier sollen nur einige Beispiele genannt werden: Der ungarische Ortsname Dunaszekcső lautet auf der Tafel Setschke, doch die korrekte, von den Bewohnern verwendete deutsche mundartliche Form lautet phonetisch: ['se:tʃə], verschriftet: Seetsche. Der ungarische Ortsname Görcsönydoboka, früher: Rácgörcsöny, Cselegörcsöny, dt. mda. ['kεtʃŋə], wurde als Ketsching wiedergegeben. Das anlautende [k] des mundartlichen Ortsnamens ist vor Vokal nicht aspiriert und entspricht dem Lautwert des dt. in süd- und mitteldeutscher umgangssprachlicher Aussprache. Das Suffix [-iŋə] entspricht wiederum dem Ortsnamen bildenden Suffix -ingen. Der deutsche mundartliche Ortsname müsste daher orthographisch mit Getschingen wiedergegeben werden. Der deutsche Name der Ortschaft Kakasd lautet auf der Ortstafel Kokrsch. Der deutsche Passant sieht darin einen slawischen Ortsnamen, den er als ['khokrʃ] liest, und schmunzelt, wenn er hört, dass er deutsch sei. In der Tat lautet der Ortsname in der Mundart so. Sonantische Silbengipfel in unbetonten Nebensilben sind in rheinfränkischen und alemannischen Mundarten keine Seltenheit. Bei der Übertragung wäre jedoch zu beachten gewesen, dass es in der Schriftsprache kein silbisches gibt, das heißt, dass [-r] als und der unaspirierte Verschlusslaut [k] vor Vokal als zu schreiben wäre. In der rheinfränkischen Mundart von Kakasd ist nach [r] kein [s], sondern nur [ʃ] zugelassen. In der Herkunftslandschaft, wo es Ortsnamen mit Genitiv-s in stattlicher Zahl gibt wie Selters, Wennings lautet die mundart-
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liche Aussprache ebenfalls [-rʃ] . Bei der Transposition des mundartlichen Ortsnamens ['kokrʃ] hätte man unter Beachtung der Ausspracheregeln der Ortsmundart und der Schreibregeln der Schriftsprache den umgekehrten Weg gehen und den Ortsnamen als Gockers ‚verschriften‘ müssen. Es muss zugegeben werden, dass die Übertragung in die schriftsprachliche Schreibung bei noch so umsichtigem, sachkundigem Vorgehen nicht immer einwandfrei sein kann, da in den meisten Fällen der Ortsname (sogar von Sprechern ein und desselben Ortes) nur teilweise oder gar nicht in das mundartliche Phonemsystem integriert ist und manche ungarischen Laute durch die Lautwerte des deutschen Alphabets nicht wiedergegeben werden können (beispielsweise ung. [], [dj] oder [ɒ]). Es kann daher nicht erwartet werden, dass der Leser in jedem Fall aufgrund der schriftsprachlichen Form die exakte mundartliche Aussprache des Ortsnamens rekonstruieren kann. Das wissenschaftlich nicht fundierte Vorgehen der Transposition der mundartlichen Varianten der Ortsnamen in die Schriftsprache wie auch die Tatsache, dass ihre Verwendung sich nur auf die Anbringung auf den Ortstafeln beschränkte, zeigt, dass die vom Parteiapparat des damaligen Regimes angeordnete Einführung der mundartlichen Ortsnamen bedeutungslos war. Die zweisprachigen Ortstafeln waren lediglich Vorzeigeobjekte, die eine mustergültige Minderheitenpolitik glaubhaft machen sollten. Eine wirkliche Bemühung, die Ortsnamen dem wissenschaftlichen Standard entsprechend auszuschildern und zu verwenden, gab es nicht. Ein halbes Jahrhundert danach sind diese Ortsschilder nur noch ihre eigenen Denkmäler, ein Memento des seitdem weitgehend vollzogenen Sprachwechsels und des Identitätsverlustes der Ungarndeutschen.
ARCHITEKTUR UND GEDÄCHTNISGEMEINSCHAFT Die Kirchen der evangelisch-lutherischen Deutschen im Komitat Tolnau in Ungarn János Krähling Die Kirche als Gebäude mit seinen eigenspezifischen bauhistorischen Merkmalen und Einrichtungen ist ein Ort, der das Gedächtnis der Gemeinde, welche sie errichtet hat, bewahrt. Die Kirche als Sakralraum wiederum ist ein Ort, wo im Rahmen der Liturgie, im Abendmahl oder in der Heiligenverehrung zugleich an die Geschichte der ganzen Glaubensgemeinschaft erinnert wird. So ist Kirche im doppelten Sinne eine Gedächtnisgemeinschaft.1 Darüber hinaus ist die Kirche sowohl als Gebäude als auch als Sakralraum ein Ort, der Gemeinschaft stiftet. Der Kirchenbau hat seit jeher eine wichtige gemeinschaftsbildende Funktion, wobei das Gebäude als architektonisches Symbol der konfessionellen Identität der Baugemeinschaft gilt.2 Dieser Rolle des Kirchengebäudes kommt in konfessionell gemischten Gebieten wie in dem hier behandelten südwestungarischen Komitat Tolnau eine verstärkte Bedeutung zu. Das Komitat stellt zudem seit Anfang des 18. Jahrhunderts nicht nur ein konfessionell, sondern gleichzeitig auch ein ethnisch gemischtes Gebiet dar, wo Konfession und ethnische Zugehörigkeit mehrfach miteinander verwoben sind: Seit dem 18. Jahrhundert leben auf dem Gebiet des Komitats neben katholischen Ungarn und Deutschen lutherische Ungarn, Deutsche und Slowaken, reformierte Ungarn und Deutsche, orthodoxe Serben sowie Juden. Selbst die Nachfahren der deutschen Kolonisten gehören hier drei verschiedenen Konfessionen an, der katholischen, lutherischen und reformierten. Unter den Protestanten stellten die Lutheraner die Mehrheit, wobei die deutschen Lutheraner zugleich auch die Mehrheit unter den ethnisch gemischten Mitgliedern der evangelisch-lutherischen Kirche im Komitat bildeten.3 Somit wird die Kirche im Komitat Tolnau nicht
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Vgl. dazu u. a. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München 2000 (Beck’sche Reihe 1375). – Brüske, Gunda: Die Liturgie als Ort des kulturellen Gedächtnisses. Anregungen für ein Gespräch zwischen Kulturwissenschaften und Liturgiewissenschaft. In: Liturgisches Jahrbuch 51 (2001), 151–171. Vgl. u. a. Edward, R. Norman: Das Haus Gottes. Die Geschichte der christlichen Kirchen. München 2005. – Claussen, Johann Hinrich: Gottes Häuser oder die Kunst, Kirchen zu bauen und zu verstehen. Vom frühen Christentum bis heute. München 2010. Schmidt-Tomka, Gustav: Beiträge zur Geschichte des evangelischen Seniorats in der Schwäbischen Türkei. München 1976 (Die Deutschen aus Ungarn 10), 16 f. – Keken, András: A magyarországi evangélikusság történelmi statisztikája [Die historische Statistik des ungarischen Luthertums]. Hódmezővásárhely 1937, 53 f.
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nur zum wichtigen Symbol und Träger der konfessionellen, sondern zugleich der ethnischen Identität. Während in der Forschung bekannt ist, dass die aus der alten Heimat mitgebrachten deutschen Gebet- und Gesangbücher lange die ethnisch-konfessionelle Identität der deutschen Einwanderer bewahren halfen,4 ist die Rolle der Kirchenarchitektur in diesem Prozess noch nicht untersucht worden. Auch ist die Frage noch nicht abschließend beantwortet, inwieweit die deutschen Einwanderer nur für sie spezifische Kirchentypen und Sakraleinrichtungen als Symbol der eigenen ethnisch-konfessionellen Identität entwickelten oder aber die gleichen Gebäudetypen und Einrichtungen bevorzugten wie die anderen ethnisch-konfessionellen Gruppen.5 1. DIE LAGE DER LUTHERANER BIS ZUM TOLERANZPATENT VON 1781 Das Komitat Tolnau wurde zur Zeit der osmanischen Eroberung und der Befreiungskriege nahezu gänzlich entvölkert, weil die wichtigste Heerstraße zwischen Konstantinopel und Ofen an der Donau entlang durch das Komitat führte. Die Wiederbevölkerung erfolgte zunächst mit Hilfe von ungarischen und slowakischen Familien aus Oberungarn, darunter auch solche evangelisch-lutherischer Konfession, die sich spontan dazu entschlossen hatten, in das Landesinnere zu ziehen.6 Ab den 1710er und verstärkt den 1720er Jahren begannen die Grundherren im Komitat mit 4
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Zu den deutschen Kirchenliedern in Ungarn vgl. u. a. Hubert, Gabriella H.: A régi magyar gyülekezeti ének [Das alte ungarische Kirchenlied]. Budapest 2004 (Historia Litteraria 17). – Zu den deutschen Einwanderern vgl. Fata, Márta: Német bevándorlók olvasmányai a 18. században. Egy forrás tanulságai [Lektüren der deutschen Einwanderer im 18. Jahrhundert. Lehre einer Quelle]. In: Magyar Könyvszemle 121 (2005), 73–77. Das Thema ist detailliert dargestellt bei Krähling, János: Evangélikus templomok a mai Magyarországon [Evangelische Kirchen im heutigen Ungarn]. Budapest 2004 (Veszendő templomaink 3). – Weiterführende Angaben bei Istvánfi, Gyula: Erdélyi református templomok [Reformierte Kirchen in Siebenbürgen]. Budapest 2001 (Veszendő templomaink 1). – Ders./Veö reös, András: Erdélyi római katolikus templomok [Römisch-katholische Kirchen in Siebenbürgen]. Budapest 2002 (Veszendő templomaink 2). – Vgl. zum Thema auch die Publikation von Vukoszávlyev, Zorán: Új építéstörténeti adatok Baranya megye szerb ortodox templomainak periodizációjához [Neue baugeschichtliche Angaben zur Periodisierung der serbischorthodoxen Kirchen im Komitat Branau]. In: Építés-Építészettudomány XXIX (2001), 3 f. u. 265–288. Szilágyi, Mihály: Az újjátelepülő Tolna megye [Die Neubesiedlung im Komitat Tolnau]. In: Tanulmányok Tolna megye történetéből. Hg. v. János K. Balogh. Szekszárd 1983, 33–168. Eine Zusammenfassung der Migrationsproblematik im Komitat Tolnau bietet auch Fata, Márta: Deutsche Immigranten im ländlichen Ungarn. Zu Fragen der Erforschung der Integration am Beispiel von Sekundäreinwanderern im Komitat Tolna in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Migration nach Ost- und Südosteuropa vom 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Ursachen – Formen – Verlauf – Ergebnis. Hg. v. Matthias Beer u. Dittmar Dahlmann. Stuttgart 1999 (Schriftenreihe des Instituts für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 4), 385–404.
Architektur und Gedächtnisgemeinschaft
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der Ansiedlung deutscher Einwanderer. Durch die Neubesiedlung entstanden sieben evangelisch-lutherische Muttergemeinden, von denen fünf7 deutschsprachig waren. Die ungarischen, slowakischen und deutschen Lutheraner auf dem Gebiet der benachbarten Komitate Tolnau, Branau und Schomodei wurden mit der Zeit in einem eigenen Seniorat organisiert,8 und als sich ihre Zahl durch weitere Einwanderungen ab Mitte des 18. Jahrhunderts vergrößerte, erfolgte 1805 die Zweiteilung des Seniorats. Im Tolnauer Seniorat stellten die Deutschen die Mehrheit.9 Über die ersten Kirchenbauten der angesiedelten Deutsch-Lutheraner stehen nur wenige Angaben zur Verfügung.10 Bei diesen Gebäuden handelte es sich um sogenannte Oratorien, Bethäuser in einfacher Bauweise.11 Diese bildeten bis zum Toleranzedikt von 1781 die typische Gebäudeform der evangelisch-lutherischen Kirchen vor allem in der Ungarischen Tiefebene und in Transdanubien.12 Sie wurden in derselben Form wie die Wohnhäuser oder Getreidespeicher gebaut, häufig bildeten sie mit Schule und Pfarrhaus eine architektonische Einheit. Der Hintergrund für diese Schlichtheit war die 1671 eingeleitete Gegenreformation in dem von den Habsburgern beherrschten Teil des Königreichs Ungarn. In den Artikeln XXV und XXVI des ungarischen Landtags von 1681 wurden jene Orte im Lande bestimmt, die zur freien Religionsausübung berechtigt waren. In elf Wien nahe gelegenen westungarischen Komitaten erhielten die Lutheraner und Reformierten pro Komitat in jeweils zwei Orten, den sogenannten Artikularorten, das Recht der freien Religionsausübung.13 In den Festungen entlang der ungarisch-osmanischen Grenze und in den 19 ostungarischen Komitaten durften die Protestanten auch nach 1681 7 8
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Diese sind Jink, Jerking, Kleinmanok, Kleintormasch und Warschad. Schmidt-Tomka (wie Anm. 3), 5 f. – Szita, László: A lutheránus németség bevándorlása és településtörténete Tolna megyében a XVIII. században [Einwanderung und Siedlungsgeschichte der deutschen Lutheraner im Komitat Tolnau im 18. Jahrhundert]. In: Tanulmányok. Tolna Megyei Levéltári Füzetek 5 (1996), 5–163, hier 5 f. – Kéri, Heinrich: Franken und Schwaben in Ungarn. Aufsätze zur Geschichte und Siedlungsgeschichte der Tolnau und der Oberen Baranya. Budapest 2002 (Neue-Zeitung-Bücher 2), 13 f. Schmidt-Tomka (wie Anm. 3), 6–10 u. 17. – Zoványi, Jenő: Magyarországi Protestáns Egyháztörténeti Lexikon [Protestantisches kirchengeschichtliches Lexikon Ungarns]. Hg. u. neu bearb. v. Sándor Ladányi. Budapest 1977, 3. Aufl. [11894], 550 u. 646 f. Zum Bethausbau im Komitat Tolnau zusammenfassend Krähling, János: Evangélikus templomépítészet a Dél-Dunántúlon – egy hagyományos templomforma kialakulása a XVIII. század végén. [Evangelischer Kirchenbau im südlichen Transdanubien – die Entwicklung eines traditionellen Kirchentypus am Ende des 18. Jahrhunderts. Dissertation zur Erlangung des Grades „Kandidat der Wissenschaften“]. Habil. Budapest 2005, Manuskript, 22–40. Zu katholischen Holzkirchen und den vom Bischof von Veszprém beaufsichtigten evangelischen Bethäusern vgl. Körmendy, József: Fa- és sövénytemplomok a Veszprémi Egyházmegye területén a XVIII. században [Mit Holz und verputztem Weidengeflecht gebaute Kirchen in der Diözese Wesprim im 18. Jahrhundert]. In: A Veszprém Megyei Múzeumok Közleményei 10 (1971), 53–84. Sólyom, Jenő: Az evangélikus templom története Magyarországon [Die Geschichte der evangelischen Kirche in Ungarn]. In: Evangélikus templomok. Hg. v. Lajos Kemény u. Károly Gyimesy. Budapest 1944, 69–97, hier 89. Ebd., 84 f.
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ihre Kirchen behalten und ihre Konfession frei ausüben.14 Mit dem Gesetz von 1681 wurden die Religionsangelegenheiten bis 1781 mit geringfügigen Modifizierungen festgeschrieben. Für die deutschen Einwanderer am Anfang des 18. Jahrhunderts, die meist außerhalb sowohl der elf als auch der 19 Komitate auf dem von den Osmanen zurückeroberten Gebiet angesiedelt wurden, sollten die Bestimmungen über die Artikularorte Gültigkeit haben, doch in der Praxis bestimmten bis 1731 die Grundbesitzer, die zugleich Patronatsherren der Kirchen waren, die konfessionellen Verhältnisse. Die 1731 schließlich erlassene königliche Verordnung regelte die öffentliche (freie) Religionsausübung im Lande. Auch danach war sie nur in den Artikularorten erlaubt.15 Dazu gehörten jetzt allerdings alle Orte, die nachweisen konnten, dass sie bis 1681 beziehungsweise bis zur Neuverhandlung der Religionsfrage auf dem ungarischen Landtag 1721 über ein Gebethaus verfügt hatten. Auf diese Weise wurde im Komitat Tolnau der deutsch-lutherische Ort Kleinmanok als artikular anerkannt, weil dort schon vor 1721 ein Bethaus der deutsch-protestantischen Einwanderer gestanden hatte. Nichtsdestotrotz konnten auch die anderen deutschen Protestanten ihre Konfession ausüben und einfache Bethäuser errichten, die nicht den Charakter eines Gotteshauses hatten. Allerdings waren die allgemeinen Beschränkungen der Religionsausübung mit negativen Konsequenzen verbunden. So gehörten die 48 evangelisch-lutherischen Gemeinden, die auf dem Gebiet des Seniorats TolnauBranau-Schomodei gegründet worden waren, anfangs noch zu 17 Muttergemeinden, bis 1781 ging ihre Zahl auf sieben zurück.16 2. ARCHITEKTUR UND AUSSTATTUNG DER EVANGELISCHLUTHERISCHEN KIRCHEN IN DER TOLNAU 2.1. Die Oratorien bis 1781 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bemühten sich die deutschen Siedler, eigene Bethäuser (Oratorien) zu errichten, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie diese – anders als die katholischen Kolonisten – aus eigenen Mitteln zu finanzieren hatten, eine große Belastung für sie darstellte. Aus der Zeit vor dem Erlass des Toleranzpatents von 1781 liegen Angaben über 33 lutherische Oratorien in Südtransdanubien vor. Davon waren zwei aus Lehm, zwei mit Flechtwerk und 14 aus Holz errichtet; die Bauweise von 15 weiteren Oratorien ist nicht bekannt.17 Die überlie14
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Csepregi, Zoltán: Das königliche Ungarn im Jahrhundert vor der Toleranz (1681–1781). In: Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzburg (17./18. Jahrhundert). Hg. v. Rudolf Leeb u. Martin Scheutz, Dietmar Weikl. Wien – München 2009 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 51), 299–330. Sólyom (wie Anm. 12), 86–88. Schmidt-Tomka (wie Anm. 3), 16. Oratorien mit Wandkonstruktionen aus Lehm mit Flechtwerk wurden in Kleinmanok (gebaut 1724), Sárszentlőrinc (1724), Bábony (nach 1731) und Tab (um 1750) gebaut; Holzkirchen in
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ferten Beschreibungen der Wandkonstruktionen deuten auf zwei verschiedene Bauarten hin: auf eine homogene Wandkonstruktion aus Lehm und auf eine gemischte Variante aus Reetflechtwerk und Holz. Diese letztere Bauart weist auf eine Fachwerkbauweise hin, die zwar in Ungarn relativ unbekannt war, jedoch von den im 18. Jahrhundert eingewanderten deutschen Kolonisten bei ihren Häusern nachweislich häufig verwendet wurde.18 Die Behörden bestimmten ausschließlich das äußere Erscheinungsbild der Oratorien, Vorgaben zum Grundriss machten sie nicht. Die Bauwerke sind selten erhalten geblieben, weshalb nur allgemeine Feststellungen darüber möglich sind. Das Breitenmaß der Oratorien dürfte nicht länger als drei Klafter19 gewesen sein, während die Gebäudelänge wohl höchstens sechs bis acht Klafter betrug. Die Quellen deuten in manchen Fällen auf eine Lösung hin, die sich an das mittelalterliche Modell eines selbständigen Chors anlehnt, wobei hier eher ein rechteckiger Chor vorstellbar ist. Das Sattel-, Walm- oder Krüppelwalmdach der Oratorien wurde mit Stroh oder Reet gedeckt. Hinweise auf Schindeldächer aus der Zeit vor 1781 sind nicht vorhanden. Ein Turmbau war nicht gestattet und die Glocken wurden entweder im Dachraum aufgestellt oder es wurde ein freistehender Glockenstuhl errichtet, der in der Regel ein einfacher Holzmast war. Der größte seiner Art stand den Berichten nach in Obernana; seine Grundrissmaße betrugen ca. 6,1 mal 3,8 Meter bei einer Höhe von 8,5 Metern.20 In Fall von Raitz-Hidasch sind zwei nicht mehr datierbare historische Fotoaufnahmen des einst dort befindlichen Oratoriums erhalten geblieben (vgl. Abb. 9). Dieses wurde 1787, also schon nach dem Toleranzpatent, nach dem Modell der alten Oratorien mit Wänden aus Lehm und Stroheindeckung gebaut.21 Der Grund für die Verwendung der alten Form waren höchstwahrscheinlich die geringen finanziellen Möglichkeiten der Kirchengemeinde. Die einfache Gestaltung des Baukörpers mit einem Satteldach und die simplen Fensteröffnungen der Endfassade erinnern an ein Wohnhaus. Die im Giebelfeld angeordneten drei rechteckigen und ungewöhnlich großformatigen Fenster lassen auf den Ausbau des Dachgeschosses und auf einheitliche Formen des gesamten Gebäudeinnenraums schließen.
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Gyékényes (vor 1750), Jerking (nach 1722), Iharos (um 1750), Iharosberény (das erste Oratorium vor 1748, das zweite 1774), Kötsching (1739), Majasch (nach 1720), Meknitsch (nach 1735), Pátró (drei Bethäuser: Ende 17. Jh., nach 1681 und 1731), Dörötschke (nach 1780), Szurd (vor 1746) und Warschad (nach 1718). Oratorien mit unbekannter Wandkonstruktion standen in Wigatsch (um 1750), Obernana (vor 1750), Jink (drei Bethäuser: 1720, 1723 und 1741), Ismi (vor 1750), Kalas (vor 1750), Hiewrkut (vor 1750), Kiek (vor 1750), Kelesch (nach 1724), Légrád (drei Bethäuser im 17. Jh.), Mutschwang (vor 1750) und Nagyszokoly (1720); vgl. Krähling (wie Anm. 10), Anhang, sowie Krähling (wie Anm. 5), 33, 48, 55, 61, 64, 68, 73, 75, 78, 97, 124, 143 u. 155. Dobosy Antalné, Anna: Fachwerk a Schwäbische Türkei területén [Fachwerk in der Schwäbischen Türkei]. Budapest 2008, 93 f. Das entspricht einer Breite von 5,70 Metern. Evangélikus Országos Levéltár – Budapest (EOL) Canonica Visitatio Dunántúl, fasc. VII. 1820: Brevis Descriptio A.C. Felső-Nána. EOL Canonica Visitatio Dunántúl 64. 1868: Haffner, Lajos: Vergangenheit und Gegenwart der evangelischen Kirchengemeinde zu Hidas, Manuskript, 28.
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Abb. 9: Das Oratorium in Hidas/Hidasch (Ungarn) um 1900, Foto: Privatbesitz.
Der Innenraum wurde um den halben Dachraum erweitert, um die Empore einbauen zu können, wobei die Stichbalken des offenen Dachstuhls in der Ebene der Emporendecke versteckt wurden. Die Holzempore, die sich u-förmig entlang der Längsseiten erstreckte, nahm etwa zwei Fünftel der Breite ein, wodurch der Raum zweigeschossig wurde. Zwischen den u-förmig angeordneten Emporen, direkt hinter dem aus Ziegeln oder Holz errichteten und mit einem gewebten Textil abgedeckten Altar, wurde die Kanzel platziert, die keinen Schalldeckel besaß. An der Frontseite war ein kleinformatiges, das Abendmahl darstellendes Altarbild angebracht. Trotz ihrer baukünstlerischen Anspruchslosigkeit stellen die Oratorien für die Entwicklung der protestantischen Kirchenarchitektur ein wichtiges Bindeglied zwischen der mittelalterlichen und neuzeitlichen Tradition dar und dienen als Ausgangspunkt für den nach 1781 verwendeten Grundriss und die neue Raumordnung. In der Zeit von der Reformation bis zum Toleranzpatent entwickelten sich die Oratorien neben den zentral angelegten Artikularkirchen, die in West- und Oberungarn verbreitet waren, zu einem zweiten raumorganisatorischen Grundtypus der ungarischen protestantischen Kirchenarchitektur. Da dieser Typus in der ungarischen Tiefebene und in Transdanubien allgemein verbreitet war, wurde er auch von den einwandernden Deutsch-Lutheranern übernommen.
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2.2. Der Kirchenbau nach dem Toleranzpatent von 1781 2.2.1. Das Kirchengebäude Das für Ungarn am 1. Oktober 1781 erlassene Toleranzpatent genehmigte den Bau von Bethäusern für die nichtöffentliche Glaubensausübung für Gemeinden mit wenigstens 100 Familien, allerdings vorläufig noch ohne Turm und Glocken und ohne Haupteingang von der Straße aus. Ab 1786 wurde der Bau von Türmen erlaubt und ab 1788 konnte der Haupteingang auch in Richtung Straße gelegt werden.22 Der Landtag von 1790/1791 genehmigte schließlich die freie Religionsausübung, so dass der Kirchenbau nur noch von der finanziellen Leistungsstärke der einzelnen Gemeinden abhing. Mehr als die Hälfte der Kirchen im Komitat Tolnau wurden zu dieser Zeit erbaut. An vielen Orten baute man weiterhin Oratorien, die jedoch als Provisorien gedacht waren und mit der Zeit von Steinkirchen abgelöst wurden. In Wigatsch etwa baute man noch 1784 ein einfaches Oratorium aus Reetwerk,23 doch 1785/1786 wurde bereits eine Steinkirche errichtet, die 1829 auch schon erweitert werden musste.24 Die meisten Gemeinden begannen nach 1786 jedoch mit dem Bau von Gotteshäusern aus Ziegelmauerwerk. Zwar wurden viele noch ohne Turm fertig gestellt wie etwa in Meknitsch oder Kosart, doch waren sie schon mit einem Unterbau für die mögliche Ergänzung eines Turms versehen. Auch waren die Gebäude mit einem zunächst noch zugemauerten Eingang zur Straßenseite hin ausgestattet, um den Ausbau nach der bereits erwarteten Aufhebung der Einschränkungen schnell zu Ende bringen zu können. Alle Kirchen, die noch vor dem Toleranzpatent errichtet wurden, erhielten mit der Zeit einen vor der Fassade platzierten Turm.25 Die Anordnung der Türme in der Mitte folgte einer in der Baumeisterpraxis des 18. Jahrhunderts verbreiteten Weise. Die Baumeister hatten allerdings größte Schwierigkeiten, die Türme architektonisch attraktiv zu gestalten, weil der Großteil dieser Kirchen in Hanglage auf lösshaltigem Boden errichtet wurde. Die Türme wurden entweder in die Fassade integriert oder traten auch teilweise aus der Fassade hervor.26 Beide Lösungen verlangten von Planer und Baumeister fundiertes Wissen und solide technische Erfahrung. Gedeckt wurden die Kirchen zumeist mit Flachdecken; diese wurden später, als sich die finanziellen Bedingungen der Gemeinden verbessert hatten, durch elegantere Gewölbekonstruktionen abgelöst. In einigen Fällen wurde bereits am Anfang eine Gewölbekonstruktion gebaut, wozu allerdings erfahrene Baumeister beauftragt werden mussten. 22 23 24 25 26
Mályusz, Elemér: A türelmi rendelet. II. József és a magyar protestantizmus [Das Toleranzpatent. Joseph II. und der ungarische Protestantismus]. Budapest 1939, 418 f. Krähling (wie Anm. 5), 37. – EOL Canonica Visitatio Dunántúl, fasc. VI. 1814: Bikács. Ebd. Solche Kirchen sind vor dem Toleranzpatent in Kleintormasch, Sárszentlörinc und höchstwahrscheinlich in Jink auf diese Weise errichtet worden. Spätere Beispiele sind in Hiewrkut, Etschi, Obernana, Warschad und Kalas. Beispielsweise in Bonnhard, Kleinmanok, Jerking, Raitz-Hidasch und Wigatsch.
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Die Grundrisse der Ende des 18. Jahrhunderts errichteten evangelisch-lutherischen Kirchen in der Tolnau wiesen ein als Oblongum gestaltetes Langhaus auf, eine Form, die aus dem Mittelalter stammte und von der Oratorienarchitektur bis in die Neuzeit tradiert wurde. Das Langhaus wurde in der Regel mit einem achteckigen Chor abgeschlossen.27 Die längsgerichtete Anordnung mit dem Chor als liturgischem Mittelpunkt folgte dem Grundriss der katholischen Kirchen. Die Konzeption wich von diesem aber dahingehend ab, dass kein Triumphbogen errichtet wurde. Die Verwendung von Emporen und die Betonung der Kanzel wiesen wiederum Ähnlichkeit mit den reformierten Kirchengebäuden auf. In den reformierten Kirchenbauten der Komitate Tolnau, Branau und Schomodei wurden jedoch Kanzel und Abendmahltisch in der Mitte des ungeteilten Hallenraumes platziert, anders als bei den Lutheranern, bei denen Kanzel und Abendmahltisch im Chor untergebracht waren. Der Chor der lutherischen Kirchen wurde häufig durch die zentrale Anordnung der Bänke stärker betont. Die Anordnung und die Gestaltung der Sitzbänke standen in engem Zusammenhang mit der innerhalb einer Gemeinde vorhandenen sozialen Schichtung, deren von Dorf zu Dorf unterschiedliche Strukturregeln mündlich überliefert wurden. Der gleiche Grundsatz wurde bei den Emporen der Kirchen verfolgt, die nach dem Toleranzpatent erbaut wurden. Die schräg abschließende Brüstung der Emporen auf der Seite der Kanzel markierte im Idealfall die Grenze der symmetrischen Aufteilung des Chorraums, der mit drei Seiten des Achtecks oder mit Rundbogen abgeschlossen wurde. Der Chorraum nahm dadurch die Form eines regelmäßigen, achteckigen Prismas ein, in dessen Mittelpunkt der Kanzelaltar platziert war. Aufgrund der beschriebenen Charakteristika – des polygonalen Abschlusses ohne Triumphbogen, der längsgerichteten Ausrichtung und der Emporenstruktur, die den im Chor befindlichen Kanzelaltar betonte – kann von einem für das südliche Transdanubien charakteristischen lutherischen Kirchentypus gesprochen werden, deren Erbauer überwiegend deutsche Baumeister lutherischer Konfession aus der Tolnau waren.28 Die zwei bedeutendsten Baumeister, die aus der Region stammten, waren Philipp Schneiderhahn29 und Johann Krammer.30 27
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Wimböck, Gabriele: Kirchenraum, Bilderraum, Handlungsraum: Die Räume der Konfessionen. In: Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Susanne Wegmann u. Gabriele Wimböck. Korb 2007 (Studien zur Kunstgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 3), 34 f. Zur Typologie protestantischer Kirchen in Ungarn vgl. Bibó, István: Der protestantische Kirchenbau in Ungarn um 1800. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Vergleichende Kunstforschung in Wien 36 (1984), 1–4, hier 3 f., u. 37 (1985). – Winkler, Gábor: Bauhistorischer Überblick. In: Dercsényi, Balázs/Déri, Erzsébet: Evangelische Kirchen in Ungarn. Budapest 1992, XXVII– XLV, hier XXXV–XXXVIII. –Krähling (wie Anm. 10), 97–102. – Krähling (wie Anm. 5), 17 f. Philipp Schneiderhahn, Baumeister aus Bonnhard, ist der Baumeister der evangelischen Kirche von Bonnhard (1795–1800), der Erbauer des Gewölbes mit Hängekuppel in Kosart (1800– 1808) und der Baumeister der Kirche in Soltvadkert (1834–1836). Schneiderhahn kann aufgrund seines Fachwissens im Bau von Gewölben bzw. aufgrund der anspruchsvollen Gestaltung der Hauptfassaden der erwähnten Kirchen als bedeutender Baumeister bezeichnet werden. Im Rahmen der bisherigen Forschungsarbeiten ist es selten gelungen, den Baumeister der Kirchen zu benennen. Aus vereinzelten Angaben ist auch Jakob Ulrich als Baumeister der evange-
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Die Architekten und Baumeister der Kirchen kamen nach der damaligen ungarischen Praxis aus den grundherrschaftlichen Bauämtern, waren oft aber auch Mitglieder der örtlichen Bauzunft.31 Die grundherrschaftlichen Bauämter erwarben häufig Pläne von bekannten Architekten des Landes, aber es dienten auch die Einheitspläne der Ungarischen Hofkammer als Vorlage.32 So ist es nicht weiter verwunderlich, dass vor allem die Hauptfassaden der evangelischen Kirchen in den südtransdanubischen Komitaten eine verblüffende Ähnlichkeit zu den von der Hofkammer entworfenen Fassaden der katholischen Kirchen aufwiesen.33 In den Gebäuden trifft man häufig auf böhmisches Kappengewölbe, das in Ungarn nach 1730 häufig verwendet wurde34 und bei den Großkirchenbauten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreichte. Unter den Kirchengebäuden der Tolnau findet sich am häufigsten die Bauweise mit dreijochigem Schiff und einem Chor mit Halbkuppel.35 Die dreijochige Bauform unterscheidet sich von der damals üblichen Form der katholischen Dorfkirchenbauten, die nach den Plänen der Ungarischen Hofkammer nach einem einheitlichen Typ, als zweijochiges Schiff mit Chor, errichtet wurden. Wie bei der Grundrissstruktur folgte man auch bei der Fassade als einem mit dem Grundriss eng zusammenhängenden architektonischen Element der mittelalterlichen Tradition des katholischen Typus (vgl. Abb. 10). Der Turm und die Hauptfassade bilden zwar eigenständige Gebäudeteile, doch beide haben auch eine repräsentative Funktion. Die Hauptfassade wird bereits durch den hervorgehobenen Eingang betont, bei den Protestanten aber noch aus einem weiteren Grund: Da die Kirchen bis 1788 nicht zur Straße hin errichtet werden durften, konnte lediglich die (Haupt-)Fassade des ansonsten auf dem inneren Grundstück und in der Regel in Hanglage errichteten Gebäudes in Richtung Straße zur Geltung kommen. Selbst bei
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lisch-lutherischen Kirche in Meknitsch (1783) bekannt. Doch um die Arbeit dieser Baumeister umfassend bewerten zu können, stehen keine ausreichenden Daten zur Verfügung. Johann Krammer, Fünfkirchner Baumeister, war der Architekt der evangelischen Kirche von Kosart; vgl. dazu Magyar Országos Levéltár – Budapest [Ungarisches Landesarchiv] C 40. Lad. N. fasc. 70, fol. 1, 12, 14, 16. Die Kirche wurde nach Krammers Tod 1783 von Mathias Fölsinger, Fünfkirchner Palier, fertig gestellt; vgl. Sonkoly, Károly: A pécsi Sóház. Pécs újkori építészete egy belvárosi ház historiájának tükrében [Das Salzstadel in Fünfkirchen. Die neuzeitliche Architektur Fünfkirchens im Spiegel der Geschichte eines innerstädtischen Hauses]. In: Magyar Műemlékvédelem. Az Országos Műemlékvédelmi Hivatal Évkönyve. Budapest 2002, 335–407. – Pfeiffer, János: Egyházaskozár története a szerb falu keletkezésétől a németek kitelepítéséig [Geschichte von Egyházaskozár von der Gründung der serbischen Gemeinde bis zur Vertreibung der Deutschen]. Egyházaskozár 1997, 167–174. Dobrovits, Dorottya: Építkezés a 18. századi Magyarországon [Bauen in Ungarn im 18. Jahrhundert]. Budapest 1983, 140. Marosi, Ernő: Magyar falusi templomok [Ungarische Dorfkirchen]. Budapest 1975, 58 u. 64 f. Dobrovits (wie Anm. 31), 32–37. – Volkmann, Swantje: Die Architektur des 18. Jahrhunderts im Temescher Banat. Diss. Heidelberg 2001, Manuskript, 320 f. u. Plan, 71–73. Andor-Tóbiás, Judit: A XVII–XVIII századi Magyarország barokk templomépítészetének szerkezeti kialakulása és fejlődése [Die konstruktionelle Entstehung und Enwicklung der barocken Kirchenbauten in Ungarn im 17. und 18. Jahrhundert]. In: Építés-Építészettudomány VI (1974), 341–386. Z. B. Bonnhard, Kosart, Jerking, Hiewrkut, Kleinmanok und Kötsching.
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Abb. 10: Die evangelisch-lutherische Kirche von Felsőnána/Obernana (Ungarn), 1999, Foto: Harald GOLDSCHMIDT.
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Kirchen, die im 19. Jahrhundert erbaut wurden, folgte man dieser Anordnung wie etwa in Jink oder Kelesch. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts besaß der hohe und verzierte Kirchturm zwischen den eingeschossigen, homogen gestalteten Häuserreihen der Dörfer bedeutende Symbolkraft. Für die Errichtung, Verbesserung und Vergrößerung der Türme waren die protestantischen Gemeinden überall im Land zu großen finanziellen Opfern bereit. Seit der Genehmigung des Kirchturmbaus 1786 entwickelte sich die Kirche zum beherrschenden Element des Dorfbildes und zum dominanten Faktor in der Dorfsilhouette, der durch die jeweiligen Symbole schon von weitem die konfessionelle Zugehörigkeit zeigte: Auf der Spitze lutherischer Kirchtürme war über dem Turmknopf das Wappenschild mit Stern und Lorbeerkranz angebracht,36 während die reformierten Gemeinden nur den Stern ohne Wappenschild verwendeten.37 Die Betonung des im Erdgeschoss des Turms befindlichen Haupteingangs entsprach den Entwicklungen barocker Baupraxis. Hauptelemente waren hier die gerahmten und mit einem gebogenen Gesims abgeschlossenen Steintafeln über dem Eingang. In Kosart wurde das Feld über dem Haupteingang mit dem kaiserlichösterreichischen Wappen verziert, während in Kalas und Majasch das ungarische Wappen verwendet wurde. In Kalas wurde der Eingang – einmalig in Ungarn – durch das ungarische Wappen zusammen mit dem habsburgischen Adler geschmückt (vgl. Abb. 11). An vielen Orten findet man Steintafeln mit eingemeißelten Inschriften in deutscher oder lateinischer Sprache, die Gott lobten oder die Gnade der habsburgischen Herrscher (Maria Theresia, Joseph II., Franz I.) oder des jeweiligen Grundbesitzers priesen. Auch der Zeitpunkt der Errichtung wurde hier häufig verewigt. Nicht selten wurden in knapp formulierten Zeilen die Gläubigen ermuntert, die Kirchen zu betreten.38 2.2.2. Die Ausstattung der Kirchen: Emporen und Kanzelaltäre Die am anspruchsvollsten gestalteten und wichtigsten Einrichtungselemente des Innenraums der Kirchen waren der Kanzelaltar, die Emporen und die Orgel, wobei dieses letzte Element optisch nicht immer zur Geltung kam.39 Der von Luther geprägte Grundsatz, dass die Gemeinde gemeinsam und gleichzeitig am Gottesdienst teilzunehmen habe, machte durch die Zunahme der Bevölkerung den Ausbau von Emporen erforderlich. Dabei erwies sich die u-Form als am geeignetsten. Die sehr verschiedenartigen Emporenkonstruktionen der europäischen 36
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So in Obernana, Jerking, Mutschwang, Sarasch; zur Symbolik vgl. Tarnai, Tamás/Krähling, János/Kabai, Sándor: Star polyhedra on Hungarian Protestant Churches. In: Proc. of the 13th International Conference on Geometry and Graphics. Hg. v. Gunter Weiss. Dresden 2008, CDROM, 236 f. Kalas und Kleintormasch. Seiteneingang in Obernana, südlicher Seiteneingang in Kosart, Ismi, Kalas, Hiewrkut, Kleintormasch, Majasch und Warschad. Bekannte Orgelbauer waren Ende des 18. Jahrhunderts Adam März aus Kleintormasch und Joseph Marschall aus Bonnhard.
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Abb. 11: Das Portal der evangelisch-lutherischen Kirche von Kalaznó/Kalas (Ungarn) mit dem kaiserlichen Doppeladler und dem ungarischen Wappen im Herzschild, 1999, Foto: Harald GOLDSCHMIDT.
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Kirchenarchitektur des Protestantismus – etwa die weit verbreiteten Arbeiten von Leonhard Christoph Sturm vom Anfang des 18. Jahrhunderts – hatten anscheinend keine direkten Auswirkungen auf den Kirchenbau in der Tolnau.40 Die bereits erwähnten Gründe wie auch behördliche Auflagen machten in der Tolnau die Verwendung von u-förmig verlaufenden, symmetrischen Seitenemporen mit Orgelempore erforderlich. Die Emporen in den Kirchen der Deutsch-Lutheraner hatten stets eine Tragekonstruktion aus Holz. In dieser war ein Holzrahmenträger integriert, wobei die Säulen meist aus gedrechseltem Holz bestanden, seltener – und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – aus gemauerten Ziegeln oder aus Gusseisen. Die Brüstungen der Emporen wurden von örtlichen deutschen Malern und Tischlern errichtet, die das Holz mit Bildern bemalten.41 Diese Tradition hatten die Einwanderer mit Sicherheit aus ihrer alten Heimat mitgebracht, denn mit einer einzigen Ausnahme in Sárszentlőrinc, die auf deutschen Einfluss hin entstand, sind mit Bildern bemalte Emporen weder bei den ungarischen noch bei den slowakischen oder bei den wenigen slowenischen und kroatischen Lutheranern in Transdanubien bekannt. Auf dem gesamten Gebiet des historischen Ungarn ist die figural bemalte Emporenbrüstung bei den deutschsprachigen lutherischen Gemeinden am häufigsten anzutreffen, weshalb sie ein weiteres wesentliches Merkmal des evangelisch-lutherischen Kirchentypus in Südtransdanubien darstellt. Die Maler der Bilder sind namentlich nicht bekannt. Eine offene Frage ist auch, welche Rolle der Pfarrer und das Presbyterium bei der Auftragsvergabe der Bilderserien einnahmen und ob ein ikonographisch-theologisches Programm vorgegeben wurde. Neben den zwölf Aposteln und den vier Evangelisten wurden auch verschiedene Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament abgebildet. Die Illustrationen wurden mit den dazu passenden Bibelzitaten versehen,42 was zugleich die Beobachtung bestätigt, dass im Leben der deutsch-lutherischen Bauern der Bibellektüre und dem Vorlesen aus der Bibel im Familienkreis eine zentrale Bedeutung zukam. Aufgrund der Übereinstimmungen bei den Emporenbrüstungen in Kalas und Hiewrkut kann der Schluss gezogen werden, dass die Maler bestimmte Muster aus einem Musterbuch verwendeten, die von der Gemeinde genehmigt oder eventuell auch modifiziert wurden. In beiden Kirchen befinden sich jeweils zwölf Szenen aus dem Neuen Testament mit identischer Komposition und Inschrift, sogar die zitierten Bibeltexte sind fast gleichlautend. Diese figurativ bemalten und in deutscher Sprache beschrifteten Emporen können als Ausdruck der 40 41
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Sturm, Leonhard Christoph: Vollständige Anweisung alle Arten von Kirchen wohl anzugeben. Augsburg 1718. Bemalte Emporenbrüstungen sind in den zehn Dörfern Bonnhard, Wigatsch, Obernana, Kalas, Hiewrkut, Kiek, Meknitsch, Marke, Sárszentlőrinc und Warschad. Die Emporenbrüstung in Bonnhard wurde allerdings aus Blechplatten errichtet; vgl. Harmati, Béla László: Későbarokk szószékoltárok, oltárképek és festett karzatok a dunántúli evangélikus templomokban [Spätbarocke Kanzelaltäre, Altarbilder und bemalte Emporen in den evangelisch-lutherischen Kirchen in Transdanubien]. Diss. Budapest 2006, Manuskript, 78–93. In Bonnhard und in Kosart wurden unter den Bildern lange Bibelzitate angebracht.
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Abb. 12: Die evangelisch-lutherische Kirche von Mekényes/Meknitsch (Ungarn), Detail des Altars mit dem ungarischen Wappen und Detail der Empore mit dem Porträt von Kaiser Joseph II., Foto aus Evangelische Kirchen in Ungarn. Hg. v. Balázs DERCSÉNYI. Budapest 1992, 36.
konfessionellen und ethnisch-sprachlichen Identität der Deutsch-Lutheraner betrachtet werden. An prominenter Stelle, auf der ersten Tafel der Seitenempore seitlich des Altars, wurde nicht selten auch das Porträt des jeweiligen Herrschers angebracht: in Obernana und in Marke das Porträt Josephs II. und in Meknitsch das Porträt Josephs II. und von König Franz I. (Kaiser Franz II.) (vgl. Abb. 12). Das Anbringen von Herrscherbildnissen in exponierter Lage im Innenraum brachte eine Huldigung der Herrscher zum Ausdruck, die nach allgemeiner Ansicht nicht nur von Gottes Gnaden regierten, sondern denen auch die Gewährung oder Bekräftigung der Religionsfreiheit zu verdanken war. In den lutherischen Kirchen tritt die Auslegung des Wortes Gottes gleichberechtigt neben das Abendmahl. Sinnfälligen Ausdruck findet dies in der Sonderform des Altars, dem sogenannten Kanzelaltar, wo die Kanzel über dem Altar platziert ist. Hinsichtlich der Gestaltung kam in manchen Fällen beim Kauf das ‚Additionsprinzip‘ zur Geltung, eine im damaligen Ungarn wegen der bescheidenen finanziellen Möglichkeiten und in Ermangelung großer Werkstätten für Kirchenkunst
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sehr häufig angewandte Methode;43 Kanzel und Alter wurden einfach zusammengefügt. Ein solcher Kanzelaltar stand beispielsweise in der ersten Kirche von Dörötschke, die 1794 vollendet wurde. Die dortigen Lutheraner hatten das Altarretabel den ungarischen Katholiken in Baté abgekauft, während die Kanzel von der deutsch-lutherischen Gemeinde in Kalas erworben wurde.44 Die architektonische Gliederung des Altars und der Kanzel folgte einem in der Epoche allgemein verbreiteten Typus, deren Varianten in den Musterbüchern festgehalten wurden. Es gibt jedoch auch hier einige Ausnahmen. Altäre wie der von einem Baldachin überdachte Kanzelaltar in Wigatsch oder der den Chor abtrennende Kanzelaltar in Raitz-Hidasch sind in ganz Ungarn selten.45 Als Ausdruck der Doppelidentität wurde nicht selten das ungarische Wappen auch an den Altären verwendet, so in Bonnhard, Ismi, Meknitsch (vgl. Abb. 12) und Mutschwang. Die bildhauerische Gestaltung der Kanzel, vor allem deren oberer Deckenabschluss, der den Schall nach unten leiten soll, wurde in den lutherischen Kirchen, so auch bei den Tolnauer Deutsch-Lutheranern, mit der Darstellung des Agnus Dei hervorgehoben. Eine Ausnahme bildet die Verzierung des Deckenabschlusses in Wigatsch mit einem Pelikan. Höchstwahrscheinlich ist die Verwendung dieses Bildsymbols für Christi Opfertod auf reformierten Einfluss zurückzuführen. Die Erbauer der Kanzelaltäre waren zum größten Teil unbekannte Tischler.46 Über die Meister der Altarbilder am Ende des 18. Jahrhunderts ist ebenfalls nicht viel überliefert. Bisher gelangten lediglich zwei Meister zu allgemeiner Bekanntheit: Gottlob Solbrig, der 1786 das Altarbild in Meknitsch mit dem Thema „Der gekreuzigte Jesus“ schuf, und ein Maler namens M. Ritzmaier aus Szekszárd, der das Altarbild in Kiek mit ähnlichem Thema gestaltete.47 Anders als bei den Katholiken wird bei den Lutheranern dem Altar nur für die Feier des Abendmahls eine sakrale Bedeutung zugewiesen. Die Altarbilder haben deshalb häufig die Erlösung zum Thema: das Letzte Abendmahl, den gekreuzigten Jesus und die Auferstehung. Für die vollständige Darstellung aller drei Passionsszenen boten lediglich die größeren Altarretabeln die Möglichkeit. In den deutsch-lutherischen Kirchen der Tolnau waren nach dem Toleranzpatent besonders zwei Bildszenen populär, nämlich Abendmahl und Kreuzigung.48
43
44 45 46 47 48
Auch diese Kanzelaltäre lassen sich je nach Positionierung der Kanzel in zwei Gruppen einteilen: In Jerking, Hiewrkut, Kosart, Kleinmanok, Meknitsch, Sarasch bleibt die Kanzel verdeckt hinter dem Altarretabel, während sie in Apadi, Bonnhard, Obernana, Ismi, Kalas, Kiek, Kleintormasch, Majasch, Mutschwang, Marke, Sárszentlőrinc, Tofi und Warschad relativ stark betont wird; vgl. Harmati (wie Anm. 41), 40 f. EOL Canonica Visitatio Dunántúl. fasc. VI., fol. 93–100: Döröcske 1814. Zum Typus des Baldachin-Kanzelaltars vgl. Mai, Hartmut: Der evangelische Kanzelaltar. Geschichte und Bedeutung. Halle/Saale 1969 (Arbeiten zur Kirchengeschichte und Religionswissenschaft 1), 17. Der Tischler und Maler des Kanzelaltars in Kleinmanok ist Joseph Kausser; vgl. dazu Harmati (wie Anm. 41), 96. Ebd., 90, 92 u. 113. Ebd., 68 f.
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Im 19. Jahrhundert wurden diese alten Altarbilder häufig durch seriell hergestellte und weniger wertvolle Gemälde ersetzt. Dass auch das in Jerking erhaltene Ölgemälde aus der Ansiedlungszeit wenigstens eine Zeitlang als Altarbild fungierte, ist nachgewiesen. Das wahrscheinlich anhand einer Graphik von Jacob van der Heyden (1573–1645) anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Reformation angefertigte Gemälde wurde von den aus Hessen nach Jerking ankommenden Siedlern geschaffen oder in Auftrag gegeben, denn die Widmung des Gemäldes lautet: „Ecclie Györköniensi, Obtulit P Gloria Die An: Tren: 1724 Die 2 Juni“. Im Mittelpunkt des Bildes steht die Bundeslade, die auf der einen Seite von Luther, auf der anderen Seite vom sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich I. flankiert wird. Auf der Bundeslade liegt die Bibel, auf der wiederum ein siebenarmiger Kerzenständer mit 21 Medaillons steht. Die Medaillons bilden die Thesen des Augsburger Bekenntnisses ab, so lautet auch der Titel des Gemäldes „Augustana Confessio“.49 Die einfachen Kirchenschiffe mit ihren bemalten Emporen einerseits und der Detailreichtum der goldverzierten spätbarocken Kanzelaltäre aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts andererseits bilden einen eigenartigen Kontrast und weisen zugleich auf die Entwicklung der lutherischen Gemeinden nach dem Toleranzpatent hin. Die Innenräume der nach 1790 erbauten Kirchen tragen bereits zum größten Teil die Merkmale des in den Klassizismus übergehenden Spätbarock. Bei diesem Stil überwiegen die Verzierungen mit Vasen im Zopfstil, Friesgirlanden und Voluten, gleichzeitig verschwindet die reiche Ornamentik des Rokoko. Dadurch beginnt eine neue Phase, in der zwar die Raumformen und der Kanzelaltar beibehalten wurden, die sich stilistisch jedoch an die jeweiligen Tendenzen der Epoche anpasste. Der Kirchentypus mit an den Längsseiten angebrachten Emporen und dem Kanzelaltar als raumstrukturierende Elemente, der sich Ende des 18. Jahrhunderts etabliert hatte, konnte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts erhalten beziehungsweise wurde dann wiederbelebt – nunmehr bereichert durch Formmerkmale des Klassizismus wie in Udvari 1848, später durch romantische Halbbögen wie in Unternana 1865, Neorenaissance-Elemente wie in Pax 1884 oder solcher der Neogotik wie etwa in Jink 1896 oder Belecska 1907.50 3. VERLASSENE KIRCHEN – VERLORENE ERINNERUNG? Die lutherischen Kirchen der Deutschen in der Tolnau stellen in der ungarischen Kirchenbauarchitektur des 18. Jahrhunderts einen selbständigen Typus dar. Allerdings griffen die Baumeister und Gestalter hauptsächlich nicht auf die aus der alten Heimat mitgebrachten Elemente zurück. Für die Kirchengebäude hatten die ungarischen Vorlagen eine wichtige Rolle gespielt, die entsprechend der lutherischen Li49 50
Zur Beschriebung vgl. Harmati, László Béla: Luther és az Augustana Confessio [Luther und die Confessio Augustana]. In: Biblia Sacra. A könyv, mely „örök életet ád“. 2008 november 21. – 2009 március 29. Országos Széchenyi Könyvtár. Hg. v. István Monok. Budapest 2008, 158. Krähling (wie Anm. 5), 15 f.
Architektur und Gedächtnisgemeinschaft
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turgie und der örtlichen Praxis des Kirchengebrauchs durch nicht oder kaum bekannte Baumeister zu einem selbständigen Typus entwickelt wurden. Was jedoch die Einrichtung der Kirchen anbelangt, kann festgestellt werden, dass sowohl die europäisch-lutherischen als auch die ungarisch-protestantischen Traditionen eine bestimmende Rolle in der Gestaltung der Empore und des Kanzelaltars gespielt haben. Der so entstandene Kirchentypus gilt zugleich als wichtigstes architektonisches Identitätssymbol der lutherischen Deutschen sowohl in der Tolnau als auch im gesamten südlichen Transdanubien. Doch sakrale Bauten können nur so lange die konfessionelle und sprachlichethnische Identität stärken, bis die konfessionelle Gemeinschaft in der Lage ist, diese Bauten mit Inhalt zu füllen und instand zu halten. Doch gerade im Komitat Tolnau erfolgte nach dem Zweiten Weltkrieg ein signifikanter Wandel. Die Zahl der Mitglieder der deutsch-lutherischen Kirchengemeinden ging nach 1945 infolge der Vertreibung der Ungarndeutschen und der starken Säkularisierung der ungarischen Gesellschaft zurück.51 Diese Tendenz wurde durch die Kollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion noch weiter verstärkt, die zuvor die Lebensgrundlage der einst wohlhabenden Kolonistendörfer dargestellt hatte.52 Die politische Diskriminierung der in Ungarn verbliebenen Ungarndeutschen bewirkte ihren Wegzug aus den Dörfern in die umliegenden Städte, wodurch die Zahl der deutschen Bewohner in den Dörfern rapide zurückging. So hatten beispielsweise in Unternana 1941 noch 1.214 deutsche Lutheraner gelebt, 1949 waren es nur noch 81 und 2001 lediglich 16; in Kalas lebten 1941 noch 733 Lutheraner, 1949 nur noch 90 und 2001 lediglich vier. Dieser Zustand gefährdete zunehmend auch den Erhalt der Kirchen. Der Unterhalt der sakralen Bauwerke wurde eine Zeit lang noch von den Vertriebenen mitgetragen, die in den Kirchen konfirmiert oder verehelicht worden waren und in deren Erinnerung die Kirche in dem Geburtsort die Heimat schlechthin symbolisierte. Die beträchtlichen Spendenzahlungen wurden sicherlich durch das Bewusstsein motiviert, einen Teil der eigenen Identität und Geschichte in Form der vom Verfall bedrohten Kirchen der alten Heimat zu bewahren. Doch die Vertriebenengeneration ist heute im Aussterben begriffen und nicht wenige der ehemals mit viel Mühe erbauten Kirchengebäude stehen verwahrlost oder leer als Erinnerung an eine einst blühende konfessionelle Gemeinschaft. Die noch in den Dörfern lebenden Deutschen oder die wenigen eingewanderten ungarischen Lutheraner sind allerdings in Anbetracht der prekären finanziellen Situation nicht mehr in der Lage, die Kirchen zu erhalten. Selbst die Ungarische Evangelisch-Lutherische Kirche kann den Unterhalt für diese bedeutenden Bauwerke des ungarischen Spätbarock nicht aufbringen. So werden die Gotteshäuser in Ismi und Kleintormasch gar nicht mehr genutzt und sind dem Verfall überlassen. Damit geht ein Stück ungarndeutscher und zugleich ungarischer Kultur für immer verloren und mit dem Verfall der 51 52
Krähling, Dániel: Gyülekezeteink fogyatkozásának okairól [Von den Ursachen der sinkenden Zahl unserer Kirchengemeinden]. In: Krähling (wie Anm. 5), 13 f. Ebd., 14.
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Kirchen auch bald die Erinnerung an die einst hier lebenden Deutsch-Lutheraner. In Jerewe fand man einen anderen Weg, um die Erinnerung zu bewahren: Die leerstehende Kirche wurde als Schule umgebaut – eine in ganz Ungarn einzigartige Lösung.
GEDENKKREUZ UND ULMER SCHACHTEL Monumentalisierung der Auswanderung und Ansiedlung der Donauschwaben Márta Fata/Klaus J. Loderer Das Denkmal im öffentlichen Raum, das in Erinnerung an eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Ereignis errichtet wird, hat die Funktion, Vergangenes im kollektiven Gedächtnis zu bewahren, um die Gegenwart darüber zu belehren und dadurch auch auf die Zukunft einzuwirken. Ein Denkmal ist somit ein vergegenständlichter Botschaftsträger und seine Botschaften sind, wie Aleida Assmann schreibt, „steinerne Briefe, die einen bestimmten Erinnerungsinhalt an die Nachwelt adressieren“1. Das Denkmal im öffentlichen Raum manifestiert in der Regel das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe, doch nicht selten erzeugt es überhaupt erst kollektive Erinnerung. Ebenso ist das Denkmal als symbolische Repräsentation des Selbstverständnisses einer Gruppe in der Lage, kollektive Identität zu stiften.2 Die Errichtung von Denkmälern erfolgt in der Regel in einem inszenierten Rahmen mit dem Ziel, die Absichten des Stifters unmissverständlich in den Raum einzuschreiben. Sind Denkmäler einmal aufgestellt, hängt es allerdings von mehreren Faktoren ab, ob die Rezipienten die beabsichtigte Botschaft – festgehalten auch in Inschriften, Widmungstexten etc. – tatsächlich herauslesen können. Das Denkmal ist nicht nur die emotionalste, sondern zugleich auch die ästhetischste Form der Erinnerung. Die Sinnstiftung hängt deshalb sowohl von der Verständlichkeit der verwendeten Symbole ab als auch von den Kommunikationstechniken wie der künstlerischen Gestaltung des Denkmals.3 Das intentional gestaltete Denkmal als Bedeutungsträger kann sich im Laufe der Zeit dem ursprünglichen Ziel der Stifter entziehen, sich mit neuem Inhalt aufladen oder aber seine Bedeutung ganz verlieren, so dass es überflüssig und schließlich abgebaut wird. In einigen Fällen wird es sogar infolge einer emotional starken Gegenerinnerung zerstört.4 1 2
3 4
Assmann, Aleida: Das Gedächtnis der Orte. In: Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum. Hg. v. Ulrich Borsdorf u. Heinrich Theodor Grutter. Frankfurt am Main – New York 1999, 59–77, hier 74. Vgl. dazu Stachel, Peter: Stadtpläne als politische Zeichensysteme. Symbolische Einschreibungen in den öffentlichen Raum. In: Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Hg. v. Rudolf Jaworski u. Peter Stachel. Berlin 2007, 13–60. Ipsen, Detlef: Ort und Landschaft. Wiesbaden 2006, bes. 37–60. Pótó, János: Az emlékeztetés helyei. Emlékművek és politika [Die Orte der Mahnung. Denkmäler und Politik]. Budapest 2003.
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Im Folgenden interessieren uns die Fragen – soweit die vorhandenen Dokumente Aufschluss geben –, wer die Aus- und Einwanderung der deutschen Kolonisten, der Donauschwaben, bis heute im öffentlichen Raum thematisiert hat, welche Symbole dabei verwendet wurden und mit welcher Absicht dies geschah. Dabei wird auch danach gefragt, welchen Stellenwert das in der donauschwäbischen Erinnerung besonders wichtige Motiv, die Ulmer Schachtel, einnimmt, wurde doch dieser Schiffstyp sowohl in der Volksüberlieferung und den Heimatbüchern als auch in der Belletristik oder in der Malerei zum Symbol der Auswanderungszeit schlechthin.5 Zunächst werden drei das Motiv der Ulmer Schachtel aufgreifende Denkmäler verglichen, bevor eine Übersicht zu weiteren Denkmälern im heutigen Ungarn und zu historischen Denkmälern in der Batschka erfolgt. Im letzten Teil sollen auch internationale Beispiele als Vergleich hinzugezogen werden. 1. DIE ULMER SCHACHTEL 2004 ließ die Selbstverwaltung der im Donauknie liegenden Gemeinde Kleinmarosch ein Denkmal zur Erinnerung an die deutschen Siedler, die den Ort nach den Türkenkriegen neu gegründet hatten, errichten. Die Skulptur in der kleinen Grünanlage am Rathaus, also an einem im Stadtbild zentralen und wichtigen Platz, zeigt ein Schiff (vgl. Abb. 13). Auf den ersten Blick könnte man es für ein Denkmal halten, das an die traditionsreiche Donauschifffahrt erinnert. Die Inschrift weist aber darauf hin, dass das Denkmal den deutschen Einwanderern im 18. Jahrhundert gewidmet ist, die ja auch per Schiff kamen. Tatsächlich war der ungarndeutsche Bevölkerungsanteil in der Gemeinde früher hoch, allerdings begann schon nach der Phylloxera-Seuche Ende des 19. Jahrhunderts die Assimilation der Deutschen, als sie ihre Weinbauer- und Winzerberufe aufgeben und größtenteils als Pendlerarbeiter in der nahe gelegenen Hauptstadt Budapest ihr Brot verdienen mussten. Denn Fischfang und Schifffahrt waren traditionelle Berufe der Ungarn und blieben diesen vorbehalten. Umso bemerkenswerter ist es, gerade in diesem Ort ein Einwanderungsdenkmal zu finden. Eine Veränderung im historischen Bewusstsein der Kleinmaroscher brachte der Systemwechsel in Ungarn, als sich die Bewohner der eigenen Familiengeschichte und der Vergangenheit ihres Dorfes verstärkt bewusst wurden. Infolge5
Besonders zu erwähnen sind die Werke des Schriftstellers Adam Müller-Guttenbrunn und des Malers Stefan Jäger. Der aus dem Banat stammende und in Deutschland lebende Schriftsteller Richard Wagner schrieb 2010: „Jetzt, da ich das Banat aus gutem Grund nur noch von außen zu sehen bekomme, sozusagen von der Weltstadt aus, als läge es weit draußen vor den Toren des Planeten, jetzt hat es sich unauffällig in den Kopf zurückgezogen, und ist dort schon wieder in Gänze zu betrachten. Ich könnte meinen Kopf zum Museum erklären, stattdessen stelle ich ihm ein paar arglose Fragen. Was ist das Banat, frage ich mich. Ist es ‚Der Große Schwabenzug‘ von Adam Müller-Guttenbrunn, dem Wiener Theaterdirektor? Das Triptychon des Stefan Jäger, des Trachtenmalers aus Hatzfeld? Die Ulmer Schachtel, das legendäre Donauschiff?“ Banater Zeitung, 2. Dezember 2010, zit. nach http://banaterzeitungonline.wordpress.com/2010/12/02/banater-schlusskommentar/ (15.08.2011).
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Abb. 13: Das Einwanderungsdenkmal in Kismaros/Kleinmarosch (Ungarn), 2009, Foto: Klaus J. LODERER.
dessen wurde in den 1990er Jahren Deutsch als Pflichtfach in der Schule eingeführt und ein Dorfmuseum errichtet.6 Bald wurde auch eine Stiftung unter dem Namen „Ulmer Schachtel“ mit dem Ziel ins Leben gerufen, den ersten Kolonisten ein Denkmal zu setzen. 2004 konnte so aus öffentlichen und privaten Mitteln die Skulptur „Die Ulmer Schachtel“ des Bildhauers István Horváth7 aufgestellt werden. Das Schiff wurde wohl als Symbol der Verbindung zwischen der alten und neuen Heimat zum Motiv gewählt. So lautet die Widmungsinschrift: „Sváb őseink a XVIII. század első felében német nyelvterületekről a szobor által ábrázolt tutajon érkeztek és alapították Kismarost“ – auf Deutsch: Unsere schwäbischen Vorfahren kamen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus deutschen Gebieten mit der in diesem Denkmal dargestellten Zille hier an und gründeten Kleinmarosch.
6 7
Mesélő házak. Magyarországi német tájházak és tájszobák – Häuser, die uns erzählen. Ungarndeutsche Heimatmuseen und Heimatstuben. Hg. v. Gabriella Jaszmann. Budaörs 2010, 3. erw. Aufl. [12008], 102 f. Weitere Skulpturen von István Horváth sind u. a.: Gottes Hand (2003), Sonnenuhrbrunnen (2005), Lajos Batthyány (2007) in Erdőkertes und das Denkmal zur Erinnerung an das Hochwasser 2006 in Szarvas (2006).
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Das Denkmal hat das Unterwegssein als Sujet. Auf einem fein behauenen Steinquader befindet sich ein breites liegendes Element. Dieses Steinelement ist an der Unterseite grob behauen und verschlankt sich gegen beide Enden hin, wodurch es an einen Schiffsrumpf erinnert. Der kleine Aufbau aus einer auf mehreren Quaderchen ruhenden Steinplatte in der Mitte des Schiffes bildet eine Art Häuschen. Auf diesem stehen zwei aus Bronze gegossene menschliche Gestalten mit langen Rudern Rücken an Rücken. Das Schiff erinnert an eine sogenannte Ulmer Schachtel, wobei es dem Künstler nicht um eine getreue Nachbildung dieses Schiffstyps ging. So sind auch die beiden Schiffer sehr frei gestaltet und ihre Anzahl ist mit zwei eigentlich zu gering, denn zur Lenkung einer Zille hätte es mehrerer Lenkruder bedurft. Bei genauer Betrachtung fällt auch auf, dass die beiden Schiffer keine Kleidung des 18. Jahrhunderts oder eine ‚neutrale‘ Schifferkleidung tragen. Vielmehr haben sie nackte Oberkörper und Lendenschurze und erinnern somit eher an altägyptische Darstellungen. Auf diese Weise gelingt es dem Künstler, das Thema aus der historischen Zeit des 18. Jahrhunderts herauszuheben. Die Schiffsdarstellung wird damit zu einem allgemeingültigen Symbol für das menschliche Leben, das wie eine Reise über das teils stürmische Meer hin zum Hafen Gottes führt. Die Errichtung des Denkmals förderte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen deutscher Herkunft in Kleinmarosch: 2006 wurde die deutsche Selbstverwaltung ins Leben gerufen, die sich seither in der Kulturpflege stark engagiert; 2011 trat die Körperschaft der gemeinsamen Organisation der deutschen Selbstverwaltungen in der Kleinregion Donauknie bei. Die Skulptur manifestiert nicht nur die kollektive Erinnerung der Ungarndeutschen, sondern stiftet – gerade durch die allgemeine Botschaft des Denkmals – zugleich Identität der Deutschen und der ganzen Gemeinde, deren Leben mit der Donau und der Schifffahrt vielfach verwoben ist. Dies kommt etwa darin zum Ausdruck, dass in gedruckten und elektronischen Publikationen über die Ortschaft die Statue als Identifikationssymbol für die Gemeinde Kleinmarosch in Erscheinung tritt. Einen künstlerisch anderen Weg beschritt die deutsche Selbstverwaltung von Hedjess im Komitat Tolnau, die 2007 ein realistisch anmutendes, verkleinertes Holzmodell einer Ulmer Schachtel als Ansiedlungsdenkmal aufstellen ließ (vgl. Abb. 14). Der schwarz-weiß gestreifte Rumpf verweist auf die Farben des Ulmer Wappens. Historischen Abbildungen entsprechend sind das in der Mitte errichtete Häuschen und die Gestänge für die Ruder geschaffen. Auf einer daneben aufgestellten Tafel findet sich auch eine zweisprachige Erläuterung. Der deutsche Text lautet: „Graf Cl. Fl. Mercy hat im Jahre 1722 deutsche Kolonisten nach Hedjess gebracht, die mit dem Schiff Ulmer Schachtel die Donau abwärts nach Ungarn gefahren sind. Die Hedjesser Minderheitenselbstverwaltung will sich mit dem Denkmal bei den Ahnen für ihre fleißige Arbeit, mit der sie die nach der Türkenherrschaft entvölkerte Ortschaft aufgebaut hatten, bedanken.“
Die Ulmer Schachtel, aufgestellt in einer kleinen Grünanlage zwischen Omnibushaltestelle und Apponyi-Schloss, dem einstigen Schloss des Grafen Claudius Florimund Mercy, bildet ein Ensemble mit einem Szekler-Tor, das dort 2006 von dem örtlichen Szeklerkreis aufgestellt wurde. Vertieft man sich in die Geschichte des Dorfes, so bekommt dieses Denkmalensemble eine tiefgründige Bedeutung.
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Abb. 14: Denkmalensemble mit Ulmer Schachtel und Szekler-Tor in Hőgyész/Hedjess (Ungarn), 2009, Foto: Klaus J. LODERER.
Die in der osmanischen Herrschaft größtenteils entvölkerte Gemeinde wurde ab 1722 mit deutschen Einwanderern besiedelt. Bis 1945 lebten in Hedjess zum größten Teil Deutsche, zum kleineren Teil Ungarn. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Komitat Tolnau eines der Hauptgebiete der durch die ungarische Regierung vorgenommenen Vertreibung der Deutschen. Dabei spielte die Tatsache eine Rolle, dass es im Komitat seit dem 18. Jahrhundert ein von Deutschen sehr dicht bewohntes Siedlungsgebiet gab, in welchem infolge der ungleichmäßigen Besitzverhältnisse unter den Deutschen der nationalsozialistische Volksbund gerade unter den Armen eine bedeutende Basis hatte. Zugleich nahm man den Flüchtlingsstrom der Szekler zum Anlass, die aus Sicht der ungarischen Regierung unerwünscht gewordenen Deutschen zuerst zu enteignen, dann zu vertreiben. Diese Szekler, die erst 1941 von der ungarischen Regierung aus der Bukowina in die von Ungarn zurückeroberte Batschka umgesiedelt worden waren, flüchteten 1944 vor den vorrückenden jugoslawischen Partisanen in die ungarischen Komitate Branau und Tolnau und wurden anstelle der Deutschen angesiedelt. Auch in Hedjess wurde ein bedeutender Teil der Deutschen vertrieben, so dass heute nur etwa 20 % der Bewohner zur deutschen Minderheit gehören. Ebenso groß muss auch der Anteil der anstelle der Vertriebenen angesiedelten Szekler sein. Zahlreiche Dokumente und Erinnerungen,
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seit den 1980er Jahren auch literarische und filmische Bearbeitungen,8 belegen den bis in die 1970er Jahre sichtbaren Konflikt zwischen Alt- und Neusiedlern.9 Symbolisiert also das Denkmalensemble von Hedjess eine latent noch immer vorhandene Konfliktsituation zwischen den zwei Bevölkerungsgruppen? Die Frage ist in Anbetracht dessen, dass das deutsche Ansiedlungsdenkmal 2007 als Reaktion auf das 2006 aufgestellte Szekler-Tor errichtet wurde, keineswegs abwegig. Die Aufstellung der beiden Denkmäler unmittelbar nebeneinander ergibt außerdem einen tieferen Sinnzusammenhang: Das Ansiedlungsdenkmal der Deutschen erinnert implizit an die Vertreibung und weist darauf hin, dass die Ansiedlung der einen Volksgruppe mit der Vertreibung der anderen Gruppe eng verbunden war. Damit wird eine konkurrierende Erinnerung geschaffen. Bei näherer Betrachtung der Ausführungsweise der beiden Denkmäler fällt allerdings auf, dass hier trotz der bestehenden Konkurrenz keine Gegenerinnerungen manifestiert werden sollten: Beide Denkmäler sind aus dem gleichen Material, aus Holz, gestaltet. Ausgeführt wurde das Szekler-Tor zudem von Béla Makra jun., Gyula Márton und Béla Rettich, die Ulmer Schachtel ebenfalls von Béla Rettich. Die bewusste Wahl des Zimmermeisters Rettich bei der Anfertigung des Denkmals bewirkte nicht nur eine ästhetische Einheit, sondern auch Verständigung zwischen den beiden Gruppen. Warum aber wählte die deutsche Gemeinschaft in einer Gemeinde, die keinen direkten Bezug zur Donau hat, gerade die Ulmer Schachtel als Motiv? Die lokale Überlieferung berichtet zwar, dass Graf Mercy zum Bau des Schlosses „die besten deutschen Steinmetze, Maurer, Zimmermänner und Tischler von den Ulmer Schachteln geholt [habe], die dann für ihn arbeiteten – und Mitbegründer des neuerstandenen Orts wurden“, so die Vorsitzende der deutschen Selbstverwaltung in ihrer Rede zur Enthüllung des Denkmals am 20. November 2007.10 Die Platzierung des deutschen Ansiedlungsdenkmals in einem Ensemble mit dem Denkmal der Szekler verweist aber zugleich darauf, dass die Ulmer Schachtel bewusst als ein spezifisches Identifikationssymbol der Deutschen gegenüber dem Symbol der Szekler gewählt wurde. Das hölzerne und reichlich verzierte Tor der Szekler mit der ursprünglichen Funktion der Raumaufteilung zwischen privater und öffentlicher Sphäre wurde seit
8 9
10
Vgl. dazu u. a. den Film Együttélés [Zusammenleben] von Livia Gyarmathy aus dem Jahr 1983. Zum Thema vgl. u. a. Wirth, Josef: Internierungslager in Lendl/Lengyel. In: 300 Jahre Zusammenleben – Aus der Geschichte der Ungarndeutschen. Internationale Historikerkonferenz in Budapest (5.–6. März 1987). Hg. v. Vendel Hambuch, 2 Bde. Budapest 1988, hier Bd. 1, 222– 228. – SzŐts, Zoltán: A németkérdés Tolna megye központi sajtójában 1945-ben, a fegyverszüneti szerződéstől a kitelepítési rendeletig [Die Frage der Deutschen in der zentralen Presse des Komitats Tolnau 1945, vom Waffenstillstand bis zur Anordnung der Vertreibung]. In: Bonyhádi evangélikus füzetek 2. Hg. v. István Nagy u. Eszter Bacskai Kutnyánszkyné. Bonyhád 2009, 457–471. [Homoródi, Martha]: Einweihung der „Ulmer Schachtel“ in Hedjess. In: Neue Zeitung Nr. 49, 2007, 4.
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dem 19. Jahrhundert zum Symbol der Szekler.11 Überall in Rumänien und Ungarn, wo heute Szekler-Gemeinschaften leben, werden seit dem Systemwechsel solche markanten Tore auf öffentlichen Plätzen und bei Ortseinfahrten aufgestellt. Auch in jenen Gemeinden im Komitat Tolnau werden Szekler-Tore errichtet, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg Szekler angesiedelt wurden.12 Dort erfüllen die Tore gleich eine dreifache Funktion: Sie sind Denkmal der Ansiedlung, symbolisieren die Ethnizität der Volksgruppe und bringen das Zusammengehörigkeitsgefühl der Szekler zum Ausdruck. Durch diese symbolträchtige Inbesitznahme des öffentlichen Raums in Hedjess durch die Szekler fühlten sich die dortigen Deutschen offenbar herausgefordert und wollten auch sich selbst in den Raum und die historische Erinnerung des Landes einschreiben. Dass es sich hier nicht um einen Einzelfall handelt, zeigt die 2010 in Kokesch aufgestellte Ulmer Schachtel. Dort, wo ebenfalls Szekler und Deutsche seit 1944 zusammenleben, war bereits 1987 von dem über die Landesgrenzen hinaus bekannten Architekten Imre Makovecz ein Gemeindehaus gebaut worden. Das Haus symbolisiert das Aufeinandertreffen der beiden Gruppen durch die nachgebaute Fassade einer katholischen Kirche, den sogenannten schwäbischen Turm, und die Fassade einer für Siebenbürgen charakteristischen Holzkirche, den sogenannten Szekler-Turm. 2009 wurde in Kokesch, von einer Privatperson finanziert, auch ein Szekler-Tor in traditioneller Bauweise errichtet. 2010 folgte die Aufstellung eines erneut von Béla Rettich gebauten Modells der Ulmer Schachtel im Maßstab 1:4, ebenfalls von einer Privatperson gestiftet.13 2. WEITERE ANSIEDLUNGSDENKMÄLER IN UNGARN 1844–201114 Neben dem Schiffsymbol werden von den Deutschen in Ungarn auch andere Symbole zur Darstellung der Ansiedlung gewählt. In der nördlich von Budapest gelegenen Gemeinde Weindorf erinnert seit 1991 ein kleines Denkmal vor dem Kulturund Gemeindehaus sowohl an die Ansiedlung als auch an die Vertreibung. Für diese 11 12 13
14
Vgl. Pozsony, Ferenc: Székely kapuk szimbolikus mezőnyben [Die Szekler-Tore und ihre Symbolik]. In: Átjárók. A magyar néprajztól az európai etnológiáig és a kulturális antropológiáig. Hg. v. Gábor Vargyas. Budapest 2009 (Studia Ethnologica Hungarcia XI), 267–301. Vgl. die Liste der Szekler-Tore im Komitat Tolnau unter http://www.bukovina.hu/faragottemlekeink.htm (15.08.2011). Das Szekler-Tor wurde von István Adorjáni, einem Ingenieur Szekler Abstammung in Budapest, finanziert und von Lajos Farkas erbaut. Die Ulmer Schachtel wurde von Adam Hilcz finanziert, der laut Inschrift auf der am Denkmal angebrachten Tafel „etwas an die junge Generation weitergeben“ wollte, damit „sie in ihrem Heimatdorf stolz sein kann“. Hucker, Monika: Kokersch, Ulmer Schachtel – Ehrenbürger Johann Fritz. In: Neue Zeitung Nr. 18, 2010, 1 u. 3. Ob der 1944 in Kokesch geborene und an der Geschichte seiner 1730 eingewanderten Familie interessierte Adam Hilcz dabei an den Neuanfang der deutschen Siedler und deren Leistung beim Wiederaufbau des Dorfes dachte, geht aus der Inschrift nicht hervor. Für die Recherche der Denkmäler bedanken sich die Verfasser bei Angelika Pfiszterer, Referentin für Kultur bei der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen.
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Skulptur wurde ein alter Grabstein verwendet und einem neuen Zweck zugeführt. In den Obelisken wurde an die Stelle der alten Grabinschrift eine Marmorplatte mit neuer Inschrift eingefügt: „1691–1991, három évszázada telepedtek le a németek Pilisborosjenőn – 1691–1991, 300 Jahre deutsche Siedler in Weindorf“. Die Initiative zum Denkmal anlässlich der 300-Jahr-Feier der deutschen Ansiedlung ging von den Deutschen in Weindorf aus, allerdings musste die Idee damals, kurz nach der politischen Wende, noch auf einen gewissen Widerstand bei der Gemeindeverwaltung gestoßen sein.15 Einige Jahre später erhielt das Denkmal durch eine weitere Inschriftentafel am Sockel eine zusätzliche Bedeutung und erinnert nun auch an die Vertreibung von Weindorfer Deutschen im Jahre 1946. Es ist nicht das einzige Mal, dass ein alter Grabstein aus dem Sinnzusammenhang der Totenverehrung herausgenommen wurde und mit neuer Bedeutung als Solitär Denkmalcharakter erhielt. In der Gemeinde Baj (vgl. Abb. 15) im Komitat Gran-Komorn verwendete man ebenfalls einen Grabstein, um der Ankunft der Deutschen ein Denkmal zu setzen. Hier verband man das 250. Jubiläum der Wiederbesiedlung der Ortschaft mit dem 1100. Jubiläum der Landnahme der Ungarn.16 Die Ehrung der eingewanderten Vorfahren mit der Erinnerung an die Ansiedlung als ein entscheidendes Ereignis, gewissermaßen eine Heldentat, zu verbinden, war bei den deutschen Bauern in Ungarn wahrscheinlich verbreitet.17 Dieses Gedenken der Ahnen fand auf dem Friedhof – neben der Kirche der wichtigste Sakralort der Gemeinschaft und Grabstätte der Vorfahren – statt. Darauf weist ein noch erhaltenes Gedenkkreuz auf dem alten Friedhof im heutigen Gávavencsellő aus 1844 mit der Inschrift hin: „Engesztelő áldozatul állították a jó öregek sírja fölé a hálás gyermekek“ – auf Deutsch: Als Sühnopfer haben die dankbaren Kinder das Kreuz auf dem Grab der guten Alten aufgestellt. Dieses älteste bekannte Denkmal für die deutsche Einwanderung in Ungarn wurde zur Erinnerung der Ansiedlung der Deutschen im damaligen Vencsellő unter Joseph II. 1784/1785 errichtet.18 Wie in Weindorf wurden die Aspekte Ansiedlung und Vertreibung auch im Denkmal von Krottendorf – heute der III. Bezirk von Budapest – kombiniert. Beide historischen Ereignisse liegen für den Ort fast auf den Tag genau 210 Jahre auseinander: Vom 26. Februar 1736 datiert der Ansiedlungsvertrag und am 28. Februar 1946 begann die Vertreibung im Ort. 1986 wurde von den Vertriebenen eine entsprechende Gedenktafel für die Kirche der alten Heimat gestiftet. In dem Jahr im damals noch sozialistischen Ungarn waren beide historische Ereignisse Tabuthemen, so feierte man beim Heimattreffen in Deutschland das 250-jährige Jubiläum 15
Reichardt, Franz: 300 Jahre Weindorf, Jubiläumsveranstaltung. In: Neue Zeitung Nr. 51–52, 1991, 6. 16 Vgl. http://hu.wikipedia.org/w/index.php?title=F%C3%A1jl:Baj066.JPG&filetimestamp=201 00502184246 (15.08.2011). 17 Kunt, Ernő: Volkskunst ungarischer Dorffriedhöfe. [Budapest] 1983. – Eliade, Mircea: Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte. Frankfurt a. M. 1986. – Giesen, Bernhard/Rauer, Valentin/Schneider, Christoph: Vergangenheitsentlastung durch Differenzierung. In: Die Verortung von Gedächtnis. Hg. v. Moritz Csáky u. Peter Stachel. Wien 2001, 15–39, bes. 16 f. 18 Vgl. http://www.gavavencsello.hu/gavavencsello/tortenelem/69-vencsell-toertenete (15.08.2011).
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Abb. 15: Denkmal anlässlich des 1100. Jubiläums der ungarischen Landnahme und des 250. Jubiläums der deutschen Ansiedlung in Baj (Ungarn), 1996, Foto: Deutsche Selbstverwaltung Baj.
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der Ansiedlung und gedachte zugleich der Vertreibung vor 40 Jahren, während in der Kirche von Krottendorf die an beide Ereignisse erinnernde Tafel angebracht wurde.19 In Waschkut im Komitat Bács-Kiskun wurde an Pfingsten 1992 ein Denkmal zur Erinnerung an die deutsche Ansiedlung vor 250 Jahren errichtet. In der Nähe des Bürgermeisteramts wurde eine Steinplatte auf einem Sockel aufgestellt, auf der als Tiefrelief der Verlauf der Donau in Ungarn, die Lage von Waschkut und Städten im 18. Jahrhundert wie Ofen, Pest und Baja markiert sind. Eine zweisprachige Inschrift verweist auf das Thema des Denkmals, während eine Schiffsdarstellung die Tafel illustriert und auf das Verkehrsmittel der Ansiedler bei ihrer Ankunft im Land verweist.20 Eine interessante Lösung fand man in der kleinen Gemeinde Pula im Komitat Wesprim für das Ansiedlungsdenkmal, das ebenfalls zur 250-Jahr-Feier der Gemeinde am 28. Juli 1996 enthüllt wurde. Für das nahe der Kirche aufgestellte Denkmal wurde ein aus Stein nachgebautes historisches Fenstergewände frei auf einen Sockel gestellt. Hier wurde also ein Element eines Bauernhauses zum Denkmal erhöht.21 In der Kleinstadt Moor im Komitat Fejér entstand eine bemerkenswerte Denkmalgruppe, die sowohl an die ungarische Landnahme 896 als auch an die deutsche Ansiedlung 1698 erinnert. 1996 wurde der alte Sportplatz der Stadt in eine Parkanlage umgewandelt. Während über dem großen mittleren Durchgang die Inschrift Millenniumspark den Namen der Grünanlage benennt, sind über den kleineren seitlichen Durchgängen markante Jahreszahlen aus der Geschichte Ungarns und der Stadt Moor angebracht. Über dem linken Portal findet man die Jahreszahlen 896 und 1996, also die Daten der ungarischen Landnahme und der 1.100-Jahr-Feier, und über dem rechten Portal die Jahreszahlen 1698 und 1948, also die Daten der Ankunft der ersten deutschen Siedler in der Ortschaft und der Vertreibung der Deutschen aus Moor. Diesen beiden Ereignissen ist auch das „Denkmal der deutschen Minderheit“ („Német Nemzetiségi Emlékmű“) im Park gewidmet, das am 30. Mai 1998 zur 300-Jahr-Feier der deutschen Ansiedlung und zum Gedenken von 50 Jahren Vertreibung enthüllt wurde. Das vom Bildhauer István Rigó22 gestaltete Denkmal besteht aus einem kantig behauenen Steinblock mit einer Aussparung in der Mitte, die teilweise durch einen sechseckigen andersfarbigen Stein geschlossen ist. „Dieser zeigt uns jenen Teil einer Gemeinschaft, der aus der Einheit herausgerissen wurde“, so interpretierte Lorenz Kerner, der Vorsitzende der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen, beim Festakt die Skulptur.23 19 20 21 22 23
Heimattreffen der Krottendorfer, 250 Jahre nach der Ansiedlung in Ungarn, 40 Jahre nach der Vertreibung. In: Unsere Post Nr. 6, 1986, 28. Bei den Feierlichkeiten zu 250 Jahren Ansiedlung wurden weitere Gedenktafeln, darunter für Anton Kraul, Paul Flach und für die Opfer des Zweiten Weltkriegs, enthüllt; vgl. Waschkut, 250 Jahre Ansiedlung. In: Neue Zeitung Nr. 25, 1992, 9. 250-Jahr-Feier in Pula. In: Neue Zeitung Nr. 31, 1996, 1 f. Weitere Arbeiten von István Rigó: Károly Vécsey (1997) und Arisztid Dessewffy (1993) in Pécs, Abt Asztrik (2000) in Pécsvárad; bei Hercegszántó errichtete er die weltgrößte Marienstatue (2008). Rigó gehört zur 1991 gegründeten Künstlergruppe „Salon Siklós“. Der aus der Einheit gerissene Teil. In: Neue Zeitung Nr. 23, 1998, 1 u. 3. – Wir danken Mária Ivanics von der deutschen Selbstverwaltung Moor für die freundlichen Auskünfte.
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Auch in Hidikut gab das Zusammentreffen von Gedenkjahren den Anlass zur Errichtung eines Denkmals: In dem Ort, der heute zum II. Bezirk der ungarischen Hauptstadt gehört, nahm man die Jubiläen 300 Jahre Ansiedlung, 275 Jahre Bestehen der katholischen Kirchengemeinde und 65 Jahre Vertreibung zum Anlass für ein Ansiedlungsdenkmal. Seinen Standort fand es im Kirchhof zwischen einem Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs und einigen alten Grabsteinen aus dem aufgelassenen Friedhof. Das Denkmal besteht aus einem grob behauenen Naturstein, in den eine Inschriftenplatte eingelassen ist. Bei der feierlichen Übergabe am 2. Juli 2011 wurde an die ersten zwölf Siedler erinnert, die am 5. Juli 1711 einen Vertrag mit dem Gutsherrn Baron Kurcz geschlossen hatten.24 Auffällig sind die kombinierten Denkmäler aus mehreren Gründen: erstens, weil bei den meisten von ihnen Geschichte als ein abgeschlossener Verlauf in Szene gesetzt wird, an dessen Anfang die Neugründung der Siedlung durch die deutschen Kolonisten und am Ende die Vertreibung der Deutschen steht. Auch wenn aus der Ortschaft nicht alle Deutschen vertrieben worden waren und weiterhin Deutsche dort leben, markiert die Vertreibung für die Deutschen in Ungarn das unwiederbringliche Ende der traditionellen Dorfgemeinschaft, die über 200 Jahre lang ihre wesentliche Lebensform darstellte.25 Auch dieses Bewusstsein des Endes einer Epoche ist ein Grund dafür, dass häufig alte Grabsteine verwendet oder Denkmäler auf den Friedhöfen aufgestellt werden. Besondere Erwähnung verdienen die kombinierten Mahnmale zweitens auch deshalb, weil sie die Tendenz der ungarndeutschen Denkmäler seit dem Systemwechsel zeigen. Der überwiegende Teil der Denkmäler für die Deutschen in Ungarn erinnert nämlich nicht an die Einwanderung, sondern an die Vertreibung. Die Tatsache, dass in das Gruppenbewusstsein der Deutschen in Ungarn – wie auch der aus Ungarn vertriebenen Deutschen – besonders die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit, die Vertreibung, gerückt ist, wundert nur wenig, war doch von der Vertreibung beinahe jede zweite ungarndeutsche Familie betroffen. Auch die Zeitzeugen, wenn auch in immer geringerer Zahl, halten noch die Erinnerung an die Ereignisse wach. Entsprechend werden Initiativen zur Errichtung eines Vertreibungsdenkmals im Kreis der Ungarndeutschen immer positiv aufgenommen und unterstützt, zumal die Einweihungsfeste das kollektive Erinnern der ganzen Gemeinschaft ermöglichen. Die Thematisierung der Zwangsmigration und das öffentliche Gedenken an die Opfer der Vertreibung waren nämlich nach 1945/1946 zunächst über mehrere Jahrzehnte auf die Bundesrepublik Deutschland begrenzt. Dort errichteten Vertriebenenverbände in vielen Städten und Gemeinden entsprechende Mahnmale.26 In den letzten zwanzig Jahren wurden jedoch auch in zahlreichen ungarischen Ge24 25 26
Ansiedlungsdenkmal in Hidikut eingeweiht. In: Neue Zeitung Nr. 27, 2011, 1 f. Vgl. dazu die Ausführungen von Katalin Orosz-Takács anhand von Heimatbüchern in diesem Band. Zur Übersicht sei auf die beiden folgenden Dokumentationen verwiesen: Mahn- und Gedenkstätten der deutschen Heimatvertriebenen. Hg. v. Bund der Vertriebenen. Bonn 2008, und Eich, Heinrich: Dem Vergessen entrissen. Gedenkstätten und Mahnmale der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler in Baden-Württemberg. Stuttgart 2002.
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meinden, aus denen nach dem Zweiten Weltkrieg Ungarndeutsche vertrieben worden waren, Mahnmale aufgestellt. Die Vertreibungsdenkmäler, die von kleineren Gedenktafeln bis zu großen Figurengruppen reichen, existieren inzwischen in so großer Zahl, dass sie schon einen eigenen Denkmalstypus bilden.27 Wie die zahlreichen Vertreibungsdenkmäler, so sind auch die wenigen Ansiedlungsdenkmäler aus Initiative von Einzelpersonen oder örtlichen Gemeinschaften, anfangs sogar gegen den Willen der Kommunalverwaltung, entstanden. Als nicht politisch gelenkte oder in Szene gesetzte Denkmäler spiegeln sie das Selbstbild der Deutschen in Ungarn. Besonders die kombinierten Denkmäler in Baj und Moor, die neben der Neugründung der Gemeinde an die Landnahme der Ungarn, den Gründungsmythos Ungarns, erinnern, verweisen darauf, dass sich die Deutschen als Teil der Geschichte Ungarns definieren und aus dem Nationsbegriff nicht ausgeschlossen sein wollen. 3. AHNENDENKMÄLER IN DER JUGOSLAWISCHEN BATSCHKA 1934–1938 Einwanderung und Ansiedlung spielen auch in der Erinnerungskultur der Ungarn eine wichtige Rolle, sind doch die Magyaren selbst Einwanderer im Donau- und Karpatenraum. Árpád Feszty malte nach französischem Vorbild ein Panoramabild von der ungarischen Landnahme, dem Gründungsmythos der Ungarn. Dieses 1894 fertig gestellte und anlässlich der Millenniumsfeier 189628 in Budapest aufgestellte 120 mal 15 Meter große Bild hatte sicherlich Vorbildfunktion für unmittelbar nachfolgende, die Ansiedlung thematisierende Bilder. Eine direkte Reaktion auf Fesztys Werk war das Gemälde der serbischen Wanderung, also der Einwanderung der Serben nach Ungarn unter dem Patriarchen Arsenije III. Crnojević 169029, von Pavle (Paja) Jovanović, das 1895 von dem orthodoxen Patriarchen und der Synode von Karlowitz in Auftrag gegeben wurde.30 Das zur Millenniumsfeier des ungarischen Staates angefertigte 196 mal 126 Zentimeter große Gemälde „Seoba Srba“ wurde 1896 ebenfalls anlässlich der Millenniumsfeier in Budapest ausgestellt und als zentraler Teil des ser27
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Hier bildet der Aufsatz von Géza Boros eine erste Bestandsaufnahme; vgl. Boros, Géza: Kitelepítési emlékművek Magyarországon (1989–2004) [Vertreibungsdenkmäler in Ungarn (1989– 2004)]. In: Regio Nr. 2, 2005, 93–110. – Damit unterscheidet sich Ungarn übrigens von den anderen Vertreiberstaaten. Grund dafür ist, dass in Ungarn unmittelbar nach dem Systemwechsel 1990 ein Bewusstseinswandel die Vertreibung betreffend erfolgte. Vertreter von Staat und Politik sowie Bürger selbst bewerteten die Vertreibung nun als Unrecht. In verschiedenen Foren begann gleich nach der Wende die Aufarbeitung des bis dahin tabuisierten Themas und schließlich fand die Vertreibung der Ungarndeutschen zusammen mit den Zwangsmigrationen, von denen auch die Ungarn betroffen waren, Eingang in die Geschichtslehrbücher. Sinkó, Katalin: Die Millenniumsfeier Ungarns. In: Das Zeitalter Kaiser Franz Josephs. 2. Teil, 1880–1916: Glanz und Elend. Hg. v. Harry Kühnel, 2 Bde. Wien 1987, hier Bd. 1, 295–301. Lukan, Walter: Velika Seoba Srba. In: Österreichische Osthefte 33 (1991), 35–49. Pavle (Paja) Jovanović. In: Enciklopedija Jugoslavije [Enzyklopädie Jugoslawiens]. Hg. v. Miroslav Krleža, 8 Bde. Zagreb 1955–1971, hier Bd. 4, 342.
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bischen Geschichtsmythos in Ungarn zu einer Ikone. Auch Stefan Jägers 1910 gemaltes Triptychon „Die Einwanderung der Schwaben in das Banat“ ist in diesem Zusammenhang zu nennen; Jäger und seine Auftraggeber ließen sich sicherlich von Fesztys Monumentalwerk inspirieren, da sie die Einwanderung der Deutschen und nicht etwa die Inbesitznahme der neuen Heimat in den Mittelpunkt stellten.31 Das anlässlich der Millenniumsfeier errichtete zentrale Denkmal der Landnahme der Ungarn mit Árpád und den anderen Stammesfürsten brachte wiederum kein Pendant bei den Serben und Deutschen in Ungarn hervor. Vor dem Ersten Weltkrieg entstanden nachweislich nur wenige in Stein gemeißelte Erinnerungen an die Ansiedlung der Deutschen, so etwa eine Gedenktafel in Schowe32 und eine schlichte Gedenksäule mit Inschrift in Torschau33, beide in der Batschka.34 Dass man in den donauschwäbischen Gemeinden anscheinend aber auch gar nicht auf die Idee kam, Skulpturen als Erinnerung an die Ansiedlung zu errichten, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass es in den Dörfern zu jener Zeit noch keine Tradition weltlicher Denkmäler gab. Die modernen weltlichen Denkmäler als vergegenständlichte Erinnerungen an Personen oder Ereignisse entstanden erst im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert.35 Die Dörfer erreichten sie erst viel später, als die bäuerliche Gesellschaft zur Zeit des Ersten Weltkriegs zum ersten Mal von einer tief greifenden politisch-gesellschaftlichen Krise und der Grausamkeit des Krieges erfasst wurde.36 Vor dem Ersten Weltkrieg wurden in den donauschwäbischen Dörfern religiöse Denkmäler errichtet, so etwa eine Vielzahl privat gestifteter Kreuze, Kalvarien31 32
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Vgl. dazu den Beitrag von Christian Glass in diesem Band. In Sowe wurde 1886 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Bestehens der Gemeinde eine Gedenktafel am Gemeindehaus enthüllt, wobei das Gelöbnis erneuert wurde, „auch in Zukunft durch Fleiß, Sparsamkeit, gute Nachbarschaft und festes Gottesvertrauen an diesem großen Werk [der Aufbauarbeit; Anm. d. Verf.] weiterzuarbeiten und sich des Erbens würdig zu erweisen“. Zit. nach Brücker, Christian Ludwig: 200 Jahre Schowe 1786–1986. Winnenden [1986], 43. In Torschau wurde 1885 anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Bestehens der Gemeinde ein etwa drei Meter hoher, grauer Granitobelisk aufgestellt, den die Gemeinde in Budapest für 1.300 fl. hatte anfertigen lassen. Im Obelisken wurde eine zweisprachige Inschrift eingraviert. Der deutsche Text lautete: „Die Gemeinde Torzsa wurde unter Kaiser Joseph dem II. im Jahre 1784 den 15. Maj angesiedelt. – Errichtet zum Hundertjährigen Jubiläum den 15. Maj 1884.“ Vgl. dazu Famler, Gustav Adolf: Torzsa und seine Ansiedlung. Aus Veranlassung des am 15. Mai 1884 abgehaltenen 100-jährigen Jubelfeste. Neusatz 1884, 102 f. Beispiele sind auch aus dem Banat bekannt, so etwa das Gedenkkreuz in Tirol/Königsgnad, das 1912 anlässlich der 100-Jahr-Feier der Dorfgründung errichtet wurde. In dem Banater Dorf Tschatad/Lenauheim ließ allerdings der offenbar politisch denkende und historisch interessierte Wagnermeister Mathias Gehl für 13 im Gefecht bei der Ortschaft am 8. August 1849 gefallene Soldaten einen Gedenkstein auf dem Friedhof und 1880 eine Gedenktafel für den Dichter Nikolaus Lenau an dessen Geburtshaus anbringen; vgl. dazu Bräuner, Hans: Lenauheim (Tschatad). Ein Heimatbuch. O. O. 1982, 41 u. 50. – Zu den weltlichen Denkmälern allgemein vgl. Döring, Jürgen: Das „Zeitalter der Monumenten-Wuth“. Zum Denkmalverständnis um 1800. In: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 29 (1990), 11–149. Böttcher, Bernhard: Gefallen für Volk und Heimat. Kriegerdenkmäler deutscher Minderheiten in Ostmitteleuropa während der Zwischenkriegszeit. Köln – Weimar – Wien 2009 (Studia Transylvanica 39), bes. 265–308.
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berge, Dreifaltigkeitssäulen, Heiligenstatuen in den katholischen Dörfern oder Kanzelaltäre und bemalte Emporen in den lutherischen Kirchen.37 Zu den religiösen Denkmälern gehört auch das 1912 errichtete Luther-Denkmal in Jarek in der Batschka, das von dem Kirchenkurator Georg Reichert und seiner Frau in Erinnerung an ihre verstorbene Tochter gestiftet wurde.38 Die Tradition weltlicher Denkmäler entstand erst durch die Aufstellung von Heldendenkmälern für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs in den Dörfern.39 Allerdings waren weltliche Denkmäler von einigen Pfarrern auch noch in der Zwischenkriegszeit nicht gern gesehen, vor allem, weil sie als Zeichen einer sich gegen die christlichen Werte wendenden Ideologie erkannt wurden. Dies zeigt die Auseinandersetzung um das Ahnendenkmal, welches 1938 zur 175-Jahr-Feier der Besiedlung in Filipowa/Filipovo, das seit dem Vertrag von Trianon mit dem größten Teil der Batschka zu Jugoslawien gehörte, errichtet wurde. Vom Festausschuss war ursprünglich festgelegt worden, dass das Denkmal „Glaube und Volkstum sowie Aus- und Einwanderung der Filipowaer darstellen“40 sollte. Doch widersetzte sich der katholische Pfarrer vehement einem weltlichen Motiv und die Kirchengemeinde schlug eine Skulptur mit dem Titel „Engel des Herrn“ vor.41 In der entscheidenden Abstimmung des Festausschusses setzte sich jedoch der Entwurf von Sebastian Leicht durch, der schließlich verwirklicht wurde.42 Das Ahnendenkmal zeigte auf hohem Marmorsockel mit der Inschrift „Filipovo 1763–1938“ eine schwäbische Familie (vgl. Abb. 16). Beherrscht wurde die Gruppe von einem stehenden Mann, der in seiner rechten Hand eine Schaufel hielt, während sein linker Arm die Schulter seiner sitzenden Frau umfing. Auf deren Schoß saß ein kleines Mädchen, dessen Hände sie zum Gebet faltete. Zwischen Frau und Mann befand sich außerdem ein stehender Knabe. Vor dem Hintergrund des vom Festausschuss bestimmten Themas betrachtet, lassen sich die Inhalte Glaube und Volkstum erkennen, man vermisst allerdings den Aspekt der Migration. Man könnte zwar die Schaufel als Motiv der Aufbruchstimmung interpretieren, doch fehlt die Andeutung eines Ortswechsels vollständig und betont wird eher die Bodenständigkeit. Leicht selbst hielt die Hervorkehrung der nach seinem Verständnis typisch donauschwäbischen Eigenschaften für wichtig: „Starkmut und Behäbigkeit, Familiensinn und religiöse Festigkeit“43. Die Aspekte
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Vgl. dazu den Beitrag von János Krähling in diesem Band. Schmidt, Johann u. a.: Geschichte der letzten josephinischen Siedlung Batschki Jarak-Jarek 1787–1937. Festschrift zur Hundertfünfzigjahrfeier. Novi Vrbas 1937, 113. Monumentumok az első háborúból [Monumente aus dem ersten Krieg]. Hg. v. Ákos Kovács. Budapest 1985. Zit. nach Schreiber, Franz u. Wildmann, Georg: Filipowa. Bild einer donauschwäbischen Gemeinde, 8 Bde. Wien 1978–1999, hier Bd. 8: Filipowa 1914–1944, 228. Ebd., 25. Vgl. ebd., 225 f. – Vgl. dazu auch den Beitrag von Ingomar Senz in diesem Band. Sebastian Leicht – Weg der Donauschwaben. Dreihundert Jahre Kolonistenschicksal. Graphischer Zyklus. Mit Texten v. Georg Wildmann. Hg. v. d. Landsmannschaft der Donauschwaben aus Jugoslawien in Bayern. Passau 1983, 338. – Schreiber/Wildmann (wie Anm. 40), 231.
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Abb. 16: Das Kolonistendenkmal in Filipowa/Bački Gračac (heute Serbien), Foto aus SCHREIBER, Franz/WILDMANN, Georg: Filipowa. Bild einer donauschwäbischen Gemeinde. Bd. 8, Wien 1999, 227.
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Migration und Ansiedlung waren also für Leicht gar kein Thema. In Filipowa finden wir daher eine sehr statisch aufgebaute Gruppe, welche die Familie in den Mittelpunkt rückte und in der neuen Heimat bereits etablierte Menschen, aber keine gerade ankommenden Kolonisten darstellte. Die Frage ist, weshalb Leicht das Motiv der Familie wählte. Diesbezügliche Aufzeichnungen sind vom Künstler nicht erhalten geblieben und man ist auf Vermutungen angewiesen. Allerdings sprechen Indizien für einen Einfluss aus Deutschland. Der Festausschuss von Filipowa hatte einen Wettbewerb für die Erstellung des Ahnendenkmals ausgeschrieben und ein Entwurf ging auch vom Bildhauer Hellmuth A. Hopp aus Freiburg im Breisgau ein.44 Der Entwurf, den Hopp für Filipowa vorschlug, ist zwar nicht mehr bekannt, aber es könnte auch ein anderes seiner Werke Leicht bei dessen Entwurf beeinflusst haben: Der 1933 errichtete „Mutterbrunnen“ in Freiburg zeigt eine sitzende Frauengestalt, an deren Beine sich drei Kinder schmiegen.45 Sebastian Leicht ist zwar ein Künstler von lokaler Bedeutung, hatte aber seit seinem Studium in München Kontakte nach Deutschland und verfolgte das dortige Kunstschaffen.46 Das Motiv der Mutter mit Kind und vor allem der Familie war im Deutschland der 1930er Jahre weit verbreitet und wurde auch für Denkmäler häufig verwendet. Die Darstellung der Familie als Keimzelle der modernen Gesellschaft mit der klassischen Rollenteilung zwischen dem Mann als „Führer“ der Familie und der Frau als Mutter gehörte zu den bevorzugten Themen der nationalsozialistischen Propaganda.47 Allerdings wurde der Topos der Familie bei den Donauschwaben traditionellerweise mit der Heiligen Familie assoziiert.48 Zugleich stellte sich die Voraussetzung der Existenzgründung als Vollbauer dar, nachdem bei der Ansiedlung nur Ehepaare eine volle Bauernstelle erhalten konnten. Inwieweit bei den Gemeindemitgliedern in Filipowa die traditionell-christliche, die alte ökonomische oder die neue, ideologisch bestimmte Interpretation do44 45
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Schreiber/Wildmann (wie Anm. 40), 228; Hellmuth A. Hopp (1908–1941) entwarf 1939 zwei Figuren für den Flughafen Freiburg, die 1941 von Gustav Messerschmid ausgeführt wurden; vgl. dazu Vetter, Franz: City-Flugplatz Freiburg, die Geschichte. Freiburg 1971, 4. Dieser Brunnen wurde aus verkehrstechnischen Gründen 1998 abgebaut und 2003 im Freiburger Stadtteil Oberwiehe wieder errichtet, was teilweise zu scharfen Protesten führte; vgl. dazu Ammundsen, Sophie: Nationalsozialistische Spuren in Freiburg und Umgebung. In: Sisyphos 3 (2007), 1–4. Sebastian Leicht (1908–2002) studierte in Belgrad und München und war in der Zwischenkriegszeit in Belgrad ein anerkannter Maler. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam er nach Passau, wo er bis zu seinem Tod lebte und arbeitete. Auszeichnungen: 1938 Sveti-Sava-Orden des jugoslawischen Königs, 1971 Donauschwäbischer Kulturpreis des Landes Baden-Württemberg, 1982 Kultureller Ehrenbrief der Stadt Passau, 1983 Georg-Dehio-Preis; vgl. dazu Senz, Elke O.: Sebastian Leicht. Stuttgart 1968 (Donauschwäbisches Schrifttum 12), sowie Sebastian Leicht, ein Leben den Farben und Formen. Hg. v. Alfred Schwarzmaier. Tiefenbach 1998. Ketter, Helena: Zum Bild der Frau in der Malerei des Nationalsozialismus. Eine Analyse von Kunstzeitschriften aus der Zeit des Nationalsozialismus. Münster – Hamburg – London 2002 (Kunstgeschichte 76), 54–57. Allgemein zum Bedeutungswandel der Heiligen Familie vgl. Erlemann, Hildegard: Die Heilige Familie. Ein Tugendvorbild der Gegenreformation im Wandel der Zeit. Kult und Ideologie. Münster 1993 (Schriftenreihe zur religiösen Kultur 1).
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minierte beziehungsweise inwiefern sich diese Erklärungsmuster überlagerten, ist ohne entsprechende Dokumente nicht herauszufinden. Auch im Zuge der 150-Jahr-Feier der Ansiedlung von Neuwerbaß wurde 1935 der Grundstein für ein Ahnendenkmal mit dem Motiv der Familie gelegt. Die Übergabe des Denkmals vor der reformierten Kirche erfolgte allerdings erst 1937. Die zum Fest geladenen Gäste aus der Pfalz, darunter der Leiter der Heimatstelle Pfalz in Kaiserslautern, Fritz Braun, waren von den Feierlichkeiten so beeindruckt, dass sie ein Denkmal für die Gemeinde stifteten. Mit dessen Erstellung wurde der Bildhauer Theobald Hauck aus Maxdorf beauftragt, der zusammen mit seinem Bruder Heinrich die Skulptur einer dreiköpfigen Familie in der traditionellen Volkstracht der Werbaßer anfertigte.49 Beide führten die Arbeiten in Neuwerbaß aus, so dass es nicht ausgeschlossen ist, dass auf Leicht auch Haucks Modell einen gewissen Einfluss hatte. Leicht gestaltete 1936 auch in seiner Heimatgemeinde Brestowatz ein Ahnendenkmal zur dortigen Ansiedlungsfeier. Es zeigte einen Sämann bei der Arbeit in der typischen Bekleidung der aus der Pfalz stammenden Bauern. Der aus dem Ort stammende Kaplan Koloman Moullion und der Obmann des Kulturbundes Johann Keks würdigten die Statue einstimmig als Sinnbild des „Vermächtnisses unserer Väter“50. Der Sämann war seit dem 19. Jahrhundert ein beliebtes Motiv der europäischen Kunst; die Tätigkeit des Säens gehörte zwar nicht zu den anspruchsvolleren Feldarbeiten des Bauern, dieser konnte damit jedoch aufrecht und als würdevoller Bearbeiter des Bodens dargestellt werden. Der Maler Leicht war sicherlich auch mit den künstlerischen Experimenten Vincent van Goghs und dessen „Gleichnis auf Christus als Urbild des Sämanns“ vertraut.51 Dass der Sämann auch bei den Schwaben in der Batschka nicht nur das Bauerntum symbolisierte, sondern ähnlich wie bei van Gogh auf das aus der Bibel wohl bekannte Gleichnis verwies, zeigt das ebenfalls 1936 in Parabutsch aufgestellte – und bis heute einzig erhaltene – Ahnendenkmal. Das nach den Plänen des örtlichen Schreinermeisters Georg Garatva52 errichtete und im Kirchengarten aufgestellte Denkmal steht auf einem erhöhten Sockel, auf dessen oberster Stufe sich die dominierende Figur Christi befindet. Dieser hält seine Hände segnend über einen vor ihm hergehenden Sämann. Eine Stufe tiefer ist ein kleines Relief mit Maria und dem Jesuskind angebracht. An der Vorderseite des Sockels wurden verschiedene Inschriften angebracht, darunter das Goethe-Zitat: „Was du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ In der evangelisch-lutherischen Gemeinde Jarek wurde 1937 ein Ahnendenkmal enthüllt. Es fand seinen Standort in der Grünanlage vor der Kirche als Gegenstück zu dem 1912 aufgestellten Lutherdenkmal, das man zu diesem Anlass aus dem Zentrum weiter zur Seite rückte. Auf einem grob behauenen Sockel erhob sich ein glänzender Block aus schwarzem Marmor. Im oberen Teil waren die Symbole 49 50 51 52
Lotz, Friedrich: Werbass 1785–1975. Zur Geschichte der Doppelgemeinde Alt- und Neuwerbaß. Stuttgart-Fellbach 1975, 127. – Strelemann, Karl: Werbaßer Denkmäler. In: Neuland 11/31 (1958), 6. Die Donau Nr. 36, 1936, 1. Türk, Klaus: Bilder der Arbeit. Eine ikonografische Anthologie. Wiesbaden 2000, 37. Freundliche Mitteilung von Martin Kundl, Heimatortsgemeinde Parabutsch.
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des Ortswappens angebracht: Pelikan, Pflugschar und Sech. Darunter wurden die Namen der 80 Ansiedlerfamilien aufgezählt, die 1787 über Ruma nach Jarek gekommen waren und somit den Ort neugegründet hatten.53 Auch in dem von Lutheranern und Calvinisten bewohnten Schowe wurde 1936 anlässlich der 150-JahrFeier der Ansiedlung ein Obelisk aufgestellt, in dem das vergrößerte Ortswappen eingraviert wurde. Dieses stellte einen Mann dar, welcher in der einen Hand ein Schwert und in der anderen Hand ein Sech hält.54 Im gleichen Jahr wurde auch auf dem Friedhof der mehrheitlich lutherischen Gemeinde Sekitsch anlässlich der 150-Jahr-Feier der Ansiedlung ein Gedenkstein mit einer eingelassenen Gedenktafel errichtet.55 Diese Beispiele verweisen auf einen zwischen den katholischen und den protestantischen Ortschaften offensichtlich bestehenden Unterschied: Die eindeutig weltlichen Motive und die schlichte Ausführung dieser Denkmäler sind nicht zuletzt mit der Ablehnung der liturgischen Verwendung von Bildwerken durch beide protestantische Kirchen zu erklären.56 Auffällig ist, dass in all diesen unterschiedlichen Fällen bei den Denkmalsenthüllungen Wert darauf gelegt wurde, dass es sich dezidiert um „Ahnendenkmäler“ handle. Beim frühesten Ansiedlungsdenkmal in der Batschka, in Novoselo/Neudorf, wurde der Begriff „Ahnendenkmal“ jedoch noch nicht verwendet. Dort war explizit von einem „Ansiedlungsdenkmal“ oder einer „Erinnerungsstatue“ die Rede. 1934 feierte die Gemeinde ihre 200-Jahr-Feier57 und errichtete eine Dreifaltigkeitsstatue in alter donauschwäbischer Tradition religiöser Denkmäler.58 Erst durch die Widmung wurde die Skulptur mit ihrer religiösen Thematik als Ansiedlungsdenkmal erkennbar. Diese Form des Gedenkens an die Ansiedlung wählte 1936 auch das Dorf Tschonopel mit einer Dreifaltigkeitssäule vor der deutschen Schule.59 Das Ansiedlungsfest von Novoselo unterscheidet sich von den anderen oben skizzierten Feierlichkeiten auch dadurch, dass es ganz unter der Regie des katholischen Pfarrers der Gemeinde veranstaltet wurde. Zwar waren auch in Novoselo 53 54 55 56
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Schmidt u. a. (wie Anm. 38), 12–20. Festordnung der Hundertfünfzigjahrfeier der Gemeinde Schowe. In: 200 Jahre Schowe 1786– 1986. Hg. v. Christian Ludwig Brücker. Winnenden 1986, 51. Sandles, Philipp: Sekitsch. Erlebte Heimat. Sersheim 1977, 53–57 u. 377. Während die reformierte Kirche für ein völliges Bildverbot eintrat, waren allerdings in der lutherischen Kirche Bilder für didaktische Zwecke erlaubt. Vgl. dazu Macht und Ohnmacht der Bilder. Reformatorischer Bildersturm im Kontext der europäischen Geschichte. Hg. v. Peter Blickle u. a. München 2002. Das Jubiläum bezog sich auf die Gründung der Pfarrei und den Beginn der Matrikelbücher im Jahr 1734. Die ersten Siedler waren bereits 1733 nach Neudorf gekommen; vgl. dazu Negele, Josef: Heimatbuch von Batschko-Novoselo 1734–1945. Heidenheim o. J., 11–15. Der Typus der Dreifaltigkeitssäule war besonders im Habsburgerreich häufig vertreten. Von der sogenannten Pestsäule auf dem Wiener Graben ausgehend verbreitete er sich bereits im 18. Jahrhundert in den habsburgischen Ländern. Die Tradition wird aber auch noch im 19. und 20. Jahrhundert in katholischen Orten weitergeführt; vgl. u. a. Fassel, Horst: Der Stellenwert eines Denkmals. In: Die Dreifaltigkeits- oder Pestsäule in Temeswar. Stationen einer Wiederentdeckung. Hg. v. dems. [München] 1996, 6–11. Donauschwäbische Heimat. Gemeinde Tschonopel. Hg. v. Joseph Rausch. Nürnberg 1989, 129; vgl. auch Die Donau Nr. 33, 1936, 5.
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neben Vertretern der katholischen Kirche in der Batschka auch Vertreter der deutschen Gesandtschaft in Belgrad und des „Schwäbisch-Deutschen Kulturbundes“ eingeladen, doch das Fest war keine politische Demonstration. Im Gegenteil wurde das religiöse Element betont und bei der Einweihung der Skulptur legte die ganze Kirchengemeinde feierlich das Gelöbnis ab, „dass jedes Jahr am Feste der Allerheiligsten Dreifaltigkeit nach dem Hochamte zu diesem Denkmal eine Bittprozession geführt werde, wo dann nach dem Gesang das Gebet von der Allerheiligsten Dreifaltigkeit und Drei Vater unser und Gegrüsset für das Wohl und Heil der Gemeinde Bačko Novoselo verrichtet werden“60.
Ein Dokument, das diese Widmung und den Ablauf der alljährlichen Prozession festlegte, wurde im Sockel des Denkmals eingemauert. Das fast einheitlich katholische Dorf Novoselo feierte sich als die allererste deutsche Ansiedlung in der Batschka und erinnerte zugleich daran, dass die „Ansiedlerahnen und Urväter“61 die katholische Religion „aus der alten Heimat […] in die neue Heimat herübergerettet“62 hätten. Die deutschen Kolonisten von Novoselo kamen mehrheitlich aus katholischen Orten im Neckartal in Württemberg, wo, wie in der Festschrift formuliert wurde, „damals die evangelisch-lutherische Religion die herrschende [war]. Die Katholiken waren im Lande nur geduldet und ihre freie Religionsausübung war beschränkt, zum Teil ganz aufgehoben. […] Kein Wunder, daß unsere tiefreligiösen Urväter […] lieber zum Wanderstab griffen und eine neue Heimat suchten, als ihren Glauben zu verleugnen oder doch die katholische Erziehung ihrer Kinder zu gefährden.“63
Die Novoseloer Schwaben – die auch ihre Abstammung aus dem Schwabenland stolz hervorhoben64 – stellten sich hier gewissermaßen als Glaubensflüchtlinge dar, deren gemeinsame Erfahrung eine Identitätsbildung im Sinne der katholischen Zugehörigkeit förderte. Blickt man noch einmal auf die bis 1938 entstandenen und oben dargestellten Denkmäler zurück, so ist zu erkennen, dass sich innerhalb weniger Jahre eine Entwicklung von der Verwendung tradierter religiöser Motive hin zur Entstehung einer eigenen Ansiedlungs-Ikonographie, der Ahnendenkmäler, abzeichnete. Diese Entwicklung war das Ergebnis einer gelenkten Politik. Das Vertretungsorgan der Donauschwaben in Jugoslawien, der „Schwäbisch-Deutsche Kulturbund“ in Neusatz, arbeitete eng mit dem für die Auslandsdeutschen bereits 1917 gegründeten „Deutschen Ausland-Institut“ in Stuttgart zusammen. Das Ausland-Institut hatte die Aufgabe, die kulturpolitische Arbeit des Deutschen Reichs für die Deutschen außerhalb 60 61 62 63 64
Negele, Josef: 200 Jahre Bačko Novoselo, Festschrift zur 200-jährigen Jubiläumsfeier der Gemeinde. Crvenka 1934, 2. Ebd., 1. Ebd., 6. Ebd. So heißt es in der Festschrift der Gemeinde: „Die Urahnen der Novoseloer Bewohner stammen größtenteils aus Württemberg, dem Schwabenlande, sind also echte Abstammungsschwaben, während die anderen Deutschen, die hier in der Batschka wohnen, nur Schwaben (‚Donauschwaben‘) genannt werden, es aber größtenteils der Abstammung nach nicht sind.“ Ebd., 4.
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der Reichsgrenzen zu bündeln und zu gestalten.65 Die Ansiedlungsfeierlichkeiten in der Batschka in der Zwischenkriegszeit wurden anscheinend vom Ausland-Institut als ein besonders wirksames Mittel gewertet, um das ethnische Bewusstsein der Deutschen zu stärken und dadurch eine Basis für die ideologischen und politischen Ziele des Deutschen Reichs zu schaffen. Die zahlreichen Gäste aus Deutschland, die durch die Vermittlung der „Forschungsstelle Schwaben im Ausland“ im AuslandInstitut66 beziehungsweise zwischen 1934 und 1937 durch die Mittelstelle Saarpfalz, darunter selbst deren Leiter, der Bevölkerungsforscher Fritz Braun67, in die Batschka kamen, beeinflussten die Rhetorik der Feiern und die Ikonographie der Denkmäler im Sinne der nationalsozialistischen „Blut-und-Boden“-Gesinnung. Die Ahnendenkmäler der Batschka-Deutschen rezipierten in ihrer Thematik jedoch unterschiedlich die vermittelte Ideologie und übernahmen die Propaganda nur zum Teil. Es stellt sich die Frage, warum es gerade in der Batschka zu dieser Ausdrucksform der Identität kommen konnte. Im neuen südslawischen Staat, dem nach 1918 gegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, sahen sich die seit dem 18. Jahrhundert in der Batschka ansässigen Schwaben gezwungen, um ihr Heimatrecht zu kämpfen. Zwar handelte es sich in ihrem Fall hauptsächlich um Rechte ihre Sprache und Kultur betreffend, doch immer wieder gab es auch Probleme bei der Zuerkennung der jugoslawischen Staatsangehörigkeit oder der Landenteignung im Rahmen der durchgeführten Agrarreformen.68 Insgesamt fühlten sich die Deutschen im neuen Staat wenig integriert; in der Folge zogen allein zwischen 1923 und 1929 etwa 30.000 Deutsche in die Städte oder wanderten nach Amerika aus.69 Die christlich-konservative Zeitung „Die Donau“, die sich zwar für deutsches Volkstum einsetzte, der nationalsozialistischen Propaganda in den Dörfern jedoch entschieden widersetzte, schrieb anlässlich der Ansiedlungsfeier 1936: 65 66
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Münz, Rainer/Ohliger, Rainer: Auslandsdeutsche. In: Deutsche Erinnerungsorte. Hg. v. Etienne François u. Hagen Schulze, 3 Bde. München 2001, hier Bd. 1, 370–388. So gab es eine enge Beziehung zwischen dem späteren Literaturhistoriker in der DDR Joachim G. Boeckh und den Batschkaer Orten, deren Siedler hauptsächlich aus Württemberg stammten, wie etwa Jarek. Boeckh, der aus einer württembergischen Gelehrtenfamilie stammte und Theologie studiert hatte, erforschte die evangelischen Auswanderer. Vgl. dazu Nachlass Boeckh im Staatsarchiv Leipzig, 21962, Familiengeschichtliche Sammlungen des Reichssippenamtes. Der Bevölkerungsforscher Fritz Braun war seit 1934 Leiter des Gaues Saar im Verein für das Deutschtum im Ausland, seit 1936 Geschäftsführer der Mittelstelle Saarpfalz, 1941 Hauptstellenleiter für Volkstumsfragen beim Reichspropagandaamt und führendes Mitglied in der deutschen Volksforschungsgemeinschaft im Hauptschulungsamt der NSDAP. Für die Volksdeutsche Mittelstelle der SS war er an Vertreibungen aus der Moselle und an der verbrecherischen „Umvolkungspolitik“ in Polen beteiligt. Nach 1945 errichtete er die Heimatstelle Pfalz, wo er bis 1970 wissenschaftlich tätig war; vgl. Freund, Wolfgang: Volk, Reich und Westgrenze. Deutschtumswissenschaften und Politik in der Pfalz, im Saarland und im annektierten Lothringen 1925–1945. Saarbrücken 2006 (Veröffentlichungen der Kommission für Saarländische Landesgeschichte und Volksforschung 39), 266–268. Bethke, Carl: Deutsche und ungarische Minderheiten in Kroatien und der Vojvodina 1918– 1941. Identitätsentwürfe und ethnopolitische Mobilisierung. Wiesbaden 2009 (Balkanologische Veröffentlichungen 47), 141, 209 u. 226. Ebd.
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„Wir können niemals und von niemandem als Fremde angesehen, geschweige denn behandelt werden. Auf diesem Boden, auf welchem wir leben, beanspruchen wir volles und uneingeschränktes Bürgerrecht. Die Urkunde dieses unseres Bürgerrechtes ist mit dem Schweiße, mit den Tränen und mit dem Blute unserer Vorahnen ausgefertigt. […] Die 150jährige Vergangenheit lehrt, daß der Deutsche in diesen Gauen stets ein Element, ja ein Pfeiler friedlicher Arbeit und gesellschaftlicher Ordnung war, wenn man ihm das unveräußerliche Recht zur Scholle und zur völkischen Kulturfreiheit zuerkennt.“70
Unterstützung bei ihren Bestrebungen um den Erhalt ihrer Muttersprache und Kultur erhielten die Batschka-Deutschen aus dem Deutschen Reich, das ab 1933 diese Förderung zur Propaganda seiner Ziele unter den Auslandsdeutschen nutzte. Besonders enge Verbindungen zu den mehrheitlich aus der Pfalz in die Batschka ausgewanderten Deutschen wurden ab 1934 von dem pfälzischen Verein für das Deutschtum im Ausland beziehungsweise ab 1936 von der Mittelstelle Saarpfalz geknüpft. Der Leiter der Mittelstelle Fritz Braun führte zwischen 1934 und 1937 alljährlich Gruppenfahrten zu den Batschka-Pfälzern anlässlich der Auswanderungs- und Gründungsjubiläen der Ansiedlerdörfer durch.71 Allerdings kam der Wunsch, Denkmäler zur Erinnerung der Ansiedlung zu errichten, nicht vom Deutschen Reich. Es waren die deutschen Gemeinden in der Batschka, die eine Vergewisserung ihrer Zusammengehörigkeit und ihrer Selbstidentifikation benötigten. Die Ahnenehre, das hieß, „in Dankbarkeit der Ahnen zu gedenken, die als Helden der Arbeit diese Scholle uns zur Heimat gemacht haben“72, wurde in den überlieferten Festreden zur Pflicht der Nachkommen deklariert, um das formative Selbstbild der Gruppe zu bestätigen und das Erbe der Ahnen als normative Tradition festzuschreiben. Beispielgebend für die Abhaltung eines Ansiedlungsfestes und Errichtung eines Ahnendenkmals waren vor allem jene Dorfgemeinschaften, die erst unter Kaiser Joseph II. in den 1780er Jahren in die Batschka eingewandert waren. Anscheinend war die Erinnerung an die Einwanderung in diesen in der Spätphase der Ansiedlung errichteten Gemeinden schon deshalb lebendiger als in den früher gegründeten Dörfern, weil die von Joseph II. geförderte geschlossene Ansiedlung von Einwanderergruppen aus der gleichen Gegend von der Ungarischen Hofkammer in der Batschka umgesetzt wurde und somit die Erinnerung an das Auswanderungsgebiet und die Auswanderung im kollektiven Gedächtnis der Dorfgemeinschaft länger erhalten bleiben konnte als im Fall anderer Kolonistendörfer. Die Ansiedlungs- oder Ahnendenkmäler wurden – mit Ausnahme des Sämanns von Parabutsch73 – 1944/1945 von serbischen Partisanen oder den neuen Ortsbewohnern, den anstelle der Deutschen angesiedelten Serben, gestürzt und sind heute nur von alten Fotografien in den Heimatbüchern und Ansichtskarten bekannt oder aus Begleitpublikationen, die Auskunft über die Gründungsgeschichte der Orte geben. Eine Erinnerung an einige dieser Denkmäler gibt es in Ulm in der Nähe des 70 71 72 73
Die Donau Nr. 31, 1936, 1. Freund (wie Anm. 67), 272–274. Die Donau Nr. 33, 1936, 1. Das Denkmal von Parabutsch wurde 2004 restauriert, worauf die neueste Inschrift auf einer schwarzen Marmortafel verweist; vgl. Schneider, Rita: Pfingsttreffen 2007 der HOG Parabutsch, Interview mit Gästen aus Ratkovo. In: Donaudeutsche Nachrichten Nr. 5, 2007, 9.
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Abb. 17: Gedenktafel der Gemeinde Filipowa am Donauschwabenufer in Ulm, 2010, Foto: Klaus J. LODERER.
dortigen Auswanderungsdenkmals. An der alten Stadtmauer am „Donauschwabenufer“ sind Bronzetafeln donauschwäbischer Gemeinden angebracht, die an Deportation, Internierung und Vertreibung der Deutschen aus der Batschka erinnern.74 Zwei Ortsgemeinschaften – Filipowo und Novoselo – erinnern auf ihren Tafeln mit Abbildungen auch an ihre Ansiedlungsdenkmäler. Hier wird das Denkmal selbst zum Erinnerungsmotiv (vgl. Abb. 17). 4. DAS DENKMAL DER DONAUSCHWABEN IN ULM 1958 Ein Denkmal der Auswanderung nach Ungarn als Zeitdokument ist – anders als im Fall der Auswanderungskreuze als Erinnerung an die Amerika-Auswanderung – nicht bekannt.75 Auch das Auswandererdenkmal in Ulm – oder „Ahnen-Auswandererdenk74 75
Mit Ausnahme von Rudolfsgnad im Banat liegen alle anderen Ortschaften in der Batschka. Zu den Gründen für diese geographische Konzentration vgl. das nächste Kapitel in diesem Beitrag. Einen gewissen Verweis auf die Auswanderung bietet lediglich die Inschrift am NothelferBildstock in Munderkingen. 1848 ließ der nach Neusatz ausgewanderte F. Anton Wanner den Bildstock erneuern. Der persönliche Bezug zu diesem Bildstock bleibt aber rein spekulativ; vgl. dazu Röder, Annemarie: Türkenkrieg und Auswanderung. Historische Erinnerungsorte in Südwestdeutschland. In: „Die Schiff’ stehn schon bereit“. Ulm und die Auswanderung nach
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mal“, wie es in den zeitgenössischen Aufzeichnungen und der Presse lange hieß, wurde erst 1958 anlässlich eines Bundestreffens der Donauschwaben eingeweiht (vgl. Abb. 18). Aus Anlass der Festlichkeit trat in Ulm erstmals eine gesamtdonauschwäbische Bundesversammlung der Landsmannschaften der Deutschen aus Jugoslawien, der Ungarndeutschen und der Banater Schwaben zusammen, bei welcher nach heftigen Debatten ein Verband der Donauschwaben als gemeinsames Bundesorgan ins Leben gerufen wurde.76 Die Landsmannschaft der Deutschen aus Jugoslawien, die das Bundestreffen in Ulm organisiert hatte und mit ihren über 35.000 Mitgliedern die zahlenmäßig stärkste Gruppe unter den Donauschwaben darstellte,77 vertrat einen dezidiert ‚donauschwäbischen‘ Standpunkt im Sinne der historischen Zusammengehörigkeit der in das historische Ungarn ausgewanderten Deutschen und setzte sich für eine straffe organisatorische Zusammenfassung aller Deutschen aus Jugoslawien, Rumänien und Ungarn ein. Die Deutschen aus Ungarn und vor allem die aus dem Banat, die mit 7.000 Mitgliedern78 die kleinste Gruppe bildeten und deshalb um die eigene Identität bangten, lehnten jedoch eine „politische Ausdeutung eines donauschwäbischen Stammesbewusstseins“79 ab. So war es auch nicht weiter verwunderlich, dass 1958 nur ein loser Zusammenschluss aller drei Landsmannschaften erfolgte und die Errichtung eines Ahnendenkmals mit dem Ziel, „der zweihundertjährigen Geschichte unseres Volksstammes an einer historischen Stätte sichtbaren Ausdruck zu verleihen“80, nur von den Jugoslawiendeutschen getragen wurde. Die Idee zum Denkmal – wie auch zum Zusammenschluss der drei Landsmannschaften und der Errichtung eines Zentrums der Donauschwaben in Ulm – ging aus einer Initiative der „Arbeitsgemeinschaft der Deutschen aus dem Südosten“ hervor. Diese wurde 1955 von Vertretern aller drei Vertriebenengruppen, die in Ulm und in seiner Umgebung wohnhaft waren, ge-
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Ungarn im 18. Jahrhundert. Hg. v. Márta Fata. Ulm 2009 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm, Reihe Dokumentation 13), 119–134, hier 131. Banater Post Nr. 10, 1958, 5. Die deutsche Volksgruppe aus Jugoslawien zählte etwa 200.000, davon waren etwa 35.000 in der Landsmannschaft organisiert. Die Zahl der vertriebenen Deutschen betrug fast 170.000, davon waren 17.000 in der Landsmannschaft; vgl. dazu Stickler, Matthias: „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972. Düsseldorf 2004 (Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte 46), 146. Ebd., 144. Banater Post Nr. 8–9, 1958, 4. – Der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Banater Schwaben Anton Valentin hob hervor, dass für ihn „die Trianon-Grenzen und die Existenz der Volksgruppe der Banater Schwaben innerhalb dieser Grenzen eine Realität [seien] und es bestehe kein Grund dafür, das früher bestandene korrekte und loyale Verhältnis zum rumänischen Staat und Volk donauschwäbischen ‚Phantasieprodukten‘ zuliebe zu belasten“. Ebd. – Zum Standpunkt der Ungarndeutschen vgl. Warum keine Donauschwäbische Bundeslandsmannschaft? In: Unsere Post Nr. 20, 1956, 5. Jury hat Entwurf für das Ahnendenkmal in Ulm ausgewählt. In: Neuland Nr. 4, 1957, 4
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Abb. 18: Das Auswandererdenkmal am Donauschwabenufer in Ulm, 2010, Foto: Klaus J. LODERER.
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gründet.81 Noch im gleichen Jahr konnte die Stadt Ulm von der Arbeitsgemeinschaft für den Vorschlag einer Denkmalerrichtung am Donauufer gewonnen werden. Zugleich kündigte die Arbeitsgemeinschaft eine Spendenaktion unter den Donauschwaben für diesen Zweck an.82 Die Ziele der Arbeitsgemeinschaft wurden jedoch nur vom Landes- und Bundesorgan der Landsmannschaft der Jugoslawiendeutschen, also der Landsmannschaft der Donauschwaben, zum Programm erhoben. Konnte 1956 in Ulm noch ein Bundestreffen der Landsmannschaften der Jugoslawiendeutschen, der Ungarndeutschen und der Banater Schwaben abgehalten und eine einvernehmliche Grundsteinlegung des geplanten Denkmals am Donauufer83 mit einem Preisausschreiben zur Errichtung des Denkmals erfolgen84, so flammten bereits 1957 die Zwistigkeiten unter den drei landsmannschaftlichen Gruppen wieder auf. In deren Folge blieben die Landsmannschaft der Ungarndeutschen und die der Banater Schwaben dem 1957 wieder nach Ulm einberufenen Treffen und der von Vertretern der Stadt und der Landsmannschaften zusammengesetzten Jury für das Denkmal fern.85 Von den 21 eingesendeten Entwürfen wurde von der Jury 1957 der Entwurf des jungen Bildhauers Erich Koch aus München wegen seiner „Schlichtheit und Prägnanz der Symbolsprache“86 ausgewählt. Allerdings wünschte die Stadt Ulm, dass 81
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Stadtarchiv Ulm [StU], 320, 60: Helfrich, Franz: Landsmannschaft der Donauschwaben, Kreisgruppe Ulm, Ulmer Programm 1955–1975, 1. – Die Arbeitsgemeinschaft betonte in ihrem Brief vom 12. Oktober 1955 an Oberbürgermeister Theodor Pfizer den Grund dafür, das Denkmal in Ulm aufzustellen: „[W]ir Deutschen aus dem Südosten wissen, dass die Stadt Ulm mit unserer südostdeutschen Geschichte eng verknüpft ist.“ StU, B 364/72, Nr. 2, 2. Die Aktion erbrachte bis zu ihrem Abschluss im November 1958 über 33.000 DM. Die Stadt Ulm beteiligte sich am Denkmalprojekt mit 5.000 DM; vgl. StU, 320, 60, 1. Am 15. September 1956 wurde die Kassette mit der Gründungsurkunde des Denkmals an der für das Denkmal festgelegten Stelle versenkt. Anwesend waren der Oberbürgermeister der Stadt Ulm und Vertreter aller drei Landsmannschaften; vgl. dazu StU, B 364/72, Nr. 2, 31. Die Stadt Ulm schrieb zusammen mit den Bundesverbänden der Landsmannschaften den Wettbewerb für die Errichtung eines Denkmals aus, das etwa 7.000 DM kosten sollte. In der Jury waren ursprünglich neben dem Oberbürgermeister und Vertretern der Stadt auch Vertreter aller drei Landsmannschaften, wobei die Jugoslawiendeutschen zwei Delegierte sandten; vgl. ebd. Im Namen des Festausschusses „Für den Tag der Donauschwaben 1958“ berichtete der Vorsitzende Franz Helfrich am 13. Januar 1958 der Stadtverwaltung Ulm darüber, dass die Landsmannschaft der Banater Schwaben und der Ungarndeutschen weder mit dem Denkmal noch mit der Veranstaltung etwas zu tun haben wollten. Die Jugoslawiendeutschen sahen sich aber weiterhin als „Initiatoren und Geist und schaffende Kräfte“ für das Vorhaben in Ulm; vgl. StU, B 364/72, Nr. 2, 8. In diesem Sinne erklärte ihr Vertreter Wolf im Ulmer Rathaus: „Niemand ist für das Treffen 1958 – in dessen Mittelpunkt die Einweihung des Ahnen-Auswandererdenkmals stehen wird – zuständiger […] als der sich uneingeschränkt zum Donauschwabentum bekennende Landesverband der Landsmannschaft der Donauschwaben in Baden-Württemberg. Nicht zuletzt zuständiger als alle anderen, weil diese Gruppe in der Bundesrepublik, in Österreich und in den überseeischen Staaten vertreten ist und die Einheit anstrebt, sondern auch weil sie sich bei der Gestaltung der vorangegangenen Treffen in Ulm bewährt hatte. Man könnte noch anführen, dass wir die einzige Gruppe für ein ständiges Treffen in Ulm sind.“ StU, B 364/72, Nr. 2, 8. Ebd.
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die Größe des Denkmals nochmals überdacht werde. Man war der Meinung, dass das Denkmal seiner Bedeutung entsprechen und deshalb in seinem Maßstab vergrößert werden solle.87 Die Stadtverwaltung war von Anfang an für ein Denkmal, um das bewegende Schicksal der Donauschwaben gebührend darzustellen, und hatte deshalb auch ihre finanzielle Beteiligung zugesagt, wenn sie bei der Gestaltung wesentlichen Einfluss nehmen könne.88 Über den ausgewählten Entwurf Kochs schrieb das „Neuland“, die Zeitung der Jugoslawiendeutschen, schon im Voraus: „Das Leitmotiv der Schwabenzüge, das Schiff, tritt klar in Erscheinung, verbunden mit dem die Fläche des Steines gliedernden Kreuz als Symbol der Missionsarbeit und des Schicksals der Donauschwaben. Das Kreuz wie auch die Menschen, die es umstehen, haben keinen festen Stand, womit die Zeitlosigkeit der Aufgabe und die mutwillige Entwurzelung des Volkstammes der Donauschwaben angedeutet erscheint.“89
Hier klingt die alte Rhetorik der Ansiedlungsfeiern in der Batschka an, und die Betonung der Kulturmission der Deutschen in Südosteuropa war der Absicht geschuldet, das durch die Vertreibung keineswegs erschütterte Selbstbild der politisch Engagierten unter den Donauschwaben auch durch das Ulmer Ahnendenkmal zum Ausdruck zu bringen.90 Die Intention des Studenten an der Münchener Akademie der Bildenden Künste Erich Koch91 war allerdings eine andere. An einer schlanken, aus Steinquadern gefügten Stele ist in Bronze eine dreiköpfige Familie auf einem Schiff abgebildet. Während die Frau mit dem Kind bereits Platz genommen hat, steht der Mann, mit 87 88 89 90
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Besprechung vom 27. Juni 1957. In: StU, 364/72, Nr. 6, 5. StU, B 364/72, Nr. 2, 9 u. 11. Ebd. Dieser Ansicht waren auch Vertreter der anderen Landsmannschaften, so der ungarndeutsche Heinrich Reitinger, der bei der Grundsteinlegung des Denkmals 1957 sagte, das Denkmal solle daran erinnern, „dass vor rund 200 Jahren, im wesentlichen von dieser Stelle aus, unsere schwäbischen Ahnen den Weg in ihre neue Heimat […] angetreten haben. Dieses Denkmal wird aller Welt davon künden, mit welcher Treue, Hingabe und Tapferkeit jene Auswanderer und ihre Nachfahren zwei Jahrhunderte hindurch für das Abendland die Stellung in Südosteuropa mit erhalten halfen, wobei sie ihren verschiedenen Nachbarvölkern auf kulturellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet in den Leistungen führend vorangingen.“ StU, B364/72, Nr. 2, 24. Erich Koch wurde am 24. März 1924 in Rossbach bei Kaiserlautern geboren. Er besuchte die Meisterschule für Handwerker in Kaiserslautern, wurde aber mit 18 Jahren zum Kriegsdienst einberufen. Erst nach neun Jahren in russischer Gefangenschaft, wo er auch Donauschwaben kennen lernte, kehrte er zurück und begann 1954 ein Studium an der Akademie in München bei dem berühmten Bildhauer Josef Henselmann; vgl. Festbroschüre zum „Tag der Donauschwaben“ in Ulm/Donau, 5.–10. August 1958, 46. Zehn Jahre leitete er die Guss-Werkstatt an der Kunstakademie, bevor er 1975 auf den Lehrstuhl für Bildhauerei berufen wurde, wo er bis 1990 tätig war; vgl. dazu http://kultur-vollzug.de/article-10081/2011/05/30/wie-ein-werkstuck-inder-gussform-erich-koch-grandseigneur-der-munchner-bildhauer-bekommt-einen-preis-fursein-lebenswerk/ (07.09.2011). Koch war mehrere Jahre auch Präsident der am Haus der Kunst angesiedelten Künstlervereinigung „Neue Gruppe“. Zu seinen Werken gehören etwa die große Verdi-Büste im Nationaltheater in München und die Ludwina in Ludwigshafen.
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ausgestreckten Armen seine Familie beschützend, vor dem langen Mastbaum des Schiffes, der in einem Kreuz endet. Das Schiff mit dem Mastbaum kann – ähnlich wie in Kleinmarosch – gedeutet werden als Symbol der irdischen Reise des Menschen über das stürmische Meer des Lebens im Zeichen der Hoffnung, den Hafen Gottes zu erreichen. Auch das Motiv der dreiköpfigen Familie als Anspielung auf die Flucht der Heiligen Familie löst das Thema vom aktuellen Kontext. So gesehen ist die Darstellung in der Tat zeitlos und kann sowohl die Auswanderung als auch die Vertreibung andeuten. Durch das verwendete Kreuzsymbol gehört jedoch das Mahnmal eher zu der Reihe der Denkmäler von Flucht und Vertreibung, die besonders in den 1950er Jahren in großer Zahl in der Bundesrepublik Deutschland entstanden.92 Aus der Widmungsinschrift wie auch aus der Stiftungsurkunde des Denkmals geht eindeutig hervor, dass es sowohl an die Auswanderung im 18. Jahrhundert als auch an die Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert erinnern soll: „Von Ulm aus zogen deutsche Siedler im 18. Jahrhundert auf der Donau nach dem Südosten Europas. Ihre Nachfahren kehrten, vom Schicksal aus ihrer Heimat vertrieben, in das Land ihrer Väter zurück.“ Nach dieser Interpretation nahm die Geschichte der Donauschwaben in Südosteuropa mit der Auswanderung ihren Anfang und mit der Vertreibung ihr Ende, ganz ähnlich wie bei den später entstandenen, beide Ereignisse miteinander verknüpfenden Denkmälern in Ungarn. Ulm war Schauplatz der beiden großen historischen Ereignisse der Donauschwaben, der Auswanderung der Kolonisten wie der Ankunft der Vertriebenen, weshalb der Stadt an der Donau eine hervorgehobene Stellung in der Erinnerungskultur der Volksgruppe zukommt. Die nach Südosteuropa ausgewanderten Deutschen behielten Ulm als Auswanderungshafen in ihrem kollektiven Gedächtnis; sie riefen es seit dem 19. Jahrhundert in ihren literarischen Werken immer wieder in Erinnerung und verfestigten diese somit. Die „Arbeitsgemeinschaft der Deutschen aus dem Südosten“ konnte deshalb in ihrem Brief vom 12. Oktober 1955 an Oberbürgermeister Theodor Pfizer betonen: „Laut geschichtlicher Überlieferung spielte doch die Stadt Ulm – als damalige freie Reichsstadt – während der Auswanderung unserer Kolonistenväter infolge der Nachwehen des 30jährigen Krieges nach dem Südosten eine bedeutende Rolle. Unsere Geschichte erinnert uns nicht nur, daß sich unter der Kaiserin Maria Theresia und Joseph II. ‚der Grosse Schwabenzug‘ (Adam Müller-Guttenbrunn) von Ulm aus auf den ‚Ulmer Schachteln‘ die Donau abwärts nach dem hoffnungsvollen, durch den grossen Feldherrn Prinz Eugen von den Türken befreiten und von seiner Kaiserin Maria Theresia zur Besiedlung und Fruchtbarmachung freigegebenen Südosten in Bewegung setzte, sondern auch, daß für die Reifmachung zur Besiedlung dieses Landes ein Ulmer Ahnherr namens Johann Matthäus Scheiffele beigetragen hatte, indem er Truppentransporte für die Kriegsfahne des Prinzen Eugen von Ulm auf Flößen die Donau abwärts leitete. Bekannt ist, daß die erste Auswanderergruppe dort unten in der Steppe und Wüste den Tod, die zweite die Not und erst die dritte Gruppe das Brot gefunden hatte.“93 92 93
Scholz, Stephan: „Opferdunst vernebelt die Verhältnisse“. Religiöse Motive in bundesdeutschen Gedenkorten der Flucht und Vertreibung. In: Schweizerische Zeitschrift für Religionsund Kulturgeschichte 102 (2008), 287–313. StU, B 364/72, Nr. 2, 2.
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In dem hier vorgestellten Gründungsmythos der Donauschwaben spielt Ulm als Drehscheibe zwischen Westen und Südosten eine grundlegende Rolle. Doch über diese in der Heimatliteratur vielfach vermittelte Erinnerung hinaus verfügten vor allem die Deutschen in der Batschka anscheinend über ein lebendigeres Gedächtnis an Ulm als die anderen Gruppen. Der Vorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Jugoslawien Franz Hamm bat in seinem Brief vom 26. Januar 1956 an Oberbürgermeister Pfizer die Stadt um die Übernahme der Patenschaft über die Donauschwaben mit folgender Begründung: „Die Donauschwaben aus Jugoslawien, deren Siedlungen zum grossen Teil unmittelbar an der Donau lagen – ihr gesamtes Siedlungsgebiet gehörte zu ihrem Stromgebiet – standen seit der Auswanderung gerade mit Ulm in reger Verbindung. Die Tatsache, daß viele Auswanderer seinerzeit die ‚Ulmer Schachteln‘ in Donauhäfen verliessen – so z. B. Apatin –, die auf jetzt jugoslawischem Gebiet liegen, hatte die Stadt Ulm als Ausgangspunkt unseres Kolonistendaseins in der Erinnerung lebendig erhalten. Die Jahresversammlung unserer Landsmannschaft in Ulm und das überaus stark besuchte Trachtenfest zeigen, daß Ulm seine Anziehungskraft auf unsere Menschen behalten hat. Ulm soll die Stadt des Erinnerungszeichens an die Kolonisten werden […] und fortan unsere Landsleute zu Veranstaltungen versammeln. Wir denken nicht bloß an Jahrestreffen, vielmehr wären wir dankbar, wenn wir in Ulm die Pflegestätte für unsere kulturellen Aufgaben und Bestrebungen bekommen könnten.“94
Die Stelle des Denkmals am Donauufer, die allerdings nicht mit der historischen Ablegestelle der Zillen im 18. Jahrhundert identisch ist,95 wurde schon bei der feierlichen Grundsteinlegung 1956 mit „Heimaterde der pannonischen Tiefebene“96 bestreut, wodurch die Stelle zu einem neuen sakralen Ort der Donauschwaben in der ‚Ferne‘ geweiht wurde. Hier kam der Erde eine besondere Symbolkraft zu im Sinne des Wunsches der vertriebenen Donauschwaben, ihr gewaltsam verändertes Leben in der ‚Ferne‘ fortzusetzen und eine Kontinuität zwischen Verlorenem und Neuem zu schaffen. Das Amt des Oberbürgermeisters würdigte diese Geste der Donauschwaben als ihre Suche nach neuer Heimat und erkannte die Bedeutung des Denkmals für die Gruppe als künftigen „Wallfahrtsort“97. Ulm war nach dem Zweiten Weltkrieg Sammelplatz und Durchgangsstation für Vertriebene, Spätheimkehrer und Zonenflüchtlinge, von denen nicht gerade wenige in der Stadt Aufnahme erhielten. Mit Hilfe der in Ulm angesiedelten Vertriebenen und Flüchtlinge konnte sich die Stadt während der Amtszeit von Theodor Pfizer ab 1948 zu einer dynamischen Großstadt entwickeln.98 Deshalb wohl betonte der Oberbürgermeister bei der 94 95
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Ebd., 7. Diese befand sich am sogenannten Schwal auf der Donauinsel. Der Standort war jedoch bereits durch ein militärisches Ehrenmal besetzt. Außerdem wurde ein Standort in Ulm selbst gefordert, wo die großen Donauschwabentreffen stattfanden; die Insel gehört jedoch zum bayerischen Neu-Ulm; vgl. dazu Petershagen, Wolf-Henning: Die Ulmer Donauschiffe und das Geschäft mit der Auswanderung. In: „Die Schiff’ stehn schon bereit“ (wie Anm. 75), 21–30, hier 23. StU, B 364/72, Nr. 2, 7 u. 32. Ebd. Buzengeiger, Walter: Not überwinden, nicht verwalten. Ein Sozialbericht. In: Tradition und Wagnis. Ulm 1945–1972. Theodor Pfizer, 1948 bis 1972 Oberbürgermeister der Stadt Ulm, als Festschrift gewidmet. Hg. v. Hans Eugen Specker. Ulm 1974 (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 12), 176–196.
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Einweihung des Auswandererdenkmals, dass die Beziehungen, die in der Vergangenheit zwischen Ulm und den Nachfahren der ausgewanderten Kolonisten über die Donau nicht zuletzt mit Hilfe der Ulmer Schiffsleute aufrecht erhalten wurden, nun von der Stadt Ulm selbst übernommen würden: „Jetzt soll dieses Band [der Beziehungen, Anm. d. Verf.] die Stadt selbst sein, ihre Menschen und dieser mahnende Stein am Ufer der Donau.“99 Trotz Vorbehalten der Ungarndeutschen und der Banater Schwaben gegenüber einer gesamtdonauschwäbischen Identität betrachteten mit der Zeit alle drei Gruppen das Denkmal als ihren Erinnerungsort. So finden seit 1974 auch die Heimattage der Banater Schwaben als herausragendes Ereignis traditionsgemäß in Ulm statt. Zu den Höhepunkten jeder Veranstaltung zählt der Festzug zum Auswanderungsdenkmal mit anschließender Gedenkfeier und Kranzniederlegung.100 5. AUS- UND EINWANDERUNGSDENKMÄLER IM INTERNATIONALEN VERGLEICH Anhand der bisher aufgeführten Beispiele scheint das Schiff in der Thematik des Auswanderungsdenkmals eine wichtige, aber keine Hauptrolle zu spielen. Diese Beobachtung bekräftigen auch internationale Beispiele. Das Schiff erscheint als Hauptmotiv lediglich bei dem 1997 aufgestellten „Indian Immigration Monument“ in Georgetown, der Hauptstadt von Guyana. Es zeigt auf einem Sockel aus poliertem Granit das Bronzemodell der Whitby, eines von zwei Segelschiffen, mit denen 1838 die ersten Inder in die englische Kolonie kamen.101 Bei den Aus- und Einwanderungsdenkmälern werden die Migranten selbst mehr in den Mittelpunkt gestellt. Eine dreiköpfige Familie, bei welcher der Vater mit der linken Hand in die Ferne weist, ist das Motiv des 1986 errichteten Auswandererdenkmals in Bremerhaven, das an die Auswanderung nach Amerika erinnert. Man findet das Thema der Familie auch im 2002 errichteten Auswandererdenkmal in Kvinesdal in Sørland in Norwegen; dort ist der Abschied von der Heimat gezeigt. Und auch in Londonderry wird durch eine Bronzegruppe der irischen Auswanderer nach Amerika gedacht. Im Hafen von Cobh in Irland zeigt das Auswandererdenkmal eine Mutter mit zwei Söhnen. Die Frau blickt zurück, während der größere Sohn mit der linken Hand in die Ferne weist. Beim 1977 errichteten Einwanderungsdenkmal „Monumento a la colonización alemana“ im chilenischen Puerto Montt weist die Figur eines Siedlungsbeauftragten einer ankommenden Familie mit dem ausgestreckten Arm den Weg. Hier ist die Arbeitskraft des Mannes durch ein 99 StU, Nachlass Theodor Pfizer, Ansprachen und Referate 1957–1958: Ansprache bei der Einweihung des Auswanderer-Denkmals an der Donau am 9. August 1958. – Bei der Einweihung wurde der Stadt von der Bundeslandsmannschaft der Donauschwaben auch die Ehrenbezeichnung „Stadt der Donauschwaben“ verliehen; vgl. StU, B 364/72, Nr. 7, 48. 100 Röder (wie Anm. 75), 132 f. 101 Initiator des Denkmals war ein Komitee, das für die 1988 stattfindende 150-Jahr-Feier gegründet worden war; vgl. http://www.nationaltrust.gov.gy/vol2.2/vol2.2.html (15.08.2011).
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mitgeführtes Beil dargestellt. Er wird begleitet von einer Frau mit Säugling auf dem Arm und einem Knaben, der sich am Rock der Mutter festhält. Auch im brasilianischen Santos stellt das 2001 errichtete Einwanderungsdenkmal der Japaner eine dreiköpfige Familie dar und das 1956 zur 300-Jahr-Feier der ersten jüdischen Einwanderung in Nordamerika errichtete „Jewish Immigration Monument“ im Forest Park in Saint Louis zeigt in einem Relief eine Familie mit zwei Kindern. Andere Denkmäler erinnern gleichzeitig an die Vorfahren der Einwanderer und die alte Heimat wie etwa das zur 100-Jahr-Feier der deutschen Einwanderung in São Leopoldo 1924 errichtete Denkmal mit der Inschrift „Den Vätern zum Gedächtnis“. Das Denkmal imitiert in seiner Form das 1913 gebaute Völkerschlachtdenkmal in Leipzig. Das „Hermann Heights Monument“ in New Ulm in Minnesota wiederum wurde auf Initiative deutscher Einwanderer 1897 als Pendant zum 1875 fertiggestellten Hermannsdenkmal errichtet. Außer als Symbol für den Stolz der deutschen Einwanderer auf ihr altes Heimatland sollte es auch als Beitrag zur Integration und Freundschaft zwischen Deutschen und Amerikanern verstanden werden. 1973 wurde das Denkmal in das Nationalregister historischer Orte aufgenommen und 2000 bestimmte der Kongress der USA das Denkmal als offizielles Symbol des historischen Erbes deutscher Immigranten in den Vereinigten Staaten.102 Ein bemerkenswertes Denkmalpaar gibt es zur finnischen Amerika-Auswanderung. Im finnischen Hanko errichteten der Verein „Suomiseura“ und 93 finnische Gemeinden 1967 auf den Strandfelsen ein Denkmal zur Erinnerung an die große Amerika-Auswanderung, die zumeist in Hanko ihren Anfang nahm. Der Bildhauer Mauno Oittinen gestaltete ein Denkmal, das drei Kraniche im Flug zeigt. Das Gegenstück stellt das „Finnish Immigrant Monument“ in Lake Worth in Florida dar, das zwei landende Vögel abbildet. Andere Denkmäler sind wiederum der Migrationserfahrung verpflichtet wie etwa das japanische Einwanderungsdenkmal im brasilianischen Belo Horizonte, das 2007 anlässlich der 100-Jahr-Feier der Einwanderung errichtet wurde. Über einen See, der den Ozean symbolisiert, wurde eine Brücke gebaut als Ausdruck der Verbindung beider Länder sowie der Ideale und Träume der Alteinwohner und der Immigranten. Eine weitere Gruppe von Denkmälern wiederum hebt jene Personen hervor, die bei der Auswanderung beziehungsweise bei der Ansiedlung eine besondere Rolle gespielt hatten. Zu den frühesten Denkmälern gehört das Katharinendenkmal in der russischen Katharinenstadt (heute Marx) im Bezirk Saratow, das an die Ansiedlung der Wolgadeutschen erinnert. Das 1851 errichtete Denkmal zeigt die Zarin Katharina die Große als sitzende Bronzeskulptur, in der Hand das Ansiedlungsmanifest vom 22. Juli 1763. Bei diesem Denkmal waren die Nachkommen der deutschen Siedler die Initiatoren, die durch eine Spendensammlung mehr als 14.000 Rubel
102 Neils Conzen, Kathleen: Germans in Minnesota. St. Paul 2003. – dies.: Phantom Landscapes of Colonization. Germans in the Making of a Pluralist America. In: The German-American encounter. Conflict and cooperation between two cultures, 1800–2000. Hg. v. Frank Trommler u. Elliott Shore. New York 2001, 7–21.
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zusammentrugen.103 Dieses Fürstendenkmal mit Ansiedlungsbezug ist durchaus kein Einzelfall. Auch das 1906 von Kaiser Wilhelm II. in Erinnerung an das erloschene Grafengeschlecht Hessen-Homburg gestiftete Landgrafendenkmal im Kurpark in Bad Homburg vor der Höhe erinnert unter anderem an eine Ansiedlung.104 Auf dem Obelisken befindet sich unter einem Portrait des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Homburg ein Bronzerelief, auf dem er zu sehen ist, wie er eine Gruppe von Glaubensflüchtlingen empfängt. Konkret bezieht sich das Relief auf die Ansiedlung von Hugenotten in Friedrichsdorf und von Waldensern in Dornholzhausen. In Berlin wiederum dankten 1912 die Nachkommen der böhmischen Glaubensflüchtlinge für ihre Aufnahme in Preußen im Jahr 1737 mit einem Denkmal des Königs Friedrich Wilhelm I. auf dem heutigen Richardplatz in Neukölln.105 Im isländischen Reykjavík, in Sichtweite des alten Hafens, steht seit 1924 ein für den ersten Siedler Ingólfur Arnarson errichtetes Denkmal. Den isländischen Sagen nach war der Recke mit seiner Familie im 9. Jahrhundert aus Norwegen ausgewandert und hatte Island als Erster in Besitz genommen. Der Mythos vom Landnehmer spielte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle für die Formulierung einer kollektiven nationalen Identität der Isländer, die 1944 zur Unabhängigkeit Islands von Dänemark führte.106 Eine monumentale Wirkung besitzt das 1937 errichtete „Monumento de los Antepasados“, das am Llanquihue-See in Chile an die 1852 einsetzende deutsche Einwanderung erinnert. Es besteht aus einem architektonischen Element mit drei Rundbogendurchgängen und der großen Inschrift „Unsern Ahnen“. An den seitlichen Mauern sind Bronzetafeln mit den Namen der 80 ersten Siedler und runde Medaillons mit den Porträts von Vicente Pérez Rosales und Bernardo Eunom Philippi, den beiden Initiatoren der deutschen Einwanderung nach Chile, angebracht. Wie sieht es nun in dem vielleicht wichtigsten Einwanderungsland der Erde, in den USA, mit Ansiedlungsdenkmälern aus? Im Zentrum des Einwanderungsgedenkens stehen dort die Denkmäler für die Pilgerväter. Drei große Denkmäler erinnern im Bundesstaat Massachusetts an die Ankunft der sogenannten Pilgerväter auf der Mayflower 1620: An erster Stelle ist der Plymouth Rock zu nennen, ein Felsblock, auf dem angeblich am 22. Dezember 1620 William Bladford und die Pilgerväter 103 Die Widmungsinschrift verweist auf die Nachkommen der Siedler als Initiatoren des Denkmals: „Der Kaiserin Katharina II. aus Dankbarkeit von den ausländischen Ansiedlern des Saratower Gouvernements. Den 24. November 1848“. Das Denkmal wurde in kommunistischer Zeit zuerst in einen Hof umgesetzt und 1941 eingeschmolzen; vgl. dazu http://wolgadeutsche. ru/herber/marxstadt06.htm (15.08.2011). 104 Duvenbeck, Birgitta: Die Waldensersiedlung Dornholzhausen. In: Bad Homburg vor der Höhe 782–1982, Beiträge zur Geschichte, Kunst und Literatur. Vortragsreihe zur 1200-Jahrfeier. Hg. v. Hilde Miedel. Homburg 1983, 224, Abb. 1, 2. 105 Das Böhmische Dorf in Berlin-Neukölln 1737–1987. Dem Kelch zuliebe Exulant. Hg. v. Werner Korthaase. Berlin 1987 (Reihe deutsche Vergangenheit, Stätten der Geschichte Berlins 20). – Motel, Manfred: Das Böhmische Dorf in Berlin. Einst und jetzt – Ceska vesnice v Berline. Kdysi a dnes. Berlin 2001. 106 Lerner, Marion: Landnahme-Mythos, kulturelles Gedächtnis und nationale Identität. Isländische Reisevereine im frühen 20. Jahrhundert. Berlin 2010 (Nordeuropäische Studien 22).
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amerikanischen Boden betraten, was historisch aber nicht gesichert ist. Trotzdem stellt der Felsblock ein mystisch überhöhtes Symbol der amerikanischen Nation dar. Die Wahrnehmung des Felsblocks als „nationales Urgestein“107 erfolgte allerdings erst schrittweise: Erst 1741 wurde der Felsblock als ‚Reliquie‘ der Landung der Pilgerväter identifiziert. Man wurde auf den Stein aufmerksam, als dieser wegen des Baus einer neuen Kaianlage in Gefahr war. Im Vorfeld der amerikanischen Revolution wurde er 1774 in zwei Teile gespalten und die eine Hälfte kam zunächst in das Rathaus von Plymouth, wo der Stein zu einem zentralen Symbol der politischen Agitation für die Unabhängigkeit wurde. Aus der lokalen Tradition des „Plymouth Rock“ wurde schließlich durch ein entsprechendes Narrativ, die bald kanonisierte Rede von Daniel Webster anlässlich des 200. Jahrestages der Landung der Pilgerväter, der Fels zu einem identitätsstiftenden Nationalsymbol. Über der zweiten Hälfte des Felsblocks im Hafen ließ die „Pilgrim Society“ nach einem Entwurf des Bostoner Architekten und Bildhauers Hammatt Billings 1866 einen Pavillon errichten. Erst die 300-Jahr-Feier von 1920 führte zur Errichtung des jetzigen Plymouth-Rock-Denkmals.108 Noch ein zweites Denkmal ist in Plymouth in Massachusetts zu finden: das „National Monument to the Forefathers“. An dem 1910 nach den Plänen von Billings fertig gestellten Denkmal erhebt sich über einem achteckigen Sockel die allegorische weibliche Figur der Treue, eine der Freiheitsstatue im Hafen von New York nicht ganz unähnliche Figur. Am Sockel sitzen vier Figuren, die Freiheit, Moral, Gesetz und Bildung symbolisieren. Vier Reliefs zeigen Szenen aus der Geschichte der Pilgerväter: die Einschiffung im englischen Plymouth, die Landung in Amerika, den Ansiedlungsvertrag und den „Mayflower Compact“ der Siedler.109 1907 bis 1910 entstand ein weiteres „Pilgrim Monument“ in Provincetown im Bundesstaat Massachusetts, das an die Landung der Pilgerväter und die Unterzeichnung des „Mayflower Compact“ erinnert. Die nationale Bedeutung dieses Denkmals, eines schlanken und fast 80 Meter hohen Granitturms, zeigt sich auch daran, dass der Grundstein von Präsident Theodore Roosevelt persönlich gelegt wurde. In England findet sich ein Gegenstück des Denkmals: Eine Granitplatte im Boden erinnert in Plymouth an die Abfahrt der Mayflower. 1891 brachten Nachfahren der Pilgerväter eine Gedenktafel an. Die Granitplatte erhielt später einen neuen Standort, über dem 1934 eine Säulenhalle errichtet wurde, das „Mayflower Monument“.110
107 Hurm, Gerd: Nationales Urgestein: Plymouth Rock, die Pilger und der amerikanische Bürgerkrieg. In: Geschichtsbilder und Gründungsmythen. Hg. v. Hans-Joachim Gehrke. Würzburg 2001 (Identitäten und Alteritäten 7), 229–244, hier 229. 108 Russel, Francis: The Pilgrims and the Rock. In: American Heritage 13/6 (1962), 48–55. – Seelye, John: Memory’s Nation, the Place of Plymouth Rock. Chapel Hill 1998. 109 Stoddard, Richard: Hammatt Billings, Artist and Architect. In: Old-Time New England 62/3 (1972), 63. – O’Gorman, James: The colossus of Plymouth, Hammatt Billings’s National Monument to the Forefathers. In: The Journal of the Society of Architectural Historians Nr. 3, 1995, 278–301. 110 The Encyclopedia of Plymouth History. In: www.plymouthdata.info/Memorial-Mayflower.htm (15.08.2011).
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Die Pilgerväter mit der Mayflower und der Fels im neuenglischen Plymouth wurden zu festen Bestandteilen des Gründungsmythos der USA und erhielten durch die Konkurrenz von alten und neuen Einwanderern zwischen 1880 und 1920 als Symbole der nationalen Identität eine Verfestigung. Wie Werner Sollors feststellte, betrachteten sich auf dem Höhepunkt der Immigrationswelle aus Ost- und Südosteuropa viele Anglo-Amerikaner als „altstämmig“ und fühlten sich von den Neuankömmlingen geradezu überrollt.111 Als Reaktion entwickelten sie eine MayflowerAbstammungsidentität, die den „altstämmigen“ Amerikanern sogar das Recht gab, Neuankömmlingen die Staatsbürgerrechte zu verweigern. Für die vom Gründungsmythos ausgeschlossenen neuen Einwanderer stellten dagegen Ellis Island und die Freiheitsstatue wesentliche Symbole der amerikanischen Identität dar. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die Synthese der Symbole beider Gruppen. 6. DENKMÄLER ALS TRÄGER VON ERBE UND IDENTITÄT Im 19. Jahrhundert entsteht auch bei den Schwaben auf dem Gebiet des historischen Ungarn eine sichtbare Form der Würdigung ihrer im 18. Jahrhundert eingewanderten Vorfahren. Diese kollektive Erinnerung ist mit der Totenverehrung noch stark verbunden, doch bringen die Erinnerungszeichen – wie das Kreuz von Vencsellő – das Bedürfnis der Bauerngemeinschaft zum Ausdruck, der Ansiedlergeneration für ihre Arbeit zu danken, welche die Grundlage der neuen Existenz in der Ferne gelegt hatte. Mit der Erinnerung werden Werte der Vorfahren wie Fleiß und Ausdauer als bedeutsam markiert und als Erbe gewürdigt. Nach der Zerstückelung der donauschwäbischen Siedlungsgebiete nach dem Ersten Weltkrieg erscheint in den 1930er Jahren in der jugoslawischen Batschka eine Reihe von Ansiedlungsdenkmälern. Hält man Ausschau nach ähnlichen Denkmälern in Ungarn und Rumänien, so fällt auf, dass es dort keine parallelen Erscheinungen gibt. Die Ansiedlungsdenkmäler in der Batschka stellen einen besonderen Denkmaltypus dar, deren Entstehung auf die eigentümliche Siedlungsgeschichte der deutschen Kolonistendörfer in der Batschka und auf die politische Entwicklung in Jugoslawien zurückzuführen ist. Die in ihren Motiven vielfältigen Ahnendenkmäler bringen die im kulturellen Erbe gespeicherten Werte der Kolonisten wie Fleiß, Glaubenstreue und Familiensinn zum Ausdruck. Unter den veränderten Verhältnissen nach 1920, als das Heimatrecht der Donauschwaben in Frage gestellt wurde, kam diesen Werten als einer identitätsbestimmenden Kraft für die Gemeinschaft eine wichtige Rolle zu, wobei nach 1933 unter Einflussnahme des Deutschen Reichs auf die Batschka-Deutschen unterschiedliche Wertvorstellungen konkurrierend zueinander auftraten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückt die Bewältigung der Traumata der erfahrenen Internierung, Deportation und Vertreibung in den Mittelpunkt der 111 Sollers, Werner: Konstruktionsversuche nationaler und ethnischer Identität in der amerikanischen Literatur. In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hg. v. Bernhard Giesen. Frankfurt a. M. 1991, 537–570, hier 551.
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kollektiven Erinnerung der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Donauschwaben. An dem einzigen in Deutschland errichteten Auswanderungsdenkmal der Donauschwaben in Ulm wird deshalb die Auswanderung mit der Vertreibung als notwendigem Teil der donauschwäbischen Narrative verbunden: Die einst ins Land gerufenen Siedler, die ihre Aufbauarbeit mit großer Aufopferung – hier denke man an den Kolonistenspruch „Dem Ersten der Tod, dem Zweiten die Not und dem Dritten das Brot“ – erbracht und sich dadurch ein Heimatrecht erarbeitet hatten, wurden vertrieben. Die elliptische Perspektive, welche Begebenheiten zwischen den beiden Ereignissen auslässt, steigert die Dramatik der Gruppengeschichte, die durch die Verwendung von christlichen Symbolen am Auswanderungsdenkmal noch unterstrichen wird. Hier erscheint zum ersten Mal auch das Schiffsmotiv. Die deutschen Kolonisten finden in ihrer ‚Urheimat‘ eine neue Heimat; zwischen der verlorenen alten und der noch fremden Urheimat schlägt das Schiff eine symbolische Verbindung und wird somit zu einem Mittel der Heimatsuche und Integration. Die Funktion eines Gründungsmythos – wie etwa dem der Mayflower und des Plymouth Rock – kommt der Ulmer Schachtel nicht zu. Allerdings erfüllt das Auswanderungsdenkmal mit dem Schiffsmotiv eine grundlegende Memorialfunktion für die Donauschwaben, was durch den Standort des Denkmals in Ulm, das selbst einen Erinnerungsort darstellt, verstärkt wird. Auch einige in Ungarn nach dem Systemwechsel errichtete Denkmäler zur Erinnerung an die Einwanderung greifen das Schiffsmotiv auf, wobei das Schiff – in Kleinmarosch infolge der Rückbesinnung der eigenen Geschichte, in Hedjess und Kokesch infolge der konkurrierenden ethnischen Erinnerungen – zum Identifikationssymbol der Ungarndeutschen wurde. Ansonsten sind die Erinnerungszeichen der schwäbischen Einwanderung und Ansiedlung im öffentlichen Raum – ähnlich wie die internationalen Aus- und Einwanderungsdenkmäler – von einer Vielfalt von Motiven wie auch Ausführungsweisen charakterisiert. Dabei wird auf traditionell bei Denkmälern verwendete Formen wie christlich geprägte Symbole oder die Darstellung menschlicher Figuren heute zumeist verzichtet.
ANHANG
ORTSVERZEICHNIS In das Ortsverzeichnis wurden die Namen von Ländern, Territorien, Regionen und Orten aufgenommen, nicht jedoch das Schlagwort Ungarn. Erfasst wurden auch donauschwäbische Orte in den Fußnoten, sofern sie nicht Teil der bibliografischen Angaben bilden. A Abaliget (H) 160 Albertsdorf, Albertfalva (H) 157 Almamellék (H) 163 Alsónyék (H) 160 Alt-Glashütte, Óbánya (H) 157 Altringen, Kisrékás (RO) 156 Altschowe s. Schowe Alzey (D) 156 Apadi, Bátaapáti (H) 160, 162, 183 Apatin (SRB) 75, 81, 83 f., 214 B Babarc (H) 158, 159 Bábony (H) 172 Bács-Kiskun (Komitat; H) 196 Bad Homburg (D) 217 Baden (Markgrafschaft; D) 70, 98 f. Baden-Württemberg 202, 211 Baj (H) 194, 195, 198 Baja (H) 196 Banat, Bánság (H/RO/SRB) 10, 12 f., 17, 26, 29–31, 33, 35, 37, 40, 42–45, 49, 55–62, 64, 66–69, 71–74, 88 f., 100, 115–117, 126, 129, 133, 136, 156, 188, 199, 208 f. Bános (H) 163 Bár (H) 159 Baranya s. Branau Baranyajenő (H) 163 Baranyaszentgyörgy (H) 158, 162 Barátúr (H) 160-162 Báta (H) 160 Bátaapáti s. Apadi Baté (H) 183 Batschka, Bácska, Bačka (SRB/H) 10, 12 f., 15–17, 19, 26, 30, 33, 49, 66, 71 f., 74–77, 85, 88 f., 100, 124, 129, 136, 167, 188, 191, 198–200, 203–208, 212, 214, 219 Békés (Komitat; H) 28, 129 Belecska (H) 161 f., 184 Belgrad, Beograd (SRB) 82, 205
Bellye, Bilje (HR) 160 Belo Horizonte (BR) 216 Berlin (D) 155 f., 217 Bethausen, Bethlenháza (RO) 156 Bikács s. Wigatsch Bikal (H) 160 Bingen (D) 156 Bistritz, Beszterce, Bistriţa (RO) 89 Bodolyabér (H) 160 Bonnhard, Bonyhád (H) 160, 175–177, 179, 181, 183 Bonnya (H) 160 Bonyhád s. Bonnhard Börzsöny (H) 161, 163 f. Bőszénfa (H) 163 Branau, Baranya (Komitat; H/HR) 10, 27 f., 33, 133, 157 f., 163, 166, 171 f., 176, 191 Brestowatz, Bácsbresztovácz, Bački Brestovac (SRB) 66, 203 Bruchsal (D) 98 Budapest (H) 10, 12 f., 25, 27–29, 33, 49, 61, 69, 87, 91, 128, 145, 147, 155, 170, 188, 193 f., 196, 198 f. Bukin, Mladenovo (SRB) 45 Bükkösd (H) 163 Bukowina, Bucovina, Bukowyna (UA/RO) 94, 191 Bundesrepublik Deutschland s. Deutschland C Cece (H) 161 Charlottenburg, Saroltavár, Şarlota (RO) 156 Chile 217 Cikó (H) 164, 166 Cobh (IRL) 215 Csaba, heute Békéscsaba (H) 129 Csátalja (H) 162 f. Csebény (H) 163 Cseledoboka, heute Görcsönydoboka s. Ketsching
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Ortsverzeichnis
Cselegörcsöny, heute Görcsönydoboka s. Ketsching Csibrák (H) 163 Csikóstőttős (H) 160, 163 Csonkamindszent (H) 164 D Dänemark 217 DDR s. Deutschland Debrecen (H) 87 Decs (H) 159 Deutschland 10, 16, 19, 26, 31, 62, 68, 70 f., 74, 81 f., 84, 91–93, 96, 98, 104, 115–117, 129 f., 135 f., 139–141, 148, 157, 188, 194, 197, 202, 205–207, 213, 219 f. Diósberény (H) 166 Dobersdorf, Dobrafalva (A) 35 Dombóvár (H) 164 Donaueschingen (D) 76, 98 Dornholzhausen (D) 217 Dörötschke, Somogydöröcske (H) 173, 183 Dunaföldvár (H) 48, 164 Dunakömlőd s. Kimling Dunaszekcső s. Setschke (H) Dürbheim (H) 77 Dúzs (H) 162 f. E Ebertsheim (D) 159 Ecseny s. Etschi Egyházaskozár s. Kosart Ellend (H) 164 Engelsbrunn, Angyalkút, Fîntînele (RO) 156 England 218 Erdősmecske (H) 165 f. Etschi, Ecseny (H) 163, 175 Eugendorf, Jenőfalva, Podravlje (HR) 156 f. F Falkenstein (Grafschaft; D) 46 Fazekasboda (H) 159 Fejér (Komitat; H) 196 Feked (H) 160 Felsőnána s. Obernana Filipowa/Filipovo, Szentfülöp, Bački Gračac (SRB) 13, 17, 71, 74–82, 84 f., 200–202, 208 Frankfurt am Main (D) 42 f., 51 Franzfeld, Ferenchalom, Kačarevo (SRB) 156 Freiburg im Br. (D) 202 Friedrichsdorf (D) 217
Fulda (D) 156 f. Fünfkirchen, Pécs (H) 33, 157 f. G Gadács (H) 159 Galizien, Halytschyna, Grody Czerwieńskie (UA/PL) 27, 40–42, 44, 47 Georgetown (USA) 215 Gerényes (H) 158, 162 f. Geresd, heute Teil von Geresdlak s. dort Geresdlak (H) 159, 166 Gertianosch, Gyertyámos, Cărpiniş (RO) 55 f., 61, 63, 65, 72 Glatz, Hrabstwo Kłodzkie (Grafschaft; PL) 156 Gödöllő (H) 30 Gödre (H) 161, 163 Gönnheim (D) 161 Görcsönydoboka s. Ketsching Gorjani (HR) 78 Gottlob, Kisősz (RO) 156 Grábóc, Grabovac (H) 163 Gran-Komorn, Esztergom-Komárom (Komitat; H) 194 Graz (A) 94 Großkarol, Nagykároly, Carel (RO) 29, 35, 68 Großkowatsch, Nagykovácsi (H) 144, 146 Großsanktpeter, Nagyszentpéter, Sânpetru Mare (RO) 89 Guttenbrunn, Temeshidegkút, Zăbrani (RO) 15, 156 Guyana 215 Gyékényes (H) 173 Gyönk s. Jink Györe s. Jerewe Györköny s. Jerking H Habsburgermonarchie 8, 24 f., 30, 40, 42, 65 Hanko (FIN) 216 Harkány (H) 160 Harkau, Harka (H) 140 Harta (H) 163 Hásságy (H) 160 Hatvan (H) 30 Hatzfeld, Chumbul, Zsombolya, Jimbolia (RO) 67, 72, 156 Hechingen (D) 77 Hedjess, Hőgyész (H) 160, 190–193, 220 Hegyhátmaróc (H) 161 Heidelberg (D) 156 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 23–26, 28, 31, 40 f., 48, 61, 123, 133
Ortsverzeichnis Hercegszabar, heute Székelyszabar (H) 159, 167 Hessen (Landgrafschaft; D) 45, 184 Hetvehely (H) 166 Hidikut, Pesthidegkút (H) 197 Hidor, heute Olasz (H) 159, 166 Hiewrkut, Keszőhidegkút (H) 160, 173, 175, 177, 179, 181, 183 Himesháza (H) 163 Hodschag, Hódság, Odžaci (SRB) 83 Hofweyer (D) 48 Hőgyész s. Hedjess Hohenzollern-Hechingen (Fürstentum; D) 77 Hosszúhetény (H) 163 I Ibafa (H) 159, 166 Iharos (H) 173 Iharosberény (H) 173 Ilbesheim (D) 46 Island 217 Ismi, Izmény (H) 160, 163, 173, 179, 183, 185 Izmény s. Ismi J Jágónak (H) 160 Jahrmarkt, Temesgyarmat, Giarmata (RO) 67 Jarek, Bački Jarak (SRB) 4, 74, 200, 203 f., 206 Jerewe, Györe (H) 160, 162, 186 Jerking, Györköny (H) 161–163, 171, 173, 175, 177, 179, 183 f. Jink, Gyönk (H) 160, 171, 173, 175, 179, 184 Josefsdorf, Újjózseffalva, Iosifalău (RO) 156 Jugoslawien 14, 16, 69, 72, 75 f., 80, 84 f., 88–90, 96, 99, 129, 200, 205 f., 209, 211, 214, 219 K Kaiserslautern (D) 203 Kakasd s. Kokrsch/Kokesch Kalas, Kalaznó (H) 173, 175, 179, 180 f., 183, 185 Kalocsa (H) 75 Kán (H) 164 Kaposszekcső (H) 163 Kappelau, Kaplony, Căpleni (RO) 35 Kára (H) 161 Karlowitz, Karlóca, Sremski Karlovci (SRB) 198 Karlsruhe (D) 156 Katharinenstadt, Marxstadt, Marx (RUS) 216
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Kátoly (H) 166 Keer, Németkér (H) 48, 97 Kékesd (H) 163 Kelesch, Kölesd (H) 173, 179 Keszőhidegkút s. Hiewrkut Ketsching, Görcsönydoboka (H) 162 f., 166 f. Kéty s. Kiek Kiek, Kéty (H) 160, 173, 181, 183 Kiel (D) 88 Kimling, Dunakömlőd (H) 36, 48, 97, 163 Kisbudmér (H) 159 Kisdorog (H) 159 Kisgyula, heute Belvárdgyula (H) 163 Kiskorpád (H) 160 Kislippó (H) 163 Kismányok s. Kleinmanok Kismaros s. Kleinmarosch Kisnyárád (H) 162 Kistormás s. Kleintormasch Kisvaszar (H) 162 Kisvejke (H) 163 f. Kleinmanok, Kismányok (H) 162, 171 f., 175, 177, 183 Kleinmarosch, Kismaros (H) 188–190, 213, 220 Kleintormasch, Kistormás (H) 162, 171, 175, 179, 183, 185 Köblény (H) 159 f., 163 Koblenz (D) 42, 51 Kocsola (H) 163 Kokrsch/Kokesch, Kakasd (H) 132, 163, 166 f., 193, 220 Kölked (H) 161 Kolut (SRB) 46 Komló (H) 163 Komorn, Komárom (Komitat; SK/H) 33, 194 Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen s. Jugoslawien Kosart, Egyházaskozár (H) 165, 175–177, 179, 181, 183 Kötsching, Kötcse (H) 173, 177 Kozármisleny (H) 163 f. Krottendorf, Békásmegyer (H) 194, 196 Kudritz, Temeskutas, Gudurica (SRB) 68 Kurd (H) 162 Kurpfalz (Kurfürstentum; D) 10, 41 f., 161, 165, 203, 207 Kvinesdal (N) 215 L Lad (H) 167 Ladomány (H) 159
226
Ortsverzeichnis
Lake Worth (USA) 216 Lánycsók (H) 166 Lapáncsa (H) 162 Légrád (H) 173 Leipzig (D) 88, 96, 216 Lemberg (F) 44 Leyen (Grafschaft; D) 46 Liebling (RO) 156 Liget (H) 160 Lippó (H) 163, 166 Liptód (H) 162, 166 Lombardei 43 Londonderry (GB) 215 Lothringen (Herzogtum; F) 33, 36 Lourdes (F) 76 Lovászhetény (H) 162 f. M Mágocs (H) 160 Magyarbóly (H) 160 Mainz (D) 60, 156 Majasch/Majesch, Majos (H) 160, 163, 173, 179, 183 Majos s. Majasch/Majesch Majs (H) 163 Maratz, Mórágy (H) 162, 165 Maráza (H) 162, 166 Máriagyűd (H) 162 Marke, Murga (H) 163, 181–183 Márok (H) 167 Massachusetts (USA) 217 f. Maxdorf (D) 203 Mecsekjánosi (H) 163 Mecseknádasd (H) 159, 163, 166 Medina (H) 160, 163 Mekényes s. Meknitsch Meknitsch, Mekényes (H) 163 f., 173, 175, 177, 181–183 Mercydorf, Merczyfalva, Carani (RO) 44, 46 Minnesota (USA) 216 Mőcsény (H) 162 f. Mohács (H) 166 Möhringen (D) 77 Moor, Mór (H) 196, 198 Mórágy s. Maratz Mözs (H) 161 Mucsi (H) 157, 163 München (D) 82, 202, 211 f. Munderkingen (D) 208 Murga s. Marke Mutschwang, Mucsfa (H) 173, 179, 183
N Nadwar, Nemesnádudvar (H) 143 Nágocs (H) 160 f. Nagyhajmás (H) 158, 164, 166 Nagykanizsa (H) 162 Nagykozár (H) 166 Nagymányok (H) 162 Nagynyárád (H) 158, 162, 166 Nagypall (H) 162 Nagyszékely (H) 162 Nagyszokoly (H) 173 Németkér s. Keer Neuglashütte, Kisújbánya (H) 157 Neukölln, heute Teil von Berlin s. dort Neu-Palanka, Újpalanka, Banatska Palanka (SRB) 74, 83 Neupanat, Újpanat, Horia (RO) 68 Neusatz, Újvidék, Novi Sad (SRB) 72, 74, 78, 205, 208 Neu-Siwatz, Új-Szivác, Sivac (SRB) 11 Neutra, Nyitra, Nitra (Komitat; SK) 97 Neuwerbaß, Újverbász, Vrbas (SRB) 89 New Mainz (USA) 156 New Ulm (USA) 156, 216 New York (USA) 78, 218 Norwegen 215, 217 Novoselo/Neudorf, Bácsújlak, Bačko Novo Selo (SRB) 204 f., 208 Nyíregyháza (H) 129 Nyomja, heute Teil von Szederkény s. dort O Obernana, Felsőnána (H) 160 f., 164, 173, 175, 178 f., 181–183 Oberndorf (D) 159 Oberschwaben (Landschaft; D) 28 f., 97 Obersülzen (D) 161 Őcsény (H) 163 Ófalu (H) 166 Ofen, Buda, heute Teil von Budapest s. dort Okorvölgy (H) 164 Orfű (H) 161 Osmanisches Reich 25, 29 Österreich 24–30, 33, 68, 96, 101 f., 123 Österreichische Erbländer s. Österreich Österreich-Ungarn s. Habsburgermonarchie P Palé (H) 163 Palkonya (H) 160, 167 Palotabozsok (H) 158, 160, 166
Ortsverzeichnis Parabutsch, Parabuty, Ratkovo (SRB) 74, 203, 207 Passarowitz, Požarevac (SRB) 29 Pax, Paks (H) 184 Pátró (H) 173 Pécsvárad (H) 28, 162 Pélmonostor, Beli Manastir (HR) 162 Pest (Komitat; H) 133 Pest, heute Teil von Budapest s. dort Pfalz-Zweibrücken (Herzogtum; D) 41 Philadelphia (USA) 78 Pilisborosjenő s. Weindorf Pincehely (H) 164 Plymouth (USA) 218 f. Pogány (H) 160 Polen 40, 136, 206 Pressburg, Pozsony, Bratislava (SK) 29 Preußen (Königreich; D/PL/RUS) 8, 25, 41, 217 Provincetown (USA) 218 Puerto Montt (RCH) 215 Pula (H) 196 Püspöklak, heute Geresdlak s. dort Püspöknádasd, heute Mecseknádasd s. dort Pusztakisfalu (H) 162 R Rastatt (D) 156 Regensburg (D) 147 Reinerz, Duszniki Zdrój (PL) 156 Reinhards (D) 156 Reykjavík (IS) 217 Rimlingen, Rimling (F) 44 Rittershofen (D) 77 Rommerz (D) 156 Roms, Słoszów (PL) 156 Rottenburg am Neckar (D) 42, 51 Rubenheim (D) 46 Rückers (D) 156 Rückers, Szczytna (PL) 156 Rudersdorf, Radafalva (A) 35 Rudolfsgnad, Rezsőháza, Knićanin (SRB) 208 Ruma (SRB) 47, 204 Rumänien 14, 16, 18, 19, 66, 68, 72–74, 88–90, 96, 99, 129, 193, 209, 219 Ruppertsberg (D) 77 Russland 8, 156 S Saint Louis (USA) 216 Santos (BR) 216 São Leopoldo (BR) 216
227
Sarasch, Szárazd (H) 179, 183 Saratow (RUS) 216 Sárbogárd (H) 163 Sárszentlőrinc (H) 172, 175, 181, 183 Sathmar, Szatmár (Komitat; H/RO) 10, 28 f., 33, 35, 93, 97 Sathmar, Szatmárnémeti, Satu Mare (RO) 23, 28 Sátorhely, Šatorištie (H) 163 Schlesien, Slezsko, Śląsk (D/CZ/PL) 25, 40, 75, 156 Schomodei, Somogy (Komitat; H) 10, 171 f., 176 Schowe, Sové, Ravno Selo (SRB) 72, 74, 199, 204 Schwäbische Türkei (Landschaft; H) 10, 157 Schwäbischer Reichskreis s. Heiliges Römisches Reich deutscher Nation Sekitsch, Szikics/Szeghegy, Mali Iđoš (SRB) 74, 204 Selters (D) 167 Sendomir, Sandomierz (PL) 40 Setschke, Dunaszekcső (H) 167 Siebeldingen (D) 159 Siebenbürgen, Erdély, Ardeal (RO) 33, 36, 136, 193 Simontornya (D) 162 Sindelfingen (D) 56 Sióagárd (H) 162 Slawonien (Landschaft; HR) 10 Soltvadkert (H) 176 Somberek (H) 158, 160, 164 Somogyviszló (H) 160 Speyer (D) 156 Steierdorf/Steierdorf-Anina, Stájerlakanina, Anina (RO) 126 Steiermark (A) 126 Stein (D) 77 Straß-Sommerein, Hegyeshalom (H) 141 Stuttgart (D) 68, 74, 205 Syrmien, Szerém, Srem, Srijem (Komitat; SRB/HR) 10, 47 Szabadi (H) 162 Szágy (H) 160 Szakadát (H) 162 f. Szakály (H) 160, 162 Szalánta (H) 162 Szálka (H) 159 Szárazd (H) 162 Szarvas (H) 35, 129, 189 Szebény (H) 163 Szederkény (H) 160
228
Ortsverzeichnis
Szeged (H) 63, 87 Székesfehérvár (H) 162 Szekszárd (H) 105, 183 Szellő (H) 163 Szentkatalin (H) 162, 166 Szentlászló (H) 162 Szentlőrinc (H) 162 Szigetvár (H) 160 Szilágy (H) 160 Szőkéd (H) 161, 166 Szűr (H) 161 Szurd (H) 173 T Tab (H) 166, 172 Tabód (H) 159, 166 Tamási (H) 162 Tékes (H) 160, 163 Temeswar, Temesvár, Timişoara (RO) 34, 55, 63, 66–68, 73 f., 115 Tengelic (H) 163 Tevel (H) 18, 101, 104 f., 107 f., 110, 115–117, 157, 159 Tirol/Königsgnad, Királykegye (RO) 199 Tofi, Tófű (H) 161, 163, 183 Tófű s. Tofi Tolna s. Tolnau Tolnau, Tolna (Komitat/Stadt; H) 10, 18, 27 f., 33 f., 36, 48, 96, 98, 101, 133, 157, 163, 166, 169–172, 175–177, 181, 183–185, 190–193 Tomaschanzi, Tomašanci (HR) 78 Torschau, Torzsa, Savino Selo (SRB) 199 Töttös, heute Csikóstőttős s. dort Trianon (F) 200 Triebswetter, Nagyősz, Tomnatic (RO) 15, 72 Trillfingen (D) 76 f. Tschawa, Piliscsaba (H) 141, 144 Tschene, Csene, Cenej (SRB) 61 Tscherwenka, Cservenka, Crvenka (SRB) 45 f., 74 Tschonopel, Csonoplya, Čonoplja (SRB) 204 Turwall, Biatorbágy (H) 142 U Udvari (H) 184 Uigendorf (D) 98
Újpetre (H) 165 Ulm (D) 35, 68, 207–211, 213–215, 220 Unternana, Alsónána (H) 184, 185 USA 216 f., 219 V Váralja (H) 162 f. Várdomb (H) 164 Varsád s. Warschad Vásárosbérc (H) 159 Vecseháza s. Wetschehausen Vencsellő, heute Gávavencsellő (H) 194, 219 Versend (H) 163 Villánykövesd (H) 163 Virágos (H) 163 Vokány (H) 160 W Warschad, Varsád (H) 160, 162, 164, 171, 173, 175, 179, 181, 183 Waschkut, Vaskút (H) 144, 196 Weimarer Republik s. Deutschland Weindorf, Pilisborosjenő (H) 193 f. Weissenhasel (D) 45 Weißkirchen, Fehértemplom, Bela Crkva (SRB) 72 f. Wennings (D) 167 Werschetz, Versec, Vršac (SRB) 65, 89, 99 Wesprim, Veszprém (Komitat; H) 27, 196 Wetschehausen, Vecseháza, Petroasa Mare (RO) 156 f. Wien (A) 13, 25, 32, 35, 37, 41 f., 44, 46, 66, 68, 94, 156, 171 Wigatsch, Bikács (H) 141, 159, 161, 173, 175, 181, 183 Worms (D) 156 Wudersch, Budaörs (H) 147 Württemberg (Herzogtum, Königreich; D) 76 f., 98, 205 f. Z Závod (H) 159, 163 f. Zengővárkony (H) 160 Zips, Szepesség, Spisz, Spiš (SK/PL) 33, 36 Zomba (H) 159 Zsibrik (H) 159 Zsombolya s. Hatzfeld
PERSONENVERZEICHNIS Aufgenommen wurden Einzelpersonen sowie ethnische und konfessionelle Personengruppen. Erfasst wurden auch donauschwäbische Personen in den Fußnoten, sofern sie nicht Teil der bibliografischen Angaben bilden. Nicht verzeichnet wurden dagegen die Schlagworte: Ungarn, Deutsche, Donauschwaben, Ungarndeutsche, Banater, Batschkaer und Sathmarer Schwaben. A Andreas II., ungarischer König 123 Apponyi, Familie 190 Arnarson, Ingólfur 217 Árpád, ungarischer Fürst 125, 199 Assmann, Aleida 187 Assmann, Jan 8, 140, 142 Augsburger, Stefan s. Rónay Avaren 125 B Badener 60 Basch, Franz 87–90, 92 f., 97, 100 Becher, Johann Joachim 24 Beiter, Josef 78 Berenz, Adam 84 Bertsche, Andreas 77 Berzsenyi, Dániel 11 Billings, Hammatt 218 Bladford, William 217 Blaskovics, Franz 13, 55, 64 Bleyer, Jakob 15, 38, 87–100, 103, 127 Bonomi, Eugen 90 Braun, Fritz 203, 206 f. Braun, Martin 81 Brigido, Joseph Graf 40 Brubaker, Rogers 71 Bulgaren 33 Bunjewazen 28 C Ceauçescu, Nicolae 68 Chambers, Iain 118, 120 Cothmann, Anton von 124 Crnojević, Arsenije III. 198 Csáky, Moritz von 119 Csaplovics, Johann von 12 Czoernig, Karl Freiherr von 32
D Dávid, Zoltán 33 Dickmann, Franz 78 Dold, Stefan 55, 61 f., 64 Dőry von Jobaháza, Gräfin 105, 113 Dőry von Jobaháza, László Graf 28, 105 E Ebner, Jakob 98 Eimann, Johann 10 Eötvös, József Baron 124 Eppl, Jakob 110 f. Esterházy, Pál Fürst 28 Eugen, Prinz von Savoyen 33, 37, 132, 213 F Faehndrich, Jutta 139 Falckenstein, Johann Friedrich 46 Faul, Hans 95 Fényes, Elek 145 Feszty, Árpád 198 f. Fölsinger, Mathias 177 Franz I. (II.), ungarischer König, österreichischer Kaiser 179, 182 Franzosen 33 Friedrich II., Landgraf von Hessen-Homburg 217 Friedrich Wilhelm I., preußischer König 217 G Gabriel, Josef 56 Garatva, Georg 203 Gauß, Karl Adalbert 75, 89 Géza II., ungarischer König 123 Glatz, Eduard 11 f. Goethe, Johann Wolfgang von 203 Gogh, Vincent van 203 Grassalkovich, Antal Graf 30
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Personenverzeichnis
Gratz, Gustav 89 Gréb, Julius 90 H Habsburg, Haus 27 f., 171 Halbwachs, Maurice 149 Hamm, Franz 214 Harruckern, Johann Georg Graf 28, 129 Hartmann, Rudolf 88, 90 Harucker s. Harruckern Hässler, Joseph 90 Hatzfeldt zu Gleichen, Karl Friedrich Anton von 156 Hauck, Theobald 203 Hebel, Johann Peter 126 Heinz, Franz 56 Hermann (Arminius), Fürst 216 Hermann, Georg 48-50 Hessen 60 Hessen-Homburg, Grafengeschlecht 217 Heyden, Jacob van 184 Hienerwadel, Otto 76 f., 98 f. Hladky, Johann 40 Hofer, Pfarrer 76 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 126 Hoffmann, Leo 89, 99 Hopp, Hellmuth A. 202 Hörnigk, Philipp Wilhelm 24 Horváth, István 189 Hugenotten 217 Hunnen 125 Huß, Richard 87 I Israeliten s. Juden Italiener 33 J Jäger, Stefan 17, 55–62, 64-70, 72, 188, 199 Japaner 216 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser, ungarischer König 10, 25, 27, 30, 32 f., 39 f., 42, 46–49, 72, 125, 179, 182, 194, 199, 207, 213 Jovanović, Pavle (Paja) 198 Juden 12, 13, 55, 95, 169 Juhász, Koloman 89 K Kaindl, Raimund Friedrich 94
Karl VI. (III.), römisch-deutscher Kaiser, ungarischer König 23, 31, 125 Károlyi, Mihály Graf 103 Károlyi, Sándor Graf 28 f., 35 Katharina die Große, Zarin 216 f. Katholiken 183, 205 Kaufmann, Stephan 45 Kausser, Joseph 183 Keks, Johann 203 Kerner, Lorenz 196 Kircz, Stefan 18, 101–107, 109 f., 114– 119 Kiss, Isak 47 Klein, Karl Kurt 87 Koch, Erich 211 f. Kollowrat, Leopold Graf 40 Korn, Arthur 12 Kötzschke, Rudolf 96 Kraft, Stefan 72 Krammer, Johann 176 f. Krascsenics 49 Krischan, Alexander 89 Kroaten 75, 165, 206 Krusenstjern, Benigna von 39 Kuhn, Nicolaus 44 Kurcz, Baron 197 L Lazar, Lucas 47 Leh, Familie 76 f. Leh, Franz 76, 78, 81 Leh, Jakob 75, 77f Leicht, Sebastian 82, 200, 202 f. Lenau, Nikolaus 199 Lévai, Sámuel 28 Lotz, Friedrich 89, 99 Luther, Martin 179, 184, 203 Lutheraner 169–171, 174, 176, 181–183, 185 f., 204 M Magda, Pál 145 Majláth, Graf 49 Makovecz, Imre 193 Makra jun., Béla 192 Marczali, Henrik 32 Maria (hl.) 203 Maria Theresia, ungarische Königin 124 f., 132, 179, 213 Marschall, Joseph 179 Márton, Gyula 192 März, Adam 179
Personenverzeichnis
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Mercy, Claudius Florimund Graf 29, 129, 132, 190, 192 Möller, Karl von 18, 73, 101, 115–118 Moullion, Koloman 203 Müller, Peter 81 f. Müller-Guttenbrunn, Adam 13–15, 19, 37, 66, 68, 94 f., 111, 188, 213 Muth, Kaspar 10, 14 f.
Roma 33 Rónay, István 13, 79 Roosevelt, Theodore 218 Rosenberger, Jakob 68 Röser, Adam 61, 64 f. Röser, Johann 65 f. Rüdiger, Hermann 16 Rumänen 32 f.
N Novak, Josef 11
S Säcklerin, Margaretha Ottilia 46 Schäfer, Josef 77 f. Scheiffele, Johann Matthäus 213 Schilling, Rogerius 97, 100 Schmidt, Heinrich 87 Schmidt, J. Ladislaus 89 Schmidt, Konrad 79, 82 Schneiderhahn, Philipp 176 Schröder, Wilhelm 24 Schubart, Christian Friedrich Daniel 126 Schünemann, Konrad 88, 97 Schwartz, Elmar 90 Schwarzwälder 60 Seewann, Gerhard 14, 64, 66–68, 102, 114 Selig, Theodor 98 Senz, Josef 75, 81 Serben 12, 28, 32 f., 75, 112, 165 f., 169, 198 f., 206 f. Siebenbürger Sachsen 36, 123, 145 Sieger, Robert 16 Slowaken 129, 145, 169 Solbrig, Gottlob 183 Sollors, Werner 219 Steinacker, Edmund 12 Steuer, György 95 Stresemann, Gustav 74 Sturm, Leonhard Christoph 181 Suppan, Arnold 84 Szabó, István 36 Székely, Bertalan 61 Szekfű, Gyula 96 f. Szekler 167, 190–193 Sziklay, János 37
O Oittinen, Mauno 216 Opfermann, Christine 133 Osmanen s. Türken Österreicher 60 P Panofsky, Erwin 57 Pejachevich, Graf Joseph Sigismund 47 Penny, Victor 68 Pérez Rosales, Vicente 217 Pertschy, Martin 76, 78 Pertschy/Bertsche, Familie 77 Pethe, Ferenc 34, 145 Pfälzer 41, 60 Pfizer, Theodor 211, 213 f. Philippi, Bernardo Eunom 217 Pörksen, Uwe 7 Prinz Eugenius s. Eugen von Savoyen Pufendorf, Samuel von 113 Pukánszky, Béla 90 R Rabung, Nikolaus 46 Rack/Ragg, Familie 77 Raizen s. Serben Rákóczi, Ferenc II. Fürst 23, 28, 36 Rapp, Familie 77 Rapp, Gabriel 76 Reichert, Georg 200 Reiser, Georg 89, 100 Reith, Franz 83 f. Resch, Friedrich 80 Rettich, Béla 192 f. Réz, Heinrich 89, 100 Richaudeau, François 122 Rieß, Josef 14 Rigó, István 196 Ritzmaier, M. 183 Roethlein, Franz Anton von 43
T Tafferner, Anton 87 f., 100, 166 Talkner, Michael 35 Telbisz, Karl 66 Teppert, Philipp 75 f. Tessedik (Teschedik), Sámuel 35 Thibaut, Nikolaus 44 Thienemann, Theodor 90
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Personenverzeichnis
Treffil, Peter 15 Türken 14, 16, 23, 25, 34, 37, 67, 129, 144, 172, 213 U Ulrich, Jakob 176 V Vargyas, András 125 Vecsey, Freiherr Nikolaus von 156 Vonház, Stephan (István) 93, 97 W Wagner, Richard 188 Waldenser 217 Wanner, F. Anton 208 Webster, Daniel 218 Wegehenkel, Adam 45 f. Weidlein, Johann 87, 90, 96 f. Werner, Familie 77 Werni, Sebastian 75 f. Wilhelm II., dt. Kaiser 217 Wittig, Johann Georg 45 Z Zigeuner s. Roma Zipser Sachsen 36, 123, 145 Zundl, Peter 76
AUTOREN DES BANDES Prof. emer. Dr. János Barta, Universität Debrecen Katharina Drobac, Doktorandin, Universität Tübingen Dr. Ferenc Eiler, Institut für die Erforschung ethnischer und nationaler Minderheiten der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Budapest PD Dr. Márta Fata, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen Christian Glass, Donauschwäbisches Zentralmuseum Ulm Dr. Ágnes Klein, Hochschulfakultät der Universität Pécs in Szekszárd PD Dr. János Krähling, Technische und Wirtschaftswissenschaftliche Universität Budapest Klaus J. Loderer, Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen Dr. Ingomar Senz, Studiendirektor i. R., Deggendorf Dr. Katalin Orosz-Takács, Universität Veszprém apl. Prof. Dr. Josef Schwing, Universität Mannheim
S C H R I F T E N R E I H E D E S I N S T I T U T S F Ü R D O N AU S C H WÄ B I S C H E GESCHICHTE UND L ANDESKUNDE
Franz Steiner Verlag
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ISSN 1611–2083
Hans-Heinrich Rieser Temeswar: Geographische Beschreibung der Banater Hauptstadt 1992. 197 S., geb. ISBN 978-3-515-08288-4 Mathias Beer Flüchtlinge und Vertriebene im deutschen Südwesten nach 1945 Eine Übersicht der Archivalien in den staatlichen und kommunalen Archiven des Landes Baden-Württemberg 1994. 414 S., geb. ISBN 978-3-515-08289-1 Mathias Beer (Hg.) Zur Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen im deutschen Südwesten nach 1945 Ergebnisse der Tagung vom 11. und 12. November 1993 in Tübingen 1994. 260 S., geb. ISBN 978-3-515-08290-7 Mathias Beer / Dittmar Dahlmann (Hg.) Migration nach Ost- und Südosteuropa vom 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Ursachen, Formen, Verlauf, Ergebnis 1999. 470 S., geb. ISBN 978-3-515-08291-4 Márta Fata (Hg.) Die schwäbische Türkei Lebensformen der Ethnien in Südwestungarn. Ergebnisse der Tagung des Instituts für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen vom 10. und 11. November 1994 1997. 290 S., geb. ISBN 978-3-515-08292-1 Hans Gehl (Bearb.) Wörterbuch der donauschwäbischen Bekleidungsgewerbe (Donauschwäbische Fachwortschätze, Teil 1) 1997. 608 S. mit 7 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08293-8 Hans Gehl (Bearb.) Wörterbuch der donauschwäbischen Baugewerbe
(Donauschwäbische Fachwortschätze, Teil 2) 2000. 589 S. mit 7 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08294-5 8. Horst Förster / Horst Fassel (Hg.) Kulturdialog und akzeptierte Vielfalt? Rumänien und rumänische Sprachgebiete nach 1918 1999. 288 S., geb. ISBN 978-3-515-08295-2 9. Andrea Kühne Entstehung, Aufbau und Funktion der Flüchtlingsverwaltung in Württemberg-Hohenzollern 1945–1952 Flüchtlingspolitik im Spannungsfeld deutscher und französischer Interessen 1999. 271 S., geb. ISBN 978-3-515-08296-9 10. Hans-Heinrich Rieser Das rumänische Banat: Eine multikulturelle Region im Umbruch Geographische Transformationsforschungen am Beispiel der jüngeren Kulturlandschaftsentwicklungen in Südwestrumänien 2001. 549 S., geb. ISBN 978-3-515-08297-6 11. Karl-Peter Krauss Deutsche Auswanderer in Ungarn Ansiedlung in der Herrschaft Bóly im 18. Jahrhundert 2003. 469 S. mit 4 Farb- und 101 s/w-Abb., geb. ISBN 978-3-515-08221-1 12. Hans Gehl Wörterbuch der donauschwäbischen Landwirtschaft (Donauschwäbische Fachwortschätze, Teil 3) 2003. 664 S. mit 7 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08264-8 13. Márta Fata (Hg.) Das Ungarnbild der deutschen Historiographie 2004. 335 S., geb. ISBN 978-3-515-08428-4
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Hans Gehl Wörterbuch der donauschwäbischen Lebensformen (Donauschwäbische Fachwortschätze, Teil 4) 2005. 716 S. mit 38 Abb. und 8 Ktn., geb. ISBN 978-3-515-08671-4 Karl-Peter Krauss (Hg.) Agrarreformen und ethnodemographische Veränderungen Südosteuropa vom ausgehenden
18. Jahrhundert bis in die Gegenwart 2009. 340 S. mit 20 Abb. und 8 Tab., geb. ISBN 978-3-515-09263-0 16. Márta Fata (Hg.) Migration im Gedächtnis Auswanderung und Ansiedlung im 18. Jahrhundert in der Identitätsbildung der Donauschwaben 2013. 233 S. mit 2 Tab. und 18 Abb., geb. ISBN 978-3-515-10329-9
Im Fokus des Tagungsbandes steht die Konstruktion und Inszenierung der eigenen Vergangenheit in Bezug auf die Identitätsbildung der Donauschwaben als einer durch Migration entstandenen ethnischen Gruppe. Die Ansiedlung der deutschen Kolonisten im Königreich Ungarn ging im Verlauf des 18./19. Jahrhunderts als Erfolgsgeschichte in das kollektive Bewusstsein der ‚WirGruppe‘ ein. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses signifikante Moment in der historischen Forschung bisher nicht systematisch
analysiert wurde. Die Autoren des Bandes untersuchen daher den Stellenwert des Migrationsprozesses im kollektiven Gedächtnis der Donauschwaben. Besonders gefragt wird danach, wie die Gruppengenese hier gespeichert wurde und welche Formen und Wege der (Re-)Konstruktion und Inszenierung dieses identitätsstiftenden Elements in der Geschichte aufzuzeigen sind. Entsprechend dem transdisziplinären Begriff ‚Identität‘ erfolgt die Herangehensweise an die Fragen multidisziplinär.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10329-9