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German Pages [259] Year 2019
Chamisso-Studien
Band 3
Herausgegeben von Jutta Weber, Walter Erhart und Monika Sproll
Eszter Pabis
Migration erzählen Studien zur »Chamisso-Literatur« deutsch-ungarischer Autorinnen der Gegenwart
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Alexander von Humboldt-Stiftung. 2020, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Keszthely am Balaton (Ungarn), 1908 (beschÐdigtes Foto). Die Abbildung stammt von dem Ungarischen Geographischen Museum / Magyar Fçldrajzi Mfflzeum ErdØlyi Mór cØge (via das Archiv Fortepan). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2512-7306 ISBN 978-3-7370-1064-1
»Es gibt heute auffallend viele ungarischstämmige Schriftstellerinnen auf der Welt, die alle Prosa schreiben, Gahse, Mora, Kristof, Zsuzsa B#nk, Christina Vir#gh. Ist es denkbar, daß Ungarn die Prosaschriftstellerinnen, seine Prosaschriftstellerinnen vertreibt? Ist es denkbar, daß die Ungarn wegen ihrer Prosaschriftstellerinnenintoleranz berüchtigt und berühmt sind? Ist es das und das Gulasch? Daß wir fast schon von einer Prosaschriftstellerinnenjagd sprechen müssen, daß wir diesen Reflex aus dem fernen Asien mit uns gebracht haben? Oder ist es möglich, daß es ein wenig umgekehrt stimmt: sie sind eben deshalb zu Prosaschriftstellerinnen geworden, weil sie weggegangen sind? Und wenn sie zu Hause geblieben wären, dann schrieben sie heute Lyrik oder gar nichts? Eine Frau soll Lyrikerin sein, und/oder ordentlich kochen können.« (P8ter Esterh#zy)
»Mein Beruf ist Schriftstellerin! Nicht: Berufsossi, Berufsausländerin, Berufsfrau oder gar -fräulein!« (Ter8zia Mora)
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration. Perspektiven für die Erforschung des »Eastern turn« in der »Chamisso-Literatur« und der Erinnerungskultur nach 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach und jenseits der »Chamisso-Literatur«: Zur Problematik einer Kategorisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausländer – Brückenschläger – Sprachwandler. Sprache und Ort der »Chamisso-Literatur« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Thickening« places, immigrating into the past: Raum und Zeit der »Chamisso-Literatur« und der postmigrantischen deutschen Erinnerungskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration. Zur Kritik des Diskurses um die »literarische Osterweiterung« in postmigrantischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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»Hongrie profonde« oder »ein zutiefst ungarischer Roman auf Deutsch«? Zur Erzählkomposition und zum Gedächtnis Ungarns nach 1956 in Zsuzsa B#nks Der Schwimmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Translokale Dimensionen: Bewegung und Bewegungslosigkeit im Wasser und in der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Temporalität, Trauma und Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . Den Aufstand erzählen? 1956 in Der Schwimmer . . . . . . . . . . . .
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»Um mich herum war alles Gewalt«. Körperliche Transgressionen in Ter8zia Moras Seltsame Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenz- und Gewalterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Poetik der Deterritorialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbruchsbewegungen und (räumliche) Transgressionsprozesse . .
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8 »Und Nema. So wie das Nichts.« Zur Poetik der Leerstelle in Ter8zia Moras Alle Tage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am Anfang war … der Nullpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Der Ehemann, den es in Wahrheit gar nicht gibt«. Subjektlosigkeit versus Körperlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mehrsprachigkeit und Stummheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Poetik des Raumes: die Leerstelle als displacement . . . . . . .
Inhalt
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Sichtbare und unsichtbare Monstrositäten: zu Ter8zia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer . . . . . . . . . . . . . . . Darius Kopp als Homo faber 2.0 – Unsichtbarkeit, Entkörperlichung und Virtualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Körperlichkeit, Gewalt und Monstrosität . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Seconda« im »Treppenhaus«: zur Aushandlung und Auflösung von Differenzen in Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf . . . . . . . . . (Ver-) Schweigen versus Erzählen: Strukturen und Beziehungen von Zeit und Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbergen und Enthüllen: Scham und Sprache . . . . . . . . . . . . . . Das »Ich ohne Zoli«, der »König aller Kreuzworträtsel« und der »Schildkrötensohn«: Sprache und Gewalt in Melinda Nadj Abonjis Schildkrötensoldat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Fallsüchtige und die Sprache der Gewalt: Zolis Position und seine Fremdbestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Rätselkönig und die Gewalt der Sprache: Zoli als Sprachkünstler . Der Schildkrötensoldat: Verbergen, Sichtbarmachen und die Problematik des Verstehens im Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Poetik der Grenzüberschreitung in Ilma Rakusas Mehr Meer. Erinnerungspassagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grenzgänge und Dimensionen der Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . Prozessualität, Selbstkonstitution und die Problematisierung der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Poetik und Topografie der Einsamkeit. Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem »r« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Topografie der Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Poetik und Poetogenität der Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
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M wie Muttersprache – Gender, Genealogie und Geschichte in Zsuzsanna Gahses Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurück . . . . . .
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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Migration, Erinnerung und Ästhetik werden in anhaltenden und aktuellen Diskussionen – etwa um die postmigrantische Gesellschaftsforschung (Foroutan et al. 2018) oder um den »Eastern turn« der deutschen Literatur (Haines 2015, 2008) – zwar kritisch reflektiert und konstruktiv aufgegriffen, jedoch nur im seltensten Fall, wenn überhaupt, in ihrem wechselseitigen und komplexen Zusammenhang erkannt. Erst seit neuestem oder eher am Rande werden entweder Wechselwirkungen zwischen Migration und Ästhetik thematisiert (Bal 2007, Bal; Hern#ndez-Navarro 2011), oder die Verschränkungen zwischen Migration und Erinnerung fokussiert (Motte; Ohliger 2004, Georgi 2003) – die Frage nach den komplexen Verflechtungen zwischen Migrationserfahrungen, erinnerungskulturellen Praktiken und ästhetisch-literarischen Diskursen bleibt aber weitgehend unterbeleuchtet. Die überwiegende Anwendung ethischer und die Vernachlässigung ästhetischer Kategorien, die nahezu völlig fehlende Reflexion auf die Konstruktion und Reproduktion kultureller, politischer und historischer Ost-West-Diskurse innerhalb Europas sowie die Herstellung exkludierender Dichotomien bestimmen die Thematisierung und Theoretisierung aktueller Migrationsphänomene generell – so auch den enorm ausufernden Diskurs über die »Migrationsliteratur« und die aktuellen Diskussionen um Erinnerungskulturen in einem durch die Herausforderungen der Massenmigration gespaltenen Europa. Die Beiträge des vorliegenden Bandes greifen den neuen Forschungsbereich des »Eastern turn« auf (bzw. sie verbinden die Debatte um den postmigrantischen Diskurs mit dem Phänomen der »literarischen Osterweiterung« in der deutschsprachigen Literatur) und sollen dazu dienen, durch die neue Verhältnisbestimmung von Migration, Erinnerung und Literatur die wegweisende Relevanz der Ästhetik für eine kritische Erforschung postmigrantischer Gesellschaften und ihrer Erinnerungskulturen aufzuzeigen. Ausgehend davon, dass erst der Blick auf poetisch-ästhetische Perspektiven und Kontexte die Wechselwirkungen von literarisch-narrativen Strategien und Migrationserfahrungen sowie – entgegen der These vom ›Ausnahmefall‹ und ›Problem‹ der Migration –
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Vorwort
die ›Ursprünglichkeit‹ und ›Normalität‹ des Migratorischen sichtbar macht, widmen sich die Analysen des Bandes anhand von Beispielen aus dem Kanon des literarischen Grenzgängertums zwischen »Ost(mittel)europa« und dem »Westen« den Korrelationen zwischen migrationsbedingten Phänomenen und der ästhetischen Form der jeweiligen Texte. Die Erforschung der Literatur des »Eastern turn« in den kultur- und erzähltheoretischen Interpretationen ausgewählter Romane aus und über den symbolischen Raum »Osteuropa« soll dadurch die Herausforderungen der kritischen Migrationsforschung, der Diskurstheorie und der transnationalen Verflechtungsgeschichte aufnehmen und produktiv bei der Lektüre literarischer Kunstwerke nutzen sowie relevante gesellschaftspolitische Themen in einem gesamteuropäischen Horizont aufgreifen. Der vorliegende Band geht auf mein an der Universität Bielefeld durchgeführtes Forschungsprojekt »Grenzgängergeschichten zwischen Deutschland und Ungarn: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur von Autorinnen ungarischer Herkunft als Medium des dialogischen Erinnerns« zurück. An dieser Stelle möchte ich allen, die die Arbeit begleitet und in vielfältiger Weise unterstützt haben, meinen Dank aussprechen. Ganz herzlich danken möchte ich Professor Walter Erhart, der das gesamte Projekt mit stetem Interesse begleitet und mich durch kompetenten Rat und konstruktive Kritik motiviert und angespornt hat. Mikljs Tak#cs danke ich für zahlreiche wertvolle Anregungen und seine engagierte Unterstützung des Vorhabens. Mein besonderer Dank gebührt Philipp Teichfischer für das sorgfältige Lektorieren des Manuskripts. Für die Übernahme der Druckkosten und die Unterstützung der Forschung danke ich nicht zuletzt der Alexander von Humboldt-Stiftung, ohne deren großzügige Förderung die Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Bielefeld, im März 2019
Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration. Perspektiven für die Erforschung des »Eastern turn« in der »Chamisso-Literatur« und der Erinnerungskultur nach 2015
In seiner pointierten Laudatio auf die Chamisso-Preisträgerin Zsuzsanna Gahse kommentierte P8ter Esterh#zy die hohe Anzahl auf Deutsch schreibender Schriftstellerinnen ungarischer Herkunft wie folgt: Es gibt heute auffallend viele ungarischstämmige Schriftstellerinnen auf der Welt, die alle Prosa schreiben, Gahse, Mora, Kristof, Zsuzsa B#nk, Christina Vir#gh. Ist es denkbar, daß Ungarn die Prosaschriftstellerinnen, seine Prosaschriftstellerinnen vertreibt? Ist es denkbar, daß die Ungarn wegen ihrer Prosaschriftstellerinnenintoleranz berüchtigt und berühmt sind? Ist es das und das Gulasch? Daß wir fast schon von einer Prosaschriftstellerinnenjagd sprechen müssen, daß wir diesen Reflex aus dem fernen Asien mit uns gebracht haben? Oder ist es möglich, daß es ein wenig umgekehrt stimmt: sie sind eben deshalb zu Prosaschriftstellerinnen geworden, weil sie weggegangen sind? Und wenn sie zu Hause geblieben wären, dann schrieben sie heute Lyrik oder gar nichts? Eine Frau soll Lyrikerin sein, und/oder ordentlich kochen können. (Esterh#zy 2006: 5)
In den nicht ironiefreien Worten des im deutschen Sprachraum bisher meistgedruckten ungarischen Autors wird spielerisch der Zusammenhang zwischen dem Migrationsphänomen (vertrieben/gejagt werden – weggehen), der historisch-diskursiven Gemachtheit identitärer Festlegungen (»Eine Frau soll …«, was »wir […] aus dem fernen Asien mit uns gebracht haben«, als Ungarn »berüchtigt und berühmt« sein) und der ästhetisch-literarischen Aushandlung ihrer gesamtgesellschaftlicher Dynamiken (Prosa schreiben und Prosaschriftstellerin werden) explizit. Migration, erinnerungskulturelle Praktiken und Ästhetik werden auch in anhaltenden und aktuellen akademischen Diskussionen – etwa um die postmigrantische Gesellschaftsforschung (Foroutan et al. 2018) oder um den »Eastern turn« der deutschen Literatur (Haines 2015, 2008) – konstruktiv aufgegriffen und kritisch reflektiert, jedoch nur im seltensten Fall, wenn überhaupt, in ihrem wechselseitigen und komplexen Zusammenhang erkannt. Die infolge der spürbar starken Präsenz von deutschsprachigen AutorInnen osteuropäischer Herkunft seit ungefähr einem Jahrzehnt diskutierten Phänomene der »literarischen Osterweiterung« (Ackermann 2008, Bürger-Koftis 2008, Her-
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Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration
mann-Horstkotte 2016) oder des – analog zum Turkish turn (Adelson 2005) oder Balcan turn (Previsˇic´ 2009) eingeführten – »Eastern turn« (Haines 2008, 2015) der deutschen Literatur bieten Anlass zur Reflexion auf die Wechselwirkungen von literarisch-narrativen Strategien, Migrationserfahrungen und der Konstruktion und Reproduktion kultureller, politischer und historischer Ost-WestDiskurse innerhalb Europas. Die vorliegende Arbeit greift den neuen Forschungsbereich des »Eastern turn« auf und unternimmt den Versuch, aktuelle Herausforderungen der kritischen Migrationsforschung, der Erinnerungsforschung und der transnationalen Verflechtungsgeschichte aufzunehmen und produktiv bei der Lektüre literarischer Kunstwerke und der Kulturanalyse zu nutzen sowie darüber hinaus einen literaturtheoretischen Beitrag zur Ästhetik der Postmigration zu leisten. Der Blick auf poetisch-ästhetische Perspektiven und Kontexte macht des Weiteren – und entgegen der These vom ›Ausnahmefall‹ und ›Problem‹ der Migration – die ›Ursprünglichkeit‹ und ›Normalität‹ des Migratorischen sichtbar und erschließt der Forschung neue Wege, um die im politisch-kulturellen Diskurs herrschenden binären Logiken (wie etwa die Trennungen zwischen »MigrantInnen« und »Nicht-MigrantInnen«, »Problem« und »Mehrheitsgesellschaft«, »Ost« und »West«) zu überwinden und neue Deutungs- und Verstehensmuster für oftmals virulente Differenzen zu gewinnen. Im Folgenden werden daher die Problematisierung exkludierender Kategorisierungen und (von der Kritik zumeist ausgeblendete) Zusammenhänge zwischen ethisch und ästhetisch begründeten Theoretisierungen migratorischer Phänomene fokussiert – zunächst im Kontext der Erschließung der »ChamissoLiteratur« und deren »Osterweiterung«.
Nach und jenseits der »Chamisso-Literatur«: Zur Problematik einer Kategorisierung Die Geschichte des erstmalig 1985 ausgerufenen Adalbert-von-Chamisso-Preises, seiner Etablierung und seiner Kritik, die Modifikationen bzw. Ergänzungen seiner Satzung und letztendlich die Entscheidung der Robert Bosch Stiftung über die letztmalige Verleihung der Literaturauszeichnung im März 2017 spiegelt seismografisch die sich wandelnden Problemstellungen und Verschränkungen aktueller Forschungen zur Erinnerungskultur und Literatur in Deutschland vor dem Hintergrund transnationaler Migrationsbewegungen wider. Die im Kontext der jährlichen Preisvergabe häufig gestellten Fragen, etwa zur Relevanz der Biografie (der Herkunft und Muttersprache) der AutorInnen für das Schreiben und dessen Rezeption, sind Indikatoren für Grenzziehungen – zwischen fremd (zugewandert) und eigen (deutsch), zwischen Nationalliteratur und
Nach und jenseits der »Chamisso-Literatur«
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Migrationsliteratur – und zugleich für die Aufhebung bzw. Ablehnung dieser Differenzierungen. Sichtbar wird diese Dynamik von Trennung und Verbindung nicht nur in der verbreiteten poststrukturalistischen Terminologie im Umgang mit exkludierenden Dichotomien und Differenzen oder in der ambivalenten Haltung vieler PreisträgerInnen zu ihrer Kategorisierung als Chamisso-AutorInnen (die Etikettierung wird bei gleichzeitiger Anerkennung ihres Marktwertes zumeist als Ausschluss erlebt),1 sondern auch in der Begründung der Einrichtung und der Einstellung des Preises selbst. Der erste Meilenstein auf dem Weg der Gründung des Preises war die Bitte des Romanisten und Philologen Harald Weinrich »um eine deutsche Literatur von außen« (Weinrich 1983) in einem Vortrag von 1983 – im Jahr, als Helmut Kohl kategorisch feststellte, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei.2 In Anlehnung an die vielzitierte Aussage von Max Frisch »Wir haben Arbeitskräfte gerufen und es sind Menschen gekommen« erkennt er, dass »[d]ie Bundesrepublik Deutschland, ob sie es nun wahrhaben will oder nicht, […] ein Vielvölkerstaat geworden [ist], und ihre Bürger beginnen allmählich – ganz allmählich – zu begreifen, dass damit nicht nur eine multinationale, sondern auch eine multikulturelle Vielfalt entstanden ist« (Weinrich 2017 [1983]: 41). Weinrich stellt Werke ausgewählter »Gastarbeiter-Schriftsteller« (ebd.: 43) vor, analysiert den Begriff »Literatur der Betroffenheit« (ebd.: 44), und kommt zu dem Schluss, dass die »Ausländerliteratur« (ebd.: 45) oder »die Gastarbeiterliteratur, wenn sie eine ›Literatur der Betroffenheit‹ zu sein anstrebt, bereits in ihrer innersten Substanz, zu ihrem Vor- oder Nachteil, deutsch ist« (ebd.). Als Argument konstatiert er die Aufhebung jeglicher Kongruenz zwischen politischer und sprachlicher Grenzziehung, zwischen Staatsangehörigkeit und Sprachgebrauch (Muttersprache), zwischen deutsch und ausländisch, innen und außen: [D]ie deutsche Literatur kann in der Welt, in der wir heute leben, nicht mehr nur eine Sache derer sein, die Staatsangehörige eines Staates mit deutscher Landessprache sind. So wie die Briten mit Stolz auf ihre Commonwealth-Literatur schauen und die Franzosen die ganze frankophone Literatur mit Selbstverständlichkeit ihrer eigenen Literatur zurechnen, so haben auch wir weniger welterfahrenen Deutschen allen Grund, vom Konzept der Nationalliteratur im nationalstaatlichen Sinne ein für allemal Abstand zu nehmen. Deutschland ist ein Land, aus Sprache und Geschichte gemacht, und 1 Vgl. hierzu u. a. Catalin Dorian Florescu zum Begriff »Migrationsliteratur«, der seiner Auffassung nach »einen liebevollen, aber sanften Ausschluss« bezeichne, mit dem »die Literatur von MigrantInnen an den Rand der jeweiligen Nationalliteratur gedrängt werde« – Spoerri 2010: 167, zitiert nach Sievers 2012: 216. Zur Bezeichnung »Migrationsliteratur« als Distinktionszeichen im Sinne Bourdieus und ihrer Relevanz im »Kampf um Anerkennung« vgl. Schweiger 2012, insb. S. 24. 2 »Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland, auch wenn ein großer Teil der bei uns lebenden Ausländer auf Dauer im Lande bleiben wird« (Kohl 1983). Vgl. hierzu auch den Wortlaut der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und FDP aus dem Jahr 1983.
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alle Personen, die von der deutschen Sprache einen solchen Gebrauch machen, dass sie diese Geschichte weiterschreiben, sind unsere natürlichen Landsleute, sie mögen von innen kommen oder von außen. (Weinrich 2017 [1983]: 47)
Als Vorgänger jener Ansätze (Meyer 2012, Schmitz 2009, Sievers 2012, Amodeo 1996), die die transnationale Einbettung deutschsprachiger Literaturen u. a. von postkolonialen Theorien ausgehend untersuchen und diesen einen »kosmopolitischen«, »transkulturellen« Charakter zusprechen oder geradezu von einer Germanophonie (anstelle der Germanistik) reden, hinterfragt Weinrich das Konzept der Nationalliteratur in Anlehnung an etablierte französische und britische disziplinäre Vorbilder und unter Berufung auf kanonisierte Autoren wie Chamisso und Canetti.3 Auf ähnliche Weise problematisiert er die ausschließende Dichotomisierung zwischen eigen und fremd, die Weinrich aufgrund von Sklovskijs Begriff der Verfremdung nicht auf nationale oder sprachliche Zugehörigkeiten bezieht (oder als Analysekategorien einer Zwischenposition zwischen mehreren solchen Zugehörigkeiten verwendet), sondern innerhalb der (poetischen) Sprache verortet zur Kennzeichnung von ihrer Literarizität, welche die generelle Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung darstellt: Denn die Distanz und Fremdheit, die der Ausländer erfährt, auch wenn er die deutsche Sprache schon sehr gut beherrscht, ist kein schlechter Ratgeber in ästhetischen Dingen. Erinnern wir uns, dass die russischen Formalisten, die sich besser als manche andere Poetologen auf die besonderen Qualitäten der poetischen Sprache verstanden, von Poesie nur dann sprechen wollten, wenn die Sprache des literarischen Textes so beschaffen ist, dass sie die Aufmerksamkeit des Lesers wenigstens in Spuren bei den Wörtern festhält und sie daran hindert, vorschnell zu den Sachen durchzudringen. […]. Es gibt also viele Anzeichen dafür, dass Ausländer, die nicht in ihrer Muttersprache, sondern in deutscher Sprache schreiben, durch die Behinderungen, die ihnen die Fremdsprache auch bei guter Sprachbeherrschung noch auferlegt, angehalten werden, sich mehr als andere auf die Sprache einzulassen, sich ihrer Führung williger anzuvertrauen und genauer auf die Wörter und ihre Bedeutungen zu achten. Mit einem 3 Vgl. Weinrich: »Die deutschen Schriftsteller, die von außen kommen, können ebenso gut wie Schriftsteller binnendeutscher Herkunft Meister der deutschen Sprache und Vorbilder guten deutschen Sprachgebrauchs werden. Wer schreibt denn unter den Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur ein reineres Deutsch als Elias Canetti, der doch die deutsche Sprache erst mit acht Jahren als seine Drittsprache gelernt hat?« (Weinrich 2017 [1983]: 47). Chamissos Ort »zwischen zwei Sprachen und zwei Kulturen« (ebd.: 40) analysiert er am Anfang des Vortrags in Anlehnung an Thomas Mann: »Thomas Mann, der sich diesem französischen Dichter deutscher Zunge [Adalbert von Chamisso] sehr nahe fühlte, schreibt dazu: ›Es ist überliefert, dass er, produzierend, bis zuletzt seine Eingebungen laut auf französisch vor sich hinsprach, bevor er daran ging, sie in Verse zu gießen, – und was zustande kam, war dennoch deutsche Meisterdichtung. Das ist erstaunlich, – mehr, es ist unerhört‹« (ebd.). Zum Transnationalismus als Konzept und Analysekategorie der deutschen Gegenwartsliteratur und der »Willkommenskultur« vgl. Taberner 2017.
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irreduktiblen Rest Fremdheit macht die Sprache hier auf sich selber aufmerksam. (Weinrich 2017 [1983]: 45)
Deutschsprachige Literatur nicht-deutschmuttersprachiger AutorInnen avanciert dadurch vom »Sonderfall« beinahe geradezu zum »Modellfall«, an dem die ästhetisch konstitutive Funktion der Fremdheit bzw. Verfremdung sowie letztendlich auch die Unhaltbarkeit der Differenzierung zwischen AutorInnen einer »deutschen Nationalliteratur« und den Vertretern einer »Migrationsliteratur« exemplarisch zum Vorschein kommen – wie das unlängst Sasˇa Stanisˇic´ in Über drei Mythen vom Schreiben der Migranten feststellte: For me, writing itself is a foreign language. […] I am very suspicious when, in terms of literary quality, the fact that an author writes in his second or even third language leads to a more favourable critical judgment, even when the »uncommon« use of linguistic constructs is highlighted, the »exotic« figures and the »rich« vocabulary. Giving an immigrant author credit for every little language-game he tries is (to exaggerate slightly) nothing more than another way to say, »Oh, look how well that foreigner learned German.« […] [I]t is neither impossible nor forbidden for a domestic author to experiment, to produce uncommon linguistic structures or to connect to another folklore. A language is the only country without borders. (Stanisˇic´ 2008)
Weinrichs Vortrag aus dem Jahr 1983, der im Chamisso-Magazin Viele Kulturen – eine Sprache über die letzten Preisträger des Jahres 2017 wieder abgedruckt wurde, verortet seine Problematisierung der Begrifflichkeiten und Zugangsmöglichkeiten der »deutschen Literatur von außen« explizit im politischen und gesellschaftlichen Kontext der Zeit, er verweist auf xenophobe Parolen wie »Ausländer raus« (Weinrich 2017 [1983]: 45), auf die Gastarbeiterwellen und ihre Aufnahme in der Öffentlichkeit und im Literaturbetrieb (u. a. auf die Gründung der Interessengemeinschaft PoLiKunst, d. h. Polynationaler Literatur- und Kunstverein für Gastarbeiter-Schriftsteller, im Jahr 1980, ebd.: 43). Gegen die Einstellung des Preises im Jahr 2017 Protestierende (und auch deren Unterstützer) beriefen sich analog auf die anhaltende »Migrationskrise«,4 wie Iris Radisch halb ironisch resümiert: Gerade jetzt sei der Zeitpunkt für das Ende des Chamisso-Preises schlecht gewählt. Nachdem erst die deutsch schreibenden Gastarbeiterkinder, dann die osteuropäischen Exilanten, die jugoslawischen Kriegsflüchtlinge, die Spätaussiedler und die Asylanten 4 Vgl. hierzu noch die Frage an Uta-Micaela Dürig, Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung: »Aber es gibt gerade heute herausfordernde neue gesellschaftliche Veränderungen …?« und ihre Antwort: »Im Ergebnis werden wir unsere Arbeit verstärkt auf drei Schwerpunkte ausrichten, in die die Expertise aus allen Fördergebieten der Stiftung einfließt: Migration, Integration und Teilhabe, Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland und Europa sowie Zukunftsfähige Lebensräume. So haben wir beispielsweise zum Thema Flüchtlinge eine Expertenkommission eingesetzt und viele Praxisprojekte gefördert, die sich mit den ganz konkreten Herausforderungen der Integration vor Ort beschäftigen« (Dürig 2017: 52).
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Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration
aus aller Herren Länder gefördert worden seien, solle der Preis auch für die zu erwartenden Flucht- und Vertreibungsromane, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommen, weiter zur Verfügung stehen. Der Preis werde den schreibenden Flüchtlingen und Deutschdebütanten fehlen wie der Schatten dem armen Schlemihl in Chamissos Erzählung. (Radisch 2016)
Das wesentlichste Argument der Begründung der Preiseinstellung lautete, dass der Förderpreis sein Ziel erreicht habe und damit überflüssig geworden sei – Chamisso-AutorInnen sind mittlerweile zum selbstverständlichen Teil des deutschen Literaturbetriebs geworden, so Uta-Micaela Dürig: Kulturelle Vielfalt ist in unserer Gesellschaft und in der deutschsprachigen Literatur inzwischen in weiten Teilen zur Normalität geworden. Ein Preis sollte daher, aus unserer Sicht statt die biografische Herkunft und Erfahrung von Autoren hervorzuheben, ein starkes Miteinander und Wir-Gefühl in der Gesellschaft unterstützen. Dies umso mehr, weil viele Autoren mit Migrationsgeschichte bereits in der zweiten Generation in Deutschland leben. Sie sind mit der deutschen Sprache aufgewachsen und sehen sich selbst als deutschsprachige Autoren. Ihre Werke sind ein selbstverständlicher und unverzichtbarer Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur. Und Chamisso-Preisträger gewinnen wichtige andere Literaturpreise wie z. B. den Deutschen Buchpreis. (Dürig 2017: 51)
Die Geschäftsführerin der Robert Bosch Stiftung beruft sich hier letztendlich auf die Aufhebung jener distinktiven Grenze zwischen deutschen und zugewanderten AutorInnen, die bereits bei der Entstehung der Idee des Preises als eine nicht-existierende postuliert wurde, so u. a. als Harald Weinrich in seinem Plädoyer für eine deutsche Literatur von außen davon sprach, dass »die Ausländer […] bisweilen sogar ein besseres Deutsch als mancher Deutsche [sprechen und schreiben]«, oder dass »[d]ie deutschen Schriftsteller, die von außen kommen, […] ebenso gut wie Schriftsteller binnendeutscher Herkunft Meister der deutschen Sprache und Vorbilder guten deutschen Sprachgebrauchs werden [können]«. (Weinrich 2017 [1983]: 46f.) Der exklusive Akt der Distinktion der Literatur bzw. der AutorInnen nichtdeutscher Herkunft als Adressaten eines Förderpreises (einer »Auszeichnung für deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache«)5 diente des Weiteren ihrer Inklusion und führte auch zur Öffnung des Literaturkanons hinsichtlich der »Chamisso-Literatur«,6 deren prinzipielle Ununterscheidbar5 So die ursprüngliche Konzeption bei der ersten Preisausschreibung 1985. Vgl. online unter : http://projects.bosch-stiftung.de/content_projekte/language1/html/14169.asp (zuletzt aufgerufen am 18. 07. 2019). 6 Trotz der häufig thematisierten Unzulänglichkeit des Begriffes (Lamping 2011: 18, BlumBarth 2013) wird im obigen Aufsatz der Terminus Chamisso-Literatur verwendet – im Gegensatz zu den oben behandelten weiteren Bezeichnungen wie Migrationsliteratur, postmigrantische/transnationale Literatur oder Bindestrich-Komposita wie deutsch-türkische
Nach und jenseits der »Chamisso-Literatur«
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keit von der »deutschen« Literatur – paradoxerweise zwecks der Erfüllung der Zielsetzung – ab ovo angenommen wurde. Ähnliche Ambivalenzen prägen die gesamte Geschichte der Preisverleihung: Die Festlegung auf die Herkunft als entscheidendes Kriterium der Preisverleihung wurde durch die Erweiterung der Definition des Preises 2012 aufgehoben – die potenziellen Preisträger waren von dem Zeitpunkt an »auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist«. Die Begründung für die Modifizierung der Preisstatuten – »die Literatur dieser Autoren ist zu einem selbstverständlichen und unverzichtbaren Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur geworden«7 – macht wiederum die schwankende Grenzziehung zwischen innen und außen sichtbar, welche die Auszeichnung trotz ihrer grundsätzlichen »Überflüssigkeit« oder gerade deswegen legitimiert. Infolge der Verortung des Förderpreises im Spannungsfeld zwischen Literatur und Kulturpolitik, zwischen immanent ästhetischen und außerliterarischen Kriterien (wie Herkunft und Biografie) galt der Chamisso-Preis von Anfang an – bei aller Anerkennung seiner Funktionen als Türöffner, als »Eintrittsbillet ins literarische Leben«8 oder Kanonisierungsinstanz für die Preisträger – als umstritten: Er wurde als »Nischenpreis« (Kegelmann 2010 a) kritisiert, man befürchtete die diskriminierende Etikettierung »ausländischer« AutorInnen oder eine Art »Reservatbildung« (Hofmann 2006: 320). Die kritische Diskussion um die Existenzberechtigung und die Zukunft des Preises (zu Veranstaltungen wie dem Marbacher Symposium Chamisso – wohin? Über die deutschsprachige Literatur von Autoren aus aller Welt zum 25. Jahrestag der Auszeichnung oder der Konferenz Chamisso-Literatur – eine »Nomadisierung der Moderne«? Interdisziplinäre Perspektiven der Interkulturalitätsforschung in München 2014) gehört mittlerweile auch zu seiner Tradition. Symptomatisch dafür steht die oftmals Literatur/AutorInnen verweist man mit der Verwendung des Wortes »Chamisso-Literatur« auch auf die grundsätzliche (und oben ausführlich erläuterte) Problematik der distinktiven Kategorisierung und auf die Unmöglichkeit der Grenzziehung zwischen »deutscher« und »nicht (nur) deutscher« Literatur. 7 Vgl. hierzu die Robert Bosch Stiftung über die Geschichte des Preises: »Der Preis wurde damals definiert als Auszeichnung für deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache. Wurde die mit dem Preis gewürdigte Literatur seit den 1980er-Jahren zunächst noch ›Gastarbeiterliteratur‹ genannt, entwickelte sie sich nach Öffnung des Eisernen Vorhangs zur sogenannten ›Migrationsliteratur‹, die verstärkt auch außereuropäische Einflüsse umfasste. Die gesellschaftliche Realität zeigt heute, dass eine stetig wachsende Autorengruppe mit Migrationsgeschichte Deutsch als selbstverständliche Muttersprache spricht. Für die Literatur dieser Autoren ist der Sprach- und Kulturwechsel zwar thematisch oder stilistisch prägend, sie ist jedoch zu einem selbstverständlichen und unverzichtbaren Bestandteil deutscher Gegenwartsliteratur geworden. 2012 wurde die Definition des Preises daher erweitert«. Online verfügbar unter : http://projects.bosch-stiftung.de/content_projekte/langu age1/html/14169.asp (zuletzt aufgerufen am 18. 07. 2019). 8 Ackermann 2007: 48, zitiert nach Kegelmann 2010 a: 21. Zum biografischen Diskurs über die »Chamisso-Literatur«, d. h. zur »Transnationalisierung der Biographik«, vgl. Schweiger 2013.
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zitierte Rede Ilija Trojanows von Migration als Heimat, der im Hinblick auf die fortschreitende Kanonisierung der deutschsprachigen Literatur ausländischer AutorInnen Folgendes feststellte: »[E]s gibt keine Chamisso-Literatur mehr, sondern nur das Hineinwachsen der deutschsprachigen Literatur ins Weltliterarische mit Hilfe der Agenten der Weltläufigkeit und Mehrsprachigkeit« (Trojanow 2009).9 Die Berufung auf die Unhaltbarkeit der »Aussonderungen« (bzw. der Grenzziehung zwischen der »herkömmlichen deutschen« Literatur als Regel und der »neueren Migrationsliteratur« als Abweichung) sowie auf die Universalität der Mehrsprachigkeit ist eine Diskurskonstante seit den 1980er-Jahren bis in die Gegenwart, womit ironisch – als assertion in denial10 – Differenzierungen fortgeschrieben und die problematisierten Begrifflichkeiten ex negativo bestätigt werden. Im Folgenden gilt meine Aufmerksamkeit nicht speziell der Geschichte, der Bedeutung und den Herausforderungen der Chamisso-LiteraturForschung – deren Literatur mittlerweile ein beinahe unübersehbares Maß erreicht hat11 –, sondern den aktuellen Tendenzen und Strategien im literaturwissenschaftlichen Umgang mit jenen Differenzierungen, die auch die Rezeptions- und Kanonisierungsprozesse der Chamisso-Literatur bestimmen und darüber hinaus für die Analyse literarischer Grenzgänge zwischen bzw. innerhalb von Ost- und Westeuropa methodisch-begrifflich konstitutiv sind.
9 Zu den Beiträgen von Dieter Lamping, Karl Esselborn, Immacolata Amodeo, Moray McGowan und Walter Schmitz zu demselben Thema vgl. den Tagungsbericht von Klaus Hübner (Hübner 2010). 10 Dieselbe Logik charakterisiert auch den Diskurs über die deutschsprachige Schweizer Literatur und die Thematisierung der Schweiz bzw. des Politikums in der zeitgenössischen Prosa. Corina Caduff kommt aufgrund der Veröffentlichung von Anthologien mit schweizerischer Nationalliteratur zum Schluss, dass die »Zauberformel Schweizer Literatur« auch in den letzten Jahrzehnten virulent geblieben ist und dass man im Fall von Literatur der Schweiz auf den Heimatbezug insistiert, auch wenn er offenbar fehlt oder nur als »verlorene Heimat« existiert (Caduff 2005). Die (affirmative) Verneinung ihres Gegenstandes hält auch die akademische Diskussion über die Existenzberechtigung des Begriffes Schweizer Literatur aufrecht: Diese scheint nämlich auch heute noch intensiv zu sein, obwohl die Frage nach der Existenz einer homogenen Schweizer Nationalliteratur längst verneint wurde. Michael Böhler geht sogar noch weiter : Wegen der Inkongruenz zwischen sprachlicher und politischer Grenzziehung innerhalb und um die Schweiz stuft er den gesamten Prozess der nationbuilding in der Schweiz als ambivalent und paradox ein, er verweist darauf mit Terry Eagletons Ausdruck self-assertion in denial @ Böhler 2010: 41. Vgl. hierzu Pabis 2017: 33–44. 11 Vgl. hierzu u. a. Ackermann 2004, Esselborn 2004, Kegelmann 2010 a, Lamping 2011 und Blum-Barth 2013.
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Ausländer – Brückenschläger – Sprachwandler. Sprache und Ort der »Chamisso-Literatur« Wie wir gesehen haben, fungiert in der Diskussion um den Chamisso-Preis die Sprachlichkeit der Literatur auf Deutsch schreibender AutorInnen nicht deutscher Herkunft als entscheidendes Kriterium für die Konstruktion eines Textkorpus, das nicht durch außerliterarische oder exotisierende und marginalisierende Faktoren wie eine migratorische Biografie verbunden wird. Paradigmatisch zeigt sich diese Konstruktion an der erwähnten Erweiterung bzw. Modifizierung der Statuten der Auszeichnung, die ab 2012 an »herausragende auf Deutsch schreibende Autoren« vergeben wurde, »deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist und die ein außergewöhnlicher, die deutsche Literatur bereichernder Umgang mit Sprache eint«12 (kursiv E.P.). Es ist aber gerade die Sprache (die ästhetische Qualität) ihres Werks, aufgrund derer die betroffenen AutorInnen sich der deutschen Literatur zuordnen bzw. die Grenze zwischen der »deutschen« und der die deutsche Literatur »bereichernden« Literatur überwinden wollen. So reagierte Ter8zia Mora auf die Feststellung, »dass Sie eben nicht deutsche Autor[in] […] im Sinne von Goethe oder Thomas Mann sei« (Mora 2005: 28), mit der Aussage »Ich bin genauso deutsch wie Kafka« (ebd.), und sie wies gleichzeitig die dichotomische Trennung zwischen Fremdheit (in Deutschland) und Heimat bzw. die ebenfalls verbreitete Konvention der Berufung auf den Sprachwechsel zurück: »Ich habe hier keine Fremdheitsgefühle. Fremd war ich in dem ungarischen Dorf. Ich habe die Sprache nicht gewechselt. Ungarisch und Deutsch sind beides meine Muttersprachen« (ebd.). In eine ähnliche Richtung weist Ilija Trojanow, als er sich nebst Kafka, Celan und Joseph Conrad auch auf den Kanon der deutschsprachigen Nobelpreisträger Canetti, Grass, Jelinek und Herta Müller beruft, um von zeitgenössischen AutorInnen wie Tawada, Özdamar, Zaimoglu oder Rakusa festzustellen, dass keiner von ihnen der »althergebrachten Wahrnehmung« entspricht, »es handle sich bei der ›Chamisso-Literatur‹ um etwas Eigentümliches, Neuartiges, spezifisch Deutsches« (Trojanow 2009): Auch in der deutschsprachigen Literatur herrscht kosmopolitische Vielfalt vor, verfasst von mobilen Schicksallosen […]. Wie sonst ließe sich erklären, dass die letzten vier deutschsprachigen Nobelpreisträger alles andere als typische Deutsche waren: von 12 Vgl. die Definition des Preises auf der Webseite der Robert Bosch Stiftung: http://www. bosch-stiftung.de/de/projekt/adelbert-von-chamisso-preis-der-robert-bosch-stiftung (zuletzt aufgerufen am 18. 07. 2019). Die Problematik der Mehrsprachigkeit der zugewanderten AutorInnen bzw. der Polyphonie ihrer Texte findet als Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung schon seit Langem Aufmerksamkeit (Spoerri 2010, Tatasciore 2012, Zinggeler 2011, Kegelmann 2012 und Burka 2016). Zu den unterschiedlichen Dimensionen der Vielsprachigkeit literarischer Texte vgl. Schmitz-Emans 2004.
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dem in Bulgarien geborenen Sepharden Elias Canetti, der Deutsch erst als dritte Sprache lernte, über den Danziger Günter Grass, dessen Mutter kaschubischer Abstammung war, sowie die Österreicherin Jelinek, deren Vater tschechischer Jude war, bis hin zur Banater Schwäbin Herta Müller. Zwei leibhaftige Migranten und alle vier multi-, inter- und transkulturell unterwegs. (Trojanow 2009)
Als Sasˇa StanisˇiÅ die Kategorie der »Migrationsliteratur« und damit verbundene Mythen vom Schreiben zugewanderter AutorInnen (wie die Bestimmtheit durch die Biografie und die Migrationsthematik, oder den experimentierfreudigen, »bereichernden« Umgang mit der Sprache) ablehnt, argumentiert er u. a. mit der allgemeinen Fremdheit der ästhetischen Sprache (»[w]riting itself is a foreign language« – StanisˇiÅ 2008)13 als Grund für die Aufhebung der Grenze zwischen nationalliterarischem Kanon und dem »Schreiben der Migranten« und auch zwischen Zentrum und Peripherie (ebd.).14 Der »Mythos« der Bereicherung erweist sich infolge dieser falschen (homogenisierenden und essentialistischen) Trennungen als unhaltbar,15 dem ebenfalls verbreiteten Erklärungsmuster der Vermittlung zwischen »einheimischer« und »fremder« Kultur ähnlich. (Auch wenn dieser u. a. bei der Vergabe des Chamisso-Preises ein weiterhin virulenter Topos bleibt: Sigrid Löffler hebt in ihrer Laudatio auf die »Übersetzerin und Autorin« Mora hervor, dass »[i]n einem Europa der Übersetzungen […] die Schriftsteller Dolmetscher-Dienste [leisten], indem sie Kulturen […] nicht nur beschreiben, beglaubigen und tradieren, sondern indem sie ihre jeweilige Kultur auch anderen vermitteln, sie ihnen übersetzen« – Löffler 2010). Mittlerweile wehren sich die meisten »Chamisso-AutorInnen« gegen ihre Verortung im 13 Vgl. zum Thema die These Deleuzes, laut der der Schriftsteller in der Sprache immer ein Fremder ist, auch wenn es seine Muttersprache ist: »Das sagt so viel, daß ein Schriftsteller immer wie ein Fremder ist in der Sprache, in der er sich ausdrückt, selbst wenn es seine Muttersprache ist. […] Er ist ein Fremder in seiner eigenen Sprache. Er mischt nicht eine andere Sprache mit seiner Sprache, er schnitzt aus seiner Sprache eine Fremdsprache, die es vorher nicht gegeben hat« (Deleuze 1993: 31). 14 »In countries with high immigration rates, like Germany today, minority culture became long ago one of society’s constitutive elements. Immigrant authors are no longer a marginal phenomenon, but a significant reference point with almost-mainstream qualities (a good thing, because it rids the work of the exotic). Immigrant literatures are not an isle in the sea of national literature, but a component, both in the depths, where the archaic squids of tradition live, and on the surface, where pop-cultural waves hit the shore« (StanisˇiÅ 2008). 15 Als Argument für die Ablehnung des diskriminierenden, falschen und beschönigenden Erklärungsmusters der »Bereicherung« der deutschen Sprache durch das Schreiben von AutorInnen mit einem Migrationshintergrund erwähnt Christine Meyer auch die fehlende Aufnahmebereitschaft der deutschen Gesellschaft: »In der Tat: ›Bereicherung‹ durch fremde Kulturen erfolgt nicht automatisch und ist nicht umsonst zu haben. Sie ist kein einfaches Hinzufügen von fremden Zutaten, sondern setzt seitens der Aufnahmegesellschaft die Bereitschaft voraus, sich vom Anderen verändern zu lassen. Solange dieses Risiko nicht eingegangen wird, bleibt die Rede von der Bereicherung eine bequeme Art der Verdrängung« (Meyer 2012 a: 10).
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Dazwischen, gegen die Zuschreibung, Brücken (Vermittler, Übersetzer) zwischen zwei Welten zu sein: Vielsagend sind in dieser Hinsicht die Titel einiger Texte Yo¯ko Tawadas – Ich wollte keine Brücke schlagen (Tawada 1997), Guney Dals – Ich bin keine Brücke (Dal 2000) oder die Feststellung Franco Biondis: »Ich lebe mit der italienischen und der deutschen Kultur, nicht dazwischen« (zitiert nach Hillgruber 2009).16 In der wissenschaftlichen Reflexion auf die Problematik erwies sich Leslie Adelsons Against Between – Ein Manifest gegen das Dazwischen als programmatisch. Adelson kritisiert die polarisierende Positionierung der MigrantInnenfiguren in einem Zwischenreich: Diese kommt der netzartigen Verwobenheit, der Interaktionsoffenheit von Kulturen und Literaturen in der heutigen Zeit nicht entgegen, die – mit den Worten Appadurais – von der Transformation der Medien und der Migration bzw. deren Auswirkungen auf die Imagination geprägt wird: In countless debates about the mass migration to Germany that predated 1990, and in much of the international scholarship on »migrants’ literature« or »intercultural literature in Germany« (Chiellino 2000), Turks occupy a central representative position, not on a vibrating tightrope, but on an inflexible bridge »between two worlds«. One of these worlds is customarily presumed to be European and the other not, while the space between is cast as a site of discriminatory exclusions or the home of happy hybridity. […] Turks have shouldered the greatest burden of the imagined bridge for migrants in Germany, as they trigger fears of a »clash of civilizations« (Huntington) or spark hopes for a »dialogue of cultures«. This is a familiar rhetoric of opposing two worlds understood as originary and mutually exclusive. The space »between« is often reserved for migrants inexorably suspended in a bridge leading nowhere. (Adelson 2005: 3, 5f.)
Als Alternative zur Fokussierung auf das cultural fable des Dazwischen (oder dessen »Überwindung« durch »Vermittlung« oder »Übersetzung«) schlägt Adelson in ihrem Konzept der touching tales, der sich berührenden Erzählungen, vor, Migrationsgeschichten als Verflechtungsnarrative zu deuten, das heißt, das Interagieren der Erzählungen der historischen Vergangenheit und der Gegenwart (beispielsweise die Verknüpfungen sich berührender deutscher, jüdischer und türkischer Geschichten) zu erkennen (Adelson 2000). Die Rhetorik des Dazwischen (und die daraus resultierende Idee der »Bereicherung« deutschsprachiger Literatur durch Vermittlung zwischen zweier Kulturen und Sprachen) wird, wie wir gesehen haben, erstens im Selbstverständnis der AutorInnen angegriffen, die in der deutschen Sprache und im deutschen Literaturbetrieb angekommen sein wollen, und zwar in erster Linie nicht infolge der Einwanderung, sondern vielmehr als Konsequenz der ästhetischen Tätigkeit per se – wie es bei Ter8zia Mora der Fall war, die davon spricht, 16 Zur Problematik des »Zwischen-zwei-Welten-Stehens« vgl. Vlasta 2009, Jordan 2006, McGowan 2004 und insbesondere Adelson 2005.
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durchs Schreiben im Leben angekommen zu sein: »Im Grunde bin ich erst in dem Moment angekommen in dieser Welt, in dem es sich entschied, dass ich schreiben darf« (Mora 2010). Das Festhalten am Zwischenzustand wurde zweitens auch im Kontext der Problematisierung und letztendlich der Einstellung des Chamisso-Preises als kanonisierende Instanz und in der wissenschaftlichen Reflexion darauf beendet: Vielsagend sind diesbezüglich der Titel des Bandes Eingezogen in die Sprache, angekommen in der Literatur (Pörksen; Busch 2008), die bereits zitierte Aussage Trojanows, »es gibt keine ChamissoLiteratur mehr, sondern nur das Hineinwachsen der deutschsprachigen Literatur ins Weltliterarische« (Trojanow 2009), sowie die Erklärung der Robert Bosch Stiftung, das Ziel des Chamisso-Preises erreicht zu haben: »Autoren mit Migrationsgeschichte zählen heute selbstverständlich zu den Favoriten für die meisten der über 300 Literaturpreise in Deutschland, […] [sie sind] [i]m deutschsprachigen Literaturbetrieb angekommen«.17 Drittens kann die Strategie einer dichotomischen Grenzziehung zwischen deutsch(sprachig)er und Migrationsliteratur sowie zwischen den binären Oppositionen »Heimat« und »Ankunftsland« im Lichte diverser poststrukturalistischer und postkolonialer Ansätze subversiv unterlaufen werden. Diese verorten ähnliche Innen-AußenGrenzziehungen und Differenzen zwischen Sprachen, Kulturen und Subjekten oder zwischen Eigenem und Fremdem im Allgemeinen innerhalb der Sprache, der Kultur oder des Subjektes.18 Die Übersetzungsleistung der Chamisso-AutorInnen erschöpft sich in diesem Kontext nicht in einer Vermittlung von oder zwischen gegenseitig abzugrenzenden, symmetrischen Kulturen und Sprachen, sondern steht vielmehr der Übersetzung als Existenz- und Konstruktionsmodus der Kultur im Zeitalter transnationaler Migration nahe, d h. jener »komplexen Form der Signifikation«, die Bhabha kulturelle Translation nennt: Kultur […] ist sowohl transnational als auch translational. […] Die transnationale Dimension kultureller Transformation – Migration, Diaspora, De-platzierung, Neuverortung – lässt den Prozess kultureller Translation zu einer komplexen Form der Signifikation werden. Der natürliche oder naturalisierte, einheitsstiftende Diskurs, der 17 Robert Bosch Stiftung 2016. 18 Bhabha interpretiert die Bedeutungen der performativen bzw. konstativen Aspekte der Sprache, die Spaltung des Subjektes in ein ausgesagtes Subjekt und ein Subjekt der Aussage, den Widerstreit zwischen seiner Repräsentation in der symbolischen Ordnung und seinem diskursiven Hervorbringen im Akt narrativer Performanz, in Bezug auf die Nation. In der Schaffung der Nation als Narration seien, so das Ergebnis seiner Ausführungen, zwei unvereinbare Strategien zu unterscheiden, in denen das Volk als apriorisches pädagogisches Objekt oder als repetitiv aufrechterhaltenes Subjekt der narrativen Performanz erscheint (Bhabha 2000: 218). Vgl. hierzu Pabis 2010: 75–76. Zu den – von der obigen Semantik des Dazwischen abweichenden – Begriffen dritter Raum und Treppenhaus vgl. Bhabha 2010. Zur kulturellen Übersetzung und zu Bhabhas Begriff der »translationalen Kultur« vgl. Bhabha 2000: 257 und Bachmann-Medick 2014.
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auf festverwurzelten Mythen der kulturellen Besonderheiten wie »Nation«, »Völkern«, oder authentischen »Volks«-Traditionen beruht, kann hier kaum als Bezugspunkt dienen. Der große, wenngleich beunruhigende Vorteil dieser Situation besteht darin, dass sie uns ein stärkeres Bewusstsein von der Kultur als Konstruktion und von der Tradition als Erfindung verschafft. (Bhabha 2000: 257)19
Die behandelten Verschiebungen in der Dialektik von Trennen und Verbinden spiegeln sich auch in der Diskussion um die diversen Bezeichnungen der Chamisso-Literatur und der Chamisso-AutorInnen im deutschsprachigen Raum wider. Die später als ausgrenzend kritisierten Begriffe wie Gastarbeiterliteratur, Betroffenheitsliteratur und Ausländerliteratur wurden ursprünglich auch von den AutorInnen verwendet und geprägt,20 die anschließende Diskussion um die Termini Migrantenliteratur oder Migrationsliteratur reflektiert die Ablösung des soziologischen von einem biografisch und thematisch orientierten Zugang. Weitere Wortschöpfungen wie interkulturelle Literatur (Chiellino 2000, Hofmann 2006), transkulturelle bzw. internationale Literatur (Schmitz 2009) oder postmigrantische Literatur21 (ursprünglich postmigrantisches Theater, Shermin Langhoff) belegen die Verbreitung der poststrukturalistischen Ablehnung dichotomischer Sichtweisen und normativer Diskurse von homogenen Kulturräumen und Identitäten. Stattdessen setzt sich bei diesen Ansätzen eine Fokussierung auf die ästhetische Sprachlichkeit durch – zentral wird dabei nicht 19 An einer anderen Stelle nimmt Bhabha in demselben Kontext auf die Rolle der Migrationsliteraturen in der Subversion westlicher Hegemonie und der Aufdeckung der Hybridität Bezug (und verleiht dabei der Position des Dazwischen eine positive Bedeutung): »The migrant culture of the ›in-between‹, the minority position, dramatizes the activity of culture’s untranslatability ; and in so doing, it moves the question of culture’s appropriation beyond the assimilationist’s dream, or the racist’s nightmare, of a ›full transmissal of subject matter‹; and towards an encounter with the ambivalent process of splitting and hybridity that marks the identification with culture’s difference« (Bhabha 2004: 321, zitiert nach: Sievers 2012: 219). Ottmar Ette verweist auf die Zwischenposition in dem Terminus ZwischenWeltenSchreiben ebenfalls in einem ähnlichen Sinn: Er bezeichnet damit die »plural zu verstehenden Literaturen ohne festen Wohnsitz«, die »die Opposition zwischen National- und Weltliteratur« durchkreuzen, »weder in Kategorien wie ›Nationalliteratur‹ oder ›Migrationsliteratur‹« adäquat beschrieben werden können und von Dynamiken »im Zeichen eines ständigen und unabschließbaren Springens zwischen Orten und Zeiten, Gesellschaften und Kulturen« getrieben werden (Ette 2005: 14). 20 Vgl. hierzu Franco Biondi zu dem von ihm eingeführten Begriff der Gastarbeiterliteratur : »Damals waren wir sehr mit Affekten geladen. Ich auch. Und uns hat wütend gemacht, wie wir stigmatisiert wurden, wie wir immer wieder in eine besondere Ecke gesteckt wurden. Wir waren so gutgläubig und leichtsinnig und haben gedacht, wir könnten in der Lage sein, diese Begriffe ›Gastarbeiter‹, ›Gastarbeiterliteratur‹ ins Gegenteil zu wenden, als Möglichkeit, die Gesellschaft anzugreifen und zu zeigen ›Wir sind da‹. So blauäugig wie wir waren, haben wir nicht gemerkt, dass wir ein neues Ghetto geschaffen haben. Erst im Nachhinein hat sich das gezeigt. Heute würde ich ihn nicht mehr benutzen« (Biondi 2009: 10). 21 Zum Zusammenhang zwischen dem Postkolonialismusdiskurs und dem Begriff der »Postmigration« vgl. u. a. Yildiz et al. 2015.
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mehr die »Bereicherung« des Deutschen durch das Zugewanderte, sondern die »Verwandlung« der beiden in einem Schwellen- oder Interaktionsraum, in dem keine hierarchischen Polaritäten festzusetzen sind,22 ähnlich dazu, wie es Harald Weinrich über die »Sprachwandler im Namen Chamissos« beschrieb: Die Autoren, die ich meine, sind ja aus ihrem vorgezeichneten »Lebenswandel« herausgeworfen und suchen sich einen neuen, der ihnen eigen ist, und sie müssen dafür einen Sprachwandel erst einmal selber durchmachen. Die Autoren haben sich selbst gewandelt, indem sie in eine fremde Sprache gegangen sind, und sie haben da die deutsche Sprache ver-wandelt. (Weinrich 2014: 21)
In umgekehrter Richtung lässt es sich sogar von einer ähnlich transformativen Auswirkung der Sprachlichkeit der Chamisso-AutorInnen auf die Literatur der Herkunftsländer sprechen und die Idee der »Bereicherung« enthält im Kontext dieses transnationalen Potenzials der Verfremdung auch eine neue Bedeutung. Diese beschreibt P8ter Esterh#zy anhand der deutschsprachigen Literatur ungarischsprachiger Autorinnen etwas pointiert wie folgt: Die ungarische Literatur oder das geistige Leben in Ungarn hat es noch nicht begriffen, wie viel diesen Schriftstellerinnen zu verdanken ist. Sie vermögen nämlich einen uns bekannten Gegenstand auf eine uns unbekannte Weise zu betrachten – was (von diesem ungarischen Gesichtspunkt her gesehen) besonders aufregend, ja, lehrreich genannt werden kann. Eigentlich müßte ein Gegen-Chamissopreis gegründet werden, oder eher ein verkehrter Chamisso-Preis, der Ossimach-Preis, der also nicht denen zukommen sollte, die zu uns gekommen sind und uns in dieser Weise bereichern, sondern denen, die von uns weggegangen sind und uns doch bereichern können. (Esterh#zy 2006: 5f.)
Die Fokussierung auf die Sprache(n) bzw. Sprachlichkeit der Literatur bei gleichzeitiger Beachtung ihres (Ver-) Wandelns, ihrer Verflechtungen mit hierarchischen Oppositionen und Herrschaftsverhältnissen, ihres Produktions- und Rezeptionskontextes und ihres subversiven Potenzials ist auch Gegenstand der Reflexionen Gilles Deleuze’ und F8lix Guattaris auf »mindere« oder »kleine« Literaturen (litt8rature mineure), die sie aufgrund von Kafkas unvollendetem Aufsatz über »kleine« Literaturen entwickelten (Deleuze; Guattari 1976). »Kleine Literatur« in ihrem Sinn (zusammen mit den – ebenfalls von Deleuze und Guattari geprägten – Begriffen des Rhizoms und des Nomadentums) ist mittlerweile auch in der deutschen Forschung zu einem verbreiteten, aber auch 22 Vgl. hierzu Bhabha: »Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen Identitätsbestimmungen wird zum Prozess symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstruiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt« (Bhabha 2010: 5).
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problematisierten23 Schlüsselbegriff der Diskussion um die Literaturen eingewanderter AutorInnen geworden (Weigel 1992, Adelson 2005, Amodeo 1996, 2009, Heero 2009, Aydemir ; Rotas 2008). Eine »kleine Literatur« ist nach Deleuze und Guattari »nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient« (Deleuze; Guattari 1976: 24) und definiert sich über drei konstitutive Merkmale: »Deterritorialisierung der Sprache, Kopplung des Individuellen ans unmittelbar Politische, kollektive Aussageverkettung« (Deleuze; Guattari 1976: 27). Zwar schafft das Konzept der kleinen Literaturen erneut eine separate Kategorie, diese bezeichnet jedoch gerade eine Literatur, die hegemoniale Ansprüche, homogenisierende Kategorisierungen und dichotomische Trennungen (so auch die Hierarchie zwischen »Nationalliteratur« und »Migrationsliteratur«) hinterfragt und dabei nicht mehr nur als politischer, sondern auch in erster Linie als poetischer Akt wahrgenommen wird. Ähnlich verfahren postkoloniale Konzeptionen, die mittlerweile Einzug in die Germanistik und auch in den Diskurs um die Chamisso-Literatur fanden,24 so u. a. im Ansatz einer kosmopolitischen Germanophonie (Meyer 2012 b) Die »germanophone Literatur« – darunter auch Texte »monokultureller« AutorInnen – soll in diesem Zusammenhang auf »postkolonialistische Strukturen« hin befragt werden, wodurch einerseits »essentialistische Prämissen kulturalistischer Konzeptionen« (Meyer 2012 a: 6) zugunsten der Begrifflichkeit der postcolonial studies (wie writing back und Hybridisierung) verabschiedet und andererseits aktuelle Migrationsphänomene und die Problematik der Vergangenheitsbewältigung aufeinander bezogen werden (wie bei Adelsons Analyse der Verflechtungen sich berührender Narrative – touching tales, Adelson 2005 – deutscher, jüdischer und türkischer Verfolgung und Vernichtung): Gerade Deutschland […] entwickelte im Zweiten Weltkrieg mit der Eroberung und Besiedelung ausgedehnter Gebieten im Osten Europas, gekoppelt mit der systematischen Deportation und Ausrottung der Juden und der Sinti und Roma, eine besonders radikale und perverse Abart der Kolonisation. Die unilateralen Anwerbeankommen, die die Bundesrepublik […] mit einer Reihe von verarmten Mittelmeerländern schloss, waren der Auftakt zu einem staatlich gesteuerten, an den Bedürfnissen des heimischen 23 Zur Kritik des Terminus im Kontext der deutschsprachigen Migrationsliteratur vgl. Meyer 2012: »Nun stößt das Konzept der ›kleinen Literatur‹ bei zunehmender Durchlässigkeit der Trennungslinie zwischen Dominanz- und Minderheitenkultur im Zeitalter der Globalisierung an seine Grenzen. Der vom Gegensatz Zentrum vs. Peripherie her entwickelte Begriff wird den neuen Formen von Plurikulturalität nicht gerecht. Für Schriftsteller ab der zweiten Einwanderungsgeneration ist er ebensowenig zu gebrauchen, wie für die immer zahlreicheren Künstler mit untypischen Einzelschicksalen« (Meyer 2012 a: 17). 24 Vgl. die Beiträge in Dürbeck 2014, Purtschert 2013, Fachinger 2001, Osthues 2017 sowie Steyerl; Rodr&guez 2003. Zur Kritik einiger Ansätze der »postkolonialen Germanistik« vgl. u. a. Adelson 2005, insb. S. 176f.
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Arbeitsmarktes orientierten Einwanderungsprozess, auf den die deutsche Bevölkerung denkbar schlecht vorbereitet war. Vor diesem Hintergrund konnte sich das Verhältnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu ihren »Gastarbeitern« kaum in unbefangener Weise entwickeln. […] Insofern kann die Arbeitsmigrationspolitik der Bundesrepublik, wie der Kulturwissenschaftler Kien Nghi Ha feststellt, als eine Form von ›innerer Kolonisierung‹ betrachtet werden. (Meyer 2012 a: 13)
Wie anhand der behandelten Diskussion um die »Ankunft« der Chamisso-AutorInnen in der deutschen Literatur die Grenzziehungen zwischen Sprachen und Kulturen innerhalb dieser verortet und problematisiert wurden, so ist auch die dichotome Trennung zwischen Geschichte(n), Gegenwart und Raum »Deutscher« und »Zugewanderter« zu überdenken – was in jüngster Zeit nicht nur im enorm ausufernden Diskurs über die »Migrationsliteratur«, sondern auch in Diskussionen um Erinnerungskulturen in einem durch die Herausforderungen der Massenmigration gespaltenen Europa in Blick genommen wurde. In diesen letzteren Reflexionen werden die komplexen Verflechtungen zwischen Migrationserfahrungen (sei es in Gestalt von Flucht, Vertreibung und Deportation oder im Sinne der Freizügigkeit als europäische Errungenschaft) und erinnerungskulturellen Herausforderungen (wie etwa der Umgang mit traumatischen Vergangenheiten oder die Konstitution einer transnationalen Erinnerungsgemeinschaft) fokussiert.
»Thickening« places, immigrating into the past: Raum und Zeit der »Chamisso-Literatur« und der postmigrantischen deutschen Erinnerungskultur Während der Fremde laut der vielzitierten Aussage Alfred Schütz’ ein »Mann ohne Geschichte« (Schütz 2011 [1972]: 65) ist und das Abkoppeln von der Vergangenheit in klassischen Einwanderungsländern (wie in den Vereinigten Staaten) als Grundlage der erfolgreichen Einbürgerung fungiert, kam es auf diesem Gebiet zu radikalen Verschiebungen in Richtung des Festhaltens an Erinnerungen. Diese wurden insbesondere in der deutschen Migrationsgesellschaft sichtbar, und zwar im Kontext der Frage, ob oder wie Einwanderer die Last einer verbrecherischen Vergangenheit übernehmen und das negative deutsche Gedächtnis (Koselleck) antreten (sollen). Mittlerweile liegen eine Reihe von Untersuchungen zu Geschichtsbezügen und Erinnerungsorten jüngerer Einwanderergenerationen vor, die vom Ausschluss des Migrationsdiskurses aus dem deutschen Erinnerungsdiskurs ausgehend deutsche Zeitgeschichte als Migrationsgeschichte analysieren (Motte-Ohliger 2004), für die Involvierung der (Erinnerungen der) Einwanderer in die deutsche Erinnerungskultur durch
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die Pluralisierung und »Ent-Ethnisierung« der normativen, auf Schuld gegründeten nationalen Erinnerungspädagogik plädieren (Welzer 2012), oder die Zugehörigkeitskonstruktionen und die Auseinandersetzung junger MigrantInnen mit der Holocausterinnerung untersuchen (Georgi 2003). Grundsätzlich hinterfragt bzw. kritisch reflektiert wurde dabei die »Ethnisierung« des nationalen Gedächtnisses im Sinne des Historikers Dan Diner : »Als deutsch gilt, wer seine Zugehörigkeit zur Nation durch eine Abkehr von der Nazi-Vergangenheit definiert. Ein deutscher Bürger türkischer Herkunft […] kann in das gemeinsame ›Wir‹ mit Verweis auf die kontaminierte Vergangenheit nicht einsteigen« (Diner 1998: 303). Ausgehend von der problematischen Grenzziehung zwischen den »minoritized and marginalized subjects« der Migration (Rothberg 2014: 137) und dem aufgrund eines »monocultural, nation-based understandings of ethnic belonging« (ebd.) konstruierten Subjekt des Deutschen diagnostiziert der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Rothberg im Kontext des Vergangenheitsbezugs (bzw. der Kluft zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsdebatten im vereinigten Deutschland) zwei ähnliche soziale »Logiken« (eigentlich Paradoxa): Two dominant social logics in unified Germany regulate who inherits the past and what rights and responsibilities accompany that inheritance: a German paradox, in which ensuring responsibility for the crimes of the recent past seems to require preservation of an ethnically homogeneous notion of German identity, even though that very notion of ethnicity was one of the sources of those crimes; and a migrant double bind, in which migrants are simultaneously told that the Holocaust is not part of their history because they are not »ethnically« German and then castigated as unintegratable for their alleged indifference to Holocaust remembrance. (Rothberg 2014: 137)
Da Deutschland gleichzeitig ein postmigratorisches und ein Post-HolocaustDeutschland ist (ebd.: 142), stellt sich für Rothberg in Anlehnung an S¸enocaks Reflexionen die Frage nach der Verknüpfung von Aufarbeitung und Arbeitsmigration: »Heißt in Deutschland einzuwandern nicht auch, in die jüngste deutsche Vergangenheit einzuwandern?« (S¸enocak 1993: 16, zitiert nach Rothberg 2014: 124).25 Rothberg schlägt als Antwort auf die Frage und als Ausweg aus den beiden obigen Paradoxa, in Anlehnung an seinen noch zu zitierenden Ansatz des multidirectional memory und die Ethik einer transnationalen Erinnerung, vor,26 25 Diesbezüglich liegen wichtige Ergebnisse geschichtswissenschaftlicher bzw. soziologischer Untersuchungen zum Geschichtsbild junger MigrantInnen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft vor: Viola Georgi kommt in ihrer umfangreichen Studie zum Schluss, dass das Grundnarrativ des Nationalsozialismus für zugewanderte Jugendliche als Folie für ihre eigenen Inklusions- und Exklusionserfahrungen dient (Georgi 2003). Vgl. hierzu auch die einschlägigen Untersuchungen von Motte; Ohliger 2004. 26 Rothberg zitiert hierzu S¸enocak: »It is time to connect German dealings with the National Socialist past and the questions of today. Not because sixty years of coming to terms would be
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die Auswirkungen der demografischen Veränderungen (d. h. der Migration) auf die Verschränkung und Interaktion von Geschichte und Gedächtnis bzw. von nationalen, lokalen und transnationalen Gedächtnisschichten (scales) zu untersuchen und in diesem Licht deutsche Identität und die »Dynamik der Erinnerung« neu zu definieren: [C]onsidering under-explored migrant engagements with the Holocaust and the National Socialist past allows us to demonstrate that German memory cultures can open themselves to a redefinition of German identity that takes into account the fundamental demographic transformations and transnational flows of the postwar period without jeopardizing German responsibility for the Holocaust. (Rothberg 2014: 126)
Der dem »deutschen Paradoxon« zugrunde liegende ethnische Charakter des nationalen Gedächtnisses wird von Aleida Assmann im Namen einer »opferorientierte[n] und menschenrechtsbasierte[n] Erinnerungskultur« (Assmann 2013: 129) kritisiert, die das Schuldnarrativ ablöst und einen universalistischethischen Anspruch besitzt.27 Der nach den beiden Weltkriegen einsetzende Diskurs um Menschenrechte und Menschenpflichten bzw. um eine »Solidargemeinschaft Europa« gewann im Kontext der Massenflucht um das Jahr 2015 eine neue Virulenz: Die Erinnerung an das Leid in aktuellen Krisen- und Kriegsregionen wurde als »ethischer Imperativ« und als »Gegenmittel« gegen die Entwicklung in Richtung exklusiver Gruppenbildungen postuliert (Assmann 2017: 55).28 Die Diskussion um eine auf universellen ethischen Prämissen beruhende enough, but rather because remembering must today become again an experience that – beyond the rituals of German Vergangenheitsbewältigung (mastering the past) – also reaches young people and can effect an important corrective against romanticizing and archaic imaginations of identity« (S¸enocak 2006: 144, zitiert nach Rothberg 2014: 124). 27 Der Eintritt in eine »ethische Erinnerungskultur« geht nach Assmann auch mit universellen Verpflichtungen für die Zukunft einher – die Vergangenheit wird zum Gegenstand der »selbstreflexiven Prävention« (Assmann 2013: 123), denn »Antisemitismus und Rassismus sind eine europäische Gefahr, gegen die die Holocaust-Erinnerung als Immunisierungsstrategie aufgeboten wird« (ebd.). Die ethische Erinnerungskultur ist menschenrechtsbasiert und opferorientiert, sie beruht auf Empathie und der »kritische[n] Auseinandersetzung mit Verbrechen aus der Sicht der Opfer«, womit die »zu Opfern gemachten Menschen […] zugleich ihren Subjektstatus zurückerobern und festigen« (Assmann 2013: 108), und entstand – der Idee der Europäischen Union ähnlich – als Antwort auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, »aus der Affirmation jener Werte, die verletzt worden sind« (Assmann 2017: 16). Vgl. hierzu die Position Avishai Margalits: In seiner Abhandlung über moralische und ethische Erinnerungsgemeinschaften, über Schlüsselfragen des adäquaten Gedenkens und der Ethik der Erinnerung betrachtet Avishai die Erinnerung (an historische Gräuel) als Verpflichtung des Menschen gegenüber Menschen (Margalit 2004: 9). 28 Der Krisendiskurs erwies sich ferner auch dieses Mal als konstitutiv für eine transnationale europäische Gemeinschaft – 2015 hieß das Gebot der Stunde, so Assmann, die Stärkung Europas als einer »auf humane Prinzipien gegründeten Solidargemeinschaft«, die zum Anziehungspunkt für Flüchtlinge geworden ist, die gerade diese Güter verloren haben (Assmann 2017: 17). In diesem Sinn ist die Herausforderung der Massenmigration als Pendant oder Teil der Bewältigung europäischer Gewaltgeschichte zu deuten: Während der
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europäische Erinnerungsgemeinschaft verschränkte sich nicht nur mit der Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, sondern sie ging auch immer wieder – nach 1945, nach 1989 bzw. nach der Osterweiterung der EU und auch während der aktuellen Migrationsdebatte – mit der diskursiven Konstruktion Osteuropas einher : Im Diskurs über eine Asymmetrie zwischen »monologischen« nationalen Erinnerungen und einer »dialogischen« europäischen Erinnerungskultur wurde beispielsweise auf den unterschiedlichen Stellenwert der totalitären Vergangenheiten (des Nationalsozialismus und des Stalinismus) in den west- und osteuropäischen Erinnerungskonstruktionen hingewiesen, d. h. auf die vermeintliche Trivialisierung der osteuropäischen Diktaturerfahrung in Westeuropa oder auf die Diskrepanz zwischen dem oft für vorbildlich erklärten »Tätergedächtnis« der Deutschen und der für die postsowjetischen Nationen charakteristischen Selbstviktimisierung.29 Die Erinnerung an traumatische Gewalterfahrungen überwundener Unrechtsstaaten in osteuropäischen Nationen wurde auch im Kontext der als »europäische Flüchtlingskrise ab 2015« apostrophierten Migrationsprozesse problematisiert, und zwar einerseits in Bezug auf das Leitbild der Solidargemeinschaft Europas und andererseits im Kontrast mit »westlichen« universalistischen Werten und Pflichten. Während hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den zwei Diktaturen die Dominanz des Opfernarrativs bzw. der Opferhierarchie als allgemeines Merkmal postsowjetischer Erinnerungskulturen homogenisierend beschrieben wurde (etwa bei Assmann 2013: 142–180), ist angesichts der Flüchtlingspolitik osteuropäischer Staaten (d. h. ihrer Kritik an der Verteilungsquote der Asylbewerber) in vielen Schlagzeilen und emotional aufgeladenen Debatten von einer Bedrohung des (west-)europäischen Wertekanons und von der »Undankbarkeit« osteuropäiHolocaust als »negativer Gründungsmythos« Europas (Leggewie 2016) zur universalen »Pflichterinnerung« avancierte, entzünden sich gegenwärtig Diskussionen um die aktuelle Massenflucht (und die demografischen Wandlungen) über die Leitbilder, die Grenzen und die Positionierung Europas gegenüber seinen gespaltenen Gesellschaften und den Geflüchteten bzw. der globalisierten Welt, d. h. über einen »neuen Gesellschaftsvertrag« und »neue Verwandlung« Europas (ebd.). 29 Vgl. hierzu Assmann: »Die Konstellation der Europäischen Union bietet einen einmaligen Rahmen für die Transformation von monologischen in dialogische Gedächtniskonstruktionen. […] Während die monologische Erinnerung die eigenen Leiden ins Zentrum stellt, nimmt die dialogische Erinnerung das den Nachbarn zugefügte Leid mit ins eigene Gedächtnis auf« (Assmann 2012 a: 58–59). Die kontroverse Diskussion um den Stellenwert diktatorischer Vergangenheiten im Geschichtsbild eines vereinten Europas wurde im Sinne von Bernd Faulenbachs vielzitierter Formel beendet, wonach die Erinnerung an den Stalinismus die Erinnerung an den Holocaust nicht relativieren und die Erinnerung an den Holocaust die Erinnerung an den Stalinismus nicht trivialisieren dürfe: »Eine Erinnerungskultur, die die stalinistische/kommunistische Opfererfahrung mit der Holocaust-Erinnerung verbindet, könnte das europäische Credo für Menschenrechte stärken und die Europäer vor Rückfällen in Gewaltverherrlichung und autokratische Strukturen schützen« (Assmann 2013: 114).
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scher Länder die Rede, häufig unter Verweis auf den Prager Frühling 1968 oder den Ungarnaufstand 1956 (und die damalige Aufnahme tschechoslowakischer und ungarischer Flüchtlinge – Liebhart 2017: 238).30 Über zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges und auch nach den EU-Erweiterungen 2004, 2007 und 2013 kommt es damit zu neuen Grenzziehungen – zwischen (Nord-) West und (Süd-) Ost – und Blockbildungen innerhalb Europas, die durch Homogenisierung und Nivellierung der Differenzen, durch Zuweisung stereotyper Merkmale auf die Länder hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang konstituiert werden. Für die Erschließung des Themenkomplexes »Migration und Erinnerung« erweist sich dieser Prozess als ein neues und produktives Terrain, das sich jenseits des ethischen Diskurses öffnet und mit ästhetischen Fragestellungen aufgegriffen werden kann. Die Multidirektionalität der Erinnerung in Migrationsgesellschaften zeigt sich für Rothberg in Veränderungen (bzw. in veränderten Konzeptionalisierungen) des locatedness der Migration und der Erinnerung. Er untersucht an migratory settings (Aydemir ; Rotas 2008) die transnationalen und transkulturellen Dimensionen eines thickening (ebd.) der deutschen Erinnerungskultur (konkret u. a. die Auseinandersetzungen von Frauen türkischer und arabischer Herkunft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Projekt »Neuköllner Stadtteilmütter«). Dabei beruft er sich auf Aydemirs und Rotas’ Konzept der multidirektionalen Verdichtung des kulturellen Settings im Migrationszeitalter : Our combined titular phrase [migratory settings], we propose, invites a shift in perspective from migration as movement from place to place to migration as installing movement within place. Migration not only takes place between places, but also has its effects on place, in place. In brief, we suggest a view on migration in which place is neither reified nor transcended, but »thickened« as it becomes the setting of the variegated memories, imaginations, dreams, fantasies, nightmares, anticipations, and idealizations that experiences of migration, of both migrants and native inhabitants, bring into contact with each other. Migration makes place overdetermined, turning it into the mise-en-sc8ne of different histories. (Aydemir; Rotas 2008: 7)
Während Rothberg die Verdichtungen und Interaktionen historischer Erinnerungen näher betrachtet und dabei literarische Texte (wie S¸enocaks Gefährliche 30 Vgl. u. a. folgende Beispiele aus der Tagespresse: Kokot 2015, Hebel; Weiland 2015, sowie die kritischen Analysen zum Thema in: Oltenau 2017. Das Othering des Ostens hat eine jahrhundertealte Tradition, die mit der seit dem Frühmittelalter bestehenden Grenzziehung zwischen »Europa occidentalis« und »Europa orientalis« anfängt (Liebhart 2017: 30). Zum analogen Prozess der Konstruktion des Balkans als »innerer Orient« Europas vgl. Todorova 1997. Larry Wolff verortet den Anfang des kulturellen Projektes der Konstruktion Osteuropas in der Philosophie der Aufklärung und stellt demzufolge fest, dass die kulturell konstruierte Teilung Europas in ein Ost und West auch nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Auflösung des Sowjetblocks fortdauert (Wolff 2003).
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Verwandtschaft) zu illustrativen Zwecken heranzieht, betonen Aydemir und Rotas – in Anlehnung an Mieke Bals Konzepte der wandernden Begriffe und der migratorischen Ästhetik – ausgesprochen die ästhetische Dimension der Verdichtung des Raumes, die Relevanz der »mutual implication of the aesthetic dimension of practices of migration and the migratory dimension of aesthetic processes« (ebd.: 8). Die dichotomischen Trennungen zwischen Orten (»migration as a movement from place to place« vs. »migration as installing movement within place«), zwischen Gedächtnis/Geschichte und Migration (»German paradox«, »migrant double bind«), zwischen Statik und Bewegung (implacement vs. Migration) oder zwischen »›real‹ political, social, and economic« und »fictional, staged, imagined, perceived, or aesthetic [scenery]« (Aydemir ; Rotas 2008: 7) werden damit aufgehoben: Migration erweist sich als Signifikat für eine Ankunftsbewegung, die Raum und Zeit gleichermaßen verdichtet (»Migration makes place overdetermined, turning it into the mise-en-sc8ne of different histories« – Aydemir ; Rotas 2008: 7). Die Erforschung der Dimensionen der »Gleichzeitigkeit« und »Gleichortlichkeit« postmigratorischer Erinnerungskulturen richtet sich damit per se auf die Ästhetik der Migration und ist wesensverwandt mit der Erforschung literarischer bzw. sprachlich-imaginativer Verdichtung: [M]igratory settings crucially indicate the spatial simultaneity of the histories and futures that various groups of natives and immigrants remember, project, and imagine. The prior anticipations of the new place of living by migrants, as well as their retrospective memories of the old place, become active parts of the new environment that they share with other inhabitants. […] [T]hese memories are, in fact, »acts of imagining« that produce cultural identifications that cannot be reduced to either place. At the same time, these actively imagined and reimagined memories become part of the place where they take place, enhancing and transforming it. (Aydemir; Rotas 2008: 20)
Da Erinnerung und Migrieren nicht nur beide anthropologische Konstanten sind, sondern auch gleichermaßen ästhetisch-medialer Repräsentation und Reflexion bedürfen (sie werden narrativiert, bebildert und durch ästhetische Strategien literarisch ausgehandelt, d. h. in ihrem gesamtgesellschaftlichen Kontext samt Inklusions- und Exklusionsmechanismen sichtbar gemacht), sind Migrationen und kulturelle Produkte nicht nur in einen thematischen Zusammenhang zu stellen, denn: [T]he relation between migration and aesthetics is not simply one of representation, in which the latter is simply a mode of representing the former. Beyond the question of how the multiple modern experiences of migration are represented in various art forms is the question of the impact of migration on artistic production and the category of the aesthetic. The formulation migratory aesthetics draws attention to the ways in which aesthetic practice might be constituted by and through acts of migration. (Durrant; Lord 2007: 11f.)
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Wie auch das Migratorische nicht (nur) als Forschungsobjekt, sondern als »gesellschaftsbewegende und gesellschaftsbildende Kraft« (Yildiz 2015: 21) fungiert, so ist auch die Kunst der Migration nicht akteurs- oder gegenstandsbezogen, sondern vielmehr aufgrund ihrer poetischen Gestaltungsweisen und ästhetischen Implikationen zu verstehen, ausgehend von der Prozesshaftigkeit und Unabgeschlossenheit der Bedeutungskonstitution, die ebenfalls auf die in Migrationsprozessen implizite Performativität zu beziehen ist.31 Die mit migratorischen Bewegungen verbundenen Transformationen und Grenzüberschreitungen (u. a. zwischen Eigenem und Fremdem, Sesshaftigkeit und Mobilität, Zentrum und Peripherie) besitzen nämlich unübersehbar ein ästhetischkünstleriches Potenzial. Die Hinterfragung des vermeintlich Eindeutigen, die Verunsicherung und Auflösung normativer Differenzierungen und Hegemonien, Verdichtung und Verfremdung, (sprachliche) Hybridisierung und Deterritorialisierung32 sind einerseits migratorische, andererseits auch ästhetische Praktiken bzw. Erfahrungen. Die migrantische Position erweist sich in diesem Licht als ursprünglich poetogen, und umgekehrt gilt: »aesthetics is by its very nature migratory« (Durrant; Lord 2007: 11). Da Kulturen anhaltend von Migrationsprozessen geprägt wurden und in ihrer Genese metaphorischer, d. h. migratorischer, Natur sind,33 ist auch die oben vorgestellte Diskussion um eine auf ethischen Prämissen beruhende, dialogische europäische Erinnerungskultur durch die Erschließung migrationsästhetischer Fragestellungen zu ergänzen, die sowohl die narrative Konstruktion von Erinnerungskulturen bestimmen als 31 Mieke Bals Terminologie und Konzepte zur migratorischen Ästhetik lassen sich auf die Performativität der Bedeutungskonstitution und der Identitätskonstruktion beziehen: »I would like to present the modifier [migratory, E.P.] as a constructive focus of an aesthetics that does not leave the viewer, spectator, or user of art aloof and shielded, autonomous and in charge of the aesthetic experience. If aesthetics is primarily an encounter in which the subject, body included, is engaged, that aesthetic encounter is migratory it takes place in the space of, on the basis of, and on the interface with, the mobility of people as a given, as central, and as at the heart of what matters in the contemporary, that is ›globalised‹ world« (Bal 2007: 23f.). 32 Zur Deterritorialisierung als poetologisches Programm vgl. Ter8zia Mora: »Deterritorialisierung, habe ich gelernt, sagen die Gelehrten dazu, was Kunst macht. Die Welt, unser Material, aus seinen floskelhaften Zusammenhängen herauslösen – sie aus den Angeln heben, jawohl –, sie in ihre Elementarteilchen zerlegen – und was ein Elementarteilchen ist, bestimme ich! – sie zerfasern, sie denaturieren, sie zum Schmelzen bringen, und dann etwas von einer neuen Konsistenz, von einer anderen Kohärenz, Kohäsion, Viskosität, Logik, Hermeneutik, Ästhetik, Schlüssigkeit, Geschlossenheit, Korrektheit und Gültigkeit daraus kreieren – und es dadurch sichtbar machen« (Mora 2007 a: 10). 33 Mieke Bal verbindet die Semantik des Migrationsbegriffes mit Implikationen der etymologischen Bedeutungen des Wortes »Metapher« (Übertragung, d. h. Mobilität, Ungewissheit und Multitemporalität): »Thus, migration becomes a double movement, a double metaphor : of transport, hence of instability – the first movement; and subsequent productive tensions – the second movement. Every culture has the aesthetics it deserves; contemporary culture, we contend, has therefore a ›migratory aesthetics‹« (Bal 2011: 12).
Zur Kritik des Diskurses um die »literarische Osterweiterung«
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auch auf die im Meta-Narrativ der Migration oder auf die in Wandlungen und Wanderungen von Konzepten, Theorien, Zugehörigkeiten und Bedeutungen sich zeigende Dynamik und Multidimensionalität allgegenwärtiger Bewegungsfiguren verweisen.
Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration. Zur Kritik des Diskurses um die »literarische Osterweiterung« in postmigrantischer Perspektive Die nicht themen- und gegenstandsbezogene Untersuchung des migratorischen Schreibens sowie die Erforschung postmigrantischer Literaturen und ihrer ästhetischen Dynamik eröffnet ein durchaus produktives Terrain für die in der postmigrantischen Kritik in jüngster Zeit anvisierte Kultur- und Gesellschaftsforschung jenseits ethnischer Grenzen und binärer Logiken: Literatur erlaubt nämlich (und zwar unabhängig von der Biografie der AutorInnen), nicht über, sondern aus der Sicht der migrierten Subjekte zu sprechen. Der postmigrantische Ansatz fasst Migration nicht als historischen Sonderfall, sondern als gesellschaftsprägende Normalität, nicht als Gegenstand, sondern als Ausgangspunkt der Kultur- und Gesellschaftsforschung auf (Foroutan et al. 2018, Yildiz et al. 2015): Um die »Migrantologie«, d. h. die »methodologische Ethnizität« – die Naturalisierung ethnischer Zugehörigkeitskategorien –, der empirischen Migrationsforschung zu vermeiden, schlägt Regina Römhild vor, nicht über MigrantInnen als Forschungsobjekte, sondern von MigrantInnen ausgehend über den Alltag und die Kultur als diskursive Praxis kritisch nachzudenken (Römhild 2014: 38–39). Postmigrantische Erzählgemeinschaften lassen sich analysieren und begreifen, wenn erstens die Kanonisierung postmigrantischer AutorInnen bzw. die fortschreitendende Grenzverwischung zwischen »National«- und »Migrationsliteratur« als Rezeptionskontext der »Chamisso-Literatur«, zweitens das subversive Potenzial literarischer Texte bzw. kultureller Produkte hinsichtlich essenzialistisch definierter und exkludierender Normen und Identitätszuordnungen und drittens die Analogie migrationsbezogener und ästhetischer Verfahren und Erfahrungen – wie z. B. Verdichtung, d. h. Komplexitätssteigerung der Zeit und des Raumes (Heterochronie, displacement) – in ihrem Zusammenhang berücksichtigt werden. Die Analyse der multidirektionalen Verdichtung des kulturellen Settings im Migrationszeitalter lässt sich mit zentralen narratologischen Kategorien und Fragen z. B. nach raumzeitlichen Beziehungen innerhalb der Diegese verknüpfen: Relevant und produktiv werden diese, in Rothbergs, Aydemirs und Rotas’ Ansätzen thematisierten und theoretisierten Verknüpfungen und Grenzverwi-
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Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration
schungen nicht nur bei der Analyse der Erinnerungstopografien und Geschichtspolitik bzw. bei der Bekämpfung von Erinnerungskonkurrenzen, sondern auch als Analysekategorien der migratorischen Ästhetik literarischer Texte, beispielsweise in den Arbeiten Leslie A. Adelsons zur »türkischen Wende« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Adelson 2004, 2005). Die als inflationär beklagte Rhetorik der turns soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Phänomen der »osteuropäischen Wende« weder auf einen Paradigmenwechsel verweist noch eine quantitative Erweiterung des wissenschaftlichen Blickwinkels beinhaltet. Wenn Adelson von einer »türkischen Wende« der Gegenwartsliteratur spricht, liest sie »deutschsprachige literarische Texte türkischer Prägung der jüngsten Vergangenheit als Wende-Literatur im konventionellen Sinne […], d. h. ›als eine privilegierte Sphäre der Reflexion‹ […] auf die kulturellen Auswirkungen nationaler Vereinigung« (Adelson 2004: 53). Sie verbindet dabei die »Ost-West-Koordinaten der inneren deutschen Teilung« mit »Ost-West-Koordinaten, die eine vermeintliche orientalische Präsenz (›das Türkische‹) auf ein vermeintlich okzidentalisches Deutschland (die Berliner Republik) projizieren« (ebd.).34 Bei der Analyse »türkische[r] Momente deutscher Erinnerung« (ebd.) bezieht sie – Rothberg nicht unähnlich – migrationsbedingte und erinnerungskulturell relevante Kontakte und Umwandlungen (die Verflechtungen von Geschichte, Erinnerung, Migration und Literatur) aufeinander. Ähnlich verfährt sie auch in ihren Auseinandersetzungen mit den sich berührenden Narrativen (touching tales) deutsch-türkischer und deutschjüdischer Geschichten (»[w]hen figural Turks and Jews make contact in German narratives alluding to stories of victimization and genocide, these narratives become ›touching tales‹ of Turks, Germans and Jews« – Adelson 2005: 86). Mit 34 Vgl. hierzu Adelsons Fragestellung im Detail: »1) Wenn eine Anbindung an Identität als analytische Kategorie gelockert wird, entstehen zunächst neue Fragen über kulturelle Kontakte in literarischen Texten. Was ermöglicht eigentlich Kontakt in einem literarischen Text und was für eine kulturelle Funktion hat dieser Kontakt? 2) Wenn die zur Debatte stehende Literatur sich grundlegend auf Umwandlung bezieht, wie genau fördert dann ein literarischer Text das Entstehen von etwas Neuem im ersten Jahrzehnt der Vereinigung? 3) Wenn sich neue Subjekte der deutschen Geschichte auf Grund eines sich verwandelnden und aktiv imaginierten Engagements mit der deutschen Vergangenheit, Gegenwart und einer möglichen Zukunft teilweise konstituieren, zu was für einer Subjektwerdung steuert diese neue Literatur bei und wie? 4) Die Ost-West Koordinaten der inneren deutschen Teilung des kalten Krieges werden durch Ost-West Koordinaten, die eine vermeintliche orientalische Präsenz (›das Türkische‹) auf ein vermeintlich okzidentalisches Deutschland (die Berliner Republik) projizieren, kompliziert. […] Da diese in Bewegung geratenden Konstellationen von deutscher Erinnerungskultur zu Wegkreuzungen werden, an denen sich all diese Fragen treffen, sind die türkischen Momente deutscher Erinnerung in dem ersten Jahrzehnt der Vereinigung ein fruchtbarer Boden zum Weiterforschen« (Adelson 2004: 53). In der monografischen Beantwortung dieser Fragen untersucht Adelson »the structural function of ›Jewish‹ references in the literature of Turkish migration« (Adelson 2005: 86).
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der Erschließung des »Eastern turn« der deutschen Literatur würde Adelsons Problematisierung der Verschiebungen in der Semantik der Ost-West-Koordinaten infolge der deutschen Wiedervereinigung und der türkischen Migration mit der Migrationswelle aus Osteuropa35 ergänzt, welche die deutsche Erinnerungskultur längst vor der Wende und der Osterweiterung der Europäischen Union prägte. Das Geflecht der deutsch-jüdisch-türkischen touching tales und Verfolgungsgeschichten wäre damit auch zu ergänzen um die traumatischen historischen Erfahrungen Osteuropas, wie die Verbrechen im Gulag, den Zusammenbruch des Ostblocks oder die Balkankriege, die wie oben ausgeführt, inzwischen als traumatische »Pflichterinnerungen« einer transnationalen europäischen Erinnerungsgemeinschaft dem Holocaustgedächtnis ähnlich theoretisiert wurden. Trotz der anhaltenden Konjunktur dieses Diskurses um die Weiterentwicklung der memory studies zu einer transnationalen Erinnerungsforschung sich dynamisch wandelnder Erinnerungsräume und deren travelling memories, m8moire crois8e oder entangled history36 gibt es im Kontext der Grenzgängergeschichten zwischen Osteuropa und dem deutschsprachigen Raum jedoch lediglich nur die ersten Ansätze (Bürger-Koftis 2008, Cornejo et al. 2014, Zinggeler 2015) zu einer Neupositionierung der traditionellen Komparatistik in Form der Fokussierung auf Figuren des Transnationalen und auf die Ästhetik der Grenzüberschreitung. Die Fokussierung auf die touching tales oder multidirectional memories der thickened places der postmigratorischen deutschen Erinnerungslandschaft soll, so der soeben erläuterte Ausgangspunkt vorliegender Ausführungen, von der strukturellen Analogie ästhetischer und migrationsbedingter Erfahrungen (wie Verfremdung, Verdichtung, Deterritorialisierung und Hybridisierung) ausgehend die migratorische Ästhetik – die fundamental migratorischen Eigenschaften der Sprache, des Subjektes und der Bedeutungs- und Identitätskonstitution – reflektieren. Die bisweilen unter unscharfer und diffuser Begrifflichkeit geführte Diskussion um den »Eastern turn« wird bis dato von denselben Spannungen zwischen auf poetische Strategien bezogenen Zugängen und auf die AutorInnenbiografie gerichteten bzw. thematisch orientierten Ansätzen bestimmt wie auch der Diskurs um die sogenannte Chamisso-Literatur, der durch die Ambivalenz zwischen der Erarbeitung einer Kategorie (der Produktion eines Textkorpus) und der gleichzeitigen Feststellung der Unhaltbarkeit einer eindeutig-strikten Kategorisierung geprägt wird.
35 Zur differenzierten Behandlung osteuropäischer Gesellschaften vgl. Haines 2007: 217; zum Begriff »Eastern European Memory« vgl. Zinggeler 2015; zur Grenzziehung zwischen Ost-, West- und Mitteleuropa als Erinnerungsorten vgl. Le Rider 2008. 36 Vgl. Werner ; Zimmermann 2006, Cs#ky 2004 und Erll 2011.
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Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration
Aufgrund der hohen Zahl der Chamisso-Preisträger ungarischer Herkunft (L#szlj Csiba und György Dalos 1995, Ter8zia Mora 1999, Ilma Rakusa 2003, Zsuzsa B#nk 2004, Zsuzsanna Gahse 2006, L8da Forgj 2008, ]kos Doma 2010) spricht beispielsweise Ren8 Kegelmann von einer »Teilkanonisierung« dieses Stranges der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Kegelmann 2010 a: 13). Kegelmann grenzt das Korpus der Werke deutschsprachiger AutorInnen ungarischer Herkunft von der »türkische[n], griechische[n] oder italienischen Gastarbeiter- und Migrantenliteratur« aufgrund einer (»österreichisch-ungarischen«) Tradition der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität (ebd.: 24) ab, um festzustellen, dass diese AutorInnen »als Gruppenphänomen nicht so beschreibbar« (ebd.) sind. Irmgard Ackermann konstatiert ebenfalls eine »Osterweiterung« des Chamisso-Preises (Ackermann 2008: 18) und stellt die unter diesem Aspekt relevanten AutorInnen und Werke in einem bio-bibliografischen Anhang zusammen (Ackermann 2008 a). Nach Ackermann macht sich zwar in literarischen Texten und in der literarischen Szene eine neue Entwicklung bemerkbar, die sie Osterweiterung nennt (»Autoren aus Ost- und Südosteuropa wandern in die deutschsprachige Literatur ein, indem sie die deutsche Sprache zum Medium ihrer literarischen Kreativität machen« – Ackermann 2008: 13). Gleichzeitig stellt sie aber auch fest, dass »diese literarische Osterweiterung nicht erst mit der politischen Osterweiterung eingesetzt hat, sondern einen viel größeren Zeitraum umspannt und darum zeitlich nicht eindeutig fixierbar ist« (ebd.: 13f.). Dementsprechend untersucht sie den österreichisch-ungarischen und den deutsch-tschechischen Prager Kulturraum als »historische[n] Hintergrund« der Gesamtszene, in welcher sie die »jüngeren Ostautoren« verortet (ebd.). Brigid Haines, die den Terminus »Eastern turn« konzeptionell begründete (Haines 2008), präsentiert ausgehend von der besonders großen Anzahl von AutorInnen mit osteuropäischem Hintergrund einen reflektiert provisorischen und generalisierenden Merkmalskatalog ihrer Literatur – sie unterscheidet fünf Ähnlichkeiten (»common scenarios«) in Form, Inhalt und Rezeption dieser Texte. Diese seien »lived reality of communist rule […] the alienating experience of migration westwards; the disillusionment with life […] in the early 1990s; the shocking conflicts in former Yugoslavia […] and the disorientation of life in post-Cold War Europe today« (Haines 2008: 139). Sie fügt u. a. hinzu, dass diese Texte im Allgemeinen die Geschichte des ehemaligen Ostblocks als eine Erinnerungsgemeinschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts reflektieren (zumeist in verständlicher Prosa) und in dem Sinn westlichen Ansprüchen entgegenkommen, dass sie über den neu zugänglichen »blinden Fleck« Osteuropa aufzuklären vermögen.37 Andererseits kommt Haines aber auch zum 37 Die gemeinten Texte reflektieren nach Haines »collectively […] the recent shared history of the eastern bloc […] from the end of the Second World War until 1989«, sie projizieren »a
Zur Kritik des Diskurses um die »literarische Osterweiterung«
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Schluss, dass diese Literatur resistent ist gegenüber eingrenzenden kollektiven Etikettierungen und Einkapselungen auf der Ebene sprachlicher, historischer oder nationaler Kategorien: [T]his new body of German-language prose literature has a transitory unity deriving from its […] thematic concern with the communist period in the eastern bloc, and its aftermath. Yet in all other ways […] these texts resist containment and collective treatment, and indeed overlap and intersect productively with, other kinds of contemporary literature, in German or otherwise. (ebd.: 137f.)38
Die Emergenz der (deutschsprachigen) Literatur der bzw. nach der osteuropäischen Wende forderte, wie wir gesehen haben, die Hierarchisierung zwischen bzw. die Modelle von »Nationalliteraturen« und den »anderen« Literaturen heraus und sie inspirierte jenseits ihrer ausschließenden Logik neue Kategorisierungen und Konzeptionalisierungen. Gleichzeitig erwiesen sich aber gerade diese Klassifikationsstrukturen als uneindeutig und letztendlich als unnötig – wie das auch bei der Aufhebung dichotomischer Trennungen (zwischen Eigenem und Fremdem/Muttersprache und Fremdsprache usw.) der Fall war, im behandelten Kontext der Verdichtung des Raumes und der Zeit infolge transnationaler Migration und auch als Merkmal einer allgemeinen Poetizität des Schreibens. Mit Haines’ Worten heißt es: [T]he Eastern European turn does not simply denote a wave of new immigrant writers, though there has been such a wave and it has made a huge impact, but designates also a conceptual stocktaking of the present, post-»Wende« European moment from a variety collective subject, a ›we‹ formed by experience in the eastern bloc and united by memories of that time« und sie sind »timely in terms of the openness of a German, Austrian and Swiss readership to the perceived exoticism of foreign locations in general and to depictions of the newly accessible east in a vastly expanded EU in particular« (Haines 2008: 138f.). Zur Analyse des »Eastern turn« im Kontext transnationaler Traumata vgl. Taberner 2017: 60–72. Die Anerkennung der in der Schweiz entstandenen »transnationalen Literatur« bezieht auch Bettina Spoerri auf den (kultur-)politischen Kontext der kontroversen Diskussion um die Schweizer EU-Mitgliedschaft bzw. den nationalen Mythos des Schweizer »Sonderfalls«: »Weshalb sich im deutschsprachigen Teil der Schweiz […] die Anerkennung der literarischen Qualitäten so viel zögernder entwickelt hat, hängt von verschiedenen Faktoren ab; wichtige Momente sind diesbezüglich zum einen eine verstärkte Isolierung der Schweiz von kulturpolitischen Entwicklungen und Bewegungen in Europa, nicht zuletzt wegen der Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft. Zum anderen wurde und wird die Schweizer Literatur in Literaturgeschichten des deutschsprachigen Raums […] tendenziell als Sonderfall behandelt« (Spoerri 2012: 66). 38 Vgl. auch Haines 2015: »[O]ne could ask if the eastern European turn is a subset of, or a development in, German-language literature as a whole. Just like the Turkish turn before it, the answer is, of course, both, and more. It is certainly possible to identify a wave of writers from former Eastern-bloc countries who have settled in one of the German-speaking countries since the fall of communism and are writing in German. Some […] are bestsellers, at home as well as globally in translation. […] But this body of writing resists containment within historical, national or linguistic categories« (Haines 2015: 145f.).
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Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration
of perspectives. Perhaps it is time […] to retreat from national or linguistic identifications and the concept of distinct cultures inherent in the term »interkulturelle Germanistik«, and to talk instead of the transnational and porous nature of writing. (Haines 2015: 147)
Obwohl sowohl die theoretischen und terminologischen Debatten um die Chamisso-Literatur als auch die (vor allem in der amerikanischen Auslandsgermanistik geführte) gegenwärtige Diskussion um den Turkish und den Eastern turn der deutschen Literatur den Primat der ästhetischen Beschaffenheit betonen, überwiegen in der einschlägigen Forschung (sogar bei Untersuchungen zum Sprachgebrauch bikultureller AutorInnen) entweder thematische und akteursbezogene Konstellationen (Texte werden als soziologisch-historisch relevante Reflexe gesellschaftlicher Wirklichkeiten rezipiert und nach inhaltlichen Schwerpunkten behandelt) oder mit ethisch-moralischen Fragestellungen verbundene Interpretationen (Literatur wird als authentische Repräsentation lebensgeschichtlicher Erfahrungen betrachtet). Immacolata Amodeo stellt anhand der Kategorie der Betroffenheit fest, dass das »Schweigen über die Ästhetik« (Amodeo 1996: 22) auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass »Migrationsliteratur« nicht infolge ihrer ästhetischen Konfiguration, sondern durch stereotype moralische Kategorien – als aufklärerische Mitteilung, als moralische Verpflichtung und als Gegenstand einer »Wohltätigkeitsgermanistik« – rezipiert wird. Genauso problematische Kategorisierungen – exkludierende binäre Grenzziehungen u. a. zwischen »Norm« (»Nationalliteratur«, »Mehrheitsgesellschaft«) und »Abweichung« (»Migrationsliteratur«, »Zuwanderer«) – und inhaltlichmoralische Schwerpunktsetzungen charakterisieren nicht nur den literaturwissenschaftlichen Umgang mit dem migratorischen Schreiben, sondern auch die konventionelle Migrationsforschung im Allgemeinen. Kritisch wurde deshalb vor Kurzem angemerkt, dass die bisherige Migrationsforschung auf der etablierten Differenzierung zwischen der Normalität der Mehrheitsgesellschaft und der Marginalität der Migration besteht und Migrationsgeschichten als konfliktauslösende Ausnahmeerscheinungen und als gesondertes Problem behandelt (Yildiz 2015: 22). Die kritische, postmigrantische39 Kultur- und Gesellschaftsforschung, welche die Migration im Gegensatz zur klassischen und empirischen Migrationsforschung nicht mehr als ihren ausschließlichen Ge39 Das Präfix »post« verweist nicht nur auf eine chronologische Dimension (auf gesellschaftliche Phänomene oder kulturelle Produkte, die zeitlich nach einer Migrationserfahrung entstanden sind) oder auf die Langzeiteffekte der Migration, sondern vielmehr auf die Problematisierung und Überwindung der Prämissen einer nicht-kritischen Migrationsforschung (Infragestellung der »Migrantologie«). Zur Theorie und zur methodologischen Reflexion des Konzeptes der Postmigration vgl. u. a. Yildiz et al. 2015 und Foroutan et al. 2018.
Zur Kritik des Diskurses um die »literarische Osterweiterung«
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genstand und als Nischenphänomen, sondern als Produktivkraft40 und als Perspektive auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen begreift, ist als grundlegender Kurswechsel zu verstehen, im Sinne der Formel von Regina Römhild, dass »die Migrationsforschung ›entmigrantisiert‹, die Forschung über Kultur und Gesellschaft dagegen ›migrantisiert‹ werden muss« (Römhild 2014: 39). Bezogen auf eine postmigrantische Literaturwissenschaft sollte dieser Perspektivwechsel allerdings mit der Wiederherstellung des Primats des Ästhetischen einhergehen; erst diese nämlich bietet einen analytischen Blick auf grundlegende ästhetische Verhandlungen von gesamtgesellschaftlichen Dynamiken und auf die diskursive Herstellung von Inklusions- und Exklusionsmechanismen, ein Richtungswechsel, wie er erst ansatzweise in jüngster Zeit, etwa von Moritz Schramm, in den Blick genommen wurde: Migration wird […] nicht als Sonderfall oder historische Ausnahme aufgefasst […], sondern als Normalität, durch die die aktuellen Gesellschaften geprägt sind und die der Herstellung von literarischen und künstlerischen Texten immer schon vorausgeht. […] Zugleich wird der perspektivische Zugang auf die in den Texten verhandelte Migration und ihre Folgen auf den ganzen Korpus der Literatur angewandt, die Literaturwissenschaft auf diese Weise migrantisiert: denn aus dieser Perspektive können alle Werke, unabhängig ihrer Verfasser*innen oder ihrer thematischen Ausrichtung, neu gelesen werden. (Schramm 2018: 95)
Bisherige Publikationen zu einer Poetik der Migration erproben den Ansatz der Migrationsästhetik in erster Linie für visuelle Künste (Bal 2007), geben lediglich Aufschluss über – aus dem Kontext der Postmoderne bekannte – metaphorische Modelle für die ästhetische Konfiguration des migratorischen Schreibens wie Rhizom, Nomadismus, M8tissage oder Porosität (Hausbacher 2009, Amodeo 1996, Geyser 2015) und stellen ausgehend von textnahen Einzelanalysen eine Art Merkmalskatalog in Bezug auf Erzählperspektive, Figuren-, Zeit- und Raumgestaltung, Motivik und Sprache auf (Hausbacher 2009, Behravesh 2017, Haines 2008, Amodeo 1996). Bei der Behandlung von Erinnerungskultur, Geschichtsbildern und Literatur im Kontext der Einwanderung nach Deutschland ist des Weiteren eine Schwerpunktsetzung einerseits auf die türkische Migration (Adelson 2005, Geiser 2015), andererseits auf die nationalsozialistische Vergangenheit (Georgi 2003, Welzer 2012) zu beobachten, obwohl die unikale historische Erfahrung der Überwindung zweier Unrechtsstaaten die deutsche Erinnerungskultur zum idealen Bezugspunkt für die Untersuchung nicht nur der Pluralisierung des nationalen Gedächtnisses, sondern auch der Nachwirkungen 40 Vgl. hierzu Mieke Bal: »Migratory, in this sense, does foreground the fact that migrants (as subjects) and migration (as an act to perform as well as a state to be or live in) are part of any society today, and that their presence is an incontestable source of cultural transformation« (Bal 2007: 23).
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Unterwegs zu einer Ästhetik der (Post-) Migration
der kommunistischen Diktatur und des Kalten Krieges bzw. des (binneneuropäischen) Ost-West-Beziehungsgeflechts macht. Der Ansatz einer Ästhetik der Postmigration wird, so die Hypothese des vorliegenden Bandes, in Bezug auf den »Eastern turn« heuristisch produktiv. Die Ost-West-Migrationen innerhalb Europas wurden bislang, wie gesehen, ausschließlich mit moralischen und ethischen Diskursen sowie – in einer vorwiegend geschichts- und politikwissenschaftlichen Perspektive – mit erinnerungspolitisch relevanten Dilemmata der Vergangenheitsbewältigung verknüpft, insbesondere mit Blick auf historische Wendepunkte (1945, 1989, 2015). Die damit verbundene Differenzierung zwischen MigrantIn und Nicht-MigrantIn sowie zwischen Osteuropa und Westeuropa lässt sich in ihren Ursprüngen und in ihren Folgerungen allerdings, so meine These, rst durch den Einbezug und die Untersuchung ihrer Wahrnehmung, ihrer Aushandlung in kulturell-symbolischen Kontexten sowie ihrer weitreichenden literarisch-ästhetischen Gestaltung rekonstruieren, erfassen und angemessen erforschen. Vorgesehen wird zu diesem Zweck die Analyse von repräsentativen Prosawerken ausgewählter, im deutschen Literaturbetrieb etablierter Autorinnen ungarischer Herkunft – unter ihnen vier Chamisso-Preisträgerinnen: Ter8zia Mora, Zsuzsa B#nk, Ilma Rakusa und Zsuzsanna Gahse – welche von osteuropäischen historischen Erfahrungen und Traumata oder von Reisebewegungen in postsowjetischen (Gedächtnis-) Räumen erzählen und dadurch u. a. Einblicke gewähren nicht nur in die Verflechtung privater und kollektiver Geschichten und Zugehörigkeiten, sondern auch in Veränderungen der Lokalisierung der Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft.41 Vergleichend und textanalytisch beschrieben werden in erster Linie Zusammenhänge zwischen migrationsbedingten historischen oder biografischen Erfahrungen und ästhetischen Praktiken bzw. der sprachlich-narratologischen Verfasstheit der Texte (close reading). Zweitens steht anhand der ausgewählten Werke im Mittelpunkt, ob und wie literarische Texte westzentrische Dichotomien und Denkmuster vorführen, reproduzieren oder relativieren und welche Begriffe, Bilder und Ideologien mit 41 Die Abgrenzung des Textkorpus erfolgte zum einen auf der Grundlage der oben erläuterten theoretischen Überlegungen und Forschungsdesiderata (bzw. auf Basis der thematischen und formalen Repräsentativität und Besonderheiten der ausgewählten Texte), zum anderen aus arbeitsökonomischen Gründen. Nicht berücksichtigt wurden aus diesem letzteren Grund u. a. sämtliche Erzählungen Zsuzsanna Gahses und Ter8zia Moras, die Gedichte Ilma Rakusas und die preisgekrönten Werke Christina Vir#ghs, Doma ]kos’ und L8da Forgjs. Eine umfassende und tiefgehende Analyse des Eastern turn der deutschsprachigen Literatur unter Berücksichtigung des Schaffens weiterer Deutsch schreibender AutorInnen osteuropäischer Herkunft (wie Ilija Trojanow, Sasˇa Stanisˇic´, Katja Petrowskaja oder Catalin Dorian Florescu) bleibt – der differenzierten Ausarbeitung einer Ästhetik der Postmigration und der elaborierten Rekonstruktion des Phänomens Osteuropa im Hinblick auf literarisch-ästhetische Imaginationen ähnlich – zukünftigen Arbeiten vorbehalten.
Zur Kritik des Diskurses um die »literarische Osterweiterung«
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(der Herkunft aus) dem Osten verbunden sind (distant reading). Das literarische Textkorpus wird in den umfassenderen Kontext ihrer Rezeption und Produktion im Literatur- und Kulturbetrieb gestellt, d. h. mit kulturellen Texten, Rezensionen, journalistischen Beiträgen, Poetikvorlesungen usw. ergänzt, die neben ihren literarischen Verhandlungen allgemeine Praktiken, Objekte und Problemfelder des Ost-West-Diskurses adressieren. Zum Thema werden und in den Vordergrund treten damit insbesondere die diversen Rezeptionsformen der behandelten Werke im öffentlichen Diskurs und im Literaturbetrieb in Deutschland und in Ungarn nach ihrer »Rückübersetzung« ins Ungarische: Die meisten der in Deutschland preisgekrönten Autorinnen gelten im ungarischen Kulturraum als so gut wie unbekannt – ein merkwürdiger Unterschied in der Wahrnehmung, der sich auf komplexe Verflechtungen aus erinnerungskulturellen Eigentümlichkeiten und dem mehrfachen Kulturtransfer zurückführen lässt.42 Die Arbeit will auch diesen Unterschieden in der Wahrnehmung nachspüren, durch Vergleich und Verbindung von ansonsten getrennt und an nationale Erinnerung gebunden untersuchten Gegenständen, und zwar mit dem bereits erläuterten ferneren Ziel, Identitäts- und Erinnerungsdiskurse aus einer transnationalen Perspektive zu beleuchten und die wegweisende Relevanz der Ästhetik für eine kritische Erforschung postmigrantischer Gesellschaften und ihrer Erinnerungskulturen aufzuzeigen.
42 Vgl. hierzu die Erklärung des Schriftstellers Endre Kukorelly und Ren8 Kegelmanns Ausführungen über das Phänomen, dass Ter8zia Mora und andere AutorInnen, die bei der Frankfurter Buchmesse 1999 (mit Ungarn als Schwerpunktland) als Repräsentantinnen ungarischer Literatur in Deutschland vorgestellt wurden, hierzulande vollkommen unbekannt sind (Kegelmann 2010 b).
»Hongrie profonde« oder »ein zutiefst ungarischer Roman auf Deutsch«? Zur Erzählkomposition und zum Gedächtnis Ungarns nach 1956 in Zsuzsa Bánks Der Schwimmer
Obwohl sich unter den Chamisso-Preisträgern augenfällig viele AutorInnen ungarischer Herkunft befinden und es mittlerweile eine Vielfalt von theoretischen Ansätzen zur Untersuchung der Beziehung von Sprache/Literatur, Erinnerung und Migration bzw. der »osteuropäischen Wende« der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gibt, werden die auf Deutsch erschienenen Texte von Autorinnen ungarischer Herkunft in der Germanistik zwar seit geraumer Zeit diskutiert, in der Hungarologie oder in der ungarischen Öffentlichkeit aber nur fragmentarisch, wenn überhaupt wahrgenommen. Ren8 Kegelmanns Ausführungen zu Endre Kukorellys Feststellung anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1999 (mit Ungarn als Schwerpunktland) besitzen nach wie vor Aktualität – trotz der wachsenden Anzahl der literarischen Übersetzungen. Der Schriftsteller Kukorelly sprach über das Phänomen, dass Autorinnen, die als Repräsentantinnen ungarischer Literatur in Deutschland vorgestellt wurden, in Ungarn vollkommen unbekannt sind: Endre Kukorelly […] nimmt beschämt zur Kenntnis, dass deutschsprachige Autorinnen ungarischer Herkunft wie Ilma Rakusa, Zsuzsanna Gahse, Christine Vir#gh und Ter8zia Mora in Ungarn so gut wie unbekannt sind und meint, dass sich darin ein Vorwendedenken manifestiere, so als seien die Grenzen weiterhin geschlossen. Er macht in der Ignoranz gegenüber in Deutschland oder westlichen Ländern lebender Literatur ungarischer Herkunft eine herablassende, sogar diskriminierende Haltung aus, deren Gründe darin liegen mögen, dass ihre Literatur als reine Widerspiegelung der Wirklichkeit gelesen würde, d. h. im Falle Moras als negative Darstellung der ungarischen Lebensrealität (und damit gewissermaßen als Tabubruch). (Kegelmann 2010 b)
Zsuzsa B#nks mittlerweile mit mehreren prominenten Buchpreisen prämierter Debütroman Der Schwimmer (2002, ung. Az fflszj, 2003) fiel auch auf der Frankfurter Buchmesse 2002 auf. Der Text schien sich einem Trend zu nähern: Den sich neu herausbildenden Konventionen des interkulturell perspektivierten
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Familienromans43 entsprechend wird hier von der in den politischen Kontext eingebetteten Geschichte einer Familie erzählt, von einem Kind als Ich-Erzählerin, die sich zwischen Sprachen und Kulturräumen fortlaufend bewegt, in einer (ihr fremden) Sprache (auf Deutsch, d. h. auf deutsche Rezipienten abzielend – jedoch von einer transkulturellen Position, transnationale Erinnerungsräume konstruierend). Dadurch weist B#nks Roman Ähnlichkeit mit Melinda Nadj Abonjis Bestseller Tauben fliegen auf (2010) oder auch mit Emine Sevgi Özdamars preisgekröntem Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) auf, obwohl – im Gegensatz zu Nadj Abonjis und Özdamars Protagonisten – B#nks kindliche Erzählerin ihre Heimat nicht für ein neues Leben in einem deutschsprachigen Land verlässt und obwohl sich in Der Schwimmer (im Gegensatz zu Nadj Abonjis Roman) keinerlei konkrete politische Verweise finden. Dessen ungeachtet lesen die meisten internationalen Rezensenten den Roman als Allegorie des ungarischen Volksaufstandes 1956 (in Ungarn Revolution und Freiheitskampf genannt). Laut Lynda K. Nyota manifestiere sich in der Verfallsgeschichte der Kinder der allgemeine Gemütszustand des nach dem russischen Überfall von den westlichen Mächten verlassenen Ungarns, und die Klage des Vaters über sein zu zwei Dritteln abgebranntes Haus soll das Ringen Ungarns um die Bewältigung des Traumas von Trianon (Ungarn verlor 1920 zwei Drittel seines früheren Territoriums) repräsentieren (Nyota 2013: 126). Brigid Haines bezieht die Geschichte ganz ähnlich auf einen politischen Kontext, indem sie den Titel als »Schwimmen gegen den Kalten Krieg« interpretiert und die Verwaistheit nicht nur als Erfahrung der von der Mutter verlassenen Kinder Isti und Kata, sondern in erster Linie als Grundgefühl der vom gleichgültigen Westen enttäuschten Ungarn deutet.44 Szilvia Lengl liest das Leitmotiv des Romans, den Akt des Wartens, als Standpunkt der ungarischen Bevölkerung gegenüber der russischen Besatzung (Lengl 2012: 13), und andere Rezensenten führen die Emigration der Mutter direkt auf den Volksaufstand zurück (während der Text hierfür keinerlei Anhaltspunkte liefert).45 In seiner berühmten Besprechung von 43 Die Gattung Familienroman, insbesondere Generationenromane bzw. Familiengeschichten zum Thema Vergangenheit(sbewältigung), erlebt in der deutschsprachigen Literatur nach der Jahrtausendwende eine Art Konjunktur. Vgl. hierzu: Welzer 2004 und Assmann 2009. Zu den Emotionalisierungsstrategien der Gattung vgl. Süselbeck 2014. Laut Bogl#rka Nagy stellt Der Schwimmer einen Bruch mit den Konventionen des Bildungsromans dar (die Erinnerung bleibt fragmentarisch, Isti und Kata können die Vergangenheit nicht rekonstruieren), des Weiteren werden im Roman die Konventionen der Biografie, des Erziehungsromans und des Familienromans miteinander verknüpft (Nagy 2004). 44 »Just as the children feel abandoned, so the common feeling is that Hungary was abandoned to its fate by the west« (Haines 2011: 225). 45 Vgl. die Interpretation Wolfgang Höbels, der die Kinder als »Hauptopfer einer Flucht« betrachtet, »die aus dem trüben kommunistischen Osten ins Gelobte Land des kapitalistischen Westens führt. Als im Ungarn des Jahres 1956 die Panzer rollen, macht sich ihre Mutter
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B#nks Roman hebt auch P8ter N#das hervor, dass der Roman »in der Zeit nach einer niedergeschlagenen Revolution, in den Jahren des dunkelsten Terrors« spielt, d. h., die Helden befinden sich »am Rande des eigentümlichen und überkommenen ungarischen Autismus«, in »hongrie profonde«: »An den Stätten der Wanderschaft der Rumpffamilie findet auch das Land kein Zuhause« (N#das 2002). Die Verschränkung von Politikum und privater Fiktion begründet N#das jedoch mit der Erzählstruktur, und zwar nicht nur mit der Spannung zwischen dem deutschsprachigen Erzähler und der – dem deutschen Rezipienten fremden – ungarischen Geschichte, sondern mit der komplexen Mehrschichtigkeit der erzählerischen Position.46 Die »ungarisch fühlende« und »deutsch denkende« Autorin verortet, so N#das, »ihre eigenen Beobachtungen im Kontext der deutschen Sprache und des deutschen begrifflichen Denkens« (ebd.), der wahre Grund für ihre »Bewusstseinsspaltung« ist jedoch die Anwesenheit einer »dritten Fremden«, eines »Geist[es] der Erzählung selbst, dem keine eigenständige Person, doch eine eigenständige Sprache zu eigen ist« (ebd.): Das literarische Novum dieses Romans liegt in seiner ungewöhnlichen Dreischichtigkeit: Die Geschichte wird von drei Personen zugleich erzählt. Während die Erzählstimme ungehindert zwischen den beiden Kindern hin- und hergleitet und die Position beider in das erzählende Ich aufnimmt, macht sie von der ersten Person Singular der Geschwisterlichkeit Gebrauch. Im Plural der Kinder beginnt ein Ich zu erzählen, das den anderen mitsamt seinem ganzen Sinnes- und Gefühlshaushalt in sich aufgenommen hat. Das bedeutet: Die Geschwister haben einander in sich aufgenommen und die Autorin die Kinder. […] In einer außergewöhnlichen, bisher unerschlossenen psychischen und sprachlichen Anstrengung findet die Autorin zu einer mit der Erfahrung der Postmoderne belasteten erzählerischen Allmacht. (ebd.)
Dieser doppelte – in der Tat dreifache – Blick erklärt, warum N#das mit Recht behaupten kann, dass der Roman uns »Einblick in das Bewusstsein von Millionen von Flüchtlingen und Emigranten« (ebd.) gewährt. Im Folgenden werden dieser erzählerische Blick im Kontext der zeitlichen und räumlichen Verschränkungen von Akten des Erinnerns an individuelle und kollektive mit einer Freundin davon – und überlässt die Kinder dem schwermütigen Vater« (Höbel 2002). 46 Vgl. hierzu N#das: »Es gibt also eine Zsuzsa B#nk, welche die für die deutsche Sprache fremde ungarische Geschichte aus nächster Nähe kennt, die jedoch nicht mit jener Zsuzsa B#nk identisch ist, die ihre eigenen Beobachtungen im Kontext der deutschen Sprache und des deutschen begrifflichen Denkens verarbeitet und dort auch endgültig ansiedelt. Aber es gibt noch eine Dritte, die sich selbst in dem unglaublich gespannten und äußerst geheimnisvollen Verhältnis positioniert, das sich bald zwischen Gegenstand und Sprache, bald zwischen Sprache und Gefühl herausbildet. Diese Dritte ist der Geist der Erzählung selbst, dem keine eigenständige Person, doch eine eigenständige Sprache zu Eigen ist. In der Person B#nks ist er wahrscheinlich der dritte Fremde« (N#das 2002).
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Traumata sowie die Problematisierung der Erzählbarkeit dieser Traumata näher betrachtet.
Translokale Dimensionen: Bewegung und Bewegungslosigkeit im Wasser und in der Sprache Die retrospektive Erzählung spielt (wie am Romanende deutlich wird) im Jahr 1969, die siebzehn Kapitel werden nach Vornamen der wichtigsten Figuren benannt; die Erzählerin ist Kata, die Schwester der Titelfigur Isti. Im strukturellen Zentrum der Erzählung steht als Auslöser der nomadischen Wanderung der Familie (der Geschwister und des Vaters) durch das Land ein Ereignis aus dem Herbst 1956: Die Mutter Katalin verlässt ohne klaren Grund und unerwartet Mann und Kinder und steigt mit ihrer Freundin in einen Zug nach Westen (am Ende der Geschichte, nach Istis Tod, ist die Tochter Kata ebenfalls dabei, das Land zu verlassen). Die Restfamilie begibt sich auf die Flucht vor Gerüchten im Dorf sowie vor anderen zwingenden Ereignissen (vor einem Brand, wegen Ehebruch des Vaters), sie fahren mit dem Zug durch das Land, ziehen von Verwandten zu Verwandten – Reisen und Unterwegssein werden zum Modus Vivendi der Kindheit (wie es leitmotivisch auch Ilma Rakusas Werk durchzieht). Das Wandern erfolgt in B#nks Roman jedoch innerhalb des eigenen Landes und seine Stationen sind lokalisierbar : Sie lassen sich geografisch konkretisieren (Ortsnamen wie Vat, Szerencs, Miskolc, Budapest und Sijfok werden genannt) oder werden namentlich nicht erwähnt (in den Kapiteln über Katalins Reise geht es um deutsche Städte mit vergessenen Namen, die Kinder verbringen eine sorglose, glückliche Zeit an einem großen See – vermutlich am Balaton). Im Roman werden nicht nur die zirkuläre Abfolge von Kommen und Gehen, die sich stets wechselnden Koordinaten des Ankommens und Abreisens beschrieben, sondern auch die Lebensgeschichten der Menschen an Orten, die sich durch die Fortbewegung der Familie miteinander verschränken, und damit erweisen sich die Bewegung sowie der Raum als Kategorien von einer nicht (nur) physischen Beschaffenheit und als prägend für die Narration. Obwohl das (Ab-) Reisen wegen dessen Zeitpunkt (Herbst 1956) scheinbar automatisch auf politische Ereignisse zurückzuführen ist (nicht nur die Mutter, sondern auch ein anderer Verwandter, der Pianist Jeno˝ emigriert in den Westen), verfügen das Motiv des Ausbruchs aus dem Eingesperrtsein, der Gefangenschaft hinter dem Eisernen Vorhang, bzw. die Bewegung im Allgemeinen (sowie deren Gegenteil, der statische Zustand) über eine stark metaphorische Bedeutung im Text. Die apolitische Dimension der Semantik von Bewegung und Bewegungslosigkeit ist zwar von existenzieller Wichtigkeit, in der Mitte des Romans, im
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Kapitel Katalin aber, das die Reise der Mutter parallel mit der Migration der anderen Revolutionsflüchtlinge beschreibt, erhalten die Motive des Wartens bzw. der Bewegungslosigkeit und des Aufbruchs bzw. der Bewegung eine politische Bedeutung. In der Geschichte des 1956-er Flüchtlings ]rpi wird die Revolution, die politische Veränderung mit der Bewegung, und deren Niederschlagung mit Bewegungslosigkeit, d. h. auch mit dem Anlass für die Emigration in den Westen, gleichgesetzt (dem Hinterlassen von Spuren, das bis dahin dem Reisen oder dem Warten ähnlich als ein apolitischer Akt, als metaphorisches Leitmotiv Katas Erzählung durchzog, kommt in diesem Kapitel auf analoge Weise ein politischer Sinn zu – ]rpis Fluchtversuch hätte scheitern können, wenn er Spuren hinterlassen hätte): ]rpi hatte zu spät versucht, nachts mit seinen Freunden über die Grenze zu gehen, sie hatten zu lange gewartet. […] Erst als sie ahnten, was geschehen war, mit ihnen und diesem Land, als sie sicher waren, jetzt würden sie es nicht ändern können, vielleicht nicht einmal später, weil etwas aufgehört hatte, sich zu bewegen, weil es mitten in seiner Bewegung einfach stehengeblieben war, erst da setzten sie sich in einen Zug, der Richtung Westen fuhr. (143)47
Denselben Akt der Grenzüberschreitung erfährt aber das verlassene Kind als eine angstauslösende Bewegung, was sich einerseits darin manifestiert, dass Kata ständig um lediglich imaginierte Verluste besorgt ist (sie hat Angst, dass Isti etwas passiert, dass der Vater nicht zurückkommt, dass sie vergessen werden, dass sie keine Spuren hinterlässt),48 andererseits darin, dass sie Bewegungslosigkeit mit Tod gleichsetzt. Bereits im ersten Kapitel, in der Wohnung der Patentante Manci in Budapest, empfindet Kata das Verbleiben an einem Ort (analog zum Aus-der-Zeit-gefallen-Sein) als tödlich: Ich wollte weg. Ich wünschte, meine Mutter würde uns abholen und zurückbringen. Ich wußte, es würde nicht geschehen. Es war, als habe jemand alle Uhren zum Stehen gebracht, als liefe die Zeit für uns nicht weiter. So, als habe man Isti und mich in Sirup fallen lassen. (17)
Im vorletzten Kapitel erscheint der Fluss in den Augen des tödlich verunglückten Isti als starr und bewegungslos: »als er sich umgedreht hatte, um zurückzuschauen, habe der Fluß nicht mehr ausgesehen wie etwas, das sich bewegte, nur noch wie ein Streifen habe er ausgesehen, ein dunkler Streifen« (272). Kata 47 Die Seitennummerierungen nach Zitaten aus dem Roman beziehen sich auf die folgende Ausgabe: B#nk, Zsuzsa: Der Schwimmer. Frankfurt a. M.: Fischer, 2007 (5. Auflage). 48 Kata befürchtet ständig, auch vom Vater verlassen zu werden, und ähnliche Ängste hat sie auch bezüglich ihres Bruders: »Selbst wenn Isti Hühnchen aß, hatte ich Angst um ihn. Ich hatte Angst, er würde sich verschlucken. […] Es gab Zeiten, in denen meine Angst so groß wurde, da ich Isti nicht mehr aus den Augen ließ. Ich verbot ihm, das Haus zu verlassen« (104).
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beschreibt die Großstadt in Abhängigkeit von ihrem Gemütszustand – von dem Trauma der Verlassenheit und von ihrer kindlichen Sichtweise geprägt fast als klaustrophob, als grau (»Budapest war grau. Wo ich hinsah, sah ich nichts als Mauern, Türen, Wände. Auf der Straße schaute ich hoch in den Himmel, in diesen schmalen Streifen aus Blau« – 17). Sie setzt Budapest sogar – auf Istis Tod vorausdeutend – mit einem kranken Kind gleich: »diese […] Stadt, von der Großmutter gesagt hatte, sie habe Fieber, wie der Junge aus Vat, der an Fieber gestorben war, im Sommer davor, genau so habe Pest dieses Fieber« (16).49 (Später verschränken sich die Erzählperspektive und die Repräsentationen von Zeit und Raum oft auf ähnliche Weise miteinander.) Der Ausbruch aus geschlossenen Räumen in die offene Umwelt stellt ein wiederkehrendes Motiv von Katas Erzählung dar, das grundsätzlich das Schicksal der Mutter wiederholt, räumliche und temporale Koordinaten vereint und als eine Überlebensstrategie ihrer Traumata zu deuten ist. Als Kata vom Verschwinden der Mutter erfährt, läuft sie auf den Hof der Großmutter hinaus und sie tut es, auch als sie von der Mutter träumt (»Nachts wachte ich auf. Ich hatte die Stimme meiner Mutter gehört, ihr Gesicht gesehen und lief zur Tür, die Manci meiner Mutter soeben geöffnet hatte« – 17). Die enge Wohnung in Pest verlässt sie immer wieder (»Als es Sommer wurde, lief ich an den Nachmittagen zum Donauufer. […] Ich stellte mir einen langsam in die Nacht fahrenden Zug vor und mich als einzigen Fahrgast. Pest entglitt ich auf diese Weise oft« – 19). Katas Bruder Isti geht genauso häufig zum See, wie auch der Vater sich nachts auf geheime Wege begibt: Uns war, als müßten wir ins Freie, als müßten wir atmen, um etwas nachzuholen, aufzuholen, als könnten wir hier, hinter verschlossenen Türen nicht atmen, als hätte das, was gesagt worden war, die Luft verdrängt, uns alles genommen, was wir hätten atmen können. (177)
Mit einem ähnlichen Ausbruch reagieren die Eltern ]gi und Zolt#n auf den Tod ihrer jüngeren Tochter : Er springt ins Wasser, und sie begräbt sich nach der Beerdigung im Boden (90–91).50 Der Schwellenraum zwischen offenen äußeren und geschlossenen inneren Räumen erweist sich des Weiteren als paradigmatischer Ort sowohl der betrachtenden Erzählerin Kata als auch ihres rebellierenden Bruders Isti. Das 49 Zur Problematik des translokalen Raumes im Roman vgl. Györke 2015. 50 »Bis zum späten Abend waren sie über die Felder gelaufen, zuerst im Kreis, immer wieder im Kreis, über die eigenen Fußspuren. […] ]gi hatte ihre Schuhe, ihren Schal, ihren Mantel ausgezogen, hatte sich auf den Rücken gelegt, den Mantel als Kissen unter ihrem Kopf, hatte ihre Finger in den Boden gegraben und aus ihren Händen Erde rieseln lassen wieder und wieder, auf ihre Stirn, auf ihren Hals, auf ihren Bauch, und Vir#g hatte sich an sie geschmiegt und den Kopf an ihre Schulter gelegt« (90f.).
Translokale Dimensionen
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Geschwisterpaar betrachtet wiederholt den Himmel (diese Tätigkeit verbindet auch die weiteren Romanfiguren miteinander, dem an den Horizont grenzenden und dem Gewässer wesensgleichen Himmel ähnlich). Kata und Isti blicken immer wieder zum Fenster hinaus und bleiben im Fenster- oder Türrahmen stehen. Isti fühlt sich auf dem Dachboden zu Hause, er geht nicht durch die Tür hinaus, sondern steigt aus dem Fenster (277) und schaut nachts und morgens von einem Stuhl vor der Dachluke in die Welt hinaus: Manchmal wachte Isti nachts auf, lief die wenigen Schritte zur Dachluke, kletterte auf einen Stuhl und starrte eine Weile hinaus, um sicher zu sein, daß alles noch so war, wie es war, und auch morgens schaute er als erstes hinaus, nur um zu sehen, ob der See seine Farbe wiederhatte. (85)51
Weitere Leitmotive sind das Schauen durch das Zug- oder Busfenster und insgesamt die tröstende Erfahrung der physischen oder imaginären Überschreitung von Grenzen, Schranken und Mauern. Allerdings verweist die Funktion des Titelmotivs Schwimmen in der Geschichte auch auf den bedrohlichen Aspekt der grenzüberschreitenden Vereinigung mit dem Naturelement Wasser. Die Gewässer (anfänglich der Fluss, später und in erster Linie der See) sind die einzigen Schauplätze der Familiengeschichte, an denen die Kinder ein beinahe utopisches Glück empfinden, und das Schwimmen bietet ihnen die einzige und eigenartige Gelegenheit für ein intensives Beisammensein mit dem Vater, dessen Verhalten sie ansonsten als grausam und unverständlich erleben. Es ist vielsagend, dass der Vater den Kindern nicht einfach das Schwimmen beibringen will, sondern diesbezüglich ausdrücklich vom Müssen spricht (»Wozu müssen diese Kinderschwimmen?, und mein Vater hatte geantwortet, sie müssen eben« – 82), und auch Isti will nicht schlicht schwimmen (oder schwimmen lernen), sondern er möchte zum Schwimmer werden (»Abends vor dem Einschlafen sagte mir Isti, er wolle Schwimmer werden« – 20). Ununterbrochen und auch ohne scheinbaren Grund sehnt er sich nach dem Wasser, in dem er nicht (nur) schwimmt, sondern das »Im-Wasser-Sein« praktiziert (»[Wir hatten es] endlich gewußt, wie das ist: im Wasser sein« – 83). Das Schwimmen bzw. das Schwimmer-Sein ist Istis einzig möglicher, identitätskonstitutiver Bezugspunkt und sein zufriedenstellender Modus Vivendi. Im Wasser verlieren die Körpergrenzen ihre gewöhnliche Materialität bzw. sie werden davon befreit, was Kata auch reflektiert, 51 Die Enge des Raumes wird auch bei der Beschreibung der ersten Station der Reise (Wohnung der Tante Manci in Budapest) durchbrochen, als der Raum in Katas Beobachtung eine metaphorische Bedeutung erhält: »Vor dem Küchenfenster stand eine Mauer, vielleicht einen halben Meter entfernt. Wenn es regnete, floß das Wasser hier hinunter, und Isti und ich, wir saßen auf der Liege und starrten auf das Mauerstück vor dieser Küche, vor diesem Haus, in dieser Stadt, von der Großmutter gesagt hatte, sie habe Fieber, wie der Junge aus Vat, der an Fieber gestorben war, im Sommer davor, genau so habe Pest dieses Fieber« (16).
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als sie ihr Spiegelbild im Wasser verschwimmen sieht (»Ich konnte unsere Gesichter sehen, die sich mit den Wellen langsam zu verschieben schienen« – 37), oder als der Vater sich im Wasser aufzulösen bzw. umzuwandeln scheint.52 Der Grenzübertritt zwischen Wasser und Luft bzw. Festland erweist sich auch in einem tieferen Sinn als Garant für eine befreiende Selbstauflösung.53 Im Unterschied zur Gegenwelt des Festlandes löst man sich beim Eintritt ins Wasserreich vom Zwang und von der Möglichkeit des Spurenhinterlassens, der Konstruktion klar konturierter Identitäten, die für die Geschwister besonders problematisch wurde. Die Einsamkeit und die fluide Fortbewegung ohne Telos – das unfreiwillige Los von Isti und Kata – sind für den Schwimmer beim Schwimmen auf eine ähnliche Weise natürlich und selbstverständlich. Die Körpergrenzen sind andererseits gerade in bzw. infolge der Materialität des Wassers verletzungsoffen: Beim ersten Mal, als der Vater den Geschwistern »seinen Weg zum Fluß« zeigt (36), zerschneidet sich Isti die Hände, ein anderes Mal ziehen sich die Kinder einen Sonnenstich zu, an ihre Beine heften sich Blutegel und der Romantext ist auf leitmotivische Weise durchwoben von düsteren Vorzeichen von Istis Tod (der Vater warnt Isti und Kata vor »Strudeln, Wasserlöchern oder Strömungen, die [sie] […] fortreißen würden« – 81, laut der Großmutter sagten »tiefe, schmutzige Wasser […] schwere Krankheit voraus« – 10). Wie auch das Wasser nicht nur das Leben, sondern auch den Tod bzw. die Grenze und den Übergang zwischen den beiden symbolisieren kann, so stehen auch die Bewegung (das Schwimmen, die Grenzüberschreitung, die Reise) und die Bewegungslosigkeit (das politische oder traumatische Stagnieren, die »Gefrorenheit« der Zeit und des Raumes, die tödliche Steifheit) einander kontra52 »Ich wußte, auch wenn mein Vater sich jetzt umdrehen, wenn er auf dem Rücken weiterschwimmen und zum Ufer schauen würde, er sähe mich nicht. Es war, als nehme ihn der See auf, als könne er ein anderer sein, sobald er seine Kleider ablegte, das Wasser berührte und hinabtauchte« (77). 53 Die Sehnsucht nach Auflösung und nach Verwischen der Spuren steht in einem ambivalenten Verhältnis zum Aufbewahrungswunsch der Kinder (sie verstecken und nehmen für die Reise immer gewisse Gegenstände mit) sowie zu ihrer Angst, keine Spuren hinterlassen zu haben. Diese letztere kommt zuerst anhand des Regens zur Sprache: »Ich wischte mit den Fingern übers Wasser, wartete auf den nächsten Regen, der meinen Mantel, meine Strümpfe, meine Stiefel durchweichte, und ich wünschte, er könnte mich genauso durchweichen, dieser Regen, vielleicht auflösen, und ich, ich könnte mit dem Wasser weggleiten – irgendwohin« (13). Die Auflösung hat darüber hinaus auch eine bedrohliche Semantik, so u. a. in der Geschichte der Mutter, deren Ich-Verlust (bzw. Transformation) sich in Form einer physischkörperlichen Verwandlung (Schrumpfen) manifestiert: (»[…] Vali und meine Mutter [sahen] an diesem Tag kleiner aus […] als sonst, so klein, daß Inge sagte, sie habe Angst, daß sie weggeschrumpft, aufgelöst seien, bis sie zurückkommen würde. Sie wolle die beiden lieber mitnehmen, als sie nachher in den Fasern des Teppichs suchen zu müssen« – 159). Kata erlebt es auf ähnliche Weise als bedrohlich, als ihre Erinnerungen an die Mutter verschwimmen: »[I]mmer öfter zwang ich mich, auch am Tag daran zu denken, auch, wenn es hell war, weil die Bilder zu verschwinden anfingen« (241).
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punktisch gegenüber. Kata beschreibt ihre Lebenssituation dementsprechend metaphorisch als einen Kreisel, der eine Art Stetigkeit (das Provisorische als Dauerzustand) und die Dynamik des In-Bewegung-Seins vereint: »[Ich] hatte […] das Gefühl, wir lebten auf einem Kreisel, auf seiner Spitze, dort, wo man ihn dreht und losläßt und wir, wir drehten uns mit ihm, immer auf der einen Stelle, immer unter demselben Himmel« (269f.). Für die besondere Position des Schwimmers gibt es auch ein »negatives« Pendant im Roman, das auf das Stagnieren zu beziehen und im Rahmen der Metaphorik des Fluiden zu interpretieren ist: das Tauchen.54 Die Kinder bezeichnen mit dem Wort eine scheintote Gelähmtheit, den paralyseähnlichen Zustand Istis (22) und des Vaters (8) sowie die (posttraumatische) Labilität Zolt#ns (nach dem Verlust seines Kindes). Der Tauchende befindet sich jenseits des Raumes und der Zeit, nimmt das Umfeld nicht wahr (sieht das Geschwisterpaar als Fremde an). Das Tauchen ist auf den ersten Blick ein Kontrapunkt zum Schwimmen, ein Inbegriff der Ambivalenz der statischen und dynamischen Bewegung im »fremden« Medium des Wassers, eine treffende metaphorische Entsprechung der Zeitlichkeit des Traumas (die tauchenden Figuren sind alle von unverarbeiteten Verlusten traumatisiert: ]gi und Zolt#n haben ihr Kind und Isti seine Mutter verloren, während sein Vater K#lm#n vom Selbstmord seines Großvaters erschüttert wurde). Die Beziehung zwischen den Figurenbiografien und der Sprachlichkeit des Romans bzw. dem narrativen Umgang mit Räumen und Bewegungen ist jedoch wesentlich komplexer. Im Kapitel K#lm#n stellt sich heraus, dass der Vater auch vor dem väterlichen Selbstmord schon »tauchte« und dabei weder an seinen Vater noch an seine verschollene Frau denkt – die fehlende Motivation seines »Tauchens« bleibt ein (weiterer) nicht konkretisierbarer Mangel für den kindlichen Blick der Erzählerin Kata.55
54 Zum semantischen Feld des Wortes tauchen im Deutschen und im Ungarischen sowie zur Funktion der ungarischen Spiegelübersetzungen im Roman vgl. Lengl 2012: 135–160. 55 Viele der hier behandelten Romane und Erzählungen (außer B#nks Der Schwimmer, Nadj Abonjis Tauben fliegen auf, die meisten Texte in Moras Seltsame Materie und viele Kapitel in Rakusas Mehr Meer und Gahses Nicht ist wie …) wie auch weitere Grenzgängergeschichten (u. a. Sasˇa Stanisˇic´’ Wie der Soldat das Grammofon repariert oder Martin Kordicˇ’ Wie ich mir das Glück vorstelle) zeichnen sich durch eine kindliche Erzählerinstanz aus. Der KinderErzähler (als zugleich Beobachter und integraler Teil der Gesellschaft) bewegt sich in einer Zwischenwelt nicht nur zwischen Kinder- (bzw. Jugend-) und Erwachsenenwelt, sondern auch zwischen mehreren Kulturen und Sprachen oder sogar zwischen Phantasie und Realität oder Leben und Tod. Eine hierauf zurückzuführende Desorientierung von Raum und Zeit oder das Ausgeliefertsein an das Unverständnis (von befremdlichen, unfaßbaren und erschütternden historischen Ereignissen) sind allgemeinen existenziellen Erfahrungen des Lebens in einer Diktatur oder auf der Flucht ähnlich, und diese Analogie verleiht der Inszenierung des kindlichen Blickes eine besondere Komplexität und Relevanz. Zu den ästhetischen und narrativen Merkmalen der kindlichen Erzählhaltung vgl. u. a. Sehlen 2015.
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Das Motiv des Tauchens erweist sich deswegen als eine produktive Analysekategorie des Romans, wenn man die darin implizierte mentale »Bewegung« (eigentlich Bewegungslosigkeit) nicht mehr (nur) zu den thematisierten traumatischen Erfahrungen in Beziehung setzt, sondern sie vielmehr im Lichte ihrer Auswirkungen auf die Kinder interpretiert. Kata und Isti reagieren auf die Lähmung des Vaters beim Tauchen mit einem schöpferischen sprachlichen Akt, mit der kreativen Geste der Namensgebung bzw. Benennung: Indem die Kinder ein Wort für den veränderten Zustand des Vaters finden, verringern sie dessen angsteinflößende Fremdheit und konstruieren ihr selbst als »wir«, d. h. ihr Mangel (an Sinn, an Erklärungen, das Fehlen der Mutter und des nur körperlich anwesenden Vaters) wird zwar nicht behoben, aber durch die konstitutive »Therapie« der Sprache »behandelt«: Mein Vater […] lag […] auf der Küchenbank, starrte zur Decke und rauchte. Nicht einmal den Hund hörte er dann, der laut vor ihm bellte. Meinen Bruder Isti und mich schaute er an, als seien wir Fremde. Wir nannten es tauchen. Vater taucht. Vater ist zum Tauchen gegangen. Ist Vater zurück vom Tauchen? fragten wir einander. (7f.)
Isti versucht später auch immer wieder, sich durch Namensgebung quasi als Schöpfer, als benennender »Besitztümer« zu konstruieren und anhand von diesen konkretisierten Bezugspunkten das ständige Unterwegssein, das Verlassen gewohnter Lebenswelten, zu kompensieren. Trotz des väterlichen Verbots taufen die Kinder ihren Hund auf den Namen Kov#cs (zweithäufigster Familienname in Ungarn) und Isti versteckt in seinen Hosentaschen heimlich ein Büschel Haare aus seinem Fell (13); er nennt seinen Lieblingsfisch Königin (23) und besteht auf der Mitnahme seiner Überreste, nachdem ihr der Vater den Kopf abgeschnitten hat; er gibt aber ebenso den Splittermustern im Eis einen Namen (269) sowie auch den Störchen (52). Istis Umgang mit der Sprache weist noch weitere Eigentümlichkeiten auf. Der des Lesens und Schreibens unkundige Junge spricht im Schlaf in einer unverständlichen Sprache, er benennt Sachen um, kreiert eine eigene, hermetisch abgeschlossene Welt, die nicht einmal Kata betreten kann: »Isti redete in seiner eigenen Sprache, die nur er verstand und sprach, mit sich selbst, wenn er allein war, die er sich ausgedacht hatte. […] Nicht einmal mir sagte er, wie er die Dinge um uns benannt hatte und wie wir jetzt hießen« (61). Nach einer Weile nimmt er nicht-verbale Sprachen wahr, er hört die Gegenstände, den Himmel, die Weintrauben, die Bäume u. ä. sprechen (»Als ]gi Vir#gs Haar schnitt, ging Isti aus dem Haus, weil er das Haar hatte schreien hören, als es zu Boden fiel« – 73). Seine Beziehung zur Sprache trägt unverkennbar die Merkmale der kindlichen Weltsicht, er verwechselt bzw. verbindet deskriptive und metaphorische Modi der Sprache (Isti setzt z. B. die Wiese, deren Gras spärlich wuchs, mit Zolt#ns Schädel gleich – wenn man die Erde umgräbt, glauben die Kinder, Zolt#ns Schreie zu hören – 80). Die Ge-
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schwister konfabulieren über die Reise der Mutter, sie erzählen einander Geschichten, an deren Wahrheit sie selber zu glauben anfangen, sie hören – im Gegensatz zu den anderen Kindern – mit ihrem »inneren Ohr« unsichtbare und stumme Gegenstände, und Isti kann die äußere Realität von seiner Imagination, seiner Bewusstseinswirklichkeit nicht unterscheiden (Kata erklärt Istis tödlichen Fall ins eiskalte Wasser damit, dass in seinen Gedanken schon Frühling war und er die Mutter gesehen habe: »[I]n seinem Kopf sei es längst schon Frühling gewesen, der Schnee, die Kälte, das Eis, all das sei ihm nicht aufgefallen, er habe es nicht bemerkt, einfach nicht bemerkt, und niemand staunte, als Isti sagte, er habe sie übers Wasser laufen sehen, seine Mutter, und er habe ihr bloß folgen wollen« – 277). Istis Sprachgebrauch ist also performativer Natur, er konstruiert durch Benennung, Namensgebung oder schlicht durch die Wahrnehmung oder die Kraft der Vorstellung Wirklichkeiten. Auch Kata verwendet aber die Sprache figurativ, u. a. als sie annimmt, dass die Stadt Szerencs sie glücklich machen soll (szerencse heißt auf Ungarisch »Glück«, 27), oder als sie die Kinder und Familie verlassende Mutter in Kata Ringlos umtauft.56 Diese Merkmale des Sprachgebrauchs – Istis Versuche, Spuren zu hinterlassen, und seine Bemühungen, den Dingen Namen zu geben – sind auf das Nichtvorhandensein der Mutter bzw. im breiteren Sinn auf die Abwesenheit des Bezeichneten zurückzuführen. Der Junge besteht einerseits auf äußerlichen Signifikanten und begreift die Sprache in einer sinnlichen (aber leeren) Materialität, u. a. als er den Fahrplan memorisiert. Dieser obsessive Akt beruhigt Kata und Isti – zusammen mit weiteren Ritualen des Geschwisterpaares an Bahnhöfen, wie dem Spucken auf Züge oder den lauten Abschiedsschreien:57 Das 56 Der Name Kata Ringlos hat auch eine wörtliche Bedeutung: Die Mutter verkauft den Ehering an den Bauern, der sie über die Grenze in den Westen bringt. Indem die Kinder den Namen stets rezitieren, zeigen sie den Preis des Neuanfanges auf, nämlich das Fehlen nicht nur des Rings, sondern auch der Familie (der Kinder) in ihrem Leben, wie es das privative Suffix los zur Sprache bringt, oder auch die folgende Szene, in der nicht nur die zirkuläre Bewegung als Leitmotiv des Romans, sondern auch die Figur der Inversion eine zentrale Rolle spielt (die Mutter fühlt sich verlassen): »Irgendwann stand meine Mutter auf, ging auf den Hügel zu, setzte ein fremdes Kind in Schal und Mütze auf seinen Schlitten und zog es dann so lange im Kreis über diese Wiese, bis jemand kam, um ihr das Seil aus der Hand zu nehmen. Meine Mutter stand eine Weile dort, und ein bißchen sah sie aus, als habe man sie abgesetzt, ausgesetzt, als habe man sie vergessen« (164). 57 »Als wir besser wurden, spuckten wir auf Züge. Am liebsten auf Züge, die in unsere Richtung, in Richtung unseres Dorfes fuhren. Wir spuckten und brüllten, Küßt mir Vat! Grüßt mir Vat! Küßt Kov#cs von uns! […] Isti wiederholte Städtenamen, die sie über Lautsprecher ausriefen, auf unserem Weg zurück, viele Male hintereinander, und ich sagte, als wüßtest du, wo diese Orte liegen. Er sprach sie so aus, als seien es keine Städtenamen, sondern etwas anderes, ein Sprichwort, ein Gebet. Manchmal klang es so, als müßte man diese Namen genauso aussprechen, wie Isti es tat, wenn er sie schnell hintereinandersetzte: Hatvan-Hatvan-Hatvan, Gödöllo˝-Gödöllo˝-Gödöllo˝« (21). Die Kinder (der des Lesens unkundige Isti) suchen in der klanglichen Materialität der Sprache einen Fluchtpunkt, wie das u. a. im Akt der
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ordnungssichernde Potenzial der Zeittafel vermag den Jungen (einem Kind ohne festes Zeitgefühl) der Kongruenz der zeitlichen und räumlichen Progression zu versichern,58 letztendlich von der Beherrschbarkeit der Kontingenz, welche die Abreise der Mutter verkörpert: Aber überall im Land, wo immer wir waren, gingen Isti und ich an Bahnhöfe, um auf Abfahrtsplänen nach Zügen zu suchen, die nach Budapest fuhren. […] Ich hatte Isti gezeigt, wie das Wort Budapest aussah. Es war das einzige Wort, das er lesen konnte, und für lange Zeit blieb es das auch. Nur wenige Züge fuhren nach Budapest. Wenn wir einen Zug entdeckten, merkten wir uns die Abfahrtszeit und sagten sie einander immer wieder auf. Isti vergaß nicht eine. Selbst wenn wir einen Ort längst schon verlassen hatten, behielt er die Abfahrtszeiten von dort im Gedächtnis. Wir machten es zu einem unserer Spiele. Isti forderte, frag mich was, ich nannte ihm einen Ort, und er sagte mir die Zeiten dazu. Für Abfahrt und Ankunft. (24)
Einen ähnlichen äußerlichen oder provisorischen Identitätswechsel repräsentieren die Rollenspiele der Kinder, die ebenfalls von einer Namensgebung oder Namenswahl eingeführt werden – Isti tauft sich »L#szlj Abgebrannt« oder »Kleinfill8r« (189),59 als er bei Vir#g während eines Spiels aus Spaß Brötchen bestellt, und vor Zolt#n schlüpfen die Kinder auch in die gespielten Rollen von historischen Persönlichkeiten oder Märchenfiguren: Vir#g gab nicht auf. Jeden Tag stellte sie uns ihrem Vater aufs neue vor, sagte wieder und wieder unsere Namen und brachte Zolt#n dazu, sie zu wiederholen. […] Bald machten wir uns einen Spaß daraus, und mein Vater sagte, er sei König M#ty#s oder Bartjk B8la oder Horthy Mikljs oder Pusk#s Ferenc und habe das entscheidende Tor geschossen. […] Isti und ich, sagte mein Vater, seien Hänsel und Gretel. (75)
Das Spiel des Identitätswechsels schlägt in Scham um, als Zolt#n infolge seiner körperlichen Beschränktheit (seiner posttraumatischen Labilität) die Kinder tatsächlich nicht erkennt. Eine ähnlich tragisch-traurige Wende markieren auch jene Rollenwechsel im Roman, die auf einer Analogie zwischen Mensch und Tier beruhen. Der Grund für ihre Identifikation besteht darin, dass in der Geschichte mündlichen (auf leibliche Anwesenheit angewiesenen) Rezitation der Namen manifest wird. Als Kata beim Besuch auf dem Kerepesi-Friedhof die Namen unbekannter Toten laut wiederholt, erweist sich dieser Akt als Kompensation für die (oder Kontrapunkt zur) Abwesenheit (der Verstorbenen und der Mutter): »Ich lief über Kieswege, die mir endlos schienen, vorbei an Namen, die ich laut vor mir her sagte, Tjth Lajos, Vit#nyi Orsolya, Hajdffl P8ter, und blieb stehen an Gräbern, vielleicht bloß, um vorzugeben, jemand zu sein, der jemanden hatte« (25). 58 Züge lassen sich im Allgemeinen als räumliche und zeitliche Metapher deuten. Vgl. hierzu Foucaults Erläuterungen: »[E]in Zug ist ein außerordentliches Beziehungsbündel, denn er ist etwas, was man durchquert, etwas, womit man von einem Punkt zum anderen gelangen kann, und etwas, was selber passiert« (Foucault 1992: 36). Vgl. hierzu auch Nyota 2013: 112. 59 Das Attribut »abgebrannt« kann auch im konkreten Sinn als Hinweis auf das abgebrannte Haus der Familie Zolt#ns interpretiert werden, vgl. Lengl 2012: 160f.
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beide zur Zielscheibe der Gewalt und vom Subjekt zum Objekt werden, wie das bei den gemarterten Tieren der Fall ist (Fischen werden die Köpfe abgeschlagen, Ratten die Augen ausgestochen, Hunde mit Kette gefesselt),60 und auch bei den Menschen, denen ein analoges Schicksal zukommt (der schwimmende Isti erinnert Kata an einen »Hund, den man mit einem Stein am Fuß ins Wasser geworfen hat« – 83, ]gi bindet Zolt#n ein Glöckchen ans Fußgelenk, damit man ihn auch nachts laufen hört – 74, der Vater pfeift zu Isti »durch seine Zähne […] wie nach einem Hund« – 182, und den ohnmächtigen Jungen hält man für ein Pinguin – 271). An diesen Punkten verschränken sich die spielerische Simulierbarkeit und Äußerlichkeit der Identitäten sowie die Rollen und Bedeutungen mit der Problematik der kaum zu verbalisierenden Gewalterfahrungen und Traumata. Istis Geschichte trägt nicht nur die bereits behandelten Merkmale seines eigentümlichen Sprachgebrauchs, sondern sie ist auch durch viele Leerstellen gekennzeichnet. Er hört und sagt »Dinge«, die Kata nicht einmal wahrnehmen, geschweige denn verstehen kann – auch ihre Erzählung wird durch Mangel (an Verständnis, der Mutter) in Bewegung gehalten: Im Gegensatz zu den erwachsenen Lesern bleibt für die Geschwister Vieles unklar, ihre kindliche Perspektive ist begrenzt, sie sind oft abwesend, wie z. B. Kata, die Isti nur zusehen, ihn aber nicht hören (und nur die Bewegung seiner Lippen beschreiben) kann, als er in einer Schlüsselszene des Romans mit der Großmutter spricht:61 Großmutter strich über seinen Kopf, über sein Haar, und Isti begann zu reden. Ich konnte sehen, wie sich seine Lippen bewegten. Und dann nickte Großmutter, sie hörte nicht mehr auf damit, mit diesem Nicken, als wollte sie Isti bedeuten, jedes Wort, das du sagst, verstehe ich, jedes Wort, und Isti schob seinen rechten Fuß über den Boden, vor und zurück, ein paar Mal, und er redete und redete, und wir anderen, wir schauten auf die beiden und wagten nicht zu rufen, es ist Zeit. (183)
60 »Als Isti und ich Platten im Schuppen entdeckten, erklärte Pista, wenn wir Fallen aufstellen, werden sie wiederkommen, wir müssen ihnen mit einer heißen Nadel in die Augen stechen. Er legte eine Nadel neben die Herdflamme, und als sie glühte, versteckten Isti und ich uns auf dem Heuboden« (30). 61 Das Aussprechen der Probleme verhilft Isti jedoch nicht zu ihrer Bewältigung: Statt erleichtert zu sein, ist er von diesem Moment an quasi scheintot und das Hineinfallen ins eisige Wasser vollendet nur diesen ohnehin angefangenen Prozess. Mit dem oben zitierten Abschied von der Großmutter löscht Isti auch die Mutter aus seinem Leben aus: »Isti hörte auf, Fragen zu stellen, ob und wann unsere Mutter zurückkommen würde. […] Kata Ringlos hörte auf zu sein, weil Isti es so wollte« (185). Isti verwandelt sich, er sieht aus »wie ein Gast, den man nicht geladen hat und mit dem man nicht zu reden weiß« (ebd.), er verliert seinen besonderen Wahrnehmungssinn, und dementsprechend verändert sich auch der Raum um ihn herum: »Die Welt wurde lautlos, wir konnten sie nur noch sehen, nicht mehr hören, und wir schauten sie an, wir schauten ihr zu, Vir#g, Isti und ich, wie sie sich drehte, vor dem Fenster, und wir fragten uns, ob wir etwas anderes hören könnten, wenn wir die Welt nicht mehr hörten« (186).
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Als Grund dafür, dass sie nicht einmal sich selbst als Geschichtenerzählerin vertrauen kann, führt Kata an anderen Stellen die zeitliche Distanz an: Sie hebt u. a. hervor, sich an keine Zeitpunkte erinnern zu können (»Ich glaube, er [Isti] wußte nicht, wie lange wir bei Zsjfi waren, wie lange wir dort blieben, und ich, ich wußte es auch nicht mehr. […] Vielleicht bringe ich die vielen Winter auch schon durcheinander« – 46; »Ob Jahre oder Monate – einen Unterschied macht es nicht, auch nicht, ob alles so zusammenhängt, wie ich mich erinnere« – 207). Des Weiteren betont sie – die Unzuverlässigkeit ihres Erzählens selbst andeutend –, das tatsächlich Geschehene von ihren Wunschvorstellungen oder ihrer eigenen (womöglich verstellenden) Sichtweise des Geschehenen nicht unterscheiden zu können (»[V]ielleicht war es später nur noch sein [Istis] Blick, der so blieb wie am Anfang. Vielleicht war es auch nur mein Blick, ich weiß nicht« – 83). Diese Schwankungen lassen sich zwar, wie erwähnt, auch mit dem kindlichen Blick der Erzählerin und mit der wirklichkeitskonstruierenden Rolle des kindlichen Bewusstseins erklären, vor allem sind sie aber auf die Problematik der Erinnerung und der Zeitlichkeit des Traumas zurückzuführen.
Temporalität, Trauma und Narration Der Romantext ist nicht nur von der Dualität der Bewegung und Bewegungslosigkeit durchwoben, sondern auch im engen Zusammenhang damit (sowie auch mit der Problematik der Erzählung bzw. Erzählbarkeit) von den Spannungen zwischen unterschiedlichen Konzeptionalisierungen der Zeit (Linearität versus Zirkularität, »innere« versus »äußere« Zeit) und der Zeitlosigkeit (Beständigkeit). Die Beziehung zwischen den Räumen im Text ließ sich mit jener ambivalenten Komplexität von Trennung bzw. Getrenntheit und Durchlässigkeit charakterisieren, die dem Begriff der Grenze innewohnt und auch im Präfix trans zur Sprache gebracht wird. Ähnlich vielschichtig und dynamisch ist auch das Verhältnis von zeitlicher Progression und Stagnation in der Geschichte, die auch den Zusammenhang von zeitlichen und räumlichen Prozessen thematisiert, u. a. im Leitmotiv des Spurenhinterlassens (die Kinder versuchen, ihre aus dem unvermeidbaren ständigen Weiterreisen resultierenden Mangelgefühle durch das Hinterlassen räumlich-materieller Zeichen zu kompensieren), oder als Kata ihre Erfahrung der Disloziertheit mit Veränderungen der Zeitwahrnehmung verbindet (»[die] Zeit [lief] […] neben uns […], ohne uns zu streifen« – 175).62 Das erwähnte Bild des Kreisels lässt sich in Katas Erzählung nicht nur auf ihre räumlichen Koordinaten beziehen, sondern auch auf die temporalen, insbe62 Zum Zusammenhang von Erinnern und Spurenhinterlassen im Roman vgl. Horv#th 2015.
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sondere auf die Kategorie der Zirkularität. Diese Art der Zeitwahrnehmung entspricht – der Erfahrung der Beständigkeit bzw. der Zeitlosigkeit ähnlich – dem Zeitbewusstsein des Kindes, der naturnahen Position des Schwimmers und der Zeitlichkeit der Traumaerfahrung (die Vergangenheit, die nicht vergehen kann, wird stets wiederholt oder vergegenwärtigt, in den Figurenbiografien kehren traumatische Ereignisse wie Selbstmord, Kindertod und Krieg wider). Die Rhythmik der Zyklizität spielt im ersten Romankapitel als Erzählmodus der miteinander verknüpften (traumatischen) Geschichten (und Märchen) von der Mutter und der Großmuttereine konstitutive Rolle: Als es meine Mutter für mich noch gab, erzählte sie uns Märchen, die mein Bruder für die Wahrheit hielt. Er glaubte ihr, wenn sie sagte, unsere Großmutter sei in einer Nacht ergraut. Später erzählten uns andere diese Geschichte immer wieder – nur ein wenig anders. Die Geschichte meiner Mutter, die das Land ohne ein Wort verlassen hatte. Un d die Geschichte ihrer Mutter, die in einer einzigen Nacht alt geworden war. (8)
Die (zirkulären) Wiederholungen repräsentieren gleichzeitig auch die Zeitlichkeit der wiederkehrenden täglichen Routine, deren Sicherheit vom traumatischen Ereignis gefährdet wird: Kata hebt hervor, dass die Mutter an einem vollkommen durchschnittlichen Tag abgereist ist (»Sie war zum Bahnhof gelaufen, wie an vielen anderen Tagen auch« – 8) und auch Istis Tod schien sich in den Rhythmus des Alltags einzufügen (»Für uns war der Tag, an dem Isti ins Wasser fiel, ein Tag gewesen wie jeder andere« – 276). Diese unerwarteten, kontingenten Ereignisse spalten den Erzählfluss radikal in zwei Teile, in ein »Davor« und ein »Danach«, die mit einer dritten Zeitlichkeit, mit der Erzählgegenwart ergänzt werden (Kata entscheidet sich dreizehn Jahre nach dem Verschwinden der Mutter für das Verlassen des Landes). Die bereits erwähnte Technik des Erzählens aus zweiter Hand (durch/von Erzählungen anderer) wird zum Erzählmodus auch von Katas Text: Zwar wird in den Lebensgeschichten der Figuren um die Kinder Katas Ich-Narration zumeist von einer auktorialen Erzählung in der dritten Person abgelöst, doch finden sich in jedem Kapitel Hinweise dafür, dass Kata (mehrfach eingebettet) nur das erzählt, was sie von anderen gehört hat.63 Die Struktur der zweiten Zeitebene wird damit sehr komplex, denn die Kinder erfahren von dem halben Jahrzehnt des Lebens der Mutter nach 1956 erst wesentlich später, nach dem Besuch der Großmutter im Westen: All diese Dinge waren vor Jahren geschehen, vielleicht vor fünf, sechs Jahren, obwohl wir erst jetzt von ihnen erfuhren. […] Isti und ich, wir waren im Rückstand, in einem Rückstand, den wir nicht mehr aufholen würden. Was wir jetzt erfahren hatten, war längst vorbei, längst Vergangenheit. Wir wußten nie, was mit unserer Mutter geschah, jetzt zum Beispiel, wenn wir hier am Tisch saßen. (178f.) 63 So erzählt Kata z. B., was Rjzsa erzählt hat, was dieser wiederum Katalin erzählt hat (128– 129), oder sie erzählt, was ihr Anna erzählt hat, was dieser von K#lm#n erzählt wurde (157).
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Isti und Kata können erst nachträglich eine Parallele zwischen ihrem Leben und der Geschichte der Mutter ziehen, die in einer paradoxen Konstellation, nämlich beim Akt des Abschiednehmens, als notwendiger Bezugspunkt der kindlichen Identität konstruiert wird: Vielleicht hatte er [Isti] sich von etwas verabschiedet, das es ohnehin nur noch in den Tagen und Nächten gegeben hatte, nachdem wir alles gehört hatten, – etwas, von dem wir nicht genau wußten, was es war, aber es war etwas, das uns mit der Welt davor oder der ersten Zeit, wie wir sie später nannten, verbinden konnte, wenn auch bloß in Gedanken. Vielleicht hatte sich Isti sogar von allem verabschiedet, was er bislang gewesen war oder was wir bisher gewesen waren. (180)
Die Nachträglichkeit und die Vermitteltheit sind einerseits mit dem fehlenden Mitwissen der Kinder, mit Verhinderungen der Kommunikation und der Erinnerung zu erklären:64 Die Postkarten der Mutter werden nicht zugestellt (»Kaum einer dieser kurzen Briefe hatte uns erreicht, obwohl meine Mutter nie mehr geschrieben hatte als: Es regnet.« – 174), nur einmal lässt sie die Familie durch den Radiosender Freies Europa grüßen, und obwohl die Kinder versuchen, sie mit ihrem Foto zu »ersetzen«, befürchtet Kata das Verblassen der Erinnerung an sie (so der erste Satz des Romans: »Ich hatte wenige Erinnerungen an meine Mutter« – 7). Andererseits spiegelt dieses besondere Merkmal der Erzählkomposition, die Notwendigkeit und konstitutive Relevanz der Erzählungen und Perspektiven anderer, auch die Unerzählbarkeit, die Problematik der narrativen Vermittlung traumatischer Erfahrungen. Die (mit der Abwesenheit der Mutter analogen) Leerstellen sind auch rekurrierende Motive der Erzählung. Wichtige Ereignisse verschließen sich dem kindlichen Blick des Narrators – wie erwähnt, sind die Kinder häufig entweder physisch abwesend oder sie können das Gehörte bzw. das Gesehene nicht verstehen. Der Vermittlung bzw. Vermitteltheit, der Übernahme der Perspektiven der vierzehn Familienmitglieder und Freunde, kommt dadurch eine heuristische Relevanz zu. Die Lebensgeschichten der Figuren aus den Kapitalüberschriften sind aber beinahe ausnahmslos von wiederkehrenden und unbewältigten Traumata geprägt, die auch körperliche Spuren (wie Zolt#ns Demenz) hinterlassen. Das Weiterleben in der Gegenwart und der Zukunft wird in diesen Fällen durch das »Einfrieren« der Zeit65 verhindert (nach dem Selbstmord des 64 Ren8 Kegelmann analysiert die Struktur der Erinnerung an die Mutter mit einer ausführlichen Typologie: Er unterscheidet zwischen realen Erinnerungen, »erfundene[n] Erinnerungen und Deutungen von Erinnerungspartikeln«, »Erinnerungen aus zweiter Hand« und »Rückerinnerungen« (Kegelmann 2007: 167–172). 65 Die Progression der äußeren, objektiven Zeit und die Zeiterfahrung der Traumatisierten (ihr »Aus-der Zeit-gefallen-Sein«) werden an mehreren Stellen des Romans miteinander kontrastiert: »Das Komische war : Unser Leben ging weiter, obwohl meine Mutter uns verlassen hatte. Der Morgen kam, es wurde Nacht, und daß es so war, überraschte mich nicht mehr. Wir
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Großvaters verbietet Anna das Aufziehen der Uhren). Obwohl Kata (aus der Perspektive von Anna oder ]gi) auch von den Todesfällen berichtet und mittelbar ebenso von den Details des Grenzübertrittes der Mutter erzählt, bleibt Istis Tod – der Emigration Jeno˝s ähnlich – eine Ellipse, eine unerzählbare Leerstelle.66 Das Kapitel Isti fängt mit der gewohnten Struktur an – die Erzählerin zitiert die Blickpunkte anderer, die Geschichten von Außenstehenden (die Ankunft der Mutter an der österreichischen Grenze wurde ganz ähnlich aus der Perspektive des fremden menschenschmuggelnden Bauers beschrieben):67 Isti war übers Eis gelaufen, vielleicht gesprungen, ein Stück unter seinen Füßen hatte sich gelöst und war mit Isti wenige Meter den Fluß hinabgetrieben, bis es auseinanderbrach – jemand von der Zugstation hatte es Zsjfi später so erzählt. Wie ein Pinguin, hatte man gesagt, und als Zsjfi es uns erzählte, schimpfte Pista, Kinder treiben nicht auf einem Stück Eis übers Wasser, nicht in unserer Gegend, wer behauptet das. Eine Fremde hatte Isti gefunden. Auf ihrem Pfad war sie gefahren, am Fluß entlang, und hatte ihn entdeckt, auf einem Steg, hinter ein, zwei Büschen, die dunkel und kahl waren um diese Zeit des Jahres. Zuerst hatte sie ihn für etwas gehalten, das die Angler im Herbst vergessen hatten […]. (271)
Dieses ist jedoch das einzige Ereignis, das Kata einige Seiten später auch aus ihrem eigenen Blickwinkelneuerzählt und dabei mit der Unmöglichkeit der Aufgabe des Erzählens konfrontiert wird: Für uns war der Tag, an dem Isti ins Wasser fiel, ein Tag gewesen wie jeder andere. Vielleicht war das Licht anders gewesen – oder ich glaube es jetzt nur, weil ich es gerne so hätte. […] Am Nachmittag war Isti aus dem Fenster gestiegen, nicht, weil ihn niemand sehen durfte, sondern weil es ihm besser gefiel, als einfach nur durch die Tür zu gehen, wie es jeder tat. […] Später habe ich immer wieder versucht, diesen Tag in meinem Kopf zusammenzufügen, die fehlenden Stücke zu finden und einzusetzen, die fehlenden Bilder zwischen Istis Sprung aus dem Fenster und seinem Sprung ins Wasser, aber es gelang mir nicht. Irgend etwas fehlte. Irgendwo blieb eine Stelle leer, immer. (276f.) standen auf, wir setzten uns in Bewegung, wir fluchten, wir beteten, wir aßen, wir stritten miteinander. Mir kam es so vor, als würden wir etwas Unrechtes tun, als dürfte die Zeit nicht vergehen« (24–25). Kata verweist mehrmals auf dieses (posttraumatische) »Gefrorensein« der subjektiven Zeit (vgl. hierzu ]gis Verhalten nach dem Tod ihrer Tochter : »Sie hatte die Uhr nicht mehr aufgezogen, niemand hatte das getan, sie hatte die Fenster nicht mehr geöffnet, die Blätter nicht mehr vom Kalender gerissen, auf dem es März blieb, bis November« – 91f.). Sie erwähnt aber auch die ständige Gegenwärtigkeit der Vergangenheit: »Isti schien Vir#g vergessen zu haben, sobald unser Zug aus Sijfok hinausfuhr, so wie er alles vergaß, weil er es vergessen wollte, und ich, ich wußte nicht, wie ich aufhören sollte, an sie zu denken.« – 229, bzw. »Aber ich, ich dachte weiter an sie, weil ich nicht aufhören konnte damit, weil etwas in mir genau das nicht zuließ« (241). 66 »[U]nser Vater sagte, es ist etwas mit Jeno˝, Jeno˝ ist nicht mehr da, er hat uns verlassen, er ist weg, und er sagte all das sehr leise. Isti fragte, wo ist er?, aber er fragte nur so. Er wußte, wo Jeno˝ jetzt war, und ich, ich wußte es auch« (246). 67 Zur Analyse der Szene vgl. Györke 2015: 231.
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Das Andere erwies sich, wie wir gesehen haben, bis zu diesem Punkt immer als konstitutiv hinsichtlich der Erzählbarkeit der Leerstellen (des Mangelnden, des Abwesenden) und der Ich-Konstitution. Die Überschrift des ersten Kapitels lautet vielsagend Wir (als Kontrapunkt zum letzten Kapitel mit dem Titel Kata, die sich nach Istis Tod, stets von seiner imaginierten Anwesenheit geprägt, auf die Abreise vorbereitet). Die enge Beziehung zwischen Kata und Isti ist in der Sekundärliteratur nicht unbemerkt geblieben, einige betrachten sie nicht einmal als zwei unterschiedliche Personen (Kegelmann 2007), andere interpretieren die Figur Istis als Projektionsfläche für Katas kaum zu verbalisierende Emotionen. Nach Linda K. Nyota kann Kata ihre Funktion als Erzählerin nur infolge einer eigenartigen, artistischen Verschiebung erfüllen: Sie behebt das Paradox der Ich-Repräsentation in der Trauma-Repräsentation, indem sie ihre eigene Lebensgeschichte als bzw. durch die Geschichte anderer erzählt. Beispielsweise beschreibt sie ihre Ängste als Ängste um Isti und sie spricht statt von ihren eigenen Erfahrungen und Gedanken von denen Istis, als wäre ihre eigene Welt nur aus zweiter Hand als (gefiltert durch) Istis Welt zugänglich.68 Der Protagonist und die Titelfigur ist zweifelsohne Isti (obwohl es diesbezüglich auch andere Interpretationsmöglichkeiten gibt) und Katas Äußerungen lassen sich eigentlich ausnahmslos in Bezug auf Isti deuten. So ist es nicht verwunderlich, dass die Erzählung ins Stocken gerät, nachdem der für die Narration und das Ich konstitutive Andere (Isti) zu existieren aufhört. Der Tod des Jungen bleibt eine erzählerische Leerstelle, im letzten Kapitel kommt man in der Erzählgegenwart an (das ist die Zeit des Wartens auf die Abreise von Kata), die jedoch mitbestimmt wird durch die Anwesenheit der Abwesenden (von Isti und Jeno˝). An diesem Punkt zeigt sich der Zusammenhang zwischen der Mikro- und Makroebene der Geschichte (der individuellen und der politischen Geschichte) sehr deutlich und in seiner Verschränkung mit den Merkmalen der Erzählkomposition und des Traumas. Die Geschichten anderer und die Erzählung durch andere sind nicht nur ein konstitutives Moment des Erzählens und können auch nicht lediglich als Zeichen oder Quellen einer empathischen Haltung69 bzw. als Bewältigungsmöglichkeiten der Traumarepräsentation gedeutet werden. Die Familie wird nämlich von Anfang an und während der gesamten Reise mit stigmatisierenden Einstellungen der Dorfgemeinschaft, sowie mit der ihnen 68 Nyota betont die Plastizität der Grenzziehung zwischen Kata und Isti anhand von Szenen, in denen die Erzählerin selbst auf ihre Ähnlichkeit bzw. Identität reflektiert (Nyota 2013: 106– 110). (Nach Istis Unfall fängt Kata an, wie ihr Bruder unsichtbare und unhörbare Dinge zu hören: »[N]och bevor ich hörte, daß man Zsjfis Namen rief, hatte ich schon gehört, daß jemand mit dem Fahrrad über die Wegkreuzung fuhr, obwohl man es von hier, von Zsjfis Küche aus gar nicht hören konnte« – 273). 69 Györke betont in diesem Kontext, dass der translokale Raum die Möglichkeit einer ethischen Öffnung bietet (Györke 2015: 232).
Temporalität, Trauma und Narration
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– von Fremden – aufoktroyierten Fremdheit und Außenseitertum konfrontiert.70 Der Vater verkauft Haus und Hof in V#t, »[a]ls man sich […] nach dem Gottesdienst erzählte, meine Mutter sei mit einer Freundin in den Zug gestiegen, ohne Koffer, ohne Tasche, ohne Abschied, als man sich auch erzählte, ich [Kata] säße jetzt, im November, draußen im Regen, und keiner hindere mich daran« (13). Kata erwähnt auch später, was man sich im Dorf erzählt: (»[M]an [hatte] im Dorf schon gefragt […], warum mein Vater jetzt, bei diesem Wetter, unten am See auf der Mole sitze« – 110), und zum zweiten Mal muss die Familie deswegen aufbrechen, weil es sich im Dorf herumspricht, dass der Vater und Pva eine Beziehung haben (»Noch an diesem Abend sagte Pista, es ist besser, wenn ihr geht, und Zsjfi schimpfte, was gibst du plötzlich auf das Gerede« – 50). An Bahnhöfen und im Zug beschreibt Kata, wie sie von anderen angesehen werden (»Hin und wieder war der Blick eines Fremden an ihm hängengeblieben, im Vorbeigehen, weil Isti nichts anhatte als ein Männerhemd, das ihm bis zu den Knien reichte, vielleicht auch, weil Isti aussah, als sei er davongelaufen« – 230). Parallele Motive – das Leben der Familie wird bestimmt durch die Meinung und die Erzählungen der (fremden) Gemeinschaft – finden sich auch in den Kapiteln über die Auswanderung der Mutter : Großmutter hatte geweint, »als sie die ersten Meldungen im Radio gehört und nicht gewußt hatte, wie sie diesen Winter überstehen sollte […] mit dieser Angst, nachdem jemand aus Vat zu ihr gesagt hatte, Rjzsa, deine Kata, sie ist im Westen, sie ist nach Amerika, auf einem Schiff, jemand hat es im Radio gehört« (169). Als die Mutter an der Grenze zu Österreich ankommt, wird sie, wie bereits erwähnt, mit den Augen eines fremden Bauern beschrieben, der nur erkennt, dass Katalin und Vali Fremde sind, weil »sich herumgesprochen hatte, hier würden sie ankommen, aus dem ganzen Land, von überallher, aus jedem Winkel des Landes, um den Weg über die Grenze zu suchen« (129) und der an der Grenze zwischen Leben und Tod stehende Isti wird ebenfalls zunächst von einem Fremden erblickt. Diese nicht unbedingt konstitutiven Fremderfahrungen werden gerade durch ihre Äußerlichkeit, durch mehrfache Vermittlung und Fokuswechsel erzählbar (Kata erzählt die Geschichte ihrer Mutter, die sie von der Großmutter hört, in erster Linie aus der Perspektive Katalins, sie verinnerlicht aber auch den Blickwinkel des Bauern). Dem Geschwisterpaar bleiben politische Ereignisse (inklusive ihrer Auswirkung auf das Familienleben) und im Allgemeinen viele Segmente des Erwach-
70 Das Außenseitertum der Familie wird an mehreren Textstellen evident: Sie wohnen typischerweise immer am Rande des Dorfes, isoliert, die Mutter trägt auf den Fotos andere Kleider als die Mehrheit, und beiden Elternteilen wird »vorgeworfen«, Zigeuner zu sein – aufgrund ihrer Hautfarbe (10) und seiner Frisur (76). Vgl. hierzu Lengl 2012: 168.
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senenlebens (so die Sexualität)71 unverständlich – auch die Zeit als narrative Grundkategorie wird als Teil dieser aus kindlicher Sicht vermittelten, den Kindern aber grundsätzlich fremden Welt problematisiert. Die Zeit der Kinderwelt wird der Zyklizität der Natur ähnlich strukturiert, welche der relativen Ereignislosigkeit der Handlung und der Zirkularität der rekurrierenden Motive (Einpacken, Verreisen, Ankommen, Schwimmen) entspricht und der Zeitlosigkeit des Traumas analog ist. Die Zeit der Erwachsenenwelt und der Makrogeschichte, die Progression und Linearität sind den Kindern aber wesensfremd: »Was sieben Uhr fünfzehn oder siebzehn Uhr dreiundfünfzig bedeuteten, wußten wir nicht wirklich. Für uns waren die Zeitangaben nicht mehr als Zahlen, nebeneinanderstehende Zahlen« – 21.72 Isti besteht trotzdem auf dem (ihm fremden) Akt der Zeitmessung, als er das Schwimmen (eine Bewegung, die gerade wegen ihrer Ziellosigkeit eine befreiende Wirkung für die Familie hatte) mit einem Telos ausstattet: Isti sagte, er trainiere. Für die Zukunft, für die Meisterschaft, für seine Freundin Vir#g, für die Gesundheit, für eine Schülermedaille, für die Olympischen Spiele in fünfzehn Jahren und für die Familie. […] Vir#g hatte aus Sijfok eine Uhr mitgebracht, die Sekunden zählen konnte, und jetzt ging sie mit Isti ans Wasser, steckte am Ufer eine Strecke ab, mit Ästen und Tüchern, nahm die Zeit. […] Vir#g fing an, irgendwelche Zeiten zu nennen, und Isti freute sich über diese ausgedachten Erfolge. Ich glaube nicht, daß er wußte, was schnell und was langsam war, ob sechzig Sekunden für zwanzig Meter ein gutes oder ein schlechtes Ergebnis waren. (84f.)
Der Junge wiederholt bei dieser Nachahmung der Erwachsenenwelt denselben Akt einer Flucht in die Scheinsicherheit leerer Signifikanten wie bei ihren Ri71 Ein treffendes Beispiel hierfür ist, wie Kata über die Beziehung des Vaters und Pvas spricht: Sie weiß nicht, wo er die Nächte verbringt (»Erzsi wußte, wohin er ging. Ich nicht.« – 17), und auch den sexuellen Akt zwischen K#lm#n und der Braut beschreibt sie so, dass für den Leser sowohl der Akt als solcher als auch dessen Unverständlichkeit für das betrachtende Mädchen evident werden (35). Die Liebe zwischen Ir8n und Mih#ly wird auf ähnliche Weise durch das Prisma des Modus Vivendi, der Unsicherheit des beschränkten kindlichen Blickes, wie folgt wiedergegeben: »[Es] geschah etwas mit Ir8n, ohne daß wir genau wußten, ohne daß wir ahnten, was es war. Es war nichts Neues an ihr, das uns hätte auffallen können, und trotzdem konnten wir etwas an ihr sehen. […] Wir warteten darauf, daß dieses Es vorbei sein würde, bald schon. […] Aber es hörte nicht auf, dieses Gefühl, es verließ uns nicht. Es blieb und klammerte sich an unsere Tage, an diesen einen Sommer und es versteckte sich nicht länger, es zeigte sich, deutlicher sogar, nicht mehr nur in unserer Vorstellung, es zeigte sich, als wir Mih#ly und Ir8n zusammen sahen, hinter den letzten Häusern vor der Mole, wo das Gras flach war, obwohl dort niemand ging« (201ff.). 72 Die Abwesenheit der Mutter, die Verhinderung der Erinnerung und die Problematisierung des Zeitbewusstseins der Erzählerin verschränken sich bereits auf der ersten Seite des Romans: Kata berichtet davon, wie die Familie immer wieder die Fotos der Mutter bewundert, wie folgt: »Daß es Tage waren, wußte ich, obwohl ich damals sicher keinen Begriff von Zeit hatte. Für mich gab es nur Zeiten, die ich ertragen, und Zeiten, die ich kaum ertragen konnte« (7).
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tualen an Bahnhöfen (Auswendiglernen der Fahrplantabelle, Wiederholung der über Lautsprecher ausgerufenen Städtenamen). Das Memorisieren der Abfahrtspläne und die Simulation der Zeitrechnung haben aber kein funktionierendes Pendant auf der Ebene der Sprache und des erzählerischen Blickes, infolgedessen kommt keine narrative Omnipotenz zustande, sondern lediglich eine »mit der Erfahrung der Postmoderne belastete erzählerische Allmacht« im Sinne N#das’ (N#das 2002). Der Grund für diese »Belastung« besteht nicht nur in der Mehrschichtigkeit der Autorenposition (in der ständigen Konfrontation der Perspektiven und Fokusse des Lesers und der Geschwister, der Ersten-PersonErzählung und der Binnenerzählungen), sondern auch in der Problematik der Erzählbarkeit des Politischen, die wiederum mit der Dominanz des kindlichen Blickes zusammenhängt.
Den Aufstand erzählen? 1956 in Der Schwimmer In Der Schwimmer finden sich, wie erwähnt, nur sporadische Hinweise auf politische Ereignisse als Kontext der Familiengeschichte, auch wenn das Schicksal der Mutter und ihrer Freundin in drei ganzen Kapiteln (]rpi, Katalin, Inge) als eingebettet in die Geschichte der Ungarnflüchtlinge nach der Revolution 1956 erzählt wird. Diese Indirektheit stellt ein wesentliches Moment der Interpretation der Politikgeschichte im Roman dar, die im kindlichen Blick und nicht in der Perspektive von Katas erwachsenen »Quellen« erscheint. Obwohl konkrete Jahreszahlen oder Namen historischer Persönlichkeiten beinahe vollkommen fehlen, sind die politischen Anspielungen leicht zu referentialisieren, wie das auch bei anderen, nur verdeckt oder elliptisch erzählten Ereignissen wie Istis Tod oder Jeno˝s Emigration der Fall war. Der Aufstand selbst wird nach dem Grenzübertritt der Mutter und Jeno˝s Verschwinden in wenigen Zeilen und mit denselben sich wiederholenden Ausdrücken wie folgt beschrieben: [I]n Budapest war etwas geschehen […], Köpfe aus Stein hätten sie zerschlagen, die Scherben mit Füßen getreten, Schüsse seien gefallen, zu viele, jemand hätte die Welt angerufen, über das Radio, aber die Welt hätte sich verweigert, als hätte es niemand gehört, als hätten sie das Radio erfunden, aber nicht für uns. (129f.)
Das Bild »von diesen großen Köpfen aus Stein, die zwischen Trümmern auf einer Straße lagen« (250) ist eine mit der Perspektive des politisch intakten Dorfkindes kompatible Benennung der gestürzten Stalin-Statuen. Die Erzählung von Stalins Tod (1953) wird eingebettet in die Geschichte der Verabredung von Zsjfi und K#lm#n in Budapest:
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Sie waren durch die Stadt gelaufen und irgendwann stehengeblieben, weil man stehenzubleiben hatte in dieser Minute […], weil es so bestimmt worden war, über Lautsprecher oder Sirenen. Jeder stand und schwieg, nicht nur hier, sondern im ganzen Land, selbst in den Ländern ringsum, im Norden, Osten und Süden, in Fabriken, auf Straßen, in der Stadt, auf dem Land, und dann hatten auch sie gestanden und geschwiegen, Zsjfi und K#lm#n, wie alle anderen. Etwas war zu Ende gegangen, ein Leben war vorbei und mit ihm eine Zeit, eine Zeitrechnung, und Zsjfi und unser Vater hatten etwas gespürt, etwas, das der Trauer ähnlich war, das fast Trauer gewesen war. (252)
Der Todesfall erscheint aus der apolitischen Erzählperspektive als marginal und erhält erst Jahre später eine politische Bedeutung, als die Trauer in Scham umschlägt (»Jahre später, als sie schon mehr wußten, als alle schon mehr wußten, hatten sie sich dafür geschämt, daß sie so etwas hatten empfinden können« – ebd.). Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte von Jan Pallachs Selbstverbrennung in Prag (1969), die wie folgt beschrieben wird: »An der Anlegestelle erzählen sie, in Prag habe sich jemand angezündet […] und wir, wir wissen nicht, ob wir das glauben sollen. ]gi meint, so ein Blödsinn, wer zündet sich an, freiwillig, lebendig, aber Vir#g hat mir anvertraut, sie glaube es, und Mih#ly, er glaube es auch« (284). Die Vorgeschichte dieser radikalen Geste, die Niederschlagung des Prager Frühlings, scheint auch an Bedeutung zu verlieren infolge ihrer Erzählweise und Kontextualisierung mit der apolitischen, privaten Mikrogeschichte: Seit letztem Sommer sind wir hier, seit den letzten heißen Tagen, als sie die Straße nach Miskolc sperrten, den ganzen Osten, und wir in einem Wagen hierher fuhren, über kleine Wege, abseits, während auf den großen Straßen Panzer rollten. Jedesmal wenn wir ausstiegen, lagen Schnecken am Wegrand, und mein Vater sagte, wenn du Salz auf sie streust, lösen sie sich auf – als ob ich das nicht wüßte. (284)
Die Art und Weise, wie (vor allem) im letzten Romankapitel die Ereignisse der kommunistischen Ära erscheinen, ist vielsagend hinsichtlich der Interpretation des Politischen im Roman. Ihre »Erzähltheit« ist analog zur Erzählweise anderer handlungsrelevanter Geschehnisse, die infolge der kindlichen Perspektive oder der Unerzählbarkeit der Leerstellen und Traumata nur mittelbar oder unklar erzählt werden. Das Unverständnis bzw. das Nicht-Verstehen als politische oder existenzielle Grunderfahrung (als Erfahrung des Lebens in einer Diktatur oder als Erfahrung der Abwesenheit des Bezeichneten) zwingt das Subjekt nämlich notwendigerweise in eine kindliche Position, und als einziger narrativer Vermittlungsmodus dieser Erfahrungen erweist sich demzufolge die Bruchstückhaftigkeit. Der Text ist dementsprechend durchwoben von einander metaphorisch spiegelnden Motiven, die einerseits ein politisches Moment (1956), andererseits die biografische Erfahrung (Modus Vivendi des Kindes) repräsentieren. In diesem Zusammenhang können die Namen P#l Mal8ters (Märtyrer
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des Ungarnaufstandes von 1956) und Hänsels und Gretels ohne Ironisierung nebeneinanderstehen, in der bereits zitierten Szene des Rollenspiels zwischen der Familie und Zolt#n: [M]ein Vater sagte, er sei König M#ty#s oder Bartjk B8la oder Horthy Mikljs oder Pusk#s Ferenc […] oder Mal8ter P#l, und bei diesem Namen legte Zolt#n seine Stirn in Falten, als zwinge er sich, diesen Mal8ter in sein Gedächtnis zurückzuholen. Isti und ich, sagte mein Vater, seien Hänsel und Gretel, wir seien in den Wald geführt worden, dort, wo er am dichtesten sei, und jetzt hätten wir gerne etwas zu essen. Als Zolt#n uns daraufhin Wurst, Käse und Tomaten auf den Tisch stellte […] schämten wir uns. (75)
Die existenzielle Grenzsituation der Geschwister (ihr Leben in translokalen Räumen bzw. im Zwischenraum von Stagnieren und Progression) und die politische Emigration treten auf ähnliche Weise an zwei weiteren Textstellen miteinander in einen Dialog. Katas erwähnte Metapher des Kreisels steht für die Binarität der (konkreten oder metaphorischen politischen) Bewegung (Schwimmen, Wandern) und der Bewegungslosigkeit (Gelähmtheit, Kontemplation). Als Kata das sich drehende Spielzeug als metaphorischen Spiegel ihres Lebens definiert (»[ich] hatte […] das Gefühl, wir lebten auf einem Kreisel« – 267), kontrastiert sie die Bewegungslosigkeit (sich auf der Stelle drehen) als charakteristisches Lebensgefühl des kindlich-privaten Handlungsstranges mit der effektiven Fortbewegung der in den Westen emigrierenden Figuren (hier von Jeno˝): Jetzt, wenn wir bei Zsjfi saßen, vor dem Ofen, mit Blick auf Jeno˝s Bild, […] hatte ich das Gefühl, wir lebten auf einem Kreisel, auf seiner Spitze, dort, wo man ihn dreht und losläßt. […] Es lag nicht daran, daß wir bei Zsjfi waren, hier, in ihrer Küche, umgeben von Eis, von Splittermustern darin und von Schnee, der sie bedeckte. Es lag daran, daß Jeno˝ nicht mehr da war und ich auf irgendeine Art wußte, warum. (269f.)
Das Primat des politischen Sinns der Bewegung erscheint sehr subtil, in einer indirekten Weise: Kata ist sich im Klaren über Jeno˝s Motivation, die jedoch bezeichnenderweise unausgesprochen bleibt. Am Höhepunkt und Ende des Romans wird nicht nur dieser Sinn der Bewegung, d. h. ihre Relevanz als Grenzüberschreitung zwischen politischen Systemen, offenbar, sondern auch der leitmotivisch wiederholte Akt des Wartens bekommt in diesem Kontext eine neue Bedeutung (Kata wartet auf die Reisedokumente, um nach Westen weiterfahren zu können).73 Der letzte Satz des Romans verweist ebenso auf die 73 Nach Bogl#rka Nagy vollendet sich an diesem Punkt die Erosion des Ichs von Kata (Nagy 2004), die versuchte, sich in der Mutterrolle eine neue Identität zu konstruieren und dabei nach Istis Tod scheiterte. Szilvia Lengl argumentiert dahingegen damit, dass Kata am Romanende endlich zu sich findet, wie das auch die Kapitelüberschriften zeigen (das erste Kapitel heißt Wir, das letzte Kata): Sie kann die Verluste in ihre Lebensgeschichte integrieren, lernt zu warten und verlässt das Land (Lengl 2012: 164).
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vorherigen Erfahrungen in Bezug auf das Warten zurück: »Man hat mir erklärt, es wird dauern, ich werde warten müssen, vielleicht länger, als ich denke, bestimmt länger, und ich habe gesagt, es macht nichts, es macht gar nichts, ich kann warten, und dann habe ich noch einmal gesagt: Ich kann warten, ja« – 285). Gleichzeitig erweitert sich das semantische Feld eines anderen Leitmotivs, und zwar die Bedeutung der symbolischen Beobachterposition der Kinder, die typischerweise in der Tür bzw. im Fensterrahmen positioniert werden. Zsjfi tritt nämlich in diese Rahmenposition ein, und sie verbindet damit für die neben Isti sitzende Kata die Status des sterbenden Jungen und des emigrierten Jeno˝, die existenzielle Grenzsituation und die politische Emigration: »]gi neben mir auf der Liege, ihre kalten Hände über Kreuz in die Achseln geklemmt, ich, mit dem Kopf an ]gis Rücken, und Zsjfi im Stehen, im Türrahmen, wo sie blieb, damit sie beide sehen konnte: Isti im Bett und Jeno˝ hinter den Kerzen« (279, kursiv E.P.). Trotz des apolitischen Haupthandlungsstranges wird Der Schwimmer somit ein »zutiefst ungarischer Roman«, eine »ganz authentische ungarische Geschichte«, die den »eigentümlichen und überkommenen ungarischen Autismus« (N#das 2002) erzählbar macht: indirekt (auf Deutsch, aus kindlicher Perspektive, aus einer mehrschichtigen Erzählerposition) und in komplexer Konstellation (häufig schweigend und vermittelt, durch subjektive Verknüpfung räumlicher und zeitlicher Koordinaten und Prozesse). Die allegorische, politische Bedeutungsschicht des Romans offenbart sich dabei nicht in simplifizierten, von einem äußeren interpretatorischen Standpunkt aus konstruierten Entsprechungen (wie in der Analogisierung zwischen der Gleichgültigkeit der Mutter und des Westens), sondern sie ist in ihrer Komplexität und in Bezug auf die translokal bzw. transnational geprägte erzählerische Komposition des Textes zu ergreifen.
»Um mich herum war alles Gewalt«. Körperliche Transgressionen in Terézia Moras Seltsame Materie
Dass Ter8zia Moras Werke im Kanon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur einen überaus prominenten Rang einnehmen, bestätigen mittlerweile nicht nur die unzähligen Preise und Auszeichnungen der Autorin, sondern auch das zunehmende Interesse der germanistischen Literaturwissenschaft an ihrer Prosa.74 Die thematisch-theoretischen Schwerpunkte der meisten Interpretationen ihrer ersten beiden Werke Seltsame Materie (1999) und Alle Tage (2004) betreffen aktuell diskutierte Gegenstände einer kulturwissenschaftlich orientierten Germanistik, wie Fremdheits- und Alteritätserfahrungen, transitorische Identitätskonstruktionen und Grenzüberschreitungen, Transkulturalität bzw. Transnationalismus oder literarische Polyphonien.75 Studien, Rezensionen, Klappentexte und Autoreninterviews widmen sich des Weiteren fast ohne Ausnahme auch der naheliegenden Frage nach der Verortung der Autorin im Kontext einer transkulturellen deutschsprachigen Literatur. Ausgehend davon, dass die deutschsprachige, aber zweisprachig aufgewachsene Autorin nahe der österreichischen Grenze in einem ungarischen Dorf geboren wurde und das Land erst 1990 verließ, werden die thematisch-motivischen und sprachlich-narratologischen Eigentümlichkeiten ihrer Texte häufig mit Rückgriff auf ihre biografischen Erfahrungen erklärt, und Mora – Übersetzerin der Werke von P8ter Esterh#zy und Lajos Party Nagy – wird als Grenzgängerin zwischen Ost- und Westeuropa betrachtet. »In ›Seltsame Materie‹ hat Ter8zia Mora ihre Herkunftsregion literaturfähig gemacht, den vergessenen Grenzlandwinkel von Sopron/Ödenburg«, heißt es in Sigrid Löfflers Laudatio über die »Grenzüberschreiterin« Mora (Löffler 2010: 1f.). In wissenschaftlichen Untersuchungen wird dementsprechend u. a. den 74 Mora wurden die höchsten literarischen Auszeichnungen verliehen, so u. a. der IngeborgBachmann-Preis (1999), der Adelbert-von-Chamisso-Preis (2010), der Deutsche Buchpreis (2013) und kürzlich der Solothurner Literaturpreis (2017) und der Georg-Büchner-Preis (2018). Zum Überblick der wissenschaftlichen Sekundärtexte über Moras Werke bis 2016 vgl. Hayn et al. und Siblewski 2018. 75 Vgl. hierzu u. a. Geier 2006, 2008; Kegelmann 2009 und Lang 2010.
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latenten ungarischen Subtexten, den verborgenen Spiegelübersetzungen oder den Zusammenhängen zwischen Postkommunismus und Subjektivität nachgegangen.76Auch Mora nennt in Seltsame Materie die Geschichten über »ein Dorf an der Grenze. Ostmitteleuropa. Zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts« ihr »Bündel« und »Erbe«: »Man könnte sich z. B. auf die gesicherte Kenntnis berufen, zu dieser Zeit, an diesem Ort habe eine Diktatur vorgeherrscht, also handelten diese Geschichten auch von dieser Diktatur. Was stimmt« (Mora 2007a: 2f.). Andererseits fügt sie sofort hinzu: »[D]ie Behauptung im ursprünglichen Klappentext, wonach Seltsame Materie, über das Leben im (Achtung, Floskel!) real existierenden Sozialismus erzählte, musste ich wiederholt und vehement herausstreichen« (ebd.). Grund hierfür ist nicht nur (wiederum etwa von der Selbstauslegung der Autorin ausgehend), dass Mora die Etikettierung »Osteuropäerin« bekannterweise vehement ablehnt und sich als Teil der deutschen Literatur betrachtet,77 sondern vielmehr, dass das erwähnte Leben in der Diktatur »als ein komplexes Geflecht mehrerer durchweg autoritärer Systeme« aufzufassen ist, die »älter waren als der real Existierende. Zusammengefasst, vereinfacht und verkürzt: bäuerliche Lebensweise, katholische Religionsausübung sowie, als unterscheidende Besonderheit, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen (genauer : sprachlichen) Minderheit« (Mora 2007a: 3f.). Anstatt in diesem dichten Geflecht von Moras Prosa auf Subtexte des Osteuropäischen der Diktaturerfahrung (und deren »Übersetzung« für das deutsche Publikum) zu fokussieren und anstatt das oben zitierte »real Existierende« vollkommen auszuklammern und die Spuren der »autoritären Systeme« als lediglich metaphorische zu verstehen, wird im folgenden Close Reading von Seltsame Materie versucht, die Beziehung zwischen Sprache und Körper bzw. die sprachliche Gestaltung von Körperlichkeit in den Erzählungen zu erläutern. Dadurch soll nebst dem Zusammenhang von Raum- und Zeitstrukturen sowie von erzählten Traumata und Gewaltstrukturen auch das Verhältnis jener diskursiven Ordnungssysteme näher betrachtet werden, in deren Spannungsfeld 76 Laura Tr#ser-Vas behauptet, »[d]ie Einzigartigkeit von Moras Sprache ergibt sich aus ihrer Fähigkeit, im deutschen Text wortwörtliche Übersetzungen aus dem Ungarischen, sozusagen ›Spiegelübersetzungen‹, zu verbergen und damit die Intensität ihrer Bilder zu verstärken. […]. Mit der Entscheidung, für ein deutsches Publikum auf Deutsch über deutsche Außenseiter zu schreiben, positioniert sich Ter8zia Mora auf beiden Seiten der Deleuzeschen Mehrheit/Minderheit-Teilung« – Tr#ser-Vas 2004. Vgl. ferner die Dissertation von Nousek (2015) sowie Claudia Tatasciores Untersuchungen zu den »literarischen Implikationen von Moras deutsch-ungarischer Herkunft«, in: Tatasciore 2012, Zitat: S. 220. 77 Vgl. Mora: »Mein Beruf ist Schriftstellerin! Nicht: Berufsossi, Berufsausländerin, Berufsfrau oder gar -fräulein!« (ebd.: 11), und: »Ich bin genauso deutsch wie Kafka. Ich komme ungefähr aus derselben Gegend.« (Mora et al. 2005: 28). Vgl. noch Mora: »Ich mag es auch nicht, dass ich hier in Deutschland die Berufsungarin sein muss. Ich bin Ungarin, und ich finde es sehr okay, aber dass ich mich deswegen immer und immer wieder, mein Leben lang quasi, mit dem einen Thema beschäftigen muss, sehe ich nicht ein« (Kasaty 2007: 230).
Grenz- und Gewalterfahrungen
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sich der Körper befindet, an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen, zwischen privatem und öffentlichem (politischem) Raum.78 Bei Fokussierung auf die sprachliche (Ab-) Bildung der Körper, auf die Vertextung von korporalen Transgressionen in Seltsame Materie, werden die geläufigen, naheliegenden Analysekategorien wie Grenze bzw. Grenzüberschreitung und Ausgrenzung, Entterritorialisierung oder Selbst- und Fremdwahrnehmung durch einen produktiven Aspekt ergänzt oder darin integriert – sichtbar wird dabei, dass Moras Geschichten in viel subtilerer Weise politisch sind, als dass man sie schlichtweg als Erzählungen vom »real existierenden« Sozialismus bezeichnen könnte.
Grenz- und Gewalterfahrungen Die insgesamt zehn Erzählungen des 1999 publizierten Bandes stellen ein zusammenhängendes Textkorpus dar. Weitgehend thematisch-motivisch verknüpft und geprägt sind die Geschichten durch die Allgegenwart unterschiedlichster Formen von Gewalt, die verschiedene Körperbezüge aufweisen, insgesamt aber alle die Fragilität, Zerstörbarkeit bzw. Verwundbarkeit (d. h. Traumatisierbarkeit) des Körpers – Körperlichkeit und Verletzungsoffenheit als anthropologische Eigenschaften im Sinne von Heinrich Popitz79 – vermitteln, im Einklang mit Jan Philipp Reemtsmas Theorie von der Körperbezogenheit jeglicher Formen von Gewalt.80 In der ersten, titelgebenden Erzählung zündet der Vater der Tochter (dem erzählenden Ich) die Haare an, in STILLE. mich. NACHT beschreibt ein Grenzsoldat, wie sich ein Inhaftierter mit einer Rasierklinge den Arm verletzt und dem Dolmetscher die Lippen aufschneidet bzw. wie sein Freund Fisch, ein anderer Grenzwächter, erschossen wird. In Die Lücke berichtet der Erzähler vom sechsten, erfolgreichen Selbstmordversuch seiner depressiven 78 Meine Aufmerksamkeit gilt dabei ausschließlich dem textuell konstruierten Körper, insbesondere der Versprachlichung korporaler Transgressionen und sinnlicher Wahrnehmungen bzw. deren Zusammenhang mit den beschriebenen Gewaltstrukturen. Zur Körper-/LeibDiskussion, vgl. u. a. Prutti; Wilke 2003, Corbineau-Hoffmann; Nicklas 2002 und Funk; Brück 1999. 79 Vgl. u. a. Popitz 1986. 80 Vgl. Reemtsma: »Das Wesen der Gewaltandrohung ist die Drohung mit der Reduktion auf den Körper« (Reemtsma 2009: 126). Reemtsma unterscheidet drei Formen der physischen Gewalt – lozierende, raptive und autotelische Gewalt –, nimmt aber grundsätzlich an, dass auch die nichtphysische Gewalt eine Körperbezogenheit charakterisiert. Vgl. auch Mora: »Mein erstes Buch, SELTSAME MATERIE, berichtet vom täglich sich wiederholenden Schock, in einem menschenfeindlichen System zu leben. Dementsprechend häufen sich darin auch die Härten: 9 Tote in 10 Erzählungen, mannigfaltige Fälle häuslicher und sexueller Gewalt, Tierquälerei, Alkoholismus, Krankheiten der Seele, gelebte Vorurteile, böse Zungen und allgemeine Sprachlosigkeit, feindliche Natur, Gestank und Matsch, dass etwas fein oder sanft wäre, kommt nicht vor – weil das nicht vorkam« (Mora 2014: 127f.).
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und vom Vater oft verprügelten Mutter. Die preisgekrönte Erzählung Der Fall Ophelia ist auch eine Geschichte von einem Ertränkungsversuch, und am Ende der dreitägigen Zigeunerhochzeit in Am dritten Tag sind die Köpfe dran. Langsam. Dann schnell wird der von der elfjährigen Tänzerin bewunderte Musiker verhaftet, da er seine Frau gewürgt hat. In Durst schlägt der Stiefvater der Erzählerin dem Großvater den Kopf mit einem Hammer ein, und die letzte Erzählung Ein Schloss endet ebenfalls mit der Ermordung Holzbeins, der die achtzehnjährige Flüchtende aufhalten will. Direkte Gewalt wird des Weiteren an Tieren ausgeübt: Kinder erschlagen Frösche und Schlangen mit Steinen, Grenzhüter schlitzen den Fischen die Bäuche auf (Der See), der Sohn der Krankenschwester ertränkt eine Maus im Schwimmbad, während die anderen Jungen die Hunde quälen und ärgern, bis sie sich an ihren Ketten erhängen (Der Fall Ophelia). Dadurch wird einerseits die Analogie zwischen Mensch und Tier bestätigt, die beide Objekte von Männergewalt werden (sehr deutlich in dem Fall von Ophelia, der beinahe dieselbe Todesart zukommt wie der Maus). Andererseits wird durch die Kontrastierung bzw. Analogisierung menschlicher und tierischer Körper in diesem Kontext die Ambivalenz zwischen legitimer Gewalt (z. B. an Schlachthöfen) und sanktionierter Gewalt (Mord oder Tierquälerei) bzw. der Zusammenhang von zwischenmenschlicher Gewalt und der Gewalt gegen Tiere betont – u. a. als auf der Dreitageshochzeit ein blauäugiger Ziegenkopf und weitere »atemlose« Köpfe serviert werden (13881), oder als die Protagonistin in Ein Schloss von Alpträumen von der Tötung der verspeisten Tiere heimgesucht wird: »Holzbeins Essen liegt mir schwer im Magen. Ich träume vom aufgerissenen Halse eines Vogels. Ich lutsche seine Wirbel leer. Ich sauge die Haut von den Füßen der Hühner und spucke ihre Krallen aus« (237). Nichtsdestoweniger sind Formen verbaler Gewalt häufige – und von den erwähnten körperlichen Grenzverletzungen auch abhängige – Leitmotive der Erzählungen. Die meisten namenlosen Hauptfiguren der homodiegetischen Erzählungen werden angestarrt, ausgelacht, stigmatisiert, durch Fremdbilder und Feindmarkierung von der dörflichen Gesellschaft ausgegrenzt. Grund hierfür ist in Seltsame Materie und Der See das andere Aussehen sowie die Abgelegenheit des Wohnhauses oder der relative Wohlstand (»Wir sind kahlköpfige Babys. Dann wachsen uns goldblonde Haare […]. Fremde bleiben vor uns stehen, bewundern unserer Puppenkleider und Murmelaugen« – 15, bzw. »Im Dorf sind wir bekannt als ›das letzte Ende‹, die mit den goldenen Haaren, den Ringen, den goldenen Nasen« – 58). Die Mutter trägt in Die Lücke auf ähnliche Weise ein »Kleid mit den roten Rosen auf weißem Grund, wofür sie im Dorf soviel belacht 81 Die Seitenangaben nach den Zitaten aus Seltsame Materie beziehen sich auf die folgende Ausgabe: Mora, Ter8zia: Seltsame Materie. Hamburg: Rowohlt, 2000 [1999] (5. Auflage).
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wird« (72), und noch schlimmer ist, als man ihre lähmende Schwermut – Stereotype zitierend – auf eine Art Determiniertheit durch ihr Geschlecht oder ihre Umgebung zurückführt und als vererbliche »Verrücktheit« deutet: »Vielleicht die Wechseljahre, meinte der Hausarzt. […] Und auch Vater: So war sie schon immer, eine Katze, heiß, hysterisch. Wie solche Frauen sind. Immer schon. […] Wie deine verrückte Mutter, haben sie immer zu mir gesagt, gehänselt, du wirst wie die, so enden, in deiner eigenen Scheiße, mit den anderen Greisinnen in Weiß, sterben in der Öffentlichkeit« (85, 87), bzw. »Wer ist hier schon normal. Verrücktheit, Volkskrankheit, wie früher die Tbc. Mindestens ein Viertel im Dorf ist so. Das ist erblich. Alle sind mit allen verwandt, guck sie dir an. Die Haare, die Augen. Alles Inzucht« (105). Die Fremdsprachigkeit bzw. Zweisprachigkeit der Figuren wird in dieser Erzählung allerdings nicht als negatives Stigma erlebt, die Mutter ist stolz auf ihre Abstammung: »Nun, schließlich, bin ich also officiel krank, sagte Mutter. […] Verlegen und stolz. Französisch. Officiel. Mutter liebt es, sich auf diese Weise auszudrücken. […] [M]anchmal […] drückt sie die Laute durch die Nase, spricht mit Akzent, sollen ruhig alle hören, da ist eine, die ist anders« (83, kursiv E.P.). Ironischerweise kennzeichnet die auch in der Schreibweise markierte Andersheit ihrer Sprache nicht nur ihre französische Zugehörigkeit, sondern vielmehr ihre Identifikation mit der Krankheit (letztendlich also doch mit einer Art Ausgegrenztheit im Dorf), die jedoch verschwindet, als die Mutter tatsächlich krank wird und ohne diese eigene Stimme anwesend ist: »Offiziell krank. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, sagte Mutter, jetzt gehöre ich zu den Verrückten« (88, kursiv E.P.). In den anderen Erzählungen gibt die deutsche Sprache Anlass zu Fremdzuschreibungen und zur Ausgrenzung im mehrheitlich ungarischen Grenzdorf. Deutsch ist die Muttersprache des sprachlosen Großvaters, des stummen Fischers in Der See, der Fremde ans andere Seeufer bringt und dadurch den Lebensunterhalt der ganzen Familie sichert: »Großvater zog immer alleine ins Schilf und sprach nie, mit niemandem, und wenn, dann hatte er einen Akzent. Großvaters Muttersprache wird auch von jenseits des offenen Wassers gesprochen. Das machte ihn verdächtig« (57). In Der Fall Ophelia modelliert ihre Interpretation der deutschen Sprache als die Sprache des Feinds den Umgang der Dorfbewohner mit der sozialen und geografischen Randlage der nur aus Frauen bestehenden Familie: »In der Geschichtsstunde drehen sich alle um und starren mich an. Die Lehrerin hat es gerade erklärt: Wer spricht, wie man in meiner Familie spricht, ist ein Faschist. Wer bei meiner Mutter in die Privatstunde geht, lernt die Sprache des Feinds« (116f.). Der Sohn der Krankenschwester wird demzufolge zum tödlichen Feind der Tochter (die vom saufseligen Bademeister den Wassertod zitierend Ophelia getauft wurde), indem er seine persönlichen Gegner als VertreterInnen ideologisch gegensätzlicher,
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mörderischer politischer Bewegungen betrachtet und diese unterschiedlichsten Feindbilder miteinander gleichsetzt: »Ihr seid Faschisten. Und Kommunisten. Ich habe versprochen, dich zu töten, sagt mein Feind« (127). Allerdings triumphiert aber letztendlich Ophelia, nicht nur wegen des widerständischen Geistes ihrer Familie (»Mach dir nichts daraus. Wir sind die einzige fremde Familie im Dorf« – 117), sondern durch ihr Schwimmtalent und gerade durch ihre andere Sprache. Als sie den Priester aus Versehen in ihrer Sprache (auf Deutsch, mit »Guten Tag«) begrüßt, besteht er auf die ungarische Grußformel und will »gelobt werden« (gemeint ist die Kurzform der Begrüßung unter Katholiken, die auf Ungarisch – »dics8rtess8k«, d. h. »gelobt sei« – sowohl auf Jesus als auch auf Gegenüberstehende bezogen werden kann). Ophelia macht sich die Perspektive des Priesters zu eigen (»Ich stehe vor ihm, mein Badeanzug ausländisch und lila« – ebd., kursiv E.P.), um letztendlich stolz davonzuziehen: »Ich verstehe nicht, sage ich in unserer Sprache. Guten Tag« (ebd.). Nicht nur die deutsche als fremde Sprache wird zum Mittel des Widerstandes82 und somit zu einer Spur von Hoffnung in einer Welt voller Grenzen und (körperlicher, verbaler und nicht zuletzt sexueller) Gewalt. Auch die willkürlichspielerische Erfindung einer neuen Sprache bemächtigt die Kinder in Seltsame Materie, nicht mehr lediglich »Bezeichnete« zu sein, sondern vielmehr auch die machtvollere Position des »Bezeichners« einzunehmen. Der von den »Tanten mit den Kopftüchern« (11) angestarrte, in der Klasse ausgelachte, für schwachsinnig gehaltene Bruder lernt die Zeichen der Elemente in der Tabelle Mendelejews auswendig (ohne Namen und Bedeutung) und täuscht vor, »das sei die Sprache der Wissenschaft, so sprächen die Kosmonauten über uns« (ebd.). Nicht von ungefähr endet die Schlussszene (die Erzählerin tanzt trotz Warnungen mit dem Zigeuner Kelemen) mit dem Satz »Ha-He-Li-Be« (20). Die bisher behandelten (physischen und verbalen) Formen der Gewalt ziehen sich nicht nur wie ein roter Faden durch die zehn Erzählungen des Bandes Seltsame Materie – die kulturelle Gewalt (im Sinne Johan Galtungs) lässt sich auch mit den narratologischen Gemeinsamkeiten und den chronotopischen Strukturen der Texte verbinden. Dass die Geschichten gerade in der Grenzregion zwischen dem Osten und Westen spielen, macht die Grenzziehung bzw. Grenzüberschreitung (und davon untrennbar die Motive der Flucht und des Ausbruchs) zu dominanten, wiederkehrenden Erzählmotiven – gemeint sind hier Grenzen zwischen politisch-geografischen Formationen, zwischen äußeren und inneren Räumen, aber auch existenzielle Grenzerfahrungen wie der Tod und 82 Andrea Geier hebt dahingegen hervor, dass sich die Figuren von den Zuschreibungen durch Dritte nicht distanzieren können und die Fremdrede zumeist zum Teil der Figurenrede wird: Dadurch illustriere Moras Seltsame Materie nicht nur die soziale Konstruktion der Differenz, sondern auch die konstitutive Funktion von Fremdbildern für das Selbstbild der Figuren. Vgl. Geier 2008.
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das Sterben bzw. Grenzsituationen in der Biografie (das Heranwachsen oder die Pubertät) oder in der Geschichte (zwischen Diktatur und Freiheit). Andererseits ist das Grenzgebiet (hier das zwischen Österreich und Ungarn), und zwar insbesondere vor der Öffnung des Eisernen Vorhanges,83 gerade jener Ort, an dem die Legitimität der staatlichen Kontrollinstanzen und deren Gewaltanwendung am seltensten zu hinterfragen war. Die Erzählungen verschränken sich nicht nur durch die behandelten thematisch-motivischen Gemeinsamkeiten (Gewalt, Traumata und Grenzüberschreitungen), sondern auch durch diesen gemeinsamen Schauplatz und demzufolge durch Figuren und Ereignisse, die in den unterschiedlichen Geschichten wiederholt vorkommen (so tauchen u. a. die einen Weihnachtsbaum schleppenden Bäckerskinder sowohl in STILLE.mich.NACHT als auch in Der See auf – von Weihnachten wird auch mehrmals erzählt –, dasselbe Schloss kommt in Seltsame Materie, Die Lücke und Ein Schloß vor und die Dreitageshochzeit wird in Am dritten Tag sind die Köpfe dran. Langsam. Dann schnell und in Buffet ebenfalls erwähnt). Die erzählerische Gestaltung und die Kompositionsprinzipien der zehn Geschichten weisen auch Ähnlichkeiten auf: Die Ich-Erzähler – zumeist Heranwachsende und Außenseiterinnen, die vom Ausbruch aus dem Dorf träumen84 – sprechen elliptisch, lakonisch85 und fragmentarisch, sie verzichten auf jedwede Chronologie, und zwar in jeder Erzählung. Augenfällig werden diese Merkmale der Erzählstruktur bereits in der titelgebenden Geschichte: Von den allerersten Sätzen, die das Erzählen der 83 Zum Ort und zur Zeit des Geschehens vgl. Mora: »Vereinfacht und verkürzt: es handelt sich um 10 Geschichten, die alle mehr oder weniger an demselben Ort angesiedelt sind, nämlich in der Literatur, und innerhalb dessen in einem Dorf an einer Grenze. Zahlreiche Einzelheiten deuten darauf hin, dass das nicht in Mexiko und nicht in Afrika ist, sondern in Mitteleuropa, in Ostmitteleuropa. In der Zeit erkennen wir das 20. Jhdt. und innerhalb dessen die zweite Hälfte, etwa zwischen 1945 und 1990. Egal, wie stark innerhalb dieses Rahmens die einzelnen Elemente oszillieren, der Rahmen selbst bleibt stabil und trotz expliziter Nichtbenennung konkret: ein Dorf an der Grenze, Ostmitteleuropa, zweite Hälfte des 20. Jahrhundert« (Mora 2007 a: 3). In den Erzählungen finden sich vermehrt Hinweise auf den historischen Kontext der Grenzeröffnung, so u. a. in Der See: »Der Weg bis zum Dorf ist seit einiger Zeit wieder frei. Die Grenzhüter haben sich zurückgezogen, unsichtbar« (57). In der Schlusserzählung (Ein Schloß) finden sich vermehrt konkrete politisch-geschichtliche Hinweise: »Als es mit der Besatzung zu Ende war, haben sie alle, die aus dem Dorf im Dienst standen, fortgeschickt« (231). 84 In der ersten Erzählung träumt die Protagonistin vom Schauspielerberuf, in Am dritten Tag sind die Köpfe dran. Langsam. Dann schnell will die Erzählerin Tänzerin werden. Ophelia hat eine Begabung zum Schwimmen (Der Fall Ophelia), die Erzählerin in Die Sanduhr zum Singen, in Durst zum Dichten, der Erzähler in Die Lücke zum Boxen. Weitere Protagonisten sind auf der Flucht vor der Gewalt, dem Alkoholismus, den eigenen Familienmitgliedern und der Dorfgemeinschaft, oder sie fliehen auf die andere Seite der Grenze, ins Ausland. 85 Diese Art lakonische Erzählweise wird in der titelgebenden Erzählung explizit, ja beinahe programmatisch beschrieben: »Sag es einfach. Wort für Wort. Lege kein Pathos hinein. Schluchze nicht. Schmelze nicht. Sag es einfach. Wort für Wort« (19). Vgl. hierzu Geier 2008 und Tr#ser-Vas 2004.
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vorliegenden Geschichte verbieten – »Erzähl ja niemandem, wie es passiert ist. Und erzähl auch sonst nichts von hier« (9) –, stellt sich erst nach drei Seiten (!) heraus, dass diese, die als Antwort auf eine wiederum nicht wiedergegebene Warum-Frage fortgesetzt werden, die unmarkiert zitierten Worte des Bruders der Erzählerin sind: »Es wird dir niemand glauben. Darum, sagt mein Bruder« (11). Dialogpassagen, die allerdings keinerlei Zwiegespräche direkt wiedergeben, nur das Gesagte indirekt beschreiben,86 werden nicht selten abrupt unterbrochen. Als die Ich-Erzählerin sich vor dem Bruder wehrt, ihre Herkunft bei der Aufnahme in die Schauspielschule zu leugnen, stehen beispielsweise fünf längere Absätze zwischen den beiden Redebeiträgen, dem von dem Bruder (»Mein Bruder sagt, ich solle lieber sagen, ich stamme vom Schloß« – 12) und dem von der Schwester (»Ich sage zu meinem Bruder, es würde nichts nützen zu sagen, ich käme woanders her. Sie würden sowieso hören, woher ich bin« – 13). (Auf diese Art der Zerstückelung als bewusstes Kompositionsprinzip kommen wir noch zurück). Typisch für die Erzählweise ist des Weiteren der mehr oder weniger willkürliche Wechsel verschiedener Zeitebenen: Auf das Erzählerpräteritum wird verzichtet, zumeist wird in der Gegenwart erzählt. Dies dient (der für jede Erzählung charakteristischen wortwörtlichen Wiederholung leitmotivischer Sätze ähnlich)87 nicht nur zur Modellierung der Struktur des Erinnerns88 bzw. der kindlichen Wahrnehmung oder etwa der Gegenwärtigkeit traumatischer Vergangenheiten, sondern es bewirkt auch eine Desorientierung und Verwirrung des Lesers, vergleichbar mit der Situation der meisten kompasslosen Figuren. Einzelne Textstellen erhalten – die Linearität des Lesens herausfordernd – erst 86 Vgl. hierzu Mora: »Oder von Seltsame Materie aus hergehend, die Autorin gefiel sich darin, kaum direkte Dialoge zu haben, die sind immer nur beschriebene Dialoge. Warum? Weil diese Menschen im Grunde keine Sprache haben, ich gebe ihnen eine, dann kann ich sie auch indirekt machen« (Tatasciore 2009: 3). 87 In jeder Erzählung gibt es leitmotivisch mehrmals wiederholte Sätze – in Seltsame Materie ist es u. a. »Tante Ella hat uns zwanzig Eier dagelassen«, in Der See »Sie sind neidisch« und »Der See ist unser Auskommen«, in Die Lücke »Aus dir wird niemals ein Boxer«, in Der Fall Ophelia »Eine Kneipe. Ein Kirchturm«, um nur einige Beispiele zu nennen. 88 Vgl. hierzu Mora: »Bei Seltsame Materie habe ich deswegen das Ganze möglichst in Gegenwart erzählt, aus zwei Gründen: erstens, Erinnerung ist ja auch Gegenwart; zweitens, um tatsächlich die Zeitebenen durcheinander zu bringen, ich meine, alles Gegenwärtige, was passiert, dann wann? Und drittens, um genau diesem Problem des Hin-und-Her-Springens dann mit Erzählerpräteritum und NichtErzählerpräteritum und Gegenwart vorauszukommen. Ich wollte mich darin nicht verheddern, besonders weil für mich lange Zeit das Erzählerpräteritum etwas war im Deutschen, was ich einfach nicht kapiere, emotional meine ich. Weil ich mir sage, warum tut man das, dass man so eine Distanz schafft, zwischen dem, was man erzählen will, und sich selbst? Mittlerweile kenne ich mich damit ein bisschen besser aus und ich verwende das Erzählerpräteritum, aber am Anfang, wenn man anfängt zu schreiben, macht man das sehr aus dem Ich heraus, und dem Ich sind natürlich die Gegenwart und die direkte Rede ein bisschen näher« (Tatasciore 2009: 3).
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nach dem Lesen der späteren Passagen ihre Bedeutung: In Der See wird zuerst vom Gerücht vom Tod des Bruders erzählt (»Er ist letzten Herbst mit drei anderen Männern nach drüben geschwommen. […] Man sagt, er sei tot […]. Man sagt auch, er und der Seemann wollten die Reusen plündern« – 68), am Ende der Erzählung wird der Fall detailliert und in Präsens erzählt (»Die Fremden sind zu zweit. Sie sind über die Mauer zur Backstube geklettert und stehen in unserer Küche. […] Ganz junges Schilf, sagt der Seemann. […] Mit einem Kompaß kommt man bis nach Indien. […] Wenn man uns erwischt, sagen wir, daß wir nur die Reusen plündern wollten« – 70). Das Aufbrechen der Chronologie bzw. die allumfassende Gegenwärtigkeit verleiht dem Text an manchen Stellen eine beinahe magische Qualität, so z. B. als das Verwischen der Grenzen zwischen erinnerter Vergangenheit und Gegenwart auch die unterschiedlichen räumlichen Koordinaten dieser Zeitebenen vereint. In STILLE. mich. NACHTwird beim Abendessen am Heiligabend am Familientisch vom Bruder des Erzählers wie folgt berichtet: Los Angeles Tower AA eight two one final three one. AA eight two one cleared to land. Mein Bruder ist gelandet. Er nimmt die Brille, die auf dem Copilotensitz liegt, und setzt sie wieder auf. […] Er bemerkt meinen Blick. Die Arbeit sei getan, sagt er mit Ernst und verläßt den Pilotensitz. Er verschwindet in der Küche. Ich setze mich auf den Platz des Copiloten. (35)
Diese Verunsicherung des Lesers wird explizit auch an Textstellen reflektiert, an denen vorübergehend beinahe ein Eindruck der Unzuverlässigkeit des Erzählers entsteht. So werden in Seltsame Materie die Grenzen zwischen den Zeitebenen parallel mit jenen zwischen Traum und Realität verwischt: »Es regnet sanft, in langen, lautlosen Strichen, wie später in den Träumen, die ich über zu Hause träumen werde. Ich werde so häufig von diesem Marsch im Regen träumen, daß ich gar nicht mehr weiß, ob es uns jetzt tatsächlich gibt, ob wir tatsächlich hier gehen oder ob es ein Traum ist, den ich später haben werde« (14). Dass es hier um mehr als die eingeschränkte Wahrnehmung des Kindes geht, wird auf der nächsten Seite klar, als die Erzählerin und ihr Bruder ihre kranke Mutter im Krankenhaus besuchen: »Ich weiß nicht, was unserer Mutter fehlt. Ich weiß nicht einmal, ob sie unsere Mutter ist« (15).89 An solchen Stellen hat der Leser zwar 89 Eine ähnliche Stelle über die Kontingenz und Pluralität von Herkunft und Zugehörigkeit findet sich auch in der letzten Erzählung Im Schloß, wo der Leser den Holzbeinigen mit dem gewalttätigen Vater der ersten Erzählung Seltsame Materie gleichsetzen kann. In der ersten Geschichte hieß es vom Vater, dass er mehrere Kinder habe, die der Erzählerin nicht einmal bekannt sind (»Unser Vater hat viele Kinder. Mein Bruder und ich, wir haben so manches Geschwister, das wir nicht kennen« – 14). Am Ende der den Band schließenden letzten Erzählung definiert sich ein Mann auch als Vater der Ich-Erzählerin (»Wenn du achtzehn bist, sagte er zu mir, bin ich nicht mehr dein Vater. Dann zeuge ich mit dir ein richtiges Kind. Bevor ich zu alt bin dafür« – 247), wodurch der Leser im Dunklen gelassen wird, denn bis
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nicht unbedingt Anlass, an der Zuverlässigkeit des Erzählers zu zweifeln, vielmehr wird einem der Zusammenhang zwischen den magischen Momenten der kindlichen Wahrnehmung und dem Verlust der sicheren Zugehörigkeit bewusst. Diese wird als Festlegung durch sichtbare (Haar- und Augenfarbe) und hörbare Zeichen (Akzent und Dialekt) der Herkunft und Abstammung90 problematisiert und wird mit deren Verlust als Unsichtbarkeit wahrgenommen: Manchmal kommt der Bus aus unerklärlichen Gründen einfach nicht an. […] Es kann doch sein, sagt mein Bruder, daß sie tatsächlich irgendwo auf dieser langen geraden Straße verschwunden sind, und niemand hat es bemerkt, weil niemand nach ihnen gefragt hat. Manchmal zieht der Bus auch an uns vorbei, obwohl wir am Straßenrand stehen. Es kann doch sein, sagt mein Bruder, daß wir von Zeit zu Zeit unsichtbar werden. Als wir dann endlich im Bus sitzen, zählt er bei jedem Türöffnen laut mit, wie viele unsichtbare Menschen jetzt wohl mit eingestiegen sind. Und er fragt: Wie lange werden die schon dagestanden haben? (13f.)91
Zur Poetik der Deterritorialisierung Die zehn Erzählungen verschränken sich durch die Grundthemen der Gewalt und Fremdheit,92 die Figurenkonstellation und das Lokalkolorit, sowie die dahin erschien der Vater des Mädchens als ein im Ausland Lebender : »Ich sage zu ihm, ich muß zu meinem Vater ins Ausland. Ich bin dein Vater, sagt er« (248). 90 In Seltsame Materie hat der Dialekt (zunächst das Lispeln), in Der See der Akzent und in Der Fall Ophelia die deutsche Sprache einen bestimmenden Einfluss auf das Schicksal der Figuren (des Mädchens, das sich auf die Aufnahmeprüfung in der Schauspielschule vorbereitet, des Großvaters und von Ophelia). 91 Andrea Geier verbindet das Motiv des Sehens (das »Unglück, nicht gesehen, d. h. wahrgenommen zu werden« und als »Wunsch, entweder gesehen zu werden oder aber unsichtbar zu sein«) mit dem Thema der Fremdheitserfahrung und beschreibt dessen Bezug zu verschiedenen Facetten von Fremdheitserfahrungen: »1.) Wer als Fremder von seiner sozialen Umwelt in einen exponierten Status gedrängt wird, ist besonders sichtbar, und dies kann eine (tödliche) Gefährdung bedeuten. 2.) Umgekehrt werden Außenseiter vielfach von ihren Mitmenschen ignoriert und von einem normalen sozialen Miteinander ausgeschlossen, so dass sie sich zugleich unsichtbar fühlen. 3.) Während ›Unsichtbarkeit‹ für soziale Außenseiter und Flüchtlinge auch einen Zuwachs an Freiraum und Handlungsspielräumen bedeuten kann, ist Sichtbarkeit für Flüchtlinge grundsätzlich eher gefährlich« (Geier 2006: 159). 92 Vgl. hierzu Moras Antwort auf die Frage, ob sie ihre dominanten Themen Fremdheit und Gewalt paarweise zueinander in Bezug setzen könnte: »Ich weiß nicht, ob es ein Paar ist. Tatsache ist, dass beides mein Erbe ist. Das ist das, was ich mitgebracht habe, und deswegen sind die Themen in den ersten zwei Büchern so dominant. Aus dem Nähkästchen geplaudert, im dritten, an dem ich noch arbeite, ist das dann nicht mehr der Fall. Aber insbesondere bei ›Seltsame Materie‹ musste ich noch diesen Schock verwinden, neunzehn Jahre lang irgendwo gelebt zu haben, wo ich überhaupt nicht hinpasste, und wo ich um mein Leben fürchtete. Und
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Kompositionsprinzipien. Trotz der Tatsache, dass einige der preisgekrönten Erzählungen der Sammlung auch eigenständig erschienen sind, überlappen und verwischen sich die Grenzen zwischen den zehn Geschichten – als würden sie ähnlich zu Moras Programm der Deterritorialisierung einen in Teilen zersetzten aber als Einheit verschränkten Textkorpus modellieren: Deterritorialisierung, habe ich gelernt, sagen die Gelehrten dazu, was Kunst macht. Die Welt, unser Material, aus seinen floskelhaften Zusammenhängen herauslösen – sie aus den Angeln heben, jawohl –, sie in ihre Elementarteilchen zerlegen – und was ein Elementarteilchen ist, bestimme ich! – sie zerfasern, sie denaturieren, sie zum Schmelzen bringen, und dann etwas von einer neuen Konsistenz, von einer anderen Kohärenz, Kohäsion, Viskosität, Logik, Hermeneutik, Ästhetik, Schlüssigkeit, Geschlossenheit, Korrektheit und Gültigkeit daraus kreieren – und es dadurch sichtbar machen. (Mora 2007a: 10)
Mora interpretiert hiermit auch das Leitmotiv und den Titel der ersten Erzählung (bzw. des gesamten Bandes), einen Begriff der Elementarteilchenphysik. Die aus seltsamen Teilchen (dem sogenannten Strange-Antiquark) bestehende seltsame Materie zerfällt unter normalen Bedingungen in eine stabile, nichtseltsame Materie – wichtiger jedoch als ihre rätselhafte und verstörende Kuriosität ist laut Mora die Vorstellung, wie aus den Elementarteilchen (die kleiner sind als Erinnerungen) neue Teilchen entstehen, quasi durch eine Art Instabilität oder »Deterritorialisierung«. Dass Mora diese, ihre Strategie der Beschreibung – ja der Sichtbarmachung der »allumfassende[n] Armut des Lebens« (Mora 2007a: 4) im ostmitteleuropäischen Grenzdorf – mit einem räumlichen Begriff beschreibt, ist nicht unbedeutend. Deterritorialisierung wäre zwar auch im physischen Sinne eine naheliegende Analysekategorie für die Erzählungen, die in der Grenzregion spielen und demzufolge die (Territorien durchziehenden) Bewegungen von Menschen in Form von Reisen, Migration oder Flucht bzw. deren Konsequenzen problematisieren. Gemeint und für die Textanalysen von heuristischem Belang ist aber des Weiteren auch die translokale Dimension dieser Bewegungen, d. h. die Vernetzung lokaler Referenzen, die »Momente des ›zwischen‹ und ›durch‹ Lokalitäten hindurch Konnektierenden« (Hepp 2004: 163). Versucht man die Seltsame Materie diesbezüglich zu »zerfasern«, so werden auch Zusammenhänge zwischen Körper (sowie Raum und Bewegung bzw. Grenzüberschreitung) und Sprachkörper (sowie Zeitwahrnehmung) sichtbar.
wenn das die ersten neunzehn Jahre im Leben eines Menschen sind, dann wird das bleiben, fürchte ich, bis zum Schluss. Bei ›Alle Tage‹ ist es eben so, dass im Hintergrund der Geschichte oder der Figur, die erzählt wird, ein Krieg steht. Dann gehört Gewalt einfach zum Thema. Und die Fremdheit der Hauptfigur ist ja auch sehr mannigfaltig. Er ist nicht nur objektiv fremd, also ein Exilant, sondern ist auch ein Charakter, der leider damit geschlagen ist, mit dieser Fremdheit als Konstitution« (Biendarra 2007: 4).
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Die Fragmentarität und Orientierungslosigkeit als primäre Erfahrungen der meisten Figuren und als Konsequenzen der Erzählweise werden in Moras Geschichten durch den Umgang mit den physisch verfassten und demzufolge lokal verorteten menschlichen Körpern modelliert. Diese scheinen sich nämlich in ihrer Ganzheit aufzulösen und selbst Grenzverletzungen zum Opfer zu fallen (und die Grenzgänge dieser Art prägen die Texte nicht weniger als die behandelten politisch-geografischen Grenzüberschreitungen). Die Körper der Figuren tragen Spuren der Vergangenheit und von gewaltsamen Verletzungen ihrer Grenzen: Narben und Wunden sind Leitmotive in den Erzählungen. Die Hände des Vaters in STILLE.mich.NACHT sind voller bleibender Verletzungen (»Vater trägt viele Farben an seinem Körper. Lila und Gelb. Grün. Braun. Der Atlas seiner Reise. Vieles ist unter Vater Haut gelangt bei seinen Unfällen: Sekrete, Mineral, Fremdkörper, Sprengsel, Einschlüße, weißes wildes Fleisch. Bei Vergiftungen soll die Haut ganz blau werden. Wie eine Zwetschge« – 36f.), der Försterbruder in Buffet hat nach der Gallenoperation eine kreuzförmige Narbe am Bauch, seine Verlobte hat »eine rote Narbe quer über der Stirn« (178). Dass diese Traumata die Grenzen zwischen dem Körperinneren und der Außenwelt (oder der Natur) betreffen, wird insbesondere augenfällig bei Beschreibung des bereits erwähnten Angriffs auf den Dolmetscher an der Grenzwächterstation: [Der Mann] fuchtelt weiter mit der Klinge, sein Arm lang wie ein Affenarm, und schwingt durch die Luft und dem Dolmetscher quer übers Gesicht. Wir stehen alle nur da, die Insassen und die Verstärkung, die gerade eingetroffen ist, und schauen ins Gesicht des Dolmetschers, wie es aufgeht, wie eine Blüte, wie wenn die Rose plötzlich ihr Inneres herausstülpt. Die Klinge hat ihn an den Lippen getroffen, oben am Rand. Wußtest du, daß Lippen innen zuerst weiß sind, bevor sie ganz rot werden? (29)
Die Lippen bzw. der Mund sind hier offenbar nicht nur metaphorische Spiegel der Tätigkeit des Übersetzers (die der Fremdsprachigkeit oder der oft betonten Stummheit oder Schweigsamkeit vieler Figuren entgegenzusetzen ist), sondern sie stellen auch eine charakteristische Grenzposition zwischen Innen und Außen dar. Eine ähnliche Funktion erfüllen auch die Augen als Zwischenräume (von der Unsichtbarkeit war bereits die Rede) und die Ohren, die als Organe der Wahrnehmung mit einer Vermittlungsfunktion der Außenwelt versagen – manchmal, wie in dem oben zitierten Beispiel der Mund, infolge gewaltsamer Anfälle. Am Ende der zweiten Erzählung wird der Grenzwächterbeispielsweise durch das Blut seines Kollegen taub: »Und da trifft es mich schon. Es ist warm und feucht und klatscht gegen mein Ohr, wie Schlamm, wie Dreck, es riecht bloß anders. Es macht mich taub. […] Ich fasse mir ans Ohr : an meinen Fingern Schlamm und Blut. Fisch, sage ich, Scheiße, Fisch. Dein verdammtes Blut klebt in meinem Ohr«
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(51f.).93 Die Sinnesorgane, die Reize aus der Außenwelt vermitteln und in diesem Sinne Grenzräume sind, können ihre Funktion nicht erfüllen. Problematisiert wird dies in der ersten Erzählung am bereits erwähnten Beispiel des Sehens bzw. Unsichtbarwerdens, in der zweiten Geschichte im Fall des Hörens. Bereits im Titel (STILLE.mich.NACHT) wird durch die abrupte Unterbrechung des Weihnachtsverses u. a. die Bedeutung der Stille für die nächtliche Arbeit des Grenzwächters hervorgehoben. Das Hören ist vom ersten Satz an ein Thema: »Es ist ganz dunkel hier. Und still. Man hört einfach alles. Man hört es. Daß sie kommen […]. Nichts davon sieht man. Die Manövergruppe hat keine Nachtsichtgeräte […]. Wir können nur horchen. Horchen ob« (21). (Die Zweideutigkeit des Wortes »Stille« – und auch die analoge Randposition von Mund und Ohr – wird in diesem Kontext auch spielerisch zitiert, als davon erzählt wird, dass »die aufgepflügte Erde Geräusche macht wie Säuglingsschmatzen« – diese Laute kehren später leitmotivisch wieder – 22). Das Hören wird nicht nur nach der Verstopfung der Ohren durch Blut am Ende problematisch, sondern auch schon früher (»Nicht lockerlassen, ruft Fisch zurück. Der Wind schlägt seine Stimme hin und her, ich höre nur jede zweite Silbe. Es könnte auch sein, er hat gesagt: Nicht locken lassen« – 44). In der dritten Erzählung (Der See) wird nach dem Sehen und Hören das Sprechen zur Herausforderung: Leitmotivisch wird wiederholt, dass Großvater nichts sagt und auch seine Enkelin stumm bleibt. In Die Lücke wird die Reihe mit dem Riechen fortgesetzt:94 Die Mutter versucht zwar durch Hypochlorit Gerüche zu beseitigen, der Erzähler nimmt aber paradoxerweise auch diese Tätigkeit und noch vieles mehr gerade olfaktorisch wahr. Den Spitalaufenthalt der Mutter beschreibt der Erzähler mit dem Satz »Ihr Geruch ist kalt geworden in der Wohnung« (74), die Anwesenheit des Vaters und Luisas nimmt er als »Lavendelgeruch, Cognacgeruch […]. Kein Hypochlorit« (77) wahr, und als er die Leiche der Mutter entdeckt, schreibt er »Als ich nach Hause komme, rieche ich es. Die Sauberkeit« (110). Die Problematisierung der Sinneswahrnehmungen als eine Art von Grenzgängen sind, zusammen mit den traumatischen Verletzungen der Körpergrenzen (mit den Narben und Wunden), 93 Zur Analyse dieser Szene sowie weiterer »beklemmende[r] Sprachbilder von Löchern und Schnitten« vgl. Lang; Schimanski 2010. 94 Die obigen Wahrnehmungsformen werden in den hervorgehobenen Erzählungen zwar am intensivsten thematisiert und problematisiert, sie spielen jedoch auch in anderen Geschichten eine wichtige Rolle. In Der Fall Ophelia wird die veränderte Wahrnehmung im fluiden Medium des Wassers zum Thema: »Das Wasser greift mir in die Ohren, drückt und hält mich fern vom Rand […]. Ich sehe, wie mein Herz unter dem Badeanzug schlägt. Ich höre die Luftblasen […] an der Oberfläche zerplatzen« (116). Durch eine Art Verlust der alltäglichen menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit wird das Mädchen einer Pflanze ähnlich – dadurch wird sie auch von den verbalen Angriffen der Außenwelt geschützt: »Ich schwebe […]. Meine Arme und Beine fliegen wie Wasserpflanzen« (116); »Ophelia, ruft mich der Meister, aber ich höre ihn nicht« (114).
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Modelle des Zerfalls, der gewaltsamen Verletzung der organischen Ganzheit des Körpers. Sprachlich und narratologisch manifestiert sich dies in der Vervielfältigung der Erzählstimmen, der erwähnten Fragmentarität der Erzählweise und in der metonymischen Wahrnehmung der Körper und in der Fokussierung auf einzelne Körperteile oder Fragmente. In der zweiten Erzählung erscheint die Geliebte des Grenzwächters lediglich als Schulter (»Meine Stirn drücke ich gegen ihre kupferfarbene Schulter. […] Ich weiß nichts. Sie wisse auch nicht warum, klingt die Schulter weiter. […] Die Schulter bewegt sich« – 26), der Fluchthelfer und die illegalen Grenzgänger zeichnen sich in Der See durch ihre Füße aus (»Wie weiß sein Fuß auf den Fliesen steht. […] Wir denken an Großvaters Füße in den grauen Fußlappen, die jetzt im Bach waten. An den nackten Fuß des Fremden« – 65). Ähnlich verhält es sich mit dem Mund einer Frau in Die Lücke: »Nun sag schon was, wie geht es ihr? Die Frau, die mich das auf dem Nachhauseweg fragt, hat einen gierigen schiefen Mund. […] Und deinem Vater? fragt der Mund. […] Ich gehe schneller, als der Mund, er muß mir hinterherfragen: Und was ist mit ihr?« (80). Metonymische Strukturen finden sich nicht nur im Kontext der Problematisierung oder der Versprachlichung sinnlicher Wahrnehmungen, sondern auch bei der Thematisierung der Herkunft und der Identitäten der Figuren. Die angezündeten und abgeschnittenen Haare der Erzählerin sind in der titelgebenden Erzählung die erste Materie, die sich »seltsam« verhält (»manche Strähnen waren seltsamerweise gar nicht am Ende verbrannt, sondern erst weiter oben« – 10), nicht weniger »seltsam ist«, als die Haare im Garten begraben werden (11), quasi als Präfiguration des Verlassens des Dorfes beim Aufbruch in die Schauspielschule »in Vaters Anzug« (19), um ohne Mädchenhaare angestarrt zu werden (»Die anderen Mädchen starren auf meinen Kopf. Ein fast unsichtbarer goldener Flaum bedeckt ihn« – 18).95 Das Kopfhaar steht hier nicht nur in der klassischen Bedeutung (es signalisiert Würde, Weiblichkeit usw.), sondern es ist auch als Spur der in den Körper hineingeschriebenen Zugehörigkeit zu deuten. Die Figuren werden zumeist mit Hinweis auf die Haarfarbe definiert (»Im Dorf sind wir bekannt als […] die mit den goldenen Haaren« – 58, »uns [wachsen] goldblonde Haare« – 15, »Sie [die Mutter] ist so schmal, so schwarzhaarig« – 15, »Er wird acht Kinder zeugen. Goldblond« – 16), nichtsdestoweniger wird häufig die Schönheit des Äußeren betont, sodass diese sogar in der Benennung der Figuren zum Topos wird (»Mein Bruder ist schön« – 16, »mein schöner Bruder ist fort« – 68, »mein schöner Priesterbruder« – 173). Ausgewählte Körper95 Die Textstelle wird auch in der letzten Erzählung Ein Schloß zitiert – das Mädchen erscheint mit Ohrringen der verstorbenen Mutter : »Ein Mädchen steht hinter mir in der Dachluke. Ein Gesicht wie eine Porzellanschale und überhaupt keine Haare auf dem Kopf. Aber sie ist auch nicht kahl. Goldener Flaum bedeckt ihre Kopfhaut« (240).
Ausbruchsbewegungen und (räumliche) Transgressionsprozesse
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merkmale (Schönheit, Haarfarbe) werden dadurch nicht nur beinahe als Inbegriff der Persönlichkeit und damit als Zeichen ihrer Individualität (oder sogar des Außenseitertums) akzentuiert, sondern sie verweisen in nicht zu übersehender Weise auf die Herkunft: »Tante Ella ist der Meinung, unsere goldblonden Haare seien ein Erbe der Grafen« (12). Indem sich das Mädchen vor der Prüfung in der Schauspielschule mit dem Trimmer die Haare gerade schneidet, wird sie frei von der zwingenden, festlegenden, jedoch kontingenten Abstammung: »Wenn sie mich fragen, werde ich sagen, daß ich nirgends herkomme und niemanden kenne. Es gibt mich einfach nur so« (16). In Durst erweist sich jedoch diese Freiheit als unmöglich: »Ich betrachte mich in Spiegeln neonbeleuchteter Kaufhäuser. Ich trage teure Kleidung. Und dennoch komme ich mir schlecht gekleidet vor. […] Und ich merke, es sind nicht die Kleider. Es ist das Gesicht. Die Augen. Es ist das, was man nicht verlieren kann: die Herkunft. Den Blick eines Proletarierkindes. Ohne Vaterland« (218). Die bildliche und narrative Körperzentriertheit (Metonymisierung des Körpers im Text, Versprachlichung und Problematisierung der sinnlichen Wahrnehmung) wird somit zum Grundstein der von Mora beschriebenen Deterritorialisierung, der dichten Beschreibung der »Faser«, aus der die »Heimat wie aus einer einzigen zusammengegorenen Materie« zu bestehen scheint (19).
Ausbruchsbewegungen und (räumliche) Transgressionsprozesse Die Fragmentarisierung der Körper, die Problematisierung der Wahrnehmung, kurzum die Dekomposition oder der Verlust der Körperganzheit, zeigen sich des Weiteren in einer besonderen Weise auch durch räumliche Komponenten. In der Forschungsliteratur wurde oft genug betont, dass die Fremdheit der Figuren räumliche, territoriale Komponenten hat, sodass die Außenseiterposition sich auch in Form der geografischen Randlage manifestiert.96 So wohnt u. a. die Familie in Der See abgekapselt, hinter einer grauen Kalksteinmauer, »die uns von zwei Seiten vom Dorf trennt. […] Unser Haus ist das unterste im Dorf, das letzte Ende« (55). Des Weiteren werden häufig Transgressionen der Grenzen zwischen inneren geschlossenen und äußeren offenen Räumen thematisiert und problematisiert, quasi als Pendant zu den behandelten Grenzverletzungen. Die geträumten Räume erscheinen als bedrohliche, geschlossene Gebäude und sind als Projektionsflächen realer Ängste der Figuren zu deuten. Das Mädchen in Selt96 Vgl. hierzu Krekeler 1999 und Geier 2006. Mora äußerte sich in diesem Zusammenhang und in Bezug auf ihren schematisierenden Umgang mit den Figuren in Seltsame Materie wie folgt: »Sie [die Figuren] sind im Grunde Teil der Landschaft, menschenförmige Komponenten derselben, zwischen denen sich die Ich-Erzähler zurechtfinden müssen« (Mora 2014: 70).
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same Materie, das vom Ausbruch aus dem Dorf und dem Schauspielerberuf träumt, träumt oft von einem Schloss, von dem sie nicht fortkommen kann: »Einmal, in einem Traum, schrumpfte das ganze Schloß um mich herum zusammen, und wäre ich nicht mit reichlich Schürfwunden durch ein winziges Fenster entkommen, es hätte mich zusammengedrückt. […] Niemand, den ich kenne, hat Träume wie ich« (13 – der letzte Satz ist dabei nicht nur auf die Zukunftspläne, sondern auch auf den Alptraum zu beziehen). In Die Lücke hat die Mutter vor ihrem Selbstmord einen über Jahre wiederkehrenden Traum: »Ich liege in einem weißen Haus, vielleicht ein Sanatorium, ein Schloß« (86). Als sie schon ärztlich behandelt wird, gesteht sie: »Heute bin ich dahintergekommen, was dieses Haus ist. […] Es ist ein Irrenhaus, sagt Mutter. Ich liege in einem Irrenhaus« (87). Die Figuren werden auch in der dritten Erzählung an Orte versetzt, die die Grenzüberschreitung von Innen nach Außen bzw. zwischen Unten und Oben erfordern, und diese topografischen Grenzgänge hängen (auch in den anderen Texten in Seltsame Materie) mit den thematisierten sonstigen Formen von Grenzübertritten (Reise oder Flucht, Kreuzungen zwischen semantischen Räumen wie vertraut und fremd usw.) eng zusammen. Der Erzähler und sein Grenzwächter-Kollege Fisch begeben sich zu Weihnachten in ein Höhlenheiligtum des römischen Sonnengottes Mithras, der am 25. Dezember geboren worden sein soll:97 In der Höhle ist es stockfinster und es riecht nach Urin. Ich bleibe stehen, plötzlich fürchte ich, wir könnten in einer Latrine gelandet sein, einen Schritt weiter und ich versinke in mannshoher Scheiße. Ich denke daran, wie das sein kann, die Höhle ist genau auf der Grenze, hier kommt kein Mensch her, weder von hier noch von drüben, wie kann es dann sein, daß selbst hier alles vollgepißt ist. (42) Fisch macht die Lampe aus. Wir schweigen eine Weile. Riechen die Erde und den Urin. […] Und wieder hört man, wie er den Speichel zwischen den Zähnen schäumen läßt. Aber er spuckt nicht. […] Ich denke an Vater, der den Weltatlas unter seiner Haut trägt, der zurückgekehrt ist. […] Dann sagt Fisch nichts, während er an mir vorbei zum Eingang geht und den Kopf hinaus ins Tageslicht steckt: Wahrscheinlich ist diese Gegend von Gott gemacht als eine Art Prüfung, man muß hier noch mal durch das Schlimmste, bevor man endlich drüben ist. (43) Bevor wir gehen, pissen wir in die Höhle (44).
Wichtig ist hier nicht nur die augenscheinliche Anhäufung von Grenzsituationen (Dunkelheit vs. Tageslicht, Heiligkeit vs. Profanität, Ge- bzw. Verborgenheit vs. Geborenwerden/Zur-Welt-Kommen) und ihre Korrelation mit der von den beiden Grenzwächtern vertretenen amtlichen Überwachung der Grenze, oder die Art und Weise wie die Heiligkeit der christlichen Weihnachtsfeier in der 97 Vgl. hierzu Clauss 1990.
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Erzählung (wie auch schon in dem Titel STILLE.mich.NACHT) subvertiert wird).98 Aufmerksamkeit verdient vielmehr die Tatsache, dass die bereits behandelten Verletzungen der Körpergrenzen in Form von Wunden und Traumata (Vater trägt den »Weltatlas unter seiner Haut«, »Vaters Narben sind das einzige, was er mitgebracht hat von seiner Reise. Nach zwanzig Jahren Umherirren in der Welt ist er wieder dort angekommen, wo er losgegangen ist, in seinem Dorf« – 36) oder die ebenfalls schon erwähnte Verhinderung der Wahrnehmung (Fisch hat eine »ungewohnte Stimme« und ist in der Höhle »unsichtbar, ich kann das Gesicht nicht erkennen« – 43) mit körperlichen Exzessen verbunden werden (»ich versinke in mannshoher Scheiße«, »alles [ist] hier vollgepißt«, Fisch lässt »den Speichel zwischen den Zähnen schäumen«, »[b]evor wir gehen, pissen wir in die Höhle«). Dass die Thematisierung körperlicher Exkremente in den Texten nicht nur eine illustrative Funktion (Durchbrechung von Tabus) erfüllt, beweist ihre Relevanz auch in den anderen Erzählungen. Spucken und Speichel sind Leitmotive der zweiten Erzählung (»Aus dem Mundwinkel meines Bruders tropft etwas Speichel herab, er fängt es mit einem zerknüllten Taschentuch auf« – 40). In Der See wird das Bettnässen zum Pendant des erlebten Sterbens, als Treiben im umliegenden Wasser des Totenreiches, das wiederum analog zum Leben und Auskommen der Familie (Großvater bringt Fremde illegal ans andere Ufer) bzw. zu Ophelias Tod im Prätext der vierten Erzählung zu betrachten ist: Ich bin leicht wie ein Kind, mein Körper ist ein Boot. […] Es soll mich hinübertragen bis morgen früh. […] Und auf einmal weiß ich, mein Schlaf hat mich getäuscht: dieses Dahintertreiben unter dieser hellen Sonne ist der Tod. Ich liege auf dem Rücken, bewege meine eiskalten Finger, das Wasser des Sees, das glatt unter mir legt, ein graues Laken, und ich flüstere: Ich bin tot. […] Ich bin tot, flüstere ich. Ich fühle, wie sich meine Blase zusammenzieht. Jemand berührt warm meine Finger, und mein schöner Bruder flüstert auf meine Stirn: Du bist nicht tot, Idiotin. […] Wenn du ins Bett pißt, schmeiß ich dich vom Dach, Idiotin. (64f.)
Urinieren wird häufig weniger direkt mit dem Sterben verbunden, jedoch weiterhin naturalistisch thematisiert, als unvermeidbares Zeichen dafür, dass sich die Subjekte an der Grenze zwischen Gesundheit (Ganzheit) und Krankheit 98 Ein weiteres Beispiel hierfür findet sich an der Textstelle, als die zwei Grenzschützer beim Kontrollgang ein Paar auf der Flucht mit den Namen Josef und Maria festnehmen und dabei über die Unmöglichkeit bzw. Absurdität dieser Korrelation reflektieren (44). Mehrere Erzählungen – die übrigens fast alle die Kontingenz, aber auch die fatalen Konsequenzen des »Hineingeborenseins« in eine Welt problematisieren – spielen wohl nicht ohne Grund gerade zu Weihnachten. Die Heiligkeit des Mithraskults wird ebenfalls satirisch demontiert: »Im Schein der Lampe sieht man, daß die Höhle gar keine ist. Es ist nur ein winziges Erdloch, zwei Männer haben kaum Platz darin. Und es ist nichts drin, nicht einmal ein Stein« (42).
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»Um mich herum war alles Gewalt«
(Verlust der Ganzheit) bewegen. Der Großvater wird nach der Entziehungskur in Durst wie folgt beschrieben: Aber Großvater macht sich nichts aus Kotzen. Er kotzt auch, wenn er trinkt. Die mit Urin und Erbrochenem verschmierte Bettwäsche weicht Abende lang in der Badewanne. […] Großvater dagegen hat sich seit der Entziehungskur verändert. Sein riesiger Körper ist erschlafft, als ob seinen Zellen nicht nur der Alkohol, sondern auch die Lebenssäfte entzogen worden wären. […] Er wird nur von der fischweißen Haut zusammengehalten. Gäbe es die Haut nicht, würde einfach alles von ihm abfallen. (213f.)
In Die Lücke gehört wiederum der Urin – zusammen mit den Tränen – zu jenen körperlichen Exkrementen, die als pathologisch empfunden werden: Als die Nachbarin wenige Minuten später aufsteht, bleibt auf dem Stuhl ein Fleck zurück. Die Frau trägt eine Thermohose. Vielleicht ist eine Windel darunter. […] Und Mutter sitzt da neben dem Fleck […] und weint jetzt schon ununterbrochen […]. Noch ist Zeit, wegzulaufen, denkt sie, aber da wird sie aufgerufen, also erzählt sie, hundertmal stockend, daß sie seit acht Wochen ununterbrochen weinen muß. (84f.)
Als sie behandelt wird, übernimmt sie auch diesen Geruch, und als eine weitere Körperflüssigkeit wird in diesem Kontext Schweiß thematisiert (»Auch sie riecht danach [nach Schweiß]. Ihr Haar nach Schweiß, ihre Nasenflügel, ihr Nachthemd nach etwas zwischen Urin, Schweiß und Dauerwellenwasser« – 107). In diese Reihe lässt sich auch die Sexualität stellen, die dieselbe Körperzentriertheit bzw. ein Reduziertsein auf den Körper charakterisiert, wie die Akte der Gewalt.99 Inzestuöse oder pädophile Verhaltensweisen und verbale sexuelle Gewalt werden im Erzählband häufig genug thematisiert (Am dritten Tag sind die Köpfe dran, Buffet, Durst), in Die Lücke kommt aber besonders prägnant zum Vorschein, wie Sexualität in den Erzählungen mit der Art und Weise der Versprachlichung des Körpers zusammenhängt. Als er ihre Annäherung ablehnt, beruft sich die Mutter auf ihren Umgang mit Exkrementen bei der Kinderpflege (»Liebe. Raffgier. Sie faßt mich an. Am liebsten meine Brust und meinen Hintern. Wie schön du bist, sagt sie. […] Ich habe dir den Hintern gewischt, du Bastard. […] Ich habe in deiner Scheiße gewühlt« – 96). Als er nach dem Beischlaf mit der Mutter seine »Erektion heiß und schmerzlich« (104) erlebt, dann hinausgeht und sich an den Stamm eines Apfelbaums lehnt, wird eine Ausbruchsphantasie aus dem eigenen Körper nachgezeichnet: »Ich wünschte, ich könnte sie [meine Haut] aufschlitzen und sie herauskullern lassen und mich anfühlen, wie noch als Kind, nur weiche Haut. […] Ich wünschte, ich könnte
99 Vgl. hierzu Reemtsma, der neben der Gewalt auch eine andere, eine positive (da freiwillige) Erfahrung der Reduziertheit auf den Körper erwähnt, nämlich die Sexualität (Reemtsma 2009: 128).
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mich erbrechen. Mich aus mich hinausbrechen« (104).100 Der zumal fragmentarisch wahrgenommene, durch Exzesse und Gewalt in seiner Ganzheit und Gesundheit verletzte Körper erscheint hier als ein zu durchbrechender, geschlossener Raum. Die titelgebende »Lücke« verweist somit nicht nur auf die (traumatischen, unerzählbaren) Leerstellen der Erinnerung (»Ich erinnere mich nicht, wann das angefangen hat. Irgendwo ist eine Lücke« – 78, »Die [Wahrheit] kenne ich nicht. Leere Lücken füllen« – 91) oder auf die verletzte Körperdistanz (»Sie sitzen nebeneinander. Schulter an Schulter. Lückenlos« – 83) und auf die Angst der Mutter vor dem Selbstverlust (»Ein dunkles Loch in der Mitte, sagte Mutter, bevor man sie zuletzt einwies. Ich fühle mich wie ein Klumpen Teig mit einem dunklen Loch in der Mitte. […] Alles fällt ins Loch« – 100). Die Lücke verkörpert zudem (auch als Ort der Exzesse und Ausbrüche) die behandelte Randposition an der Grenze zwischen geschlossenen und offenen Räumen, zwischen Körperinnerem und Außenwelt.101 Sowie aber die körperlichen Exkremente nicht nur als Spuren von Gewalterfahrungen zu deuten sind, so sind auch die Ausbruchsversuche und -phantasien nicht notwendigerweise nur als Reaktionen auf diese zu betrachten und damit auch zum Scheitern verurteilt. Bei der Beschreibung der Reaktionen einer (ausnahmsweise auch namentlich benannten) Figur in Die Sanduhr auf die körperlichen Veränderungen beim Heranwachsen werden die schon bekannten körperlichen Exzesse thematisiert, allerdings nicht mehr als Grenzverletzungen infolge gewaltsamer Akte, sondern als natürliche Konsequenzen der Grenzsituation in der Pubertät: 100 Eine ähnliche »grenzüberschreitende« Bewegung wie bei den obigen körperlichen Transgressionen, aber in ganz gegensätzlicher Richtung thematisieren die Erzählungen vom übermäßigen Trinken und Essen. Vgl. hierzu die Beschreibung von Großvaters letzten Minuten vor dem Erbrechen in Durst und die Beschreibung des Trinkens: »Großvater ißt. Er ißt wie im Wahn. Er ißt für Onkel Fred. Er wächst vor meinen Augen« (206); »Und trinkt ihn hinunter. Hinunter in eine Tiefe, die außerhalb seines Körpers liegen muß. Er trinkt ihn irgendwohin in einen endlosen, dunkeln, salzigen Schacht« (204). 101 Zur Interpretation der »Sprachbilder von Löchern und Schnitten«, die »auf die entfremdeten Körper der Anderen« verweisen, vgl. Lang; Schimanski 2010. Die – oben bereits behandelte – metonymische Fokussierung auf einzelne Körperteile richtet sich auch häufig auf Glieder, die durch eine »Wunde«, einen Schnitt oder ein Loch zu einem offensichtlichen Grenzraum zwischen der Außenwelt (dem Boden) und dem Körper(inneren, dem verkleideten Körper in Schuhen). So starrt in STILLE.mich.NACHT der Erzähler stets auf den schwarzen, schmutzigen Zeh eines Flüchtlings, der durch ein Loch in seinem Schuh stets sichtbar wird (30). Solche Zehen, von Spuren der Natur oder von Traumata verfärbte (schmutzige oder blaue, schwarze usw.), verwandelte Körperteile sind auch Leitmotive in den Erzählungen. Vgl. hierzu die Beschreibung des väterlichen Körpers in der zweiten Erzählung (»Er [Vaters Finger] scheint sich zu verfärben, wie Vater selbst. Vater trägt viele Farben an seinem Körper. Lila und Gelb. Grün. Braun« – 36) oder die Reflexion des Erzählers über seinen Kollegen ebenda: (»Ich höre, … wie er Erdklumpen zwischen den Zähnen hervorwürgt« – 51).
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Annina schwitzt. Ihre Haare sind fettig. Überall sondert sie etwas ab. Sie riecht an sich. Sie riecht nach Fleischkäse, Vanille und geronnenem Blut. Sie kratzt sich am Kopf, unter ihren Fingernägeln bleiben weißgelbe Schuppenreste. Sie ist nicht mehr kinderschön. Sie leidet daran. (198)
In diesem Alter befinden sich gerade auch jene Protagonisten in anderen Erzählungen, die ihre Entgrenzung oder sogar Entkörperlichung durch Einswerden mit der Natur,102 mit einer anderen »Materie« erleben: So wird für Ophelia in der fünften Erzählung (Der Fall Ophelia) der »Wasserleib« zum identitätskonstitutiven Zufluchtsort vor der Ausgrenzung von der Überwasserwelt: »Das Wasser greift in meine Ohren, ich höre nichts von dem, was im Dorf passiert. […] Ich werde flach, wie eine Comicfigur« (123). Eine andere ähnliche Möglichkeit, dem einschränkenden Umfeld im Grenzdorf durch eine Art Transgression Widerstand zu leisten, liefert das Schreiben, die Dichtkunst.103 Diese wird der Reflexion ähnlich in Die Sanduhr zwar als verdächtig angesehen (»Was denkst du soviel nach, fragt Großmutter, nur Idioten denken soviel« – 213, »Warum schreibst du sowas? Bist du wirr im Kopf ?« – 214).104 Doch ist es letztendlich nur die Schreibmaschine (und nicht die Schuhe), die die Sechzehnjährige in ihrer Reisetasche mitführt, als sie durchs Fenster klettert, um »im Gewand der Fremden« zum Bahnhof zu laufen und von zu Hause aus abzureisen. Bevor die Erzählerin aber in erster Person über ihre Flucht berichtet, wird auch davon erzählt, wie dasselbe einem Mädchen passiert: Ich denke über dieses Mädchen nach, das vor kurzem von zu Hause weggelaufen ist. Sie geht in meine Schule, aber ich wußte bis dahin gar nicht, daß es sie gibt. Aber dieses Mädchen kannte auch sonst niemand. Bis sie weglief. Der Direktor hat ihr eine Ver102 Besonders offensichtlich wird dies im Fall von Ophelias erwähnter »Verwandlung« im Wasser. Die körperliche Vereinigung mit der Natur gehört auch in anderen Geschichten zu den Leitmotiven (u. a. in Die Lücke wird sie bei der behandelten Szene vom leidenschaftlichen Umarmen des Apfelbaumes thematisiert und in Seltsame Materie durch das Begraben der Haare). 103 Diese kann man in einem gewissen Sinn (als Überschreitung der Grenze zwischen Materiellem und Immateriellem, Vergessen und Erinnern usw.) auch als körperliche Transgressionen betrachten. Vgl. hierzu Nicolas Pethes: »Wenn Benjamin schreibt: ›Beachte die Hand, wie sie auf dem Blatt die Stelle sucht wo sie ansetzen will. Schwelle vorm Reich der Schrift [VI 200]‹, dann ist das Schreiben als eben jene Geste gekennzeichnet, die als körperliche transgression in einen Bereich jenseits der Grenze diesen konzeptionell allererst konstituiert. Schreiben ist eine durch die Hand geleitete, produktive, materielle und arepräsentative Geste des Entwurfs eines neuen Feldes. […] Als Geste überschreitet und konsolidiert Schreiben zugleich die verge zwischen Erinnern und Vergessen, Konstruktion eines Textes und Destruktion der Bezüge zur Vergangenheit, Unmittelbarkeit und Dispersion der Referenz« (Pethes 1999: 122). 104 Laut Andrea Geier zeigt sich in dem Satz »Möglicherweise bin ich tatsächlich wirr im Kopf« (216), wie die Fremdrede zum Teil der Figurenrede wird, das heißt, wie Selbst- und Fremdbilder einander gegenseitig durchdringen bzw. wie Fremdbilder von den Figuren übernommen (da nicht als zitierte Rede markiert) werden (Geier 2008: 126).
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warnung erteilt. […] Nach den Gründen befragt, zuckt sie lange Zeit nur mit den Achseln, obwohl uns das in der Schule verboten ist, dann kann sie schließlich nur eins sagen: ihr Vater trinkt. (215)
Aufgrund der wiederholenden Strukturmerkmale der Erzählungen ist auch hier anzunehmen, dass die Erzählerin den Fall nicht einfach nachahmt – vielmehr werden hier die unterschiedlichen Fremderfahrungen (die Fremden wundern sich über das Mädchen, die Erzählerin empfindet sich als fremd) auf die für das Schreiben nötige Distanz zu sich selbst bezogen, indem sichtbar gemacht wird, wie sich dabei Objekt und Subjekt des Erzählens zueinander verhalten. Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass bei der Thematisierung der Ausbruchsbewegungen und Transgressionsprozesse in den Erzählungen Körper und Sprachkörper verschränkt werden, wie es beispielsweise auch beim Einsatz der Fragmentarität der Fall war. Die Problematisierung von Bewegungen, die Dynamik von Räumen und Überschreitungen (oder gerade ihr Fehlen) bestimmen auch die narrativen Strukturen im Text. Das erzählerische Präsens (der beinahe vollständige Verzicht auf das Präteritum) bzw. der stetige Wechsel der Zeitebenen und der Außen- und Innenperspektive lassen sich einerseits, wie bereits gezeigt, als Verkörperung der Modalität einer allgemeinen Orientierungslosigkeit (der Figuren und des Lesers) oder als Modellierung einer traumatisierten Gegenwärtigkeit deuten. Die Störungen der narrativen Progression verweisen andererseits auch auf eine Bewegungslosigkeit, der im Text eine besondere Relevanz zukommt. Die Gelähmtheit als allgemeines Merkmal des Dorfmilieus105 steht nicht nur zu den Bewegungen und Ausbruchsversuchen der Figuren im Gegensatz, sondern diese ist zumal auf konkrete körperliche Behinderungen zurückzuführen (sie spiegelt die Körpergeschichte wider) und ist auch vom politischgeschichtlichen Kontext nicht unabhängig. In der letzten Erzählung des Bandes (Ein Schloß), die zumeist als kafkaeske Allegorie Osteuropas interpretiert wird, sind die schon bekannten geschlossenen Räume mit körperlichen Exkrementen vorherrschend, die hier allerdings auch von politischen Allusionen durchzogen sind (»Hinter der Tür schon eingetrockneter menschlicher Kot mit einer 105 Auf die theoretischen Ansätze zu den Zusammenhängen zwischen Raum (bzw. Ort) und Zeit, so u. a. auf den räumlich bedingten Gegensatz zwischen der messbaren, linearen Zeit (etwa der Chronologie der Ereignisse) und der (auch oben erwähnten) Zeitlosigkeit bzw. Augenblicklichkeit (die etwa die Zeiterfahrung infolge der Globalisierung oder die Pluralisierung, Fragmentierung der Räume verursacht) wird hier nicht eingegangen. Zur zeitlosen Zeit in der Kultur der realen Virtualität vgl. Castels 2004. Zum Verhältnis von Raum und Ort und zur Widerlegung der These vom Raum als Dimension der Gleichzeitigkeit vgl. Assmann: »Während die Rede vom Raum also eher zukunftsgerichtet und – mit den Worten LefHbvres ›Gegenstand von Instrumenten und Zielen, von Mitteln und Zwecken‹ ist, ist die Rede von Orten eher vergangenheitsgerichtet und hebt eine Geschichte hervor, die an ihnen haftet und weiterhin ablesbar ist« (Assmann 2012 b: 74).
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schwarzblütigen Damenbinde obendrauf. […] Was denkst du, wie’s hier früher war? Ins Schloß rein und als erstes in die Ecke gekackt« – 230). Die Ich-Erzählerin ist unterwegs zu ihrem ausländischen Vater und wird an der Grenze von einem Einbeinigen aufgehalten, der ihren Pass beschlagnahmt und sie in ein düsteres Schloss einsperrt. Der Holzbeinige gibt sich für ihren Vater aus und wird letztendlich (nach ihrem intensiven Grübeln über die Frage »Was ist mir meine Freiheit wert«) vom Mädchen getötet – die politischen Konnotationen der Geschichte sind nicht zu übersehen. Zwar wird auch der Systemwechsel thematisiert (»Als es mit der Besatzung zu Ende war, haben sie alle, die aus dem Dorf im Dienststanden, fortgeschickt. Auf einmal war alles eilig. […] Nur ich, weil ich das Bein hatte, durfte als einziger bleiben« – 231), doch herrscht eine tödliche Unveränderbarkeit, eine gelähmte Statik, die sich nicht zuletzt in der körperlichen Behinderung des Mannes ausdrückt. Es handelt sich aber auch dabei um keinen konkreten politischen Kontext, vielmehr manifestiert sich in den Worten des Mannes eine allgemeine, in seinen Körper und (in die Räume des Schlosses) »hineingeschriebene« Erfahrung: »Alle Orte sind gleich und fremd. Das wisse er schon längst, sagt Holzbein. Darum mache es auch nichts aus, ob man gesunde Beine habe oder nicht. Wenn es sich nicht lohnt, sich von der Stelle zu bewegen, lohnt es auch nicht, schnell zu sein« (231). Mit den Worten Moras ist auch dies als eine Diktaturerfahrung zu deuten. In ihrer Interpretation von Seltsame Materie im Kontext des Geflechts mehrerer autoritärer Systeme, die das Leben in einer Diktatur kennzeichnen (und das lässt sich auch am Beispiel der Schlusserzählung zeigen), stellt die Autorin nämlich Folgendes fest: Wenn in einer freien Gesellschaft ein Modell unlebbar wird, sich alte Strukturen auflösen, hat das andere Ergebnisse, denn es gibt Richtungen, in die man gehen kann, man kann sich dem Drift anschließen oder versuchen, ihm Widerstand zu leisten, sich so oder so zu emanzipieren, und auch die Strukturen selbst haben einen Raum, in dem sie sich verändern können. In einem totalitären System ist das nicht möglich. Ein totalitäres System ist seinem Wesen nach un-modern, statisch und in höchstem Maße vampiristisch, so dass den allermeisten keine Kraft für eine wie auch immer geartete Emanzipation bleibt. In einem Gefängnis kann man nirgends hingehen, höchstens Schritte tun: auf und ab. (Mora 2007a: 4)
Die in dieser Hinsicht analogen räumlichen und zeitlichen Koordinaten der Diktaturerfahrung haben auch einen nicht zu übersehenden Körperbezug, und zwar nicht nur in Form der physischen Repression, die sich etwa in den Kontrollmaßnahmen oder Uniformierungs- und Normalisierungsbestrebungen (bei der Grenzkontrolle, im Gefängnis, in der Schule) zeigt und literarisch inszeniert wird. Der statische Raum (der Diktatur) bildet den Rahmen für die thematisierten exklusiven, gewaltigen Diskurse der Grenzziehung, der Ausgrenzung, die von den Erzählerfiguren durch vielfältige Diskurse der Entgrenzung und
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Grenzüberschreitung durchkreuzt werden und Dimensionen transkultureller Übersetzung eröffnen. Damit wird auch die von Mora angesprochene NichtModernität angegriffen – als eine immerhin politische Dimension des Textes, die weder auf den anfangs erwähnten »real Existierenden« zu reduzieren noch von den Kompositionsmerkmalen zu trennen ist.
»Und Nema. So wie das Nichts.« Zur Poetik der Leerstelle in Terézia Moras Alle Tage
Moras Roman-Debüt Alle Tage (2004) gehört zweifelsohne zu den meistdiskutierten und komplexesten Texten der Autorin. Die Geschichte des kuriosen Sprachgenies Abel Nema, der vor der Einberufung fliehend und von Liebeskummer angetrieben seine zerfallende Heimat in Osteuropa verlässt, in einer westlichen Großstadt Mercedes Alegre heiratet und zum Opfer einer Kette von Gewaltakten wird, lässt sich u. a. als politische Allegorie, als Migrationsgeschichte, als Liebesroman, als Gesellschaftsbefund oder auch als religiöse Parabel lesen.106 Die Grundthemen des Romans, wie existenzielle Fremdheit, Flucht und Deterritorialisierung, Gewalt und Traumata, Wahrnehmung, Körperlichkeit und Liminalität, sind nicht zu trennen von den narratologischen Besonderheiten des Textes: Innen- und Außenperspektive sowie unterschiedliche Zeit- und Erzählebenen bzw. Handlungsstränge und Ortsbezüge wechseln rasant und nach Belieben. Diese Unbeständigkeit, dieses »ortlose Sprechen« (Rock 2013: 4), dieses Gefühl »diegetischer-diskursiver Orientierungslosigkeit« (Kraft 2011: 184) bewirken eine Verunsicherung des Lesers, und sie modellieren, wie nahezu alle InterpretInnen betonen, die Situation Abel Nemas. Tobias Kraft interpretiert Abel sogar als metaliterarische Figur, deren Präsenz das konventionelle, zuverlässige Erzählen provoziert – im Einklang mit Moras poetologischem Programm (»Wenn […] Abel […] anfängt umherzuirren, fängt auch der Satz an umherzuirren«107): 106 Zu den unterschiedlichen Deutungsarten des Textes vgl. Löffler 2010. Löffler liest Alle Tage als Liebesgeschichte, als »politische[n] und metaphysische[n] Zeit- und Gesellschaftsbefund« bzw. als »Allegorie auf den identitäts- und heimatlosen Migranten« und lässt auch die religiösen Konnotationen der »Märtyrerlegende« nicht unerwähnt (Löffler 2010: 4). Zur religiösen Metaphorik vgl. Spreckelsen 2004; zur Poetik der Fremde vgl. Siblewski 2006; zur Problematik der Ortlosigkeit, der Deterritorialisierung und des displacement vgl. Kraft 2012, Buchholz 2011 und Kegelmann 2017. 107 Mora 2007: 73, zitiert nach Kraft 2012: 166. Ein treffendes Beispiel für diesen Zusammenhang zwischen Merkmalen der Diegese (hier dem Satzbau) und des Raumes (ein verschlungenes Gebäude) bzw. der Bewegung (dem Herumirren) im Raum findet sich bei der Beschreibung von Abels Ankunft an der Universität: »Nach anfänglichem Herumirren
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»Und Nema. So wie das Nichts.«
Die Unfähigkeit des Erzählers selbst, die initiale Setzung eines hier im jetzt der Erzählung zu konkretisieren, ist der narrative Abdruck eines Traumas, das in der erzwungenen Vertreibung aus einer verlorenen Heimat seine Wurzel hat. […] Die deiktische Destabilisierung aller Raumbezüge vermischt sich unauflöslich mit der poetologischen Reflexion zum unmöglichen Unterfangen referentieller Verbindlichkeit. (Kraft 2012: 167f.)108
Bei der Analyse der Polyphonie und der intertextuellen Dichte in Alle Tage ist ferner der bewusste Verweis auf Ingeborg Bachmanns Werk in der Sekundärliteratur nicht unbemerkt geblieben: Der Romantitel bezieht sich auf Bachmanns gleichbetiteltes Gedicht aus dem Band Die gestundete Zeit (1953), das – analog zum Roman – die Allgegenwart von Krieg und Gewalt bzw. das Engagement dagegen behandelt.109 Bachmanns Poetik hinterlässt allerdings durchaus noch komplexere Spuren in Moras Werk,110 und zwar nicht nur auf der Ebene der thematisch-motivischen Beziehungen. Zur zentralen Problematik in Bachmanns Oeuvre gehört die Beziehung zwischen Welt, Sprache und Subjekt, mit der sie sich auch in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1959/60) auseinandersetzt. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Frage nach dem Namen, d. h. nach der Verbindung zwischen Zeichen, Bezeichnetem und Bezeichnendem, sowie nach dem Benennen als Geste der symbolischen Einordnung und Hervorbringung, die Forschungsgegenstand zahlreicher unterschiedlicher
durch ein verschlungenes Universitätsgebäude – Soll ich dich hinbringen? fragte Konstantin. Nicht nötig sagte Abel. Ich begleite dich! rief Konstantin. Nicht nötig. Wirklich – fand er sich am nächsten Tag in Tibors Büro ein« (Mora 2004: 98). 108 Vgl. hierzu auch Lene Rock: »Problematischer erweist sich die Polyfonie in Alle Tage, wo sich die zahlreichen Stimmen außerdem in die erwähnte Ungenauigkeit der circumlocution/circumlocation und in eine an Döblins Berlin Alexanderplatz erinnernde Montagetechnik verwickeln. […] Dadurch tritt eine Grenzverschwimmung zwischen diegetischer und heterodiegetischer Ebene auf, wobei der ständige Wechsel von Personalpronomen – normalerweise die Wahrzeichen der Erzählperspektive – auf eine enunziative Unsicherheit hinweist. […] Dieses Sprechen ist das Korrelat von Abel Nemas unsicherer Erscheinung, dessen Name schon im Zeichen der Unkennbarkeit bzw. der Fremdheit steht« (Rock 2013: 4). Auch Sigrid Löffler betrachtet die Merkmale von Moras Erzählstil als »angemessene Darstellung« der Desorientierung der Welt: »Es gibt bei ihr keinen klar benennbaren Erzähler, schon gar keinen allwissenden; es sind viele Stimmen, die sich gegenseitig ins Wort fallen und das Geschehen aus den unterschiedlichsten Perspektiven kommentieren. […] Wie sonst ließe sich die Desorientierung und Fragmentierung in einer so komplexen wie zerfaserten Welt angemessen darstellen« (Löffler 2010: 7). 109 Mora äußerte sich auch über diese Verbindung zu Bachmanns Gedicht: Beim Lesen des Gedichtes wurde ihr klar, wie sehr auf den Flüchtling Abel Nema zutrifft, dass sich für ihn und in ihm der Krieg, der »für die Welt nicht mehr stattfand, […] immer noch fortsetzt, unerhört und all-täglich. So bekam mein Roman ein Zitat zum Titel: Alle Tage.« (Mora 2007, S. 31, zitiert nach Albrecht 2009: 267). Vgl. hierzu Magenau 2004, Rock 2013: 9, Kraft 2012: 162. 110 Vgl. zum Thema Brüns 2009.
Am Anfang war … der Nullpunkt
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Disziplinen und theoretischer Abhandlungen ist.111 Obwohl ich hier weder auf die Theorie des Benennungsaktes oder der Referenzialität des Eigennamens noch auf die Beziehung zwischen Namensgebung und Machtausübung in der Bachmannschen Poetik oder in der (kulturwissenschaftlichen) Namensforschung näher eingehen kann, erweisen sich der Eigenname bzw. der Akt des Benennens oder das Genannt-Werden (und im engen Zusammenhang damit die Problematik der Leerstellen) als heuristisch relevante Analysekategorien des Romans Alle Tage. Durch die Untersuchung der Funktion von Namen und Benennungsakten in dem Text sollen im Folgenden die Problematisierung des sprachlichen Bezeichnens bzw. die narratologischen Strategien, die anthropologische Rolle der Namensgebung und dadurch die Themen der Ort- und Identitätslosigkeit, der Gewalt, der Scham und der Körperlichkeit in Moras Roman erläutert bzw. neu kontextualisiert werden. Dabei wird versucht darzulegen, wie eine Poetik der Leerstelle für Geschichte und Geschehen konstitutiv wird und wie sich dadurch hinter der Folie der Kriegs- und Flüchtlingsthematik allgemeine (sprachphilosophische) Problematiken zu erkennen geben.
Am Anfang war … der Nullpunkt Abels Figur und die Erzählung werden analog zueinander vom Romananfang an als Rätsel gestaltet. Das für den Leser Verstörende ergibt sich aus der Spannung zwischen dem Anschein oder Versprechen von Stabilität und Fixierbarkeit und dem Verlust von Sicherheit und Verlässlichkeit. Im Zusammenhang mit dem performativen Akt des Benennens und mit der Tradition der Beschreibung wird im allerersten Satz des ersten Kapitels (0. Jetzt. Wochenende) die Konvention des auktorialen Erzählens zitiert: »Nennen wir die Zeit jetzt, nennen wir den Ort hier. Beschreiben wir beides wie folgt« (9).112 Die mit der im klassischen Sinne »allwissenden« Erzählposition einhergehende Kohärenz und Stabilität werden zwar zuweilen imitiert: An einem Samstagmorgen zu Herbstbeginn fanden drei Arbeiterinnen auf einem verwahrlosten Spielplatz im Bahnhofsbezirk den Übersetzer Abel Nema kopfüber von 111 Vgl. hierzu Bachmann 1993. Zur Bachmannschen »Poetologie der Namen« vgl. Nagy 2010. Zur Funktion der Namen in der Literatur vgl. u. a. Lamping 1983 und Stiegler 1994. Zur Unterscheidung zwischen Begriff und Namen vgl. Nietzsche 2005. Zum Verhältnis von Wort, Name und Ding vgl. Benjamin 1991. Zum klassifikatorischen Charakter der Namen vgl. L8vi-Strauss 1962. Zur poststrukturalistischen Theorie der Eigennamen vgl. Derrida 1967 und Lyotard 1988. 112 Die Seitenangaben nach den Zitaten aus dem Roman beziehen sich auf die folgende Ausgabe: Mora, Ter8zia: Alle Tage. München: btb, 2004.
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einem Klettergerüst baumelnd. Die Füße mit silbernem Klebeband umwickelt, ein langer, schwarzer Trenchcoat bedeckte seinen Kopf. (10)
Diese Autorität wird jedoch geschwächt und erweist sich sogar als Ironie: einerseits durch die Offenlegung der Unmöglichkeit von Bestimmtheit (»Leere oder man weiß nicht genau womit gefüllte«, »alte[s] oder nur so aussehende[s] Kinderspielzeug«, »auf dem Weg zu oder von der Arbeit« – 9, kursiv E.P.), andererseits durch die fortlaufende Destabilisierung der im Sinne des Anfangssatzes zu erwartenden Kohärenz der räumlichen und zeitlichen Koordinaten des narrativen Diskurses. Zwischen den aufeinanderfolgenden nummerierten Kapiteln besteht keinerlei chronologische Kontinuität, Orte werden weder geografisch konkretisiert noch politisch näher definiert, die Fokalisatoren sowie Figuren- und Erzählerrede wechseln und interferieren ständig (manchmal kommt es sogar satzintern und unmarkiert zu Fokalisierungswechseln: »Nach anfänglichem Herumirren durch ein verschlungenes Universitätsgebäude – Soll ich dich hinbringen? fragte Konstantin. Nicht nötig sagte Abel. Ich begleite dich! rief Konstantin. Nicht nötig. Wirklich – fand er sich am nächsten Tag in Tibors Büro ein« – 98).113 Dieselbe Unbestimmtheit charakterisiert des Weiteren die allererste Erscheinung von Abel, der in der Perspektive der drei vorbeigehenden Frauen, quasi zur Fremdbestimmtheit prädestiniert, als konturlos, als Mensch unerkennbar, ja als Vogel erscheint (was auch den Untertitel des Anfangskapitels – Vögel (9) – interpretiert und ein späteres Leitmotiv des Textes – die Frage nach den Grenzen zwischen Mensch, Objekt und Tier – vorausdeutet): Der Mann habe auch irgendwie wie ein Vogel ausgesehen, oder eine Fledermaus, aber eine riesige, wie er da hing, seine schwarzen Mantelflügel zuckten manchmal im Wind. Zuerst dachten sie, sagten die Frauen später aus, jemand hätte nur seinen Mantel dort vergessen, auf dieser Teppichklopfstange oder was das ist, ein Klettergerüst. Aber dann sahen sie, dass unten Hände heraushingen, weiße Hände, die Spitzen der gekrümmten Finger berührten fast den Boden. (9f.)
Sehen und Gesehen-Werden als rekurrierende Motive des fiktiven Geschehens und als narratologische Grundkategorien werden bereits am Anfang aufeinander bezogen. Der verprügelte, kaum lebensfähige Abel wird im Krankenhaus ins künstliche Koma versetzt, und dieser Schwebezustand (welcher der Konturlosigkeit der Figur entspricht) muss stabilisiert werden: erstens durch die ärztlichen und behördlichen Versuche seiner Diagnostizierung und Identifizierung 113 Aufgrund der vielen Textstellen, welche die Unsicherheit oder sogar Unzuverlässigkeit des Erzählers offenlegen (»Von außen betrachtet, sieht er wie ein ganz normaler Mann aus, Korrektur : ein ganz normaler Mensch, Korrektur : verwerfe den ganzen Satz« – 327, kursiv E.P.), nehmen einige Rezensenten mit Recht an, dass in dem Roman die Erzählerrolle ironisiert wird. Vgl. hierzu Rettig 2004 und Auffermann 2004. Zur detaillierten Analyse der Pro- und Analepsen sowie der Fokalisierung vgl. Kraft 2012 und Fandler 2013.
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(deren protokollartige Sprache auch zitiert wird: »Arme, Beine, Rumpf, Kopf: schmal. Haut: weiß, Haar: schwarz, Gesicht: länglich, Augen: schmal, Tränensäcke beginnend, Stirn hoch, Haaransatz herzförmig« – 10), und zweitens dadurch, dass seine Frau Mercedes ihn sieht. Dieses Sehen erweist sich nämlich als nicht unproblematisch: Etwas ist jetzt doch anders, dachte seine Frau Mercedes, als man sie später ins Krankenhaus rief. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich ihn das erste Mal schlafend sehe. […] Und weil es auch ein Gewaltdelikt ist, […] stellt auch die Polizei Fragen. Wann man seinen Mann das letzte Mal gesehen habe. Mercedes schaut lange in das Gesicht. Ich hätte bald gesagt: Wenn ich’s mir recht überlege: noch nie. (10)
Beim Erzählen vom Gewaltdelikt, dem Abel zum Opfer fällt, entsteht bereits am Romananfang eine Spannung zwischen Abels Gesehen-Werden (von den Arbeiterinnen, den ermittelnden Ärzten und Behörden) und seiner »Unsichtbarkeit«, die den Protagonisten als anwesender Abwesender erscheinen lässt, d. h. als Leerstelle, die (den Leser aber auch die fiktiven Figuren) zur Interpretation, zur Ermittlung herausfordert. Abels »Absenz« oder »Leere« wird evident und für das fiktive Geschehen und die Narration von entscheidender Relevanz, längst bevor die Bedeutung seines sprechenden Namens (»Nema« bedeutet auf Ungarisch »stumm«)114 enthüllt wird, und zwar nicht nur als im ersten Kapitel Ort, Zeit und Abels körperlicher Zustand zueinander analog in Schwebe gehalten und als Rätsel problematisiert werden. Bereits der dem ersten (nullten) Kapitel vorangestellte, kursiv gesetzte Prolog lässt sich als metaphorische Spiegelung des Romans lesen. In dem kurzen, auffällig polyphonen Teil werden erstens die möglichen Prätexte und Deutungskontexte der Geschichte angegeben (mit dem Hinweis auf die Mehrsprachigkeit in Babylon, Transsilvanien oder auf dem Balkan sowie auf den Zusammenhang zwischen Lügen und Erzählen, Wundern und furchtbaren Ereignissen – 5). Zweitens wird hier ein asymmetrischer Dialog
114 Die Bedeutungen des Familiennamens Nema werden bereits im zweiten Unterkapitel angegeben: »Nema, der Stumme, verwandt mit dem slawischen Nemec, heute für : Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: den Barbaren« (14). Im Hebräischen bedeutet Abel ferner Nichtigkeit oder Hauch (Auffermann 2004), der Name ist aber auch mit der alttestamentarischen Geschichte von Abel und Kain zu verbinden bzw. er verweist auf Babel, d. h. auf Abels besonderes Sprachtalent und die Mehrstimmigkeit des Romans (Biendarra 2013: 51). Der Protagonist wird des Weiteren auch Abel Ausdemdickicht genannt (136, 141), ein intertextueller Verweis auf den ungarischen Roman von ]ron Tam#si (]bel a rengetegben, d. h. Abel in dem Dickicht, 1932), dessen Titelmetapher das Dickicht hier als »Metapher von displacement« (Tatasciore 2012: 234) uminterpretiert wird.
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zwischen Abel und einem Redakteur (seinem Arbeitsgeber) zitiert,115 in dem Abels Redebeiträge gestrichen wurden – er schweigt nomen est omen, seine Präsenz wird wieder als Abwesenheit konstruiert. Diese Leerstelle bzw. Abel als Leerstelle provoziert auch hier einen Versuch der Sinngebung und Fixierung – dieses Mal nur nicht durch Hinsehen oder beschreibende Untersuchung bzw. Ermittlung (wie im folgenden Kapitel durch Mercedes’ Beobachtung, die ärztliche Diagnose und die Spurensuche der Behörden), sondern durch Benennen: Der Redakteur nennt Abel »Christus ohne Bart« (5) und tauft ihn auf den Namen Rasputin, der mit Abel nicht nur die charismatische (sexuelle) Anziehungskraft und eine gewaltige Angriffe und Spekulationen hervorrufende, geheimnisvolle, außer-ordentliche Position teilt, sondern auch einen sprechenden Namen (»Rasputin« steht für »liederlich«).116 Der erzählerische Anfang in Alle Tage stellt damit in einem besonderen Sinn einen Nullpunkt dar : Das Benennen und dessen breiterer Kontext, die Sinngebung, die sprachliche Erkenntnis und Erfassung der Welt erweisen sich als die eigentlichen Themen der Geschichte des als Rätsel und Leerstelle anwesenden »Nullpunkts« Abel. Darin zeigt sich, wie das bereits bei der Analyse des Erzählbandes Seltsame Materie der Fall war, dass Moras Texte keinesfalls auf einen politischen Hintergrund, auf eine thematische Folie – bei Seltsame Materie auf die (kommunistische) Diktatur, im Fall von Alle Tage auf die Kriegs- und Flüchtlingsproblematik – zu reduzieren sind.
»Der Ehemann, den es in Wahrheit gar nicht gibt«. Subjektlosigkeit versus Körperlichkeit Das (temporäre oder versteckte) Nicht-Vorhandensein einer offenbar vorhandenen, einen Namen tragenden und körperlich agierenden Figur ist vom Prolog an ein Leitmotiv des Romans. Verschollene Personen sind Wegbegleiter von Abel Nemas Lebensgeschichte, wie es am Anfang des Kapitels Hundstage quasi aufgelistet steht: 115 Auch ein typisches erzähltechnisches Merkmal des Romans wird bereits im Prolog offenbar, und zwar eine Art Polyphonie des narrativen Diskurses oder Unbeständigkeit der Erzählperspektive, die sich u. a. aus der Vermischung der Grenzen zwischen unmittelbar zitierter Figurenrede und einer auktorialen Stimme ergibt – diese letztere kommt erst gegen Ende des Prologs zum Wort: »Im Übrigen ist es egal, sagte der Mann, ein Redakteur, zu Abel Nema, als er ihn das erste und letzte Mal sah. Meinetwegen lügen undoder erfinden Sie auch« (5). Len8 Rock spricht im Kontext der »Grenzverschwimmung zwischen diegetischer und heterodiegetischer Ebene« von einer »Enthierarchisierung auktorialer und fokalisierender Stimmen« (Rock 2013: 4). 116 Rasputins Name gab immer wieder Anlass zu Spekulationen und Diskussionen darüber, dass es sich lediglich um einen Beinamen handelt, der mit »liederlich«, »lasterhaft« (rasputnik, rasputnichat) übersetzt werden kann. Vgl. Smith 2016.
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Verschwunden: Der Bürgermeister einer kleinen Ortschaft in D. während der Feier zu seiner Wiederwahl. Der Chaosforscher Halldor Rose von einem Kongress kommend. Der ehemalige Jugendchorleiter N.N. […] Am zwölften Juni vor zwanzig Jahren, am frühen Morgen des ersten Tages der Sommerferien: Abel Nemas Vater. (61)
Die Liste ließe sich mit dem Vater von Mercedes’ Sohn Omar fortsetzen (»Mein Vater war ein Prinz aus G. Er ist noch vor meiner Geburt verschwunden« – 167), oder mit Abels Jugendliebe Ilia Bor (»Verschwunden, sieben Jahre später, nach Verlassen einer Abiturfeier mit anschließendem Spaziergang: Ilia B.« – 65). Gleichzeitig verschwindet auch das Kollektivsubjekt Staat: Der Staat, in dem er geboren worden sei und den er vor fast zehn Jahren verlassen habe, sei in der Zwischenzeit in drei bis fünf neue Staaten gespalten wurden. Und keiner dieser drei bis fünf sei der Meinung, jemanden wie ihm eine Staatsbürgerschaft schuldig zu sein. Dasselbe gelte für seine Mutter, die nun zur Minderheit gehöre und ebenfalls keinen Pass bekomme. (269)
Abel selbst gehört in einem gewissen Sinn aber auch zu den Verschollenen. Abgesehen davon, dass er nach dem Abitur seine Heimatstadt S. verlässt und mit Mercedes bloß eine Scheinehe führt, bei der er eines Tages »ohne jeden Kommentar für fünf Monate verschwunden blieb« (308), steht mehrmals in dem Text, dass es ihn nicht gibt. So nennt ihn Kinga (Abels Schicksalsgenosse, zur Hälfte Armenierin)117 eine stets verschwindende Fata Morgana (298). Da Abels Pass abgelaufen ist (»Den Staat gibt es gar nicht mehr« – 48), hält die Richterin beim Scheidungsprozess seine Anwesenheit trotz seiner Sichtbarkeit (der sichtbaren Ähnlichkeit mit dem Passbild) für nicht gesichert und stellt fest: »Ich kann niemanden scheiden, der gar nicht existiert« (49). Mercedes spricht aber auch von seiner »ganze[n] Merkwürdigkeit, sein[em] Nicht-Vorhandensein« (305) in Bezug auf die körperlichen Spuren seiner Existenz, die in ihrer Flüchtigkeit (es geht um Gerüche) jedoch gerade die größte Anziehungskraft auf Frauen ausüben: »Das Aussehen und der Geruch. Destille. Parfum oder Alkohol. Bemerkenswert ist: als würde nicht er selbst danach riechen. sondern als hätte nur seine Kleidung, sein Haar, in geringerem Maße seine Haut diesen Geruch angenommen. Als trüge er ihn wie einen Mantel« (305f., kursiv E.P.). Dieser merkwürdige »Subjektmangel« bzw. der Geruch als fluides Zeichen der Existenz von Abel wird für Mercedes zum Medium der sprachlich kaum artikulierbaren Erfahrung seiner Fremdheit, die sie anzieht und als »das deutlichste Bild von ihrer Hochzeit« in ihrem Kopf geblieben ist (16): »[E]twas Endloses, wofür sie gar keine Worte mehr hat, stieg aus ihm hoch, als trüge er ihn in den Taschen: den Geruch 117 Der Akt des Benennens wird für Kinga und ihre Beziehung zum »(Paten)Kind« (146) Abel konstitutiv, andererseits zeigt sich auch in ihrem »Genannt-Werden« ihre traurige Lebensgeschichte: »Ihre Mutter hat sie Hürchen genannt« (144) und ihr »eigener Frauenarzt nannte […] [sie] Hure« (145).
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der Fremde. Sie roch Fremdheit an ihm« (17). Diese Spannung von der sichtbaren körperlichen Präsenz einer Absenz und der olfaktorischen Wahrnehmbarkeit seiner Anwesenheit motivierte auch die Idee der Eheschließung: Mercedes und Abel saßen in der Ecke zwischen Fenster und Eingangstür und schwiegen. […] [A]lles hatte ein Parfum, wie es bis dahin hier nicht üblich war. Es war der Geruch des Mannes neben ihr, nicht konkret, eher so etwas wie das Air seiner Anwesenheit, und plötzlich sagte sie leise, und ohne ihn dabei anzuschauen: Was halten Sie davon zu heiraten? (280)
Die Empfindung einer stummen und subjektlosen, jedoch attraktiven und intensiven Körperlichkeit in Abels Liebesbeziehungen bestimmt auch seine ambivalente Rolle in intimen Beziehungen. Einerseits zieht er Frauen ausnahmslos an: Die Mütter seiner Schülerinnen fühlen sich in seiner Anwesenheit »in eine beinahe […] sexuelle Aufregung versetzt« (180), sogar die Geliebte seines Vaters (»[d]ie Frau Bora denkt an Sex mit dem Sohn des Mannes, dessen erste Liebe sie war« – 69) und auch sein Mentor, der Universitätsprofessor Tibor, empfinden Sehnsucht in seiner Anwesenheit (164). Andererseits spürt man die Abstraktheit – und demzufolge die Asexualität118 – seines kaum menschlichen Körpers (»Wie eine Statue, sagte eine Frau, die ihn eine Weile beobachtete, weil sie ihn gutaussehend fand. Eine schwarz-weiße Holzstatue, ein wenig gruselig« – 139) – er ist der einzige von Kingas Mitbewohnern, der nicht mit der Frau schläft (»Bei jedem anderen lief es darauf hinaus, dass man zuerst Sex hatte. […] Aber das Kind ist ein anderer, er fickt sie nicht« – 157) und für Mercedes »schien er überhaupt kein bestimmtes Geschlecht mehr zu haben, ein Ichweißnichtwas, ein seltsamer Zwitter« (328). Die unterschiedlichen Formen der Subjektlosigkeit oder Dezentrierung sind auf verschiedene Kontexte zurückzuführen und haben jeweils unterschiedliche Auswirkungen, die als ihr thematisches Zentrum die locker zusammengefügten Episoden aus Abels Leben verbinden. Die politischen Ursachen, wie der Zerfall des Vielvölkerstaates (vermutlich) auf dem Balkan und Abels Fahnenflucht erklären offenbar seine Papierlosigkeit, d. h. das Fehlen von äußeren Signifikanten seiner Identität und Individualität (und den Verlust der Ausweisbarkeit seines Namens). Seine Fremdheit ist jedoch jenseits der Migrationserfahrung, von 118 Abel bekennt sich zu seiner Homosexualität in dem Kapitel Delirium: »Um ehrlich zu sein, bin ich schwul, sage ich zu meinem Vater, als ich ihn nach zwanzig Jahren wiedersehe« (369). Allerdings verhält er sich zumeist eher asexuell und unberührbar, vgl. hierzu Jörg Magenau: »Zum Begehren unterhält er ein ähnliches Fremdheitsverhältnis wie zur Sprache: Er bewegt sich darin, ohne dazuzugehören« (Magenau 2004). Nach Maja Rettig bleibt unklar, ob Abel seine Homosexualität auslebt (Rettig 2004), und Sigrid Löffler geht davon aus, dass Abel auch als Geschlechtswesen eine Leerstelle – »unbegreiflich und ungreifbar« – bleibt: »Er treibt sich in Schwulenbars herum, aber er bleibt nur Zuschauer. Er schleppt Strichjungen ab, aber er berührt sie nicht. Er sei unberührt, beichtet er« (Löffler 2010: 3).
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existenzieller Natur : Die Art und Weise, wie sein Umfeld mit Abels Eigenschaften (Attraktivität und Rätselhaftigkeit) umgeht – er wird bewundert oder mit Gewalt angegriffen –, modelliert den prototypischen Umgang mit Fremdheitserfahrungen im Allgemeinen: Faszination und Bedrohung. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Kriegs- und Gewaltthematik im Sinne Moras mit einer existenziellen Problematik verbinden: [I]m Hintergrund der Geschichte oder der Figur, die erzählt wird, [steht] ein Krieg […]. Dann gehört Gewalt einfach zum Thema. Und die Fremdheit der Hauptfigur ist ja auch sehr mannigfaltig. Er ist nicht nur objektiv fremd, also ein Exilant, sondern ist auch ein Charakter, der leider damit geschlagen ist, mit dieser Fremdheit als Konstitution. (Mora, zitiert nach Biendarra 2007: 4)
Das Phänomen der Gewalt hängt nicht nur physisch in einem naheliegenden wörtlichen Sinn mit den Themen der Körperlichkeit und Subjektlosigkeit (der Tilgung des Subjekts) zusammen. Trotz oder gerade wegen der Erfahrung der »Verletzungsoffenheit«119 des Körpers beim Erleiden von Gewalt offenbart sich für den Gewalt Erleidenden die Angewiesenheit auf den Körper. Nach Jan Philippe Reemtsma ist Gewalt deswegen stets primär körperlich aufzufassen, da jede Gewalttat eine Reduktion auf den Körper bewirkt.120 Dieselbe Ambivalenz bezieht sich auch auf den Akt der Beschämung bzw. das Schamgefühl: Die Scham ist der Gewalt ähnlich eine körperbezogene Erfahrung (sie ist als Affekt sichtbar und basiert ursprünglich auf dem Enthüllen der nackten Körperlichkeit), die sich gegen das Subjekt richtet (der Sich-Schämende fühlt sich vernichtet und will im Boden versinken).121 Gewalt und Scham kommen in der Geschichte von Abel Nema als Leitmotive eine besondere Relevanz zu, sie sind zentrale Erfahrungen des Protagonisten. Abel wird immer wieder in Situationen verwickelt, in denen er Gewalttaten zum Opfer fällt und körperlich schwer traumatisiert davonkommt: Er wird von einer Bande Jugendlicher ausgeraubt und zusammengeschlagen,122 er wird in eine Orgie verwickelt, zerstört in einem viertägigen 119 Zur Kategorie der Verletzungsoffenheit vgl. Popitz 1992: 68. 120 Vgl. Reemtsma: »Gewalt – lozierende, raptive, autotelische – zielt auf den Körper, extreme Gewalt reduziert die Gewalt Erleidenden auf ihre Körperlichkeit« (Reemtsma 2009: 126). In seiner Phänomenologie zur Gewalt stellt er aber auch fest, dass die Reduktion auf Körperlichkeit nicht notwendigerweise aus Gewalt resultiert: In der Sexualität erfolgt dieselbe Reduktion als gegenseitiger und freiwilliger Akt (ebd.). 121 Zur Theorie der Scham vgl. u. a. Gvozdeva; Velten 2011, Benthien et al. 2000, Seidler 2001 und Till 1998. 122 Diese körperlichen Verletzungen sind auch der Grund dafür, warum Mercedes eben die immateriellen Spuren von Abels körperlicher Existenz – dieses Mal nicht den Geruch, sondern die Stimme – als Garant für eine Art grundsätzliche Integrität seiner Persönlichkeit (oder überhaupt als Beweis seines Daseins) wahrnimmt: »Er zog ein Bein hinterher. […] Neu waren: die Abschürfung am Kinn, das Hämatom am rechten Jochbein, eine Beule am Hinterkopf, sowie das bereits erwähnte Hinken. […] Aber die Stimme war noch die alte,
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Drogenrausch (infolge einer Überdosis Fliegenpilze) beinahe sich selbst und leidet an Panikattacken und Ohnmachtsgefühlen (336).123 Am Romanende, im einzigen aus der Ich-Perspektive erzählten Kapitel Zentrum. Delirium (357) wird das bis dahin verweigerte oder beinahe getilgte Ich von Abel gerade durch den Sprechakt (»Und ich – also: Ich –« – 359) und das Bekenntnis zum Schamgefühl bestätigt. In dem halluzinatorischen Bewusstseinsstrom werden sein rätselhaftes Nicht-Vorhandensein und seine existenzielle Fremdheit mit der politischen Folie der Migrationserfahrung verbunden, indem die bis dahin nicht vorhandenen oder flüchtigen Kategorien der Zugehörigkeit (wie »Heimat« oder »Vaterland«) metaphorisch als apolitische Synonyme der Scham zu verbindlichen Koordinaten der Subjektivität und Identität erklärt werden: Wovon ich rede […] ist mein neues Vaterland: die Scham. Jetzt und hier habe ich den Frieden praktiziert, alle Tage, ja. Weil es möglich war. Und wenn der Preis dafür war, meine Geschichte, also meine Herkunft, also mich zu verleugnen, dann war ich mehr als bereit, diesen zu zahlen. […] Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. Nicht am richtigen Ort, oder am richtigen Ort, nicht der richtige Mensch zu sein. All meine Kraft ging für die Scham drauf, von morgens bis abends und auch in der Nacht – erniedrigende, verzweifelte Scham. Dass ich herkomme, wo ich herkomme. Dass passiert ist, was passiert ist. (406)
Scham und Gewalt erweisen sich durch diese Interpretation des Titels (»alle Tage, ja. […] All meine Kraft ging für die Scham drauf, von morgens bis abends und auch in der Nacht« – ebd., kursiv E.P.) letztendlich als Wegmarken in dem Modus Vivendi des Flüchtlings, die den Körper gefährden und das Subjekt auszulöschen drohen, andererseits aber gerade durch die Reduktion auf Körperlichkeit ihre Notwendigkeit aufzeigen und das Subjekt bestätigen. Abels »Leere« und Nichtigkeit – oder Abel als »leeres Zentrum«124 – treibt in diesem ambivalenten Sinn die Geschichte voran: Sein rätselhaftes Nicht-Vorhandensein oder Ortlosigkeit, seine durch Gewalt und Scham bedrohte Subjektivität proüberhaupt das Einzige an ihm, das dem Eindruck der allgemeinen und zunehmenden Desolation immer entgegenstand« (17f.). 123 Auch andere Figuren erleben sexuelle und kriegerische Gewalt – Abels Mitbewohner (wie Konstantin Toni) führen alle eine staatenlose Randexistenz, Kingas einziges Kapital ist ihr Körper und sie spielt »nur noch als Ackergaul und Sexualobjekt eine Rolle« (146). 124 Vgl. hierzu Mora 2004: 107, zitiert nach Kraft: »Die leeren oder nur angedeuteten Signifikanten der Romantopografie sowie des historischen Kontextes, in dem sich die Diegese von Alle Tage entfaltet, sind Ausdruck eines amnesischen Erzählens. […] Als ›leeres Zentrum‹ […] provoziert seine Präsenz im Text die Lücken im narrativen Diskurs« (Kraft 2012: 172). Auf die Leerstelle als Grundlage von Abels Existenz wird im Romankapitel Delirium reflektiert, als Abel Folgendes vorgeworfen wird: »[W]ie in einer Zentrifuge kleben Ihre Einzelteile an den Rändern, während Ihre Mitte leer bleibt. Sie haben Recht, davon ist jetzt genug, und kommen Sie mir nicht damit, irgend etwas da draußen hätte Sie so zerteilt, das zählt nur in den ersten drei Jahren als Entschuldigung, so lange ist auch Heimweh erlaubt […]. In Ihrem Fall sind also sämtliche Entschuldigungen längst verjährt« (390).
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vozieren seitens der Figuren in seinem Umfeld Deutungsversuche bzw. seitens der Vertreter der Macht Ermittlungen und Versuche der Identitätsfixierung. Abel wird aber nicht nur als Fremder, als »subjektlose« doch körperlich anwesende Figur zum Rätsel und erzählerischen Nullpunkt, sondern auch als Sprachgenie, als Zehnsprachenmann, zu dem er durch einen Unfall wird, d. h. letztendlich durch eine gewaltige Veränderung seines Körpers, insbesondere seines Gehirns.
Mehrsprachigkeit und Stummheit Die Geschichte von Abel Nemas rätselhafter Begabung und seines perfekten Erwerbs von zehn Sprachen reflektiert explizit die erwähnte Problematisierung der Beziehung zwischen Subjekt, Welt (bzw. Körper oder Ding) und Sprache (bzw. Namen). Dieselbe Funktion erfüllen aber auch die Eigennamen im Text, welche die obigen Aspekte des Mangels, der Abwesenheit und Subjektlosigkeit und den Umgang mit ihnen modellieren. In Abels Familiennamen (als sprechendem Namen) wird der Zusammenhang von Signifikat und Signifikant sehr offensichtlich remotiviert und zugleich die Funktion des Eigennamens als singularisierendes, identifizierendes Zeichen subvertiert. Seinem »Nicht-Vorhandensein« entspricht die ungarische Bedeutung – »Nema, der Stumme« (14) –, seiner Fremdheit die Etymologie der slawischen Bezeichnung der Deutschen: »verwandt mit dem slawischen Nemec, heute für : der Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: den Barbaren« (14). Selbst dieser Name wird aber dem Protagonisten verweigert, als er nicht mit Namen bezeichnet, sondern lediglich zur Chiffre A.N. (ebd.) reduziert wird, analog zu weiteren Romangestalten wie »Halldor R.«, »Adil K.«, »Pater Y.R.« (18) und im Zusammenhang mit dem Fehlen unterschiedlichster Formen der Verbindlichkeit, Herkunft und Zugehörigkeit, die ihn u. a. für die Behörden nicht-existent machen. Dieses Verfahren steht erstens mit der naturwissenschaftlichen Formelsprache in einem dialogischen Verhältnis (diese wird auch imitiert: »Panik ist der Zustand dieser Welt. Alles mal die unbekannte Größe P.« – 19, kursiv E.P.) bzw. mit den Formulierungen der journalistischen Berichterstattung oder mit der mit Kafkas Romangestalten (K. und Josef K.) verbundenen literarischen Tradition der Namensverweigerung.125 Zweitens 125 Vgl. hierzu Ingeborg Bachmanns vierte Frankfurter Vorlesung (Der Umgang mit Namen): »Als Kafkas Romane und Erzählungen berühmt wurden, wurden mit ihnen K. und Josef K. berühmt, zwei Gestalten, die nicht nur kaum auszumachen sind als Romangestalten im herkömmlichen Sinn, sondern die schon in ihrem Namen reduziert sind, mehr mit einer Chiffre als einem Namen ausgestattet sind. Es besteht nämlich ein eklatanter Zusammenhang zwischen dieser Namensverweigerung von Seiten des Autors und der Verweigerung all
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hängen Abels sprechender Name oder das Fehlen seines vollständigen Namens in der Chiffre, seine Stummheit und sein Nicht-Vorhandensein auch mit der behandelten diegetischen Ordnungs- und Orientierungslosigkeit, mit dem der Unsicherheit der Raum- und Zeitkoordinaten und dem Fehlen konkreter Benennungen zusammen. So bleiben für den Leser nicht nur die sich stets wechselnden Orte in Abels Leben – wie die westeuropäische Großstadt »B.« oder Abels Heimatstadt »S.«126 – unbekannt, sondern u. a. auch die Bedeutung von Abels Namen, was durchaus als Verweis auf die Scham der Verleugnung seiner Herkunft lesbar ist, zu der er sich am Romanende im Delirium bekennt: Abel Nema, ausgewählt aus vierhundertfünfundsechzig Menschenwesen von Ilia Bor. Wie die Stadt. Und Nema. So wie das Nichts? Nein, sagte Abel und errötete. Nicht wie das Nichts. Er ist ein …scher Name. (27, kursiv E.P.)127 dessen an K., was ihn berechtigen könnte, einen Namen zu tragen. Herkunft, Milieu, Eigenschaften, jede Verbindlichkeit, jede Ableitbarkeit sind der Figur genommen. Was Kafkas geniale Manipulation für Folgen hatte, ist Ihnen bekannt. Die Kafka-Mode hat uns eine ganze Literatur beschert, Erzählungen und Romane haufenweis, in denen die Helden A. und X. und N. heißen, nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, in Städten und Dörfern wohnen, in Ländern, in denen sich niemand zurechtfindet, meist auch der Autor selber nicht, es gibt da nur allgemeine Benennungen, die Stadt, der Fluß, die Behörde, Prozesse, Einkreisungen, die als Parabeln verstanden werden sollen, aber wofür? Sie sind auf alles und jedes applizierbar. Man sollte den Epigonen jedoch nicht ganz unrecht tun, denn etwas dürften einige von ihnen, bewußt oder unbewußt, begriffen haben – nämlich, daß es heute nicht so leicht ist, etwas zu benennen, Namen zu geben, daß das Vertrauen in die naive Namensgebung erschüttert ist, daß hier tatsächlich eine Schwierigkeit liegt, daß es auch den anderen Autoren, die fortfahren, naiv zu benennen, nur selten gelingt, uns einen Namen zu übergeben, eine Gestalt mit einem Namen, der mehr ist als eine Erkennungsmarke – einen, der uns so überzeugt, daß wir ihn annehmen, fraglos, den wir uns merken, uns wiederholen und mit dem wir anfangen, Umgang zu haben« (Bachmann 1993: 242). 126 »B.« wird in der Sekundärliteratur ausgehend von Moras Biografie zumeist mit Berlin gleichgesetzt (Löffler 2010: 3, Mayr 2014, Magenau 2004, Spreckelsen 2004), während »S.« als Sarajewo und Abels Heimat als Jugoslawien gelesen wird (Rock 2013: 3, Spreckelsen 2004, Tatasciore 2012: 233). Im Roman finden sich zahlreiche Hinweise auf den Kriegsverlauf im ehemaligen Jugoslawien, zum Beispiel wird die Diskussion um die deutsche Intervention auf dem Balkan erwähnt: »Am Ende der neunziger Jahre prosperieren wir wie noch nie zuvor! Wahrscheinlich wird das nicht länger als bis zu drei Jahre dauern, dann wird die Blase platzen, und es wird, Zitat, ein Blutbad geben, aber bis dahin! Streit gibt es höchstens darüber, ob wir B. bombardieren sollten oder nicht« (266). Maria Mayr geht davon aus, dass Alle Tage »in Diskursen um die deutsche Identität Ende der 90-er Jahre« eingebettet ist und untersucht anhand des Romans, wie die Balkankriege instrumentalisiert wurden, »for the purposes of the Berlin Republic’s political self-fashioning as a WesternEuropean power that has overcome its WWII past« (Mayr 2014: 243). 127 Ähnliche Leerstellen finden sich gehäuft im Text: Auf der Suche nach seinem Vater stellt sich Abel seiner ehemaligen Geliebten Bora wie folgt vor: »Mein Name ist …, sagte Abel. Ich bin der Sohn von …« Die Auslassungen lassen sich auch als Pendant zur parodierenden Darstellung der behördlichen Bestrebungen zum Protokollieren und Ausweisen der Identität lesen (»Nameadressegeburtsdatumundortpapierewasmachensiestudentwasstudieren
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An dieser Stelle kommt die Spannung zwischen dem selbstaffirmativen, partikularisierenden Potenzial der Namensgebung und dem auch körperlich (in der Schamröte) sichtbaren Gefühl der Vernichtung bzw. Gefährdung der Sicherheit des Subjekts in der Scham zum Vorschein. Zieht man dazu noch in Betracht, dass dem Erwachen des Schamgefühls auch in der Schöpfungsgeschichte ein schamenthobener Zustand der unmittelbaren Bezeichnung (der Namensgebung per excellence) vorausgeht,128 so wird deutlich, dass Alle Tage nicht nur wegen der zahlreichen biblischen Verweise129 auch als religiöse Parabel zu deuten ist, sondern auch im Kontext der Problematisierung der sprachlichen Bezeichnung als anthropologisches Merkmal des Menschen. Im Endeffekt werden auch hier Dimensionen der Stummheit – der Leere, der Unsagbarkeit – und deren Zusammenhang mit dem Namen thematisiert, die Agamben mit der Unaussprechbarkeit des Namen Gottes verbindet, um den Namen in Anlehnung an Benjamin als Wesen oder Prinzip der Sprache zu bestimmen.130 Moras Umgang mit dem Namen enthüllt eine grundsätzliche Kontingenz und Willkürlichkeit (unserer Bezugnahme auf die Welt und die Existenz in der Welt) und dass es im Sinne Bachmanns »nicht so leicht ist, etwas zu benennen, Namen zu geben, daß das Vertrauen in die naive Namensgebung erschüttert ist«. Die eindeutige Bedeutungszuweisung (im Kontext der Referenzfunktion des Namens) wird nicht nur an Stellen problematisiert, als die Namen sich als Standhalter von Leerstellen oder als sprechende Namen131 erweisen, sondern auch
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siesprachenwoherennstdudenSchwarzenVachtangwassolldasheissenduweisstnichtwerdas istwillstduunsfürdummverkaufen? …« – 123). Zum Zusammenhang zwischen sprachlicher Bezeichnung und den Urszenen der Scham und Schamlosigkeit im Genesis vgl. Benjamin 1991 und Böhme 2011. Die Analogie Abels zur Gestalt des Erlösers ist unschwer zu erkennen: Nach Tilmann Spreckelsen ist er eine »negative Christus-Figur«, der 33-jährig kopfunter gekreuzigt wird und nach dreitägigem Koma erwacht. Spreckelsen spricht auch von einer »ausgeprägte[n] religiöse[n] Metaphorik, die Abel als negative Christus-Figur zeichnet: Es ist ein Freitag, flicht Mora beiläufig ein, an dem Abel dreiunddreißigjährig kopfüber gekreuzigt wird, aus einer Stichwunde im Brustkorb blutet und in einen todesähnlichen Schlaf fällt – ›jetzt wirst du vollendet‹, denkt er noch, und: ›Es ist gut‹. Schon früh bezeichnet ihn der Redakteur, für den der Übersetzer arbeitet, als ›Christus ohne Bart‹, und Mercedes meint, Abel ziehe wie ein Magnet ›alles Sonderbare, Lächerliche und Traurige‹ an, ohne daß diese Erlöserfigur irgend jemanden retten könnte. Am wenigsten sich selbst« (Spreckelsen 2004: L7). Zur sprachphilosophischen Theoriebildung in diesem Kontext vgl. Agamben 2003, Benjamin 1991 und Petzer et al. 2009. Auch andere Figuren haben einen sprechenden Namen: Die Freundin Tatjana interpretiert Abels Frau Mercedes als »Maria von der Gnade der Gefangenenbefreiung«, da er »eine Art Genie oder was aus Transsylvanien oder wo geheiratet, den sie aus dem Feuer oder so ähnlich gerettet hat« (12). Nach seiner Einberufung wird Abel auch von einem zunächst nicht angegebenen, fremden Namen, nämlich dem von Tibor gerettet: »Sie gab ihm einen Namen. Adresse, Telefonnummer habe sie leider nicht. Er wohne in B. Er solle es in B. versuchen. / Ein fremder Name auf der Rückseite von Boras Zettel« (74). Abels Stiefsohn Omar gibt explizit die Bedeutungen der Namen an: »Der Vorname ist arabisch und be-
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wenn sie sich dementsprechend vervielfältigen oder verändern (»Dein Name ist, sagt er, […] dein Name ist: Jitoi. / Abel Nema alias El-Kantarah alias Varga alias Alegre alias Floer alias des Prados alias ich: nicke. / Jawohl, sage ich. Amen leba« – 410)132 bzw. als Abel falsche Identitäten (die von Tibor oder Ilia) und Namen annimmt: Wie heißen Sie noch mal Ilia. Und weiter? Bor. Nein. Warum nicht? Sich als ihn ausgeben. Ein Unbekannter statt eines anderen Unbekannten. Und dann?—Nein, sagte er, nicht, Entschuldigung, ich war in … Abel. Abel Nema. (90)
Außer den sprechenden oder den willkürlich veränderbaren Namen verraten die Simulierbarkeit oder das Nicht-Vorhandensein bzw. die performative Gestaltbarkeit von Identitäten die Akte der Namensgebung im Roman: Abel erhält einerseits bereites im Prolog einen neuen Namen (Rasputin) oder nach der Heirat mit Mercedes den ebenfalls sprechenden Namen Alegre (span. »glücklich«);133 im überfüllten Nachtzug wird er andererseits von Kinga (»Kinga. Das bedeutet: Die Kämpferin« – 136) mit Schnaps auf den Namen »Abel Ausdemdickicht« getauft – ein Verweis auf seine Ort- und Orientierungslosigkeit bzw. auf den ungarischen Roman ]ron Tam#sis (Abel in dem Dickicht, 1932). Ebenso häufig werden Räumlichkeiten auf einen neuen Eigennamen getauft. So sagt Konstantin Tjti bei der Vorstellung von Abels Wohnsitz im zehnten Stock: »Willkommen in unserem bescheidenen Wohnheim, oder wie ich es nenne: der Bastille« (94), oder : »Das hier, wo wir jetzt stehen, nennt sich, nenne ich, Konstantin, die Piazza« (85), und: »Er [Konstantin] quartierte seine Leute auf dem Sofa namens Gott ein« (112). Die Namensgebungen erfüllen auch eine affirmative Funktion: Konstantins Benennungen werden von der Narration entweder unvermittelt übernommen (»In den nächsten Monaten hörte das Kommenund-Gehen auf der Piazza praktisch nicht mehr auf« – 112; »Im Schneidersitz auf
deutet: Lösung, Mittel, Ausweg« (166) bzw. »Sein Künstlername ist Alegria. Das bedeutet Glück. Er hat eine Figur nach mir erfunden. Ihr Name ist Pirate Ohm. Wie der Pirat und die heilig Silbe« (167f.). 132 Zur Problematik der Alias-Identitäten vgl. Anke Biendarra: »Each of these names references a specific period in Abel’s life, but the string of aliases indicates that he underwent no personal development. None of the identities he assumed by taking over somebody’s room or passport had any real substance: they were all mere signifiers for his lack of a clear identity and his continuous alienation from his own self and others« (Biendarra 2013: 52). 133 Vgl. hierzu Omars (»Der Vorname ist arabisch und bedeutet: Lösung, Mittel, Ausweg« – 166) Erklärungen zum Namen seines Großvaters: »Sein Künstlername ist Alegria. Das bedeutet Glück. Er hat eine Figur nach mir erfunden. Ihr Name ist Pirate Ohm. Wie der Pirat und die heilig Silbe« (167f.).
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Gott sitzend, diskutierte er […] die internationale Lage« – 113) oder sie markieren optisch verfremdet, kursiv gesetzt, die Stimme Konstantins: Voil/, der Ort, an dem es keine Dunkelheit gibt. Oder nur Dunkelheit. Das ist so eine Jaund nein-Angelegenheit (alle Kursive: Konstantin). […] Wir wohnen hier genau auf dem Äquator. […] Das hier, wo wir jetzt stehen, nennt sich, nenne ich, Konstantin, die Piazza. Herkömmlich: der mit beigefarbenem Linoleum ausgelegte sogenannte Gemeinsame Raum der Wohnung, auf der sich alle Wege des Imperiums kreuzen. Es sind sechs Türen zu sehen: Ein- und Ausgang, Küche, Bad, sowie die Türen der drei angeschlossenen Särge, in denen die Delinquenten ihre Wohnstatt haben. […] Im Zimmer mit Ausblick wohnt […] ein höchstwahrscheinlicher Denunziator. […] In diesem Sinne: Voil/, Monsieur, Ihr Zimmer (94f.).
Ganz ähnlich werden bei der Beschreibung von Kingas Wohnung private und geschlossene Räume mit einem neuen Namen, analog zu politischen Kollektiva, ins Leben gerufen – an ihre Konstruiertheit und an parallel laufende politische Ereignisse (den Zerfall Jugoslawiens) erinnernd, durch Gleichstellung destruktiver und konstitutiver Praktiken der Hervorbringung (Anarchie und Unabhängigkeitserklärung) parodiert: »Neue Staaten sind gerade groß in Mode, warum sollte ausgerechnet ich keinen haben. Hiermit erkläre ich […] die Unabhängigkeit der Anarchia Kingania« (145), bzw. »Die offizielle Währung in Kingania war der Sliwo« (154). Alle Tage erzählt damit auch davon, wie performativen Akten der Benennung ein affirmatives Potenzial zukommt – wie (sprechende, vervielfachte, erfundene) Namen die Leerstellen der Fremdheit, der Liminalität, der politischen Konstrukte erfüllen, wie diese aber gleichzeitig versagen als Verortungsversuche, als Mittel der Komplexitätsreduktion (und Ordnungsgebung). Diese Bestrebungen – als Inbegriff für sie steht die problematisierte Referenzfunktion des Namens – lassen sich metaphorisch als Kartografierungsversuche deuten, welche das Nicht-(mehr)-Vorhandene (Unerklärliche, Kontingente, Deterritorialisierte) in der Sprache zu verorten (zu reterritorialisieren) suchen bzw. Aktionen wie Lokalisierung oder Adressierung überhaupt erst ermöglichen und generieren.134 Zu diesen Strategien der Vermessung im Roman gehören die symbolischen Akte der Bio-Macht zur Fixierung und Bestimmung der individuellen Identität durch Ausweispapiere,135 die Ermittlungen der Behörden (bei den be134 Zur Indexikalität und Zweidimensionalität als fundamentale Charakteristika der Karte und zur Kartizität der Literatur vgl. den Überblick bei: Italiano 2015. 135 Ein Pendant zu dieser Strategie des Aufzeigens der staatlichen Besitzansprüche auf Leib und Leben findet sich im Hinweis auf die Mobilmachung in Abels Heimat bzw. auf seine Strafbarkeit infolge der Fahnenflucht. Zu dieser Einschränkung des Verfügungsrechts über den eigenen Leib vgl. Thomas Macho: »Bis zum heutigen Tag wird jeder Staatsregierung ein potentieller Anspruch auf Leib und Leben zumindest der männlichen Einwohnerschaft
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schriebenen Delikten), die Diagnose der Ärzte nach Abels Ohnmachtsanfällen bzw. die Experimente der Neurologen und Psycholinguisten an dem Zehnsprachenmann und letztendlich auch allerlei Deutungsversuche des Rätsels Abel Nema durch den Leser. Thematisiert werden sie anhand der Problematik der Mehrsprachigkeit Abels – ein wunderbarer Einzelfall, der als Rätsel Ermittlungen provoziert, jedoch allgemeine und aktuelle Phänomene der Deterritorialisierung136 reflektiert, wie u. a. die Auflösung identitärer Kategorien, die Liminalität der räumlichen Zugehörigkeiten, die Fluidität oder den Verlust jeglicher Verbindlichkeiten und Referenzialitäten sowie die Pluralisierung von Bedeutungszuweisungen. Abels besondere Aura ist u. a. auf die Nebenwirkungen eines Gasunfalls zurückzuführen, infolgedessen er zwar sein Orientierungsvermögen und seinen Geschmackssinn verliert, aber die wunderbare Fähigkeit zum perfekten Erlernen mehrerer Sprachen bekommt. Im Sprachlabor wird Abel – längst bevor er am Romanende tatsächlich zum Vater wird – zum Schöpfer seiner selbst als Menschen, auch wenn bei seinem sterilen, künstlichen, technizistischen Spracherwerb »Technik […] primär, Mensch […] sekundär« (101) ist: Als Konstantin beobachtet, wie Abel den ganzen Abend vor den Computerbildschirmen sitzt, bemerkt er : »Ohne das feste Korsett ihrer Rituale wären sie [Menschen wie Abel] vermutlich nicht einmal in der Lage, das Minimum eines Anscheins von Menschlichkeit zu produzieren« (102, kursiv E.P.). Im Sprachlabor geht er dementsprechend vor, »[a]ls züchtete er des Nachts dort seinen Homunculus, nur dass dieser hier ganz aus Sprache besteht, der perfekte Klon einer Sprache zwischen Glottis und Labia« (101, kursiv E.P.). Den neuen Menschen Abel, den Zehnsprachenmann, charakterisiert allerdings auch eine Art subjektlose Körperlichkeit oder künstlich-sterile Menschlichkeit: Er erwirbt und beherrscht die Sprachen rein äußerlich und technizistisch (in diesem Sinne meint Mercedes: »Nie zuvor habe ich meine Muttersprache, die nicht seine ist, so perfekt gesprochen gehört« – 18). Sein Körper funktioniert zwar als perfektes Medium der Lauthervorbringung, in der Kommunikation versagt er aber, bzw. er bleibt nomen est omen stumm: Man macht sich Gedanken über ihn und ärgert sich hinterher, weil sich herausstellt, dass er einem die ganze Zeit, während man auf ihn eingeredet hat, nur auf den Mund geschaut hat, als besäße allein die Art und Weise, wie man die Frikative bildet, Wichtigkeit für ihn. Der ganze Rest […] interessiert ihn nicht die Bohne. In der Welt leben und nicht in der Welt leben. So einer ist er. (14) zugestanden: bei ›allgemeiner Mobilmachung‹ wird auch das Ideal des ›Selbstbesitzes‹ eingezogen, und auf ›Fahnenflucht‹ steht nicht selten die Todesstrafe. […] Die Menschen gehören nur in Ausnahmefällen ›sich selbst‹« (Macho 2000: 32). 136 Zur Interpretation der Deterritorialisierung bei Mora vgl. Kegelmann 2017 und Sieg 2011.
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Wie er den Mitmenschen in diesem Sinn als »sprechenden Mund« wahrnimmt, so kann seine Zunge ihre unmittelbare Funktion als Wahrnehmungsorgan auch nicht mehr erfüllen, da sie sich lediglich auf ihre etwas abstraktere Rolle als Sprechwerkzeug reduziert: Er verliert seinen Geschmacksinn und »[e]r lernt Ton um Ton, analysiert Frequenzzeichnungen, wühlt sich durch die Codes der Lautschrift und färbt sich die Zunge schwarz, um die Abdrücke zu vergleichen« (101). Wie der Körper sich für Abel auf die Zunge (bzw. den Mund) reduziert und die Zunge sich auf ihre Funktion bei der Hervorbringung von Lauten beschränkt und als Geschmacksorgan versagt, so werden die Räume für Abel nach dem Unfall nicht mehr begehbar (»Seitdem feststand, dass er die zehnte Sprache nun auch beherrschte, war er wieder etwas orientierungslos geworden« – 151), oder nur in einem besonderen, abstrakten, metaphorischen Sinn: Als einstiger Geografiestudent interpretiert er nämlich geografische Kategorien auch in Bezug auf den Spracherwerb: [J]etzt war das Innere seines Mundes das einzige Land, dessen Landschaften er bis ins Letzte kannte. Die Lippen, die Zähne, die Alveolen, das Palatum, das Velum, die Uvula, die Lingua, der Apex, das Dorsum, die Zungenwurzel, der Kehlkopf. Voice onset time, stimmhaft, stimmlos, Aspiration, distinktiv oder nicht. (100)
Abels Sprache ist trotz der technizistischen Perfektion dieser Landschaft seines Mundes, oder gerade deswegen, jedoch ortlos: Alles, was er sagt, ist »ohne Ort, so klar, wie man es noch nie gehört hat, kein Akzent, kein Dialekt, nichts – er spricht wie einer, der nirgends herkommt« (13). Abels Ortlosigkeit infolge seines displacement als Migrant ist ein Pendant seiner scheinbaren oder temporären Verortung – im Gegensatz zu den anderen Migrantenfiguren in seiner Umgebung hat Abel durch seine »Ehefrau, Stiefkind, Staatsbürgerschaft […] seine Nische gefunden« – 15). Wiederum geht es um einen Mangel oder eine Leerstelle, wie bei seiner Subjekt- und Sprachlosigkeit (seinem »Nicht-Vorhandensein« und seiner Stummheit), die sich hinter seiner Mehrsprachigkeit und der Pluralität seiner Namen verbergen. Wie auch die Ortlosigkeit seiner nomadischen Existenz bei den Institutionen der Macht Ermittlungen und Verortungsversuche hervorruft – er muss sich stets ausweisen, die Ehe mit Mercedes (»ob wir eine richtige Familie sind« – 307) wird amtlich kontrolliert –, und wie seine geheimnisvoll-fremde Körperlichkeit eine Anziehungskraft ausübt und Deutungsversuche provoziert, so hat sein ortloses Sprechen zur Folge, dass Experten (Neurologen, Linguisten, Radiologen) Abels Gehirn endlos untersuchen, um das Rätsel des Zehnsprachenmannes durch Kartografieren zu lösen. Bei den »[p]sycholinguistische[n] Tests zur Untersuchung der Gehirnaktivitäten bei multilingualen Sprechern« (313) werden die Sprachen wie auf einer Landkarte auf regenbogenfarbigen Aufnahmen visualisiert:
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Unser Interesse gilt den motorischen und auditorischen Sprachfeldern im linken Schläfen- und im Frontallappen, bekannt als Broca- und Wernicke-Areale, doch auch die Organe der Erinnerung und der Emotionssteuerung, Hippocampus et cetera, spielen eine nicht geringe Rolle. […] Das Gehirn eines Menschen ist eine ganz erstaunliche Landkarte. Angeblich sieht man alles darauf. Traumata bilden tumorähnlich umgrenzte Bereiche. (320)
Diese Strategien der Semiotisierung und visueller Formgebung lassen sich in dem Sinne als Aspekte einer kartografischen Reduktion deuten, dass sie einer »Operations- und Imaginationsmatrix« (Dünne) ähnlich neue Weltkonstruktionen und Imaginationsprozesse initiieren,137 das heißt, in diesem Fall die Materialität, den Raum des menschlichen Körpers, als zugängliches Territorium imaginieren und produzieren. Das Verfahren des so verstandenen Kartografierens – die Konturierung, Repräsentation und Inbesitznahme von fremden, außer-ordentlichen Bereichen – wird aber nicht nur von dem »Team aus sieben Experten« (307) verwendet, sondern auch von dem Erzähler, bei der Beschreibung dessen, was in den drei Tagen nach dem Unfall in Abels Gehirn, am Schauplatz eines unerklärbaren Rätsels, an der Leerstelle vor sich ging.138 Das Unerfassbare wird dabei durch eine metaphorische Verräumlichung (durch die Gleichsetzung von Abels Körper mit einem geschlossenen enigmatischen) Raum beschrieben: So organisierte sich das Labyrinth in Abel Nemas bis dahin in allen Schulfächern gleichermaßen begabtem und desinteressiertem Verstand so lange um, bis alles, was bis dahin eine Rolle gespielt hatte, das Gewusel von Erinnerung und Projektion, Vergangenheit und Zukunft, das die Gänge verstopfte und in den Zimmern lärmte, irgendwo verstaut war, in geheimen Wandschränken, und er, nun leer, bereit zur Aufnahme einer einzigen Art von Wissen: von Sprache. (75)139 137 Italiano 2015: 252. Zur Karte als »Imaginationsmatrix« vgl. Dünne 2008. Die matrizielle Funktion der Karte für den Text wird durch das Fehlen der kartografischen Schreibpraktiken – der »syntagmatische[n] Anordnung der Elemente, die eine zentralperspektivistische Kartierung produziert« (Italiano 2015: 254) – durch die Ambiguität, Polyphonie und Dezentrierung im Erzähldiskurs eher kritisch reflektiert. 138 Die Beschreibung der »Rückverwandlung« Abels am Romanende ist weniger komplex: Das Rätsel, die Problematik von Abels anwesender Abwesenheit löst sich durch die gewaltige Vernichtung der Leerstelle – als Abels Sprachgedächtnis als Folge der Gehirnblutungen nacheinem Angriff einer Bande Jugendlicher ausgelöscht wird, das heißt, als er am Romanende – als Zeichen seiner Verortung – eine einzige Sprache mit spürbarem Akzent beherrscht, seine Wahrnehmung zurückgewinnt, eine Tochter bekommt und Glück empfindet. 139 Diese räumliche Umstrukturierung kann auch als Metapher der parallel ablaufenden politischen Ereignisse gedeutet werden, so Ren8 Kegelmann: »Die Verschiebungen im Gehirn des Protagonisten können metaphorisch gelesen werden als eine fast übergangslose und grundlegende Umstrukturierung, die zu einer Orientierungslosigkeit auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene führt« (Kegelmann 2017: 80). Die räumliche Verortung bzw. Visualisierung sind auch wichtige Strategien bei Abels Spracherwerb: »[U]nd nun war es so,
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Die Art und Weise, wie an dieser Textstelle der Sprechort von Abels ortlosem Sprechen beschrieben wird, macht deutlich, dass der Problematik der räumlichen Verortung bzw. Verortbarkeit im Roman nicht nur bei der Thematisierung der migratorischen Mobilität und Ortlosigkeit eine zentrale Relevanz zukommt, sondern auch beim Aufzeigen der Spannung zwischen Territorialisierungs- und Deutungsbedarf und dessen Unmöglichkeit (infolge des Verlustes der Verbindlichkeit jeglicher Referenzialität oder der Unmöglichkeit der begrifflichen Festlegung) im Allgemeinen.
Die Poetik des Raumes: die Leerstelle als displacement Abels bereits behandeltes Nicht-Vorhandensein und Nicht-in-der-Welt-Sein bestimmt den Romantext auch in Bezug auf Räumlichkeit. Die fehlende Zugehörigkeit und Disloziertheit, der Selbst-Verlust des Flüchtlings Abel Nema, ist zunächst auf die Fremdheit des Migranten, d. h. auf konkretisierbare und politische Koordinaten, zurückzuführen (obwohl Mora selbst diese Leseart reduktiv findet und auf der Universalität und Nichtfestlegbarkeit des Settings besteht: »[W]ir reden hier nicht von den Balkankriegen, sondern von allen möglichen Kriegen. Wir reden hier nicht von Berlin 1990–2004, sondern von einer westlichen Großstadt unserer Zeit«).140 Abels Flucht nach und sein Verschollensein bzw. Umherirren in der westeuropäischen Stadt B. korrelieren mit politischen Ereignissen: Die Heimat des Fahnenflüchtigen zerfällt in Teilstaaten, d. h. verschwindet (als Vielvölkerstaat), und daraus ergibt sich die naheliegende Interpretation seiner Ort- und Orientierungslosigkeit als Pendant und Konsequenz seiner Staatenlosigkeit, wie das Abel an der Polizeistation auch explizit zu hören bekommt: Die Staaten, die euch festhielten mit eiserner Hand, haben euch hinausgespuckt in die Welt. Da treibt ihr nun dahin, in alle Himmelsrichtungen, wie die Samen des Löwenzahns. […] Wie kann sich die Einzelperson, zu der man durch die Umstände geworden ist, behaupten, also auf dem richtigen Weg bleiben, nämlich dem, der irgendwann von A nach B führt. (150) dass er jedes einzelne Wort, jeden Satz, den er hörte, sofort verinnerlichte […]. [E]r sah die Konstruktionen vor sich, als würden kleine Astgebilde aus den Mündern seiner Mitpatienten wachsen. Er starrte sie an« (73). Vgl. hierzu noch folgende Textstelle: »Zu Beginn gibt es die Mathematik, das Spinnennetz der Konstruktion. Wie das aufklappbare Märchenschloss ersteht aus zwei Buchseiten ein gläserner Wald auf. Jeder seiner Bäume ist ein Satz, die Äste schließen mit dem Stamm den und den Winkel ein, ebenso die kleineren Äste mit den größeren, an den Enden blinken zarte Syntagmen. Die Natur baut alles nach einem Muster. Hier kommt einem das Wissen um Fraktale zugute« (101). 140 Zitiert nach Kraft 2006: 107; vgl. hierzu Mayr 2014: 248 und Kegelmann 2017: 73.
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Abel verbleibt und bewegt sich demzufolge im sozialen und auch im physischen Raum stets an der Peripherie, er »[h]at seine Nische gefunden, seine ruhige Ecke am Rande der Party« (15, kursiv E.P.). Seine Wohnungen (Konstantins Wohnheim Bastille, die Anarchia Kingania, das Zimmer beim Fleischer Carlo) und Aufenthaltsorte (der Nachtclub Klapsmühle) haben dementsprechend alle einen provisorischen, peripheren und klaustrophoben Charakter, der sowohl ihre innere Gestaltung und Wahrnehmung als auch ihr äußeres Umfeld charakterisiert.141 Der »tote Raum« (21) von Abels dunkler und staubiger Stube (»Ein Raum, eine Toilette. Als Bett diente ein ausziehbarer Sessel« – 178) im illegal ausgebauten Dachgeschoss befindet sich auf dem ehemaligen Industriegebiet, getrennt vom »eleganteren, reicheren, geordneteren Westen« der Stadt (20), als vorletztes Haus vor dem Ende einer Sackgasse (263): Eine Sackgasse, am Rande eines schmalen und verwinkelten Streifens alter Industrieräume an der Ostseite der Bahn gelegen, gibt es in Abels Straße nur auf der einen Seite Häuser. Auf der anderen eine Ziegelsteinmauer, dahinter siebzehn Paar Schienen und dahinter : die Stadt. (20)
Sein Fenster geht aber auch in Konstantins Wohnheim auf einen dunklen Innenhof (ist ein »Fenster zum Nichts« – 94). Auch das Haus selbst (»Übrigens handelt es sich bei der Bastille eigentlich nicht um ein Gebäude, sondern um zwei, ineinander geschoben, jeder in die Hohlräume des anderen greifend« – ebd.) wird als kaltes und labyrinthartiges Gebäude voller unerwarteter Verschlingungen beschrieben. Auch bei der Beschreibung der Wohnung in Kingania werden Namen und Benennungen von öffentlichen, politischen Räumen zitiert – wie auch Konstantin sein Männerwohnheim ein Imperium mit einer Piazza und Denkmälern nennt (95), so heißt Kingas Reich eine Enklave (153), in der sie als Marschallin (146) herrscht. Dadurch wird jedoch Abels Bindungslosigkeit zu privaten oder intimen Lokalitäten entlarvt: Obwohl als erlösendes Obdach gemeint (mit dem Sofa als Gott, mit Konstantin als Retter der Obdachsuchenden am Bahnhof und mit Kinga als Mutter ihres Patenkindes Abel Ausdemdickicht), sind Abels Wohnorte lediglich Kulissen seiner Ort- und Orientierungs-losigkeit. Als einem Dickicht oder Rhizom142 ähnliche Nicht-Orte 141 Der enge, geschlossene Raum diente als Abels Zuhause bereits in seiner Kindheit, als er nicht in einem Bett, sondern auf einer »Matratze im Garderobenschrank im Flur« (57) schlief, wie er sich später dazu auch bekennt: »Aus einem Schrank bin ich gekommen, auf einer Bank auf dem Bahnhof bin ich gelandet« (92). Zur Interpretation der beengten Räume (wie von Abel im Schrank oder Kinga im Kellerloch) vgl. Kegelmann 2017: 78. 142 Ren8 Kegelmann stellt fest, dass alle Milieus und Räume, in denen sich Abel bewegt, eine labyrinthische bzw. eher rhizomatische Struktur haben, die der Undurchdringlichkeit, der netzartigen, labyrinthischen Struktur des Romans entspricht (Kegelmann 2017: 77). Zur Interpretation des Dickichts als Metapher von displacement vgl. Tatasciore 2012: 234 bzw. Mora über ihre Suche nach einer »Form« für Abel Nema: »Eine Form für Abel Nema, der aus
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lassen sich die Schauplätze von Abels Leben in B. damit auch als metaphorische Spiegelungen seiner migratorischen Entwurzelung, seiner Ort- und Sprachlosigkeit sowie auch der narratologischen Strukturmerkmale des Romantextes (der bereits erwähnten diegetischen Orientierungslosigkeit) interpretieren.143 Das Aufeinanderbeziehen von räumlichen und temporalen Bedeutungskomponenten der Orientierungslosigkeit bzw. die metaphorische Interpretation der Ortlosigkeit als konkret-räumliche Kategorie des Settings, als emotionale oder migrationsspezifische Erfahrung der Figur und als narratologisches Programm werden an manchen Textstellen sogar explizit thematisiert, so u. a. als Kinga ihr Reich »Enklave« nennt, wo keine Aussagen über die Zukunft gemacht werden können: »Wir leben hier in einer Enklave, sagte Kinga. Was folgt daraus? Daraus folgt zum einen, dass alles jetzt ist« (153). Die Unmöglichkeit der teleologischen Bewegung für Abel, die Liminalität der raumspezifischen Bindungen und die fehlende Zugehörigkeit und Verortung erweisen sich als allgemeine Leitmotive des Textes. Wie auch Abels Flucht aus der alten Heimat nicht nur politische Beweggründe hat (er flieht vor der Einberufung zum Militärdienst), sondern in erster Linie private (er verlässt das dem Dickicht einer verlorenen Heimat in dieses andere Dickicht gekommen ist, in dem wir jetzt und hier leben, in diesem Lärm und Schmerz, der nichts zu bedeuten scheint, der einfach nur ist, und Abel Nema ist der Überzählige darin. […] Finde ein Bild für dieses Dickicht. Wie bewegt man sich durch ein Dickicht? / Auf Pfaden und durch Durchgänge. Selten geht man schnurgerade. Man schlüpft durch. Immer besteht die Gefahr, sich zu verirren. […] [D]er, der dort [im Irrgarten oder im Labyrinth] unterwegs ist, nicht weiß, wo er genau ist, weiterweiter vorausschauen als die nächsten paar Meter kann er nicht, er weiß nicht, wer hinter der nächsten Ecke, der nächsten Biegung steht, und das ist genau so, wie auf einsehbaren Pfaden durch ein Dickicht zu gehen, das ist, wie Abel Nemas Situation ist und wie er sich fühlt, die Art und Weise, wie die Erzählung sich im Raum bewegt, ist so, wie sich das innere Problem des Abel Nema (die Entwurzelung, die Trauer, die Wut, die Schuldgefühle) bewegt« (Mora 2014: 55f.). 143 Der Zusammenhang zwischen Ortlosigkeit und dem narrativen Diskurs in Alle Tage blieb auch in der Sekundärliteratur nicht unbemerkt. Nach Nathan Taylor haben die narrative Ambiguität, die Unbestimmtheit und die Desorientierung als zentrale Gestaltungsprinzipien des Romans topografische, deiktische und figurenbezogene Dimensionen (zitiert nach Kegelmann 2017: 71). Tobias Kraft verbindet die »deiktische Destabilisierung aller Raumbezüge« mit der »poetologischen Reflexion zum unmöglichen Unterfangen referentieller Verbindlichkeit« (Kraft 2012: 168) und spricht von einer »Poetik der Bewegung« in Bezug auf Literatur, wo sich »die Migrationsprozesse unserer Jetztzeit in Narrative übersetzen, welche die ideelle und begriffliche Fixierung genau der Räume hinterfragen« (Kraft 2011: 172). Vgl. hierzu Paul Buchholz: »Mora is concerned with narrating the experience of a character who perpetually evades attachment to any particular locality. The narrative voice mimics […] this non-attachment by never localizing the novel’s narrative, but only ever bordering on saying where he comes from and where he is. In this sense, Mora offers another iteration of Bachmann’s idea of grenzen; the protagonist remains irreducible in his outsider status in the sense that the narrator only ever borders on saying where he is a refugee from, and where he now subsists as an outsider (and for some time as an ›undocumented alien‹, to quote the American bureaucratic vernacular)« (Buchholz 2011: 11).
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Land, als der Bürgerkrieg ausbricht, weil sein Freund Ilia sein Liebesgeständnis ablehnt),144 so bewegt er sich ziellos und verliert die Orientierung an öffentlichen Orten schon vor dem Gasunfall und vor seiner Flucht.145 Abels Bewegungen sind – dem rhizomatischen, dickichtartigen Charakter der Orte und Räume entsprechend und den narrativen Diskurs modellierend – von Anfang an von keinerlei linearer Progression oder Teleologie charakterisiert. Die intensive Freundschaft von Ilia und Abel wird als Geschichte eines fünfjährigen Herumirrens in ihrer Heimatstadt erzählt: Zuerst liefen sie fünf Jahre lang durch die Stadt – Wie viel Stunden? Wie viele Kilometer? Einmal um die Erde? Weniger? Mehr? Egal? –, dann machten sie Abitur. […] Es war immer Ilia, der Zeichenempfänger, der die nächste Richtung vorgab. Jetzt blieb er stehen. […] Abel zählte die Stunden. Nicht sechsunddreißig. Dann wird man sich auf den Weg machen, den Rest des Sommers durchs Land fahren. Wohin, egal. Prinzip Gottesurteil Lass uns uns verirren. (54)
Das »Gottesurteil« ist ein von Ilia erfundenes Spiel: »An jeder Straßenkreuzung, Abzweigung etc. blieben sie stehen und gingen nicht eher weiter, als dass ihnen ein Zeichen gegeben wurde. […] Abel ging mit seinem Freund, wohin dieser dachte, geschickt zu werden, durch sämtliche Straßen der Stadt« (28). In der physischen Bewegung konkretisiert sich hier das Bewusstsein Abels: »Sie gingen praktisch stumm nebeneinander her. Ich weiß immer noch nicht, wo lang. Abels Vorstellungen von der Zukunft drehten sich ebenfalls im Kreis. Genauer, er machte sich überhaupt keine Vorstellungen« (29). Die zirkuläre, nicht-teleologische Bewegung modelliert ferner die narratopoetischen Eigenschaften des Romantextes (im Sinne von Moras zitiertem Programm: »Wenn […] Abel […] anfängt umherzuirren, fängt auch der Satz an umherzuirren«).146 Wie bereits
144 Die Hierarchie und die Reihenfolge der privaten und politischen Motivation ist dabei eindeutig: Abels Flucht fängt als apolitische an: »Das Identitätsbewusstsein der Minderheiten regte sich. Ilia und Abel regten sich nicht. […] Das Nächste ist, dass Herbst ist, und Abel flieht. Kurz nach diesem letzten Spaziergang brachen Kämpfe aus, als hätte man nur darauf gewartet, dass endlich Ferien sind« (29f.). 145 Die Beschreibungen von Abels Irrwegen nach dem Unfall verraten weitere Zusammenhänge zwischen seinem Spracherwerb und dem Prinzip der Verräumlichung. Abel verortet die sprachlichen Konstruktionen in einem Raum, er sieht die Strukturen bzw. starrt sie an und analog dazu versucht er, den Raum der Stadt auch einem Text ähnlich zu deuten und die Wege zu memorisieren: »Er dachte: Esszettbeekaefhaajoto. Esszettbeeaefhaajoto. Oder : Wie Abel Nema sich ein für alle Mal die rote Schnellbahnstrecke merkte, wie er sich in Zukunft jede Strecke, gefahren, gelaufen, egal, merken würde, anhand der Anfangsbuchstaben der jeweiligen Straße oder Station […]: der Code, mit dessen Hilfe ich diese Stadt entziffern werde« (919). 146 Mora 2007: 73, zitiert nach Kraft 2012: 166. Laut Melanie Fröhlich greift Mora auf traditionelle Erzählmuster wie die Metamorphose oder die Odyssee zurück, die als Strukturfolie eingesetzt werden: »Der Mythos fungiert als Sinnkontrastierung und lässt die Unmög-
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erläutert, charakterisiert die Diegese keinerlei chronologische Ordnung und eine Fluidität bzw. Instabilität sowohl der temporalen als auch der räumlichen Koordinaten der Erzählung. Einähnlicher Zusammenhang zwischen physischer Bewegung und narrativer Progression bzw. zwischen Raum- und Selbstwahrnehmung wird auch bei der Beschreibung der Trennung von Ilia zum Thema: Eine außer Takt geratene Flipperkugel in den engen Korridoren der Altstadt: er rannte, stolperte, stieß sich an Wänden. Immer, wenn das passierte, blieb er für einen Moment stehen und sah sich um. Nicht, ob er hinterherkam … Er sah sich einfach so um, sehen, was da ist, wie es jetzt ist. Dieser Moment, wenn dir alles fremd wird. Bis er irgendwann wirklich nicht mehr wusste, wo er war. (55)
Abel verirrt sich in den tausendmal gelaufenen Straßen und befindet sich mitten in der Nacht auf dem Weg zu einem Aussichtsturm hinauf: Er wusste: das ist der Weg zum Turm, aber jetzt war es, als müsste er endlos sein. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals anzukommen. Das ist einer dieser endlosen Traummärsche, bei denen höchstens soviel passiert, dass der Berg immer steiler wird. […] Das erste wirklich Seltsame, das ich in meinem Leben getan habe: auf vier Beinen durch einen stockfinsteren Wald gehen. […] [E]rst, als er vor dem Aussichtsturm stand, richtet er sich auf. Was in den nächsten Minuten? Stunden? passierte, darüber gibt es keine genaue Kenntnis. […] Er sah sich die Stadt aus dieser neuen Perspektive an und empfand […] gar nichts. (55f.)
Zentrale Motive der Beschreibung von Abels räumlicher Bewegung wie Aus/ Übersicht haben, sehen und sich umsehen, durch einen stockfinsteren Wald gehen oder das Fragen danach, was passierte, lassen sich metaphorisch auf den Prozess des Verstehens beziehen – die Auskunft über das Fehlen der Kenntnisse über das Geschehen oder der Pronomen- und Fokalisierungswechsel (bzw. Abels Vergegenständlichung als Flipperkugel) verraten auch, dass der Sackbahnhof, den Abel erblickt, wiederum keine rein physisch-räumliche Kategorie ist, sondern analog den Geschichten des Umherirrens und der Orientierungslosigkeit im Wald auf die Leerstellen des narrativen Diskurses (und damit auf displacement als zentrales Gestaltungsprinzip des Romans) verweist. Nicht nur die fehlende narrative Fixierung, die Fremdheit oder territoriale Unbestimmtheit der Räume und der Bewegungen in ihnen, sondern auch ihre Liminalität hängen eng mit dem »leeren Zentrum« Abel zusammen. Abel befindet sich in Zwischenräumen und Zwischenwelten – nicht nur als Grenzgänger zwischen politischen Formationen (Ost- und Westeuropa) oder in einem biografischen Sinn als Heranwachsender (beim Verlassen der Heimat nach der Abiturfeier), sondern als Subjekt an sich. Seine transitorische Existenz – sein lichkeit von Heimkehr (Odyssee) und göttlicher Erlösung (Metamorphose) um so schmerzhafter bewusst werden« (Fröhlich 2006).
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bereits behandeltes Dasein zwischen »in der Welt leben« und »nicht in der Welt leben« (14) – findet auch seine räumliche Entsprechung in der Zwischenposition, u. a. als er wie folgt bestimmt wird: »Der ganze Mensch eine Diagonale, ausgespannt zwischen zwei fernen Ecken des Türrahmens« (17). Die Grenzposition zwischen Außen- und Innenwelt manifestiert sich in verschiedenen Vorkommensweisen im Text: Die Überschreitung der Körpergrenzen, d. h. der Grenzen zwischen sichtbarer und visuell abbildbarer Außenwelt und Körperinnerem, wird anhand des erwähnten »Kartographierens« von Abels Gehirn (ausgedruckte, farbige CT-Aufnahmen) bzw. des künstlichen Auges von Omar problematisiert (»[A]ls sie dachten, ich schlafe, haben einige Jungs meine Augenklappe angehoben […] weil sie neugierig waren, ob das Gehirn zu sehen ist« – 44). Sie wird auch bei der Beschreibung der vermeintlichen Durchsichtigkeit von Abels heller Haut thematisiert (»Ich kann sämtliche deiner inneren Organe sehen, so blass bist du« – 158), bzw. in Bezug auf den Drogenrausch (»[Morphium] ist dieselbe Gruppe wie Heroin. Als wärst du außerhalb deines Körpers« – 264). Dass die Grenzüberschreitung dabei ambivalenter Natur ist, da sie einerseits konstitutiv sein und zu Erkenntnis führen kann, andererseits aber Zerstörung voraussetzt, wird auch klar, als eine Episode aus Abels Jugend behandelt wird. Nachdem er von Ilia zurückgewiesen worden ist, geht er nach dem nächtlichen Herumirren am Berg und in der Stadt an einer niedrigen Fensterbank und »an dem Haus vorbei, in dem Mutter und Oma schliefen«, er geht um das Theater herum und steht vor dem Fenster : Die nackte Lampe über dem Künstlereingang schien ihm auf den Rücken, er sah sich als Silhouette in der dunklen Scheibe. Dahinter rührte sich nichts. […] Er wartete eine Weile, dann trat er sein Spiegelbild ein. Zuerst die linke, dann die rechte Scheibe. Die Scherben prasselten nach innen, aufs Bett. Er sah die Bettwäsche gräulich aufschimmern, sonst regte sich nichts. (57)
Als er sich im Kapitel Delirium zur Scham als seiner neuen Heimat bekennt (406), definiert er diesen Akt der Verweigerung, die symbolische Selbstzerstörung, durch eine drastische Grenzüberschreitung als konstitutive Grundlage seiner Subjektivität: Eines Tages ist der talentierte Mensch, der ich bin, einfach verzweifelt. In dem Moment, Stunden oder Jahre später, als ich begriff, dass der Augenblick in meinem Leben, in dem ich am meisten bei mir war, der reinste und befriedigendste, jener war, in dem ich das Fenster hinter dem Theater eintrat. (407)
An dieser Stelle wird die kurz zuvor thematisierte Verleugnung der Herkunft mit der Selbstverweigerung verbunden und zur Interpretation des leeren Zentrums des talentierten Zehnsprachenmannes herangezogen. Die gewaltige Grenz- und Selbstzerstörung beim Eintreten des Fensters gewinnt ihre Relevanz für Abels Lebensgeschichte charakteristischerweise aber auch in einem Zwischenraum,
Die Poetik des Raumes: die Leerstelle als displacement
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im Schwebezustand des Deliriums. Abels Existenz als Mensch steht hier auf dem Spiel, nicht nur im primären Sinne (der Drogenrausch kostet ihn beinahe das Leben), sondern auch durch die ständige Reflexion auf Abels liminalen Zustand zwischen Mensch und Nicht-Mensch, auf sein (nicht nur vom Drogenkonsum verursachtes) Schweben zwischen Körperlichkeit und Körperlosigkeit.147 Abel wird einmal als Schaufensterpuppe wahrgenommen: »Vielleicht bist du gar nicht du, nur eine dir sehr ähnliche Puppe« (396), »deine Bewegungen [sind] etwas steif. Hängt das mit deiner Vergangenheit als Schaufensterpuppe zusammen oder warst du immer schon so?« (398) – er fühlt sich paralysiert (366) und »weiß immer noch nicht, ob […] [er] einen Körper habe und wie er beschaffen ist« (367). Das andere Mal empfindet er sich (und später die anderen »Mitmenschen«, die Figuren seiner Lebensgeschichte) als (antike) Statuen: »Wo ist mein Bein, mein Kopf, meine Hand. Ist dieses versteinerte Glied meins? Dieser archaische Torso? […] Überall Risse. I’m puzzled« (359). In seinen Halluzinationen, im merkwürdigen Zustand der Körperlosigkeit erlebt Abel gerade ein Ausgeliefertsein an seinen Körper, welches mit der bereits erwähnten Reduktion auf Körperlichkeit bzw. mit der Gefährdung der Ganzheit des Körpers und des Subjektes bei der Gewalt und der Scham korrespondiert. Der Zustand der Fremdbestimmtheit und Leere, der von Anfang an als Abels Modus Vivendi seine Geschichte bestimmt, wird hier außerdem als paradiesischer Zustand der Grenzenlosigkeit interpretiert, wo »Gott allein weiß um das Ganze« (ebd.). Die Ganzheit, also das Fehlen der Grenzen bzw. der Abgrenzung zwischen Gut und Böse oder zwischen Menschen und Gott, charakterisieren den nackten, schamlosen Zustand des ersten Menschenpaares vor dem Sündenfall:148 Erst nach der Versündigung entstehen und werden diese Grenzen bewusst, ähnlich der Scham, als Adam und Eva sich ihrer enthüllten Nacktheit schämen, diese zu verbergen versuchen, andere beschuldigen (Adam Eva, Eva die Schlange) und sich vor Gottes Wort verstecken. Die Sprache wird dabei aus dem ursprünglichen Medium der Benennung (Namensgebung) zu einer Strategie des Verdeckens – bereits in der Genesis ist die schambedingte Entstehung von Grenzen und Entzweiungen eine Art Voraussetzung der Menschwerdung. In der Ge147 Die Frage, ob das »medizinische Wunder« (154) Abel ein Mensch sei (einen menschlichen Körper habe), stellt sich auch infolge des Rätsels seiner besonderen Fähigkeiten und seiner körperlichen Ausstrahlung: »Kinga legte ein Ohr an seine Brust, horchte. Alles in Ordnung, sagte sie zu den anderen. Er ist ein Mensch« (153). Auch die Gleichsetzung Abels mit einer Statue wird bereits vor dem Delirium thematisiert: »Wie eine Statue, sagte eine Frau, die ihn eine Weile beobachtete, weil sie ihn gutaussehend fand. Eine schwarz-weiße Holzstatue, ein wenig gruselig und gleichzeitig […]. Er strahlt etwas Unerklärliches aus, Ferne und […] ist es Kraft oder Schwäche?« (139). 148 Dietrich Bonhoeffer geht davon aus, dass die Scham an die Entzweiung von Gott erinnert (Bonhoeffer 1963: 22) – zur Scham als Überwindung (und gleichzeitiger Bestätigung) dieser Entzweiung vgl. Gvozdeva; Velten 2011: 9.
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schichte des »leeren Zentrums« Abel Nema, dessen Herkunftslosigkeit und Unverortbarkeit im Kontext der Scham als sein »neues Vaterland« und in Bezug auf das Rätsel seiner Zehnsprachigkeit (und Sprachlosigkeit bzw. Stummheit) problematisiert wird, werden letztendlich die ältesten Fragen nach der Beziehung zwischen Subjektgestaltung und Sprachgebrauch im Kontext der postmigratorischen Grenzüberschreitungen und Mobilität neu interpretiert.149 Die Relevanz der biblischen Prätexte besteht deswegen nicht nur in der häufig konstatierten Analogie zwischen Abel und der Christusfigur (äußere Ähnlichkeit, Erleiden von Gewalt und Verfolgung), sondern auch in Abels Interpretierbarkeit als Adam, dessen Schicksal von den Konsequenzen des Sündenfalls, der Scham und der Entstehung sprachlicher und intersubjektiver Grenzen bestimmt wird. Des Weiteren ist Abel nicht nur als der (ortlos-nomadische) Bruder von (dem sesshaften) Kain, sondern auch als dessen Sohn zu deuten: Abels Vater Andor wird von der Großmutter mit alttestamentarischen Zitaten zu Unsterblichkeit und endloser Wanderschaft verdammt: »Verflucht soll er sein! Keinen Platz auf Erden soll er finden! […] er soll ewig leben, dieser Bastard!« (26). Dadurch erhält Abels Ortlosigkeit (und deren Modellierung in der Diegese), sein Umherirren im physischen, sozialen und sprachlichen Raum eine weitere, existenzielle Dimension: Die Poetik der Leerstelle als Poetik des displacement wird zum allgemeinen Medium der Problematisierung der Verortung, d. h. des Verlustes von verbindlichen Zuordnungen und stabilen Zugehörigkeiten (bei referentiellen Zuschreibungen oder bei zeitlich-räumlicher Lokalisierung der Identitäten).
149 Zu Recht weist in einem ähnlichen Kontext Tobias Kraft auf Folgendes hin: »Die Wirkmacht von Gewalt und körperlichem Schmerz (in den Darstellungsmodi Flucht, Unfall, Selbstund Fremdzerstörung) auf die Verfasstheit kultureller, sprachlicher und sozial gefestigter Identität verhandelt Alle Tage somit als einen (migrationsspezifischen) Transformationsprozess, in den die Existenz des ›Fremden an sich‹ (s. o.) nur auf der Folie verschiedener Verlustmomente möglich scheint« (Kraft 2011: 203).
Sichtbare und unsichtbare Monstrositäten: zu Terézia Moras Der einzige Mann auf dem Kontinent und Das Ungeheuer
Im zweiten ihrer Frankfurter Vorträge über die Bedingungen ihres literarischen Schaffens und die Entstehungsgeschichte ihrer Werke führt Mora das erstmalige »Auftauchen« ihrer Protagonisten Abel Nema (Alle Tage) und Darius Kopp (Der einzige Mann auf dem Kontinent; Das Ungeheuer)150 im Jahre 1999 auf ihre Beobachtungsposition zurück, von der aus, so Mora, Folgendes zu sehen war : 1. Die Wanderbewegung aus Osteuropa in den Westen. Darunter jene, die gegangen waren, weil sie es nun konnten und wollten (wie ich), und die anderen, die gegangen waren, weil sie es mussten. […] An dieser Stelle war es, dass Abel Nema hereinkam und sich auf das Futon unter der Dachschräge gegenüber setzte. […] 2. Die sprunghafte Veränderung im technologischen Bereich, die eine neue Art der Kommunikation und somit der Produktion und des Handels ermöglichte […]. Hier kam Darius Kopp herein […]. Er warf sich, ohne A.N. zu beachten, neben ihn auf das Ledersofa unter der Dachschräge und schaltete den Fernseher an. (Mora 2014: 34f.)
Die Darius-Kopp-Romane (zumindest die bis jetzt erschienenen ersten beiden Teile der geplanten Trilogie) verbindet mit Alle Tage und mit Seltsame Materie über diese zeittypische Repräsentativität der Figuren hinaus eine umfangreiche und komplexe Reihe von formalen und thematischen Rekurrenzen wie u. a. die für das Erzählen strukturbildenden Motive der Gewalt und Scham, der Unsichtbarkeit und der Leere,151 das poetische Programm der »Fremdheit als 150 Der Romantitel wird im Folgenden abgekürzt als Der einzige Mann … nachgewiesen. In den Zitatnachweisen in Klammern werden folgende Abkürzungen verwendet: EM Der einzige Mann auf dem Kontinent (Mora 2011 [2009]); U Das Ungeheuer (Mora 2015 [2013]). 151 Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Seltsame Materie und Das Ungeheuer gehören des Weiteren u. a. gewisse Schauplätze (das Schloss, das Irrenhaus, der Dorfrand, die ungarische Gemeinde mit Fabrik, Thermalbad, Kneipe und Kirchturm – U: 83, 198, 123), einige Figuren in Floras Vergangenheit und Träumen (Ophelia, der kranke Großvater, die depressive Mutter – U: 135) und die Motive des Ertränkens im Schwimmbad oder der Flucht vor (sexueller und verbaler) Gewalt (in der Familie – U: 271). Mit Alle Tage verbinden den Roman ähnliche sich wiederholende Figuren (wie Halldor Rose) und Settings (Moras ungarische Geburtsstadt Sopron); laut der Autorin zieht sich »der Bereich, in dem es an Worten fehlt« (Mora 2014: 126), nämlich die Gewalt, durch alle ihre Romane seit dem ersten
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Sichtbare und unsichtbare Monstrositäten
Konstitution« (Mora; Biendarra 2007: 4), die Problematisierung der Repräsentation und Semiotisierung anhand der Namensgebung oder die Deterritorialisierung und Zerfaserung als narratologische Strukturprinzipien. In Der einzige Mann … und Das Ungeheuer wird jedoch, als neu und einzigartig in Moras Oeuvre, die »Darstellung von Extremen« (Mora 2014: 137) durch einen nach außen gerichteten, kalten und präzisen Blick nicht mehr angestrebt – stattdessen steht eine kognitiv kaum erfassbare »Innerlichkeit« (»die Extreme im Inneren« – Mora 2014: 140) der Figur im Vordergrund. Da sich das Interesse in den beiden Romanen damit auf die unsichtbaren, »nicht-physisch auftretenden Gewalten« (Mora 2014: 137) verlagert, geraten auch solche weitreichend allgemeinen Zusammenhänge ins Blickfeld, die bis jetzt eher auf den Schreibprozess bezogen wurden,152 jedoch hinsichtlich der Interpretation des gesamten Textkorpus der »Chamisso-Literatur« ausschlaggebend sind: so u. a. die Beziehung zwischen den oben ausgeführten technologisch-medialen und konkret-demografischen Transformationen der Gegenwart, zwischen Virtualität und Körperlichkeit, zwischen den Gefahren normativer Diskursivierungen (»Herkunft«, »Krankheit« usw.) und Narrativierung (Kontingenzreduktion).
Darius Kopp als Homo faber 2.0 – Unsichtbarkeit, Entkörperlichung und Virtualität Als Mora das »Stehaufmännchen« Darius Kopp u. a. mit Abel Nema vergleicht (»[Kopp ist] weniger empfindlich […] als Abel Nema« – Mora 2014: 13) und mit der Figur seiner Frau konfrontiert (»Er ist in Panik – sie ist ruhig. […] Er ist ›technische Intelligenz‹ – sie ist Geisteswissenschaftlerin. […] Er ist Stadt, sie ist Land« – Mora 2014: 87), stuft sie den Sales-Manager als Repräsentant seiner Zeit, eingebettet in und konstruiert aus den medialen Bedingungen des elektronischen Zeitalters, ein: »Die sogenannten Nullerjahre, die Zeit des Einzigen Mannes, waren u. a. gekennzeichnet durch ein bis dahin noch nicht gekanntes Buch: »Mein erstes Buch, SELTSAME MATERIE, berichtet vom täglich sich wiederholenden Schock, in einem menschenfeindlichen System zu leben. […] [J]ede Geschichte erzählt direkt oder indirekt über eine gewaltvolle Begebenheit« (Mora 2014: 127); »In ALLE TAGE setzt sich die Thematik Gewalt in der Struktur und zwischen Individuen […] fort« (ebd.: 133); »Alle Tage hat mich letztlich mit der Erfahrung meiner Limitiertheit, was die Darstellung von Extremen angeht, zurückgelassen […]. Mein Interesse hat sich verlagert – auf die eher nicht-physisch auftretenden Gewalten von Systemen (siehe: DER EINZIGE MANN) sowie des Inneren (siehe: DAS UNGEHEUER)« (ebd.: 137). 152 Vgl. hierzu Mora: »[D]u kannst nichts anderes sein als ein Kind deiner Zeit und deines Orts. Was du auch immer machst, du wirst es als Mittel-Ost-Europäerin tun und dein Held bewegt sich aus Mittel- Richtung Osteuropa, er fährt also durch dein Zuhause« (Mora 2014: 101).
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Ausmaß an Virtualität. […] Die Existenz des Darius Kopp hat einen hohen Anteil Virtualität« (Mora 2014: 81). Umgeben von unsichtbaren und ungreifbaren Netzwerken, dementsprechend hoch aufgerüstet mit technischen Geräten wie seinem »eigenen faradayschen Käfig« (EM: 15), dem Auto, mit Navi, Kreditkarten, Handy und Laptop – deren Bildschirme ihm vielsagenderweise als »einzige Lichtquelle« (EM: 310, 114) Sicherheit und Orientierung bieten (EM: 262) – wird er zur Aktualisierung des von der Rationalität der Technik besessenen Ingenieurs Walter Faber. Wie der hochmütige Stadtbewohner und Berufsreisende in Max Frischs Klassiker aus dem Jahr 1957 durch die Verkettung unvorhersehbarer und unglücklicher Ereignisse (inzestuöser Liebe, Un- und Todesfälle, seines Magenkrebs) letztendlich die Erschütterung seiner Weltsicht, d. h. die Kontingenz des Körpers, der Zukunft und der Emotionen, erfährt, so ist Darius Kopp in Der einzige Mann … rationalisierend-oberflächlich und in Das Ungeheuer von der Vergangenheit und Schuldgefühlen geplagt unterwegs, um seinen Irrglauben (u. a. hinsichtlich seiner Frau und ihrer Ehe) abzulegen. Die Protagonisten (eigentlich Antihelden) von Frischs und Moras mythologisch aufgeladenen Reisetexten153 sind beide technikgläubige Vernunftmenschen mit kunst- und kulturbegeisterten Geliebten, fühlen sich in der Natur ohne Elektronik und Komfort (oder wenn ungewaschen und schwitzend) unbehaglich und
153 Die griechische Mythologie stellt einen wichtigen Prätext für Max Frischs meistgelesenen Roman Homo faber (1957) dar: So verbindet die Figur des rationalen Ingenieurs Walter Faber mit Ödipus das Motiv des unwissend begangenen Inzests und der blinden Hochmut, an weiteren Textstellen erinnert er u. a. an Agamemnon, Apollon oder Hades. Der Ernst der in Fabers Geschichte eingeflochtenen mythologischen Verweise wird u. a. durch die inflationäre Verwendung mythologischer Elemente als Markenbezeichnung technischer Produkte (Opel Olympia, Alfa Romeo, Hermes Baby, Omega-Uhr) subvertiert (vgl. MüllerSalget 1996: 102). Darius Kopp reist Faber ähnlich nach Athen und zu Schauplätzen griechischer Mythologie (Berg Kasbek) bzw. alttestamentarischer Gründungsgeschichten (Berg Ararat), er ist mit dem Reisenden Odysseus, dem Vergewaltiger Zeus, dem Trauernden Orpheus oder mit dem in Daphne verliebten Apollon gleichzusetzen, und auch in Moras Texten werden mythologische Figuren profanisiert (der Wetterbericht erscheint als »Orakel von Delphi« – EM: 39, der Massageclub heißt »Orpheus« – U: 560). Mythologische Prätexte und biblische Allusionen werden auch in den Kopp-Romanen kritisch aufgegriffen: Mit seiner Selbstvergöttlichung und seiner Lebensweise parodiert Darius die göttliche Ordnung (»der siebente Tag soll der Tag der Arbeit sein, die anderen sechs sollen dir gehören« – EM: 33); als Orientierung dient ihm statt »Gottes Licht« (EM: 97) sein »Handy, ein kleines, viereckiges, bläuliches Licht in der Dunkelheit« (EM: 114), und Darius verbindet ihren Aufenthalt in Gabys Garten humorvoll distanzierend mit der Schöpfungsgeschichte (»Ein Mann, eine Frau, in einem Garten. […] Sie … schleppte den grünen Schlauch hinter sich her – Eine Schlange! Immer muss man das denken: Schlauch = Schlange.« (EM: 84, 86). Vgl. hierzu Mora zum Anfang des Romans Der einzige Mann …: »Dann zeigen wir noch ein oder zwei andere mögliche Paradiese (Einen Garten! Eine nackte Frau, ein nackter Mann, in einem Garten! Später : Essen, Wohlstand, technischer Fortschritt!) und dann nehmen wir sie ihnen, eins nach dem anderen oder auch gleichzeitig: weg« (Mora 2014: 88).
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starren auf ihr Bild im Spiegel154 immer wieder selbstgefällig, körperliche Schmerzsymptome abwehrend und selbstrechtfertigend, d. h. blind: Während das Motiv der Blindheit in Homo Faber auf mythologische Subtexte (Selbstblendung des Ödipus) anspielt und Fabers Verkennung und Verleugnung seiner Emotionen, seiner Krankheit, d. h. der Kontingenz schlechthin, versinnbildlicht, erhält Darius Kopps mehrfach problematisiertes Sehvermögen155 im Kontext der Virtualität eine komplexe Mehrbedeutung. Neuartig konstruierte, als virtuelle Realität erfahrbare oder digital vermittelte Formen (wirklicher) Präsenz im elektronischen Zeitalter werden zumeist als nicht-physisch, alternativ oder simuliert beschrieben und der Sichtbarkeit, Materialität und Leiblichkeit der Erfassung nicht-virtueller Räume und Realitäten gegenübergestellt.156 Unsichtbarkeit bzw. Entkörperlichung als Merkmale der Wahrnehmung, der Kommunikation oder der Erschließung virtueller Räume im digitalen Zeitalter markieren nach Aleida Assmann eine besondere Form kultureller Transzendenzerfahrung: Digital entworfene virtuelle Räume ermöglichen eine »Utopie der Körperlosigkeit«, d. h. »Kommunikation über größte Distanzen hinweg in Echtzeit«. Mit den elektronischen Medien wird »eine Grenze zwischen körperlicher Lokalität und virtueller Ubiquität überschritten«: »Die Cyber-Rhetorik nährt eine uralte Sehnsucht nach Entkörperlichung, nach 154 In der Veränderung von Walter Fabers Selbstwahrnehmung beim Blick in den Spiegel zeigt sich die Erschütterung der Rationalisierungsstrategien des Technikers und der allmähliche Durchbruch der Erkenntnis, dass er krank ist, das heißt, die naturgemäße Kontingenz des Körpers nicht beherrschen kann: Während er die offensichtlichen Krankheitssymptome anfangs rechtfertigt (»Mein Gesicht im Spiegel […] weiß, wie Wachs […] scheußlich, wie eine Leiche. Ich vermute, es kommt vom Neon-Licht« – Frisch 1977: 11), beschreibt er seinen körperlichen Verfall am Romanende akribisch (»Die Diakonissin hat mir endlich einen Spiegel gebracht – ich bin erschrocken. Ich bin immer hager gewesen, aber nicht so wie jetzt […]. Ich bin wirklich etwas erschrocken« (Frisch 1977: 170). Eine ähnliche Wandlung lässt sich auch bei Darius Kopp beobachten: Anfangs betrachtet er sein Spiegelbild selbstgefällig (»Ich bin ein fetter Mann, dennoch sehe ich irgendwie gut aus, besonders in diesem Spiegel« – EM: 186), sein Körper wird ihm aber nach und nach spürbar (und sichtbar) zur Last: »Im Spiegel: sein Angesicht. Du hast schon mal besser ausgesehen« (EM: 307); »Ich bin ein wenig ausgeblichen« (EM: 231); »Für einen Moment war Darius Kopp […] im Innenbereich seiner körperlichen Empfindungen: Hitze, Schwindel, Dunkelheit. Ziehender, stechender, brennender Schmerz in den Schuhen. Und was ist dieses seltsame Gefühl zwischen Brust und Nebenhöhlen?« (EM: 212f.). 155 Kopps Verblendung kommt in der leitmotivischen Problematisierung seines Sehvermögens zur Sprache: »Der Schmerz in den Augen, wenn man den Blick nach langer Zeit vom Bildschirm löst […]. Im Caf8 war die Beleuchtung zu hell. Oder zu dunkel? Jedenfalls sah Kopp schlecht« (EM: 300); »Als wäre es ein wahrhaftiges Fenster, das man öffnen, den Kopf durchstecken, und so wirklich mehr sehen könnte« (EM: 133); »Als er nach ewigen Sekunden der Blindheit seine Sehkraft wiedererlangt hatte, sah er eine ganz in Weiß gekleidete junge Frau neben sich stehen« (EM: 213). 156 Zu den ästhetischen Aspekten von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im Kontext der Virtualität und Leiblichkeit vgl. Krapp; Wägenbaur 1997, Böhme 2004 und Stapf 2019.
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Ersatzkörpern in Gestalt von Avataren und einer gnostischen Überwindung der Sterblichkeit durch Abkehr von allem Organischen« (Assmann 2003). Die neue Datenordnung befriedigt allerdings nicht nur anthropologische Grundbedürfnisse nach Überwindung und Überschreitung oder Kommunikation und Interaktion, sondern hat auch weitreichende politische und gesellschaftliche Konsequenzen. Technische Neuerungen im Internetzeitalter korrelieren nämlich mit der wissenschaftlich-technischen Produktion von Risiken, die der Soziologe Ulrich Beck als nicht wahrnehmbar, wissensabhängig und übernational charakterisiert (Beck 1986, 2007) und die insbesondere in Bezug auf die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl und die Anschläge vom 9. September 2001 an Aktualität gewinnen. Die Risikogesellschaft (Beck) kennzeichnet u. a. gerade infolge der Unsichtbarkeit und der Virtualität der grenzüberschreitend drohenden Gefahren ein wachsendes Sicherheitsbestreben: Prototypisch dafür steht die Figur und die Tätigkeit des Sales-Engineer Kopp bei der transnational operierenden amerikanischen Firma Fidelis Wireless, der als Sicherheitsexperte in den Ländern Mittel- und Osteuropas »eine Art Schildkrötenpanzer« (EM: 80) verkauft und nicht nur die Sehnsucht nach Entkörperlichung repräsentiert (durch die »Ersatzkörper« seiner technischen und mobilen Geräte und die »Abkehr von allem Organischen« etwa durch das leitmotivische Bekleiden und Waschen157 seines betont hinfälligen – dicklichen, esssüchtigen, schwitzenden, alternden und asthmatischen – Körpers), sondern auch die Sehnsucht nach Sicherheit (d. h. Sicht- und Wahrnehmbarkeit): Das Wesentliche an Bedrohungen gegen drahtlose Netzwerke ist, dass sie, im Gegensatz zu denen auf konventionelle Netzwerke, unsichtbar sind. Mit unserer neuen zentralen Kontrollbox von Fidelis Wireless haben wir eine Bildschirmoberfläche, auf der alle Access Points hierarchisch angeordnet sind, man ihre Standorte und die Ausdehnung der von ihnen ausgehenden Funkzellen graphisch aufbereitet sehen kann, was […] das Netz mit all seinen Aktivitäten sichtbar macht. […]. Deswegen ist unser Firmenslogan auch: »WIR MACHEN IHR WLAN SICHTBAR! TURN TO US!« (78f.)
In Der einzige Mann auf dem Kontinent (2009), dem Vorgängerroman von Das Ungeheuer (2013) über eine Woche im Leben des IT-Spezialisten Darius Kopp, erfährt der Protagonist paradoxerweise gerade den Verlust seiner sicher geglaubten Bezüge (seiner Arbeit und seiner Frau) – die Störungen bzw. der Verfall der Ordnung zeigen sich auch in der räumlichen Desorientierung der Figur (Kopp ist im »Irrgarten« [EM: 294, 206] öffentlicher Räume immer wieder 157 Mora nennt die anfängliche Szene in Der einzige Mann …, in der sich Kopp eines Montagsmorgens in seinen Hemden verheddert und sich beinahe stranguliert, eine »Urszene« (Mora 2014: 47, 84): »Ausgehend von der Hemdszene, ist bereits so viel zu sehen: Er ist in Panik – sie ist ruhig. Er kann nicht einmal für sich selbst sorgen – sie ist zum einen fürsorglich, und zum anderen scheint sie die alltäglichen Sachen im Griff zu haben. […] Er ist ›technische Intelligenz‹ – sie ist Geisteswissenschaftlerin« (ebd.: 87).
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verwirrt und hilflos)158 und haben auch ein formal-narratologisches Pendant. Die Zerfaserung und Instabilität werden, wie in der Sekundärliteratur wiederholt angemerkt worden ist, auch erzähltechnisch modelliert (»Es kann […] in einer Welt ständig wechselnder Unsicherheiten schließlich keine felsenfeste Erzählerinstanz geben« – Krekeler 2009):159 Der Romantext zeichnet sich durch eine Dezentrierung und Unsicherheit der Narration, durch achronologische, elliptische, polyphone Strukturen, intertextuelle Verwobenheit und abrupte Fokalisierungswechsel aus, die Erzählinstanz ist infolge des permanenten Wechsels von Pronomina, von hetero-homodiegetischen Erzählern bzw. von Selbstgesprächen und Dialogen zumeist nicht eindeutig identifizierbar. Die (Online- oder telefonische) Kommunikation wird – für den Vertreter eines kommunikationstechnischen Unternehmens – ähnlich der räumlichen Orientierung zunehmend schwierig: Seine Internetsuchen und Anrufe bleiben erfolglos (»Zusammengefasst? Nichts, nichts, nichts, nichts, nichts« – EM: 299; »Erwartungsgemäß war keiner zu erreichen« – EM: 166), und statt einer Wiederherstellung der Sicherheit bieten die von Kopp erfahrenen Formen einer »Rematerialiserung« neue Gefahren und Risiken, so etwa das face-to-face-Auftreten von Kopps armenischem Geschäftspartner Sascha Michaelides am Romananfang, der ihm obskurerweise kein digitales Cash, sondern sichtbares und aufzubewahrendes Bargeld hinterlässt. Dieses fungiert im Weiteren immer wieder als handlungsauslösend, indem es Kopp zu Spekulationen über die 158 Kopp fühlt sich notorisch desorientiert in Bürohäusern (»[Er] verlief sich noch einmal im irrgartenähnlich angelegten Gebäude« – EM: 206) und erlebt beim Besuch bei seiner Mutter im Krankenhaus einen Blackout: »Für etwa eine Minute war Kopp außerstande, mehr von der Welt zu begreifen, als was er von ihr unmittelbar erfuhr. Ich stehe vor einem Gebäude, einem Krankenhaus, da ist der Eingang […]. Er stand noch eine Minute da, sah, hörte, roch […]: Der Eingangsbereich eines Krankenhauses […]. Ich weiß nicht, wieso […], jedes Mal, wenn ich dort bin, habe ich das Gefühl, in einer anderen Realität zu sein« – EM: 283–284). Seine räumliche Desorientierung am Bahnhofsgebäude (»ein Irrgarten aus Bautunneln« – EM: 293) findet ein Pendant im zeitlichen und narrativen Gefüge des Textes, dessen Zerfaserung vom Stehen der Bahnhofsuhr repräsentiert wird. Zur Analyse der »Ausdehnung des Nicht-Ortes, der Nicht-Zeit, des Nicht-Ich« (Gellai 2013: 293) in dieser dichten Szene vgl. Gellai 2013. 159 Mora äußerte sich zu diesem Zusammenhang zwischen Satzform, narrativer Perspektivität, Wahrnehmung und der Position der Figur in ihren Frankfurter Poetik-Vorlesungen an mehreren Stellen: »[D]ie Art und Weise, wie die Erzählung sich im Raum bewegt, ist so, wie sich das innere Problem des Abel Nema (die Entwurzelung, die Trauer, die Wut, die Schuldgefühle) bewegt« (Mora 2014: 56); »Du brauchst den Satz / Den, der in der Lage ist, eine Bewegung zu erzeugen, mit der man durch so eine Form kommt. Eine ›durchschlüpfende‹, abbiegende, umherirrende Form. Damit wir, wenn wir den Satz lesen, noch bevor wir ihn verstanden haben, bereits ein einem Zustand sind, der dem, was da abgebildet ist, ähnlich ist. / Um so einen Satz schreiben zu können, musst du dich nun endlich auf einen Erzähler festlegen. / Oder nicht. / Nicht festlegen. Sondern etwas kreieren, einen Satz, der in der Lage ist, das, was unsere Wahrnehmung heute dominiert, nämlich die Multiperspektivität, abzubilden« (ebd.: 58).
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Herkunft und Zukunft des halblegalen Geldpakets veranlasst oder in seiner Materialität als Gegenstand wahrgenommen und in seiner Eigenschaft als etwas Raumerfüllendes und -konstruierendes behandelt wird, z. B. als Kopp die Geldscheine gegen das Licht hält, leitmotivisch zu einem Brikett ordnet, in den Karton schiebt und zu »Wänden« in seinem Büro aufstapelt, die letztendlich einstürzen, um wieder aufgebaut zu werden (EM: 45, 359). Nicht nur diese als Störung und Drohung erlebte, unvermeidbare Präsenz und handgreifliche Materialität des Geldes (als sichtbar-reales Pendant zu den virtuellen, unsichtbaren Risiken der Computerviren oder technischen Defekten) versinnbildlicht jedoch die Erschütterung jener Euphorie, welche Kopp, die utopischen Transzendenzangebote des Internetzeitalters zur Sprache bringend, als körperlose Gegenwärtigkeit beschreibt: »Denn, siehe meine technischen Erweiterungen, auch wenn ich nicht da bin, bin ich da!« (EM: 33).160 Wie ihm in beiden Romanen seine Apparate immer wieder abhandenkommen – er verliert seinen Führerschein, seine Reifen werden unterwegs zerstochen, er vergisst seinen Laptop und den Entsperrcode seines Handys, kann im Wald oder im abgeschirmten Zugwagen keine Daten empfangen –, so erinnert auch eine andere »technische Erweiterung« des Körpers, nämlich sein Inhalator, nicht nur an seine Abhängigkeit von (unzuverlässigen technischen Geräten), sondern auch an eine grundsätzliche Ausgeliefertheit an seine eigene leibliche Hinfälligkeit: Er […] ging ins Bad, sah in den Spiegel. Der rundwangige, stupsnäsige blonde Junge Anfang vierzig dort, das bin ich. Das Haar wird schon schütter und ist grad wieder etwas zu lang, steht in alle Richtungen davon (eine Glorie), aber das sieht man kaum, denn erstens ist der Spiegel klein und zweitens bilden seine großen, lächelnden (die Krähenfüße, schon in jungen Jahren!) blauen Augen ein Zentrum, das dem Rest: Doppelkinn, Stoppeln, erste graue Haare in den Koteletten, jede Aufmerksamkeit entzieht. Am Rande hält er einen Inhalator zwischen den Lippen: atmet ein, hält die Luft an. (EM: 8)
Kopps notorische Selbstaffirmation und Selbstverherrlichung (»ich bin der einzige Mann auf dem ganzen Kontinent« – EM: 22, 262) werden einerseits durch die pausenlosen Hinweise auf seine körperlichen Schwächen (Asthmaanfälle, Körperumfang, Fußschmerzen), Walter Fabers rationalistischer Hochmut ähnlich, satirisch subvertiert: Ich bin Gott. Oder zumindest gottähnlich. Und dann drehte er sich ins Profil, damit das Licht vom Flur seinen vollen Bauch beleuchten konnte und sagte: Schau, wie eine 160 Infolge der oben behandelten Überschreitung der Grenze zwischen körperlicher Lokalität und virtueller Ungebundenheit durch technische Geräte wie den Fernseher, den Computer oder das Handy wird auch die Differenz zwischen Privatsphäre und Arbeitsplatz aufgehoben – wie auch Kopp feststellt: »Denn ich sitze zwar nackt auf meiner Terrasse, aber gleichzeitig bin ich auch bei der Arbeit« (EM: 13).
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Kathedrale. […] Ich bilde mir nicht allzu viel ein, Flora. Ich weiß, es gibt (immer wieder) fachlich Kompetentere […] aber ich bin: sympathisch (dass ich außerdem vertrauenswürdig, engagiert und loyal bin, wissen sie vermutlich gar nicht), und manchmal zählt eben: das – er zeigte auf seine Nase. (EM: 23)
Andererseits zeigen sich in Kopps Selbstvergöttlichung die Spuren jener, im digitalen Zeitalter von der räumlichen Transzendenz der Körperlosigkeit »abgelösten«, religiösen Form der kulturellen Transzendenzerfahrung, nämlich der Sehnsucht nach Überschreitung der Grenze zwischen Mensch und Gott, die in Das Ungeheuer eine ernste Note erhält, und zwar durch das Auftreten sämtlicher »Ungeheuer«: als die an dem »Ungeheuer« Depression erkrankte Flora sich das Leben nimmt (die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits überquerend), als Kopps naive Blasphemie in Hybris umschlägt (bei Floras Vergewaltigung verwandelt er sich auch in ein »Ungeheuer«) und als die Unsichtbarkeit der (verbalen, strukturellen oder physischen) Gewalt im Romantext als sichtbar und real fokussiert wird (Floras Tagebuch wird unter einem Strich auf grafisch zweigeteilten Seiten präsentiert und vom Leser und von Kopp parallel rezipiert). In Der einzige Mann … inflationieren sich die uralten Themen der Sehnsucht nach Verwandlung und der religiösen Transzendenz lediglich durch die betont problematisierte, satirisch vermittelte Körperlichkeit Kopps (»Mein Dom ist schon ganz schlaff, schau. Haben wir noch was zu essen da?« – EM: 117).
Körperlichkeit, Gewalt und Monstrosität Die sinnliche Körperlichkeit bzw. das Reduziertsein auf den Körper161 erscheinen in Der einzige Mann … zunächst zwar als harmlos-humorvoll (so etwa in der Schilderung von Kopps mechanischen Ess- und Trinkorgien bis zum wörtlichen Platzen seiner Hemden) und unter einem positiven Vorzeichen, so in der Beschreibung der Traumsequenz über den Morgensex mit Flora am Anfang beider Romane oder in seinem ungewohnten, metaphorischen Sprachgebrauch162 beim Reden über die nackte Flora (»Ihre Brüste sind wie Zigeuner161 Vgl. hierzu die These Jan Philipp Reemtsmas, wonach extreme Gewalt die Gewalt Erleidenden auf ihre Körperlichkeit reduziert und im sexuellen Akt die Reduktion auf Körperlichkeit gegenseitig und freiwillig erfolgt (Reemtsma 2009: 126). 162 In dieser Hinsicht lässt sich eine weitere Analogie zwischen Walter Faber und Darius Kopp ziehen. Obwohl Faber anfangs noch den deskriptiven, eindeutigen sprachlichen Modus der Technik präferiert und das Erlebnis, die Kunst, die Literatur und die Träume verachtet, vermehren sich in seiner Sprache parallel zum fortschreitenden Einbruch von zufälligen, kontingenten Ereignissen auch die figurativen Ausdrücke (mit Sabeth spielt er, einem homo ludens ähnlich, mit der Sprache selbst, als die beiden Verliebten die gegebenen Wörter durch spontane Assoziationen ersetzen). Laura Bohn Case beschreibt einen ähnlichen Wandel in Kopps Sprachgebrauch bzw. in seiner Einstellung gegenüber seinen Emotionen
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äpfel, ihr Nabel eine winzige Muschel, ihr Busch hat die Form einer Dattelpalme« – EM: 58). Hinter der Folie von Kopps groteskem Äußeren und seinen Ersatzhandlungen163 zeigt sich aber auch die dunkle und gefährliche Seite der Reduzierung auf Körperlichkeit, insbesondere in Floras Verletzungsoffenheit: Sie ist kinderlos, hat einen Frühabort und/oder unkontrollierbar schmerzhafte Monatsblutungen (U: 292), sie erkrankt an fataler Depression und wird als Frau, als »Ausländerin« (U: 589), als psychiatrische Patientin, als Geisteswissenschaftlerin (U: 592) oder als Arbeitnehmerin fortlaufend angegriffen und gedemütigt. Flora wird zum Objekt von unterschiedlichsten Formen der Gewalt: von Verbalattacken (»Diese osteuropäischen Frauen« – EM: 60, U: 105; »Niemandskind« – U: 367) und von physischen Bedrohungen (Angriff in der Bushaltestelle und auf offener Straße – U: 94, 187, 362; Vergewaltigung durch Darius: U: 674). Und als »highly sensitive person« (68) empfindet sie auch beim Leiden anderer Personen körperlichen Schmerz. Die Ärzte führen Floras Leid auf die Fragilität ihrer Selbstgrenzen zurück (»sie kann nicht unterscheiden zwischen eigenem und fremdem Leiden« – EM: 69). Diese Art von Fremdbestimmtheit wird aber nicht in erster Linie bei der Diagnostizierung ihrer »depressiven Störung« konstitutiv aufgegriffen, sondern vielmehr als Strukturmerkmal eines Schamempfindens, das in beiden Romanen leitmotivisch wiederkehrend reflektiert wird. Die körperlich sichtbar und unkontrollierbar auftretende Emotion der Scham dient Flora zum Versuch der Rationalisierung ihrer unerträglichen Schmerzsymptome (»Ich habe mich geschämt […]. Weil es mir so wehtat« – EM: 69), und seiner Vergangenheit: »Mora develops the relationship between the couple, especially their relationship around language, and the story culminates with Kopp’s defining himself through Flora’s name and his relationship to her. The novel ends with Kopp – an urban, consuming character, who has an unproductive relationship to language – opening himself to other more complex possibilities of German linguistic identity which include his family background. In a powerful act of definition through an Eastern European Other, the novel ends on a note of hope and reconciliation and with a challenge to a society of consumption, showing the richer possibilities for expression and communication found in Flora’s translingual use of German. The final passage of the novel shows Kopp’s redefinition of himself in the light of his wife’s words. Instead of seeing Flora from Kopp’s perspective – which is the dominant pattern of narration in the rest of the novel, and one which requires a line separating their voices in the subsequent book – in this final moment Kopp is defined and named through his relationship to Flora« (Bohn Case 2015: 222). 163 Mora interpretiert diese leitmotivischen Handlungen Kopps als Kompensation: »Die sogenannten Nullerjahre, die Zeit des Einzigen Mannes, waren u. a. gekennzeichnet durch ein bis dahin noch nicht gekanntes Ausmaß an Virtualität. […] Ein paar Exemplare dieser Hardware liegen nur zufällig bei Kopp im Büro […], abgesehen davon hat er ausschließlich mit unsichtbaren, ungreifbaren Dingen zu tun. Dem Netz. Die Existenz des Darius Kopp hat einen hohen Anteil Virtualität, kein Wunder, dass Essen und andere Genussmittel so eine Wichtigkeit bekommen: etwas Reales braucht der Mensch. Das Essen wenigstens muss real sein« (Mora 2014: 81).
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während Darius Kopp sich schämt, sich gegenüber Flora aggressiv zu verhalten (EM: 127, U: 622) oder sozialen Erwartungen und Normen nicht zu entsprechen (»er war sich nicht einmal mehr sicher, auf welchem dieser Wege er gekommen war, er schämte sich vor sich selbst, ich kann doch nicht so ein Trottel sein, Männer sind Jäger, sie können sich orientieren« – 115). Im behandelten Kontext der Problematisierung der Körperlichkeit sowie hinsichtlich der in beiden Kopp-Romanen (bzw. quasi in allen Texten Moras) textstrukturierend wiederkehrenden Thematik der Gewalt sind aber zwei weitere Merkmale der Scham relevant. Erstens entstehen Schamgefühle bei Entblößung des Verborgenen, insbesondere des konventionell zu beherrschenden Körperlich-Kontingenten wie der Nacktheit (insbesondere der Körperflüssigkeiten) oder der Sexualität; und zweitens ist die Scham par excellence ein soziales Gefühl, das, von gesellschaftlich konstruierten normativen Grenzen abhängig, vom fremden Blick des Beobachters hervorgerufen wird und auch ohne unmittelbare aktive Involviertheit in »schamloses« Verhalten oder Beschämung, auch stellvertretend für andere (»Fremdscham«) oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (»Kollektivscham«), erlitten werden kann.164 So bricht Flora, wie es in beiden Romanen erzählt wird, im Supermarkt vor Scham zusammen, als sie mitbekommt, wie zwei Frauen sich darüber unterhalten, dass jemand ihrer Tochter den nassen Schlüpfer über den Kopf gezogen hat, als diese sich in die Hosen gemacht hat: »Ich habe mich geschämt für diese Frauen, für die Frau, von der sie erzählten, für das kleine Mädchen in der Ecke und schließlich für mich selbst. Weil es mir so wehtat« (EM: 69). Analog dazu kommentiert sie ihre Schilderung brutalster Folter165 in ihrem Tagebuch wie folgt: »Wie kann man das aushalten? Warum schmerzt MICH das so sehr? Ich schäme mich dafür, ein Mensch zu sein« (U: 273). Ähnlich geht es einer von Kopps Zufallsbekanntschaften, der jungen Albanerin Oda, die er nach Floras Selbstmord auf seinem Roadtrip mit der Urne seiner Frau und ihrem geheimen Tagebuch trifft:
164 Vgl. hierzu u. a. Goudsblom 2016 und die Beiträge in: Gvozdeva; Velten 2011. Zum kollektiven Schamgefühl als Trauma der deutschen Nachkriegsgesellschaft vgl. Assmann 1999. 165 Zur Thematik der Gewalt vgl. u. a. Mora 2006. Zur Erzählbarkeit von »Dinge[n], die einfach die meisten von uns vegetativ ausschalten, wie Kindesmisshandlung oder Folter« (Mora 2014: 135) merkt Mora an: »Folter ist einer jener Momente, in dem das industrialisierte Böse […] und die Situation, wenn zwei Menschen von unterschiedlicher Macht einander gegenüberstehen und es deutlich zu sehen ist, wer was tut, zusammen auftreten. Ich habe jahrelang nach einer Lösung gesucht und fand mich mehrmals an dem Punkt wieder, dass es dargestellt werden muss […] Als die Aufgabe nicht mehr länger vertagt werden konnte […] fand ich die Lösung schließlich in der Verweigerung. Ich […] stellte fest, dass es mir möglich wäre, eine Folterszene zu schreiben, […] ich habe die Worte, aber ich will es nicht. […] Schließlich kam mir die Idee mit der Umkehrung der Rollen. […] Täter zu sein, kannst du (d. h. deine Figur) verweigern« (Mora 2014: 135f.).
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Nachdem meine Eltern geflohen sind, haben wir nie wieder einen Ausflug zum Hafen von Durres gemacht. Wenn ich heute die Bilder von den Flüchtlingsschiffen sehe, jedes Jahr werden sie im Fernsehen wiederholt, empfinde ich vor alle eins: Scham. Und dann schäme ich mich, weil ich mich schäme […]. (U: 287)
Der Verweis auf die unvermeidbare und rekurrente Konfrontation mit den ikonischen Bildern in televisuellen Inszenierungen kollektiver Traumata und gewalttätigen Handelns (als Schamauslöser) wiederholt sich an einem weiteren Punkt in Das Ungeheuer, nämlich im Kontext der Terroranschläge vom 11. September 2001.166 Neben der Unsichtbarkeit und Unvermeidbarkeit der Gefährdung und Unsicherheit in der »Weltrisikogesellschaft« wird dabei auch offenbar, dass die Utopie der Entkörperlichung im digitalen Zeitalter gleichzeitig eminent körperliche Erfahrungen (Scham und Leid – hier auch persönliche Trauer und Verwundbarkeit) reproduziert: Darius sah noch die ganze Nacht zu, wie die Flugzeuge, die Staubwolken, die fallenden Menschen. Seitdem habe ich mir das jedes Jahr wieder angesehen: Auch dieses letzte. Ich sah mir die einstürzenden Türme an, und dieses rasend machende Gefühl deiner Anwesenheit überwältigte mich und ich weinte […], ich weinte um den schwarzen Mann, der in perfekten Schuhen […] nach unten fiel. (71)
Die Tatsache, dass der formale Anfang der Liebesgeschichte zwischen Darius und Flora (Eheschließung am 9. September 2001) mit einer zeitgeschichtlichen Zäsur korreliert oder dass die »Geburt« von Kopps grotesker Körperlichkeit ebenfalls mit einem historischen Einschnitt einhergeht (»Mit der Wende kam der Appetit« – EM: 9), verweist auf die kollektive Einbettung und Bedingtheit ihrer individuellen Geschichten, genauso wie die zahlreichen Anspielungen auf den Holocaust (Selbstmord Jean Am8rys – U: 193, Celans Todesfuge – U: 73, die Unzulänglichkeit des Verstehens des KZ – U: 629), die als Prätexte oder Pendants zu Floras Leidensgeschichte die Grenzen der kognitiven Erfassbarkeit und der sprachlichen Vermittelbarkeit fokussieren.167 Die Selbstverletzungen (Floras mit 166 Laut Mora wurde nach dem 11. September, der »Störung, die für eine Weile alles still legte« (Mora 2014: 42), (bzw. während des Afghanistankriegs) das Schamgefühl eine Art Modus Vivendi der Menschheit: »das Monster, nach dem du suchst, ist ›mein neues Vaterland, die Scham‹. Die ein Mensch empfindet angesichts des Scheiterns der Humanität. Das Trauma, das der Krieg ist« (ebd.). Zur Diskussion um die ästhetische Repräsentation des 11. September u. a. bei Judith Butler, Giorgio Agamben, Susan Sontag, W. J. T. Mitchel und Nicholas Mirzoeff vgl. Hermann; Horstkotte 2016: 97f. 167 Vgl. Kopps Reflexionen auf die Repräsentationsproblematik in der »Holocaust-Literatur« (»›was ein Grab in den Lüften‹ ist, habe ich von meiner Frau gelernt, deswegen verwende ich das hier nicht. Auch ›durch den Schornstein gegangen‹ ist unangemessen« – U: 193), den Verweis auf Am8rys Selbstmord als Pendant zu Floras Suizid (»Geborener Hans Chaim Meier. Hat sich am Ende auch umgebracht. Das KZ überlebt, sich später umgebracht. Das Privileg des Humanen« – U: 193) und Floras Respekt vor der Singularität des Leidens im Holocaust bzw. ihr Aufeinanderbeziehen von autoritären Systemen (»In Wahrheit habe ich
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der Rasierklinge) bzw. der Selbstmord, die Angriffe auf Flora (hier von ihrem sexistischen Liebhaber) fügen sich dadurch in eine (historisch) ununterbrochene Kette von Gewalt ein – repräsentiert vom konkreten Mittel der Zerstörung (der Rasierklinge): »[S]ie hatten haargenau denselben Rasierer, mein aus dem Krieg gekommener Großvater und mein junger Liebhaber. Wenn ich weine, gelingt es eher, fest aufzudrücken, es kommt mehr Blut« (U: 196). In Das Ungeheuer wird damit nicht nur das Ausgeliefertsein an den gleichzeitig und sichtbar verletzungsoffenen und verletzungsmächtigen Körper (der suizidbegehenden Flora und des Vergewaltigers Kopp) zum Thema, sondern auch die wesentlich weiter reichende, universelle und unsichtbare Gewalt exkludierender Diskurse, die in der komplexen Metaphorik des Ungeheuerlichen fokussiert werden. Während in Der einzige Mann … die Geschichte der gebürtigen Ungarin Flora Meyer lediglich episodisch-elliptisch und aus Darius’ Sicht erzählt wird, wandelt sie sich in der Romanfortsetzung vom Objekt zum Subjekt (bzw. zum gleichzeitigen Subjekt und Objekt) des Erzählens und auch der Gewalt: Sie ist zwar zu Anfang der Erzählzeit seit Monaten verstorben (sie erhängte sich im Alter von 38 Jahren, nach neun Jahren Ehe mit Darius Kopp), doch ist sie präsent – konkret in ihren Überresten in der Urne, die ihr Mann nach seiner anfänglichen Lähmungsphase irgendwo in Osteuropa beerdigen will; virtuell als Kopps notorisch evozierte Dialogpartnerin (»Schau, Flora«); und nicht zuletzt narrativ strukturbildend als Erzählerin ihres unterhalb einer Trennlinie zu lesenden Tagebuches, das Darius aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzen ließ. Im Gegensatz zum Vorgängerroman steht hier nicht mehr (nur) die Unsichtbarkeit der Kommunikation, sondern jene der »Extreme im Inneren« (Mora 2014: 140) im Vordergrund, die durch einen radikal nach innen gerichteten Blick, die IchForm von Floras hinterlassenen Aufzeichnungen und das Strukturprinzip der Zersetzung168 sichtbar gemacht und durch die grafische Seitengestaltung als KZ-Wärterin assoziiert. Ich verschweige das sogar vor mir selbst. Was weißt du schon von KZs? Nichts. Sie ist nicht allein schuld daran. Der Boden, aus dem sie gewachsen ist: Preußen, der Faschismus, der real existierende Sozialismus« – U: 629). Der Roman reflektiert somit auf die Problematik und die Effekte verschiedener ästhetischer Formen der Repräsentation traumatischer Großereignisse: die Verweigerung, das Scheitern oder sogar das Verbot der Repräsentation (Auschwitz) bzw. die Irritation oder sogar Banalisierung infolge der medialen Überrepräsentation (der 11. September, die »Flüchtlingskrise«). 168 Zum Strukturprinzip der Zersetzung merkt Mora an, dass die Form stets auf wichtige Eigenschaften des Gegenstandes verweist: »Eine Form finden für dieses Destruktive, die sich zersetzende Struktur. Wenn es also so ist, dass die Melancholie neu zusammensetzt und wieder funktionstüchtig macht und die Depression zersetzt, dann soll Floras Text einer sein, dem man auf den ersten Blick ansieht, dass er in Stücken ist, und innerhalb der einzelnen Stücke sollen zunächst Ordnungsversuche stehen […] und zum Ende hin zunehmend Dokumente der Zersetzung. Kein eigentliches ›Tagebuch‹ also, das hilft, ein Ich zu konstruieren, eine Erinnerung an ein Ich, sondern einzelne Dateien, die sich zwar darum
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optisch wahrnehmbare Tiefe metaphorisiert wird (Floras Notizen über ihr Leben und ihre Krankheit – inklusive ihrer Übersetzungsproben, Beipackzetteln ihrer Antidepressiva und Zitaten aus Sachbüchern oder philosophischen Werken – befinden sich einer geheimen und fremden Unterwelt gleich unterhalb eines schwarzen Strichs, der zwar die Getrenntheit bzw. Differenz zwischen Lebenden und Toten, seiner und ihrer Welt, Äußerem und Innerem visualisiert, bei der Parallellektüre aber gerade die Durchlässigkeit der Grenzziehung markiert). Den Hinweisen der Autorin folgend deuten die meisten InterpretInnen das titelgebende »Ungeheuer, das Flora besiegt hat« (Mora 2014: 146), als ihre Krankheit, d. h. die Depression, den »Angriff auf die Struktur« (Mora 2014: 151), dessen zerstörerische Wirkung Flora selbst zur Sprache bringt: »F#j. Es tut weh. J#f. / Das Ungeheuer. / Lieber ließe ich mich von einem afrikanischen Wurm auffressen« (U: 653). Bedrohend und verletzungsmächtig sind nämlich nicht nur »Ungeheuer« mit ihrer aktiven Täterschaft (so etwa der seine Frau vergewaltigende Kopp – ein Ungeheuer diesmal mit Namen Darius169 –, ihre anderen gewalttätigen Angreifer oder die von Krankheit heimgesuchte, sich erhängende Flora – auch als Wiedergängerin – bzw. ihre Depression selbst), sondern vielmehr Ungeheuer als Opfer oder Gegenstand der Gewalt, d. h. als »Monster« etikettierte oder zur Schau gestellte, gleichzeitig schreckenerregende und faszinierende Verkörperungen des Anderen, Fremden und Abweichenden, die im Sinne Foucaults in ihrer Existenz als Mischwesen einen Gesetzesbruch darstellen (Grenzen und Ordnungen durchkreuzen) und Unterdrückung – Gewalt, medizinische Versorgung oder Mitleid (Foucault 2013 [1975]: 3) – herausfordern. Zwischenwesen und Anormale machen scheinbar stabile und essenzielle Kategorien als Konstruktionen sichtbar und ihre Monstrosität ist auf analoge Weise ein Ergebnis der Differenzierung zwischen normal und abnormal, (psychisch) krank und gesund oder kriminell und nichtkriminell:170 In der durch diese bemühen, eine Erklärung, eine Lösung, ein Nicht-Sterben zu finden, aber am Ende doch nur Argumente für das Gegenteil finden« (Mora 2014: 145). 169 Vgl. hierzu Bachmanns Erzählung Undine geht: Bachmann 1978. Zu den intertextuellen Bezügen zwischen Mora und Bachmann vgl. u. a. Prutti 2006. 170 Foucault analysiert in diesem Kontext, wie soziale Gegenstände durch die Machteffekte der Diskurse hervorgebracht werden, die sich in den Körper der Subjekte (z. B. der psychisch Kranken) hineinschreiben – so Rolf Parr : Die »Figuren der Abweichung von der Normalität sind insofern soziale Gegenstände, als sie durch Diskursivierungen zuallererst mit hervorgebracht und ›sichtbar‹ gemacht werden. Diesen Prozess untersucht Foucault in seiner Vorlesung [Die Anormalen/Les Anormaux], indem er der ›diskursive(n) Entwicklung des Monsters zur Anomalie‹ nachgeht, dem Schritt vom ›Körpermonster‹ zum ›Sittenmonster‹ als zwei verschiedenen Formen von Monströsität: Die eine ist die äußerliche, auf den ersten Blick sichtbare körperliche Abweichung, die das ›Menschenmonster‹ als Zwitterwesen, als paradoxe Schwellenfigur ausweist, etwa als Mischwesen zwischen den Geschlechtern (›Hermaphroditen‹) oder den Gattungen (›Tiermenschen‹). Zum anderen beobachtet und
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Exklusion sichtbar und erkennbar gemachten Monstrosität zeigt sich letztendlich die unsichtbare Gewalt kultureller Ausschlussmechanismen und normativ kategorisierender Festlegungen. So ist Darius Kopps Körper zwar einerseits eine Art Karikatur von einem prototypischen hybriden Wesen, einem Übergang zwischen Mensch und Tier – »Ein Blick in den Spiegel ließ sich nicht vermeiden […]. Wohin du dich auch drehst: Die Kreuzung zwischen einem blonden, stupsnäsigen Jungen Mitte 40 und einem Reptil. Tränensäcke, Kehllappen« (U: 9). In der Monstrosität seines physischen Erscheinungsbildes zeigt sich andererseits auch die allgemeine und zeittypische Monsterifikation des dicken Leibes, der ihn zum Gegenstand satirischer Distanzierung macht – zahlreiche komische Episoden basieren auf seinem Körperumfang, in der Außenperspektive ist er »ein dicker Mann« (EM: 286), ein »[f]etter Deutscher« (U: 78) – und Kopp selbst zunehmend zum Hindernis (der Bewegung) wird (er muss ständig Schuhe, Socken und Hemd wechseln und wird von Fußschmerzen und Atemnot geplagt).171 Floras Ausgeliefertsein an und Bestimmtheit durch Gewaltverbrechen, verbale Animositäten und ausschließende psychiatrische Diskurse (»Jetzt bin ich also Patientin« – U: 238) repräsentiert im Gegensatz zu Darius’ körperlicher Monstrosität die unsichtbare Monstrosität innerer Abweichungen (der Fremden, der Frau, der Andersdenkenden, der Künstlerin usw.)172 Nicht zufällig analysiert Foucault im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert aber auch solche Diskurse, die ›Monströsität‹ als innere Abweichung konzipieren« (Parr 2013: 8). 171 Flora und Darius verfremden sich beide gleichermaßen von dem eigenen (als »abweichend«, nicht-gesund empfundenen) Körper – vgl. Darius: »Um was auch immer zu tun, braucht man seinen Körper, und dieser fühlt sich im Moment an, als wöge er 6 Tonnen. 6 Tonnen schwer, Arme gelähmt, hänge ich in meinem perfekt gefederten Sessel« (U: 161) und Flora: »Ich bewege diesen Körper. Er ist fern, innerhalb meiner selbst bin ich sehr klein. Ich wohne irgendwo in meinem Kopf […], ich bin fern von dieser Hülle, ein winziger Geist, aus der Ferne beobachte ich. […] Ein verschlossener Fremder bin ich für mich selbst« (U: 198). Zur Monsterifikation als Legitimierung staatlicher Gewaltanwendung, zur simplifizierenden Strategie der Dämonisierung gewisser Gruppen bzw. Gegenstände (des »Kopftuchmädchens«, der »Märkte« oder des »Terrorfürsten«) im politischen Journalismus vgl. Burchardt 2013. Zum Erzählmuster des Monströsen in Bezug auf den dicken Menschen, der sowohl Leistungsfähigkeit als auch visueller Attraktivität entbehrt, merkt Burchardt an, dass »dieser Körper […] eben nicht mehr Leib, also der primäre Ort sinnlich-sinnhafter Welt- und Selbsterschließung [ist], sondern Werk- und Ausstellungsstück, das sich seiner Marktgängigkeit im Horizont von Angebot und Nachfrage je neu versichern muss« (ebd.: 44): »Dick-Sein ist insofern ein individuelles Vergehen, moralisierend gesprochen eine Sünde« (ebd.: 41). 172 Zur Ablösung des Körpermonsters durch das »monstre moral«, den unsichtbaren Typen des Monströsen vgl. Foucault 2013, Schmitz-Emans 2013: 17 und Niehaus 2009. In Das Ungeheuer finden sich zahlreiche leitmotivische Beispiele für unterschiedliche Formen der Monstrosität: für Verbrecher, Bestialität und Mordgier (Folterbeschreibungen in Floras Aufzeichnungen), für Fabelwesen und zur Schau gestellte Tiere bzw. klein- oder riesenwüchsige Menschen (Kopp erscheint im Spiegel wie ein Reptil, »[w]ie ein hospitalisierter Elefant schüttelt er immerzu den Kopf« (U: 38) und gerät in Konflikt mit einem Zwerg und seiner »dromedarhafte[n] Freundin« (U: 37). Flora spricht auch von real existierenden
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werden in der oben zitierten expliziten Beschreibung ihres Kampfes mit der Übermacht des Ungeheuers ihrer Krankheit – die Fremdheit und Arbitrarität der sprachlichen Bezeichnung aufzeigend – das Wort »f#j« (ungarisch für »es tut weh«) und seine Nonsens-Umkehrung (das Ergebnis einer vielsagenden Zersetzung und Neuordnung) »j#f« verwendet. Flora (bzw. die Außerordentlichkeit an sich) wird nämlich nicht nur durch festlegende Diskurse oder physische und verbale Gewalt ausgeklammert, sondern auch die sprachliche Repräsentation als solche (insbesondere die Erfassung singulärer und eminent körperlicher Erfahrungen wie Leid und Folter, Krankheit und Freitod) wird als problematisch, willkürlich und exkludierend erlebt:173 So empfindet Flora die Benennung bzw. das Sprechen selbst als zerstörerisch: »Ich traue mich nicht, die Dinge im Grund meiner Seele zu benennen. Wenn ich ihren Namen ausspreche, töten sie mich« (U: 380); »Es ist … als wäre die Sprache das Trägermaterial. Sie zu benutzen tut weh« (U: 174); »Kein Wort. Wenn du es aussprichst, bringt es dich um« (U: 675). Dementsprechend reflektiert sie auch auf ihr generelles Unvermögen zu verstehen (»Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe nie. Meistens verstehe ich überhaupt nicht, was vor sich geht« – U: 130) und verortet sich – dem hybriden Wesen Undines ähnlich – in einem Zwischenreich zwischen der sprachlichsemiotisch figurierten (»menschlichen«) und der jenseits von Sprache erfassbaren (»natürlichen«) Welt: Es sprach also jemand mit mir, von Anfang an. […] [D]ennoch kenne ich die Sprache des Menschen nicht. Wie eine, die nach einer Katastrophe allein übrig blieb, im Wald aufwuchs […]. So fühle ich mich. Als würde ich nur simulieren, dass ich spreche. Ich simuliere, dass ich verstehe, was zu mir gesagt wird. (U: 261f.)
Floras Fremdbestimmtheit infolge des Ausgeliefertseins an die Sprache (den Sprachgebrauch) wird zwar in Bezug auf ihren Akzent, den körperlich-materiellen Aspekt der Sprache, metaphorisiert (»Ich habe geträumt, dass alles in meinem Mund durch Hightechmaterialien ersetzt worden ist. Der gesamte Mundinnenraum […]. Ich freute mich, denn ab nun würde alles tadellos funktionieren« – U: 212), doch wird für Flora auch ihre Muttersprache Ungarisch, die Kopp eifersüchtig als »Rivalen« wahrnimmt,174 dem Deutschen ähnlich bösen Hexen (U: 90), und als sie von ihrem Schlüsseltrauma, dem nächtlichen Angriff in der Bushaltestelle (Kapitel 13, U: 358–359), erzählt, wird das (Anti-) Märchenhafte nicht nur auf der Figurenebene präsent (Flora im roten Mantel erinnert an Rotkäppchen, ihren betrunkenen Angreifer nennt sie einen »Gnom wie aus dem Märchen« – U: 361), sondern auch in der Narration, so in den Anfangszeilen des Kapitels: »Es war einmal, vor langer Zeit, als es noch keine Handys gab, eine letzte Straßenbahn. Es war einmal, vor kurzer Zeit, eine nächtliche Bushaltestelle« (U: 358). 173 Zu Floras Angst vor der Repräsentation vgl. die präzise und eingehende Analyse von Propszt 2017. 174 Vgl. hierzu Kopp: »[M]eine Frau, die die ganze Zeit so tat, als hätte sie mit ihrer Herkunft abgeschlossen, die nie ein Wort ungarisch sprach, alles, was sich in diesem Laptop befand,
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Sichtbare und unsichtbare Monstrositäten
zum Problem: »Ich kann nicht einmal Straßenbahn auf Ungarisch sagen, ohne dass es mich umbringt« (U: 174). Die Kopp-Romane fokussieren dadurch nicht einfach die Sprache der Gewalt (z. B. repressive Diskurse), sondern vielmehr auch die Gewalt der Sprache generell, im Sinne des (Un-) Vermögens einer repressiven Beschreibung des sprachlich Unsagbaren.175 Die Unmöglichkeit, Kontingenz und Willkürlichkeit sprachlich zu strukturieren (so Floras existenzielle Erfahrung), zeigt sich dementsprechend auf den letzten Seiten von Floras Computeraufzeichnungen in der Auflösung der Reihenfolge der Buchstaben und der Leerstellen zwischen den einzelnen Lexemen: Im Zentrum Leere. […] Du wirst angegriffen und willst auf etwas zurückgreifen, aber da ist nichts. […] [I]ch […] begreife dass es mich nicht gibt. # [Datei: ex] Man kann aufhören zu existieren, ohne tot zu sein # [Datei: semmi] s’#‘‘s’s’s’#s#“s’sa’s’s’sa#s’sa’sa’sa’s#s#a##’########’###’sisisisiissisisisiissizuophaaaaaasieeee sdoiu keioaewöoihjgarekjadgfoihgkjhaerggoaerojjaeäorigj-aerdoiergöakjnfadäoiraejgö-ao ekrjgae (U: 667–668)
Der Unzugänglichkeit des Anderen, der Unverfügbarkeit eines ultimativen Sinns kommt auch in Darius’ Text paradoxerweise eine konstitutive Relevanz zu: Infolge von Floras Krankheit und Tod wird auch Kopp auf Schritt und Tritt mit Unbegreiflichem, mit der Unmöglichkeit des Verstehens konfrontiert,176 und auf Ungarisch verfasst hat. Wie kann sie sagen, die Vergangenheit ist die Vergangenheit, und dann die ganze Zeit ein geheimes Leben mit dieser Sprache führen? Eine Affäre. Als hätte sie mich die ganze Zeit belogen« (U: 60). Die Fremdheit des Ungarischen für Kopp ist dabei lediglich nur eine der vielen Manifestationen der »Trennung zwischen den beiden Figuren [Darius und Flora]« (Mora; Burka 2014: 14) und eines allgemeinen »›Du-kannst-esnichtfinal-verstehen‹; du kannst die Krankheit eines anderen nicht endgültig verstehen; du kannst Selbstmord nicht endgültig verstehen; du kannst eigentlich in der letzten Konsequenz einen anderen Menschen nicht vollständig verstehen, du kannst nicht vorausahnen, was er tun wird, und du kannst ihn im Grunde nicht daran hindern, also du kannst ihn nicht völlig entmündigen und immer mit dir herumschleppen, um zu verhindern, dass er stirbt« (Mora; Burka 2014: 14). 175 Vgl. hierzu Judith Butler : »Die Gewalt der Sprache liegt in ihrem Bemühen, das Unsagbare einzufangen und damit zu zerstören bzw. das zu fassen, was der Sprache gerade entzogen bleiben muß, wenn sie als lebendige Sache wirksam sein soll« (Butler 2006: 20). 176 Das Ungeheuer ist durchaus ein Roman über Lesen, Schreiben und Verstehen: Kopp steht dem Leser ähnlich vor der Herausforderung der Interpretation von Floras Aufzeichnungen (»Ich lese und bemühe mich zu verstehen« – U: 84) und von seiner eigener Geschichte (»Aber für Darius Kopp ist natürlich das Wesentliche, nicht nur zu verstehen, was da vor
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zwar nicht nur beim Kommunizieren in einer Fremdsprache (»Es gibt xxxxxxx, sagt Zolt#n. Unverständlich« – U: 191; »Kopp verstand: Othello, aber wahrscheinlich war’s Attila« – U: 525),177 sondern auch im Kontext von Schwellenerfahrungen, so z. B. des Sterbens (»was wissen wir schon darüber« – 71) oder des Trauerns (»Hinter jeder geschlossenen Tür ist etwas Namenloses, Unerträgliches. Ich habe das Gruseln gelernt, aber so richtig: vor dem Nichts« – 73). Diese profunde Leere, und nicht (nur) jene der Einsamkeit des Trauernden oder der Erkrankten, ist sinnkonstitutiv für das Erzählen von Kopps Reisen quer durch Osteuropa (in Ungarn, Albanien, Bulgarien, Kroatien, Georgien, Armenien und Griechenland). Die würdige Beerdigung von Floras Urne – ein morbides Pendant für Michaelides’ obskures Geldpaket in Der einzige Mann … – fungiert lediglich als Handlungsfolie (und wird bis zum Romanende auch nicht durchgeführt); die eigentliche Herausforderung für Darius Kopp in Das Ungeheuer ist eine hermeneutische, nämlich die Auslegung von Floras hinterlassenem Tagebuch (das Verstehen von Flora und letztendlich auch von sich selbst, d. h. das Neuerzählen ihrer Geschichte und die Auseinandersetzung mit seiner Schuld) und die Bewältigung (oder Kompensation) der Leere und Abwesenheit durch sinnliche Wahrnehmung und konkrete Erfahrung von fremden Orten.178 Diesem Untersich gegangen ist, sondern wie er über die eigene Schuld hinwegkommt, weil er sich ja an der Frau versündigt hat« – Mora; Burka 2014: 18). Die Figur reflektiert generalisierend auf diesen Prozess: »Er las und las, mal interessiert, mal diszipliniert und teilweise unaufmerksam – bemerkenswert, dass man selbst in solchen Texten, den geheimen Texten deiner toten Frau, dazu neigt, manches zu überspringen. Manches las er genau, verstand es dennoch nicht, oder verstand es, konnte es aber nicht länger halten, als dass es dauerte, es zu lesen, Von manchem dachte er, er verstünde es nicht, aber sein Körper reagierte – Gegenstände, mit denen er in Berührung war, erzitterten – also verstand der es doch« (U: 99f.). 177 Die Materialität der mündlichen Sprache wird in beiden Romanen insbesondere im Kontext der Eigennamen imitiert: »Därjäss! From Börlän!« (EM: 322); »Dänjäl« (EM: 325); »Doiv Dajkn. […] Das ist sein Name: David Deacon« (U: 421); »Dariüss« (U: 428); »Därjäss« (U: 432). Nichtsdestoweniger häufig werden dialektale oder fremdsprachige Ausdrücke phonetisch verfremdet wiedergegeben, die Komplexität von Kopps Wahrnehmungs- und Verständnisschwierigkeiten illustrierend: »Uazjonaim? / Pardon? What’s your name?« (U: 420); »Mood disorder. Was für ein schönes, melodiöses Wort. Muhd. Disorda« (U: 574); »Die Straße herunter kam ein kleiner Mann und winkte breit: Brauchst koi Angst ham!« (U: 499). 178 Die Leere in Kopps Wohnung nach Floras Tod ist eine räumliche und existenzielle; seine Reaktion auf die sich selbst gestellte Frage »Wohin kannst du gehen, wenn statt eines Ortes eine Person dein Zuhause geworden ist?« (U: 72), nämlich das Verreisen (das Bereisen von Schauplätzen ihres Lebens bzw. von Ländern hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang), bedeutet dementsprechend nicht nur eine Suche nach Spuren (Floras) durch Prozesse des räumlichen Sich-Bewegens, sondern vielmehr einen Versuch der (Re-) Konfiguration unterschiedlicher, sich von Räumen und Kontexten abhängig wandelnder Zugehörigkeitsvorstellungen: »Einen Durchgang finden. Deswegen sind wir hier. Einen Ort finden, eine
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nehmen steht Kopp von Anfang an skeptisch gegenüber : »Eine saudumme Idee, das alles, was hast du dir davon versprochen? – Dir nahekommen, durch deine Orte« (U: 145); »wie kann einem das, was anwesend ist, überhaupt Auskunft über das Abwesende geben?« (U: 134). Während aber Flora die Versprachlichung von Traumata als trügerische Zähmung der Wirklichkeit, als falschen und versagenden Versuch der Kontingenzbeherrschung empfindet (»das alles [sind] nur Worte […], also zu ertragen. Während die Wirklichkeit nicht zu ertragen ist« – U: 374), verhilft Kopp das Erzählen von seiner Reise letztendlich zu einer besonderen Transzendenzerfahrung, zur Verwischung der Grenze zwischen Möglichem und Wirklichem (wobei das letztere sich auch als narratives Konstrukt zu erkennen gibt). Flora wird in Kopps Text nämlich nicht nur virtuell, als evoziertes Du von imaginierten Dialogen, lebendig oder durch ihre Wiedergängerinnen (wie die albanische Geschichtsstudentin Oda oder die verstorbene Frau von Kopps georgischem Gastgeber) präsent, sondern sie wird den anderen (fiktiven) Figuren gleich, als der Text zwischen Kopps analeptischem Gedankenstrom und der Erzählung seiner (sinnlich) erlebten Gegenwart oszilliert und nicht zu entscheiden ist, ob Flora in einem Traum bzw. Kopps Vorstellung, in einer Rückblende oder direkt und gegenwärtig erscheint:179 Kannst du kyrillisch lesen, Oda? Weißt du, wie dieser See heißt, Oda? Was soll’s, ich weiß es selber, es steht ja dran. Schau, Flora, da ist der größte Süßwassersee des Kaukasus. Im Schneeregen. Ein riesiger Fisch hängt vom Vordach einer aus Wellblech und Plastik zusammengezimmerten Bude. […] Wer würde einen echten Fisch von so einer Größe im Sturm hängen lassen? Der Fischer, der kein Radio und kein Handy hat und überrascht worden ist und der nun in der Hütte hockt und versucht, nicht zu erfrieren? Die panischen Bilder von einer erfrorenen Flora […] gab er erst auf, als er sie endlich sah. Natürlich auf dem Hof. Als Kopp ankam, schippte sie gerade Schnee (U: 544).
Wie die Dezentrierung der narrativen Struktur (Auflösung der Chronologie, Uneinheitlichkeit der Fokalisierung usw.) in Der einzige Mann … Kopps mehrfache Desorientierung modellierte, so manifestiert sich in Das Ungeheuer die Gewalt des Virtuellen auch auf formaler Ebene in der dauerhaften Koexistenz alternativer Handlungs- und Deutungsmöglichkeiten, vorgestellter und kör-
Person, ein Ding, an dem ich nicht scheitern muss. Bis dato bin ich mit deinem Land nicht sehr weit gekommen. / Weil es so was wie ›mein Land‹ generell nicht gibt« (U: 161). 179 Ähnliche Stellen finden sich des Öfteren in Das Ungeheuer : So unterbricht die Rückblende an das Liebesglück mit Flora das »jetzt und hier« (U: 267) von Kopps Spaziergang mit Oda an einem adriatischen Badeort, als er Oda an der Hand haltend davon berichtet, mit Flora zusammenzustoßen und Flora an den Händen zu halten (ebd.) oder als er den Heiligabend in einem griechischen Hotel verbringend seine Frau erblickt und von ihren silvesterlichen Skiwanderungen in einem Wellnesshotel erzählt (U: 612).
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perlich-materiell erfahrener Wirklichkeiten.180 Diese werden gerade in ihrer Uneindeutigkeit und Unfestgelegtheit sichtbar gemacht oder demonstriert (wie die Herkunft des Wortes sagt: »monstro« steht lat. für »ich zeige«), bilden einen Gegenpol zu den homogenisierend festlegenden, exkludierenden Diskursen und verleihen auch dem Text selbst eine monströse Qualität. Körper – hybridmonströse, zerfallende, verletzte – und der Textkorpus des Romans spiegeln einander : Wie auch Floras innerer Abgrund typografisch als Unterwelt gestaltet wird, so entspricht die Unfestgelegtheit oder Hypothetizität als Modus von Kopps konjunktivischem Erzählen der Instabilität oder Optionalität der Reihenfolge der Lektüre der Paralleltexte.181 Und dieser Verunsicherung (deren Bekämpfung durch Sichtbarmachung in Der einzige Mann … vorgenommen wurde) wird in Das Ungeheuer als Lebensgefühl der Virtualität konstruktiv begegnet, als Kopp eine physische (gleichzeitig aber auch innere bzw. zeitliche) Reise unternimmt, und zwar in sein ehemaliges Zuständigkeitsgebiet Osteuropa inklusive Floras Ursprungsland Ungarn, den Schauplätzen von Kopps (eines Ostdeutschen mit polnischen Wurzeln) Kindheit in Jugoslawien und der Wiege der Zivilisation in den Bergen des Kaukasus und im Ararat. Die Reise wird, wie erwähnt, zunächst als Suche nach einem Begräbnisort für Flora, d. h. die »Heimat« des Trauernden Kopp, begriffen (»Wohin kannst du gehen, wenn statt eines Ortes eine Person dein Zuhause geworden ist?« – 72). Die konkrete Suchbewegung fungiert jedoch in erster Linie als Medium von Kopps Selbstverortung im Abgleich mit seiner Schuld und mit Floras auf Ungarisch niedergeschriebenem, geheimem Parallelleben. Durch das allseits präsente Motiv des Ortwechsels werden geografische Orte konkret bereist, wodurch ehemals (in Der einzige Mann …) nur virtuell vorhandenen Menschen (wie Michaelides) und Ländern (wie Armenien) in ihrer körperlichen Realität begegnet wird und diese sinnlich wahrgenommen werden (»die schreiend schöne Landschaft, die ich 30 Jahre lang verpasst habe, wie kann so etwas vorkommen. […] Dabei war das hier sogar einmal mein Vertriebsgebiet D-A-CH-Region and Eastern Europe« – 292f.). Damit werden einerseits negative und homogenisierende Klischeevorstellungen vom »Wilde[n] Osten« (EM: 47, U: 77), wie 180 Floras Geschichte wird in Kopps Text als eine mögliche Geschichte erzählt und verweist durch die konjunktivische Erzählform (U: 276, 297) nicht nur wiederum auf eine bekannte Textstrategie Max Frischs (in seinem Roman Mein Name sei Gantenbein), sondern akzentuiert auch im Allgemeinen und selbstreflexiv das Konjunktivische, die Vieldeutigkeit der Welt, sowie das Potenzial der literarischen Konstruktion von Möglichkeitswelten. 181 Kalina Kupczyn´ska analysiert detailliert, wie der Aufbau von Das Ungeheuer die Struktur des Hypertextes evoziert, der auf Kombinationsentscheidungen und Wahloptionen des Rezipienten beruht (Kupczyn´ska 2016: 119). Die deutschen Übersetzungen von Floras Aufzeichnungen unter dem Strich und Kopps Reisetext in der »Oberwelt« lassen sich zwar parallel oder in beliebiger Reihenfolge lesen, doch stellt sich beim Lesen durch die Kapitelnummerierung in Das Ungeheuer eine Art Linearität ein.
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Rückständigkeit, Korruption, Alkoholkonsum und Kriminalität,182 kritisch dekonstruiert, so u. a. als Kopp sich zu seiner Vergangenheit als Ostdeutscher bekennt (»wisst ihr denn nicht, dass ich mich zu euch gehörig fühle?« – U: 78; »Oh, ich kann mir das vorstellen, sagte Darius Kopp. Ich komme aus der DDR« – U: 346; »Das ist, weil ich aus dem Osten komme« – U: 230; »ich bin ehemaliger Bürger der ehemaligen DDR und werde darüber nicht lamentieren« – U: 480) oder die Stereotype kritisch hinterfragt: »Die Osteuropäer. Ich meine: die Osteuropäer. / Aber das sind keine Osteuropäer, sondern Wegelagerer. Wegelagerer haben kein Heimatland« (U: 78).183 Andererseits erweist sich hinsichtlich der Translokalität kollektiver und historischer Gewalterfahrungen die Ost-WestGrenzziehung (der binären Logik anderer problematisierter Trennungen z. B. im psychiatrischen Diskurs ähnlich) als willkürlich und problematisch. Kopp bereist nämlich nicht nur Orte, die imaginative und zeitliche Reisen in seine persönliche Vergangenheit auslösen, sondern auch historische Ereignisräume, als er Reisenden begegnet, deren Gegenwart und Vergangenheit in die osteuropäische Gewaltgeschichte eingebettet ist – so befragt er die Albanerin Oda nach ihren Erinnerungen an Hoxha (U: 240), führt Gespräche über den Kosovokrieg bzw. »die Blutrache, die Mafia, die Pyramide, die Bunker, die Flücht182 Ähnlich negative Konnotationen von »Osteuropa« finden sich auch in Floras Aufzeichnungen (»Sag ein Bild für Osteuropa: Lungenentzündung in einem dreckigen Zug« – U: 107) und in Der einzige Mann … (»wie das eben so ist, wenn man Geschäfte mit dem Osten macht […]. [D]ie Bürokratie!, und […] die Korruption! […] Darf ich nach Armenien reisen, Flo? […] Achte nur darauf, genug Wodka zu trinken, um das verdächtige Fleisch zu desinfizieren, aber hör auf, bevor du blind wirst, und ich meine das nicht im übertragenen Sinne, und schlafe bitte mit keiner Prostituierten, auch nicht, wenn sie dir als jemandes Schwester vorgestellt wird« (EM: 26). Zur gleichen Zeit werden aber auch sozialistische Klischeevorstellungen (»Jugoslawien war ja lange Zeit … [Sag nicht fröhliche Baracke, sag nicht fröhliche Baracke!]« – U: 244) und das Narrativ vom »bösen Westen« kritisch reflektiert (»Straßenkinder gibt es ausschließlich in kapitalistischen Ländern« – U: 234). Zur Funktion der Osteuropareisen in Moras Romanen (im Kontext des Eastern Turn der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur) vgl. Gerstenberger 2018. 183 Herkunftsnarrative werden von den Figuren anderen Homogenisierungsstrategien ähnlich als zwingend und repressiv erlebt (»Ich […] bin Deutscher und muss mich nicht nur im Ausland, sondern auch zu Hause dafür rechtfertigen« – U: 249; »Bis ich dorthin kam, wusste ich nicht, dass Albanerin zu sein ein ›Problem‹ sein kann« – U: 247; »Ich will nicht verwurzelt sein, sondern verbunden« – U: 328) oder einer »monströsen« Hybridität und Uneindeutigkeit gegenübergestellt: »Ein blauer Fleck [Mongolenfleck] auf dem unteren Rücken. Er weist auf eine asiatische Herkunft hin. Wir Ungarn sind Asiaten. Asiaten, Türken, Slawen, Deutsche, Juden und Zigeuner« (U: 193). Diese monströse Mischung zeigt sich an einer anderen Textstelle auch in der sprachlichen Polyphonie und in dem (sichtbaren) Nebeneinander der gelöschten (unterdrückten, verschwiegenen, ungesprochenen oder revidierten) und der nicht-gestrichenen Stimmen – so Kopp zu Flora: »Ich will die Geschichte deines Landes lernen […] ich will Sz8chenyi Skanderberg lieben und verehren. / Blödsinn. Scheiß auf Helden. Die Zeit der in Stein gemeißelten Menschen ist vorbei« (U: 328).
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linge« (U: 349). Floras »Ungeheuer« ihrer Krankheit wird in Darius’ Reisetext nicht nur durch seine Begegnungen mit sämtlichen parallelen Schicksalen184 oder durch Kopps erste und einmalige Erzählung seiner Versündigung an ihr neu kontextualisiert, sondern sie fügt sich auch in eine unaufhaltbare historische Gewaltkette ein, als sie für Kopp in Armenien wörtlich mit politischen Konnotationen übersetzt wird: »The depression, you know. Was nicht mit Depression zu übersetzen ist, sondern mit Krise. […] Aber ist nicht immer Krise? […] Ab dem Moment, da ich denken konnte, befand sich der Staat, in dem ich geboren wurde, als solcher in der Krise« (U: 487). Floras Leiden erhielten, wie bereits ausgeführt, aufgrund der Unmöglichkeit der sprachlichen Repräsentation in singulären Erfahrungen (wie dem Holocaust, dem Selbstmord oder der Folter) ein Pendant – ihre Universalität wird dadurch untermauert bzw. verstärkt, dass in Kopps Reisebericht »osteuropäische« Gewalterfahrungen wie die Wende, die Gräuel der Balkankriege oder die Traumata der kommunistischen Diktatur zur Sprache kommen, samt den Strategien des Verschweigens oder der Legitimation der Gewalt. Diese letzteren Strategien zeigen sich etwa im Diskurs des Nationalismus (Flora verweist auf die Geschichte des ungarischen Thronanwärters Vasul, den der staatsgründende König Stephan der Heilige um 1037 blenden und ihm die Ohren mit Blei ausgießen ließ – U: 123) oder in der Mythologie (»Zeus hat Io vergewaltigt, Selene, Kallisto, Alkmene und Danae. Demeter, Elektra, Europa, Leto und Flora« – U: 674). Indem solche ausgelöschten und verborgenen Gewaltmomente individueller und kollektiver Geschichte identifiziert und miteinander verbunden sowie in ihrer Erzählbarkeit von den von Ungeheuern heimgesuchten Figuren selbst problematisiert werden, wird in Das Ungeheuer – nebst dem konstruktiv-subversiven Potenzial der Auseinandersetzung mit dem Abwesenden – auch die komplexe zerstörerische Dimension unsichtbarer Monstrositäten sichtbar – sowohl auf der Ebene der Geschichte als auch im narrativen Diskurs.
184 Laut Mora verhelfen Darius nicht nur die Texte Floras zu einem produktiven Trauern (und zu ihrem Verstehen), sondern auch die diesbezüglichen Hinweise der Nebenfiguren: »Er begegnet all diesen Figuren, die mit ihrer Trauer verschieden umgehen, und wir sehen, wie gut die anderen darüber hinwegkommen. Also, dass zum Beispiel Doiv sagt, ich habe die Frau, die Mutter meines toten Kindes, meine Exfrau wiedergetroffen, und es war so, als hätten wir uns nie gekannt, ja es war irgendwie nur so wie eine entfernte Verwandtschaft. Und der fröhliche Witwer in Georgien hat schon zwei Frauen begraben, und es geht ihm hervorragend damit. Der wesentliche Hinweis kommt von Christina, die ja ganz lange neben einem depressiven Mann ausgeharrt und seinen Tod quasi als Befreiung erlebt hat, und die sagt: Er ist jetzt tot, um ihn muss ich mir keine Sorgen mehr machen, hier sind die Lebenden, um die sorge ich mich. Also, dass sie diese klare Trennung machen kann, diese ganz pragmatische. Darius Kopp redet darüber nicht viel. Ich glaube, dass er diese Beobachtungen macht, und in der Summe der Beobachtungen auch Sachen versteht« (Mora; Burka 2014: 18f.).
Die »Seconda« im »Treppenhaus«: zur Aushandlung und Auflösung von Differenzen in Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf
Mit ihrem Roman Tauben fliegen auf (2010) gewann Melinda Nadj Abonji 2010 sowohl den Schweizer Literaturpreis als auch den hochrangigen Deutschen Buchpreis – bereits diese beiden medienresonanten Ereignisse stellen in einem gewissen Sinn Grenzüberschreitungen dar (die Auszeichnungen haben die schweizerische und die deutsche Grenze übertreten) und bestätigen die Kategorisierung des Werks als Grenzgängergeschichte. Die Autorin und Performerin Nadj Abonji entstammt zudem der Ungarisch sprechenden Minderheit in der serbischen Vojvodina und ihr »Migrationsroman« behandelt das Dasein zwischen den ungarischen, serbischen und schweizerischen Kulturen. Außerdem ist der buchpreisgekrönte Text bei einem österreichischen Verlag erschienen (beim Salzburger Jung und Jung Verlag), und Nadj Abonji, die das Preisverleihungspublikum in Frankfurt am Main auch auf Ungarisch begrüßte, wird in Deutschland als Schweizer Autorin mit Migrationshintergrund, in der Schweiz als Serboschweizerin bzw. als Schweizerin aus Ex-Jugoslawien und in Ungarn als in der Schweiz lebende Vojvodiner Ungarin wahrgenommen. Die Begründung der sieben Jury-Mitglieder lautete wie folgt: Was als scheinbar unbeschwerte Balkan-Komödie beginnt […], darauf fallen bald die Schatten der Geschichte und der sich anbahnenden jugoslawischen Kriege. So gibt das Buch »Tauben fliegen auf« das vertiefte Bild eines gegenwärtigen Europa im Aufbruch, das mit seiner Vergangenheit noch lang nicht abgeschlossen hat.185
Das Schlüsselwort Europa ist nicht nur mit der Diskussion um einen dialogischen (europäische und nationale Perspektiven zusammenführenden) transnationalen Gedächtnisraum oder mit der verbreiteten Vorstellung von multiethnischen Regionen wie der Vojvodina als »Europa im Kleinen« zu verbinden, 185 Jobst-Ulrich Brand (Focus), Thomas Geiger (Literarisches Colloquium Berlin), Ulrich Greiner (Die ZEIT), Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung), Ulrike Sander (Osiandersche Buchhandlung, Tübingen), Cornelia Zetzsche (Bayerischer Rundfunk) und Jury-Sprecherin Julia Encke (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung). Vgl. online unter : https://www. deutscher-buchpreis.de/archiv/autor/100-nadj-abonji/ (zuletzt aufgerufen am 18. 07. 2019).
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Die »Seconda« im »Treppenhaus«
sondern es veranschaulicht hervorragend die ethische (nicht-literarische) Dimension der Produktion und Rezeption von MigrantInnengeschichten: Die meisten RezensentInnen deuten den Roman autobiografisch, betrachten die Ich-Erzählerin Ildikj als Nadj Abonjis Alter-Ego.186 Häufig wird die Relevanz der Preisverleihung vor dem Hintergrund ausländerfeindlicher Initiativen in der Schweiz und in Deutschland betont187 – Bettina Spoerri führt in ihrer Interpretation zu Tauben fliegen auf die relativ verspätete Anerkennung der literarischen Qualität »transnationaler Literatur« in der Schweiz u. a. auf »eine verstärkte Isolierung der Schweiz von kulturpolitischen Entwicklungen und Bewegungen in Europa, nicht zuletzt wegen der Ablehnung einer EU-Mitgliedschaft« zurück (Spoerri 2012: 66). Das Romanthema Grenzüberschreitung ist aber auch in diesem Text nicht nur als migrationsbedingte Erfahrung zu deuten, sondern es bezieht sich vielmehr auch auf die Kluft zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Generationen, zwischen (Ver-) Schweigen und Erzählen, zwischen Schein (Maske) und Sein (Gesicht), zwischen linearer Progression und Zyklizität bzw. Zeitlosigkeit (im Raum sowie in der Narration). Bei textnaher Analyse zeigt sich ferner, dass Tauben fliegen auf auch in dem Sinne ein Grenzroman188 ist, dass er die konstitutive Begegnung, die Auflösung der erwähnten kulturellen Differenzen und Dichotomien in der Liminalität des dritten Raumes (Bhabha) zum Thema macht und dabei normative Begriffe und essentialistische Vorstellungen – wie die von gegebenen Grenzen, von einheitlichen Kulturen und ihrer »Übersetzbarkeit« – problematisiert. Als heuristisch relevanter Ausgangspunkt vorliegender Analyse 186 Martin Ebel nennt die Ich-Erzählerin Ildikj ein »Alter Ego der Autorin« (Ebel 2010). Nach Roland Pohl erzählt Nadj Abonji von der Emigration »vor dem Erfahrungshorizont ihrer eigenen Biographie« (Pohl 2010). 187 Vgl. hierzu Adrian Riklin: »Dass ein Roman ausgezeichnet wird, der von einer Migrantin aus Ex-Jugoslawien geschrieben wurde und auch davon handelt, ist nicht nur für die Schweizer Literatur ein Signal. In Zeiten, da ›Swissness‹ und (staatlich geförderte) Refolklorisierung bis weit in den Kulturbetrieb hineindringen und ›Integration‹ weitgehend als ›Unterordnung‹ definiert wird, tut es gut zu wissen, dass hierzulande in den nächsten Wochen aller Voraussicht nach ein Buch die Bestsellerliste anführen wird, welches das Leben in diesem Land aus einer anderen Welterfahrung zu erzählen vermag. Und dies in einer Zeit, in der ausländerfeindliche Kampagnen und Initiativen (samt Gegenvorschlägen) über das Land ziehen und bis weit über die politische Mitte hinaus wirken« (Riklin 2010). Vgl. auch Ronald Pohl: »Man erwärmt sich nachhaltig für Abonjis Anliegen: In Tagen, in denen Thilo Sarrazins eugenische Ausflüge in die deutsche Migrationsdebatte für rauchende Köpfe und lose Zungen sorgen, eignet Melinda Nadj Abonjis Roman eine unbedenkliche Vernünftigkeit, die sich wiederholt in Sätze von einiger Schönheit zu kleiden versteht« (Pohl 2010). 188 Vgl. hierzu Bhabhas Bezeichnung der Grenze als einen Ort, »von wo etwas sein Wesen beginnt« (Bhabha 2000: 7). Jürgen Barkhoff interpretiert Ildikjs Geschichte als eine »Serie von Aufbrüchen und Übergängen, Transitsituationen und Schwellenerfahrungen, liminalen Zuständen und Pendelbewegungen« (Barkhoff 2017: 207).
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erweist sich daher auch Bhabhas Metapher vom Treppenhaus, das sich in Nadj Abonjis Roman als paradigmatischer Ort des Sprechens von Ildikj (einer Vertreterin der zweiten Einwanderergeneration, der sogenannten Seconda)189 konstituiert: Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen Identitätsbestimmungen wird zum Prozess symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstruiert. Das Hin und Her des Treppenhauses, die Bewegung und der Übergang in der Zeit, die es gestattet, verhindern, daß sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt. (Bhabha 2010: 5)
Im Folgenden werden die Nadj Abonjis Roman strukturierenden, traditionell hierarchischen Polaritäten untersucht, die sich als solche in Ildikjs Text auflösen und dabei die konstitutive Funktion der Diskontinuität und Differenz für jegliche Präsenz190 ersichtlich machen.
(Ver-) Schweigen versus Erzählen: Strukturen und Beziehungen von Zeit und Raum Die Geschichte der Familie Kocsis, die aus der Vojvodina Ende der 1960er-Jahre in den Westen zieht (der Vater Mikljs wurde als Konterrevolutionär verfolgt, der Großvater Papuci von den Faschisten und auch von den Kommunisten gedemütigt), wird aus der Perspektive des Jahres 1993 von der Tochter Ildikj erzählt. Der Vater Mikljs Kocsis und die Mutter Rjzsa betreiben in der Schweiz eine Wäscherei, später das Kaffeehaus mit dem sprechenden Namen Mondial,191 und die beiden Töchter Ildikj und Nomi, die im vojvodinischen Dorf bei der Oma 189 Zur Bezeichnung der zweiten Ausländergeneration in der Schweiz und zu den Begriffen Seconda, Secondo bzw. zum »Secondo Space« in der Literatur vgl. Zinggeler 2011: 41–50. 190 Über den dritten Ort des Treppenhauses vgl. Bhabha: »Die Gegenwart kann nicht mehr einfach als Bruch oder Verbindung mit der Vergangenheit und der Zukunft gesehen werden, nicht mehr als synchrone Präsenz: unsere unmittelbare Selbstpräsenz, unser öffentliches Bild, wird durch die darin enthaltenen Diskontinuitäten, Ungleichheiten, Minderheiten sichtbar« (Bhabha 2000: 6). Auch Bettina Spoerri spricht im Kontext der »mnemographischen Landschaft« im Roman davon, dass diese »wie ein ›dritter Ort‹ Bhabhas Polaritäten auflöst und in Interaktion bringt« (Spoerri 2012: 69). 191 Zum symbolischen Namen »Caf8 Mondial« vgl. Bettina Spoerri: »Allerdings zeigt sich bald, dass was als letztendliches Ankommen der Immigrantenfamilie Kocsis in der Schweizer Gesellschaft gelten könnte, als ihre Verwirklichung in stolzer Unabhängigkeit, mit einer Cafeteria, die zwar den symbolischen Namen Caf8 Mondial trägt und ein Raum ist, den sie selbst, frei und gar als weltoffenen Ort gestalten könnten, viel eher ein Ankommen in mentaler Unfreiheit und Überanpassung ist« (Spoerri 2012: 70f.).
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Die »Seconda« im »Treppenhaus«
Mamika aufwachsen, werden nachgeholt. Die Familie reist regelmäßig zurück in die Vojvodina: 1980 zur Hochzeit einer Cousine (Titos Sommer), im Sommer 1984 (Grenzpolizisten, Trauerweiden) und 1988 (Mamika und Papuci), zu Besuch bei Tante Icu 1986 (Himmlisch) und schließlich 1989, zum letzten Mal vor dem Ausbruch des Krieges, zu Mamikas Beerdigung (Juli). Ildikj und Nomi lernen und sprechen Schweizerdeutsch; die Familie besteht den Einbürgerungstest und erhält nach öffentlicher Abstimmung die Schweizer Staatsbürgerschaft – man könnte denken, es handelt sich um eine musterhafte Geschichte der erfolgreichen Integration und des sozialen Aufstiegs der Familie, doch stehen vielmehr die Schatten der Vergangenheit und der Gegenwart im Vordergrund: Das Familienschicksal ist mit dem traumatischen Erbe des Zweiten Weltkrieges und des Kommunismus sowie auch mit der Gewaltgeschichte der Jugoslawienkriege verschränkt (Papucis Hof wird enteignet; Ildikjs Halbschwester flüchtet nach Ungarn in ein Lager ; ihr Cousin B8la, der Taubenzüchter, wird zwangsrekrutiert; die Hilfskraft im Familienbetrieb Dragana ist besorgt um ihren Sohn im belagerten Sarajevo). Ildikjs Lebensgeschichte, ihre Erzählung über die Erzählungen der Familienmitglieder, thematisiert dementsprechend die Wechselwirkungen zwischen der politischen Geschichte und dem Familiengedächtnis bzw. die interfamiliären Erinnerungsstrategien. Zunächst stehen aber nicht die Verschränkungen oder die Parallelität der Mikro- und Makroperspektiven im Vordergrund,192 sondern – anhand des Erzählens von subversiven (von verschwiegenen oder zukünftigen) Geschichten – das Sichtbarmachen von Brüchen und Diskontinuitäten, welche Ildikjs Text und das Leben der Familie prägen. Ildikjs Erzählung der Familiengeschichte ist auch eine private Spurensuche, die zu Entdeckungen von Familiengeheimnissen führt: Die Töchter erfahren im Nachhinein, dass sie eine 18jährige Halbschwester haben, dass ihr Vater bereits zum zweiten Mal verheiratet ist und dass er sich von der ersten Frau Ibolya scheiden ließ. Ildis Nichte Csilla, die trotz der elterlichen Verbote mit ihrem Geliebten in einem abgelegenen Slum in Armut lebt, wird von Ildikj, Nomi, ihrer Mutter und Tante Icu besucht und insgeheim mit Lebensmitteln versorgt, und Ildikj erfährt, wie ihre Mutter Rjzsa von ihrem Vater misshandelt wurde, weil sie gegen seinen Willen Lehrerin werden wollte und ein Kind erwartete, das sie infolge der Prügel verlor. Die verschwiegenen Geschichten, die Risse durch die 192 Die Verschränkung von Mikro- und Makrogeschichte wird von Ildikj leitmotivisch wiederkehrend thematisiert, so bereits am Romananfang, als ihr Cousin »an einem historischen Datum« (27), exakt drei Monate nach Titos Tod, heiratet oder u. a. im Kapitel Juli: »1989 wird in meine persönliche Geschichte eingehen, sicher werde ich später, wenn ich mich an 1989 erinnere, an den Mauerfall denken […] sicher werde ich an vieles denken, das 1989 geschah, aber in meiner Geschichte wird in diesem Jahr Mamika gestorben sein, ich werde für mehr als ein Jahrzehnt das letzte Mal in meiner Heimat gewesen sein« (167).
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Familie kommen parallel mit den durch historische Zäsuren bestimmten Geschichten zum Vorschein: Mamika erzählt den Mädchen nicht nur ihre Sorgen wegen des bevorstehenden Krieges, sondern auch, wie sie 1942 unter den Faschisten und dann nach Kriegsende unter den Kommunisten litten, die Papuci folterten und ins Arbeitslager deportierten, sodass Ildikj und Nomi »verstehen, dass es hinter diesem ganzen Hass eine verschwiegene Geschichte gibt, die mitten in Vaters Herz führt, die Geschichte von Papuci, dem Vater unseres Vaters« (68).193 Aber nicht nur die Tabuisierung in einem patriarchal geprägten Umfeld oder das Verdrängen unerzählbarer Traumata (»In einer Nacht hat er [Papuci] erzählt, was er im Lager erlebt hat, und dann nie wieder« – 259) verursachen Lücken in der Geschichte, die die Erzählerin nun ausfüllt, sondern auch ihre Position, von der aus sie das damals noch Verborgene oder Abwesende präsent macht. Ildikj berichtet von ihrer Kindheit und Jugend in der Vojvodina nämlich immer wieder vor der Folie des späteren Krieges und im Lichte dieses Mehrwissens, das den erzählten Episoden eine alternative Bedeutung verleiht. So stellt sie bereits am Anfang auf dem Friedhof fest: »Und wir ahnten damals nicht, dass in wenigen Jahren die Grabsteine umgestossen, die Granitplatten zerpickelt, die Blumen geköpft werden würden, weil es im Krieg eben nicht reicht, die Lebenden zu töten« (11). Bei Vorstellung eines Cousins, des Taubenzüchters B8la, bei dessen Besuch im Sommer 1986 heißt es in ähnlicher Weise: »als man für die systematische Tötung und die Zerstörung des Landes Männer braucht, wirkt die Geste, mit der B8la auf seine mit akribischer Sorgfalt ausgestellten Pokale zeigt, unübertroffen hilflos« (112). Zu einem analogen Zeitsprung kommt es auch bei Ildikjs Beschreibung der Olympischen Winterspiele 1984, mit Verweis auf die Kriegsereignisse: »Jetzt, 1993, ist das Olympiastadion zerstört, und direkt vor den Ruinen werden die Toten begraben« (154). Ebenfalls aus nachträglicher Perspektive wird für Ildikj deutlich, was ihre »geheime[n] Inspektionen« im großmütterlichen Hof nach Spuren der Veränderung motivierte (»weil wir beide Angst hatten, nichts mehr mit unserer Heimat zu tun zu haben, wollten wir die Zeit einholen, in der wir nicht da gewesen waren« – 20), oder dass sie »von gewissen Dingen, die sich in unserer Heimat abspielen, keinen blassen Schimmer [hätten]« (122). Die retrospektiv erzählte Zeit in der Vojvodina wird somit brüchig und diskontinuierlich – durch die Präsenz der (zunächst abwesenden, verschwiegenen) Vorgeschichte (Papucis und des Vaters) und der Zukunft (der Gewaltgeschichte der Jugoslawienkriege). Die Binarität von (Ver-) Schweigen und Erzählen prägt sowohl die zeitliche Struktur des Textes als auch Ildikjs Umgang mit dem Raum bzw. den wech193 Die Seitenzahlen nach den Romanzitaten beziehen sich auf folgende Ausgabe: Nadj Abonji, Melinda: Tauben fliegen auf. München: dtv, 2014 [2010] (5. Auflage).
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selnden räumlichen Koordinaten der Erzählung. Dies zeigt sich, indem sie nicht nur stets zu erzählen bemüht ist, sondern auch Vieles zu verschweigen oder nicht wahrzunehmen versucht. Einerseits schwebt oder pendelt Ildikj nicht nur im kulturell-geografischen Sinn zwischen zwei Welten (der Vojvodina und der Schweiz), sondern sie befindet sich auch in der Schwellenphase der Pubertät, rebelliert gegen die konservativen Rollenvorstellungen des Vaters und verheimlicht vor den Eltern ihre ersten Erfahrungen mit Drogen, die Liebe zu Matteo und Dalibor, oder dass sie seit einem Jahr nicht mehr Rechtswissenschaft, sondern Geschichte studiert.194 Andererseits berichtet sie bei emotional schwerwiegenden Erfahrungen auch von der Unmöglichkeit der sprachlichen Erfassung als Grund für ihr Schweigen: »Ich habe es nie jemandem gesagt, aber ich liebe diese Ebene […] wie sagt man, dass man eine Ebene liebt« (8); »[ich] bin verstummt, weil ich einsah, dass es keine lindernden Worte geben würde, das Wesentliche blieb unübersetzbar« (310); »Wenn nämlich bereits ein Wort keine Entsprechung findet, wie soll dann ein halbes Leben in der neuen Sprache erzählt werden?« (165).195 Des Weiteren versteckt sie sich bewusst vor der Wahrheit in der Vojvodina und angesichts des ausbrechenden Krieges: Sie will von der Hilfsköchin Dragana nichts von den Ereignissen im belagerten Sarajevo erfahren (»soll ich dir erzählen, was sie geschrieben hat? Nein, lieber nicht, denke ich, ich möchte nicht wissen, was Draganas Schwester geschrieben hat« – 155) und stellt sich daher taub: [H]eute werde ich mich taub stellen, denke ich, ich, die eigentlich schon lange nichts mehr hören will, sehen schon gar nicht […] so oft habe ich mir vorgenommen, nichts mehr an mich ranzulassen […] habe mich in mein Zimmer verzogen, mir sogar die Ohren verstopft, wenn Vater stundenlang die Nachrichten geschaut hat. (234)
Ähnlich verhält sie sich beim Besuch der Cousine Csilla, die beim Müllberg außerhalb der Kleinstadt wohnt: »Und ich will mich nicht umschauen, ich will nicht zuviel sehen, ich möchte meine Augen irgendwohin drehen, zum Himmel vielleicht, damit ich die halbnackten, verdreckten Kinder nicht sehe, die ich sonst nur aus Distanz kenne« (123). Ildikj versucht die Fremdheit der Armut 194 In dem Roman wird die kindliche Perspektive durch jene einer jungen Frau abgelöst, die sich von den Eltern trennt und in die erste eigene Wohnung einzieht – dementsprechend ergänzt und erzählt Ildikj auch die Geschichte ihrer Emanzipation – der Familiengeschichte ähnlich – im Lichte eines späteren Wissensstandes: »[V]ielleicht hätten wir früher schon offener sein sollen zu unseren Eltern, was unsere Männerfreundschaften anbelangt; Nomi und ich, wir glaubten lange Zeit, dass wir Mutter und Vater diesbezüglich schonen müssten […]. Wir wussten, dass unsere Eltern uns nicht ganz glaubten, und sie wiederum wollten uns nicht sagen, dass sie es selber kannten, die Hitze im eigenen, im fremden Körper« (229). 195 Zur Problematik der Sprachlosigkeit bzw. der sprachlichen Repräsentation eines »bikulturellen Gedächtnisses« bzw. zum Verhältnis der ungarischen und deutschen Sprache im Roman vgl. Kegelmann 2013.
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und der Kriegsgewalt von der Eigenheit ihrer Welt zu trennen (und als solche aufrechtzuhalten und dadurch abzuwehren), indem sie auch im räumlichen Sinn eine Distanz schafft, wo sie sich als ferne Beobachterin der beiden getrennten Welten (Hier/in der Schweiz vs. dort/in der Vojvodina) verortet.196 So sieht Ildikj beim ersten erzählten Besuch bei Mamika nicht einfach die Müllberge und die zwischen Autowracks spielenden zerzausten Kinder, sondern »diese Bilder von Menschen, die keine Matratzen haben, Betten schon gar nicht« (7, kursiv E.P.) und empfindet bei Beobachtung »[d]iese[r] armen Dinger« (8) aus ihrem klimatisierten Chevrolet Folgendes: »als würden wir fernsehen, und statt dass wir den Sender wechseln, fahren wir vorbei« (ebd., kursiv E.P.). Analog verfährt sie auch in der Schweiz nach dem Ausbruch des Krieges: [I]ch sehe es plötzlich klar vor mir, die beiden Welten, die einander gegenüberstehen und sich nicht vereinbaren lassen, wir hier in der Schweiz und unsere Familien in Jugoslawien, im ehemaligen Jugoslawien, wie man sagt […] ja, wir leben hier, wie die Schweizer, im Zuschauerraum,197 denke ich. (153f.)
Jedoch verrät die Sprache Ildikjs, dass die wiederholt vollzogene Trennung der beiden Welten nicht aufrechtzuerhalten ist: Vielsagend ist beispielsweise der Widerspruch zwischen der mit dem Possessivpronomen implizierten Nähe (»unsere Familien«, »meine Cousine«) und der betonten Ferne (Distanz der Beobachterposition bzw. der medialen Vermitteltheit, »hier in der Schweiz« versus »in Jugoslawien« oder »S¼o Paolo«, Fremdheit des Wortes Slum) auch an folgender Stelle: [W]eil ich schon ein paar Brocken Englisch kann, fällt mir wahrscheinlich ein englisches Wort ein, Slum, fällt mir der Film ein, den uns der Geschichtslehrer vor den Ferien gezeigt hat über die Vorstädte von S¼o Paulo, aber hier ist nicht S¼o Paulo, sondern meine Cousine Csilla. (123f.)
Die Polarität zwischen hier und dort, zwischen fremd und eigen versucht Ildikj nicht nur durch Strategien der (räumlichen) Distanzierung aufrechtzuerhalten, sondern auch durch die Dichotomisierung zwischen Progression und Zeitlo196 Dies wird allerdings ergänzt auch von der Feststellung, dass das räumlich ferne und von Krieg bedrohte Sehnsuchtsland der Vojvodina aus dem Kreislauf der Zeit heraustritt: »unsere ganze Familie, die jetzt zur Vergangenheit gehört, die nicht mehr erreichbar ist, die Berliner Mauer und der Eiserne Vorhang existieren nicht mehr, und wir sind voneinander abgeschnitten, als hätte es nie einen verbindenden Weg gegeben« (159, kursiv E.P.). 197 Die Zwischenposition des Zuschauers wird auch als eine generationsbedingte problematisiert, als Ildikj beim Festessen am 50. Geburtstag der Mutter sich selbst und die anderen Jugendlichen wie folgt beobachtet: »es komme mir so vor, wie wenn wir alle Stellung bezogen hätten: die Männer betrunken, politisierend am Tisch, die Mütter flüsternd, geheimnisvoll am Tischrand, und wir, die Töchter, stünden hier, am Fenster, könnten das Ganze beobachten, seien beteiligt und unbeteiligt. Ja, wir sind weder Fisch noch Vogel, sagte Aranka oder eben beides, meinte Nomi« (211).
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sigkeit. Fortschritt wäre dabei nicht nur als narrative Kategorie zu kontextualisieren (und mit den erwähnten Chronologiebrüchen oder der Entzeitlichung beim Verweilen der reflexiven Beobachterin Ildikj zu kontrastieren), sondern er erweist sich auch als Inbegriff der räumlichen und sozialen Mobilität der Familie, die von den Automobilen der Kocsis’ symbolisiert wird und der Rückständigkeit in der Vojvodina gegenübersteht. Als der Vater zunächst mit einem brandneuen Chevrolet (»schokoladenfarbenes Schiff« – 5), dann mit einem weißen Mercedes Benz (mit seinem »Stern des Fortschritts« – 66) und schließlich mit einem »silbergrauen Mercedes« (162) die nicht geteerten, staubigen Dorfstraßen befährt, versammeln sich die Männer und Kinder, um das »Wunderwerk der Technik« (69) zu bestaunen. Gleichzeitig empfindet nicht nur Ildikj einen Kontrast zwischen den beiden beim Besuch zusammengeführten Welten (»In Mamikas Innenhof sieht der Chevrolet irgendwie weltfremd aus« – 24), sondern auch der Vater, der wiederholt über den Stillstand der Zeit klagt: »immer noch alles genau gleich […] hat sich nichts verändert, gar nichts« (6), »die Zivilisation, auch hier zum Stillstand gebracht« (12). Die Worte des Vojvodiner Ungarn Mikljs Kocsis lassen sich an diesen Stellen auch als Pendant zu den rassistischen Tiraden Herr Pfisters, des Schweizer Gastes im Familiencaf8, interpretieren. Dieser spricht angesichts der Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien vom »rohe[n Material« (105) bzw. davon, dass »der homo balcanicus […] die Aufklärung noch nicht durchgemacht [hat]« (ebd.) – quasi als Illustration jener diskursiven Strategien, mit denen laut Todorova die (westliche) Vorstellung vom Balkan als unzivilisiertes, barbarisches Gegenbild zu (Mittel-) Europa konstruiert wird.198 Jedoch wird die Dichotomie Fortschritt versus Rückständigkeit (der binär konstruierten Differenzen von hier und dort oder eigen und fremd ähnlich) auch in diesem Kontext subvertiert: Einerseits, weil sich gerade die »zivilisierten« Schweizer »barbarisch« verhalten (Ildikjs Familie fällt beinahe der ausländerfeindlichen Schwarzenbach-Initiative zum Opfer, und die Anständigkeit der kultivierten Schweizer Gäste im Familiencaf8 Mondial entpuppt sich als eine Maske, als jemand die Wände der Männertoilette mit Fäkalien beschmiert). Andererseits ironisiert Ildikj von Anfang an das Fortschrittsnarrativ des Vaters, als sie seine inflationären Sprüche wiederholt (»bevor wir endgültig ankommen, haben wir noch ein weiteres Mal ein ›hat sich nichts verändert‹ zu passieren« – 7), den »Rückschlag« im physischen Sinn als »Stillstand«, d. h. Feststecken des Wagens im Dreck, interpretiert (»mein Vater [muss] abbremsen […], weil die Strasse nicht geteert ist […] die Zivilisation, auch hier zum Stillstand gebracht« – 12) oder beim Herunterlassen der Scheibe des Au198 Zur Beziehung der Kategorien »Orientalismus« (Said) und »Balkanismus«, sowie zum historischen Kontext der Entstehung unterschiedlicher Wahrnehmungsmuster der Balkanstaaten vgl. Todorova 1999.
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tofensters davon spricht, dass »Vater […] mit einem surrenden Geräusch die Modernität ihren Dienst tun [lässt]« (66).199 Die Bedeutung der Gegensätze Statik/Entzeitlichung versus Mobilität/Progression wird außerdem in Ildikjs Narration aus kindlicher Sicht umgekehrt, weil Ildikj und Nomi gerade in der schützenden Zeitlosigkeit von Mamikas Welt heimisch sind: [I]ch, die in ängstlicher Genauigkeit das Zimmer inspiziert, […] hoffe, dass alles noch so ist wie früher, weil ich, wenn ich an den Ort meiner frühen Kindheit zurückkehre, nichts so sehr fürchte wie die Veränderung. Das Erkennen der immergleichen Gegenstände, die [sic!] mich vor der Angst schützt, als Fremde in dieser Welt dazustehen […] ich muss, so schnell es geht, zum Innenhof zurück, um meine ängstlichen Inspektionen fortzusetzen: Alles noch da? (13)
Nicht nur die Statik erhält eine alternative positive Bedeutung, sondern auch von der Mobilität, die konkret und in metaphorischer Bedeutung die Position der Vojvodiner Familie in westlichen Autos bestimmt, stellt sich am Romanende heraus, dass sie gerade und notwendigerweise zu einer Art Auflösung der Familie führt: Ildikj verlässt die Familie und zieht in eine eigene Wohnung an einer Autobahn mitten in der Stadt – in dem Bewusstsein, »es würde ausbleiben, das Verständnis von Mutter und Vater, dass man […] es vorzieht, in einem ›Loch‹ zu wohnen, wo man doch die Möglichkeit hat, an einem Ort zu leben, wo alles da ist« (309).200 Das gegenseitige Durchdringen von Polaritäten (wie die behandelten Binaritäten zwischen verschweigen – erzählen, hier – dort, damals – heute, Stillstand – Fortschritt usw.) wird am augenfälligsten an den Textstellen manifest, wo Ildikj radikal erfährt, dass ihre Trennung zwischen Ost und West,201 der Vojvodina und 199 Die Dichotomien des Vaters – so auch die »Grundunterschiede zwischen Ost und West […] [die] grundsätzlichsten Unterschiede […], die es im Universum überhaupt geben kann« (18) – werden nicht nur durch die ironische Stimme in ihrer Geltung in Frage gestellt, sondern auch durch den Widerspruch zwischen der stereotypen Kritik an der Vojvodina bei den sommerlichen Besuchen (»immer noch alles genau gleich […] hat sich nichts verändert, gar nichts« – 6) und der (ebenfalls Stereotype zitierenden) Kritik an der Schweiz z. B. nach der Einbürgerungsprüfung (»die Käsigen, die Schweizer, die Herzspezialisten hinter den Alpen, diesen ausgehungerten Quart, den sie hier haben, der schmeckt doch gar nicht […] den schmiert sich höchstens so eine hihihihi Hausfrau ins Gesicht« – 147). 200 Laut Anette Bühler-Dietrich ist Ildis Ankunft im Mietshaus die Voraussetzung für die Umwandlung ihrer Melancholie in Trauer – die Trauerszene am Gemeinschaftsgrab am Romanende zeigt auf, wie die Präsenz der Toten in den Akt des Schreibens (mit der Niederschreibung des Buches) übersetzt wird (Bühler-Dietrich 2013: 4). 201 Ildikj und Nomi, die in der Schweiz als »Yugos« oder Serben angesehen werden, verhalten sich in der Vojvodina als »Westgören« (»natürlich sind Nomi und ich verwöhnte Westgören, die sich darüber lustig machen, dass die im Osten versuchen, Coca-Cola zu imitieren und dabei nichts weiter als eine braune, ungeniessbare Brühe namens Apa Cola zustande bringen […] aber Traubi lieben wir […] so sehr, dass wir uns überlegen, ob wir ein paar Fläschchen mit nach Hause, in die Schweiz, nehmen sollen, um unseren Freundinnen zu
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der Schweiz, nicht mehr aufrechtzuerhalten ist – als der Krieg in ihre Welt in der Schweiz einbricht. Dies erfolgt nicht nur im metaphorischen Sinn (der Krieg hinterlässt Spuren im Familienalltag), etwa wenn die Gäste permanent politisieren, als die bosnische Hilfsköchin Dragana und die kroatische Kellnerin Glorija streiten, oder als die Mutter Ildikj wiederholt mit der Analogie von bzw. den Unterschieden zwischen der Auswanderung der Familie und den neuen Flüchtlingswellen konfrontiert (»was meinst du, wie es in der Stadt aussieht, wenn so viele Menschen nicht mehr da leben, wo sie hingehören?« – 301; »wie […] wäre [es], wenn wir jetzt in der Vojvodina leben würden, mitten im Krieg« – 296) oder die Position und die Sprache der Schweizer vertritt (»die vielen Flüchtlinge, die kommen und noch kommen werden, helfen uns nicht dabei, beliebter zu werden […] es kommen jetzt so viele Jugos, da sind die Schweizer abweisend […] wenn eine Masse kommt, dann kannst du keine Anteilnahme erwarten an einem Einzelschicksal« – 180).202 Als Ildikj die Nachricht von B8las Einberufung in die jugoslawische Volksarmee erreicht, löst sich die Polarität der beiden Welten auf, denn ihr wird bewusst, »dass die Familie, die drüben ist, im Osten, nicht verschont bleibt, dass der Krieg tatsächlich ein Gesicht hat […] ich weiss, dass ich keine Zeile mehr über den Balkankrieg werde lesen können, ohne dass ich an B8la denke« (233f.). In diesem Moment erscheint B8la in der Tat, in Ildikjs Zimmer, als sie sich morgens für die Arbeit fertig macht und gerade entschließt, sich taub zu stellen und nichts vom Balkankrieg an sich heranzulassen: [A]ls ich mir vorstelle, wie ich bald mit hochgeschlossener Bluse und Jupe im Mondial stehe, sehe ich B8la, wie er in meinem Schrank kauert. Mit dem Gesicht eines bleichen Mannes, eines zu Tode erschrockenen Jungen macht er unmissverständliche Handzeichen, ich soll den Schrank wieder schliessen, er hat sogar die Lippen bewegt, sage ich zu Mutter, die in meinem Zimmer steht, neben Nomi, ich, die den Schrank geschlossen hat, weil B8la mich darum gebeten hat. (235f.)
B8las plötzliche Präsenz versinnbildlicht auf radikale Weise die Auflösung der gewollten Trennung zwischen Ildikjs neuer und alter Heimat, hebt die zeitlichräumliche Distanz zwischen den Familienmitgliedern (»unsere ganze Familie, zeigen, dass es bei uns, in unserer Heimat, etwas gibt, das unglaublich gut schmeckt« – 18, kursiv E.P.). Anhand ihrer Zwischenposition wird damit vorgeführt, wie dichotomische Denkmuster (Ost und West, Eigenes und Fremdes) einerseits stets reproduziert, andererseits aber auch als kontingent und konstruiert entlarvt werden. 202 Wohl bemerkt: Ildikj selber internalisiert der Mutter ähnlich die Befürchtungen der Schweizer Mehrheitsgesellschaft, als sie bei der Formulierung einer Stellenanzeige für den Familienbetrieb »Schweizerinnen bevorzugt« schreibt: »Obwohl ich im Inserat ›Schweizerinnen bevorzugt‹ geschrieben habe, haben sich ausschliesslich Ausländerinnen gemeldet (ich, die es geschrieben hat, denke an uns, an die Familie Kocsis, was es bedeutet, wenn wir Schweizerinnen bevorzugen. Nichts. Es bedeutet nichts, es ist einfach so, sage ich mir)« (88).
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die jetzt zur Vergangenheit gehört, die nicht mehr erreichbar ist« – 159) auf und macht letztendlich die Unmöglichkeit der Festsetzung ursprünglicher Polaritäten sichtbar. Sein Wunsch, versteckt zu werden, entspricht nicht nur den leitmotivisch wiederkehrenden Verbergungsstrategien, die etwa Familiengeheimnisse, geschichtliche Traumata oder den aktuellen Krieg betreffen, sondern macht auf ihre nicht weniger relevante Dimension, auf eine neue Binarität aufmerksam, die die Geschichte und ihre Sprache bzw. im Allgemeinen das Empfinden von Scham prägen: auf die Dichotomie von Sehen/Oberfläche und Verbergen/Tiefe, auf den Gegensatz zwischen Schein/Maske und Sein/Gesicht. Als B8la erscheint, steht Ildikj nämlich vor der Schranktür und ihren »MondialKleidern«, denen sie auch Namen gab, in denen sie sich maskiert und verkleidet fühlt und deren falsche Oberflächlichkeit mit den allgemeinen Verhüllungsmechanismen der Sprache sowie mit den narratopoetischen Eigenschaften des Romans in Beziehung zu setzen ist.
Verbergen und Enthüllen: Scham und Sprache Die Strategien des Verschweigens, Wegsehens bzw. »Taubstellens« und der Aufrechterhaltung eines oberflächlichen Scheins sind von Anfang an leitmotivisch auftretende Strukturelemente von Ildikjs Geschichte, die auch eine räumlich-visuelle Komponente enthalten: nämlich den Mechanismus des Verbergens, der mit dem Sehen, dem Überblicken und dem Durchbrechen der Trennung von Sichtbarem und Verborgenem kontrastiert wird. Die Verschleierung betrifft nicht nur die bereits behandelten verheimlichten Geschichten oder Ildikjs kaum verbalisierende Erfahrungen, sondern verweist auf jene Dichotomie von Verhüllen und Enthüllen, die als kultureller Grundmechanismus auch den »Urszenen der Scham«203 innewohnt. Ildikj empfindet Scham bei der Entdeckung ihrer Körperlichkeit in der Sexualität (»Dalibor und ich […] haben wir uns ausgezogen, manchmal hastig, um der Scham nicht genügend Zeit zu lassen, wir haben uns selten geküsst« – 268) oder bei der Entblößung der Körperlichkeit. Sie schämt sich beispielsweise für die schadhaften Gebisse der Vojvodiner Verwandten, denen sie »unmöglich beibringen könnten, ihr Zahn-ZahnlückeLachen zu verstecken« (90), für die Hautkrankheit und schlechten Zähne von Csilla, die einen Sommer »im ersten Stock, unsichtbar für die Gäste« (91) im Mondial arbeitete. Ein ähnliches Schamgefühl ergreift sie, als sie sich mit Nomi über die Unterhosen der Gäste in der Wäscherei lustig machen (»ich schäme mich, wenn die betreffende Person ihr Wäschepaket abholt, ich ihr beim Ein203 Zum »Spiel von Verhüllen und Enthüllen« in der biblischen Anthropologie vgl. Böhme 2011: 30.
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kassieren in die Augen schauen muss« – 17) und als sie Mamika beim Ausziehen und Waschen zuschaut: [M]eine Augen, die nicht hinsehen wollen, nur neugierig und schamvoll blinzeln, um ein kleines bisschen Gold von Mamikas Haut zu stehlen. […] Und ich wünsche mir augenblicklich, diese Unterhose nie gesehen zu haben, weil sie in ihrer Grösse und Unförmigkeit beschämend ist […]. In dieser Unterhose dürfte sie in der Schweiz nicht einmal schlafen, dachte ich damals. (169)
Während in diesen Szenen das Gesehen-Werden (bzw. die Möglichkeit des Gesehen-Werdens) des Verdeckten Schamgefühle hervorruft, empfindet Ildikj auch das Hinsehen als beschämend, peinlich oder vermeidenswürdig (ihre »Augen, die nicht hinsehen wollen«, den Gästen »muss« sie in die Augen schauen). In den Schamszenen wird damit nicht schlechthin Ildikjs paradigmatische Position, die (selbst-)reflexive Haltung der halb außenstehenden Beobachterin, thematisiert, sondern auch die Grenzverwischung zwischen dem Subjekt und Objekt des Aktes des Sehens, die sowohl ihr Schamgefühl charakterisiert (Ildikj sieht das Verhüllte, sieht sich selbst beim Sehen zu und fürchtet sich vor dem Gesehen-Werden) als auch – als Strategie der Marginalisierung – ihre tagtäglichen Begegnungen mit den Schweizern. Im Familiencaf8 ist Ildikj nicht nur Beobachterin – als Serviertochter wirkt sie professionell, wenn sie den Überblick behält und »niemand die Professionalität anmerkt« (103) –, sondern sie wird von den Gästen stets beobachtet (»Sie haben fast eine Afro-Nase, sagte einmal jemand, ein Gast, Ihre Nase würde gut zu einem schwarzen Gesicht passen« – 237), wie auch die ganze Familie einem Gegenstand ähnlich behandelt, angesehen und zur Schau gestellt wird, paradoxerweise bei der Entscheidung über ihre Autorisierung als autonome Staatsbürger, bei der Abstimmung über ihre Einbürgerung.204 Die Analogie zum exotisierenden Blick auf Menschen im Rassismusdiskurs (Völkerschau) wiederholt sich, als Ildikj, nach dem Schuh von Frau Hungerbühler suchend, sich wie der Hund von Herrn Pfister unter die Sitzbank verzieht und von dort aus seine Worte über den homo balcanicus anhört: [I]ch, mit Bluse und Jupe auf Knien, habe eine nasse Hundeschnauze vor mir, und ich werde Herrn Pfister irgendwann, so wie sein Hund es tun würde, ins Bein beissen, warum? Wahrscheinlich, weil Herr Pfister sich ein bisschen bückt, unter die Sitzbank schaut, zu mir und zu seinem Hund sagt, ich bin ja selbst Arbeitgeber […] und sitzt wieder aufrecht, spricht nicht mehr zu mir und seinem Hund, sondern zu seinem 204 »[D]er Hauswart löscht die Lichter, schaltet den Diaprojektor an, nun zeigen wir ein paar Bilder, sagt der Gemeindepräsident, damit sich jene, die die Kocsis nicht kennen, ein Bild machen können, […] das rhythmische Schnappen des Projektors, hier die Familie im Freibad […] und hier sieht man sie vor ihrer Wäscherei […]. Ich […] sehne mich danach zu verschwinden, ein für allemal« (285ff.).
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Freund, der sicher auch Arbeitgeber ist, wissen Sie, der homo balcanicus hat die Aufklärung einfach noch nicht durchgemacht, sagt Herr Pfister, übrigens, mein Hund beisst nicht, ruft er mir zu. (108)
Die Position des beobachteten Beobachters macht Ildikj produktiv, indem sie sich veranlasst fühlt, einen fremden Blick auf ihr Umfeld zu werfen (»die Aussicht also ist überraschend, etwas ganz anderes […] ich werde das tun, um das Mondial aus einer anderen Perspektive zu sehen, ein amüsanter Gedanke, ein erschreckender Gedanke, dass ich da liegen bleiben möchte, bei den unter den Sitzbänken unsichtbar gemachten Heizkörpern« – 109). Durch die Entdeckung des Unsichtbaren wird sie jedoch wiederum mit einer Oberflächlichkeit konfrontiert, die sie als falsch empfindet und was sie zur steten Selbstbeobachtung zwingt. Die äußere, sichtbare Höflichkeit (Herr Pfisters und ihre eigene) in ihrem Widerspruch zum Verborgenen verursacht Ildikjs Unbehagen in ihrem Körper, den sie verhüllt in den Mondial-Kleidern als verlogen empfindet: [N]ächstes Mal werde ich länger bleiben […] mit meiner umständlichen Bluse und meiner Stützstrumpfhose […] ich, die schwitzt, bin ganz nass, weil ich mehr als schwitze, der Schweiss bricht aus mir heraus […] Entschuldigen Sie, sagt Herr Pfister, als er aufsteht, sich sein Jackett zuknöpft, ich finde, sie machen Ihre Sache sehr gut (danke schön, ja, ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag, Herr Pfister, bis morgen!), ich […] ärgere mich, über sie, die ich bin. (109)
Ildikjs Selbstbeobachtung bzw. ihre Entfremdung von dem Fräulein, das sie in den Mondial-Kleidern ist, wiederholt sich leitmotivartig im Roman (»ich, die übrigens eine schwarz-weiss gestreifte Bluse trägt und einen Jupe, der mich zum Trippeln zwingt. Ich sehe mir zu, ich, die in einer notwendigen Verkleidung bereitsteht, zeige, dass ich eine geeignete Buffettochter bin. […] im Service fühle ich mich vogelfrei, freie Sicht auf sie, die ich bin« – 88ff.). Die den Körper verschleiernden, Ildikj die Rolle der Buffettochter zuschreibenden Kleider sind dabei freilich nur eine (die sichtbarste) Variante der zum Hinsehen zwingenden trügerischen Oberflächen, wie es beispielsweise die Spiegel im Text sind. Im Zug sitzend, beobachtet sich Ildikj auch im Fensterspiegel (»wir schauen uns an, wie wir uns spiegeln im Zugfenster, wir sind es doch, obwohl wir ganz anders aussehen als sonst, im Mondial« – 133), um Nomi über ihr Unbehagen, über die Spannung zwischen Oberfläche und Tiefe zu berichten: »Ich komme mir manchmal so unwirklich vor, im Service vor allem, vielleicht sogar unecht, dann fange ich an zu schwitzen, alles dreht sich« (134 – später beschreibt sie einen ähnlichen unausweichlichen Gedanken beim Blick in den Toilettenspiegel: »Wir sind ein Herz und eine Seele geworden, ich und das Fräulein« – 281). Im Gegensatz zu Nomi, die sich mit Mamikas Meinung von der unvermeidbaren Rollenhaftigkeit identifiziert (»ich bin überzeugt, dass jeder Mensch mehr als ein Gesicht hat« – 84), beharrt Ildikj auf der Dichotomie echt-unecht (»ich
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glaube trotzdem, dass es einen echten Kern geben muss, in der eigenen Arbeit« – 135, »Ich möchte nur ein Gesicht haben« – 143) und verlässt das Elternhaus mit dieser Überzeugung von der Scheinheiligkeit der Oberflächen: [I]ch muss dir etwas sagen, Mutter […], ich, die stehen bleibt, in der Küchentür, klebe am Türrahmen, mit allem aufhören, mit dem Studium, meinem Russischkurs, den Samstagabenden in Wohlgroth, vor allem aber aufhören mit der Arbeit hier, im Mondial, verschwinden aus dieser Gemeinde, das nette Fräulein endlich abschütteln […] nicht immer ähnlicher werden der Tapete, dem Teppich, der Wanduhr, der Vitrine, und das Essen, es schmeckt nicht mehr nach uns. (293f.)
Diese Analogie zwischen den Binaritäten Scheinoberfläche versus verborgene Tiefe und Rollenspiel-Überanpassung/Assimilation versus Bewahren des »echten Kerns« (des »einen Gesichts«)/Emanzipation bzw. die entscheidende Rolle ihrer Aufhebung wird auch in der Höhepunktszene des Romans ersichtlich. Als Ildikj im Mondial damit konfrontiert wird, dass jemand »im Klo eine Schweinerei hinterlassen« (292) hat (die Wände der Männertoilette wurden mit Fäkalien verschmiert), muss sie in mehrfachem Sinn eine »Schamwand« übertreten. Der Tabuisierung der Körperverrichtungen ähnlich wird die Aufrechterhaltung der Maske (der »Kultiviertheit« der Schweizer und des »Fräuleins«) durchbrochen: [U]nsere Gäste sind im Allgemeinen gepflegt gekleidet, tragen gute, saubere Schuhe und Accessoires, Schmuck, Taschen, Hunde, die zu ihrer Kleidung passen; und ich habe noch nie genauer darüber nachgedacht, was an dieser Anständigkeit, die mit aufrechter Haltung und gedämpfter Stimme einen Kaffee bestellt (samstags vielleicht noch einen zweiten), wirklich bedrohlich ist, aber jetzt, wo ich nichts fühle, aber putzend denke, verstehe ich mich, dass das Nette, Wohlanständige, Kontrollierte, Höfliche eine Maske ist, und zwar eine undurchdringliche: sie hat den nicht einzuholenden Vorteil, dass man jemandem die Maskenhaftigkeit nicht vorwerfen kann […], kein Durchgedrehter, Abnormaler, unberechenbarer Freak hat seine eigene Scheisse in die Hand genommen und sie an unsere Klowand geschmiert, sondern ein kultivierter Mensch. (283)
Ildikj unterwirft sich den analogen Verdrängungs-, Vermeidungs- und Exklusionsmustern (in der Tabuisierung der Exkremente und in der fremdenfeindlichen Rhetorik), um diese zu tilgen: [E]s ist also offensichtlich, dass jemand die Wand absichtlich verschmiert hat, deshalb will ich auch kein Plastik zwischen mir und der Scheisse haben; ich nehme mit blossen Händen den Lappen, nässe ihn, fahre mit der Handfläche über die Wand, und das Wasser erweckt die fast schon eingetrocknete Scheisse zu neuem Leben. (282)
Dabei vollbringt sie wiederum einen Akt der Grenzüberschreitung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem (»es brauchen ja nicht alle zu sehen, wenn wir die Toilette reinigen« – 28) und zwischen (Ver-) Schweigen und Erzählen: Die Eltern wollen den Vorfall vertuschen (»das bleibt unter uns […] bringt nichts, das an
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die grosse Glocke zu hängen« – 290), während Ildikj der Aufforderung Nomis nachkommend (»los, Ildi, erzähl schon, darauf willst du doch hinaus, oder?« – 292) dem Vater von dem Einzelfall berichtet, »der offenbar zu unserem Schicksal gehört« (290). Gleichzeitig wird sie zum autonomen Individuum, das ausnahmsweise allein entscheidet (»ich brauche Nomi, aber Nomi ist nicht da« – 290) und sich von den Eltern bzw. der Mondial-Welt trennt (»ich will nicht mehr hier arbeiten, sage ich« – 291), d. h. bewusst rebelliert (»Morgen werde ich nicht die Tafel schreiben, sondern eine Anzeige erstatten, gegen unbekannt« – 292).205 Ildikjs Emanzipation vollzieht sich durch Ablehnung der Rollenzuschreibungen und der Grenzziehung zwischen Maske und Gesicht, Schein und Wahrheit, sie erfolgt genauso traumatisch wie die Grenzverwischung zwischen den beiden Welten der Vojvodina und der Schweiz durch B8las Erscheinen in Ildikjs Schrank. Ihr Gesicht entsteht durch das Abschütteln des netten Fräuleins (293), durch die Aufhebung der Einheit von »ich und d[em] Fräulein« (281) nach der Konfrontation nicht nur mit der »Schweinerei«, sondern auch mit der Beschränktheit der steten Vermitteltheit ihrer Sichtweise in der Mondial-Welt, wie es manifest wird, als Ildikj nicht sofort die Fäkalie erblickt, sondern ihre Spuren und ihr diese wahrnehmendes Gesicht im Spiegel: [I]ch, die die schwere Tür mit den Schultern aufstösst und als erstes ihr Gesicht im Spiegel sieht, ich bleibe stehen, höre, wie sich die schwere Tür lautlos hinter mir schliesst, sehe den Schrubberstiel neben meinem Kopf, ich, mit hochgestecktem Haar, schaue mir in die Augen […] und ich sehe im Spiegel nicht nur mich, sondern das, was das Fräulein erwartet. (280)
Die Binaritäten von Verschweigen und Erzählen, vom schamvoll-höflichen Verbergen und schamlosen Entblößen, von Täuschung und Freilegung erweisen sich nicht nur als produktive Differenzen bei der Konstruktion von Ildikj als Erwachsene und ihrer Erzählstimme, sondern sie lassen sich auch auf die Natur und Funktion der Sprache als solche beziehen.206 Dieser Zusammenhang zeigt 205 Ein Medium der Auseinandersetzung mit der politischen und der Familiengeschichte sowie mit den Brüchen in der Schweizer Gegenwart ist der Generationenkonflikt, die Kluft zwischen der ersten und zweiten Generation von MigrantInnen: Nadj Abonjis Familienroman ist nicht nur eine Migrationsgeschichte, sondern auch eine Töchtergeschichte. Für die duldsame, demütige Haltung der Eltern steht der leitmotivisch wiederholte Satz »Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, wir müssen es uns zuerst noch erarbeiten« (85, 290), die Töchter jedoch rebellieren gegen die Eltern und ihre Überanpassung: »Wir müssen uns anpassen, sagt Mutter mit diesem Blick, den ich nicht mehr sehen will, an die Scheisse?, schreie ich, und wo fängt der Widerstand an?« (300). 206 Zu den Unterschieden zwischen der paradiesischen Namenssprache (vor dem Sündenfall) und der menschlichen Sprache vgl. Benjamin 1991: 140–157. Vgl. auch Hartmut Böhme: »Könnte es sein, dass der leibliche Mechanismus von Verhüllen und Enthüllen sich der Sprache aufgeprägt hat? Ist die Sprache in ihrer Doppelheit, zu entbergen und zu verbergen, ist das Zeichen, das zwischen der Maskierung und dem Bedeuten des Sachverhalts sein
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sich einerseits darin, dass die fremdenfeindliche Attacke in Bezug auf die Sprache bzw. sprachliche Kaschiertechniken interpretiert wird: als Wörtlichnehmen der Metapher im Schimpfwort »Scheißausländer« und als Gegenpol oder Pendant zur Rhetorik der Maskierung im Euphemismus (»Wasser lassen«, »Stuhlgang haben«): [I]m Mondial hat uns noch nie jemand »Schissusländer« genannt. […] (ich, die »Scheisse« schreibt, kann mir nicht vorstellen, wie die hiesigen Bürgerinnen und Bürger das Wort in den Mund nehmen, aber vielleicht tun sie es, flüstern sich »Scheisse« zu, Jugo und Scheiße, das passt zusammen, die Bürgerinnen und Bürger, die in ihrem kultivierten Leben Wasser lassen, Stuhlgang haben, die Tatsache, dass die Scheisse an der Wand klebt, beweist doch, dass wir, sie, schmutzig sind. (283)
Andererseits prägen sich die erwähnten Dichotomien auch der Sprache des Romans und der Sprache im Roman auf.207 Ildikj erlebt erstens die Macht der Sprache hautnah – die Familie fällt auf Schritt und Tritt verbaler Gewalt zum Opfer,208 Rjzsa und Mikljs bestehen die Einbürgerungsprüfung infolge mangelnder Deutschkenntnisse nicht, und es kommt stets zu einem Rollentausch zwischen Eltern und Kindern, die fließend Deutsch (und Schweizerdeutsch) können und sich der Fehler der Eltern bewusst sind (»Der Ausweis war der Eiswies, die Wartefrist die Wortfrisch und Niederlassung klang aus ihrem Mund wie Niidärlasso« – 47). Zweitens findet Ildikj, die bereit ist, diese Asymmetrie Spiel treibt, – sind also Sprache und Zeichen kultivierte Kleider unserer Nacktheit wie zugleich ihrer Enthüllung?« (Böhme 2011: 31) 207 Zur Beziehung zwischen Geschichte (den thematisierten Gedächtnisstrukturen) und Erzähldiskurs (der narrativen Mehrschichtigkeit) vgl. auch Bettina Spoerri: »Diesem scheidenden Prinzip aber wirkt Tauben fliegen auf nicht nur explizit durch den Blick auf menschliche Schicksale einer Bevölkerung ohne Machtambitionen und die Auswirkungen der ideologischen und nationalistischen Trennungen bis in kleinste Details des Alltags hinein entgegen, sondern auch auf einer impliziten Ebene: In einer atemlosen, zuweilen auch auf grammatikalischer Ebene uferlosen Sprache gehalten, wogen in Tauben fliegen auf die Erzählebenen und vor allem auch Erinnertes und erzählte Reden ineinander, assoziativen Bewegungen des Gedächtnisses – Ildikjs Gedächtnis’ – folgend« (Spoerri 2012: 73). 208 Vgl. u. a. eine frühe Erinnerung Ildikjs aus ihrer Kindheit in der Schweiz: »Hier wird nicht gepfiffen wie in Italien oder in der Mongolei, rief ein Nachbar, jedes Mal, wenn Nomi und ich durch die Zähne gepfiffen haben […]. Seit ihr hier seid, ist alles verludert! und ›verludert‹ fand ich gar nicht schlimm, aber ›seit ihr hier seid‹ ging mir nicht mehr aus dem Kopf« (51). – Kunden der Wäscherei bringen ihnen Säcke mit ausgetragenen Kleidern und einer bemerkt: »Ich wäre auch gern ein Asylant, für fünf Franken am Tag« (63). Ildikj reflektiert in einem ähnlichen Kontext, anhand des Wortes »Balkankrieg« auch auf die Gewalt der Sprache (»Balkankrieg, das klingt wie eine Spezialität, so wie es Waadtländer Saucisson oder Wiener Schnitzel gibt, witzelte Nomi, ja genau, Balkankrieg ist die Spezialität eines Volkes, ein hausgemachtes Produkt, das einem kriegerischen Charakter entspringt; es gelingt uns manchmal, uns über solche Begriffe wie ›Balkan-Horrorshow‹ lustig zu machen« – 234). Ildikj und Nomi sind aber nicht nur die Opfer dieser Wortgewalt – sie machen sich das Ungarische (in der Schweiz) und das Deutsche (in der Vojvodina) auch als Geheimsprache zunutze.
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durch Dolmetschen zu beseitigen (»wir übersetzen euch simultan, das nächste Mal, wenn ihr zur Prüfung müsst, dann musst du nicht mehr schwitzen, Mami« – 149), dass die Fehler der Eltern auch »eine eigene Schönheit haben« (ebd.) und die Vermittlung umsonst ist (»das Wesentliche blieb unübersetzbar« – 310). Dementsprechend bewundert sie das Schweigen und auch das Fluchen des Vaters – diese auf die performative Funktion reduzierte, unübersetzbare, nichtnarrative Sprache gilt für sie als »Vatersprache«: [D]ann weiss ich, dass es etwas an ihm gibt, das ich verstehe, und ich wünschte mir, ich könnte Vaters Flüche hörbar machen, so in die andere Sprache übersetzen, dass sie wirklich glänzen […] aber sollte mir das nie gelingen, so bin ich mir immerhin sicher, dass Vater losballert, um zu verhindern, dass seine Muttersprache auskühlt, solange das Fluchen noch fliesst, können die geliebten Wörter doch unmöglich absterben, oder? (Und wenn es möglich wäre, Vaters Wendungen in die andere Sprache, ins Deutsche zu überführen, dann könnte ich ihm zeigen, dass ich seine Art, sich fluchend oder schweigend mitzuteilen, verstehe. […]). (165)
Die Dichotomie von Dolmetschen/Übersetzen versus Schweigen/Fluchen ergänzt damit die Polarität von sprachlicher Maskierung versus verbaler Aggression. Nomi bedient sich der Rhetorik des pluralistischen Diskurses des Multikulturalismus bzw. der kulturellen Diversität, als sie die Befreiung vom Zwang und von der Fixierung auf eine einzige kulturelle Zugehörigkeit betont: »Nomi, die gelacht hat, wir sind Mischwesen und die seien tendenziell glücklicher, deshalb, weil sie in mehreren Welten zu Hause seien, sich wo auch immer zu Hause fühlten sich aber nirgendwo zu Hause fühlen müssten« (160). Als Ildikj Nomis Optimismus mit dem Verweis auf Akte der Exklusion erwidert (und dadurch die »horizontale Begegnung« zweier Welten – der Vojvodina und der Schweiz – mit der »vertikalen Begegnung« des Sichtbaren und des Verborgenen verbindet), wird evident, dass ihr Dazwischen-Stehen vielmehr die permanente Hervorbringung von Differenzen innerhalb der einen Kultur vorführt: »und was ist mit der Herrentoilette, die ständig verpisst ist […] warum hat uns jemand die Tür mit falsch lachenden Sonnen verklebt?« (160). Anstelle von Diversität oder einer Differenzen aufhebenden Übersetzung bei der Kulturbegegnung inszeniert Ildikjs Standpunkt die Hybridität des »Treppenhauses«, die Konstruktion von Differenzen im dritten Raum und die Übersetztheit von Kulturen.209 Metaphorisch wird diese Position in ihrer Identifizierung mit den gerade auffliegenden Tauben210 manifest, die weder in der hohen Luft noch auf dem Asphalt 209 Zu den Begriffen dritter Raum und Treppenhaus vgl. Bhabha 2000. Zur kulturellen Übersetzung und zu Bhabhas Begriff der »translationalen Kultur« vgl. Bhabha 2000: 257 und Bachmann-Medick 2014. 210 Tauben kommt nicht nur im Alltag der Familie des Taubenzüchters B8la eine prominente Rolle zu (am Familientisch wird Taubensuppe gegessen), sondern sie erhalten auch eine übertragene Bedeutung: Als Metapher für Aufbruch und Ankunft oder Neuanfang, für
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am Bahnhof, sondern in der Zwischenwelt zu verorten sind: »ich sah uns vom Kiosk aus, ich hinter Zeitungen, Zeitschriften, Kaugummis, Schokoriegeln stehend – ich sah uns, übergross, ich, eine aufgeregt flatternde Taube, von menschlichen Schritten aufgescheucht« (145). Diese Position Ildikjs als Erzählerin bestimmt auch die Sprache des Romans, die sich durch das Zusammentreffen von differenten Stimmen und Zeitschichten auszeichnet. Dies liest sich als sprachliche Modellierung der Grenzüberschreitung, als konstitutives Strukturmoment der Migrations- und Töchtergeschichte bzw. des Familienromans, als Pendant zu den thematisierten Binaritäten der räumlich-geografischen Grenzgänge und der biografischen-existenziellen Schwellenerfahrungen sowie der Polaritäten des Schweigens und Erzählens bzw. Verbergens und Enthüllens. Das befremdende Spiel mit dem Pronomen »ich« (seine Verbindung mit dem in dritter Person konjugierten Verb im Relativsatz, mit dem Kollektivsubjekt »wir«, sein doppelter Gebrauch als Subjekt und Adressat des Sagens) entlarvt jene Spaltung des Ich, die nicht nur eine migrationsbedingte Erfahrung ist, sondern vielmehr auf die selbstreflexive Positionierung der Schreibenden (die sich notwendigerweise auch von sich selbst distanzieren müssen) zurückzuführen ist. Subversive Subtexte werden stets in Klammern aufgeführt, so beispielsweise das, was Ildikj vor dem Vater verschweigt – »und ich sage nichts, sage nicht, Vater, hör auf, ›Schule‹ zu sagen, das ist keine Schule, sondern die Universität […] (Vater, dem ich gern erzählen würde, dass ich seit einem Jahr nicht mehr Rechtswissenschaften studiere […])« (98) – oder Nomis Gegenargumente zu Rjzsas Geschichte über die väterliche Willkür : »Und: alles, was du tust, bleibt an dir hängen, verstehst du das? (aber Onkel Piri ist doch ganz anders, er ist nicht so, wie der Vater in deiner Geschichte; Mutter, die Nomis Einwand ignoriert)« (128). Ironie spielt eine nicht minder wichtige Rolle u. a. bei der Hinterfragung der patriarchalen Autorität des Vaters, als die Töchter seine stereotypen Topoi zitieren (»Und Vater wird gleich von den Grundunterschieden zwischen Ost und West zu reden anfangen, von den grundsätzlichsten Unterschieden, die es im Universum überhaupt geben kann« – 18) oder spielerisch wörtlich nehmen (»Dreck mit einer dünnen Freiheit und Flucht tauchen sie an mehreren Stellen des Romans auf, zunächst im Titel, dann im Mamikas Gesang (»Von meiner Mutter habe ich das Herz einer Taube, von meinem Vater habe ich das frohe, musikverliebte Gemüt« – 152) und schließlich als Taubenschar auf dem Bahnsteig, als sich die Erzählerin, wie oben erwähnt, in ihnen verkörpert sieht. Zur Interpretation des Bahnhofs bzw. der Orte im Roman vgl. Erika Hammer (Hammer 2014). Hammer macht darauf aufmerksam, dass die meisten Schauplätze von Ildikjs Leben in der Schweiz (das Caf8 Mondial, die ehemalige Fabrik Wohlgroth, Bahnhöfe, Züge, Autos) temporäre Aufenthaltsorte oder Nicht-Orte im Sinn von Marc Aug8 sind – ihre Omnipräsenz ist auf Ildikjs transitorische Lebensweise zurückzuführen (sie kann oder will nicht einmal am Romanende, in ihrer ersten eigenen Wohnung ankommen und lehnt jegliche Form verbindlicher Identitäten und Zugehörigkeiten ab – ebd.).
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Staubschicht, die unseren Chevrolet zu einem bepuderten Unding macht, die Zivilisation, auch hier zum Stillstand gebracht« – 12). Die Binarität der Geschlechter wird auch dadurch konstitutiv für den narrativen Diskurs des Romans, dass traditionelle Männerrollen im Kontext des Erzählens bzw. Sprechens hinterfragt bzw. als kontingente Konstrukte erkennbar werden. Episoden aus der Familiengeschichte werden nie von Männern und auch nicht von der Mutter, sondern von Mamika und Ildikj erzählt.211 Ildikjs Sprache ist eine Art weiblicher Sprechgesang: Die fehlende Punktsetzung, der freie Assoziationsflug und der erwähnte Wechsel der Pronomina erwecken den Eindruck von Musikalität und Mündlichkeit. Die assoziativ aneinandergereihten Episoden werden in Rückblenden geschildert, anfangs in der Wir-Form, später (als Ildikj erwachsen wird und der Krieg ausbricht und die Besuchsfahrten enden) konsequent in der Ich-Form. Der polyphone Text des Romans wird strukturiert durch Analepsen, Prolepsen und Wiederholungen: Regelmäßig wechseln zwei Erzählebenen (die Schweizer Kapitel: die Welt der Arbeit im Familienbetrieb und die Rückblenden: die Ferienstimmung bei den Fahrten in die alte Heimat). Gewisse Motive rekurrieren (die Ankunftsszenen, Tauben, Autos) und der Satz: »Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, das müssen wir uns erst noch erarbeiten« wird sämtlichen Klischees ähnlich refrainhaft wiederholt. Diese Wiederholungen, die den Text strukturieren, erinnern auch an jene Zyklizität, die nach Julia Kristevas Erläuterungen für die »weibliche Zeit« (Kristeva 1995: 191) typisch ist und der männlichen Zeit der Linearität und Progression gegenübersteht – die Weiblichkeit ist aber nicht nur in diesem Sinn (als abstraktes Strukturprinzip oder Metapher der Rekursivität) bestimmend für die Erzählhaltung. Sie ist als Inbegriff der Dialogizität, als Gegenpol zur männlichen Schweigsamkeit konstitutiv für die Identität und erzählerische Stimme von Ildikj. Das Leben der Elterngeneration weist eine patriarchalische Familienstruktur auf: Ildikjs männliche Verwandten, die ihren Mercedes bewundern, die schnapsseligen, politisierenden Männer in der Vojvodina verkörpern eine autoritär-konservativ geprägte Machowelt – quasi als Pendant zu der konkreten männlichen Gewalt, die sich in der fremdenfeindlichen Aktion der Schweizer oder auch in der Verfolgung der Familie durch die Faschisten und Kommunisten 211 Diese geschlechtspezifische Bestimmtheit der erzählenden Haltung beschreibt Karl Vajda in seiner Analyse von Zsuzsa B#nks Der Schwimmer wie folgt: »Die geschlechtspezifische Zweiteilung der ganzen Verwandtschaft in sich erzählend Verständigende (Frauen) und scheigsam-absondernd Zermürbende (Männer) beschränkt sich gleichwohl keineswegs nur auf den Umgang mit traumatischen Erlebnissen. Selbst Urlaubsgrüße scheinen eine reine Frauensache zu sein. Die von Suizidalität gefährdeten männlichen Familienmitglieder veschicken auf Postkarten höchstens einen einzigen Satz mit der bündigen Mitteilung, am Leben zu sein« (Vajda 2017: 686).
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manifestiert. Mikljs ist gegen die Emanzipationsversuche seiner Töchter,212 seine Vorstellung vom idealen Mann für seine Töchter wird in Ildikjs Text als konservatives Klischeedenken spielerisch entstellt: [D]er ideale Mann ist ein Ungar, am allerbesten ein vajdas#gi magyar, ein Vojvodiner Ungar, dem man Geschichte nicht erst erklären muss, der weiss, was es heisst, einer Minderheit anzugehören, und weil er das weiss, ist er auch ausgewandert, in die Schweiz, ein Vojvodiner Ungar, der erfolgreich ist in der Schweiz, einen richtigen Beruf hat, also nichts mit Reden oder Malen oder Musik; er hat ausserdem Haare oberhalb der Lippen und kurzes Haupthaar, zückt immer als erster, unauffällig, das Portemonnaie, er lässt sich nie von einer Frau einladen und isst gern schweres, männliches Essen, das Gegenteil also von jenen bleichen Männern, die so viel Gemüse und Salat essen wie die Kühe Gras, seine Kleidung ist korrekt, vor allem seine Schuhe, er war im Militär und geht sicher nie demonstrieren in einem demokratischen Land, womöglich noch am 1. Mai! (204)
Die dominierende Rolle der Autorität der Väter wird jedoch in der Familiengeschichte allmählich untergraben, und das in erster Linie nicht etwa wegen des Anachronismus ihres Denkens in der Schweiz oder wegen der pubertären Rebellion der Töchter (insbesondere durch Ildikjs Ausbruch aus der Familie am Romanende), sondern infolge der erzählerischen Bewältigung der Familienvergangenheit, infolge ihres Neuerzählens als Tochtergeschichte durch Ildikj. Der Generationenkonflikt offenbart sich im Text nämlich nicht nur in der Ablehnung etwaiger konservativer Geschlechterrollen der Eltern, sondern vor allem auf der Ebene der Erzählung über die (persönliche und historische) Vergangenheit als konstitutives Moment der Identität.213 Der Vater, in dessen 212 Vgl. dazu folgende Textstelle: »Ohhhhhjaaa, als nächstes bringen sie ihre Männer unter mein Dach, und dann soll ich der Kollege sein von den Männern meiner Töchter, mit ihnen Duzis machen, per du, froit mi!, sagt Vater und schüttelt eine Hand in der Luft (und mir fällt ein, dass mir bei einem Klassenausflug, ich war noch nicht lange in der Schweiz, meine erste Wurst, die ich in meinem Leben grillierte, ins Feuer fiel, dein Stecken war zu dünn, sagte die Lehrerin, als ich zu weinen anfing), und das Leben, wissen sie denn, was das Leben wert ist, wenn es aus einem einzigen Zwang besteht, wenn man nicht einmal seinen gottverdammten Beruf wählen kann? Irgendein dahergelaufener Kommunist, der dir vorschreibt, was du für eine Lehre machst, wie dein Name geschrieben wird, wie du furzen sollst, dass dein Furz gegen das System gerichtet ist (und ich, ich sehe mich draussen sitzen, auf meinem Stuhl im Gras, neben mir die aufgebundenen Rosenstöcke, die Stiefmütterchen im Beet, violette und gelbe, die ich nie gemocht habe), und deine Töchter mit ihren konfusen Köpfen, die eine interessiert sich nicht für die Schule, hat was im Kopf, aber braucht ihn für alles andere, und die zweite, was tut sie?, sie studiert Geschichte, antworte ich, Vater, der mich nicht hört, aufsteht, die Bar öffnet, die Flasche herausnimmt […]« (228). 213 Selbstentfremdung und Selbstdistanz (oder sogar Selbstflucht) werden auch in den Erzählungen der Mutter nicht nur als Konsequenzen der Migration, sondern vielmehr als Voraussetzung des Erzählens von verschwiegenen Familiengeheimnissen thematisiert: Rjzsa berichtet ihrer Tochter über ihren erfolglosen Kampf gegen den Vater, über ihre gescheiterte Emanzipation konsequent in dritter Person – als Subjekt der eigenen Le-
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Denkhierarchie der »perfekte Mann« nichts mit Reden, Malen oder Musik (mit der als »weiblich« eingestuften ästhetischen Tätigkeit) zu tun hat, schweigt viel, wie auch die Familiengeheimnisse von den Männern verschwiegen werden. Allein das Fluchen, diese auf die performative Funktion reduzierte, unübersetzbare, nicht-narrative Sprache gilt, wie erwähnt, als eine Art von der Erzählerin bewunderte männliche Muttersprache im Text (auch mit ihrem Geliebten, dem Serben Dalibor, unterhält sich Ildikj auf Englisch). Auch Ildikjs Mutter vertritt in dem Sinn die »Sprachlosigkeit« des Vaters, dass sie Vieles verschweigt, und wenn sie überhaupt erzählt, dann spricht sie niemanden an: Gut, ich werde auch etwas erzählen, aber ich rede zu den Pflanzen da draussen. Und weil Mutter zu den Pflanzen redete und nicht zu uns, schaute sie uns auch kein einziges Mal an, während sie erzählte. Und wie ihr wisst, stellen die Pflanzen keine Fragen, sagte Mutter noch, bevor sie zu reden anfing, uns die Geschichte erzählte, die für Nomi und mich seither Mutters Gelbe-Regen-Geschichte war, an die wir uns erinnerten, wenn wir begreifen wollten, dass jeder Mensch ein Geheimnis hat, sogar unsere Mutter. (122)
Die verschwiegenen Geschichten, die Familiengeheimnisse werden den Töchtern allein von Mamika erzählt, der herzensguten Großmutter, an den Zauberorten der Kindheit in dem zeitlosen (in Ildikjs Augen unveränderten) Heimatsdorf in der Vojvodina. Die Szene, in der Mamika die Töchter in die Familiengeschichte einführt, ist kontrapunktisch zur Gelbe-Regen-Geschichte der Mutter zu deuten: Mamika erzählt uns von Vater, von ihrem Mikljs, und ich weiss gar nicht, ob es recht ist, weil er euch ja offenbar nichts erzählt hat über seine erste Frau, aber warum sollt ihr das nicht wissen?, und während Mamika gleichmässig und ruhig spricht, schaut sie immer wieder Nomi an, mich, als müsste sie prüfen, ob sie ihre Erzählung fortsetzen kann. (75)
Die Geschichtenerzählerin Mamika wird dadurch zur Mutter der Ich-Erzählerin Ildikj (»meine grausame Direktheit, Mutter zu zeigen, dass nicht sie meine Mutter war, sondern Sie, Mamika« – 275), und nach ihrem Tod spricht diese erzählerische Stimme nicht mehr (nur) in erster Person Singular oder Plural, sondern sie spricht die Großmutter an. Ildikj versucht Mamika in diesem stummen Zwiegespräch im Leben zu halten oder wiederzubeleben: »Sv#jcba, hatten Sie manchmal gesagt, Vater und Mutter seien in der Schweiz, in einer besseren Welt. Und wissen Sie, wie ich mir diese bessere Welt vorgestellt habe? bensgeschichte tritt an Stelle des Ich »eine junge Frau« (125ff.). Ihre Schlussfolgerung (die von der Generation Ildikjs allerdings abgelehnt wird) lautet wie folgt: »Wenn du etwas gegen den Willen deines Vaters tust, dann hast du die ganze Welt gegen dich, sagt Mutter, du musst dich mit ihm versöhnen, ihm wenigstens das Gefühl geben, dass du nichts über seinen Kopf hinweg entscheidest« (128).
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›Besser‹ bedeutete für mich einfach ›mehr‹« (172f., kursiv im Original). An diesen Stellen wird das erzählerische Ich im Dialog mit dem fiktiven Du (Mamika) konstruiert, und diese Dialogizität deutet auch auf ein dialogisches, durch Erzählen konstruiertes Verhältnis zur Gegenwart und (persönlichen und historischen) Vergangenheit hin. Das Erzählen erweist sich im Text damit als ein weiblich konnotiertes Konstitutionsmerkmal jener neuen Identität, die Ildikjs Generation zuteilwird. Auch an diesem Punkt – wie dies bereits beim Thema Scham und Beschämung der Fall war – wurden allgemeine, anthropologische und sprachliche Muster (Erzählakte und Verdrängungsstrategien) im Hintergrund einer migrationsbedingten Erfahrung (der Kollision zweier Kulturen und Generationen) thematisiert: Dadurch wurde eine Revision von asymmetrischen Machtverhältnissen, von Polaritäten wie Ost und West, Krieg und Frieden oder Fremd und Eigen als antagonistisch Gegenüberstehende ermöglicht. Der Roman Tauben fliegen auf ist und bleibt damit, unabhängig vom konkreten und historischen Kontext seiner Produktion und Rezeption als Grenzgängergeschichte, als Erzählung vom »Treppenhaus« aktuell.
Das »Ich ohne Zoli«, der »König aller Kreuzworträtsel« und der »Schildkrötensohn«: Sprache und Gewalt in Melinda Nadj Abonjis Schildkrötensoldat
Dass Nadj Abonjis zweiter Roman Schildkrötensoldat (2017) durchaus mehr ist als schlicht ein »Balkan-Roman«214 über das Grauen des 1991 ausbrechenden jugoslawischen Bürgerkriegs oder ein »Antikriegsbuch«, sondern vom Wesen der Kunst und insbesondere der poetischen Sprache, generell von Literatur und Verstehen erzählt, bestätigt bereits der Blick auf den Umschlag. Die Abbildung der abgeschnittenen Blütenköpfe und des leeren Blumenstiels – Details einer Farblithografie von Else Winkler von Roeder Bostelmann (1882–1961) – vor dem Hintergrund eines überdimensionierten Kreuzworträtselnetzes sowie die Positionierung der Blüten und der Buchstaben des Titelwortes in den Gitterkästchen deuten auf den Zusammenhang zwischen physischer Gewalt und Sprachgewalt, zwischen der zerstörerischen und der schöpferischen Seite des Aktes des Zerlegens hin. Erkennbar wird damit auch das Verhängnis des Schildkrötensoldaten Zolt#n Kert8sz: die durch seinen sprechenden Namen (kert8sz bedeutet auf Ungarisch »Gärtner«) evozierte Tätigkeit der Pflege und seine Verortung in der Bodenperspektive, die den Protagonisten einerseits zum Opfer von körperlichen und verbalen Gewaltangriffen werden lassen, andererseits aber auch eine gesteigerte Wahrnehmung und eine besondere Sprache veranlassen und dadurch auch eine Art Widerstandspotenzial darstellen. Die Geschichte (Schildkrötensoldat war ursprünglich ein Theatermonolog für das Theater Basel) handelt äußerlich vom Leben und Sterben Zolt#n (Zoli) Kert8sz’, des Sohnes einer Zigeunerfamilie in der Vojvodina in Serbien, von einer Welt voller Armut, Resignation und Trunksucht in einem entlegenen Dorf, vom Ende der 1970er- bis Anfang der 1990er-Jahre. Zolis Kindheit und Jugend wären auch ohne die jugoslawischen Auflösungskriege eine Kette von Gewalt 214 Zu literarischen Darstellungen des Balkankriegs um die Jahrtausendwende (u. a. zu den narrativen Strategien in den literarischen Beiträgen Peter Handkes, Juli Zehs, W. G. Sebalds und Sasˇa Stanisˇic’) sowie zur Stereotypisierung und Exotisierung des Balkanraumes vgl. Previsˇic´ 2008, 2009. Zur Problematik und zu den Konstruktionsstrategien nationaler Identitäten in der Region vgl. Todorova 2004. Zur Verwendung der Begriffe Balkan und »Balkanisierung« in diesem Kontext vgl. dies. 1999.
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und Leid gewesen: Der blauäugige Junge, der ganztägig die Tiere, Pflanzen und den Himmel um seine Scheune herum beobachtet und gern über Kreuzworträtsel grübelt, wird erst von seinem saufseligen Vater und dann als Bäckerlehrling vom Lehrmeister verprügelt. Nach einem Motorradunfall erleidet er zudem schwere Kopfverletzungen und bekommt »Schläfenflattern«, d. h. epileptische Anfälle. Mit 21 Jahren schicken ihn die Elterngegen seinen Willen zum Militär, in die Kaserne Zrenjanin (nicht weit von der Front in Vukovar), bald wird er aber ausgemustert – nachdem er zusammengebrochen ist, als bei einem Gewaltmarsch sein Freund Jeno˝ auf Befehl des Kommandanten an Zolis Rucksack gefesselt und in den Tod gehetzt wird. Zolis Kindheitsfreundin und Cousine, die in Zürich lebende Lehrerin Anna erfährt 1992 zu spät, dass er beim Essen einen epileptischen Anfall hatte und erstickt ist; sie reist daraufhin nach Serbien, um seine Familie, die Kaserne und sein Grab aufsuchend die Gründe für seinen Tod zu verstehen. Schildkrötensoldat wird abwechselnd aus der Sicht von zwei Ich-Erzählern erzählt, von denen der eine bereits gestorben ist: von Zoli und Anna, die er »Hanna« nennt. Infolge der Verschränkungen der beiden Erzählstimmen und der Innensicht auf den Protagonisten – den »Schläfenflatterer«, den »Schildkrötensoldat« und den »Rätselkönig« – wird vor der Folie der Außenseitergeschichte Vieles von den anfangs erwähnten komplexen und allgemeinen Zusammenhängen zwischen Gewalt (Ausgangspunkt und Grundthema des Textes) und Sprachkunst einsichtig.
Der Fallsüchtige und die Sprache der Gewalt: Zolis Position und seine Fremdbestimmtheit Im ersten, durch Zolis Perspektive fokalisierten Kapitel des Romans (Z-W-E-TS-C-H-G-E-N-K-N-Ö-D-E-L-T-A-G, 12–15)215 wird von seinem Motorradunfall berichtet: »Wie ein Mehlsack bin ich damals vom Motorrad gefallen, mein Vater ist ohne mich weitergefahren, hat eine ganze Weile nicht gemerkt, dass niemand mehr da war, hinter seinem Rücken, ich lag auf der Straße« (12). Der Ichverlust und die Fremdbestimmtheit der Titelfigur erweisen sich auf ambivalente Weise als konstitutive Voraussetzungen seiner Geburt als Figur und auch als Erzähler. Einerseits wird Zolis Welt anhand der Geschichte der Auslöschung bzw. Verletzung seines Bewusstseins erzählerisch vermittelbar, d. h. vermittelt: Erzählt wird vom Anfang seiner epileptischen Anfälle (»seit ich vom Motorrad gefallen bin, hat das Zittern bei mir angefangen« – 17) und von der Geburt seiner eigenen Welt infolge des Unfalls (»mein Vater kam angefahren, in meiner Welt, die 215 Alle Seitenangaben nach Zitaten aus dem Roman beziehen sich auf folgenden Band: Nadj Abonji 2017.
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orange war, rot, türkis und violett, die Blumen steckten in allen Ecken und an den Rändern meiner Welt« – 12). Des Weiteren spricht Zoli gleichzeitig auch von der gewaltigen Verletzung der Grenzen seines »Paradiesgartens« bei der Konfrontation zwischen seiner eigenartigen Welt und der Außenwelt des Vaters und des Arztes bzw. zwischen seinem metaphorischen Sprachmodus und ihrem deskriptiv-referentiellen Sprachgebrauch: [A]ls die Zischelstimme sagte, dass ich blute, wusste ich sofort, dass meine Blumen aus dem Blut wachsen, ja, aus dem blutenden Loch meines Kopfes […] aber sie haben mich aus meinem Paradiesgarten herausgezerrt, ein Knoblauchdoktor hat seine Luft in mich hineingepumpt […] diese Hektik, mit der sie auf mich eingeredet haben, lasst mich in Ruhe, habe ich geschrien […] und meine Blumenvögel, sie wurden immer kleiner, dünner, und sie flogen auf, als ihr Rot wieder ganz ausgewaschen war, vor lauter aufgeregtem Gerede, sie haben mich zurückgelassen (13f.).
Andererseits betrifft diese den Ausgangspunkt des Romans bestimmende Ambivalenz nicht nur das Nebeneinander von destruktiven Folgen (Zoli erleidet schwere Verletzungen) und konstitutiven Auswirkungen des Unfalls (Zoli leistet Widerstand zur Verteidigung seiner angegriffenen und für die Leser bloßgestellten metaphorischen Wahrnehmung: »da bin ich hochgeschossen, habe den Arzt am Kittelkragen gepackt, habe meine Wörter auf seine weiße Redlichkeit gekotzt […] und habe geschrien, warum ich geweint habe, dass sie mir meine Blumen … die Vögel … und meine Farben …« – 14).216 Per se widerspruchsvoll ist auch die Position Zolis als Erzähler – nicht nur in sich, da seine Beschreibung des Unfalls nach einer von der um ihn trauernden Hanna erzählten Episode aus Zolis Kindheit, nach ihrer Reflexion über sein Totsein, wiedergegeben wird (»da wo du bist, schweigt man lieber« – 9),217 sondern auch, weil er vom Vorgang seines Bewusstseinsverlustes berichtet und demzufolge notwendigerweise »fremdbestimmt« erzählt. Zoli übernimmt nämlich auch die Sichtweise anderer (»ich [war] bewusstlos […], wie sie später alle sagten« – 12), und es stellt sich heraus, dass beim Erzählen vom Anfang seiner Geschichte (»Wie ein Mehlsack bin ich damals vom Motorrad gefallen« – 12) Zoli eigentlich die notorisch 216 Auch Zolis spätere Konfrontationen mit Gewalttätigkeit werden durch seine Wahrnehmung gefiltert und als grundsätzlich sprachliche Konflikte bzw. Auseinandersetzungen mit dem Widerspruch zwischen seiner (metaphorischen) Sprache und der (Macht-) Sprache der Autoritäten (z. B. des Befehls) beschrieben. Die Szene, als er nach Jeno˝s Tod das Essen verweigert und mit warmem Brei gefüttert wird, wird beispielsweise wie folgt beschrieben: »es ist warm, es ist eine Wärme in allen Farben / warm haben wie Sonnenblumengelb / warm haben wie Mohnblumrot! / warm haben wie ein Abendwind im Sommer! / hörst du, das ist ein Befehl, Kert8sz! […] die Nachbarskatze, ihr Fell sträubt sich, sie buckelt sich, sagt Kert8sz, wie heißt das, wie nennt man das? / jawoll, Kert8sz, bravo, Katzenbuckel, so nennen wir das, verstanden? […] hier ist Zrenjanin, verstanden? hier spricht dein Befehl« (146). 217 Diese Position kommt wiederholt auch in den Zoli-Kapiteln vor, u. a. als er erzählt »jetzt, wo ich endlos sitzen und schlafen und starren kann« (52).
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wiederholte Interpretation des Vaters verinnerlichte (»Das sei der Anfang gewesen, hieß es später […] er will mir wieder einmal erzählen, wie ich als Mehlsack vom Motorrad gefallen bin […] Vater will mir wieder einmal erklären, dass dieser Tag der Anfang vom Ende war« – 16). Zolis Unfall bedeutet gleichzeitig ein Fallen in konkreter und auch metaphorischer Bedeutung, und zwar als Auslöser seiner Fallsucht, aber auch als Urszene seiner Positionierung am Boden bzw. im Staub. Diese Position wiederholt sich leitmotivartig in dem Roman – mal als die Konsequenz gewaltiger Übergriffe und die Manifestation von Zolis Unterworfenheit (unter menschliche Autoritäten: den Bäckermeister und den Vater, die Ärzte und die Vorgesetzten, aber auch unter die Gesetze der Sprache und die verbale Gewalt), mal als die freiwillig gewählte bzw. natürliche Position des Kindes, des Gärtners und des Sprachkünstlers oder »Rätselkönigs«. Zolis Geschichte wird unverkennbar von der Dialektik der körperlichen Grenzverletzungen geprägt – bei seinen Demütigungen und Anfällen, als er sich von einem »stummen Geist«218 (75) überfallen fühlt – und auch von kreativ-künstlerischen Grenzverletzungen, die seine Sprache (Metaphern und Neuschöpfungen) und seine kindliche Wahrnehmung bestimmen. Zolt#ns Ort – auf dem Boden, im Staub, unter dem Tisch, letztendlich im Grab unter der Erde – verrät ständig, dass er von Gewalt bedroht und betroffen wird. Er fällt einem fremdbestimmten Objekt (dem Mehlsack) gleich auf den Boden nicht nur beim Motorradunfall, sondern auch als er vom Bäckermeister an der Schläfe getroffen wird (»ich, schwerer als ein Mehlsack […] ich kann ihm nicht sagen, dass ich nicht aufstehen kann« – 37). In der Kaserne muss Zoli sich auf Befehl des Truppenführers bücken (72) und als Verkörperung der Erniedrigung und Selbstverleumdung – auch als Präfiguration von Jeno˝s Tod (»er bleibt liegen, rührt sich nicht mehr […] Jeno˝ ist dagelegen, im Staub« – 142) – wirft er sich auf den Boden vor den Leutnant, der ihn mit der Stiefelspitze tritt (»ich rührte mich nicht, nein, das war keine Provokation, so groß, wie er war, so klein musste ich sein« – 104). Autoritätsfiguren werden damit durch Zolis Position und seinen Blick konstruiert und als solche entblößt, als Zoli die Folgen von Demütigungsgesten und Gewaltakten aufzeigend sich als »Staub-Teufel« (14) definiert, mit seinem »Bodenblick« (17) sein Umfeld betrachtet und sich in Ritzen und 218 Zoli spricht bei Beschreibung seiner Anfälle, als er sich selbst als »Ich ohne Zoli« bestimmt, von dem Gefühl, von einem stummen Geist überfallen worden zu sein (75) – es handelt sich um einen biblischen Hinweis (vgl. u. a. Markus 9, 25), der nicht nur seine Fremdbestimmtheit, sondern auch Zolis quasi transzendente Position (er ist ein von dem Morbus sacer Epilepsie betroffener, sprechender Toter) bestätigt. Wie das Wort »sacer« gleichzeitig für »heilig«, aber auch für »verflucht« stehen kann, so zeichnet sich auch Zolis Position durch diese Doppeldeutigkeit aus: Er redet aus der »göttlichen« Position des Dichters und Sprachschöpfers, unterliegt aber auch der Gewalttätigkeit, der Militärwillkür.
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Löchern hineinschlüpfend verstecken will. Von dieser unterworfenen und unteren Position aus schaut er zu seinem Vater hinauf, der durch den kindlichen Blick zum fliegenden »Kittelkönig« auf einem Glanzthron (21) transzendiert wird. Zolis »Unterworfenheit« hängt aber nicht nur mit seiner konkreten räumlichen Position zusammen (freiwillig, durch Gewalt verursacht oder krankheitsbedingt begibt er sich quasi ohnmächtig auf den Boden) oder mit seinem kindlichen Status (»ich habe mich aufgestützt, im Bett und habe zu Papa geschaut« – 22) bzw. mit seiner Position in der militärischen oder patriarchalen Hierarchie. Vielmehr unterliegt er auch der Gewalt der Sprache – er wird von Erwartungen bedrückt und durch diskriminierende Stereotype verbal verletzt. Zoli wird von seinem Umfeld – in der Schule, der Familie und der Armee – von Anfang an verspottet und verhöhnt, sein Eigenname wird von Schimpfnamen verdeckt: Er ist der »stotternde Idiot« (20), ein »Tollpatsch« (32), der »Aussatz« (35), ein »Gartennarr« (96), »Zigeunerbastard! elender Lumpensammler! Hundesohn eines Analphabeten!« (36), er wird auch »Clown«, »BuchstabenFresser«, »Vogelscheuche«, »Schöpflöffelidiot« und »Glotzmonster« genannt (129). Seine Berufswahl hängt von der elterlichen Erwartung ab (»aus dir hätte was werden können, Zoli […] du hättest dich aus dieser Scheiße retten können« – 17; »du kommst gesund und stark wieder zurück, wirst Bäcker« – 50). Diese betreffen auch seine »Männlichkeit«, an der es ihm in den Augen seiner Umgebung mangelt infolge seiner Kindlichkeit und seiner Impotenz (sein Versuch zu onanieren scheitert – 70, in Pornoheften sieht er lediglich »Papierfrauen« und zeigt keinerlei Erregung – 98). Zoli werfen die Eltern vor, »zwischen den Schenkeln eine Blume statt einen Schwanz« zu haben (18) und er wird aufgefordert, im Sinne der geläufigsten Geschlechterklischees ein »Mann« zu sein: »Männer in deinem Alter reden nicht von Pflänzchen, sondern von PS im Hirn und auf Rädern, verstehst du? Motorräder, Autos, Geld, Muskeln, Titten, warum interessiert dich das nicht? […] sei ein Mann, sagte meine Mutter […] sei ein Mann, ein ganzer Kerl« (97); »Soldat sein ist Männersache […] ist Ehrensache […] hab auch mal gedient« (48). Demzufolge wird er auch zur Armee geschickt (»du kommst in die Kaserne, die trainieren dich fit! und du wirst ein richtiger Mann […] und ein Held, wie ihn die Lieder besingen« – 49), wo er aber nicht nur schikaniert (geschoren, geschlagen, gemobbt und bestohlen) wird, sondern wiederum die Sprache als Mittel der Gewaltausübung, als Instrument der Zurichtung in Form von Befehlen und Dienstreglements219 erfährt. Zoli ist der 219 In der Kaserne von Zrenjanin wird das Dienstreglement der schweizerischen Armee mehrmals und länger wörtlich zitiert (vgl. Kapitel 4, S. 134f.: über das »Ziel der militärischen Ausbildung und Erziehung« und über die »dienstlich notwendige Arbeit«, Kapitel 3, S. 71: über Führungsgrundsätze und Vorbildwirkung). Zieht man dazu noch das Palimpsest von Zrenjanins Geschichte in Betracht (»auf de[r] vor fünfzig Jahren in Großbuchstaben Adolf-Hitler-Kaserne stand« – 128) oder die Tatsache, dass Jeno˝s Tod den realen Fall des
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Sprache als Mittel und Medium gewalttätiger Handlungen einerseits ausgeliefert220 – er internalisiert die elterlichen Erwartungen: »es ist wahr, ich hätte meinen Vater retten können, ich hätte alles mit frischem Weißmehl bestäuben können, sein ganzes, einziges, dreckiges Menschenleben hätte ich in einem luftigen Brotteig aufgehen lassen können« – 19). Dasselbe tut er mit den Schimpfnamen (»ich bin ein I-d-I-O-T, ein Lump ein Bastard ein Taugenichts« – 40) und den Fluchwörtern: Wie auf Kommando schimpften Lajos und Zorka schamlos aufeinander ein. Zoli bückte sich, kroch auf dem Boden umher, und ich beeilte mich, ihm zu helfen […]. Während Zoli die Kippen und Scherben auf seine Handfläche legte, flüsterte er, fast andächtig, die Beschimpfungen seiner Eltern vor sich hin. (26)
Andererseits reagiert Zoli auf Gewalt (physische Schläge und sprachliche Gewalt) nicht nur mit Ohnmacht, sondern auch mit der Macht der Sprachgewalt: Seine typische Position unter dem Tisch erweist sich an dieser Stelle nicht nur als Fluchtort und Anlass zum Nachsagen der Beschimpfungen, sondern vielmehr auch als Widerstandsort. Von unten, aus der Bodenperspektive, stellt Zoli die Welt infrage, und zwar nicht nur durch den ungewöhnlichen subversiven Blick (eines Kindes), sondern durch das Hinterfragen des Waffenarsenals der Worte: Im Klassenzimmer gab es nur Gelächter, wenn Zoli eine Frage stellte, und der Lehrer meinte, er solle die Fragen lieber in seinem Kopf behalten, und so fragte Zoli nur noch, wenn er es gar nicht merkte, sein Mund wie von selbst zu reden anfing. (10)221
Das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten ist ein inhärentes Merkmal von Zoli und richtet sich nicht nur auf die Autorität als solche, sondern auch auf die Sprache, die entleerten Signifikanten, die automatisierten, verfestigten, Machtverhältnisse tradierenden sprachlichen Phrasen: »Papa, warum nennst du mich Bastard? -B-A-S-T-A-R-D- ich bin doch dein Sohn« (20). Analog dazu schweizerischen Rekruten Pierre-Alain Monnet wiederholt, so wird ersichtlich, dass der Roman nicht einfach den Balkankrieg oder die Missstände in der jugoslawischen Volksarmee thematisiert, sondern im Allgemeinen das Militär als Bereich der kalten Erinnerung (in ansonsten »heißen« Gesellschaften) im Sinne Jan Assmanns (Assmann 1992: 70). 220 Das ist auch dann der Fall, als er aktiv gewalttätig wird und trotz seiner Vorliebe für seinen Hund Tango (s. die Anfangsszene des Romans) und seiner Identifikation mit Tieren und Pflanzen der Befehlssprache gehorchend (bzw. die Geschichte vom Anfang seines Endes umdeutend) einen Hund totschlägt: »-S-C-H-L-A-G-S-C-H-O-N-! sagen wir, -S-C-H-L-A-GS-C-H-O-N-! ja wir rufen uns zu, und das Kind [der Hund] weint […] ich weine, schlage zu, wir schlagen zu, es ist ein Takt, den wir kennen, eins, zwei, wir schlagen zu, bis nichts mehr zu hören ist […] und Jeno˝ und ich wussten, dass das der Anfang war, der Anfang vom Ende« (113). 221 Dasselbe bezieht sich nicht nur auf die Schule, sondern auch auf das Militär : »ich hätte gern gewusst, ob mein Eindruck stimmt, dafür hätte ich ihn fragen müssen, aber so viel hatte ich bereits begriffen, dass so einer wie ich einen Dekorierten nicht einfach irgendwas, irgendeine Kleinigkeit fragen darf« (54).
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richtet sich auch die Geste des Aufhebens222 der Scherben in erster Linie auf die Sprache: »die schlechten Worte – wir müssen sie doch ganz bestimmt auch aufheben« (26), und das Fliehen und Sich-Verstecken haben ebenfallseine sprachliche Dimension, wie er dem die Sprache der Ideologie kritisierenden Jeno˝ auch gesteht: »ja, es ist wahr, ich habe in den Worten immer einen Unterschlupf gesucht, ein Schlupfloch« (133). Zolis »Bodenblick« ist damit auch keine Demutsgeste eines Ohnmächtigen oder Fallsüchtigen, sondern vor allem ein mächtiger und performativer Akt des Wortgewaltigen und seiner desautomatisierenden Wahrnehmung. Dieses konstitutive Moment der Sprachkunst wird dem zerstörerischen Potenzial der diskriminierenden Rede entgegengestellt, als »Kert8sz, Zigeunerfratze, Schlappschwanz« (138), der »Tollpatsch« (32) Zoli, sich als »König aller Kreuzworträtsel« (32) definiert und mittels der Macht der Namensgebung (im weiteren Sinne) – auch aus seiner unterlegenen Bodenposition heraus und trotz seines Sterbens – ein subversives und kreatives Potenzial erhält.
Der Rätselkönig und die Gewalt der Sprache: Zoli als Sprachkünstler Voraussetzung für die umfassende Hinterfragung der physischen und verbalen Gewalt durch die Wortgewalt der Sprachkunst, durch die Akte des Aufhebens und (Hinter-) Fragens ist nicht nur Zolis behandelte Wahrnehmungsposition, sondern auch jene Zerstörung und Zerschlagung, die Zoli einerseits in diesen Standpunkt versetzen, andererseits aber auch seine Tätigkeit als Rätselkönig und Sprachkünstler kennzeichnen. Zerfall bezieht sich in Zolis Geschichte erstens auf den Staatsverfall Jugoslawiens (»Das Land, in dem du geboren und aufgewachsen bist, existiert nicht mehr« – 69), zweitens droht er aber auch Zolis Körper in der Kaserne (»die machen dich fertig […], die zerlegen dich in alle Einzelteile« – 80) und in seiner Familie (»-I-C-H-K-Ö-N-N-T-E-D-I-C-H-I-ND-E-R-L-U-F-T-Z-E-R-R-E-I-S-S-E-N- weil ich ihr [der Mutter] vorkam wie ein Hindernis« – 96) bzw. beim Stottern, als er jedes Wort in Silben zerlegt. Risse und Schlupflöcher entstehen in dem Text aber nicht nur infolge durch Gewalt gezogener Bruchlinien, sondern sie fungieren auch als Zuflucht für Zoli, der sich durch Verstecken und durch die Geste des Aufhebens zu wehren versucht, dabei 222 Zoli macht nicht nur das Verborgene (die Spuren der Gewalt) sichtbar, sondern er versucht durch Verbergen auch (das von Gewalt Bedrohte) zu bewahren und zu schützen: »ich sammle zertretene Schnecken ein, verwundete Häuser, lege sie unter mein Bett, in den hintersten Winkel« (72); »es ist das Schönste, einen Apfel, der in den Dreck gefallen ist, aufzuheben, den Dreck in aller Sorgfalt, von allen Seiten von ihm abzureiben« (109).
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aber beide als sprachliche Akte wahrnimmt. Als er die Kippen und Scherben einer zerstörten Bierflasche sammelt, fügt er hinzu: »die schlechten Worte – wir müssen sie doch ganz bestimmt auch aufheben« (26) und als ihm sinnlose zusätzliche Arbeit befohlen wird, empfindet er »kein[en] Unterschlupf im Wort Sonderschicht« (135); »arbeitsunfähig« findet er aber »ein schönes Wort, mit etlichen Schlupflöchern« (150). Ein anderes Mal begreift Zoli die Geschichte des Hauptmanns von Kapernaum nicht und will ebenfalls das Wort als Zuflucht aufheben und sich in dessen Löchern verstecken: »er erzählte mir die Geschichte des Hauptmanns von Kapernaum, unzählige Male […] armer Jeno˝, der nicht fassen konnte, dass ich Kapernaum aufschrieb […] in die Ritzen von Kapernaum bin ich hineingeschlüpft« (131). Der Zerlegungsakt wird des Weiteren auch optisch visualisiert – einerseits in Zolis Erzählweise und Sprache, die vom Fehlen der Interpunktion geprägt ist, andererseits durch Wiedergabe der Buchstabentrennung beim Rätsellösen – als leitmotivartig (auch auf dem Buchcover) wiederholter Hinweis auf Zolis Art und Weise der Sprachwahrnehmung: -Z-R-E-N-J-A-N-I-Nich habe das Wort befragt, wieder und wieder habe ich es mir aufgeschrieben, meinen Bleistiftstummel habe ich befeuchtet, auf Papierfetzen, in mein Heft habe ich die Buchstaben geschrieben, sie untersucht, was alles in Zrenjanin drinsteckt, will ich wissen. (70)
Zolis Tätigkeit des Zerlegens ist nicht nur eine Spur seiner defensiven Flucht ins Refugium der Sprache, der in Buchstaben zerlegten und aufbewahrten Worte, sondern sie besitzt auch eine ichkonstitutive Funktion. Indem sich Zoli als Rätselkönig definiert, setzt er sich in jene göttliche Position des Mächtigen, die bis dahin nur seinen Vorgesetzten bzw. seinem Vater zuteil war und seinem Standpunkt und Platz im Staub entgegengesetzt ist: »ich saß auf meinem Thron, meine Krone das gelbe Küchenlicht über mir, oh ja, ich habe die Buchstaben in die weißen Feldern platziert, habe die Buchstaben festlich in die Lücken in mein Heft gemalt« (33). Zieht man dazu noch die Merkmale der Sprache des Rätselkönigs in Betracht, so wird offenbar, dass das Zerlegen jenem desautomatisierenden Moment der Kunst ähnlich ist, den Ter8zia Mora Deterritorialisierung nennt und, einer akkuraten Beschreibung von Zolis Tätigkeit gleich, wie folgt definiert: Deterritorialisierung, […] sagen die Gelehrten dazu, was Kunst macht. Die Welt, unser Material, aus seinen floskelhaften Zusammenhängen herauslösen […], sie in ihre Elementarteilchen zerlegen, […] sie zerfasern, sie denaturieren, sie zum Schmelzen bringen, und dann etwas von einer neuen Konsistenz, von einer anderen Kohärenz […] daraus kreieren – und es dadurch sichtbar machen. (Mora 2007 a: 10)
Wie Zoli die Worte in Buchstaben zerlegt und ihre Bedeutungen hinterfragt, um mit seinen neuen Worten eine neue Sprache zu schaffen, so werden im Text die
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scheinbaren Selbstverständlichkeiten von Machtgefügen und sprachlichen Phrasen infrage gestellt. Dem Rätsellöser ähnlich sieht sich Zoli permanent der Herausforderung gestellt, die Beziehung zwischen Signifikanten und Signifikat zu überprüfen. Die Problematisierung der Bezeichnungsfunktion von Sprache, der Entzug der referentiellen Eindeutigkeit, erfolgt dabei in zwei Bereichen: erstens durch die Konfrontation zwischen Zolis metaphorischer Rede (und Weltsicht) und dem Sprachmodus seiner Umgebung und zweitens durch die Spannung zwischen Zolis Namensgebung und den (umbenannten) Namen der Figuren (Anna nennt er »Hanna«, den Leutnant »Raubvogel« oder »Dekorierten«) bzw. durch seinen Umgang mit den ihn betreffenden Benennungsakten. Zolis metaphorisches Denken und seine Wahrnehmungsposition (der »Bodenblick«) sind auf seinen Kindstatus gegenüber Autoritäten zurückzuführen. Seine bildliche Sprache lässt sich aber auch als Pendant zu seinem Modus Vivendi als »Rätselkönig« zur künstlerisch-kreativen Tätigkeit der »deterritorialisierenden« Zerlegung betrachten. Bereits bei seiner Erzählung vom Motorradunfall bildet der scharfe Kontrast zwischen seinen Wortneuschöpfungen (sein Blut nennt er »Blumen«, »Vogelköpfe« oder »Blumenvögel«, den Arzt »Knoblauchdoktor« – 13) und den Worten der Außenwelt (»Ihr Junge blutet […] rasch, wir müssen einen Arzt rufen« – 13) den Hintergrund zu einem Angriff, zu Zolis Widerstand, der als Kampf mit Worten und um Worte beschrieben wird: [U]nd da, da bin ich hochgeschossen, habe den Arzt am Kittelkragen gepackt, habe meine Wörter auf seine weiße Redlichkeit gekotzt, habe mit meiner Wut seinen Scheitel verwirrt, und ich habe geschrien, warum ich geweint habe, dass sie mir meine Blumen … die Vögel … und meine Farben … und dass ich im Goldstaub gelegen … […] und mein Papa hat mich angeglotzt, Zoli, bist du das, aber das bist du doch gar nicht, du hast noch nie so geredet, Zoli, welcher Teufel ist in dich gefahren der Zoli-Teufel! der Staub-Teufel! der Zigeuner-Teufel! (14)
Die Infragestellung der Identität von Zoli durch den Vater ruft eine erzwungene Annahme der Fremdbestimmung als Selbstbestimmung hervor, ebenfalls in Form von Neologismen (Zoli selbst spricht vom »Zoli-Teufel« oder vom »ZoliLahm-Arsch-Takt« – 32), deren Ungewohntheit die automatisierten Bedeutungen jener Sprachschablonen und Topoi aufbricht, denen er unterworfen ist (»[der] Teufel ist in dich gefahren« – 14). Zoli verzichtet des Weiteren weitgehend auf den Gebrauch seines Eigennamens zur Selbstdefinition, und zwar nicht nur als er beim »Schläfenflattern« sich als »ich ohne Zoli« (18) empfindet oder sich Rätselkönig oder Schildkrötensoldat nennt, sondern u. a. als er die metaphorische Selbstaffirmation wiederholt als Wehren gegen die äußere Gewalt und Willkür einsetzt. Als er gegen seinen Willen in die Kaserne abgeholt wird, protestiert er beispielsweise mit dem Akt einer metaphorischen Ich-Nennung: »ich
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bin die Sonne im Garten, die Lichtflecken auf den frühen Morgenblättern, der tröpfelnde Regen, das bin ich, und das Wasser, das in einem wilden Guss die ausgetrocknete Erde belebt« (50). Nach Jeno˝s Tod geht er ähnlich vor: »der Arzt und Jeno˝ – wir lassen sie zurück / ich bin ein Baum im grünen Wald, wie schön wäre es, wenn jemand mich anzünden würde, und ich, ha ich würde diese ganze lumpige Welt in Brand stecken« – 143f.). Eine analoge Szene findet sich auch bei der Beschreibung des Marschierens, das Zoli »Staubtöten« nennt und demzufolge – als Konsequenz seiner paradigmatischen Position, seiner konkreten und sinnbildlichen Unterworfenheit (»ich warf mich auf den Boden« – 104) – als Bedrohung seines eigenen Ich (als Auslöschung des »Staub-Ichs« durch »Kert8sz«) erlebt: [W]ir treten mit unseren Stiefeln an Ort und Stelle […] das ist der Takt, in dem wir den Staub töten, den Boden -I-C-H-B-I-N-I-C-H-B-I-N-D-E-R-B-O-D-E-N-D-E-R-B-O-D-E-N-D-E-R-S-T-A-U-B-I-C-Hund der Leutnant tritt mich mit der Stiefelspitze, los Kert8sz, steh wieder auf (105).
Bei Zolis Gleichsetzung seines Ichs mit einem Baum, mit der Sonne oder mit dem Boden werden analoge Strukturen zwischen physischer Grenzverletzung bei gewalttätigen Übergriffen und der Grenzverletzung als (Sprach-) Kunst nebeneinandergestellt: Zolis Sprache stellt konventionalisierte Bedeutungen durch das Wörtlichnehmen von Metaphern223 und durch metaphorische Neuschöpfungen (»Lockenwicklerliebe«, »Blutbrett« – 31, »Schweineborstenpapa«, »Lachgeschosse« – 50) infrage. Seine Sprache wird vom Umfeld aber entweder nicht verstanden, oder wird er gezwungen, seine Metapher auf Vergleiche zu reduzieren: »ein Mensch ist einfach ein Mensch. […] trotzdem kann ich ein Baum werden, oder wenn du das besser verstehst, ich kann doch so sein wie ein Baum« (28). Der Zusammenhang zwischen Sprachwillkür und Subjektwerdung (bzw. deren Gefährdung) wird nicht nur anhand von Zolis metaphorischen Sprachgebrauchs, sondern auch durch die Problematisierung der Eigennamen in Zolis Geschichte thematisiert. Im ersten Zoli-Kapitel wird das erzählende Ich zwar dadurch, dass es bei seinem Namen gerufen wird, aus der Ohnmacht erweckt 223 Vgl. u. a. seinen Umgang mit dem Wort »Sack« (pejorativ für »Mann« bzw. »Mensch«, so im Roman auch für den »Fettsack« Jeno˝ – 138): »Ich habe Mehlsäcke geschleppt, stundenlang habe ich mich mit den Säcken unterhalten, ihnen Namen gegeben, mit dem Pfarrer habe ich gescherzt […] du heiliger Pfarrsack […] und der Herr Lehrer hat geschmunzelt […] und ich bin um den Gelehrtensack getanzt« (35). Vgl. auch sein Spiel mit der Wendung »keinen blassen Schimmer haben«: »ich hatte keine Ahnung, keinen blassen Schimmer – schön, dass Schimmer blass sind, blass, oder matt oder beides, ein nichtsnutziger, schöner, anmutiger Schimmer auf einem Blatt, auf einem kleinen Blatt, das wäre ich gern« (98).
Der Rätselkönig und die Gewalt der Sprache: Zoli als Sprachkünstler
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(»ich hörte meinen Vater, wie er meinen Namen rief […] er rüttelte an meiner Schulter, Zoli! Zoli!« – 12), doch verwandelt es sich bald (wie bereits erwähnt) in einen »Zoli-Teufel« bzw. »Ich ohne Zoli« (14, 18), später in der Kaserne in »Soldat Kert8sz« (145) und – den Abscheu und die Besorgnis der Elternausdrückend – in »Zoli-Zoli« (151). Der individuierenden und verortenden Funktion des Eigennamens ähnlich wird auch der Akt der Taufe subvertiert, als die väterliche Autorität mit seiner Gewalttätigkeit (seinem Alkoholismus und patriarchalen Erwartungen) konfrontiert wird: [S]tolz wie ein Pfau sei er gewesen auf dieses haarlose Etwas, auf dieses Nichts, aus dem etwas hätte werden können […] ein Bäcker mit eigenem Geschäft, […], das hättest du werden können, schluchzt Papa […] / und Papa fängt an zu lallen, ich taufe dich auf den Namen Zolt#n, Kert8sz Zolt#n! er begießt sich, mich von hinten, und das Bier nässt mein Haar. (19)
Die der Namensgebung implizite Willkürlichkeit wird gesteigert, als Zoli lediglich zum Objekt von physischer und verbaler Gewalt und zum Adressaten von Befehlen wird und als solcher auch seinen Namen und seine Benanntheit als Pflicht zur Unterwürfigkeit empfindet: [D]arf ich vorstellen? Kert8sz Zolt#n ist mein Name […] ich treibe meine Eltern in den Wahnsinn, wie meine Mutter sagt, weil ich nicht mehr arbeite, nicht mehr arbeiten kann im Militär hätte was aus mir werden können […] und Papa […] nennt mich Zoli-Zoli, was ich gar nicht ausstehen kann, weil es nach einem Namen klingt und einem Ausrufezeichen. (151)224
Zoli wehrt sich auf seine Weise gegen die Gewalt, indem er die Verbindlichkeit des Namens und der Bezeichnung bricht durch seine Tätigkeit als Rätselkönig, der Wörter zerlegt und schafft und Annas Namen verändert: Papa kocht die Suppe, die ich dann in mich hineinlöffle, sicher, ich löffle in mich hinein, wie ich alle Wörter und Sätze und Silben in mich hineinlöffle, um sie dann zu platzieren, in den Lücken, und Vater jammert, er müsse Anna um Hilfe bitten, wegen mir! ja, Hanna müsste unbedingt und auf der Stelle hier sein … (151f., kursiv E.P.)
Über die Hinzufügung des »H« zu ihrem Namen durch Zoli reflektiert die andere Erzählerstimme charakteristischerweise bei seinem Grab, als sie Zolis Namen (bzw. die Bedeutung des Verbs »ruhen«) in der Grabinschrift hinterfragt und
224 Die Willkürlichkeit und die Willkür der Erwartungen der namensgebenden Eltern spiegelt sich auch in dem Wortspiel, dessen Möglichkeit auf der (nicht vollständigen) Homonymie des Namens »Zoli« und der Aufforderung »soll ich« beruht: »sie [die Mutter] sagt es in mein Ohr, ich soll mich benehmen, ich soll ich soll ich soll, nein, es kommt kein Wort über meine Lippen« (153).
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den Namen als leeres Bezeichnendes mit seiner Rolle in der Evokation (in Zolis Wachrufen durch Wiederholung seines Namens) konfrontiert: Du hast mich immer »Hanna« genannt, gesagt, dass das »h« die feinste Möglichkeit sei, sich hinzusetzen, sich auszuruhen. […] / Kert8sz Zolt#n. Vielleicht muss ich den Namen so lange aufsagen, bis ich deine Stimme wieder höre. Auf dem Holzkreuz steht dein Name in einem Hauptsatz. Hier ruht Kert8sz Zolt#n. Ein falscher Satz auf einem billigen Holzkreuz. Aus Platzmangel, möglicherweise. Wir hoffen, dass Kert8sz Zolt#n hier ruht. Wenigstens das hätte man schreiben können. (29)
Hanna ist beim Grab sowie beim Erzählen – wie das bereits im ersten Kapitel der Fall ist225 – auf Zolis Anrufbarkeit als Du angewiesen, und diese Dialogizität erweist sich als Voraussetzung des Verstehens, als Motivation von Hannas Reise und Erzählen sowie letztendlich als Gegenpol zur verbalen Gewalt der diskriminierenden Rede,226 welche die Wechselrede verhindert: Warum steht man an einem Grab, warum stehe ich hier und versuche mir vorzustellen, wie sie dich begraben haben, wie die Weiterlebenden dich zu Grabe getragen haben? Ich weiß nicht, ob du mich hörst, aber ich spreche mit dir. Ich möchte wissen, wann dein Sterben begonnen hat, darum bin ich hier. (29)
Die Dialogizität und das Verstehen – neben der Dialektik von Verbergen und Sichtbarmachen – bilden neben der Gewalt der Sprache und der Sprache der Gewalt die thematischen Schwerpunkte des Romans, die auch für seinen narrativen Diskurs konstitutiv werden.
225 Das Anfangskapitel wird auf den ersten Seiten in dritter Person erzählt – die Narration wird dann von Zolis Stimme und von Hanna als fokalisierendes Ich unterbrochen und dann von der Anrede der Titelfigur als Du ergänzt: »Nicht wahr, Hanna, nächstes Mal schafft er es? Zoli blickte zu mir, und weil ich so überrascht war, dass Zoli mich ansprach, konnte ich nicht antworten. […] Zolt#n. Der Sohn meiner Tante Zorka. Ich habe dich vor Jahren zuletzt gesehen oder gestern, als du mir wieder erschienen bist« (8f.). 226 Zur »Grammatik« diskriminierender Rede vgl. Sybille Krämer : »Vorab ist auffallend, dass die diskriminierende Rede keineswegs zum Weiterreden, zur Fortsetzung des Gesprächs, zum Dialog animiert. Vielmehr umgekehrt: verletzende Worte bringen die damit Angegriffenen oftmals zum Verstummen und Schweigen, reizen auch – in einer Art von Gegenwehr – zum nichtverbalen Gewaltausbruch. Die diskriminierende Rede entzieht also der Wechselrede, dem Dialog gerade den Boden: Sprache wird also zu einem Instrument, um ein Weitersprechen eher zu verhindern. Gewaltsame Sprache tendiert dazu, das Antworten im Medium der Sprache zu unterbinden« (Krämer 2005: 9f.).
Verbergen, Sichtbarmachen und die Problematik des Verstehens im Roman
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Der Schildkrötensoldat: Verbergen, Sichtbarmachen und die Problematik des Verstehens im Roman Wie Hannas Absicht und Motivation, ihre Suche nach einem sinnstiftenden Anfang vom Ende (»Ich möchte wissen, wann dein Sterben begonnen hat«), Zolis Reflexion auf die wiederholte Meinung des Vaters von den Ursachen seiner Andersheit entspricht (»seit ich vom Motorrad gefallen bin, hat das Zittern bei mir angefangen, so Papa, der Anfang vom Ende« – 18), so finden sich im Roman mehrere Analogien zwischen den beiden fokalisierenden Figuren. Als Kinder fliehen beide »vor dem lauten Redeschwall von Lajos und Zorka« (25), und später als Lehrerin schreibt Hanna alles in ihr Notizbuch (ein Pendant zu Zolis Rätselheftchen) auf. Sie braucht genauso wie Zoli Medikamente (sie schluckt Beruhigungstabletten), sie fühlt sich dem Cousin – und Woyzeck – gleich der Machtsprache des Militärs und der Medizin ausgeliefert227 und hat analog zu Zoli surreale Visionen (sie hört und sieht den Toten und verwandelt sich in ihn, als sie sich seine Augen einsetzt – 99). Obwohl Hannas Sprache im Vergleich zu den Zoli-Kapiteln eine alltäglichere ist (ihr Text ist durch Interpunktion und in nummerierte Kapitel gegliedert), ist ihr Blick dem von Zoli ähnlich ein analytischer,228 sie verwendet auch Metaphern (u. a. zur Beschreibung von Zoli als »Die Sonne, um die sich der Hund linksherum, rechtsherum drehte« – 8) und kämpft um die richtigen Worte: Wenn ich nur etwas über seine Augen sagen könnte, mehr als »seine Augen waren blau«, das Himmelblau von wolkenlosen, nicht allzu heißen Sommertagen, an denen die Blumen, die Sträucher, das Gras noch nicht verdorrt sind; wenn ich doch einen passenden Vergleich finden könnte, blau wie – und der Vergleich müsste einmalig sein. (23)229 227 Hanna erkrankt beinahe (hat insomnische Symptome), als sie sich mit der psychologischen Bewertung von Zolis Arbeitsfähigkeit und mit dem Gutachten vom Amt für Arbeitsgesundheitsschutz auseinandersetzt und dabei nicht die Machtsprache, sondern lediglich das Gefühl der Unterworfenheit an ihre Autorität versteht: »Die Krankheit erfüllt nicht die Voraussetzungen, die in den Vorschriften über infolge Berufskrankheit auftretende Erkrankungen festgelegt wurden. Daraus folgt, dass es sich hier nicht um eine Berufskrankheit handelt. / Ich legte mich aufs Bett und verstand, dass es genügend Gründe gibt, schlaflos zu sein« (93). 228 Hanna reflektiert Zoli ähnlich über die Geeignetheit der Wörter (»oft [ist] von Schicksal die Rede […], wenn es eigentlich darum ginge, zu schweigen. Oder zu erzählen« – 11), sie vergleicht Zolis Epilepsie mit der von Dostojewski (91) und versucht, die Welt der Kaserne mithilfe von Ödön von Horv#ths Ein Kind unserer Zeit zu »entziffern« (43). 229 Das Wort »blauäugig« wird in Hannas Text doppeldeutig verwendet: In übertragener Bedeutung steht das Attribut für Zolis kindliche Sichtweise, seine verstärkte Wahrnehmung, die von der Umwelt als Naivität oder »Blödsinn« stigmatisiert wird, im konkreten Sinn verweist Zolis ungewöhnliche Augenfarbe auf seine Einheit mit dem Himmel: »Den wolkenlosen Himmel musste Zolt#n getrunken haben, mi seinem endlosen Blau« (7). U. a. diese
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»Ich ohne Zoli«, »König aller Kreuzworträtsel« und »Schildkrötensohn«
Als Hanna anhand der Beschreibung von seinem »beharrliche[n] Schauen oder Nicht-Wegschauen« (ebd.) auch später immer wieder über ihre ungenügenden Worte klagt, wird ihr bewusst, dass Zolis Blick dem der Kunst ähnlich das Verborgene sichtbar macht: [J]e näher ich kam, desto klarer sah ich die Grundierung seiner Augen – und das betörende, alles überglänzende Blau war nur ihre Oberfläche. Ich erkannte […], dass alles in Zolis Augen hineinfloss, ungehindert, ungefiltert. Er nahm alles auf, was da war, und dazu gehörte auch das Verborgene, das, was im Verborgenen bleiben sollte. Sein Blick wusste etwas, was wir anderen nicht wussten. (24)
Auch ihr Wille zum Wissen und Verstehen erscheint als Zwang zur Enthüllung des Verdeckten, zum Eindringen in das Versteckte und Verstellte – sei es im physischen Sinn bei der Betretung der Kaserne, die ihr als Ausländerin verweigert wird, oder in abstrakterer Bedeutung, als sie militärische und medizinische Gutachten zu entziffern versucht, hinter den »Vorhang der Armut« blicken (11) oder die verborgenen Spuren der Gewalt am Leib erfahren will: Lassen Sie mich bitte rein, damit ich alles besser verstehen kann. Zeigen Sie mir doch den Schlafraum, die Kantine […]. Ich möchte die Schritte hören, die Befehle […]. Ich möchte es trotzdem sehen […]. Sie wollen mir bestimmt nicht zeigen, in welchen Ecken es nach Urin stinkt. Wo die Soldaten sich übergeben. Wo und wie oft sie masturbieren. Wie oft kommt es vor, dass einer der Soldaten an einem Baum hängt? […] Bitte, lassen Sie mich rein, damit ich sie endlich verstehe, die Prinzipien des Tötens. (120)230
Die Dialektik von Verstecken-Verstellen-Begraben und Erblicken-EindringenSichtbarmachen verweist nicht nur (im wörtlichen Sinn oder auf die Sprache bezogen) auf Leitmotive des Romans, sondern auch auf allgemeine Grundstrukturen des Verstehensaktes, die von den Eigenschaften der Schildkröte metaphorisch modelliert werden. Farbe veranlasst die Erzählerin, auf den Kontrast zwischen Zolis Position und der kriegerischen Gewalt zu reflektieren: »dieses Blau, das so blau bleibt […] und die Welt so erscheinen lässt, als wäre sie ein für die Ewigkeit gemaltes Gemälde, so unwirklich schön … und nur ein paar Kilometer weiter entfernt wird geschossen, gemordet, Befehle werden ausgeführt, und nichts und niemand und keine Schönheit hat offenbar die Kraft, auch nur einen Schuss zu verhindern« (66f.). 230 Zolis Sinnsuche, seine Tätigkeit des Zerlegens und Befragens einzelner Wörter wird auf ähnliche Weise als Eindringen verbildlicht: »-Z-R-E-N-J-A-N-I-N-/ ich habe das Wort befragt, wieder und wieder habe ich es mir aufgeschrieben […] in mein Heft habe ich die Buchstaben geschrieben, sie untersucht, was alles in Zrenjanin drinsteckt, will ich wissen« (70). Hanna betont mehrmals, dass die Gewalt der Balkankriege »unsichtbar« und unvorstellbar ist: »Ich brauche meinen Aufheller, weil alles unerträglich schön ist […] weil das Blau blau bleibt, obwohl die Sonne untergeht […] und die Welt so erscheinen lässt, als wäre sie ein für die Ewigkeit gemaltes Gemälde […] – und nur ein paar Kilometer weiter entfernt wird geschissen, gemordet« (67); »[S]eit einem Jahr [ist] eine haltlose Zerstörung in Gang […], ein noch vor Kurzem von niemandem für möglich gehaltenes Gemetzel« (69).
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Als Zoli in die Kaserne eingezogen wird, wird seine Subjektposition im Bekenntnis zum Soldatensein sofort erschüttert, indem er zum Gewaltobjekt herabgewürdigt wird: »In Zrenjanin war ich Soldat, sie haben mich geholt, sie haben mich mit Stiefelfüßen geholt« (48). Seine Haltung wird dementsprechend als die einer sich wehrenden Schildkröte beschrieben: »ich duckte mich, unter meine Arme duckte ich mich, mein Schirm schützte mich vor dem lauten Regen« (49) – demzufolge nennt ihn zunächst die Mutter »Schildkrötensohn« (ebd.), der sich in einen »Schildkrötensoldat[en]« (ebd.) verwandelt. Diese Position nimmt er auch später ein, so u. a. beim Besuch des Leutnants in der Scheune der Kert8sz’ (»ich ziehe meinen Hals, meinen Hals ziehe ich ein, krümme meine Zehen unter dem Tisch« – 153f.), als ironische Imitation der Bedeutung des militärischen Terminus »Schildkrötenformation«, eines Begriffs für die Deckungshaltung römischer Soldaten. Zolis Ge- oder Verborgenheit in der Schildkrötenposition steht jedoch nicht nur für die schützende Unsichtbarkeit, die in dem Roman, wie erläutert, die tabuisierten, sprachlichen oder sozialen Gewaltstrukturen charakterisiert, sondern auch für das (desautomatisierende) Sehen, das ihre Oberfläche aufbricht und sie sichtbar macht. So repräsentiert die kleine Holzschildkröte in der Mitte von Zolis kindlicher Schachtelwelt nebst Schutz durch ihre Statik und Beständigkeit auch die widerständische Kraft des Blickes des (Sprach-) Künstlers: Jener Sommer, als Zoli eine kleine Holzfigur aus seiner Hosentasche zog, sie in beiden Händen hielt und dann in die eine, in die nächste und die übernächste Schachtel stellte […] eine zierliche Schildkröte, von ihm geschnitzt, die nicht auf Wanderschaft gehen würde […] / Und manchmal […] passierte es, dass die Schildkröte ihren Hals streckte, ihren Kopf unendlich langsam drehte, ihren Blick auf uns richtete, strahlend stolz. Sie lächelte uns sogar an. Es glinzert aus ihren Augen […] und als die Schildkröte wieder erstarrt war, unterhielten wir uns leise darüber, über dieses »es« und über dieses »glinzern« und niemand außer uns wusste, dass dieses Tier die ganze Welt auf seinem Panzer trug. (163f.)
Hanna kann trotz dieses gemeinsamen Wissens Zoli nicht immer verstehen,231 und als sie sich bemüht, die Fremdheit des Verborgenen und Unsichtbaren im Akt des Sehens und Verstehens aufzuheben, wechselt sie von der dritten Erzählperson in die zweite Person: Sie sieht und spricht (den toten) Zoli beinahe in jedem Kapitel als Du an. Diese Dialogizität als Grundlage des Verstehens bildet eine Opposition zur Sprache der Gewalt – in der Kaserne verursacht das Unverstehen Zolis Anfälle (»meine Schläfen haben geflattert wie so oft, […] wenn ich […] nichts mehr begreife« – 75), und in der Sprache des Befehls steht das 231 Vgl. die folgenden Textstellen: »Und mir [Hanna] ist ganz heiß geworden, weil ich dich [Zoli] nicht verstanden habe, weil ich dich verstanden habe« (28); »Aber Hanna, du weißt doch, wovon ich spreche? / Ich wusste es und wusste es nicht« (10).
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Wort »Verstanden« lediglich als leeres Signifikat für die Unverständlichkeit: »wenn man einen Alarm hört […] dann ist es Pflicht, null Komma plötzlich die Uniform anzuziehen […] verstanden? /und das war nun sehr merkwürdig, dass alle aus einem Hals aus einer Kehle ›Verstanden‹ riefen« (53f.). Dialogizität charakterisiert aber nicht nur Hannas Erzählen über Zoli, sondern auch seine Texte, was seiner ambivalenten Position als sprechender Toter entspricht. Der von Hanna angesprochene (und auch gesehene) Zoli spricht zu ihr zwar nicht, in den mit Kreuzworträtsellösungen betitelten Zoli-Kapiteln redet aber Zoli. Seine Figur lässt sich dabei einerseits wie erwähnt »unten« verorten: Seine Stellung am Boden hat einen konkreten Sinn – er ist ein Kind, liegt im Grab, wird in den Staub getreten, fällt ohnmächtig nieder – und eine abstrakte Bedeutung – er nimmt die Welt »von unten«, mit einem desautomatisierenden Blick wahr. Andererseits wird Zoli am Anfang und am Ende des Romans auch eine entgegengesetzte Stellung zugesprochen: Seinen Blick führt Hanna auf seine Einheit mit dem Himmel zurück (»Den wolkenlosen Himmel musste Zolt#n getrunken haben, mit seinem endlosen Blau« – 7). In der Schlussszene verbindet sie anhand der Frage »Wem gehört eigentlich der Himmel?« (173) Zolis Ausbruchswunsch (»Ich will raus, an die Luft« – ebd.) mit seiner Freiheit nach dem Tode und im Allgemeinen (»Die Luft über deinem Grab gehört niemandem« – 173). Bei ihrer letzten Handlung an Zolis Grab äußert und erfüllt Hanna wieder ihren Wunsch nach Verstehen, nach Eindringen in das Verborgene, nach einem Gespräch mit seinem Du: »Und ich knie nieder, fange an, mit dem Stiel zu schreiben. […] Zusehen, wie die Buchstaben einsickern, die Erde beleben. Das Geschriebene – ein Rinnsal Sinn. Worte für dich« (173). Hanna wird damit letztendlich dem »Kert8sz« (ungarisch »Gärtner«) Zoli ähnlich auch zu einem Gärtner, und zwar in einem Garten Eden, wo die schöpferische und transzendierende Kraft der Sprache sichtbar wird. Nicht nur Zolis Neuschöpfungen lassen sich mit dem göttlichen (und auch menschlichen, auf jeden Fall schöpferischen) Akt der Namensgebung in der Schöpfungsgeschichte verbinden, sondern auch die Bewegung der Buchstaben an und in Zolis Grab kann als Hinweis auf die Zeit und Raum transzendierende Kraft der Schrift gelesen werden. Die Schrift bzw. die Buchstaben verfügen auch über ein ichkonstitutives Potenzial, erstens bei Zolis Tätigkeit und Selbstdefinition als Rätselkönig bzw. bei seinem »Sprechen« nach dem Tod (»im Himmel«), zweitens als Zoli von Hanna als »Du« evoziert wird (»Worte für dich«). Dass diese Art Dialogizität nicht nur in dem fiktionalen Rahmen, in der Beziehung von Hanna und Zoli, sondern im Allgemeinen als Medium und Modus der Sinnsuche, als Voraussetzung jeglichen Verstehens und auch als Konstitutionsweise der Dialogpartnerfungiert, verrät auch ihre Rolle in Zolis Erzählungen. Zoli wird nämlich nicht nur in den Hanna-Kapiteln als Du angesprochen, sondern er selbst spricht auch ein Sie an, gegenüber dem er sich um die Ver-
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ständigung seiner Geschichte bemüht und dabei die erwähnte Rolle des Dialogs im Verstehensprozess offenbar macht – wie es bereits im ersten Zoli-Kapitel lautet: »warum er [der Vater] das hätte tun sollen? das werde ich Ihnen sicher noch erzählen, wenn Sie Geduld haben, und das haben Sie doch bestimmt […]. [I]ch wusste jetzt, woher meine Blumen kamen, das muss ich Ihnen erzählen« (12f., kursiv jeweils E.P.). Ähnliche Fragen und Reflexionen über den Erzählakt und das Verstehen werden auch des Weiteren gestellt: »der Anfang vom Ende, so Papa, […] und wissen Sie, was er damit meint?« (17); »sie [die Mutter] hat mich nie von irgendwo rausgeholt, hören Sie?« (95); »Milosˇ […] fragt, was ich tue, und Sie verstehen doch, dass ich nicht sofort antworten kann« (101); »also beim Reden, da muss man ja auch zuhören, das ist es ja, was ich Ihnen sagen will« (129); »Sie wollen wissen, was das heißt? Ich weiß es nicht, auch wenn Sie sehr viel Geduld aufbringen, werde ich es Ihnen nicht genau sagen können« (18). Bei diesen Anreden ist zunächst anzunehmen, dass die Figur sich an den Rezipienten wendet, dass es sich also um eine Parabase handelt. Die adressierte Instanz erweist sich darüber hinaus – dementsprechend, dass Zoli nach dem Tod spricht – auch als Gott, dessen Standpunkt »oben« ist (143), vor dem Zoli eine Beichte ablegt (»ich muss es Ihnen beichten« – 95, »ich werde das alles nochmals sagen, ausspucken, vor jedem Richter und allen Engeln, vor Ihnen und Ihrer Gnade!« – 156), der eine transzendente Realität darstellt (»tatsächlich fühle ich mich golden, verbunden mit dem Geschmeide des Universums, mit Ihnen!« – 100), der allwissend ist (»niemand merkt es, dass ich nicht mehr stottere – obwohl Sie sich alles merken müssten, merken nicht einmal Sie es« – 152) und der berechtigt ist, ein Urteil zu verkünden (»ich muss dich ein Urteil über mich verkünden, wenn es sonst niemand tut, nicht einmal Sie verurteilen mich!« – 158). Durch diese Analogisierung werden die Autoritäten Gottes und des sinnsuchenden Lesers als Dialogpartner miteinander verbunden – die Relevanz der Religion als Subtext besteht nicht nur in ihrer direkten Thematisierung (z. B. anhand der Opferproblematik),232 sondern vielmehr im Aufzeigen der Verknüpfungen zwischen Sprache und Schöpfung und der Dialogizität des Verstehens und der Kommunikation zwischen Menschen, zwischen Mensch und Gott sowie zwischen Leser und Text. Dadurch lässt sich Nadj Abonjis Roman, wie am Anfang vorausgeschickt, jenseits der Folie eines »Balkan-Romans« oder 232 Zolis Leiden bezieht Hanna explizit auf den Opfertod des Erlösers, als sie anhand der Tatsache, »dass der Kreuzweg Christi direkt an deinem Grab vorbeiführt« über die Grausamkeit der Erlösung reflektiert. Der Grund für die Analogie zwischen Christus und Zoltan wäre in Hannas Interpretation die Fremdbestimmtheit, die sowohl Zoli charakterisiert (er unterliegt den Erwartungen der Eltern, der Militärwillkür, den sprachlichen Ausschlussmechanismen und als »ich ohne Zoli« auch der Krankheit) als auch Christus (»Kann man sich ein grausameres Opfer vorstellen als den gekreuzigten Jesus, der keinen eigenen Willen haben darf ?« – 29).
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»Anti-Kriegsromans« als Text über Sprache und Verstehen interpretieren – er wird zur Literatur über Literatur und Literarizität.
Die Poetik der Grenzüberschreitung in Ilma Rakusas Mehr Meer. Erinnerungspassagen
Dass Rakusas Mehr Meer (2009) in vielfacher Hinsicht zur umfassenden Untersuchung der literarischen Grenzgängerproblematik anregt, verwundert niemanden, der das Leben und die Tätigkeit der Autorin kennt. Die in Zürich lebende Schriftstellerin und promovierte Literaturwissenschaftlerin lehnt jegliche Formen verbindlicher nationaler Zugehörigkeiten ab und definiert sich über ihre »Luftwurzeln« (Rakusa 2006 a: 9). Sie wurde in der Slowakei als Kind ungarischer und slowenischer Eltern geboren, verbrachte ihre Kindheit u. a. in Budapest, Ljubljana und Triest, erlernte die deutsche Sprache als Schülerin in der Schweiz und übersetzt u. a. aus dem Französischen, Ungarischen, Russischen und Serbokroatischen. Nicht aber Rakusas Mehrsprachigkeit und Biografie, sondern vielmehr ein – aus ihnen resultierendes und der Autorin durchaus bewusstes – dialogisches und dynamisches Verhältnis zum Sein, eine durch Verfremdung und Grenzgängerbewegungen konstituierte literarische Wahrnehmung sind der Grund dafür, dass ihre literarischen Arbeiten nicht nur etwa die räumliche, zeitliche und sprachliche Zwischenräume bestimmende, sprachlich-kulturelle Pluralität und Differenzerfahrungen beschreiben, sondern auch in ihrer Form Verfremdung bzw. den »Dialog mit fremden Texten« (Rakusa 2006 a: 16) zum Konstruktionsprinzip machen. Als Rakusa sich in diesem Sinne als »schreibende Nomadin. unterwegs mit einem work in progress« (Rakusa 2006 a: 16) definiert, orientiert sie sich an den »Topoi des Grenzgängertums: an Abgrenzung, Transgression und Demontage ebenso wie an der Herstellung von Zusammenhängen« (Rakusa 2006 a: 10): In der Dialektik von Grenze und Grenzenlosigkeit kommt der Grenze eine dynamischdramatische Bedeutung zu. Sie ist Ort der Passage, des Transports und Transfers, sie ist Knotenpunkt, Kreuzweg, Durchgangsschleuse. An ihr wächst das Bewußtsein für Andersheit und der Wunsch nach Transgression. Die Grenze sensibilisiert für Vielfalt und für die Spannung zwischen Innen und Außen, zwischen Vertraut und Fremd, zwischen Nah und Fern. Für diese Sensibilisierung bin ich dankbar. Denn zweifellos hat sie dazu beigetragen, daß ich zur schreibenden Grenzgängerin und Übersetzerin geworden bin. (Rakusa 2006 a: 10)
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Durch Rakusas Bezugnahme auf die Dialektik der Grenze als Schranke und Brücke und ihre Verbindung mit der Dialogizität der Dichtung bzw. mit dem Konstruktcharakter und der Transitorität von Identität und Sprache lassen sich der Begriff der Grenze und davon untrennbar auch die Termini Grenzsituation und Grenzübertritt, die Bezeichnungen für Prozesse der Aus-, Ein-, Be- bzw. Abgrenzung, oder sogar die verwandten, etwas exakter definierbaren Kategorien Grenzraum, Grenzexistenz und Schwelle – die zwar in der Literatur- und Kulturwissenschaft sowie in der politischen- und Geschichtsphilosophie zuletzt eine erstaunliche Karriere gemacht haben, aber bereits seit der Antike den Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion bilden233 – im Kontext der transnationalen Migration und ihrer Literatur konkretisieren. Unternimmt man nämlich als Literaturwissenschaftler den Versuch, sich dem Thema Grenze als soziologischer Tatsache im Sinne Simmels234 und der Grenzüberschreitung in der Literatur zu widmen, so ergibt sich die Herausforderung nicht nur aus der nahezu unüberschaubaren Ansatzpluralität oder aus der offensichtlichen Komplexität des Begriffes der Grenze. Die Perspektive liegt vielmehr in der auch von Rakusa angesprochenen eigenartigen Dialektik, die dem Grenzbegriff innewohnt und welche vor einem postkolonialen, poststrukturalistischen Hintergrund gerade in der Auslegung von Grenzgängergeschichten auch literaturwissenschaftlich fruchtbar gemacht werden kann. Der erste Aspekt der Ambivalenz der Grenze bezieht sich auf das Verhältnis von Grenze und Grenzüberschreitung. Grenzen entstehen und werden als solche 233 Zu der vieldiskutierten topologischen Wende bzw. dem spatial turn in diesem Kontext vgl. Homi K. Bhabhas Ansatz eines third space (Bhabha 2000), James Cliffords Konzept der borderlands (Clifford 1997), Michel Foucaults Beobachtungen über die Epoche des Raumes (Foucault 1993) oder Sigrid Weigels Studie über den topographical turn (Weigel 2002). 234 Den Zusammenhang von kulturellen Praktiken, menschlichem Denken, Bewusstsein oder Begrifflichkeit und dem Prozess der räumlichen (der konkreten politischen oder auch der unsichtbaren, symbolischen) Grenzziehung kann man am anschaulichsten mit einem Zitat von Georg Simmel aus dem Jahr 1908 erläutern: »Der Begriff der Grenze […] bezeichnet oft genug nur, dass die Sphäre einer Persönlichkeit nach Macht oder Intelligenz, nach Fähigkeit des Ertragens oder des Genießens eine Grenze gefunden hat – aber ohne dass an diesem Ende sich nun die Sphäre eines andren ansetzte und mit ihrer eigenen Grenze die des ersten merkbarer festlegte. Dieses letztere, die soziologische Grenze, bedeutet eine ganz eigenartige Wechselwirkung. Jedes der beiden Elemente wirkt auf das andre, indem es ihm die Grenze setzt, aber der Inhalt dieses Wirkens ist eben die Bestimmung, über diese Grenze hin, also doch auf den andren, überhaupt nicht wirken zu wollen oder zu können. Wenn dieser Allgemeinbegriff des gegenseitigen Begrenzens von der räumlichen Grenze hergenommen ist, so ist doch, tiefer greifend, dieses letztere nur die Kristallisierung oder Verräumlichung der allein wirklichen seelischen Begrenzungsprozesse. Nicht die Länder, nicht die Grundstücke, nicht der Stadtbezirk und der Landbezirk begrenzen einander ; sondern die Einwohner oder Eigentümer üben die gegenseitige Wirkung aus, die ich eben andeutete. […] Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt« (Simmel 1983: 467, kursiv E.P.).
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nur wahrgenommen, indem und solange sie überschritten werden (können). Michel Foucault stellt sogar die etwas pointiert formulierte Frage: »Hat denn die Grenze eine wahrhafte Existenz außerhalb der Geste, die sie souverän überschreitet und negiert?« (Foucault 1974: 37). Die Überschreitung hat in diesem Sinn eine konstitutive Bedeutung: Sie ist in die Grenze »eingebohrt«, denn »[d]ie Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wirkliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung« (ebd.). Die Überschreitung bejaht das begrenzte Sein, aber auch »jenes Unbegrenzte, in welches sie ausbricht und das sie damit erstmals der Existenz erschließt« (ebd.: 38).235 Die konstitutive Funktion der Grenzziehung und der Grenzüberschreitung erschöpft sich aber nicht in der von Foucault beschriebenen »Affirmation der Teilung«. Abgesehen davon, dass Grenzen durch Ausschließen immer auch etwas einschließen, durch Abgrenzung gewisse Sachverhalte bestimmbar machen, zustande bringen oder Ordnungen stiften,236 sind Grenzräume immer auch jene Orte, die die Möglichkeit der Grenzverschiebung, die diskursive Konstruiertheit oder die Kontingenz der Grenzziehungen erkennbar machen. Die Grenzzonen werden infolge der Grenzbewegungen zu Orten des Dazwischen, zu Schauplätzen der Selbstüberschreitung, der Hinterfragung, der Überwindung der umgrenzten Ordnung. Der Grund hierfür ist freilich nicht nur der Grenzübertritt, sondern auch – und damit kommen wir zum zweiten Aspekt der Dialektik der Grenze – das Aufeinandertreffen von Kulturen, von Sprachen und Identitäten, ihr permanenter Austausch und ihre Vermischung sowie ihre beweglichen Wechselbeziehungen, die völlig neue Formationen hervorbringen. Grenzräume sind demzufolge, so Homi K. Bhabha, hybride Orte, »von woher etwas sein Wesen beginnt«.237 Diese Interpretation der Grenzräume eher als Orte der Begegnung, der Vermischung und des Übergangs denn als klar gezogene Trennlinien entspricht übrigens dem ursprünglichen Raumbild, das an den Begriff der Grenze geknüpft wurde.238 Betrachtet man die 235 Vgl. hierzu auch Rakusa: »Zwiespältig, diese Grenzen. Sie waren befremdlich, unheimlich, angsteinflößend, aber auch faszinierend. Ich erlebte sie als Orte der Spannung, die meine Neugier weckten. Zum einen bildeten sie Barrieren zwischen Vertrautem und Unvertrautem […]. Zum anderen waren sie Übergänge, Reibungs- und Berührungspunkte. Ich ahnte ihr Geheimnis, spürte aber auch instinktiv ihre Relativität« (Rakusa 2009: 74). 236 Vgl. hierzu auch Foucaults Metaphorik der kulturellen Grenzziehung sowie seine Gedanken über die Konstruktion kultureller Identität durch Abgrenzung und Zurückweisung des Anderen im Vorwort zu Wahnsinn und Gesellschaft (1961). Vgl. Frank 2006: 31f. 237 Bhabha 2000: 7. Zur Interpretation der Literatur der Grenze im Kontext von Bhabhas Theorie vgl. auch Lamping 2001: 17. 238 Monika Schmitz-Emans bespricht ausführlich, wie in der Frühgeschichte der Etablierung des Konzepts der Grenzziehung im Deutschen zunächst im Grenzkonzept ein »Beiderseits« impliziert wurde – nach der Politisierung des primär räumlichen, dann temporalisierten Begriffes der Grenze dieses Konzept von der Vorstellung einer Trennlinie (Front, frontier)
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Grenzzonen also als ambivalente, hybride Räume des Übergangs und der Kulturbegegnung, wo Fremdes und Eigenes sich wechselseitig durchdringen (wo ihre Dichotomie auch aufgehoben wird), so kommt man auch der anthropologischen Dimension der dem Grenzbegriff innewohnenden Gegensätzlichkeit nahe. Diese anthropologische Dimension kann wiederum mit Rückgriff auf Simmels raumsoziologisch relevante Untersuchungen beschrieben werden. So schreibt Simmel in seinem Essayband Brücke und Tür : Weil der Mensch das verbindende Wesen ist, das immer trennen muss und ohne zu trennen nicht verbinden kann – darum müssen wir das bloße indifferente Dasein zweier Ufer erst geistig als eine Getrenntheit auffassen, um sie durch eine Brücke zu verbinden. Und ebenso ist der Mensch das Grenzwesen, das keine Grenze hat. Der Abschluss seines Zuhauseseins durch die Tür bedeutet zwar, dass er aus der ununterbrochenen Einheit des natürlichen Seins ein Stück heraustrennt. Aber wie die formlose Unendlichkeit des Seins erst an seiner Fähigkeit der Begrenzung zu einer Gestalt kommt, so findet seine Begrenztheit ihren Sinn und ihre Würde erst an dem, was die Beweglichkeit der Tür versinnlicht: an der Möglichkeit, aus dieser Begrenzung in jedem Augenblick in die Freiheit hinauszutreten. (Simmel 1957: 6f.)239
Diese Dialektik von Trennen und Verbinden als Grundzug des menschlichen Wesens entspricht der bereits erwähnten Ambivalenz von Grenzziehung und Grenzüberschreitung, von Abgrenzung und Verbindung bzw. Vermischung in den Grenzräumen. Die anthropologische Bedeutung der Grenze erschöpft sich allerdings nicht in dieser Analogie. Bernhard Waldenfels erläutert in Anlehnung an Walter Benjamins Begriff der Schwellenerfahrung die Relevanz der Grenzziehung in dem Zustandebringen der Lebenswelt, in der Konstruktion des Weltganzen. In wiederkehrenden Übergangserlebnissen, wie beim Abschied, Einschlafen, Erkranken, Wiedersehen, Erwachen oder Gesunden, wird nach ihm unsere Freiheit durch Fremdartiges herausgefordert: Das Fremdartige und Außerordentliche bricht auch bei »unwiderruflichen Lebenszäsuren wie Geschlechtsreife, Berufseintritt oder Altersversagen« in unsere Welt und unser Selbst ein, wie auch bei Kriegsausbrüchen, Revolutionen und »schließlich bei Grenzerfahrungen wie Geburtstraumata und Todeserwartung« (Waldenfels 1990: 32). Diese Schwellenerfahrungen weisen, so Waldenfels’ Fazit, darauf hin, »daß unsere Welt durch Eingrenzung von Vertrautem und Ausgrenzung von Unvertrautem zustande kommt. Das Ganze unserer Lebenswelt zerteilt sich […] in ›Heimwelt‹ und ›Fremdewelt‹« (ebd.). Grenzen, Grenzziehungen und Grenzabgelöst wurde, die auf der strikten Trennung und Gegenüberstellung von Fremdem und Eigenem beruht (Schmitz-Emans 2006: 21f.). 239 Vgl. hierzu auch Lamping 2001: 15. Zu Simmels Überlegungen über den Zusammenhang zwischen »äußerer« Grenzziehung und »innerer« Einheit einer Gemeinschaft vgl. Frank 2006: 38.
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übertritte gehören also zu den grundsätzlichen Konstruktionsmechanismen der Wirklichkeit und somit jeglicher Identität: So sind Schwellenerfahrungen, Transitsituationen etwa auch für den Entwicklungsgang der Protagonisten von Bildungsromanen konstitutiv und in der liminalen Phase der Pubertät – wie auch bei jeglicher Überschreitung von politischen und moralischen Grenzen (wie etwa beim Reisen oder beim Tabubruch) oder von Grenzen zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit sowie Traum und Erwachen – wird das Dazwischen zum Teil einer jeden Lebensgeschichte. Grenzen besitzen schließlich nicht nur eine dialektische Natur und sie verfügen nicht nur über eine anthropologische Dimension, sondern sie gehören auch zu den Grundkategorien der Literatur und Ästhetik. Wolfgang Iser bestimmt das Fingieren bekannterweise als einen »Akt der Grenzüberschreitung«, wonach sich das literarische Fingieren als »Überschreiten gesetzter Begrenzungen« (Iser 1991: 52, 55) erweist.240 Der literarische Text kann aber auch im Licht aktueller xenologischer Ansätze als ein Medium und Produkt einer Grenzüberschreitung betrachtet werden: nicht nur, weil er den Lesern die Chance der Grenzüberschreitung, des Identitätswechsels bietet, sondern weil die zeitliche und räumliche Fremdheit des Textes als Voraussetzung der Auslegung zu deuten ist und weil Verfremdung ein konstitutives Moment von Kunst ist. Grenzgänger und Schriftsteller überschreiten beide die Grenzen des Eigenen, des Gewohnten: kulturelle und ästhetische Fremdheitserfahrungen sind einander nicht unähnlich. Literarische Texte sind also im eigentlichen Sinn immer auch literarische Grenzüberschreitungen und Grenzgängergeschichten: Sie sind Orte eines Spiels mit oder an Grenzen.241 Migrationsgeschichten, in denen räumliche Grenzüberschreitungen mit dem erwähnten »Fremdwerden der Welt und des eigenen Selbst« (Waldenfels 1990: 32) verbunden werden, kommt in diesem Kontext eine ganz besondere Relevanz zu. Da transkulturelle Verflechtungen und Mehrfachidentitäten längst keine Randerscheinungen mehr sind, sondern den öffentlichen Diskurs oder auch den literarischen Kanon als zeittypische Erfahrungen bestimmen, erfüllen sie eine wichtige Funktion in der Bewusstmachung der Kontingenz jeglicher Grenzziehung, in der Entdeckung der Überquerbarkeit und Verschiebbarkeit der Grenzen. Die Grenzgängergeschichten modellieren zudem, wie es am Beispiel von Ilma Rakusas Mehr Meer sehr prägnant zum Vorschein kommt, auch in ihrer narratologischen Struktur die erwähnten Merkmale der Grenzzonen und Schwellenerfahrungen, so u. a. die Unaufhaltsamkeit des Fremdwerdens des Selbst und der Welt oder die Pro240 Vgl. hierzu auch Lamping 2001: 13 und Schmitz-Emans 2006: 41. 241 Schmitz-Emans definiert das literarische Schreiben auch als ein Sprechen über Grenzen, als Spiel mit/in/an Grenzen: Die Grenzen zwischen Alltags- und Dichtersprache, Sprache und Schweigen, dem Sagbaren und dem Unsagbaren gehören, so Schmitz-Emans, zu den Kernthemen moderner Poetik (Schmitz-Emans 2006: 41).
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zesshaftigkeit der permanenten Verschiebung und Vermischung von Bedeutungen und Identitätskonstruktionen. Thematisiert werden dabei grundsätzlich drei Aspekte der literarischen Grenzgängerproblematik: die Grenzüberschreitung als migrationsbedingte (räumliche, politische) Erfahrung und ihre Konsequenzen; Übergangserlebnisse, Grenzzonen und Schwellenerfahrungen (wie Sexualität bzw. Geschlechtsreife, Tod bzw. Krankheit) in den individuellen Lebensgeschichten und ihre literarische Inszenierung; und schließlich der Zusammenhang zwischen den narrativen Merkmalen der Texte, ihrer Sprache und Literarizität (ihrer Polyphonie, Metaphorik usw.) und den Grenzüberschreitungen und Fremdheitserfahrungen primär nicht-literarischer Natur. Die von Rakusa beschriebene Dialektik von Grenzen und Grenzenlosigkeit wird ferner im Kontext der Ambivalenz zwischen In-Bewegung-Sein (Fluidität, Fragmentierung, Dezentrierung) und Verwurzelung (Subjektkonstitution, Sehnsucht nach Verankerung, Absicherung, Stabilität) sowie Erinnern und Nicht-Erinnern konkretisiert.
Grenzgänge und Dimensionen der Fremdheit242 Rakusas 2009 mit dem prominenten Schweizer Buchpreis ausgezeichnete, als poetisch-autobiografisch243 rezipierte Erinnerungspassagen beschreiben die Kindheit und Jugend der Ich-Erzählerin in den 1950–60er Jahren und ihre Erinnerung an sie nach der Jahrtausendwende bzw. ihre Reflexionen auf das Wandern zwischen Ländern, Sprachen, Gattungen und Künsten und seine Auswirkung auf die Lebensgeschichte. Wenn die Erzählerin sich selbst als »Unterwegskind« (76)244 definiert und dabei auf den »Zigeunerzirkus« (13), das »früh erlernte Herumzigeunern« (36) und das »Schimpfwort ›zigeunerisch‹« (125) hinweist oder immer wieder Synagogen besucht und über die Anziehungskraft der geheimnisvollen Schönheit und Fremdheit jüdischer Gottesdienste berichtet (177), kommen wichtige Dimensionen der Fremdheitserfahrung und des Grenzgängerphänomens zum Vorschein. Mit der Geschichte der Ausgrenzung der Sinti und Roma und der Juden (sei es durch verbale Aggression 242 Eine gekürzte und leicht veränderte Fassung des vorliegenden Abschnitts findet sich auch in Pabis 2016. 243 Rakusa nannte in ihrer unveröffentlichten Poetikvorlesung Autobiographisches Schreiben als Bildungsroman (Salzburger Stefan-Zweig-Poetikvorlesung, 2011) Mehr Meer ein »autobiographisches Buch« (11), zitiert nach Klettenhammer 2012: 252. Zur Problematik der Gattungsbestimmung, zu den Bezügen des Textes zum Bildungsroman bzw. Entwicklungsund Künstlerroman und zur Autorschaftskonzeption von Rakusas poetischen Selbstaussagen vgl. Klettenhammer 2012: 253–271. 244 Die Seitenzahlen nach den Zitaten aus Mehr Meer. Erinnerungspassagen beziehen sich auf folgende Ausgabe: Rakusa, Ilma: Mehr Meer. Graz [u. a.]: Literaturverlag Droschl, 2009.
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oder durch physische Gewalt) lässt sich ein verbreiteter Mechanismus der »Selbstdefinition durch Feindmarkierung« (Schulze 1989: 28) illustrieren, die auch mit der erwähnten Terminologie der Grenze und Grenzziehung zu umschreiben ist (In diesem Sinne ruft die Fremdheit der Anderen, der Wanderer, welche die Labilität – die Willkürlichkeit, Kontingenz und dementsprechend die Veränderbarkeit und Verschiebbarkeit – der Grenzen der eigenen Ordnung bewusst macht, ihre Ausgrenzung und Abwehr hervor). Die Identifikation mit dem am sichtbarsten ausgegrenzten Außenseiter ist zwar im Fall der »Zigeuner« lediglich eine »externe«, die sich im als pejorativ empfundenen »Schimpfwort« manifestiert, im Fall des Judentums handelt es sich aber um eine tiefergehende Analogie, welche die Polyphonie der Erinnerungspassagen u. a. in Form der leitmotivisch wiederholten wortwörtlichen Zitaten von namentlich genannten Rabbis (28, 31, 177) bereichert. Das prototypische jüdische Schicksal, das Verhängnis der Wanderschaft der Juden (das etwa im Überschreitungsfest Pessach als Befreiung erinnert wird), wird in Mehr Meer in Analogie gestellt mit dem Provisoriumsgefühl des Migranten und wird zur Metapher des menschlichen Lebens per se: »Bei Rabbi Nachmann heißt es ›Wenn einer sich wehrt und nicht wandern will, wird er unstet und flüchtig in seinem Haus‹. Rom bestärkte mich in der Wanderschaft« (219). So auch der polnische Religionslehrer der Erzählerin, der charismatische Priester Janusz: »Wir sind alle Unterwegsler. […] Auf Wanderschaft. Dazu paßte Psalm 142, in der Übersetzung von Martin Buber : ›… Wann in mir mein Geist verzagt / du bists doch, der meine Bahn weiß… Du bist meine Bergung, / mein Teil im Lande des Lebens …‹« (176). Rabbi Nachmann weist ebenfalls darauf hin, dass »[d]ie Welt […] wie ein kreisender Würfel [ist]. Und alles kehrt sich« (28). Die in dieser metaphorisch deutbaren räumlichen Bewegung implizierten Fremdheitserfahrungen erhalten durch ihre Verschränkung mit jenen des Judentums (und der Roma) auch eine gewisse zeitliche Dimension: Der dunkle Schatten der historischen Vergangenheit, die Geschichten der Ausgrenzung und Verfolgung, der Flucht und Ausrottung überweben die Schauplätze der Wanderschaft. So verfügen in der Erzählung die Städte und Gebäude über eine palimpsestähnliche Struktur (die dem Kind jedoch nicht bewusst wird): In der Reisfabrik von San Sabba wurde ein Depot für beschlagnahmte jüdische Güter, dann ein Konzentrationslager (und ein Krematorium), später eine Gedenkstätte eingerichtet (81). In der Grenzstadt Triest stößt man auf faschistische Architektur, die Zugwagen und Bahnhöfe werden mit ihren Schattenseiten, mit Hinweisen auf die unlöschbare Spur historischer Traumata (des Holocaust und des Gulags), beschrieben: Brest ist die Grenzstadt, Brest ist der Ort, wo der Moloch Sowjetunion beginnt und das riesige sowjetische Schienennetz. Kaum sind wir angekommen, ertönen draußen Pfiffe, Schreie, Hundegekläff. Soldaten patrouillieren auf dem Bahnsteig, Soldaten stürmen in
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die Waggons, Kommandorufe, Paß- und Zollkontrolle, trainierte Furchteinflößung. […] Eingesperrt im Eisenroß, in einem streng bewachten, von Scheinwerfern angestrahlten Niemandsland, erlebe ich wieder die Angst, verfrachtet zu werden, Gott weiß, wohin. Der Atem stockt. Ich denke: Zäsur, und kann nicht weiterdenken. (261)
So wird in der Grenzgängergeschichte Mehr Meer die Einbettung des individuellen und Familienschicksals in die Gewaltgeschichte größerer politischer Gebilde erzählt, worüber der Text auch explizit reflektiert: »Die innere Kompaßnadel zeigt nach Osten« (23), »Der Osten war unsere Bagage« (14) und »[d]en Osten Europas, über den sich das Netz der Familiengeschichte breitet, habe ich kreuz und quer bereist, vor allem auf Schienen« (21). Zur »Bagage« der Erzählerin gehört außer ihrer eigenen Geschichte tatsächlich die osteuropäische Vergangenheit: So erzählt sie auch von der Internierung ihres Vaters, den Veränderungen nach dem Fall des Eisernen Vorhanges in Ungarn, in der Slowakei oder in Moldawien (211f., 256), von den Änderungen der Namen und der Staatszugehörigkeit ihrer Geburtsstadt Rimaszombat (25) oder dem Prager Frühling (256) bzw. ihrer Beschattung durch das KGB in Moskau (301f.). Andererseits weist der Text auch darauf hin, dass die Hybridität der Städte (der Schauplätze der Familiengeschichte), ihrer Namen und Geschichten zwar von den Gewittern der Geschichte verursacht wurde oder zu solchen führte, aber auch jenseits von ihnen existiert, da sie eigentlich zu ihrem Ursprung und ihrer Geschichte gehört, so beispielsweise die türkischen Spuren in Budapest (38f.) und die »litauisch-polnisch-russisch-jüdisch[e] Vielfalt« in Vilnius (16). Mehr Meer handelt allerdings von wesentlich mehr als nur Grenzgängen zwischen politischen Formationen, Sprachen und Kulturen. In ihrem Kontext wird auch über jenen »Einbruch des Fremdartigen und Außerordentlichen« (Waldenfels 1990: 32) erzählt, der die Übergangserlebnisse und Lebenszäsuren charakterisiert, so auch das Erwachsenwerden und die Geschlechtsreife. Die Erzählerin überschreitet auch die Schwelle der Pubertät und berichtet über die damit verbundenen Grenzgänge – die Entdeckung der eigenen sexuellen Begierde und des Interesses an männlicher Körperlichkeit – mit Hinweis auf jenes Fremdwerden des Selbst, auf jene Verschränkung von Fremdbegegnung und Selbsterfahrung, die nicht nur diese Schwellensituationen charakterisiert, sondern auch die räumlich-politische Grenzüberschreitung. So wirkt der erste Kuss, die unmittelbare Erfahrung des anderen Körpers in seiner Andersheit sowohl verlockend als auch beängstigend auf das Mädchen, in Einklang mit der (ambivalenten) Fremdheit des Schauplatzes des Ereignisses (ein Wald): Hier war ich noch nie. Mein Wald, der Indianerwald, liegt hinter Haus und Schule, rund um das Wehrennbachtobel. Dieser andere Wald ist mir fremd und unvertraut. Als ahnte er meine Beklommenheit, ergreift Werni meine Hand. […] Mir ist heiß und kalt, mir ist freudig und angstvoll zumute. Aber dann geht es ganz schnell. Wir küssen uns auf den Mund. (117)
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Die »Geburtsstunde der Sexualität« (95) fällt mit dem Wunsch nach der Entdeckung der Welt und dem Bereisen des Unbekannten zusammen, die beide als Abgrenzung zur Selbstkonstitution der heranwachsenden Erzählerin dienen. Über die Dialektik von Unterwegssein und Ankommenwollen, drinnen und draußen sowie der bereits erwähnten Eingrenzung von Vertrautem und Ausgrenzung von Unvertrautem reflektiert sie wiederum explizit: »Ging es denn um Stabilität? Um ein Gegengift gegen die Nomadenhaftigkeit meiner Kindheit, mit ihren Ortswechseln, Umzügen, Unsicherheiten? Setze ich mir selber Grenzen? Um andere, innere Räume zu erkunden?« (184). Der Text ist aber nicht nur wegen der Thematisierung des Reisens, der Transmigration oder der Schwellensituation der Pubertät eine Grenzgängergeschichte. Von Anfang an ist er determiniert durch eine Grenzüberschreitung anderer Natur, nämlich durch die existenzielle Grenzsituation des Todes, die im ersten Kapitel (Wer war Vater?) das Festhalten der Erinnerungen des Vaters an sein Leben und seine posthume Befragung durch die Erzählerin motiviert.245 Schon der allererste Satz berichtet über den Tod des Vaters: »Als er starb, hinterließ er nichts Persönliches« (7). Später liest man noch über den Tod und das Sterben von Verwandten und den besten Freunden (Dedek, Janus und Lena), und das Thema Selbstmord durchzieht leitmotivartig den Text (im Zusammenhang mit Dostojewskis Die Brüder Karamasow und mit dem Onkel Misi, einem melancholischen Kriegsinvaliden). Die Überschreitung der Trennlinie zwischen Leben und Tod bzw. Gesundheit und Krankheit ist dem Reisen, den geografischen Grenzgängen, nicht unähnlich – unmittelbar mit zeitlichen (Grenz-) Erfahrungen verbunden. Auf dieses sprachlich unfassbare Empfinden wird beim Tod der Urgroßmutter (sowie auch in einigen Reflexionen der Erzählerin über Gott) hingewiesen: Hier versagt mein Denken. Hier versagt die Sprache. […] Nie mehr, schluchzt es in mir. Du wirst sie nie mehr wiedersehen. Das Unfaßbare und das Unabänderliche verschmelzen in der Negation. Nein, nie, nichts. Hier gibt es kein Weiter. […] Ich schreibe über meinen »ersten Tod«. […] Über dieses plötzliche »Nie mehr«, das wie ein Fallbeil niederging und die Welt in ein Vorher und Nachher spaltete. (155f.)
Diese ephemere Qualität der Gegenwärtigkeit, die Aufhebung zeitlicher Grenzordnungen, erfährt die Erzählerin nicht nur beim Erleben der Vergänglichkeit und Flüchtigkeit des Lebens angesichts des Verlusts der Verstorbenen. Auch das Reisen ins Provisorium, das zum Modus Vivendi geworden ist, geht einher mit 245 Vgl. das »Interviewen« des Vaters auf den Seiten 9–11: »Du hast schon in der Schülerzeitung linke Artikel geschrieben? / Ich hielt es für meine Pflicht. / Ging das 1933 im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ohne Rüge ab?« (9) usw. Auf Karl Jaspers Begriff der Grenzsituation und seine Interpretation des Todes als Grenzsituation gehe ich im obigen Kontext nicht ein, vgl. hierzu Jaspers 1971.
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einer ähnlichen Erfahrung: »In der Zugluft des Fahrens entdeckte ich die Welt, und wie sie verweht. Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst. Ich fuhr weg, um anzukommen, und kam an, um wegzufahren« (76, kursiv E.P.). Diese Entdeckung der Flüchtigkeit und Auflösung von Raum- und Zeitgrenzen wird zu einem Spiel mit der Geste ihrer bewussten Überschreitung: Im Wald oder am Waldrand spielte ich das Jetzt-Spiel. Ich rief »jetzt«, lauschte dem Echo und wußte, »jetzt« ist vorbei. Kaum ausgesprochen, stürzt die Gegenwart in die Vergangenheit, als fiele sie rücklings ins Meer. […] Das Echo teilte die Zeit, der ich lauernd auf die Schliche zu kommen versuchte. An die Zukunft dachte ich nicht. »Jetzt«. Und wieder »jetzt«. […] Das Spiel wurde zur Obsession. Wirklich entkam ich ihm nur, wenn der Schlaf mich ins Vergessen spülte. Im Schlaf verschwanden die Zeitund Grenzsperren. […] Der Schlaf war Geborgenheit, außerhalb von Raum und Zeit. (89)
Als Hort der Geborgenheit fungieren außer dem Traum246 auch die katholische Liturgie und die Orgelmusik – die oben beschriebene räumliche und zeitliche Grenzüberschreitung, das Spiel mit den Grenzen zwischen Vertrautem und Fremdem, dem Wirklichen und dem Möglichen, wird aber im Text grundsätzlich als konstitutives Merkmal der ästhetischen Tätigkeit des Schreibens thematisiert. Einerseits sichert für die Erzählerin das schriftliche Festhalten, die Geste des Aufzeichnens (bzw. des Lesens), einen naheliegenden Schutz vor der Vergänglichkeit: So schreibt sie ihren ersten Aufsatz in der Schule über den Tod, so schreibt sie ihre Erinnerungspassagen auf, um nicht wie der Vater zu sterben, ohne eine Spur zu hinterlassen, und so verfertigt sie Vermissenslisten (304, sie sammelt, »um eine eigene Welt aufzubauen« – 312), »Grabinschriften« (131) und Totenlisten, d. h. Namenslisten, im ehemaligen Warschauer Ghetto (129). Ihre Strategie des Aufschreibens und damit der Vergegenständlichung247 der flüchtigen Wahrnehmungen wiederholt die älteste Kulturtechnik der Verewigung, der Sicherung von Dauer und Beständigkeit – der Erzählerin ist jedoch auch die Gefährdung bzw. der Verlust der den Gesten der Benennung und der Aufschreibung inhärenten Stabilität, Abgeschlossenheit und Eindeutigkeit der Bezeichnung bewusst: »Ich schaue und halte fest. Ich lege Erinnerungsfährten, 246 »Im Schlaf verschwanden die Zeit- und Grenzsperren. Keine Koffer standen herum, die an ein Weiter gemahnten. Ich fiel in ein weiches Etwas und ließ mich tragen. Der Schlaf war Geborgenheit, außerhalb von Raum und Zeit« (Rakusa 2009: 89). Zum Motiv Koffer sowie zu anderen Leitmotiven der Erinnerungspassagen – wie Jalousien, Züge, Natur- und Landschaftsmotivik – vgl. Klettenhammer 2012: 259f. 247 Das Sammeln von Objekten, von »Beweisstücken erlebter Gegenwart« (312), motiviert ebenfalls die Atemporalität, die Stetigkeit und Festigkeit der Gegenstände: »[E]s gab den Wunsch, der Gegenstand möge gegen Vergessen und Vergehen standhalten« (312); »Und doch stehen die Dinge, solide, für etwas Stabilität. Bilden einen Rahmen. Bieten Schutz. Gewähren Halt. Die stummen, sprechenden Dinge. Die nicht ins Jenseits wollen, aber dazu taugen, ein Zuhause abzugeben. / Daß sie mich spielend überdauern können, ist gut« (314).
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konstruiere Gedächtnisinventare. […] Die Liste beruhigt. Die Liste buchstabiert die Welt« (129). Die Registrierung und Inventarisierung durch Listen ist der ästhetischen Tätigkeit wesensähnlich: »Die Liste, das Register als Poethik« (132). Dementsprechend verdoppelt sich das Ich – die per se literarische Geste der Ich-Aufspaltung in ein schreibendes (erzählendes) und beschriebenes (erzähltes) Ich wiederholend – in Selbstgesprächen,248 und das eingewanderte Kind richtet sich nicht in Schweizerdeutsch, der Muttersprache seiner Schweizer Mitschüler, ein (obwohl es diesen Dialekt auch erlernt), sondern in der Literatursprache, in Schriftdeutsch: Selbstgespräche führte ich auf Hochdeutsch, in der Sprache der Bücher. Das bedeutete Abgrenzung. Von Zuhause, wo das Ungarische die Familiensprache blieb, von der Umgebung, die Dialekt sprach. […] Nach drei Sprachen, die ich zuvor erlernt hatte, war diese vierte Fluchtpunkt und Refugium. (107)
Das Aufschreiben, das Schreiben und das Lesen gelten als Fluchtpunkte nicht nur, weil sie zur Verewigung dienen und dem Tod entgegenwirken, sondern vielmehr, weil sie durch Abgrenzung von einem (durch diese Grenzziehung und Gegenüberstellung erst konstruierten) Anderen, dem Nicht-Identischen, zur Konturierung des Eigenen verhelfen. In diesem Sinn spricht die Erzählerin von einer »Heimlichkeit der Sprache« (28) und stellt fest: »Ich lese, also bin ich« (103), d. h. »Lesend entdecke ich mich selbst. Lesend entdecke ich das Andere: ferne Zeiten und ferne Kontinente, fremde Menschen und fremde Sitten, Tiere, Fabelwesen, Ungeheuer und Himmelsgeschöpfe […]« (105f.). Den Ausgangspunkt für die ästhetisch-literarische Tätigkeit bedeutet außerdem jenes bereits erwähnte Fremdwerden des Selbst, jene reflexive Beobachterposition, die einerseits zum Spiel mit dem Möglichen führt und andererseits untrennbar ist von der Migrationserfahrung.249 Die von den Nachbarn streng beobachtete und
248 Das Selbstgespräch wird nicht nur zum Thema in Mehr Meer, sondern erweist sich auch als konstitutiv für die narrative Struktur der Erinnerungspassagen, die durch eine besondere Form der Dialogizität zu kennzeichnen ist. Wie erwähnt, wird die Erzählung des Vaters von seiner Lebensgeschichte in Form eines als solches nicht markierten Interviews wiedergegeben: »Erzähl Vater, von damals. So, mitten im Wald, ohne Vorbereitung. Er wirkte nicht überrascht. […] Du hast schon in der Schülerzeitung linke Artikel geschrieben?« (8f., die Befragung geht auf den nächsten Seiten weiter). An anderen Textstellen werden die Antworten der Erzählerin auf die Fragen ihrer Dialogpartner wiedergegeben, deren Identität nicht geklärt wird – befragt wird sie wie in einem Autoreninterview u. a. von einem »P.« (135), einem »N.« (215), einem »M.« (315) oder auch von sich selbst (78). 249 Als eine weitere Analogie zwischen dem Fingieren und dem Reisen ließe sich außer der behandelten Welt- und Selbstdistanzierung die Aufhebung der zeitlich-räumlichen Grenzen einer Wirklichkeit erwähnen. Eine Metapher hierfür ist der Koffer (die Geschichte wird auch »mein[en] eigen[en] Kofferfilm« genannt – ebd.: 34): »Das Seltsame war, wie schnell
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»skeptisch gemusterte« (109) Fremde wird später in den alltäglichsten Situationen von einem seltsamen Gefühl ergriffen: Zur Verwunderung gehörte ein Gefühl des Fremdseins, als wäre ich selber nicht ganz Teil der Situation. […] Hatte ich Angst? Kaum. Aber ich sah sehr genau hin. Und beobachtete mich beim Hinsehen. Mißtrauen? Eher begriff ich das Leben als eine Art Spielanordnung. Wobei ich mich nicht nur als eine Spielfigur unter anderen sah, […] sondern als imaginären Regisseur. Tramfahrgästen dichtete ich schon früh Schicksale an, als handelte es sich um Romanfiguren. Ich versetzte sie in eine Möglichkeitsform, die mir Deutungsfreiheit erlaubte. So entriß ich sie dem Zufall oder dem, was ich dafür hielt. (143f.)
In der Parallelwelt der Literatur kann sich die Erzählerin den vorgeschriebenen Rollen entziehen: »Ich war nicht die besorgte Schwester, nicht die gehorsame Tochter, nicht die angepaßte kleine Ausländerin, nicht die versöhnliche Freundin, nicht die ehrgeizige Schülerin, nicht das Kind mit dem Musterverhalten« (108). Die migrationsbedingte Erfahrung, die diese Rollen bestimmt, und der erwähnte Einbruch des Fremdartigen und Außerordentlichen korrespondieren mit jener literarischen Weltsicht, die auf Welt- und Selbstdistanzierung (oder Welt- und Selbstentfremdung) beruht und welche als Voraussetzung poetischer Tätigkeit zu deuten ist. Die Produktion und Rezeption literarischer Texte, die in Mehr Meer als »Fluchtpunkt und Refugium« eines »Unterwegskindes« thematisiert wird, ist also auch als metaphorische Ausdehnung der Reiseerfahrung und des Grenzübertritts zu interpretieren. Die Verschränkung kultureller und ästhetischer Grenz- und Fremdheitserfahrungen, den Zusammenhang von politischen und biografischen Schwellensituationen mit literarischen Grenzübertritten, illustrieren auch die narratologischen Merkmale des Textes, so u. a. seine intertextuelle und lyrische Qualität sowie seine metaphorische Dichte. Die häufig betonte Dialogizität oder Polyphonie und der lyrisch-musikalische Charakter der Erinnerungspassagen hängen nicht nur mit der Nicht-Linearität der Erzählweise oder der Verbalisierung von Gerüchen (316) und Klängen (170), mit den vermehrten intertextuellen Hinweisen auf Dostojewski (32, 157–164), T. S. Eliot (171) und auf Dezso˝ Kosztol#nyi (316),250 oder mit den Anglizismen (32, 36, 38, 50, 171) und den Zitaten aus Märchen (40) und aus fiktiven Interviews (215–220) zusammen, sondern sie veranschaulichen die anfangs behansich alles um den Koffer herum entwirklichte. […] [Er] schuf […] einen imaginären Raum zwischen den Zeiten, in dem ich ratlos und verunsichert herumstand« (ebd.: 34). 250 Die literarischen Prätexte erfüllen auch hinsichtlich der Beschreibung jener Topografien eine zentrale Rolle, durch welche sich die Identität des erinnernden Ich konstituiert. Sieglinde Klettenhammer macht darauf aufmerksam, dass in den Erinnerungspassagen Räume (wie z. B. die Topografie des modernen St. Petersburg) über »das kulturelle Gedächtnis der Literatur« (z. B. über die »literarische Topographie Dostojewskijs Schuld und Sühne«) miteinander verbunden werden: Klettenhammer 2012: 268.
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delten literarischen Aspekte der Grenzgängerproblematik. Das Oszillieren zwischen Fremdheit und Vertrautheit sowie das Über-Setzen zwischen Sprachen, Kulturen und Räumen spielen in dem Text nicht nur als Merkmale kultureller Transitsituationen eine bedeutende Rolle, sondern sie bestimmen auch (und im Allgemeinen) seine literarische Qualität, seine Metaphorik und Gattung (deren Grenzen zwischen essayistischer Erzählung und Autobiografie251 schwer zu ziehen sind): Rakusas Grenzgängergeschichte ist in mehrerlei Hinsicht ein Produkt von Grenzüberschreitungen. Ihre Vielschichtigkeit lässt sich besonders gut an der titelgebenden Metapher des Meeres verdeutlichen. Auf die Analogie zwischen Grenzerfahrung, menschlichem Leben und dem Meer wird im Text mehrfach verwiesen, so bereits in dem als Paratext bzw. Motto vorangestellten Zitat von der russischen Dichterin Jelena Schwarz: »Der Mensch grenzt ans Meer, / Er ist ein fremdes Land, / In ihm hausen Flüsse und Berge, / Begehren Völker auf […] / Doch wenn er auf einen Punkt starrt – / Versinkt er gnadenlos.« (der letzte Vers interpretiert eindeutig den Titel: »Das dunkle Wasser steigt und steigt« – 5). An einer anderen Stelle wird das Meer zur Metapher der behandelten Befreiung durch Träume und Fingieren im Siestazimmer (»die Gedanken segelten davon. Freie Fahrt im Kopfmeer« – 62) oder zum Schauplatz eines Ringens um Leben und Tod (173f.). In der Geschichte des Unterganges der Andrea Gloria erscheint das »allesfressende« Meer als glatte Folie (134), die Schreckensnachrichten verdeckt, wodurch ein zentrales Motiv ins Spiel gebracht wird, und zwar der Kontrast zwischen der grenzenlosen Wasseroberfläche, d. h. der Maske und der dahinter liegenden, verschlossenen, geschützten Tiefe (allgemeiner formuliert: zwischen dem sichtbaren Diesseits und dem unsichtbaren Jenseits), welche die Entdeckungslust der Erzählerin öfters herausfordert (184, 221, 307). Wesentlicher ist allerdings jene Interpretation des Meeres, die auf die grundsätzliche Ambivalenz der Grenze rekurriert: ihre Beweglichkeit, die die Unterscheidung zwischen Festland und Wasser in jeder Minute aufhebt. Diese Dynamik, die Macht des Provisorischen der Wellenbewegungen, verleiht dem Meer den Eindruck der End-, Zeit- und Grenzlosigkeit, die einerseits anziehend sind (sie stehen bildlich auch für die Geborgenheit durch die Liturgie: »Der Gottesdienst hat etwas Wogendes, wogend, wie die Bärte der Priester. […] Wir sitzen nicht, wir wogen« – 246), andererseits aber auch Misstrauen und an-
251 Katrin Schneider-Özbek betrachtet Mehr Meer als »interkulturelle Autobiographie« (Schneider-Özbek 2011: 173), nach Barbara Jesenovec ist der Text eine »poetische Autobiographie« (Jesenovec 2012). Zur Verortung des Textes zwischen Autobiografie, autobiografischem Roman und »poetisierter Autobiographie« sowie zur Problematik der Gattungszuordnung von Mehr Meer und zur Funktion der Literarisierung und Fiktionalisierung im Text vgl. Jesenovec 2012.
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thropologische Angst vor dem Unvertrauten hervorrufen können.252 Die Dialektik von Ordnung und Ordnungswidrigkeit, Abgrenzung und Transgression, die Spannung zwischen Innen und Außen, Nah und Fern und das Oszillieren zwischen Fremdem und Vertrautem charakterisieren sowohl (literarische oder politische) Grenzräume bzw. Grenzübergänge als auch das Meer bzw. die Grenzverletzung der Seefahrt. Hinzu kommt das Erlebnis der Relativität zeitlicher Grenzen und ihrer Überschreitung sowie die Dichte, die Intensität dieses Erlebnisses, die nicht nur bei räumlichen Grenzgängen, sondern auch beim (literarischen) Schreiben oder beim Träumen konstatiert wird: »Wir überwanden Hindernisse. Die Grenzen waren wie ein Wellenkamm, wo sich alles staute, intensivierte und überschlug. Auch die Zeit« (75). Diese grundsätzliche Ambivalenz und die permanente Beweglichkeit bzw. Prozessualität werden im Text zum Wesensmerkmal von allem Lebendigen: Nach dem Jelena-Schwarz-Zitat im Motto versinkt der Mensch, wenn er auf einen Punkt starrt (5), und die Erzählerin bekennt sich bewusst zu ihrer Wanderschaft, indem sie sich als Unterwegsler in Rom definiert (vgl. die bereits zitierten Worte des Rabbi: »Wenn einer sich wehrt und nicht wandern will, wird er unstet und flüchtig in seinem Haus« – 219). Das Provisorische, das im räumlichen Sinn als migrationsbedingte Erfahrung deutbare Unterwegssein, erhält dadurch einen beinahe ontologischen Status: Es wird zum Merkmal des schlechthin Menschlichen und zur Voraussetzung der kulturellen Praxis des Schreibens, der Weltdeutung. Die Nichtlinearität und die Fragmentarität der Erinnerungspassagen entsprechen der Unabschließbarkeit, dem In-Bewegung-Bleiben, der Prozesshaftigkeit der Wellen- und auch der Grenzbewegungen.
Prozessualität, Selbstkonstitution und die Problematisierung der Erinnerung Im obigen Kontext kommt dem Untertitel des Textes eine besondere Bedeutung zu: Das Wort Passage, d. h. Durchfahrt, Durchgang oder Durchquerung, bedeutet auch Schiffsreise oder Seeweg.253 Rakusas Erinnerungspassagen thematisieren nämlich nicht nur, wie oben erläutert, die Beziehung zwischen Grenzsituationen und Literarizität oder den Zusammenhang von ästhetischen und sprachlich-kulturellen Fremdheitsphänomenen, sondern sie problematisieren 252 Zur Dämonisierung des Meeres als Ort der Gesetzlosigkeit vgl. u. a. Hans Blumenberg: »Der Mensch führt sein Leben und errichtet seine Institutionen auf dem festen Lande. Die Bewegung seines Daseins im Ganzen jedoch sucht er bevorzugt unter der Metaphorik der gewagten Seefahrt zu begreifen« (Blumenberg 1997: 9). 253 Zur Interpretation des Untertitels als Kompositionsmetapher und zum Hinweis auf Benjamins Passagen-Werk vgl. Klettenhammer 2012: 256f. und Hausbacher 2012: 135.
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auch grundsätzlich die allgemeine (nicht nur migrationsbedingte) Erfahrung der Fluidität bzw. des In-Bewegung-Seins im Sinne der Hinterfragbarkeit, Fragmentierung oder Dezentrierung vermeintlich stabiler Ordnungsmuster und durch Erinnerung konstituierter Identitäten und Räume. Die Bewegung oder Beweglichkeit bzw. Prozessualität im Sinne einer fortschreitenden und unabschließbaren Konstitution dieser aus Übergängen bestehenden Strukturen (von Identitäten, Sprachen, Texten) verursachen nicht nur Mängel (wie etwa Ortoder Wurzellosigkeit), sondern erweisen sich als ihre neuen Konstruktionsmodi. Dieses ambivalente Verhältnis zwischen nomadischer Ortlosigkeit und Subjektkonstitution als »Unterwegskind« (76), »Schlafkind« (126) oder schreibendes bzw. imaginierendes »Kind der Jalousien« (62) wird in Mehr Meer anhand der Problematik der Nicht-Erinnerung und am Beispiel des Umgangs mit Spuren einer Sehnsucht nach Absicherung und Stabilität254 thematisiert. Der Prozess der Erinnerung an die Kindheit und Jugend der Erzählerin erweist sich nicht nur als komplex – ihre Biografie ist untrennbar verflochten mit denen der Familienmitglieder, mit der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und mit der Vergangenheit der Städte, der palimpsestähnlichen Schauplätze der kollektiven und individuellen Lebensgeschichten255 –, sondern auch als problematisch. Manifest wird dies auch an den Kapitelüberschriften – Das andere Gedächtnis (23), No memory (25), Vom Vergessen (315) – und an den theoretischen Reflexionen der Erzählerin auf die Fehlleistungen des Gedächtnisses, auf die Nicht-Rekonstruierbarkeit der Vergangenheit: »Meine Erinnerung gleicht einer treibenden Eisscholle, die aufragt, untertaucht, bis sie allmählich, sehr allmählich, weniger wird« (111); »Es gibt Risse im Film« (315); »Erinnerung ist die Summe des Vergessenen, sagt Ilse Aichinger« (315), »Das 254 Obwohl die Ich-Erzählerin der Erinnerungspassagen im Fremdsein heimisch wird und im Dazwischen ein Zuhause findet (ein Paradox, das in Rakusas Poetikvorlesungen oft genug thematisiert wird), finden sich in ihrem Text auch Hinweise auf ihre Sehnsucht nach Statik und Stabilität: »So stehen wir im Wind. […] Und Trolleys eilen durch die Lande. Aber manchmal überkommt es mich, überkommt es mich jäh, und ich werde klein und schutzlos. Strecke die Hand hilfesuchend aus, nach einem Haltegriff« (37); »Meine Listen haben nie aufgehört. […] Sie halten zusammen, was sonst disparat auseinanderstiebt. Und sie sind Memorials, auch das. Vielleicht arrogant in ihrem Kampf gegen die Vergänglichkeit, vielleicht aber, umgekehrt, bescheiden. Festhalten ist besser als Vergessen« (129). 255 Die Einbettung des »Netz[es] der Familiengeschichte« (22) in die Geschichte vom »Osten Europas« (ebd.) wird wiederholt thematisiert und kommt auch in der parallelen Erzählung bzw. im Aufeinanderbeziehen der biografischen Vergangenheit und der politischen Geschichte zum Vorschein, so u. a. in der Geschichte des Urgroßvaters: »Man zeige mir die Orte, an denen mein Urgroßvater als Finanzoffizier tätig war. An verschiedenen Enden Ungarns, das damals auch Siebenbürgen, Teile der Slowakei und Transkarpatiens einschloß und zur Kaiserlich-Königlichen Monarchie gehörte. All diese Flußläufe und Grenzverläufe. All diese Städte mit neuen Namen und hybriden Identitäten. All diese Regimewechsel und Kriege und Verheerungen und Verdrängungen. Der Wind der Historie. / Urgroßvater war mit einer Mährin verheiratet und hatte vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter« (18).
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Überspringen ist Erleichterung. Oder ergibt sich, weil das Gedächtnis streikt« (316). Dementsprechend finden sich im Text der Erinnerungspassagen nicht nur Geständnisse über das Fehlen von Erinnerungen (»Sechs Jahre Gymnasium, aber ich kann mich an die Schulzeit kaum erinnern« – 235), sondern auch vermehrt Spuren bewusster Versuche von Erinnerungsakten. Die Erzählerin befragt die Figuren ihrer Vergangenheit über deren Geschichten (u. a. den Vater: 9ff.), ihr werden auch Fragen gestellt (von sich selbst [78] und von anonymen Figuren wie P., N. und M.: 135, 215, 315) und sie wiederholt an einer Stelle – quasi sich selbst zum Sprechakt »Erinnern« auffordernd – den Satz »Ich erinnere« zehnmal:256 Ich erinnere: ein melancholisches, über der markanten Nase etwas zu eng liegendes, mausbraunes Augenpaar. Ich erinnere: den über eine Näharbeit oder ein winziges Gebetbuch gebeugten Kopf. Ich erinnere: die schmalen Hände […]. Ich erinnere: ihren langsamen, bedächtigen Gang […]. (19f.)
Die Erzählerin beschreibt ferner mit hoher Genauigkeit schwer zu verbalisierende, sensorische Wahrnehmungen der Kindheit (das Atmosphärische der Orte, Farben und Gerüche, Töne und Klänge) und sie versucht dem Vergessen und Vergehen, wie erwähnt, durch Strategien der Vergegenständlichung (Sammeln, Registrieren, Festhalten von Listen) entgegenzuwirken. Sie bereist und begeht die Schauplätze ihrer Kindheit (u. a. ihre Geburtsstadt Rimaszombat) »wie eine Unbekannte« (27), um »eigene Erinnerungen zu bilden« (30) und bezieht sich stets auch auf Familienfotos als die Flüchtigkeit ihrer Erinnerungen stabilisierende Abbildungen der Vergangenheit.257 Allerdings erfährt sie dabei gerade anlässlich der Fotos die unvermeidbare Unmöglichkeit der Erinnerung (an die frühe Kindheit bzw. die Kindheit der Eltern) und das konstitutive Potenzial der schöpferischen Sprache und der Imagination: Ich tappe durch das Dunkel der Nicht-Erinnerung, versuche mir vorzustellen, wie man mich im tiefsten Januarwinter im Kinderwagen durch den angrenzenden Stadtpark fuhr, vermummt wie eine winzige Mumie. […] Hinter dem Park das Flüßchen Rima; Brücke, Pavillon. Das war Mutters idyllische Kindheit.
256 Zur detaillierten Analyse der Textstelle vgl. Klettenhammer 2012: 260f. 257 Vgl. hierzu u. a. die folgende Textstelle, an der der Erste-Person-Bericht über die Italienreise der Familie (im Erzähltempus Präsens) für eine Weile von der Beschreibung eines Fotos der Reise (das Ich erscheint in dritter Person als es/das Kind) unterbrochen wird: »Ich knie mich hin, notiere. Notiere: Tiberius, Augustus. Mein Notizbuch liegt auf einem schimmernden römischen Stein. Mein Kopf berührt fast den Boden. Von jetzt an schreibe ich am liebsten so. / Auf dem Foto im Album sieht man eine Zypressenallee, und vorne das vornübergebeugte Kind mit Griffel und konzentriertem Gesichtsausdruck. / Es sammelt Namen. / Ich schaue und halte fest« (128f.).
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Auf einem Foto stapfe ich windelbewehrt durch den Park. Vielleicht anderthalb Jahre alt. (26)
Als die Erzählerin an ihrem Geburtsort (an dem auch ihre Mutter geboren wurde) ankommt, ohne sich zu erinnern, um ihre »hiesige Zugehörigkeit zu testen« (28) und »eigene Erinnerungen zu bilden« (30), dabei aber lediglich auf »Fremderinnerungen« (30, bzw. »No memory« – 25) stößt, wird nicht nur eine kognitive Unmöglichkeit (der Erinnerung an die ersten Lebensmonate), sondern vielmehr auch die Fremdbestimmtheit des erinnernden Subjektes problematisiert. Dieses empfindet sich nämlich nicht nur irritiert wegen der fehlenden eigenen Erinnerungen (Nicht-Erinnerung bzw. Fremderinnerung), sondern wird andererseits und paradoxerweise aber auch überwältigt durch eine Art Zwang zum Erinnern. Dadurch konstituiert sich »das andere Gedächtnis« (23, kursiv E.P.), dessen Erinnerungsbildern das erinnernde Ich unterworfen ist und seine Subjektposition bei der Konfrontation mit den aktiv agierenden Erinnerungsstücken einzubüßen scheint: Die innere Kompaßnadel zeigt nach Osten. Aber woher diese Erregung, wenn ich eine Akazienallee sehe. […] Da ruft etwas: Hier. Und kein Name kommt dem Bild bei. Das Bild sitzt hinter jeder bewußten Erfahrung. Es stammt aus einem Gedächtnisspeicher, den ich weder kontrolliere, noch wirklich kenne. Und hat Macht über mich. […] Im Schnee krümmt sich ein Zaun. […] Und ich falle in die wievielte Vergangenheit. Vorvergangenheit. […] Wie eine Urerinnerung. […] Zu den Wer-weiß-woher-Bildern gesellen sich Klänge und Gerüche. […] Aus Tassen dampft Tee. Das Land des anderen Gedächtnisses ist ein Teeterritorium. Zwischen seinen Zäunen und Grenzen bin ich berührt. Ich folgte seinen Appellen, als wären es Zurufe zuverlässiger Hirten. Eastward ho! (23f.)
Diese Ambivalenz der Unmöglichkeit des Erinnerns und der Unmöglichkeit des Nicht-Erinnerns bestimmt die gesamte Textur der Erinnerungspassagen, deren Aufschreibung nicht einfach als eine, dem Sammeln und Inventarisieren ähnliche, hilfesuchende Geste des Widerstandes gegen die Flüchtigkeit der zeitlichräumlichen Grenzen zu deuten ist, sondern dem erzählenden und erinnernden Ich ein Zuhause im Dazwischen bietet, einem Kofferriemen als »Haltegriff« (37) ähnlich. Die unvermeidbare Gegenwärtigkeit des »anderen Gedächtnisses«, die nicht vergehende Vergangenheit der »Bagage des Ostens«, ist nicht bloß als Refugium oder als Gegenreaktion auf Verlusterfahrungen der Transmigranten zu deuten (wie etwa der substanzialistische Rückgriff auf Stabilisatoren einer essentiellen Entität – die Herkunft oder die Identität), sondern vielmehr eine unvermeidbare Erfahrung bei fortlaufenden Transitbewegungen, die gerade die Prozessualität und Fluidität, die ambivalente Dynamik des »no memory«, als neue Modi der Erinnerung und der Ich-Konstitution erfahren lassen. Die Er-
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Die Poetik der Grenzüberschreitung in Ilma Rakusas Mehr Meer
innerung ist dementsprechend nicht als Erinnerung, sondern nur als Erinnerungspassage möglich, wobei der Begriff Passage keine konkreten räumlichen Fortbewegungen migrierender Subjekte bezeichnet, sondern auf den »work in progress«-Charakter der fortschreitend konstituierten Erinnerungsbilder und Lebensgeschichten verweist. Dadurch wird in Mehr Meer letztendlich ein essentialistisches Verständnis von Identität und Erinnern abgelehnt, wofür die Voraussetzung zunächst das InBewegung-Sein als Grunderfahrung des Unterwegskindes ist. Der scheinbaren Ambivalenz von Rakusas Feststellung »Kosmopolitismus [ist] ohne das Gegenstück der Grenze nicht zu haben« (Rakusa 2006 a: 9) und der Erfahrung des Kindes im Siestazimmer : »Ohne Jalousien keine imaginären Reisen« (61) entsprechend werden auch räumliche Bewegungen wie Reise, Flucht, Passage und Transit durch die ihnen implizierten Erfahrungen der Unabgeschlossenheit und Entortung zu wirkmächtigen Konstitutionsprinzipien und ständigen handlungsstrukturierenden Mustern für Mehr Meer. Die transitorische Prozessualität erweist sich auf der Diskurs- und Geschichtsebene als Modus der Sinnkonstitution258 – sichtbar wird dadurch die komplexe Interaktion zwischen Leben und Werk, biografischer Erfahrung und Schreiben, die nicht nur in Bezug auf die Gattung Autobiografie thematisiert und theoretisiert wurde, sondern auch die Produktion und Rezeption von Rakusas Texten entscheidend bestimmt.
258 Vgl. hierzu Walter Schmitz über Rakusas Sprachkunst: »Dezentriert und nicht-hierarchisch, entwickeln sich für den Leser die Texte Ilma Rakusas im Prozeß der Lektüre. An Deleuze/Guattaris Charakteristik des Rhizoms darf man hier wohl denken« (Schmitz 2005: 212).
Zur Poetik und Topografie der Einsamkeit. Ilma Rakusa: Einsamkeit mit rollendem »r«
Der enge Zusammenhang von Dichtung und Erfahrung und die Verflechtung von Leben und Werk sind – bei aller Ablehnung des im Kontext der transnationalen Literatur zumeist als Vorwurf und Tabu verstandenen Biografismus – grundlegende Aspekte der Rezeption und Interpretation von Ilma Rakusas Oeuvre und rekurrierende Themen in ihren Dresdner Poetikvorlesungen (2005). Das betrifft auch die Aufnahme ihres 2009 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten »Lebensbuches«259 Mehr Meer. Erinnerungspassagen sowie die Wahrnehmung der Übersetzerin, Lyrikerin und Literaturkritikerin Rakusa als Vermittlerin zwischen ostmitteleuropäischer und deutschsprachiger Kultur: Nie fehlt der Hinweis auf die »Kofferkindheit« der dreisprachig aufgewachsenen »Nomadin« und »Zeitzeugin einer mitteleuropäischen Nachkriegszeit«260 als Erfahrungsgrundlage und Voraussetzung ihrer künstlerischen Tätigkeit und der ästhetischen Qualität ihres Werks. So heißt es in Martin Ebels Laudatio auf Mehr Meer : 259 Vgl. hierzu Martin Ebel: »Ilma Rakusa hat als unfreiwillige Nomadin begonnen, und die Erfahrung der ›Kofferkindheit‹, des Herumzigeunerns, hat das Selbstgefühl geprägt. Auch ihr Lebensbuch, das den Untertitel ›Erinnerungspassagen‹ trägt, ist so nicht starr und statisch geraten, sondern quasi nomadisierend […]« (Ebel 2009). Rakusas episches Werk wird zumeist explizit als autobiografisch inspiriert gesehen – vgl. hierzu u. a. die ersten Rezensionen zu Mehr Meer : »Wie wenig das Ich Herr im eigenen Hause ist, kann jeder ganz ohne Psychoanalyse an sich selbst erfahren: Er muss nur das eigene Leben zum Gegenstand des Erzählens machen. Was ihm da entgegentritt, das ist er selbst in Form eines Überraschungspakets. Ilma Rakusa, Schriftstellerin und Übersetzerin, hat in ihren ›Erinnerungspassagen‹ in Form gebracht, was von mehr als 60 Jahren Reisen, Wandern und Heimatsuche im Gedächtnis geblieben ist« (O. A. 2009: 133), sowie: »Es sind keine Memoiren, sondern autobiografische Miniaturen, fein geschliffene Splitter, in denen sich die Welt spiegelt« (Weinzierl 2009). 260 Vgl. Sabine Berking: »Die 1946 in der Slowakei geborene Tochter einer Ungarin und eines Slowenen, die in Budapest, Ljubljana, Triest und Zürich polyglott und kosmopolitisch aufwuchs, erweist sich als fulminante Epochenverschlepperin, als Zeitzeugin einer mitteleuropäischen Nachkriegszeit, in der es dieses Mitteleuropa zwischen Ost und West gar nicht mehr geben durfte« (Berking 2009).
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Die Kindheit in drei Sprachen – Slowenisch, Ungarisch, Italienisch –, die Anpassung an ein enges Land und eine vierte Sprache, die ihr dann auch zur literarischen Heimat wird, Studienjahre in Paris und Leningrad, vor allem aber die Welten der großen Autoren und der großen Komponisten. Von diesen lernt sie, dass man die Innenwelt ins Unendliche ausdehnen kann, so begrenzt und bedrückend die äussere Existenz auch gelegentlich sein mag. Sie baut sich gerade aus Beschränkungen ein Universum auf, in dem potentiell alles poetisch, alles intensiv, sogar schön ist. (Ebel 2009, kursiv E.P.)
Auch in der Begründung für die Vergabe des Berliner Literaturpreises 2017 beruft sich die Jury auf Rakusas Leben: Diese multinationale und mehrsprachige Biographie schlägt sich in ihrem literarischen Schaffen nieder : Rakusa ist eine maßgebliche Stimme jener auch von Migrationserfahrung geprägten vielsprachigen mitteleuropäischen Literatur, die durch nationalistischen Terror und kommunistische Diktaturen marginalisiert und aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wurde. In ihrem literarischen Schaffen wird auf sensible und poetische Weise die kulturelle Vielfalt und Vielstimmigkeit Europas thematisiert.261
Walter Schmitz geht in ähnlicher Weise von »Ilma Rakusas symbolisch zu entziffernder Lebensgeschichte« (Schmitz 2005: 200, kursiv E.P.) aus und spricht anhand der »schon von Michail Bachtin als Substrat der ›großen Texte‹ in Literatur und Kultur« herausgearbeiteten Dialogizität und Vielstimmigkeit sowie in Bezug auf das von den russischen Formalisten etablierte Konzept der Verfremdung von einem »vergessene[n] Erbe Osteuropas, das Ilma Rakusa sich aneignen konnte« (Schmitz 2005: 222). Auch Rakusa selbst bekennt sich explizit zu diesem mitteleuropäischen Erbe: »Wenn ich Danilo Kisˇ’ Definition einer ›mitteleuropäischen Poetik‹ lese, muß ich gestehen, daß sie exakt auf mein Schreiben zutrifft. In seinem Essay Mitteleuropäische Variationen ist nicht nur vom Form-, sondern auch vom Kulturbewußtsein die Rede« (Rakusa 2006 a: 20). Sie betont im Kontext der kosmopolitischen und polyglotten Prägung ihrer Biografie eine besondere Art »autobiografisches« Fundament ihrer Werke (Rakusa 2006 b: 79): Ich lernte von klein auf vergleichen, sondieren, abtasten. Ich verlernte den Glauben an ein Einziges, Absolutes, Tragfähiges. Doch während sich mir alles sub specie relativitatis zeigte, wuchs in mir heimlich das Bedürfnis, dem Disparaten etwas Eigenes, Selbstgeschaffenes entgegenzusetzen. Und zwar so, daß das Disparate darin aufgehoben wäre. An diesem Projekt laboriere ich bis heute. Nennen wir es, einmal mehr, work in progress, eine fortschreitende Konstitution von Sprache und Identität. (Rakusa 2006 a: 32) 261 Der Jury gehörten Peter-Andr8 Alt, Sonja Anders, Ina Hartwig, Thomas Wohlfahrt und Norbert Christian Wolf an. Vgl. online unter : https://www.boersenblatt.net/artikel-berli ner_literaturpreis_2017_an_ilma_rakusa.1243585.html (zuletzt aufgerufen am 18. 07. 2019).
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Dieser Zusammenhang zwischen biografischer Erfahrung und Literarizität hat auch eine räumliche Komponente: Die Stadt spielt dabei (wie beispielsweise in der Erzählung Arsenal aus dem Jahr 1986) aber nicht mehr nur die Rolle einer Kulisse (wie der Raum in der Literatur auch nicht als Container, sondern als ein durch Bewegungen und Figuren konstruiertes Gefüge fungiert),262 sondern sie wird »als Schauplatz Mitakteur, d. h. Medium innerer und äußerer Prozesse« (Rakusa 2006 b: 80). In diesem Sinne heißt es über Triest: Triest, die Stadt meiner Kindheit, ist für mich Kristallisationspunkt von Erinnerungen, Phantasien und Projektionen, zugleich habe ich mich mit ihrem Vielvölkercharakter, ihrer Grenzsituation, ihrer faschistischen Vergangenheit und ihren Dichtern auseinandergesetzt. Im Sinne eines Palimpsests ist Triest für mich persönliche Geschichte vor dem Hintergrund der ›großen‹ Geschichte (Rakusa 2006 b: 75f.).
Die (biografische) Verortung an und in der Grenze determiniert in Rakusas Selbstauslegung das Subjekt zur Grenzüberschreitung im Schreibakt, zum Grenzgängertum in der Lektüre und zum Bekenntnis zu den »Luftwurzeln« der Sprache und Literatur (und nicht zu einem Land) als Heimat sowie zur Verfremdung als Dialogizität der Kulturen und als Teil des Selbst:263 Die Grenze sensibilisiert für Vielfalt und für die Spannung zwischen Vertraut und Fremd, zwischen Nah und Fern. Für diese Sensibilisierung bin ich dankbar. Denn zweifellos hat sie dazu beigetragen, daß ich zur schreibenden Grenzgängerin und Übersetzerin geworden bin. […] Und als ich mich schreibend daran machte, imaginäre Welten zu bauen, orientierte ich mich an den Topoi des Grenzgängertums: an Abgrenzung, Transgression und Demontage ebenso wie an der Herstellung von Zusammenhängen (Rakusa 2006 a: 10).
»Europa ist ein Palimpsest« (Rakusa 2006 b: 101), das heißt, es wird in diesem Sinne zum »nicht-realen« Chronotopos oder zur Utopie, wie auch die Grenzüberschreitung keine räumlich konturierende, geografisch konkretisierbare Bewegung darstellt, sondern als Schreibakt für die Literarizität konstitutiv wird. In der Reflexion auf die einzigartige Verschränkung von »Leben und Werk« Rakusas werden dadurch, so meine These, zwei konstitutive Voraussetzungen 262 Zum Zusammenhang von Raum, Bewegung und Figur in diesem Kontext vgl. Lotman 1993 sowie den Überblick bei Neumann 2015. 263 »Es sind ferne Schauplätze, fremdländische (oft russische) Namen, die meine Prosa und Lyrik bevölkern, als führte ich einen heimlichen Dialog mit anderen Kulturen – auf deutsch. Daraus ergibt sich selbstredend eine Spannung. Eine Spannung, die nicht auf Exotik bedacht ist, sondern auf Verfremdung. […] Denn das Fremde, das ich meine, ist primär nicht etwas Äußerliches, sondern Teil meiner selbst, ein internalisiertes Anderes, das mich – über Rimbauds Satz ›Ich ist ein anderer‹ hinaus – zur Aussage ›Ich ist viele‹ geführt hat. / Eine poetische, nicht eine medizinische Identitätsdefinition. Und ebenso unemphatisch wie die Feststellung, daß ich (nur) Luftwurzeln habe. Ein Gefühl nationaler Zugehörigkeit geht mir völlig ab, auf Heimat hin befragt, kann ich ehrlicherweise nur die Sprache und die Literatur nennen« (Rakusa 2006 a: 8f.).
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und integrale Bestandteile des literarischen Schaffens bzw. der poetischen Qualität thematisch: Grenzgänge als Akte des Fingierens und der Verfremdung (Mehr Meer) und die Poetogenität von Orten und Situationen.
Die Topografie der Einsamkeit Einsamkeit – die als Titelwort und gemeinsamer Nenner der sieben nach Personen und sieben nach Orten benannten Kurzgeschichten die Texte der Erzählsammlung Einsamkeit mit rollendem »r« (2014) verbindet – bezeichnet laut Wörterbuch nicht nur die Empfindung des Einsamseins, sondern auch die einsame Gegend.264 In seinen Untersuchungen zur Einsamkeit als Kulturtechnik kommt Thomas Macho u. a. zum Schluss, dass Einsamkeit als Einsamkeitsort zu modellieren und die »Geschichte der Einsamkeitstechniken« als »Ideengeschichte der Einsamkeitsorte« (Macho 2000: 38) zu entwickeln ist: [Z]u den ältesten Einsamkeitstechniken zählt die Trennung, das Fortgehen, die anacho¯resis, zumindest die Imagination eines anderen Orts. Einsamkeitstechniken sind heterotopische Praktiken. Sie projizieren die erwünschten (oder gefürchteten) Wirkungen der Einsamkeit auf jenen fremden Ort, an dem wir allein sind (Macho 2000: 38).
Die Relevanz dieser Interpretation der Einsamkeitserfahrung als kulturelle Technik und der Einsamkeitstechniken als heterotopische Praktiken für die Lektüre besteht in erster Linie nicht nur darin, dass es den Kontext und Anlass für die Beschreibung der meisten Chronotopoi in den vierzehn Erzählungen als durch Abwesenheit bestimmte, unterschiedliche Zu- und Einschreibungen aufzeigende und aufnehmende Einsamkeitsorte bietet. Als heuristisch relevant erweist sich vielmehr eine Art Analogie zwischen Einsamkeits- und Erzähltechniken als Raumpraktiken, welche eine Abkehr von der herkömmlichen Interpretation der Literatur als Zeitkunst und eine Zuwendung zum komplexen Zusammenhang von Räumlichkeit bzw. Raumerfahrung und narrativen Praktiken der Raumerzeugung ermöglicht.265 Zieht man in Betracht, dass alle Protagonisten in Rakusas Erzählungen zumindest temporär von der Erfahrung des displacement, einer migratorisch oder politisch bedingten Ortlosigkeit, geprägt bzw. von existenziellen Verlusterfahrungen und Traumata beeinträchtigt sind, so 264 Vgl. den Eintrag im Online-Duden: »Bedeutungsübersicht: 1. das Einsamsein, Alleinsein 2. einsame Gegend. Synonyme zu Einsamkeit: Alleinsein, Einsamkeitsgefühl, […] Einöde, einsame Gegend, Öde, […] Wüstenei«, online unter : http://www.duden.de/rechtschrei bung/Einsamkeit (zuletzt aufgerufen am 18. 07. 2019). 265 Zum Umgang mit Raum und Räumlichkeit in der klassischen Narratologie bzw. zu Erzählungen als Formen der Raumgestaltung, zur Beziehung zwischen literarischen und begehbaren Räumen und zu Verfahren der Ausgestaltung literarischer Räume vgl. die überblicksartigen Beiträge in Dünne 2015 a, b.
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stellt sich die zentrale Frage danach, wie bzw. ob durch die Bewegungen (die identitäre oder topografische Mobilität und Instabilität) der Figuren und durch ihre Beziehung zum jeweiligen Setting Stadträume und geografische Komplexe als Anhaltspunkte der Erinnerung, als Gedächtnislandschaften oder Mnemotope semiotisiert werden oder ob diese Räume durch ihre Materialität als Palimpseste und als wandelbare soziale Konstrukte vielmehr Brucherfahrungen, politische Zäsuren und unterschiedliche Diskursschichten freilegen.266 Die raumzeitliche Lokalisierung der Kurzgeschichten bestimmt des Weiteren eine augenfällige Präsenz von flüchtigen Räumen der Reisenden, die Vermehrung von Transiträumen (wie Hotels, Unterführungen, Gaststätten, Caf8s und Zügen), die Aug8 in seinen Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit Nicht-Orte nennt und von anthropologischen Orten abgrenzt.267 Angesichts der Transit-Orte und der durch Mobilität und Instabilität dynamisierten Raum-Zeit-Beziehungen stellt sich ferner auch die Frage, ob Rakusas Schreiben nicht den Raum per se als transitorisch, d. h. als an sich fluid, produziert und dadurch die »intrinsische Verbindung des Seins mit der Eigenschaft eines locus« (Borsk 2015: 259) als substantielle Qualität des Ortes infrage stellt.268 Chronotopoi, die nicht nur als potenzielle Durchgangs- oder Transit-Orte fungieren, sondern das Transitorische als ontologische und nicht bloß vorübergehende Modalität aufweisen, lassen sich auch mit der Mobilität oder Fluidität im Sinne der Prozessualität und Instabilität des Subjektes aufeinander beziehen, das sich räumlich verortet, dazu eine Beziehung herstellt und dadurch einen Ort performativ produziert. Dieser Zusammenhang zwischen Räumen (bzw. Chronotopoi) und Subjekten (der Beweglichkeit, der Verortung, der Biografie der Figuren) wird bereits in der Aufteilung und den Kapitelüberschriften des Bandes sichtbar : Die ersten sieben Geschichten sind nach Men266 Der Begriff Mnemotop geht auf Jan Assmanns Beschreibung zurück – »Jede Gruppe, die sich als solche konsolidieren will, ist bestrebt, sich Orte zu schaffen und zu sichern, die nicht nur Schauplätze ihrer Interaktionsformen abgeben, sondern Symbole ihrer Identität und Anhaltspunkte ihrer Erinnerung. Das Gedächtnis braucht Orte, tendiert zur Verräumlichung« (Assmann 1992: 39) – und schließt sich an den doppelten Sinn des Begriffs topos an (Pethes 2015: 197). Zur Abgrenzung von Noras Begriff der lieux de m8moire oder Erinnerungsorte vgl. Pethes 2015. 267 Vgl. Aug8: »Der Raum des Nicht-Ortes schafft keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit« (Aug8 1994: 121). Dem Einsamen ähnlich macht der Passagier der Nicht-Orte »die Erfahrung der ewigen Gegenwart und zugleich der Begegnung mit sich selbst« (ebd.: 123). 268 Zur Unterscheidung zwischen Transit-Räumen als »Übergangsstationen von zwar in der Zeit wandelbaren, aber substantiell stabilen Strukturen« und transitorischen Räumen, in denen transitorisch »eine ontologische Qualität des an sich ›fluiden‹ Raums [wäre], dem Beweglichkeit und Veränderlichkeit immanent sind« (Borsk 2015: 259) sowie zum Zusammenhang zwischen transitorischen Räumen und der Binarität von Nomadismus und Territorialität vgl. Borsk 2015.
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schen (Katica, Maurice, Marja, Misi, Lou, Steve und Sam), die nächsten sieben Erzählungen nach Orten (Nagoya, Zürich, Graz, Venasque, Bondo, Tomaj und Koljansk) benannt, wobei die topischen Bezugspunkte, die topografische Verortung, auch in der ersten Hälfte die Handlungsspielräume der Figuren bestimmen und ebenso die Texte in der zweiten Hälfte von Begegnungen mit namentlich konkretisierten Menschen erzählen. Thematisch, motivisch und strukturell sind die siebzehn Kurzgeschichten auch eng miteinander verwandt: Alle beschreiben Begegnungen und/oder Reisen eines erzählenden Ich mit Zugewanderten und Reisenden aus ihrem Bekannten-, Freundes- oder Liebeskreis, deren Lebensgeschichten in der Regel zunächst in dritter Person erzählt werden. So lernt der Leser die ungarische Katica, die russische Marja und Lou als Kinder, gebunden an ihren Heimatort, kennen. Schauplätze der Kindheit bzw. Jugend – das Meer, die Schule, das Elternhaus – werden zu körperlich versehrenden, belastenden und wiederkehrenden traumatischen Orten für Lou, die sich vom Ertrinken ihrer zwölfjährigen Schwester im Meer nicht erholen kann, sich ausgelöscht fühlt und deren Zimmer in der Wohngemeinschaft, die sie mit der Erzählerin Jahre später teilt, wie folgt beschrieben wird: »Einmal überraschte sie mich mit dem Satz, ihr Zimmer sei ein Strand. Ein Strand? ›Ja, ich sehe ganz deutlich das Meer.‹ Ein andermal sagte sie: ›Ich bekomme viel Post. Aber hier wohnt keiner‹« (49).269 Marja wurde im sowjetischen Tambow auch um ihre 269 Die Seitenangaben nach den Zitaten beziehen sich auf folgende Ausgabe: Rakusa, Ilma: Einsamkeit mit rollendem »r«. Erzählungen. Graz [u. a.]: Droschl, 2014. Das Meer fungiert – wie das auch in den Erinnerungspassagen Mehr Meer im Allgemeinen der Fall war – auch in der Erzählsammlung als Metapher der Dynamik der Erinnerung und wird mit unterschiedlichen Bedeutungen als Erinnerungsort semantisiert. Für Misi wird es als Gegenteil der Wüste (des Schauplatzes seines Kriegstraumas) und als Ort eines heilsamen Schauens zu seinem Element, wobei die Statik der Bewegungslosigkeit und des Schweigens am Meer auch als Pendant zur Zeitlosigkeit bzw. Allgegenwärtigkeit des Traumas (»Wieder war es aus ihm herausgebrochen, das alte Hasslied […]. Das war’s. Und immer wieder von vorn« – 39) und der körperlichen Lähmung bzw. Versehrtheit Misis (»Wehrlos war er den Angriffen der Vergangenheit ausgesetzt« – 44) zu lesen ist. Andererseits ist auch die Dynamik der Wellenbewegungen ein Sinnbild für die Anwesenheit von Misis Vergangenheit: »Er war versehrt, er ließ die Erinnerungen hochkommen, oder sie kamen von selbst, jäh, mit den Wellen oder tief aus der Nacht« (39). Das Meer (bzw. Gewässer) verkörpert in den Erzählungen oft auch die Fluidität (die Dynamik der Schichtung, Sedimentierung und Überschreibung) des Palimpsests der Vergangenheit: In Nagoya erinnert es an die belastende Geschichte Fukushimas (89) und in Sarajevo wird die Drina zum Ort der Konfrontation mit den Schatten der Vergangenheit, »wo es weh tut« (80): »Wir schauten lange ins Wasser. Sam, plötzlich: ›Stell dir vor, wir gehen durch die Stadt und fragen jeden Passanten: Hast du getötet?‹« (77). Das Meer wird des Weiteren als »Oberenns-Meer« – ein verbreiteter ungarischer Märchentopos – zum entlegenen utopischen Ort, der am Ende einer (Zeit-) Reise Glück verspricht und die Reisenden in Kinder verwandelt: »[S]ie [Katica] [kaufte] eine Fahrkarte […]. Um dort drüben, hinter den sieben Bergen und sieben Zwergen, hinter dem ›Oberenns-Meer‹ der Märchen, zu geigen und sich ein Scheibchen Glück abzuschneiden« (7). Vgl. hierzu auch die Geschichte von Misi, dem am Meer »ein wenig Kindsein« (39)
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Kindheit gebracht – durch den trinksüchtigen Vater, die verstorbene Mutter, die geistesgestörte Großmutter, durch Hunger und räumliche (bzw. politische) Abkapselung im »[z]wanzig Quadratmeter Plattenbau« (25), wo sie die Zäune entlang lief. Diesen räumlichen Bezugspunkten scheint gerade ihr Verlust bzw. Verlassen eine existenzielle Bedeutung zu verleihen: »Marja träumte über den Zäunen, von Farben, Faltern, einem anderen Land. […] Als Marja eines Nachts aufwachte, sah sie keine festen Konturen, aber sie war wild entschlossen, aufzubrechen« (26). Sie fährt zunächst nach Saratow (wo sie eine Ausbildung zur Krankenschwester macht), verlässt die Großstadt ihrem deutschen Geliebten Paul folgend nach Berlin (wo sie auch die Ich-Erzählerin kennenlernt), um nach einer scheinbar glücklichen fünfjährigen Ehe Paul seiner Einsamkeit zu überlassen und »[i]m Zeichen der Wanderschaft« (35) nach Indien aufzubrechen. Doch zeugt die Geschichte von Marjas ständiger Fortbewegung, von ihrem transitorischen Existenzmodus gerade von der notwendigen Wirkung des Settings ihrer Kindheit, und zwar nicht nur in der einfachen Bedeutung der emotionalen Verbundenheit (»Manchmal verspürte sie Heimweh nach alten Zäunen« – 30). Marjas besonderem »Sehvermögen«, der prägenden Kraft und dem konstitutiven Potenzial des Schauens, kommt in dem Text eine zentrale Rolle zu: Die Beobachterposition – nach Simmel eine paradigmatische Position des Fremden –, die Marja wegen des Eingesperrtseins hinter Zäunen zu eigen ist, bestimmt die Koordinaten der raumzeitlichen Lokalisierung des Geschehens. Einerseits wird Berlin bereits bei ihren ersten Besuchen durch Marjas Augen gesehen – sie staunt über die Kneipen, die Radfahrer, die Farben des Himmels und kommuniziert statt der Sprache mit ihren Speisen: »Ihre Sprache waren die Speisen, die sie mit Hingabe zubereitete. […] Während vierzehn Tagen schärfte Marja ihren Blick für die Unschärfen der Stadt, dann reiste sie ab« (29) – den Raum von Zürich begeht die Erzählerin im gleichnamigen Text in ähnlicher Weise mit den Stammgästen der kosmopolitischen Lokale, durch ihre Wahrnehmungen filtriert). Andererseits öffnen sich Marjas Augen nicht nur für das Fremde in der Fremde, sondern auch für das Eigene, und zwar erstens in einem temporalen Sinn und zweitens die kollektive Einbettung der individuellen Geschichte reflektierend. Beim Verlassen Tambows spürte zwar Marja, »wie sie aus ihrer Vergangenheit hinausglitt« (28), ihr wird aber nicht bewusst, dass ihre räumliche, zeitliche und generationelle Übergänge vereinigende Transitbewegung (sie überschreitet die Schwelle der Adoleszenz, hinterlässt die Vergangenheit und bewegt sich von einem Ort zum anderen fort) mit politischen Übergangsituationen korreliert: »Sie war achtzehn, als sie Tambow verließ, in ein Studentenwohnheim in Saratow zog. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, erlaubt ist und der von der »Rettungsboje« der Bank (39) erlöst wird (»Raus aus der Melancholie, hieß die heimliche Losung. Rein ins Märchen.« – 41).
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stattdessen eine Russische Föderation« (27). Das verschärfte Sehvermögen der an verbindenden (abgrenzenden), aber auch trennenden (ausgrenzenden) Zäunen positionierten Grenzgängerin sensibilisiert sie für die politisch-historische Einbettung der individuellen Lebensgeschichte. Marja bringt nicht nur die erkrankte Erzählerin wieder in Form (33), sondern versucht, auch die Vergangenheit als solche in einer Art narrativer Kohärenz zu konstruieren: »Als sie mir Tee einflößte, meinte sie: ›Das vergangene Leben kommt mir wie ein unentwickelter Film vor, irgendwie. Da und dort Zerronnenes, ein bisschen Ende, ein bisschen Schmerz, phosphoreszierende Pfützen, ein auffliegender Falter, ansonsten …‹« (32). Dies erfolgt durch die Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte der diktatorischen Vergangenheit: Paul war ihr Goldfischchen, zahm und solid und zufrieden. […] Ihre Zäune behielt sie für sich. Und dass sie in letzter Zeit die russische Buchhandlung aufsuchte, wo unglaubliche Bücher herumlagen: über das Zwangsarbeitslager Solowki, über die stalinistischen Säuberungen, über die Kerker der Lubjanka. […] Marja rauchte, Marja trank nicht, Marja las. Als müsste sie ein ganzes Leben nachholen. »Nichts wussten wir, nichts«. (30)
Die Komplementarität der narrativen Kohärenz individueller und kollektiver Geschichtskonstruktionen als Grundlage für Marjas neues Leben in Berlin wird mit dem statischen Prozess des Lesens verbunden und der Bewegung (dem Tanzen mit Paul) gegenübergesetzt: »Von Zeit zu Zeit aus dem Alltag herauszutanzen. Schmetterlingshaft. Das Grübeln über Magadan, Norils, die Tundra der Lager folgte auf dem Fuß« (31). Trotzdem ist es auch in diesem Kontext die Bewegung, die nomadische Dynamik der temporalen und räumlichen Mobilität, die für Marjas narrative Identität konstitutiv wird und die Beziehung von bzw. den erzählerischen Umgang mit Raum, Zeit und Subjekt bestimmt. Marja gewinnt nämlich erst nach Konfrontation mit der Überschreibbarkeit der kopräsenten Palimpsest-Schichten ihrer Lebensgeschichte beim Reisen im Zug einen Zugang zu den in der Gegenwart vorhandenen Spuren der (historischen) Vergangenheit. Beim Erzählen von Marjas Aufbrechen aus Saratow nach Berlin wird die Eisenbahnreise zum Chronotopos des Schwellenzustandes, an dem das reisende Subjekt einerseits einen biografischen Übergang erlebt – das »Hinausgleiten« aus der Vergangenheit, ein Pendant zum späteren »Hineingleiten« in die ungleichzeitige Gleichzeitigkeit der palimpsestähnlichen historischen Vergangenheit in der russischen Buchhandlung: Der Zug fuhr pünktlich, eine lange Formation von Wagen »Saratow-Berlin«. Beim Rattern der Räder zogen Birkenwälder, Felder, Dörfer vorbei, Licht und Schatten spielten Fangen, und Marja spürte, wie sie aus ihrer Vergangenheit hinausglitt. Sie war nicht mehr die »Pausebacke«, die Tochter des »Säufers und Päderasten«, die winselnde
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Kleine, nicht einmal die Zaunguckerin war sie mehr. Oder doch? Ist es das, was mich umtreibt? (28)
Andererseits korreliert die Erfahrung der Liminalität, der Überschreitung der fluiden raum-zeitlichen Grenzen mit der Aufhebung der intersubjektiven Grenzen, mit dem Erleben der Fluidität, Instabilität und transitorischen Dynamik nicht nur des Raums und der Zeit, sondern auch des Subjektes per se. Nicht nur der Raum als Objekt des Überquerens und der Wahrnehmung verwandelt sich in ein Subjekt, als die Birkenwälder, Felder und Dörfer vorbeiziehen oder Licht und Schatten Fangen spielen, sondern auch das reisende Subjekt Marja wird mit ihrem Bild in den Augen der Anderen (»Pausebacke«, Tochter des »Säufers und Päderasten«), d. h. mit ihrem Selbst als Objekt des Sehens, konfrontiert. Im Schwellenzustand verwandelt sich dieses Selbst jedoch sofort in ein Subjekt des Sehens – in eine Zaunguckerin –, dessen (bereits behandelte) Position und Bewegungen die erzählerische Raumkonstitution bestimmen. Die körperlichen Bewegungen erweisen sich zudem als Pendants zu Erzählbewegungen: Nicht nur der wahrgenommene und beschriebene Raum, sondern auch der Raum der Darstellung wird dauerhaft von einer Dynamik, von der Modalität des Transitorischen betroffen, als analog zur Verunsicherung Marjas am Schwellenübergang (»Oder doch?«) auch die Pronomina und die Erzählperspektive gewechselt werden: »Sie war nicht mehr die ›Pausebacke‹, die Tochter des ›Säufers und Päderasten‹, die winselnde Kleine, nicht einmal die Zaunguckerin war sie mehr. Oder doch? Ist es das, was mich umtreibt?« – ebd., kursiv E.P.). Es sind jedoch nicht nur Übergangsorte und transitorische Räume, nicht nur Grenzzonen und Nicht-Orte in den Erzählungen, sondern auch die Chronotopien der Stadträume die Einblicke in die Dynamik der Zeit-Raum-Relationen und der Konstitution von Orten und Zugehörigkeiten gewähren. Dabei erlaubt es die Denkfigur des Palimpsest (im synchronen und diachronen Sinn, mit ihrer räumlichen und temporalen Semantik der Überlagerung und Mehrschichtigkeit), Zeit und Raum, d. h. Erinnerung bzw. Gedächtnis und die Materialität der städtischen Räume, miteinander sowie mit der Position und der narrativen Identität der durch ihre (erzählte) Bewegung den Raum (der Literatur) konstituierenden Figur zu verbinden. In Großstädten als Orten des Reisens und des Lebens spiegelt sich in den Erzählungen die Ambivalenz von Verortung und Fluidität, und zwar nicht in erster Linie wegen der Topoi des Flanierens, Vagabundierens oder der Flucht, mit denen ihr Begehen verbunden wird, sondern weil sie einem Palimpsest ähnlich fungieren, indem sie Umschreibungs- und Überlagerungsstrukturen als Erzählstrategien und Konstitutionsprinzipien urbaner Räume und der (Lebens-) Geschichte freilegen. In Katicas Wohnort Budapest werden für die (ausländische) Erzählerfigur der ersten Kurzgeschichte
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nebst der gegenwärtigen Polyphonie und Hybridität der Stadt (»[D]er Boulevard wollte nur schwach an Paris erinnern. […] Am Nebentisch […] wurde Italienisch gesprochen. In der Nachbarschaft ein jüdischer Buchladen« – 12) auch die verborgenen Schichten historischer Zäsuren sichtbar : »Die Fiedel erhob sich über die verstörende Wahrheit, dass hier gemordet, deportiert, revolviert und zerstört worden war« (14). Die Kulturlandschaft Nagoyas sieht die Erzählerin in der achten Kurzgeschichte auf ähnliche Weise vom Schatten der Atomkatastrophe Fukushima überzogen (»Der Park ist wie ein Wald, man sieht kein Ende. Getschilp und Gekrächz von allen Seiten. Und Steinlaternen, die die Wege säumen. Warum ich gerade hier auf Fukushima zu sprechen komme, weiß ich nicht« – 95), und auch in Zürich entdeckt sie beim Spaziergang mit der Assowschen Assja hinter den Spuren des Anfangs von Lenins revolutionärer Tätigkeit eine oft überschriebene Schicht der Vergangenheit: Immer wieder zog es sie in die Spiegelgasse, wo in der Nr. 14 Iljitsch den Umsturz vorbereitete. Unten im Eckhaus gurrten sie dadaistisch, der Oberrevolutionär aber brütet über ernsteren Plänen. […] Was waren die Tzaras, Balls und Konsorten doch harmlos, wenn du bedenkst, dass Lenin schon 1921 Arbeitslager errichtete. (100)
Der urbane Raum ist vom Gedächtnis der Jugoslawienkriege geprägt, in diesem Falle in Graz (»Vom Platz ins Gassengewirr, langsam. Um zu entziffern, was die Wände festhalten. ›Never forget Srebrenica‹« – 112) und in Sarajevo, wo sich die Erzählerin an auratischen Erinnerungsorten (»wo es weh tut« – 80), ihre körperliche Integrität gefährdend, die traumatische Vergangenheit zu eigen macht: »Schneller als gedacht drang Sarajevos Versehrtheit in uns ein« (75). Der Friedhof der muslimischen Kriegsopfer Alifakovac als Heterotop oder der Mnemotop eines bombardierten Markts (»Auf dem Markt kaufte ich drei Äpfel und ein Einkaufsnetz. Wo der Granattrichter geklafft hatte, war wundroter Gummi im Asphalt« – 78) zeigen durch die Anwesenheit des Abwesenden nicht nur die willkürliche (»schicksalhafte«) Einbettung individuellen Lebens in die Gewaltgeschichte kollektiver Gebilde, sondern auch die Aufhebung zeitlicher Dimensionen und eine traumatische Allgegenwärtigkeit auf: »Verflixtes Schicksal, das immer wieder die Frage aufwirft, wer wir sind und warum an diesem Ort. Umgekommen ist er am 17. Januar 1994 – jeden Tag seither ist er tot« (74). Die Positionierung des von »Sarajevos Versehrtheit« (75) durchdrungenen – d. h. dem traumatisierten Überlebenden, z. B. dem um seine Familie trauernden Bosnier Josip im slowenischen Tomas ähnlichen – Ich oben am gräberübersäten Hang illustriert metaphorisch, wie die Konstruktion des Stadtraums durch Schauen und Begehen (durch die Figur) immer auch zum »Lesen« der Gedächtnisschichten der Stadt wird, ja zur Freilegung der Mehrschichtigkeit der Jetztzeit führt: »Wir standen stumm, schauten von diesem Feld der Toten hinab
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auf die Dächer, Minarette, Türme, Kamine, Antennen. Wie eine Spielzeugstadt lag Sarajevo zu unseren Füßen« (74). Gleichzeitig fungiert auch der (urbane) Raum einem handelnden Subjekt gleich: Nicht nur Orte und Räume werden performativ, durch sich bewegende, schauende und lesende Figuren konstruiert, sondern auch die Handlungen und Identitäten der Figuren werden räumlich (bzw. durch materiale Relikte von Vergangenheitsschichten) bestimmt und inspiriert. In Sarajevo tut einem die Geschichte weh, man wird versehrt; die Mnemotope der Kindheit – im Falle von Steve in der gleichnamigen Erzählung die Familiengräber und die Landschaft von Dorset, für das Ich in Graz das Gut Hansis am Waldrand – werden als Anhaltspunkte der individuellen Erinnerung und eines identitätsstiftenden Vergangenheitsbezuges semiotisiert. Dieses konstitutive Potenzial der räumlichen Verortungen ist jedoch auch ambivalent: Wie sich die russische Marja in Berlin infolge ihrer Disloziertheit durch die Beobachterposition des Fremden auszeichnete, so empfindet sich das erzählende Ich beim Beobachten zumeist als fremd (bzw. verfremdet). Während der Heimkehrer Steve sich in Dorset in ein Kind verwandelt (»Es weinte das verlassene Kind, nicht der Mann« – 58) und dementsprechend in den Dialekt verfällt (»[Er] kokettierte weltmännisch mit seiner Herkunft« – 60), wird seine Sprache von seiner in Dorset fremden Geliebten kaum verstanden – sie nimmt lediglich das später leitmotivisch als »Fremdheitsmarker« wiederkehrende, titelgebende rollende »r« wahr : »Im Windschatten der Kneipe sah ich seine Züge weich werden, die stahlgrauen Augen schauten offen, und die Zunge rollte das ›r‹, als kennte sie nichts anderes« (57). Am Ort von Steves Konfrontation mit seiner Vergangenheit verwandelt sich deren Beobachterin, die Erzählerin, sogar in eine Art Pendant zur Titelfigur, als sie sich verdoppelt und von der Erfahrung der Selbstspaltung bei der Selbstbeobachtung berichtet: »Als ich mich fein machte, sah ich im Spiegel ein bedrücktes Gesicht. Meines […] I was in the wrong movie, indeed« (63). Im Fall der Begegnung mit Misi, dem von ständigen körperlichen Schmerzen heimgesuchten Kriegsveteranen, dessen Element das Meer war (37), verwandelt sich die Erzählerin – eine Art Heilung des Traumatisierten präfigurierend – auch ins Pendant ihres Freundes, als sie sich beim Baden beruhigt, befreit und körperlos empfindet: Zuhause nahm ich ein Schaumbad. Der Eukalyptusduft hatte etwas Beruhigendes. Leicht sein, unbeschwert. Wenn das so einfach wäre. »Wozu das weiche Wasser, der bunte Marmor, wozu der Abend mit seiner Decke …«, flüsterte mein Kopf. Und war prompt bei Misi, meinem Miesepeter, den ich grußlos stehen gelassen hatte. Wozu. Die Socken lagen neben der Wanne. Mit der Unterhose und dem T-Shirt bildeten sie ein Stillleben in Weiß und Schwarz. (44)
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Dass an diesem Punkt Misis Rezitation eines Gedichtes zitiert wird, macht auf die besondere Rolle und Bedeutung der Literatur und Literarizität in den Erzählungen aufmerksam. Die bereits behandelte Aufhebung zeitlicher Grenzen (die Konfrontation mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen) beim Entziffern der Palimpsest-Schichten einer Stadt und deren Geschichte (bzw. der individuellen Lebensgeschichte) ist nämlich ein grundsätzliches Merkmal der Rezeption eines literarischen Textes, der bekannterweise – der Vergangenheit, der Stadt, den Identitäten ähnlich – auch als Palimpsest zu deuten ist. Die kurz angedeuteten »Verwandlungen« der Ich-Erzählerin infolge der Begegnungen mit den titelgebenden Menschen und Orten werden nicht nur in einem erzählten, literarischen Raum verortet, sondern lassen sich auch auf den Raum der Literatur (den »Eigenraum« der Repräsentation) beziehen. Die Selbstverdopplung und die Selbst- (und Fremd-) Begegnung beim Erzählen bzw. als Voraussetzungen der Erzählbarkeit werden nämlich in den Kurzgeschichten im Kontext der Einsamkeit stets problematisiert, die als poetogene Situation par excellence zu betrachten ist (Assmann 2000 b: 13).
Die Poetik und Poetogenität der Einsamkeit Einsamkeit ist in dem Erzählband, wie auch im Allgemeinen, nicht nur ein literarisches Thema, das anthropologische Fragen aufwirft und hinter dem sich »das philosophisch-anthropologische Thema des autonomen Individuums« (Assmann 2000 a: 12) verbirgt, sondern sie ist, so die These Jan und Aleida Assmanns, sowohl Produkt als auch Technik und Voraussetzung literarischer Tätigkeit bzw. künstlerischer Kreativität: Das Thema Einsamkeit verweist uns wie kaum ein anderes auf den engen Zusammenhang zwischen den Formen menschlicher Selbsterfindung einerseits und den Medien menschlicher Kommunikation und Selbstverständigung andererseits. So ergibt sich ein systematischer und letztfundierender Zusammenhang zwischen Schrift und Einsamkeit. […] Wenn in Texten so viel von Einsamkeit die Rede ist, liegt der Rückschluß nahe, daß die Erfahrung der Einsamkeit, der sozialen Isolation ein Motiv ihrer Entstehung war und die Erfahrung der Vereinsamung eine typische Entstehungsbedingung von Literatur, eine »poetogene Situation« par excellence darstellt. (Assmann 2000 b: 14)
Interpretiert man die Einsamkeit mit Thomas Macho nicht als tragischen Zustand, als »Pathosformel für kontingente Ereignisse oder fatale Umstände« (Macho 2000: 27), sondern als Anlass und Kontext für die Praktizierung kultureller Techniken (ebd.), so erscheint Einsamkeit als eine besondere Strategie der Selbstwahrnehmung, wobei das Doubling sich als grundsätzliche Einsamkeitstechnik erweist: Einsamkeit ist nämlich im Sinne von Macho »Vorausset-
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zung einer Selbstbegegnung und Selbstverdopplung, die als eine Technik intellektueller und künstlerischer Kreativität bewußt angestrebt, eingesetzt und implementiert werden kann« (Assmann 2000 b: 16): Ohne ein Selbstverhältnis als Verdoppelung ist Einsamkeit nicht denkbar. Das gedoppelte Selbst begegnet sich in einem Imaginationsraum, in dem die Einsamkeit zu einer Zweisamkeit eines inneren Dialogs wird. Die Kommunikation mit einem zweiten Selbst (Daimonion, Genius) gehört zu den ältesten Formen der Selbstbegegnung. (Assmann 2000 b: 17)270
Einsamkeitstechniken haben also – wie erwähnt, als »heterotopische Praktiken« – nicht nur eine immanente Beziehung zu Orten, sondern sie referieren auch auf Literarizität, denn Lesen und Schreiben lassen sich auch als »Selbstgespräch« (Macho 2000: 43) oder als Formen eines »diachronen Dialogs« über zeitliche Grenzen hinweg charakterisieren (Assmann 2003). Die Einsamkeitsorte in Rakusas vierzehn Erzählungen erweisen sich in diesem Kontext nicht nur deswegen als solche (bzw. als poetogene Situationen), weil sie sich durch die Abwesenheit von Menschen auszeichnen und weil alle Protagonisten Kontingentes und Fatales erleiden, als alleinige Punkte in der Landschaft beschrieben werden271 und eben einsam sind – wie die um die toten Geliebten trauernden Josip und Sam, die vom Tod ihrer Schwester traumatisierte Lou, die Aussteiger und Vagabunden Maurice und Steve, der Kriegsinvalide Misi und die »Menschen mit Migrationsvordergrund« (72), die vielen »Zugewanderten, Zugeflogenen, vom Zufall Zusammengewürfelten« (121) in Zürich, Graz und Venasque – und sich künstlerisch-kreativ betätigen (musizieren bzw. singen wie Darja und Katica, tanzen wie Marja oder Gedichte rezitieren wie Misi und Juri). Relevanter ist aber, dass der Textraum der Literatur als solcher auch zu einem Einsamkeitsort wird wegen seiner – auf Verdoppelungspraktiken beru270 Jan und Aleida Assmann berufen sich hier auf Thomas Machos These, nach der sich Techniken der Einsamkeit als Verdopplungstechniken charakterisieren lassen: »Wer […] seine ›Verlassenheit‹ überlebt, bewältigt und gestaltet, inszeniert irgendeine Art von Beziehung zu sich selbst. Indem er seine Einsamkeit perzipiert, ohne verrückt zu werden, spaltet er sich zumindest in zwei Gestalten auf: als ein Wesen, das mit sich allein – und daher eigentlich ›zu zweit‹ – ist« (Macho 2000: 28). 271 Die Einsamkeit als Position des sich in der unbewohnten und unbegrenzten Natur verortenden Menschen wird am Anfang und Ende der Erzählsammlung (bzw. leitmotivisch wiederkehrend auch in anderen Kurzgeschichten) als Punkt beschrieben – als Abbildung einer relativen Abwesenheit (der »Nichtausgedehntheit« bzw. Immaterialität) und der gleichzeitigen Anwesenheit (der Dynamik der Bewegung). Vgl. hierzu die Beschreibung der ungarischen Steppe am Anfang der ersten Erzählung Katica: »Die Häuser ducken sich flach, die Viehherden verschmelzen mit dem Horizont, der Mensch – ein Punkt in der Landschaft. Ein Punkt, nicht mehr.« (5) und das Ende der letzten Kurzgeschichte Koljansk: »Er [der Feldscher] singt so laut, dass die Windschutzscheibe beschlägt. Vorne Nacht, hinten Nacht. Da muss er durch. Ein Punkt, der bald verschwunden sein wird. Dort« (158).
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henden – Poetizität, die in der Problematisierung der Erzählbarkeit bzw. der Erzählstimme und in ihrer intertextuellen Qualität thematisch wird. Die Einsamkeit erscheint im Erzählband zunächst als Voraussetzung künstlerischer Kreativität im Sinne der Konsequenz der Positionierung des Subjektes: der »Punkt in der Landschaft«, das Ungarkind Katica, muss zur Geigerin werden: In der Steppe groß geworden, wo die Erde ein Teller ist und darüber der Himmel unfassbar weit. Solche Räume hältst du nur aus, wenn du gegen sie ansingst. […] Was soll aus dir werden. Du singst in den Wind, alles verweht. Du singst gegen den Wind, wozu eigentlich. Du singst, um zu spüren, dass du bist und weil die Wege so weit sind. So leistest du dir Gesellschaft. (5)
Einsamkeit (Selbstbegegnung und Selbstverdoppelung) steht hier in ihrer doppelten Bedeutung als Entstehungsbedingung der Kunst und als Medium des Verarbeitens und Ertragens der Einsamkeit. Explizit wird diese (dem räumlichen Ausbruch, dem Verreisen ähnliche) therapeutische Funktion der Literatur auch u. a. in den Erzählungen Marja, Misi, Sam272 und Venasque. Katica liest Djra vor ihrem Ausbruch aus der ungarischen Steppe Adys A magyar Ugaron (In ungarischer Öde – 7) vor, Marja zitiert vor ihrem Ausstieg nach Indien Rilke (»Mit dem Flugticket nach Benares in der Hand, lud sie mich zu einem Spaziergang im Park des Charlottenburger Schlosses ein. […] ›Man muss sein Leben ändern, oder nicht?‹« – 34), wie auch der Russe Juri in der Provence sich der Ersatzkommunikation mit Rilkes Poesie bedient: Und ich wage nicht, nach Juris Einsamkeit zu fragen. Ungestraft sperrt man sein Innerstes nicht weg. Doch er, unaufgefordert, mit rollendem »r«: »Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, / die sich über die Dinge ziehn. / Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, / aber versuchen will ich ihn.« Steht auf und verabschiedet sich. (120)
Der einsame Leser Juri überwindet die Fremdheit, die an diesem Punkt als konstitutives Moment der Literatur und auch als Konsequenz Voraussetzung seiner erzählten Einsamkeit nicht als Leser, sondern als – mit rollendem r sprechender – russischer Jude in Frankreich problematisiert wird. Der um seine verstorbene Frau und Mutter trauernde Josip führt auch nicht nur mit seiner Freundin ein Gespräch, sondern ebenso einen diachronen Dialog mit dem slowenischen Dichter Srecˇko Kosovel, dessen Gedicht Schwarze Mauern auch als Zitat (ausnahmsweise als kursiv markierter Subtext) wiedergegeben wird: »Josips Augen verengen sich zu Schlitzen, als versuchte sein Gesicht ein Lächeln. 272 In Sams Reise nach Sarajevo steht die »therapeutische« Dimension des literarischen Schaffensmomentes nicht (nur) im Kontext der Einsamkeit, sondern in dem der existenziellen und traumatischen Verluste: »Schwer ist es natürlich, im Keller, während Granaten über dir fliegen, Gedichte zu schreiben. Schwerer ist nur eines, sie nicht zu schreiben!« (76).
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Gott ist außer Dienst, zitiert er Kosovel. Und: Ein einäugiger Fisch schwimmt im Dunklen schwarzäugig. Pause« (147). In Tomaj wird das therapeutische, (selbst-)konstitutive Potenzial der Literatur thematisiert, wie auch in den anderen Kurzgeschichten (Katicas Kunst ist erstens als unmittelbare Antwort auf die anfängliche Frage »Was soll aus dir werden« [5] zu deuten, und eröffnet zweitens einen hermeneutischen Prozess, der zur Verwandlung des Rezipienten führt, als das erzählende Ich als »Unterwegskind« in eine Schwellensituation überführt wird).273 Die Begegnung mit toten Dichtern und die hiermit (als Einsamkeitstechnik) praktizierte Selbstverdopplung wird in Josips Geschichte allerdings nicht nur thematisiert, sondern sie wird auch unmittelbar für die Literarizität des Textes konstitutiv, als Tomajs längst verstorbener Dichter Kosovel zum fiktiven Fokalisator wird: »Durch die Schatten eilt er, der junge Srecˇko Kosovel […]. Mein Gedicht ist mein Gesicht, sagt er, während er davoneilt« (140 – später wird sein Sterben auch intern fokalisiert erzählt: »Die Meningitis schien zuerst nicht so bedrohlich. […] Ganz zuletzt hörte er die Landschaft zirpen und wusste, dass die Reise zu Ende ging. / Warum so früh, […] fragte er sich, als er noch bei Bewusstsein war« – 146). Die von Einsamkeit beförderte (bzw. als Einsamkeitstechnik praktizierte) Selbstverdopplung wird nicht nur in Bezug auf den diachronen Dialog bei der Lektüre bzw. beim Schreiben thematisiert, sondern auch anhand von Begegnungen des erzählenden Ich mit den einsamen Figuren. Das Ich der Erzählstimme begegnet der Einsamkeit der erzählten Figuren (und ihrer Selbstverdoppelung bzw. Selbstbegegnung bei Konfrontation mit der Vergangenheit, beim Aufbruch in die Fremde oder beim Lesen bzw. Rezitieren von Gedichten) nicht einfach, um ihre Einsamkeit zu einer Zweisamkeit (eines synchronen, inneren oder eben diachronen Dialogs) zu verwandeln – indem sie z. B. Marjas verlassenem Mann Paul oder Misi Gesellschaft leistet, oder ihren Geliebten Steve auf seiner Reise begleitet –, sondern sie selber verwandelt sich auch in eine einsame Figur, die sich selbst begegnet bzw. verdoppelt. Trotz der Zweisamkeit mit Misi nennt er sie »Alleinchen« (44), sie empfindet auch seine Einsamkeit als die ihre (»Ich schaute auf die Socken, das Badetuch, das Häufchen Einsamkeit« – 44) und wird als Zeugin von Steves Begegnung mit Erinnerungsorten seiner 273 »Es war Herbst, in den Unterführungen spielten andere. […] Ich saß in der Straßenbahn, als plötzlich Katicas Lieder an mein Ohr drangen. […] Der Mann sah zigeunerisch aus, er spielte mit Herz, wenn auch viel weniger gekonnt als der Marienkäfer. Aber ich brannte schon, brannte. Von Kopf bis Fuß. Fünf Haltestellen dauerte die Verwandlung. Denn was war es anderes, dieses Ergriffensein, das dich umkrempelt und Erinnertes mit dem Jetzt kurzschließt. In rasender Folge sah ich Rinder und Schafe und Hirten und Stiere, die Tiere der Puszta. […] Ich hörte, während ich sah, und sah, während ich hörte. […] Die Tiefebene ist schwer, ein Jenseitsort. […] Offene Horizonte, nichts wie gehen« (10f.).
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Kindheit mit ihrem eigenen Spiegelbild konfrontiert (63).274 Die »Poetogenität« dieser Positionen der Einsamkeit wird jedoch nicht etwa dadurch betont, dass das erzählende Ich in einem Stück Literatur über Literatur das Doubling als Einsamkeitstechnik wiederholt, indem es nach und inmitten der Dritte-PersonErzählung auftritt, sondern als die Position der Erzählstimme bzw. die Erzählbarkeit als solche problematisiert wird. Dies ist der Fall zunächst, als in Misi die Titelfigur gehäuft (achtmal auf acht Seiten) als Adressat einer Evokation »angeredet« wird, jedoch dadurch nicht als Dialogpartner ins Leben gerufen wird, sondern vielmehr als abwesender Freund, dem zweiten Selbst in einem inneren Dialog ähnlich, fungiert. Seine Anreden (»Misi!«) stehen nämlich in dem Sinne dekontextualisiert im Text, dass sie eigene Absätze bilden, in keine Dialogsituation eingebettet sind und nicht einmal auf seine körperliche Anwesenheit angewiesen sind: »Ein Schlucken in der Leitung, dann legte er auf. / Misi! / Nachts träumte ich von einer Karawane […]« (44), oder : »Ich sah Misi in Gedanken, schon wieder die Zigarette zwischen den Lippen. / Misi! / Die Frau drehte sich auf dem Absatz um […]« (42). In Nagoya bewirkt die Menschenleere der Stadt (»Aber meistens ist da niemand«, »Keine Menschenseele« – 81) eine simulierte oder imaginierte Zweisamkeit, indem im Gegensatz zu den anderen Kurzgeschichten die Dritte-Person-Erzählung nicht von einer Ich-Narration abgelöst bzw. ergänzt wird, sondern vom Auftreten eines Du als Subjekt: »Du liest, hinter dir wird in Zeitungen gewühlt, jemand liest. Du verkriechst dich in Yoshida Kenkos Betrachtungen aus dem 14. Jahrhundert […]« (83) usw. Die Begegnungen des Ich mit den namentlich genannten Figuren Saskia und Hiromi sowie mit der Stadt Nagoya werden später jedoch im Modus des Konjunktivischen erzählt: »Schauen genügt, sitzen genügt. / Genügt natürlich nicht, würde Saskia sagen« (84); »Das wäre nichts für Hiromi« (ebd.); »Wenn Hiromi sich hinter eine Zwergkiefer setzen und den Kleinkindern in Kimonos zusehen würde. […] Vielleicht bekäme sie Lust. Auf Nachwuchs« (87); »Zeit für eine Käseomelette, würde Hiromi sagen« (91); »Hiromi wäre zu alt für solche Verkleidung« (ebd.). Hiromi, die selber an dem drohenden Verlust ihrer krebskranken Familienmitglieder leidet und auch Männergesellschaften ablehnt, wird zur abwesend präsenten, vorgestellten Figur in einem Imaginationsraum: Hiromi ist nicht gekommen. […] [V]ielleicht würde ihr Toshio gefallen. Im »BanKichi« ließe sich ein Treffen arrangieren. Der Wirt schenkt uns Bier ein mit einer schönen festen Blume. Und Hiromi ist bereit zuzugeben, dass Leben nicht nur »shit«
274 Ganz ähnlich empfindet sich das sich Geschichten von Hiromi vorstellende (erfindende) Ich in Nagoya sich selbst als »erfunden«: »Ich erzähle ihm nicht von Hiromi […], ich verzichte auf jede Erfindung. Und fühle mich doch wie erfunden. Fremd hinter der Maske und auch davor […]« (88).
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ist. Beim zweiten Bier schaut sie Toshio in die Augen, beim dritten streift sie seinen Arm. Das macht mich überflüssig. (96)
Nach dem vorgestellten Ende der Einsamkeit Hiromis und der Erzählung Nagoya verschwindet das sich als überflüssig empfindende Ich der Erzählstimme aber noch nicht (dazu kommt es lediglich in der letzten Kurzgeschichte Koljansk), sondern zunächst nur der Modus des Konjunktivischen. Dass die Begegnungen in und mit Nagoya durch die hypothetische oder vorgestellte Wahrnehmung der beinahe virtuellen Hiromi filtriert wiedergegeben werden, verweist jedoch auch auf die grundsätzliche Dialogizität beim Selbstgespräch im Lesen und Schreiben und in der Selbstbegegnung während der Einsamkeit. Die Erzählstimme verdoppelt sich auch in Bondo durch die imaginierte, vermittelnde Perspektive eines Engels, die wegen der Abwesenheit des Ich (das Pronomen es fungiert lediglich als Platzhalter eines Subjekts, der erste Satz hat weder Subjekte noch Prädikate als Voraussetzung der Erzählbarkeit notwendig wird und auf die (einsamkeitsbedingte) Verdoppelung der Selbstbegegnung (bei Produktion und Rezeption von Geschichten) verweist: »Der Glockenturm, der sich ausdehnende Friedhof. Es wird viel gestorben. […] Es gibt einen geborgeneren Ort. / Ein Engel wüsste, wie sie zu erzählen wären. Die ineinandergreifenden Geschichten, verteilt auf zwei Generationen und mehr« (131). Die Engelsstimme unterbricht die Beschreibung des Alltags und der Geschichte von Bondo fortdauernd und später nicht mehr im Modus des Konjunktivischen: »Die Rituale, flüstert der Engel, der Tagesablauf« (135), »Die Wanderungen, höre ich den Engel flüstern« (136), »Wohin führt es, wenn wir uns verloren gehen, denkt der Engel« (136). Im Ins-Spiel-Treten seiner Perspektive und Stimme – dem von Hiromi in Nagoya ähnlich – zeigt sich das poetogene Potenzial der ästhetisch produktiven und phänomenologisch notwendigen Einsamkeit im Sinne der (Selbst-) Verdopplung im Erzählakt und bei der Fremdbegegnung, d. h. bei kulturellen und ästhetischen Grenzgängen. In diesem Kontext kann sich die Position der Einsamkeit scheinbar paradoxerweise auch durch die Abwesenheit des (erzählenden oder die Einsamen tröstenden) Ich auszeichnen, wozu es in der abschließenden Kurzgeschichte Koljansk tatsächlich auch kommt. Die letzte Erzählung von dem von destruktiver »Einsamkeit« heimgesuchten Dorf (die Dorfgemeinschaft wird als abgekapselt, verschneit, gelähmt, krank und sich autoerotisch stimulierend beschrieben)275 ist nämlich die einzige, in der keine 275 Vgl. hierzu die folgenden Textstellen: »Die Zeit verrinnt so langsam, dass sie zu stehen scheint« (150), »Die meisten Bewohner mustern sich mißtraurisch. […] Mit dem Teufel stehen sie in ständigem Kontakt, denn Fluchen ist ihre Hauptbeschäftigung« (151), »Schlafwandler im eigenen Leben. Züge rollen keine mehr vorbei, das Dorf ist allein gelassen« (154), »Sie sind erschöpft vom Warten. Und wissen nicht, worauf. Sie haben Augenringe, von Schlaf, vom Halbschlaf, von der verzehrenden Selbstbefriedigung« (156), »Einen Iwan hat die Fallsucht gepackt, einen Pjotr der böse Krebs. […] Eine Zeitlang heulen
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erzählende Ich-Stimme auftritt. Die Geschichte endet jedoch bzw. gerade deswegen mit einem positiven Ausklang: Die Schule bekommt ein neues Dach, die Hauptstraße wird geteert, der Friseuse Darja gelingt es, »mit den Füßen auf[zu]stampfen wie ein Pferd, um diesen Karren von Dorf aus dem Dreck zu ziehen« (157). Zeichen der Hoffnung, des Ausbruches aus den destruktiven Folgen der Einsamkeit, finden sich nicht nur auf der Ebene der Figur und der Geschichte (»Alles ist erwacht« – 157, Darjas Friseurstube hat Zulauf, der Feldscher zieht singend durch die Nacht), sondern auch im Erzähldiskurs, der ohne eine – die Einsamkeit der Figuren brechende oder reflektierende und sich durch übernommene Fremdperspektiven verdoppelnde – Ich-Erzählstimme auskommt. Dadurch wird letztendlich auf die aus der Position der Einsamkeit resultierende, notwendige Erfüllung der Voraussetzung der Erzählbarkeit verwiesen und zur Positivierung des Begriffes der Einsamkeit als poetogene Situation par excellence beigetragen. Die Poetizität von Rakusas Geschichten besteht in diesem Kontext nicht nur in ihrer oft betonten intertextuellen Dichte und lyrischen Qualität, sondern vielmehr darin, dass der fiktionale Raum ihrer Texte als »Einsamkeitsort« fungiert.
die Klageweiber, zetern mit immer rauer werdender Stimme. Und geben auf. Den Rest besorgt der Schnaps. Zerkrümelt jede Erinnerung. Stattdessen breitet sich Vergessen aus« (157).
M wie Muttersprache – Gender, Genealogie und Geschichte in Zsuzsanna Gahses Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurück
Wie bereits im Motto und im ersten Kapitel zitiert, stellte P8ter Esterh#zy in seiner Laudatio auf die Chamisso-Preisträgerin Zsuzsanna Gahse über literarische Grenzgängerinnen aus Ungarn Folgendes fest: Es gibt heute auffallend viele ungarischstämmige Schriftstellerinnen auf der Welt, die alle Prosa schreiben, Gahse, Mora, Kristof, Zsuzsa B#nk, Christina Vir#gh. Ist es denkbar, daß Ungarn die Prosaschriftstellerinnen, seine Prosaschriftstellerinnen vertreibt? Ist es denkbar, daß die Ungarn wegen ihrer Prosaschriftstellerinnenintoleranz berüchtigt und berühmt sind? Ist es das und das Gulasch? Daß wir fast schon von einer Prosaschriftstellerinnenjagd sprechen müssen, daß wir diesen Reflex aus dem fernen Asien mit uns gebracht haben? Oder ist es möglich, daß es ein wenig umgekehrt stimmt: sie sind eben deshalb zu Prosaschriftstellerinnen geworden, weil sie weggegangen sind? Und wenn sie zu Hause geblieben wären, dann schrieben sie heute Lyrik oder gar nichts? Eine Frau soll Lyrikerin sein, und/oder ordentlich kochen können. (Esterh#zy 2006: 5)
Es kommt nicht von ungefähr, dass Esterh#zy gerade anhand von Gahses Werk (auch wenn etwas überspitzt und pointiert) auf die Verknüpfungen zwischen »Herkunft« bzw. räumlicher Bewegung und politisch-geschichtlichem Erfahrungsraum, Sprache bzw. (literarischem) Schreiben und dem Geschlecht (des schreibenden oder sich fortbewegenden Subjekts) bzw. verbindlichen Rollenzuweisungen (bezüglich der Geschlechter oder der Nation) verweist. Das umfangreiche Werk der mehrfach ausgezeichneten Übersetzerin und Schriftstellerin (es umfasst beinahe dreißig Prosabände) ist u. a. durch avantgardistische Sprachspiele und Formexperimente sowie das Unterlaufen von Gattungskonventionen bzw. eine Bewegung über Gattungsgrenzen hinaus gekennzeichnet.276 276 Zur Kanonisierung Gahses als Schriftstellerin der Avantgarde vgl. Sos´nicka 2008 und Ueding 1991. Die Autorin selbst äußerte sich mehrmals zur Problematik der Gattungskonventionen: »Alle Gattungen haben offene Flanken, sie leben voneinander. Und ich suche das, was zwischen ihnen liegt, das Dazwischen. Zwischen Roman und Szenischem und Lyrischem und Essayistischem.« (Hübner ; Gahse 2014: 93); »Ich bin gegen diese Gewohnheiten. Dagegen, zwischen literarischen Gattungen zu unterscheiden und die Unter-
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M wie Muttersprache
Wie die nachfolgende Analyse ihres ausdrücklich als Roman bezeichneten Textes Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurück (1999) verdeutlichen soll, entfaltet sich Gahses Grenzgängertum in einer Poetik von komplexen prozessualen Bewegungen in/zwischen Raum und Zeit. Diese Entgrenzungen sind in erster Linie nicht thematisch oder erzähltechnisch, sondern vielmehr auch auf der Wortebene bestimmend für ihr Werk, das die Ästhetik des Migratorischen (im Sinne der Losgelöstheit von Sicherheiten in jeglichem Sinn) aufgreift bzw. hervorbringt.277 Die »autobiografische Färbung« ist eine häufige Erwartungshaltung gegenüber Gahses literarischen Texten und ist zentral auch für die Interpretation ihrer poetischen Reflexionen über Sprache und Schreiben. Gahse teilt das diesbezügliche Unbehagen vieler »Chamisso-Autorinnen«, als sie sich wie folgt beschwert: »Ich werde immer wieder […] gezwungen, über meine private Vergangenheit zu erzählen, da ich ja aus Ungarn komme, da ich daher ja das und das erlebt haben soll. Darüber will ich nicht reden, ich habe andere Anliegen« (Helbig 2008: 28, zitiert nach Schmitz 2009: 205).278 Andererseits ist ein wiederkehrender Topos der Rezeption von Gahses zumeist als »handlungsarm« bezeichneter Prosa,279 dass sie »gestaltete Poetik« sei und »immer auch vom scheidungen ein für allemal festzulegen, zwischen Lyrik und Prosa, zwischen Drama und Komödie, zwischen Comics und ernsthafter Literatur, zwischen Unterhaltungs- und Bildungsliteratur« (Gahse 1997: 11). 277 Zur Problematik der gattungsmäßigen Kategorisierung von Gahses »Gegenromanen« und »Textensembles« (Petersen 1993: 48, 139, zitiert nach Schmitz 2009: 196) bzw. »Erzählexperimenten« (Sos´nicka 2008: 445) oder »Sprachwerken« (Gahse 2009: 35) vgl. Sos´nicka 2008. Die obigen Zusammenhänge zwischen Ort- und Sprachwechsel oder die Pluralisierung bzw. Fragmentarisierung und Destabilisierung als konstitutive Faktoren der Schreibkunst würden sich als produktive Analysekategorien auch für andere Texte Gahses (wie Instabile Texte, durch und durch, Donauwürfel oder Südsudelbuch) erweisen, ihre detaillierte Diskussion würde aber eine eigenständige Monografie erfordern. 278 Vgl. Gahse über den Entstehungskontext der Kategorie Migrationsliteratur : »Lange Zeit war ich keine Fremde, meine Fremdheit hat sich erst gegen Ende der 1980er Jahre ergeben. Irgendwann um diese Zeit dividierte man allmählich die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller auseinander, nun sprach man über österreichische, deutsche und Schweizer Literatur, und jene Autoren, die ursprünglich nicht aus einem dieser Länder stammten, erhielten eine Sonderbehandlung: sie hatten (gefälligst) über ihre Ursprungsländer zu schreiben. Mein Vaterland (Mutterland sagt man übrigens auf Ungarisch) war aber vorher kein wichtiges Thema für mich, was man in meinen ersten Büchern sehen kann. Aber durch die eben erwähnten Veränderungen wurde ich immer fremder« (zitiert nach Sos´nicka 2010 a: 75). 279 György Dallos stellt über die Rezeption von Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurückfest, dass laut einschlägiger Meinung der meisten Rezensenten das Werk einer stringenten Handlung bzw. einer »tragenden Geschichte« entbehre und demzufolge kaum ein Roman genannt werden könne (Dallos 2005). Vgl. hierzu Dorota Sos´nicka: »Gegenüber solchen Erwartungen [Literatur sollte Stories liefern] liefern ihre Bücher keine überschaubaren und nacherzählbaren Geschichten mit einem Handlungsfaden, vielmehr bieten sie eine Vielzahl von Kurzgeschichten und Kurzszenen, und vor allem wird darin die Sprache selbst zum
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Erzählen und vom Schreiben selbst« handle (Schmitz 2009: 181). Das heißt, »die Ich-Erzählerin des Gesamtwerks unserer Autorin ist die Sprache« (Dallos 2005: 47), und wie Gahse selbst feststellte, »jede Erzählung gehört ursprünglich der Sprache« (Gahse 2009: 48). Diese Sprachbewusstheit wird allerdings zumeist ebenfalls auf eine migrationsbedingte »Bikulturalität« oder Mehrsprachigkeit zurückgeführt (Gahse erlernte die deutsche Sprache als zehnjähriges Kind, als ihre Familie nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes von 1956 nach Wien flüchtete), etwa bei Stefana Sabin, die anhand von Gahses Schreibtechnik von der »akribischen Genauigkeit der Nichtmuttersprachlerin« (Sabin 2008: 4) spricht. Gerd Ueding verbindet die Merkmale von Gahses Schreibkunst mit der Art und Weise, wie Kinder exotisch klingende Wörter »selber zu Gegenständen eines Spiels und durchaus mutwilliger, fließender, die Sprachkonventionen missachtender Zusammenstellungen« machen (Ueding 1991),280 und ähnlich argumentiert auch György Dallos: Vielleicht erscheint es nicht als Mystifizierung, wenn ich die exklusive Rolle der Sprache teilweise aus der Vita von Zsuzsanna Gahse ableiten will. Als zehnjähriges Kind beteiligte sie sich an dem traurigen Exodus der zweihunderttausend Ungarn, der auf die Unterdrückung des Volksaufstandes 1956 folgte. Man sagt, Kinder gewöhnten sich schneller als Erwachsene an eine neue Sprache. Gut möglich; aber sie erleben intensiver den damit verbundenen Identitätswechsel. Bei aller Anpassungsfähigkeit bewahren sie in sich, manchmal eher melodisch als semantisch, die Worte der frühen Jahre. Und weil die »gerettete Zunge« das Selbstgespräch jahrzehntelang dominiert, steigt das leidenschaftliche Interesse an dem neuen Vehikel der Kommunikation automatisch. Man will als Ankommende das Fremde besser verstehen und sich genauer vermitteln. Die Vertiefung in die geheimsten Nuancen der deutschen Sprache und die Vorliebe für die akribische Beschreibung der Umgebung – Eigenschaften, die bei der damals angehenden Autorin ihr Tutor, Helmut Heißenbüttel, bewusst gefördert hatte – sind ein ewiger Versuch, die eigene Welt in Besitz zu nehmen, die Landschaft, die Gesichter und die Geschichte zu sichten. (Dallos 2005: 47)
Sehr prägnant kommt diese Bemühung der Kritik um die Anbindung des Textes an die Autorinnenbiografie und den historischen Kontext der Handlung in der Rezeption des Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurück zum Ausdruck: Der Ereignis, denn allerlei Alltagsereignisse werden von Gahse in Sprachereignisse verwandelt« (228). 280 Vgl. hierzu Antje Krüger : »Zsuzsanna Gahses Texte, die durch ihre Offenheit ihre Leser herausfordern, Rätsel aufgeben, mit ungewöhnlichen Formulierungen und Sprachwitz überraschen und zum Weiterdenken anregen, charakterisierte Gerd Ueding als Weiterentwicklung von Ideen der europäischen Avantgarde. Er hob bei seinen Ausführungen über ihr Werk hervor, dass Zsuzsanna Gahses Aneignung der deutschen Sprache als Zweitsprache sich als günstige Basis für ihre experimentelle Poesie erwies, da sie ›die so exotisch klingenden Wörter nicht nur an der Wirklichkeit erprobte, sondern, wie es die Art von Kindern ist, sie selber zu Gegenständen eines Spiels und durchaus mutwilliger, fließender, die Sprachkonventionen missachtender Zusammenstellungen machte‹« (Krüger 2011: 41).
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Roman wurde als literarische Verarbeitung der gemeinsamen Flucht mit der Mutter (Binggeli 2010: 30), als Umsetzung der »beklemmenden Erinnerungen als ›Transmigrantin‹« (Stoll; Kienholz 2009: 99) oder als »erzählte Geschichte« (Krüger 1999) gelesen und die Titelfigur Rosa als Repräsentantin der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts (Sos´nicka 2012: 169) interpretiert281 – entsprechend der These von Irmgard Ackermann, die anhand des literarischen Schaffens der »Ost-Autoren« von »Spiegelungen des Zeitgeschehens und der politischen Umwälzungen in Osteuropa als Hintergrund fiktionaler Texte« spricht (Ackermann 2008: 20). Ackermann stellt generalisierend fest, dass das Werk der AutorInnen osteuropäischer Herkunft stark von der politischen Entwicklung in den Heimatländer betroffen ist, d. h., in der deutschsprachigen Literatur osteuropäische geschichtliche Erfahrungen vergegenwärtigt: Zsuzsanna Gahses Roman »Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurück« (1999) handelt ebenfalls von Flucht und Zeitenwende. […] In allen diesen Texten geht es um individuelle Auseinandersetzungen im Kontext des turbulenten Zeitgeschehens, um die Auswirkungen der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse, denen niemand ohne tiefgreifende persönliche Umbrüche entgehen kann, auf das Leben des Einzelnen und die Suche nach Neuorientierung. (Ackermann 2008: 20)
Gerade dieser Roman liefert aber das überzeugendste Beispiel dafür, dass »die neueren Romane und Erzählungen [der Ost-Autoren]«, welche »Osteuropa vor und nach der Wende […] in der deutschsprachigen Literatur gegenwärtig« machen (ebd.), dies eben nicht unbedingt infolge der Rückschlüsse vom Text auf die Biografie der RomanautorInnen und den zeitgeschichtlichen Kontext leisten. Wie es nebst ihrer Erzählweise und Sprachlichkeit u. a. die oben erwähnten Zusammenhänge zwischen Sprachkunst und Kindheit bzw. Spracherwerb andeuten, behandelt Gahses »Mutterbuch« vor der Folie der Fluchtgeschichte und der Mutter-Tochter-Konstellation allgemein-elementare Themen wie die Problematik der Rollenformierung und Identitätsbildung (ihrer Konstruktion und Performativität) bzw. der sprachlichen Erfassung und/oder Verbergung der Wirklichkeit (und das, obwohl die gegenüber Festschreibungen und Erwartungen stets skeptische Autorin im Fall dieses Werks ausnahmsweise die Rele-
281 Sabine Brandt beantwortet die Frage, ob es im Roman lediglich um einen Mutter-TochterKonflikt geht, wie folgt: »Nicht nur. Es geht auch um ein europäisches Schicksal im zwanzigsten Jahrhundert.« (Brandt 2000: 56). Nach Dorota Sos´nicka ist der Roman »ein Abschiedsbuch der Tochter von der Mutter und zugleich ein Abschiedsbuch von dem gerade vergehenden 20. Jahrhundert« (Sos´nicka 2012: 164), »a farewell to the closing twentieth century which the mother represents« (Sos´nicka 2010 b: 247). Die Analogie zwischen der Ich-Erzählerin und der Autorin wird beinahe in jeder Rezension bzw. Analyse zum Roman festgestellt (Brandt 2000, Ferchel 2004, Binggeli 2010).
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vanz ihrer autobiografischen und geschichtlichen Erfahrungen explizit betonte).282 Eine evidente Relevanz und Bedeutung erhalten diesbezüglich die im vielsagenden Romantitel steckenden Andeutungen. Nach dem bzw. während des Lesens stellt sich allmählich heraus, dass die (mit dem deutschen Namen) »Rosa« benannte Figur die Mutter der (Deutsch sprechenden und schreibenden) Ich-Erzählerin ist, die einerseits Rosa nach ihrer Flucht aus Ungarn 1956 nicht mehr anya (ung. »Mutter/Mama«), sondern schlicht »M« (wie Mutter) nennt: [V]on diesen Lauten hätte ich höchstens das M übernommen, alles andere wirkte aufgesetzt und entsprach nicht dem, wie ich meine Mutter wirklich nannte und wie ich über sie dachte. Mein Wort begann mit A […]. Aber M kann ich mir vorstellen, mit diesem Buchstaben für die Mutter kann jeder leben, M wie Milch. (54)283
Andererseits betont das erzählende Ich (wie auch im Titel), dass es »[w]ichtig ist […], nicht zu vergleichen, nichts ist wie, Ähnlichkeiten lenken vom Hinschauen ab« (82) und grenzt sich gerade durch ihre Einwände gegen assoziierende und analogisierende Kurzschlüsse, d. h. gegen den Akt des Vergleichens, von der Mutter ab (»Vergleichen, sagte sie. Nein, eben nicht vergleichen, sagte ich« – 87; »Der Wind […] wäre dabei ein Symbol, sagte sie, und sie wüßte schon, daß ich von Gleichnissen nichts halte« – 98f.). Augenfällig wird dabei zunächst der Widerspruch zwischen dieser ablehnenden Haltung, der wiederkehrend betonten Skepsis der Erzählerin gegenüber jeglichen Gleichsetzungen (dazu gehören Wortfiguren wie der Vergleich, Formen der Verwandtschaft und im Allgemeinen konventionelle Rollen- und Sinnzuschreibungen, die eine Art Identifizierung oder Ähnlichkeit voraussetzen) und dem tatsächlichen Erzählverhalten. Das erzählende Ich verwendet nämlich vielfältige Vergleiche und Metaphern284 und fängt – dem Titel und ihrer späteren Feststellungen wider282 Vgl. hierzu Gahse im Gespräch mit Hilde Stadler über den Roman Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurück: »Da ist viel Autobiographie drin […]. Es interessierte mich jedoch wirklich, diese Fluchtgeschichte zu beschreiben. Man sagt mir immer wieder, dass meine Sprache auffällt: Man spricht also darüber, was ich sprachlich mache. Ich freue mich, dass Sie mich gefragt haben, ob in dieser Geschichte viel Autobiographisches drin steht. Denn die Geschichte selbst ist mir mindestens genauso wichtig wie die Sprache […]. Ich freue mich auf dieses Jahr 2006, denn heuer ist es genau 50 Jahre her, dass man in Ungarn diesen Aufstand gemacht hat. Es ist jetzt genau 50 Jahre her, dass ich ›geflohen wurde‹ mit meinen Eltern. Und plötzlich lesen nun viele Menschen gerade ›Nichts ist wie …‹ neu. Nun kommt endlich das Geschichtliche dabei heraus, und das freut mich. Es freut mich, dass nun auch diese Elemente durchkommen. Es ist nämlich ganz wichtig, wie ich glaube, dass eine solche Flucht auch wirklich mal thematisiert worden ist« (Gahse 2006). 283 Die Seitenzahlen nach den Romanzitaten beziehen sich auf folgende Ausgabe: Gahse, Zsuzsanna: Nichts ist wie oder Rosa kehrt nicht zurück. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1999. 284 In der Sprache der Erzählerin wimmelt es geradezu von Metaphern und Vergleichen, deren Unvermeidbarkeit sie – hier im Kontext der Analogisierung zwischen der politischen
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sprechend – auch den ganzen Roman mit einem vergleichenden Satz an: »Wie eine große Scheibe Lachs lag sie in ihrem Bett, ein großes Stück Rosa. Als ich bei ihr eintrat, deckte sie sich bis zum Hals zu, aber nach wie vor lag sie mit ihren bekannten Lachsfarben unter dem Betttuch« (5). Hier werden nicht nur spätere Leitmotive eingeführt (wie der Akt des Vergleichens, die Geste des Verbergens, das Thema des sprachlichen Benennens bzw. der Namensgebung), sondern in ihrem Kontext wird auch die für den Leser längerfristig fragliche Identität der Titelfigur problematisiert. Wie der Titel (»Nichts ist wie …«) und der Vergleich sowie das Spiel mit der Referenzfunktion (der Arbitrarität) des wörtlich genommenen Eigennamens Rosa am Romanbeginn verdeutlichen (Rosa liegt wie eine Scheibe Lachs im Bett und ist lachsfarben), erschöpft sich der Sinn des Wortes Anfang nicht in seiner Bedeutung auf der thematischen Ebene (es verweist nicht nur räumlich auf den Origo-Punkt der Flucht, auf die Herkunft oder auf das Prinzip »Mütterlichkeit« im Sinne der Urheberin oder Schöpferin) oder in der narratologischen Notwendigkeit dieser Kategorie, sondern es erweist sich als eine primär (inner-)sprachliche Problematik. Die Geschichte fängt nämlich mit einer sehr ambivalenten Positionierung der Mutter an, die in mehrfachem Sinne verborgen bleibt (konkret-physisch unter der Decke, als Vergleichsobjekt zum Lachs und auch in ihrer Beziehung zum erzählenden Ich als dessen Mutter), während ihr Name sie keinesfalls identifizieren kann: Er wird anfangs durch Remotivierung verfremdet (Rosa steht für ihre Hautfarbe) und im späteren Verlauf vom Anfangsbuchstaben M ersetzt, der seine Bedeutung (d. h. hier »Identität«) nur als Teil einer Vergleichsformel (»M wie Mutter«) erhalten kann. Die Problematik des Anfangs als raumzeitlich zu lokalisierender »Nullpunkt« (und auch der raumzeitlichen Linearität)285 der Lebensgeschichte oder der ErObservation und der Vogelbeobachtung – auch reflektiert: »[D]er staunende Mann […] wollte […] mir geschickt einen Ring um den Fuß legen […]. Er folgte mir eine Weile und bat mich schließlich, für ihn zu arbeiten, dabei meine Zweisprachigkeit zu nutzen, ich sollte im In- und Ausland zweisprachig beobachten. […] [I]ch rede von Ringen und Ködern, obwohl ich gegen alle Vergleiche bin, weil sie nur Verwirrung bringen, anstatt weiterzuhelfen, nichts ist so wie etwas anderes, gar nichts, aber jetzt wüßte ich doch nichts Treffenderes als die Ringe an den Füßen, außerdem fehlt mir die angemessene Sprache für den Mann an der Grenze. was wiederum zeigt, daß Vergleiche einfach nur Unklarheiten verdecken wollen« (36). Die Ähnlichkeit von Mensch und Tier gehört zu den Leitmotiven des Romans – auf der thematischen Ebene (die Verhaltensforschung dient als Vergleichsfolie, um Weiblichkeit jenseits von Mutterschaft und das Altern zu reflektieren – 88) und auch auf der Wortebene (Rosa wird »Vogelkopf« genannt: 24, 31, ihr Sohn »Rabenkind« und »Amsel« – 29). 285 Die Linearität der Lektüre und der Narration wird am augenfälligsten in dem drei Jahre vor Nichts ist wie … erschienenen, überwiegend aus Fußnoten bestehenden Kellnerroman durchbrochen und auf Strukturen der Räumlichkeit hin geöffnet. Die Reflexion des erzählenden und in erster Linie betrachtenden Ich auf die Bewegung des »ewigen Kellners« Ferdinand (ein Prototyp des Wanderers oder die »Summe von Fremden in einem fremden Land« – Gahse 2009: 91) am Nicht-Ort des Restaurants wird im aus labyrinthischen Abzweigungen der Fußnoten gebauten Textraum des Romans nicht nur mit verbalen Zeichen
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zählung wird damit zur Problematik des Anfangsbuchstaben, der sprachlichen Gestaltung der Welt. Dadurch wird bereits am Textanfang aufgezeigt, dass die Erzählung der (politischen) Geschichte (von der Flucht von Mutter und Tochter nach dem Ungarnaufstand) untrennbar eingebettet ist nicht nur in einen allgemeineren apolitischen Kontext (der Mutter-Tochter-Rollenzuweisungen), sondern sie ist auch unvermeidbar verflochten mit dem Hinterfragen von Sprache und Erzählkonventionen, mit der Problematisierung von Strategien des Sich-Offenbarens (bzw. Benennens) und Verbergens. Als Protagonistin oder als eigentliche Ich-Erzählerin (im Sinne von Dallos) erweisen sich im Laufe der Erzählung nicht Rosa oder ihre Tochter, sondern die Sprache bzw. das Wort und der Name selbst, wie auch die die Geschichte strukturierende (und im Romantitel angedeutete) Bewegung (»Rosa kehrt nicht zurück«) nicht nur zwischen politischen Formationen, Räumen und Sprachen erfolgt, sondern vielmehr innerhalb der Sprache zu verorten ist und sowohl im »horizontalen« Sinn (als Übersetzung bzw. als Fremdsprachenerwerb) als auch im »vertikalen« (als Etymologie)286 thematisch wird. Die Kategorie der Vergangenheit bzw. der »Herkunft« wird damit nicht nur anhand der Mütterlichkeit Rosas für den narrativen Diskurs konstitutiv, sondern auch als Konstruktionsprinzip kollektiver Formationen (wie der Nation) und als eine (zumeist verborgene) Schicht im Palimpsest der Wortbedeutungen (eine weitere ihrer Bedeutungen ist, wie erwähnt, der Funktion des Anfangsbuchstabens ähnlich, den die Erzählerin zwar als »Eigennamen« zur Bezeichnung der Mutter alleinstehend versprachlicht, sondern auch in Zeichnungen visualisiert, wie auch das Erzählen als Sichtbar-Machen, als Pendant zum räumlichen Nebeneinander beim Zählen thematisiert wird – vgl. hierzu die Autorin: »Erzählen ist zusammenzählen, und die zu erzählenden Teile können immer neu gezählt werden, jedesmal wird sich eine andere Zahl ergeben […] und weil also alles zu Berichtende in einem Raum steht und von unterschiedlichen Seiten betrachtet und entsprechend gezählt werden kann, ist alles zu Berichtende instabil« (Gahse 1997: 29). (In Oh, Roman [2007] gelten nicht mehr die bildenden Künste als Modell der Textgestaltung, sondern die Kompositionsideen György Ligetis, vgl. Gahse 2009: 114f.). 286 Auf die Analogie macht auch die Autorin aufmerksam, als sie Folgendes betont: »Die scheinbar geläufigen Wörter haben ihre Geschichten. Ihre etymologischen Geschichten sind oft ein Krimi. Vor allem stellen sie den Raum dar« (Gahse 2009: 8). Antje Krüger hebt in diesem Kontext bzw. bei der Interpretation der Synchronfotografien über die Italienreise der Familie die komplexe Rolle der Bewegung und des Unterwegsseins im Roman hervor: »Zsuzsanna Gahse gelingt es hier, das Zeitproblem moderner Erzählungen um die Dimension der Bewegung zu erweitern. […] So wird der Text nicht von dem Blick der Vergangenheit her festgeschrieben, sondern eine Vielzahl von Variablen angeboten, die den Text konstituieren. Die Erzählung bietet keine lineare Abfolge von Ereignissen an, sondern bezieht sich auf einzelne Augenblicke, wobei der Fokus variiert oder in der Wiederholung neu ›eingestellt‹ werden kann. Die Vergangenheit löst sich bei Zsuzsanna Gahse somit nicht in der Gegenwart auf, sondern die Zeitformen könnten als ›synchronisiert‹ bezeichnet werden, wobei ›Verzerrungen nicht ausbleiben‹, wie das erzählende Ich schreibt. Dieser Blickwinkel eröffnet sich mit der eindrucksvollen Beschreibung von ›Synchronfotografien‹ im Text, die der Vater Rosas sammelte« (Krüger 1999).
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– als »M« – verwendet, dessen Sinn sich jedoch nur im Verhältnis zum Wortganzen, in der Konstellation »M wie …« erfassen lässt). Die Erzählerin verbindet ihre Geschichte ausgehend vom Anfangsbuchstaben A, der mit dem Anfang des ungarischen Wortes für Mutter (anya) korreliert, nicht nur mit der Lebensgeschichte der Mutter (deren Ereignisse parallel mit den Kindheitserinnerungen der Erzählerin erzählt werden), sondern auch mit der Geschichte der Awaren, dem frühmittelalterlichen Herrschervolk in der Pannonischen Tiefebene: Unsere Verwandtschaft hatte sich durch die gemeinsamen awarischen Vorfahren ergeben, sagte ich mir, während Rosa gerade von den typischen Eigenschaften sprach, die in allen Ländern auffallend vorhanden wären, wobei sie solche besonderen Eigenschaften zugleich in Frage stellen wollte. […] Awaren, Ländernamen mit A erinnern an Weite. Arabien, Armenien, Magyaren, die Weite von Kontinenten spielt mit, Amerika, Afrika, außerdem ist es gut, wenn neben dem A auch ein Ro vorkommt, etwas Widerstand, arrabiato. (33f.)
Die vermehrten Hinweise der Erzählerin auf ihre awarische Herkunft dienen jedoch keinesfalls zur Legitimierung der für den (ungarischen) nationalistischen Diskurs einst konstitutiven These der ungarisch-awarischen Kontinuität, im Gegenteil werden nationale und Völkerzugehörigkeiten (»besondere Eigenschaften«) samt anderen Formen homogenisierender Identitätszuschreibungen von Rosas Tochter abgelehnt.287 So bleibt auch in der Schwebe, ob ihre Beziehung lediglich Seelenverwandtschaft oder Freundschaft oder biologische Verwandtschaft ist (»Feindlichkeiten waren nur auszuhalten, weil es zwischen Rosa und mir um eine Verwandtschaft ging, zumindest in meinen Augen« – 33, »Wenn 287 Rosa weist verwandtschaftliche Beziehungen (so auch ihr Muttersein) als ungerechterweise zwingende Festschreibungen zurück – stattdessen betont sie ihre Kontingenz (»Kinder werden einem zugespielt, sind etwas Zufälliges« – 95) und hebt dichotom homogenisierende Vorstellungen u. a. in Bezug auf das Geschlecht auf: Rosa betont, sie habe einen »Männerverstand« (67), »in ihr stecke ein Stück Mann […], daher könne sie auch leicht erkennen […], welche Frau einem Mann gefallen könnte, na ja, das sei ihr Männerblick« (51) und dass sie »ihre Gedanken […] für ihre Freunde aufheben [möchte], sie baue auf ihren Verstand, und damit sei sie ein Mann, aber dadurch gerade eine Frau« – 95). Mütterlichkeit oder Geschlecht stehen hier im Allgemeinen für arbiträre Grenzziehungen und willkürliche Konstruktionen (im Roman werden die Ähnlichkeit bzw. die Struktur des Vergleichens und auch die chronologische und kausale Sukzession, so u. a. die Kategorie des Anfangs als solche problematisiert) – dementsprechend werden sie auch auf der Wortebene problematisiert, beispielsweise als der Akt des vergleichenden Schauens zum Spiel mit den unterschiedlichen Bedeutungen bzw. der Etymologie des Wortes relativ/ Relation wird: »Einmal war M so groß wie das gegenüberliegende Haus. Ich stand am Fenster, und nachdem ich diese große Ähnlichkeit bemerkt hatte, war sie nicht mehr zu überwinden […]. Es ging unübersehbar um M und die Relationen […]. Vorausgesetzt eine Person ist hundertzweiundsiebzig Zentimeter groß, wird es sicher auffallen, wenn neben ihr eine um fünf Prozent kleinere Person steht. […] dann ist der kleinere Mensch nicht relativ, sondern absolut kleiner […]. Von relativ kann nicht mehr die Rede sein, die Relationen kann jeder schlichtweg vergessen, und aus ist es mit allen Verwandtschaften« (74).
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Rosa und ich gemeinsame Vorfahren hatten« – 34, Rosa »wehrte sich ein Leben lang gegen verwandtschaftliche Abhängigkeiten« – 78), und als die Völkerwanderung bzw. der ungarische Ländername zum Subtext von Rosas Geschichte (der Massenflucht nach 1956) gemacht wird, erweisen sich die Aus- und Einwanderung als überzeitliche Praxen: Wer gegangen ist, den gibt es nicht, und über den spricht man nicht. Trotzdem besteht das Land von Anfang an aus auswandernden und einwandernden Personen. Viele von ihnen waren aufgebrochen, zögernd gingen sie los, auf halbem Wege haben sie zurückgeschaut, und Tränen traten ihnen in die Augen […]. Manche sind zurückgekehrt und tragen seitdem einen Ring am Fuß, wie Vögel, observierte Vögel. Oder sie selbst sind es, die jemanden observieren. (35f., kursiv E.P.)
Die Instabilität wird zur Schlüsselkategorie im Text, u. a. als Verweis auf die Relevanz der Prozessualität und des In-Bewegung-Seins im Text (Rosa entpuppt sich allmählich als Mutter, räumlich-zeitliche sowie existenzielle Grenzen werden bei der Beschreibung der Lebens- und Sterbensgeschichte der Mutter und in der Reflexion auf Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse stets überschritten), und sie lässt sich auch auf die Narration bzw. den Erzählraum beziehen, die strikte Chronologie verweigert und Linearität entbehrt.288 Instabil und fraglich bzw. unzugänglich sind aber nicht nur der Anfang bzw. die Abstammung als solche oder das Verhältnis zwischen Rosa und dem Ich, sondern auch die Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, zwischen Namen und Subjekt, wie dies auch das einen »Handlungseffekt« auslösende »gewagte Simultanspiel zwischen dem Ungarischen und dem Deutschen« (Dallos 2005: 47) veranschaulicht. Die verborgenen ungarischen Subtexte (wie im obigen, auch den Titel interpretierenden Zitat die kursivierten Zeilen eines ungarischen Volksliedes über das Verlassen der Heimat), die wortwörtlich übersetzten (aber nicht als solche kennzeichneten) Verse populärer Budapester Chansons aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts289 bestä288 Die Destabilisierung jeglicher Sicherheiten verwendet Gahse als bewusste Schreibstrategie und betont die konstitutive Relevanz der Offenheit, der Ungenauigkeit und Ungewissheit bei der Interpretation ihrer Texte: »Alle meine Texte sind instabile Texte, die der Leser weiterschreiben kann« (Helbig 2008: 32, zitiert nach Schmitz 2009: 284). Die Autorin äußerte sich auch zur Rolle der Prozessualität in dem Roman, im Kontext der Tatsache, dass das Verhältnis der beiden Frauen eine Weile unklar bleibt: »Die eine erzählt, die andere heißt Rosa, später entpuppt sich Rosa als die Mutter. ›Eine sich entpuppende Mutter‹– jagt einem Ängste ein, tritt für Augenblicke als Rivalin auf, aber lebt endlos weiter, so dass sich die Ungereimtheiten zwischen den beiden beinahe (!) auflösen« (Gahse 2009: 102). 289 Für den nicht-ungarischen Leser stellt sich aus dem Kontext nicht heraus, dass die Sätze »Hannes, gehen Sie hinauf zum Johannesberg« (44), »Seien Sie bitte am Samstagabend in Buda« (65) oder »Im Bus, nachts, im Doppeldecker« (68) die Titel bzw. Anfangszeilen allgemein bekannter populärer Lieder über Budapest (J#nos legyen fenn a J#nos hegyen, Legyen a Horv#th-kertben Bud#n, szombaton este, Pjjel az omnibusz tetej8n) zitieren.
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tigen jedoch die ungarische Herkunft der Erzählerin und somit eine affirmative Rolle der Verwandtschaft von Rosa und dem Ich. Das ungarische Wort avar (d. h. »Laub«) wird als Assoziation der Erzählerin erwähnt, als in ihrer Reflexion auf die Vorfahren Genealogie und Übersetzung nebeneinander gestellt werden (»avar [bedeutet] als Aware in der Sprache, die ich zuerst gelernt habe, auch Laub, Herbstlaub« – 34), und ähnlich verfährt sie auch, als sie über die Familienreise durch Italien berichtet und den Namen Fium8s aufgrund der ungarischen Bedeutung des Wortlautes nicht mehr als Eigenname, sondern als allgemeines Hauptwort verwendet und mit einer metaphorischen Bedeutung versieht: Fiume ist nicht irgendein Wort. Der Stadtname hat einen Pfeifton, in dem auch ein Vorwurf steckt. Mit diesem verhaltenen Vorwurf bin ich aufgewachsen. Fiu heißt auf ungarisch Bub oder Knabe oder Junge, ein uraltes Wort. Selbst Küken und alle Vogeljungen heißen ähnlich. Ein Fiu ist […] hochschießend, und gleichzeitig wächst da etwas bedrohlich Neues […]. Mit dem Wort sind die Ungarn vor Tausenden von Jahren umhergewandert, sind mit ihm durch riesige Landschaften geritten. Vielleicht rede ich vergebens von dieser Herausforderung. Jemandem, der mit den Wörtern Bub und Junge aufgewachsen ist, geht es anders. (72f.)
Solche sprachspielerischen Verknüpfungen von individuellen Biografien (migratorischen Erfahrungen im Sinn der räumlichen Fortbewegung) und von (»wandernden«-migrierenden Wörtern und Bedeutungen bei der) Fremd- bzw. Mehrsprachigkeit steigern die erwähnte Instabilität und Uneindeutigkeit des Textes, erstens durch ihre Unzugänglichkeit für den des Ungarischen unkundigen Leser und zweitens damit, dass sie – dem Titel widersprechend – metaphorisierende Vergleiche veranlassen. Ihre Komplexität wird im letzteren Beispiel noch dadurch erhöht, dass die Festschreibung konventioneller Männlichkeitsrollen mit der Überlieferung von Wörtern und mit dem Spracherwerb als biografische Erfahrung des Heranwachsenden verbunden wird und dadurch die räumliche Bewegung (der herumwandernden Magyaren und der mit ungarischer Muttersprache aufgewachsenen Erzählerin) als primär sprachliche (und temporale) Erfahrung erfasst wird. Die zeitliche Progression als Merkmal der Lebensgeschichte bedeutet in diesem Kontext sprachliche Pluralisierung (Verlust der Eindeutigkeit und Dominanz der Muttersprache), und die Bezeichnungen der Subjekte in zeitlich distanten Lebensphasen (»Bub«, »Junge«), wie auch die Identifizierung des erzählenden Ich als Tochter (der Titelfigur), verleiten zu einer Reflexion auf scheinbar evidente und zwingende Herkunftsnarrative und Rollen bzw. Sinnzuschreibungen. Die Problematisierung der Mutterschaft (d. h. der Muttersprache) dient im Roman lediglich als »Vorwand« zur Thematisierung des Spracherwerbs bzw. der sprachlichen Erfassung der Welt im Allgemeinen. Ganz ähnlich ist die Tochterschaft des erzählenden Ich in erster
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Linie keine verwandtschaftliche Kategorie, sondern vielmehr ein Verweis auf die Kindheit in der Sprache – eine Position, die bei der Konfrontation mit der Fremdsprache auch jedem Erwachsenen zuteilwird. In der sprachlich fremden Umgebung – nach der Überschreitung der ungarisch-österreichischen Grenze nach der Niederschlagung des Aufstandes (16–23) bzw. bei ihrem Aufenthalt im Auffanglager der Ungarnflüchtlinge bei Wien (24f.) – wird die Benennung der Mutter zum Problem für das Ich: Ich versuchte mir vorzustellen, daß Rosa meine Mutter war. Nachdem ich angefangen habe, darüber zu zweifeln, habe ich weitergezweifelt, obwohl die ersten Störungen, wenn ich es richtig weiß, sehr einfach aussahen. Sie hingen damit zusammen, daß ich, wenn ich von Rosa sprach, Mutter sagen mußte, plötzlich hatte ich sie so zu nennen, die Bezeichnung für sie auf deutsch hieß Mutter, und das war mir fremd. (53)
Die als zwingend erlebte sprachliche Fremdheit wird zum Pendant einer Verfremdung der Mutter (der »Störung« in ihrer Beziehung), und diese doppelte Fremdheit (beim Verlust oder bei der Verwandlung der Muttersprache und der Mutter) wird wiederum zum Medium bzw. Anlass einer Fremdheitserfahrung – als konstitutive Voraussetzung der ästhetischen Tätigkeit der Imagination, als Distanz oder Entfremdung des betrachtenden-beschreibenden Selbst vom Betrachteten oder von sich selbst. Diese zeigt sich auch an weiteren Textstellen: Einmal, als die (auf den Migrationskontext zurückgeführte) Verunsicherung der Verwandtschaftsbeziehung zwischen Rosa und der Erzählerin mit dem »Schwanken« im Sinne der Instabilität der Retrospektion verbunden wird: [N]achdem wir […] nicht mehr zu Hause waren, fiel mir auf, daß zwischen ihr [Rosa] und mir einiges anders aussieht als zwischen anderen. Als ich mir das genauer ausmalen wollte, […] war mir nicht mehr sicher, daß sie meine Mutter war, ich wollte nach einem neuen Namen für sie suchen, und dann fiel mir auf, daß auch rückblickend eine Menge zu schwanken begann […]. [J]eder kann ja zurückblicken […] und wenn er dabei torkelt und in den vergangenen Bildern schwankt, wird es ihm schwindlig. (55f.)
Ein anderes Mal erweisen sich der Anfang als problematisierte (retrospektiv notwendige, aber grundsätzlich instabile) narrative Kategorie und die ebenfalls problematische Identität der Mutter als metaphorische Spiegelungen voneinander, und zwar in der Reflexion der Erzählerin auf ihre Spaltung bzw. bei der Beobachtung von Rosa:290 290 Die Spaltung zwischen dem Subjekt und Objekt der Betrachtung oder innerhalb des sich betrachtenden bzw. beschreibenden Subjekts wird auch anhand der Erinnerung an die Kindheit thematisiert und dient der Erzählerin zur Veranschaulichung von Rosas Verweigerung des Alterns bzw. zur Problematisierung der chronologischen Sukzession als Konstruktionsverfahren narrativer Identität: »[W]enn ein kleines Mädchen denkt, sie sehe nun ihre Arme, kann sie nicht […] gleichzeitig denken, daß das, was sie sieht, Ärmchen einer Kleinen seien, weil sie dann als Große zuschauen würde, wie sie als Kleine in der Badewanne sitzt, und dann würde nicht die Kleine sich entdecken, sondern die Große, die
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[G]leich am ersten Tag, als sie eine erste Möglichkeit sah, nutzte sie die Stunde und lähmte mich […], wenn ich mich mitsehe, gibt es drei Personen, neben M gibt es mich, mit der sie am Tisch saß […] und mich, die zuschaute. Wegen dieser drei Personen können die Beobachtungen von vornherein nicht stimmen, und dafür gibt es nur die Entschuldigung, daß auch sonst nie alles stimmt, wenn jemand zuschaut […] und trotzdem wüßte ich keine bessere Möglichkeit als zuzuschauen. (119)
Neben der Instabilität oder Nicht-Identität als Merkmalen nicht nur der Beziehung zwischen Rosa und der Tochter und ihrer ständigen Reisen (nach der Emigration und während der Kindheit von ihnen beiden),291 sondern auch der Erzählhaltung, der Geschichte und der Sprache werden an diesem Punkt ebenso die Endlosigkeit (als Pendant zur Anfangslosigkeit) und die Multiplizierung (als Gegenpol zur Einheit bzw. Eindeutigkeit) zu Schlüsselkategorien der Auslegung sowohl der Verwandtschaftsbeziehungen (bzw. der verbindlichen Rollenzuweisungen und statischen Identitätsentwürfe) als auch der problematisierten Beziehungen zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem oder Wort und Wort. Die zwingende Eindeutigkeit der genealogischen Kette zwischen Mutter und Tochter wird durch den Verweis auf die Pluralisierung des Subjekts und den Geschlechtswechsel der Erzählerin subvertiert: »Ich könnte mich freiwillig als ein Zwillingspaar anbieten […]. Ich allein wäre zwei gleichaltrige Knaben […], sie hätten miteinander eine kleine abgeschlossene Welt, aus dieser […] heraus
die Kleine erst später ist« (59). Die Kongruenz zwischen verwandtschaftlichen Beziehungen bzw. Stationen der Lebensgeschichte und zeitlicher Sukzession wird auch an anderen Stellen aufgehoben: Das Ich verzichtet beim Erzählen seiner Lebensgeschichte auf die Kategorie »Kind« (»Meinerseits war ich kein Kind, ich kann mich nicht erinnern, daß ich es gewesen wäre. Ich habe immer auf die gleiche Weise aus mir hinausgeschaut« – 79, »die Eltern in Rosas Erzählungen [waren] weder alt noch jung, sondern Eltern« – 60, und Rosa behauptet, sie sei jünger als ihre Tochter – 104). Die versuchte Beschreibung der MutterTochter-Relation erweist sich als Pendant zu den Erzählkonventionen des rationalen narrativen Diskurses, die Gahses nicht-linearer, uneindeutiger, »instabiler« Text subvertiert: »Die Tochter einer Mutter ist die jüngere Frau. Damit ist die Geschichte dort angelangt, wo sie soeben geschieht und in die Zukunft weiterläuft. Es ist die Gegenwart, die mit der Tochter eintrifft« (76). 291 Zur »unaufhörlichen Wanderung« (Sos´nicka 2012: 167) von Mutter und Tochter vgl. die ausführliche Analyse Sos´nickas: »Entsprechend den Worten der Mutter, ›der Koffer sei ihr Hauptwohnsitz‹ (26), wird im Roman das unaufhörliche Unterwegssein der beiden Frauen thematisiert, und zwar in vielerlei Hinsicht: Zum einen stehen also im Mittelpunkt des Romans die vielen europäischen Reisen, die Rosa als Kind mit den Eltern unternommen hatte und an die sie sich mit Vorliebe erinnert. Zum anderen meint die Bewegung insbesondere die Flucht in die Fremde, die Rosa eine nie zu überwindende, wenn auch nie offen eingestandene innere Verletzung zugefügt hat. Das stete Unterwegssein meint aber auch die ständig scheiternden, schmerzhaften und Schmerz zufügenden Annäherungsversuche der beiden Frauen. Schließlich aber zeichnet der Roman noch eine andere Art von Wanderung nach, und zwar eine Bewegung in der Zeit: das Altwerden, das Vergehen und den Tod, die Rosa nicht akzeptiert und die man ihr zufolge ›überwinden müsse‹« (103).
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würden sie […] zu ihrer Mutter hinüberschauen« (158).292 Dasselbe passiert auch (dem Mythos der Einzigartigkeit) der Mütterlichkeit und eng damit verbunden der erzählerischen Logik und Zeitlichkeit der Sukzession: Einerseits, als die scheinbar eindeutige Temporalität der Mutter-Tochter-Beziehung aufgelöst wird (»[V]ielleicht gibt es in zwanzig Jahren […] Leute, die zum Teil älter sind als ihre Mütter […]. Die Mütter, die jünger sind als ihre Kinder, lasse ich beiseite« – 162), und andererseits, als die Identität der Budapester Mütter (»Sie waren anders als die Mütter außerhalb der Stadt« – 67) mit der Unendlichkeit und Anfangslosigkeit der genealogischen und der Signifikantenkette293 und dem Nebeneinander der Pluralformen konfrontiert wird: »Die Stadt war voller Frauen, es gab unzählige Mütter. […] Die Mütter und ihre Mütter und deren Mütter, eine Reinform von Frauen« (67). Die Pluralisierung oder Aufhebung der Kategorien des Anfangs und des Endes sowie der narrativen und zeitlichen Sukzession und Kausalität bestimmen auch den Ausgang der Geschichte: Das Sterben der Mutter am Romanende wird als Geburt erzählt – »Ich stand neben ihrem Bett, für Augenblicke war mir, als wäre ich bei der Umkehrung einer künstlichen Geburt, als wäre sie in Wirklichkeit nicht am Sterben« (129). Dementsprechend findet ein merkwürdiger Rollenwechsel statt: Für den Leser wird erst an diesem Punkt klar, dass die Erzählerin selber Mutter von Kindern ist (»[I]ch bat meine beiden Kinder, M gleich anzurufen« – 129) und die sterbende Mutter verwandelt sich in ein dem Körper ausgeliefertes und zu versorgendes Kind. Wiederum zeigt sich der be292 Im Roman finden sich auch Rollentausche anderer Art: Die Mutter-Tochter-Rollenzuschreibungen werden an mehreren Stellen durch einfache Umkehrung verunsichert: »Einmal konnte ich nicht mitsingen, weil ich Fieber hatte. Rosa fand das befremdend, sie mußte sich sogar hinlegen, tagelang schlief sie, und ich versuchte sie zu pflegen, ich brachte ihr leichte Suppen und getoastetes Brot ans Bett […]. Als ich ein zweites Mal krank wurde, legte sie sich erschöpft wieder hin« (44). 293 Das Nebeneinander der Namen lässt sich nicht nur als Pendant zur problematisierten genealogischen Kette bzw. der Tradierung von Rollenzuschreibungen lesen, sondern es dient auch zum Hinterfragen des chronologischen und kausalen Erzählprinzips, worauf die Erzählerin auch reflektiert, als sie wiederzugeben versucht, wie Rosa von ihren Reiseerlebnissen berichtet (51) und sie dabei lediglich Städtenamen (Rom, Neapel) aufzählt: »Vorher, als sie von den geliebten Stadtnamen zu sprechen begann […]. [D]ann stimmte für sie etwas nicht mehr. Sie hatte ihre eigenen Italienfahrten ausmalen wollen, ein Stück Geschichte. Man könnte einmal logisch auf ein Gespräch zurückgreifen, könnte der Reihe nach wiederholen, wovon zuerst die Rede war […], aus welchem Grund ein Satz auf den anderen folgte, wie es also angefangen hat. Und der Anfang war doch so, daß sie von Italien gesprochen habe, sie habe doch zuerst von Italien gesprochen, weil sie etwas darstellen wollte, plötzlich aber war von billigen Busreisen die Rede« (41f.). Eine ähnliche Struktur findet sich auch bei einer späteren Beschreibung der Reise: »Le Bon, Ortega y Gasset, na ja! Na wirklich, na ich muß schon sagen, sie muß schon sagen, man muß, das muß man sagen, nein, also das ist schon anders, und sie wolle sich nicht einmischen, sagte sie, aber lassen wir das, lassen wir das Thema, aus jetzt, aus!, sagte sie« (72).
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reits thematisierte Zusammenhang von familiären Bindungen (Mutter-TochterBeziehung, Kindheit und Heranwachsen), Sprache (Fremdsprachlichkeit und Spracherwerb) und erzählerischer Tätigkeit (Perspektive und Sprache der Narration). Die Fremdheit der Sterbenden294 wird als Fremdheit ihrer Sprache problematisiert: Erstens spricht Rosa in Nonsens-Wörtern, die ihre (als solche nicht erkannte) Tochter nicht versteht: Was macht Bulko, wollte sie wissen. Wer denn Bulko sei? Der Bulko eben, der Menehuno löl. Ich sagte, Bulko sei mir nicht bekannt, und ich nannte ihr meinen Namen, ich stellte mich ihr vor. Na, wozu denn, meinte sie, der Bulko lebt mit dir. (134)
Rosas Kindsein offenbart sich zweitens als Kindsein in der deutschen Sprache: Während die Erzählerin bis jetzt betonte, dass die Mutter als Sprachlehrerin und Übersetzerin von Anfang an keinerlei Schwierigkeiten mit dem Deutschen hatte (»sie [konnte] sich ohne Vermittlung mit den österreichischen Zuständigen unterhalten […], während ich die ersten deutschen Wörter lernte« – 24) und ihre Figur in der Geschichte konsequent deutsch sprach (sogar die gesungenen ungarischen Lieder wurden auf Deutsch wiedergegeben), finden sich nun ungarische Einsprengsel in ihrer Rede (»Das Luhidalom versuchte sie auch verändert zu sagen […], langsam verstand ich, daß sie zwei Wörter damit geschickt verknüpft hatte, ein deutsches und ein ungarisches, die Ruhe und nyugalom« (134), und zum ersten Mal erweist sich auch ihr Deutsch als fehlerhaft: Sie sei schon einmal gesterbt und gesterbeben, nun werde sie noch einmal gesterbsen. Diese Wörter fand sie auf deutsch, fand weitere deutsche Wörter, sie möchte weit, sagte sie, dann folgte etwas Ungarisches, repülni, fliegen, sie wollte fliegen. Wenn nämlich sie, und sie nannte ihren eigenen Namen, aufhören würde, würde die ganze Welt aufhören. (135)
Vielsagend ist, dass die problematisierte »kindliche« Sprache der Mutter (erfundene Wörter, halb ungarische, halb deutsche Wörter, grammatisch falsche deutsche Wörter) an beiden obigen Stellen mit dem in seiner singularisierenden Identifizierungsfunktion versagenden Eigennamen bzw. mit dem performativen Akt der Namensnennung (von Rosa und der Erzählerin) verbunden wird (Rosa zählt später sämtliche Namen ihrer Familienangehörigen auf: 139). Der Sprachkörper der Erzählung und Rosas Körper erweisen sich nämlich als ana294 Diese Fremdheit bestimmt auch die Wahrnehmung der Räume: Rosa will nicht in dem »fremden Zimmer« im »Krankenhotel« (139, d. h. im Spital) sterben und entflieht in ein Wiener Hotelzimmer, das ambivalenterweise als Nicht-Ort (Aug8) zu ihrer Heimat wird, wie das immer der Fall war : »Eine Stadt, in der man wirklich nirgendwo einkehren konnte, um einen Kaffee zu trinken und Zeitung zu lesen, war für sie, aber auch für mich, unvorstellbar […]. Nachdem sie alle Konditoreien und Caf8s in Kassel ausfindig gemacht hatte, fühlte sie sich wohler« (40f.).
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log, wie das beim durch den Eigennamen idealtypisch bereitgestellten eindeutig identifizierenden Verweisen (und grundsätzlich auch beim Vergleichen)295 der Fall ist. Das enthüllte sprachliche Kindsein der Mutter wird am Romanende zur Stummheit der Tochter : Als vor dem eigentlichen Aufhören des Erzählens drei Seiten lang mit »M« anfangende Begriffe aufgezählt werden, verschwindet zunächst die geklammerte (Gegen-) Stimme der Tochter – »M wie […] Mann (Gegensatz von Mann)« (167) –, dann wird die Vergleichspartikel wie gelöscht, bis schließlich nur ein Doppelpunkt übrig bleibt und die Erzählung schlicht abgebrochen wird nach dem letzten Satz »M: Muster, Mut, Mythos« (169). Die schöpferische Geste der Namensgebung (die Erfindung und/oder das Nennen der Namen) sowie die (fremd-)sprachliche Benennung werden nicht nur in den behandelten Szenen am Romanende relevant, sondern sie verweisen auch auf einen weiteren strukturellen Zusammenhang zwischen Sprache und Körper. Beide werden von der Geste des Verbergens miteinander verbunden: In der biblischen Urszene der Scham, in der Geschichte vom Sündenfall in der Schöpfungsgeschichte, verwandelt sich die Sprache vom Medium des genuin menschlichen Schöpfungsaktes (Adam verleiht den Tieren Namen) in eine Strategie des Verbergens der Sünde.296 Das Sich-Verstecken und das Kaschieren des Körpers spielen auch auf der thematischen Ebene des Romans eine leitmotivische Rolle – wie es im bereits zitierten ersten Satz und auch später angedeutet wird (»Bekannt war von der Mutter […], daß sie sich in ihrer Menschenscheu manchmal im Kleiderschrank versteckte, wobei die Schrankgeschichten sicher in ihre Jugend gehörten. Mit knapp fünfzig war sie dann verschollen, verschwunden« – 62). Erstens dienen diese Handlungen der Mutter zur Verhüllung der Kontingenz, sie drücken Scham infolge der Enthüllung der nackten Körperlichkeit, dem Ausgeliefertsein an die Hinfälligkeit des alternden
295 Zum Thema des sprachlichen Bezeichnens in Form von (individuellen) Namen bzw. zum Vorgang des Benennens gibt es eine umfangreiche Sekundärliteratur – vgl. u. a. Bering et al. 1990; Kripke 1993; Debus 2002. Zu Fragerichtungen einer interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Namensforschung vgl. Simonis; Simonis 2010. 296 Vgl. Böhme 2011. Zu den Unterschieden zwischen der Sprache der Namensgebung und der Sprache nach dem Sündenfall, zwischen der »reinen Sprache des Namens« und der zum »Mittel« gemachten Sprache (Benjamin 1991: 153) vgl. Walter Benjamin: »Die Erkenntnis, zu der die Schlange verführt, das Wissen, was gut sei und böse, ist namenlos. Es ist im tiefsten Sinne nichtig, und dieses Wissen eben selbst das einzige Böse, das der paradiesische Zustand kennt. Das Wissen um gut und böse verlässt den Namen, es ist eine Erkenntnis von außen, die unschöpferische Nachahmung des schaffenden Wortes. Der Name tritt aus sich selbst in dieser Erkenntnis heraus: Der Sündenfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht mehr unverletzt lebte, das aus der Namensprache, der erkennenden, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, um ausdrücklich, von außen gleichsam, magisch zu werden. Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst). Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes« (ebd.).
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und kranken Körpers aus:297 »Vor allem versteckte sie sich, wenn sie krank war […], dann schloß sie sich in ihr Zimmer ein, und ich konnte ihr nur die Getränke und das Essen bringen, nachher wollte sie wieder allein sein« (48). Die Geschichte liest sich zweitens als Plädoyer gegen jegliche Form der Stabilität und Festgelegtheit (der Eindeutigkeit, der Rollenzuweisungen), wobei das Camouflage des Geschlechts auch eine konstitutive (d. h. eigentlich subversive) Funktion bekommt, u. a. als das Ich sich für M – dem Pagen von Gustav Adolf ähnlich – in Männerkleidung als neue Person kostümiert und sich hinter dem »jungen Mann« (sich selbst) versteckt, als die Mutter sie anspricht (93f.).298 Die Dynamik von Enthüllen und Verbergen bestimmt den Text drittens auch narratologisch – Rosas Geschichte ist, wie erwähnt, voller Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen und die Erzählerin selbst reflektiert darauf, Vieles vor sich selbst verschleiert und/oder erst nachträglich und allmählich verstanden zu haben. Viertens ist das Sich-Verstecken nicht nur eine unwillkürliche Geste der Körperscham oder Ausdruck bzw. Konsequenz der sprachlich-erzählerischen Ungreifbarkeit der Welt,299 sondern es erfüllt auch konkret notwendige Zwecke, u. a. als die Mutter auf der Flucht aus dem Spital sich mit einem Kopftuch verkleidet (146), als die Ungarnflüchtlinge sich auf den Dächern verstecken (17) oder als Rosa und die Tochter sich in zu viele Kleiderschichten eingepackt nachts über die Grenze schleichen (20f.). Das Maskieren, die Verhüllung und das Verbergen erweisen sich in diesem Kontext nicht nur als Schamgesten oder als Sprachstrategien, 297 Die Mutter charakterisiert eine besondere Art von Körperscham: Sie hat aus Angst um ihre Brust nicht gestillt, lässt sich die Brüste verkleinern, riecht stets an ihrem Körper und nimmt das Altern nicht an (»Wer das Vergehen akzeptiere, sei selber tot […], sie werde das nicht hinnehmen, weder den Tod ihrer Eltern, noch je einen anderen« – 89). 298 Kindheit bzw. Kindsein stehen für den Zustand des Hineinwachsens in die Sprache und auch in die Geschlechterrollen, deren Eindeutigkeit im Roman nach und nach problematisiert und hinterfragt wird, wie es auch in dem oben erwähnten Kontext der Verkleidung der Fall ist: »Nur hatte König Gustav Adolf sicher etwas von der mädchenhaften Ausstrahlung des Pagen gespürt, die beinahe mit einer knabenhaften Ausstrahlung zu verwechseln war, und gerade das war anziehend für ihn« (93). 299 Im Roman wird kein chronologisch-kohärentes Narrativ der Ungarnrevolution vermittelt, sondern lediglich ein Nebeneinander von Zahlen (der Flüchtlinge, der Wartenden an der Grenze, der Zerstörenden des Stalin-Denkmals – 17). Während der Flucht wird nicht gesprochen (18) und auch später nicht (»Den Verlauf des Weges konnte ich nachträglich mit niemandem besprechen« – ebd., »[W]ir […] sprachen über die vergangenen unsicheren Wochen und kamen nicht über Andeutungen hinaus« – 23). Als Rosa über ihre Vergangenheit spricht, bleiben der Aufstand und die Flucht Ellipsen (»Von ihr hörte niemand mehr über die vierziger und fünfziger Jahre, auch vom Aufstand nicht, nichts von der Flucht, nichts von den Gründen, die sie wohin auch immer geführt haben« – 43), wobei nicht (nur) die allgemeine Unerzählbarkeit traumatischer Ereignisse, sondern die kausale und chronologische Narration als solche problematisiert wird (diese wird in dem Roman und auch von der Mutter nach und nach hinterfragt, so auch gerade im Kontext der Erzählung von der Revolution: »[S]ie hatte sich angewöhnt, in überraschenden Zusammenhängen plötzlich laut zu rufen, daß sie eine Revolutionärin sei« – 43).
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sondern sie erhalten auch eine Art politischer Bedeutung infolge ihrer Abhängigkeit von der (zwingenden Kraft) der (Deutungs-) Macht. Zieht man dazu noch in Betracht, dass die Diktatur den Menschen unmündig und untertan macht und das behandelte »Kindsein in der Sprache« infolgedessen nicht nur auf den (Fremd-) Sprachenerwerb (oder die »Sprachdiktatur der Mutter« – Schmitz 2009: 208), sondern auch auf diesen Status bzw. die Entleerung der Sprache in der politischen Diktatur300 zu beziehen ist, so wird evident, dass dieser frühe Roman Gahses nicht lediglich als »literarische Bearbeitung« historisch-biografischer Erfahrungen gedeutet werden darf, sondern in viel subtilerer Weise politisch ist – und zwar infolge der den Text sprachlich und thematisch prägenden und aufeinander bezogenen Muster der Auflösung konventionalisierter Beziehungen, Referenzen und Bedeutungen.
300 Zum Zusammenhang zwischen Sprache und Diktaturerfahrung vgl. Gahse (über die Übersetzung von P8ter Esterh#zys Kleine ungarische Pornographie): »Das wahre Problem war, dass der Satzvirtuose Esterh#zy das erste Kapitel seines Buches durchgehend in einem kaputten Ungarisch verfasst hatte […]. Das Kaputte an sich war ohnehin verständlich: In den Jahren der Diktatur hatte die Sprache durch ein unaufrichtiges Vokabular gelitten; dadurch hatte sich eine Sprachlosigkeit eingestellt, und mit Esterh#zys verzerrten Sätzen stand plötzlich die Frage im Raum, wie ein guter, von allen Diktaten freier Satz aussehen könnte« (Gahse 2009: 46). Walter Schmitz’ Interpretation bezieht die Problematisierung der Sprache und die politische Erfahrung der Niederschlagung des Ungarnaufstandes auch aufeinander: »So wie sich beide aus dem Zugriff eines diktatorischen Systems befreit haben, so muß sich jetzt die Tochter aus der Sprachdiktatur der Mutter lösen, und ihre eigene Geschichte finden. Die Mutter wird zum Buchstaben, und der Buchstabe geht ein in das Spiel der Formen. Die Freiheit des Spiels befreit vom Zwang der Genealogie und Gesellschaft – aber sie tilgt auch die Wirklichkeit und bedeutet einen Triumph der Fremde« (Schmitz 2009: 208).
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Die hier gesammelten Beiträge – zehn kulturwissenschaftliche und narratologische Untersuchungen zur (Migrations-) Literatur deutsch-ungarischer Autorinnen – liefern Einblicke in die Interdependenz migrationsbezogener und ästhetischer Verfahren und Erfahrungen (Verdichtung, d. h. Komplexitätssteigerung der Zeit und des Raumes, Heterochronie, displacement) und fokussieren den Beitrag der Literatur zur Konstruktion kultureller Alterität und Zugehörigkeit, insbesondere in Inszenierungen der Überschreitung und Auflösung von Grenzen und dichotomischen Gegenüberstellungen. Ausgehend von der strukturellen Analogie ästhetischer und migrationsbedingter Verdichtungsstrategien sowie von der Dialogizität als genereller Dimension von Texten bzw. als Grundform der Sinnkonstitution und als erinnerungskulturell relevanter Denkfigur wurde dabei einerseits der Stellenwert der historischen Erfahrungen und individuellen Geschichten von migrierenden Menschen aus Ländern hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang im deutschsprachigen Narrativ näher beleuchtet. Die Berücksichtigung der Verbindungen von ästhetischen Verfahren mit der transkulturellen Konstellation bzw. mit der Thematik der Grenzgängerschaft erwies sich andererseits bei der Analyse der besonderen Sprachlichkeit grenzüberschreitenden Schreibens als besonders produktiv. Die Arbeit zeigt gleichzeitig weiterführende Forschungspotenziale auf. Die weitere Erforschung der Literatur des »Eastern turn« könnte die Herausforderungen der kritischen Migrationsforschung, der Diskurstheorie, der Erinnerungsforschung und der transnationalen Verflechtungsgeschichte aufnehmen und produktiv bei der Lektüre literarischer Kunstwerke und der Kulturanalyse nutzen, um relevante gesellschaftspolitische Themen in einem gesamteuropäischen Horizont aufzugreifen, so beispielsweise Repräsentations- und Konstruktionsprozesse sowie Machtverhältnisse in Bezug auf »Osteuropa« erforschen und sichtbar machen. Durch die Zusammenführung der Forschungsperspektiven des »Eastern turn« (Haines) und des »Semiorientalismus« (Wolff) und ausgehend von der Denkfigur der »imaginativen Geografie« wären in einer anschließenden Forschung konstitutive Otherings-
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Prozesse in Bezug auf West- und Osteuropa und die diskursiven Strategien ihrer Essentialisierung und Destabilisierung zu erfassen und im Detail zu analysieren. Dadurch rückten erstens literarisch-ästhetische Erinnerungsund Imaginationsräume ins Blickfeld, die bei der »halborientalistischen« Hervorbringung Osteuropas entworfen werden und welche für die gegenwärtige Konzeptualisierung, die historische Rekonstruktion und das kulturelle Verständnis des derzeit auch politisch umkämpften Phänomens Osteuropa (und damit des sich vereinigenden Europas) von grundlegender Bedeutung sind. Von besonderem Interesse wären dabei zweitens jene literarischen Strategien der Raum- und Geschichtskonstruktion, mit denen die Wahrnehmung des europäischen Ostens präformiert bzw. osteuropäische Räume kulturell (neu-)kodiert oder (re-)semantisiert werden. Durch die kritische Analyse literarisch-ästhetischer Osteuropakonstruktionen und ihrer kulturellen Variationen sollten diese ferner in ihrer Konstrukthaftigkeit und Mehrdeutigkeit erfasst, in ihren prozesshaften Veränderungen begriffen und dabei als vermeintlich historisch und geografisch evidente, als scheinbar stabile und essenzielle Kategorien und Größen dekonstruiert werden. Ausgehend davon, dass die steigende räumliche Mobilität in westlichen postmigrantischen Gesellschaften die Auflösung geografisch-kultureller oder imaginativer Grenzziehungen und territorial gebundener Zugehörigkeiten und Differenzkonzeptionen (»Enträumlichung«)301 impliziert und gleichzeitig die konstruktive Praxis der imaginativen Geografie (der Selbstkonstitution durch Verräumlichung der Differenz)302 alltäglich sichtbar macht, lassen sich in den postmigrantischen Literaturen die ästhetischen Gestaltungsformen der Semantisierung des Raumes erfassen und angemessen erforschen. In literarischen und nicht-fiktionalen Reiseerzählungen zugewanderter AutorInnen werden außerdem Repräsentations- und Produktionspraktiken mehrschichtiger transnationaler Gedächtnisräume offengelegt und modelliert bzw. tradierte (national-essentialisierend oder hegemonial-hierarchisierend entworfene) Raumstrukturen revidiert und literarisch neu gestaltet (remapping), und zwar aus der 301 Wenn man mit dem einflussreichen Globalisierungsforscher Arjun Appadurai annimmt, dass die sich fortwährend beschleunigende Zirkulation von Menschen, Bildern, Waren und Kapital zur Enträumlichung von Identitäten führt (Appadurai 2008: 33), so zeigen sich in der Deterritorialisierung kultureller Bezüge und in den (für Appadurai zentralen) kulturellen Dynamiken der globalen Strömungen bzw. »Landschaften« (scapes) gerade die enge Korrelation von Raum und Bewegung und das (raum-)konstitutive Potenzial der Imagination. Die raumrepräsentierende und raumherstellende Funktion der Literatur sowie die identitätskonstitutive Relevanz der räumlichen und zeitlichen Grenzziehung erhalten im Kontext transnationaler Migrationsbewegungen nach 1989 und für die Erforschung aktueller Herausforderungen postmigrantischer Gesellschaften und Erzählgemeinschaften eine heuristische Relevanz. 302 Vgl. hierzu Frank 2006: 39.
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Sicht der migrierenden Subjekte. Der zu untersuchende Textkorpus wäre im Vergleich zum vorliegenden Beitrag um ein breites Spektrum an Darstellungen, Reisebeschreibungen und Dokumenten zu erweitern: Die Frage nach literarischen Kartografierungen des europäischen Ostens ließe sich nicht nur in der deutschsprachigen Literatur des »Eastern turn«, sondern auch in zeitgenössischen Romanen und Reisetexten stellen, in welchen Reisebewegungen in (postsowjetischen) osteuropäischen (Gedächtnis-) Räumen präsent und strukturbildend für das Erzählen sind.303 Die zu erwartenden Ergebnisse über die imaginäre Konstruktion des Komplexes »Osteuropa« in der europäischen Erinnerungs- und Gegenwartskultur verdeutlichen, dass die im vorliegenden Beitrag thematisierten offenen Fragen längerfristig von Interesse für die Forschung bleiben sollten.
303 Diverse Erfahrungen osteuropäischer Geschichte: die Wende von 1989/90, die Balkankriege oder die Traumata der kommunistischen Diktatur (wie sie etwa im Werk der Nobelpreisträgerin Herta Müller beschrieben werden) gehören zu den bevorzugten Sujets der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, insbesondere nach der Jahrtausendwende. Deutsche ProtagonistInnen begeben sich in zahlreichen Romanen (und Spielfilmen) auf die Reise nach Osteuropa, das als Schauplatz kriegerischer Gewalt und kriminalistischer Verwicklungen (Juli Zeh: Adler und Engel, Gerhard Roth: Der Berg, Norbert Gstrein: Das Handwerk des Tötens), als surrealer Ort mysteriöser und traumatischer familiärer oder geschäftlicher Verwicklungen (Thomas von Steinaecker : Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen, Ter8zia Mora: Der einzige Mann auf dem Kontinent) oder eben als Setting eines romantisch-komischen Roadmovies (Fatih Akin: Im Juli) erlebt wird. Das Motiv der Reise nach dem östlichen Europa wird häufig mit einem Liebessujet verknüpft (Ingo Schulze: Adam und Evelyn, Ter8zia Mora: Das Ungeheuer), als genealogische Spurensuche narrativiert (Hans-Ulrich Treichel: Anatolin, Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther) und zielt auf die Selbstverortung der/des Erzählenden durch kritische Auseinandersetzung mit der Kollektivgeschichte (Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat). Diese literarischen Topografien legen über die historisch-kulturelle Gemachtheit von Orten und Räumen hinaus auch die räumliche Verfasstheit des Gedächtnisses offen – dadurch bieten Reiseerzählungen Einsicht in die Raumbezogenheit und »Bewegungsnotwendigkeit« des Schreibens (Ette 2001: 22) und setzen eine Reflexion über das Verhältnis von Gegenwart und historischem Erfahrungsraum im Erinnerungsprozess in Gang.
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